Ludwig Maria Grignion: Die Liebe zur ewigen Weisheit

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L'amour de la Sagesse Eternelle -
Die Liebe zur ewigen Weisheit

Heiliger Ludwig Maria Grignion (1673-1716)

Quelle: Ludwig Maria Grignion: Die Liebe zur Ewigen Weisheit, Nach dem handschriftlichen Urtext übersetzt von Leo Gommenginger, Lins Verlag Feldkirch o. J. (144 Seiten, Imprimatur, Friburgi Helvetiorum, die 2 Aprilis 1929 L. Ems vic. gen.). Übersetzte lateinische Zitate der Bibel wurden weggelassen. Die biblischen Abkürzungen folgen den Loccumer Richtlinien.

„Sophia, die Weisheit Gottes“ von Nowgorod

Dieses sein Hauptwerk ist entstanden aufgrund eingehenden Studiums am Seminar Saint-Sulpice und an der theologischen Hochschule der Sorbonne in Paris im Winter 1703-1704.

Inhaltsverzeichnis

Gebet zur Ewigen Weisheit

1 O göttliche Weisheit, die Du Himmel und Erde beherrschest, demütig vor Dir niedergeworfen, bitte ich Dich: verzeihe mir die Kühnheit, von Deiner Größe zu reden, trotz meiner Unwissenheit und Sündhaftigkeit. Ich bitte Dich, achte nicht auf die Finsternis meines Geistes, noch auf die Unlauterkeit meines Mundes, außer, um sie hinwegzunehmen. Du bist so voll der Schönheit und Süßigkeit! Du hast mich vor so vielen Übeln bewahrt und mit so großen Wohltaten überhäuft! Und Du bist so unbekannt und verachtet! Wie könnte ich da schweigen? Gerechtigkeit und Dankbarkeit, ja selbst mein eigenes Interesse nötigen mich, von Dir zu reden. Ich kann zwar nur stammeln; denn ich bin noch ein Kind, aber durch Stammeln möchte ich lernen, dann recht zu reden, wenn ich Dein Vollalter werde erreicht haben.

2 Zwar scheint mir, ich gestehe es, in allem, was ich schreibe, sei weder Sinn noch Ordnung zu finden. Das kommt daher, weil ich ein so großes Verlangen hege, Dich zu besitzen, dass ich nach dem Beispiel Salomons ziel- und wahllos umhergehend Dich suche (vgl. Weish 8,18). Nur deshalb, weil Du selbst denjenigen das ewige Leben verheißest, die über Dich Licht verbreiten (vgl. Vulg Sir 24,31), versuche ich es, Dich in dieser Welt bekannt zu machen.

Nimm daher, meine liebenswürdige Herrin, mein schüchternes Stammeln an Stelle erhabener Reden, betrachte jeden meiner Federstriche als ebenso viele Schritte, die ich mache, um Dich zu finden, und von der Höhe Deines Thrones herab verleihe mir so viel Segen und Licht zu meinem Werke, dass alle, die meine Worte hören, von neuem Verlangen entbrennen, Dich zu lieben und zu besitzen in Zeit und Ewigkeit.

Mahnungen, welche die göttliche Weisheit den Fürsten und Großen der Welt im sechsten Kapitel des Buches der Weisheit gibt

<ref>Der Text folgt möglichst treu dem im französischen Original vom heiligen Ludwig Maria gewählten Wortlaut der Vulgata.</ref>

3 1. Die Weisheit ist höher zu schätzen als Macht und ein kluger Mann besser als ein starker.

2. Höret also, ihr Könige! Und nehmet Einsicht an, lernet ihr Richter der Erde weitum!

3. Neigt euer Ohr, die ihr der Völker Menge beherrschet und die ihr euch gefallet, Scharen der Nationen unter euch zu haben.

4. Denn von dem Herrn ward euch die Herrschaft verliehen und die Macht vom Allerhöchsten, der eure Werke untersuchen und eure Gedanken bis auf den Grund durchforschen wird.

5. Denn obgleich ihr Diener seines Reiches seid, habt ihr nicht recht gerichtet und das Gesetz der Gerechtigkeit nicht beobachtet und seid nicht nach dem Willen Gottes gewandelt.

6. Schrecklich und in kurzer Zeit wird er euch erscheinen, denn das strengste Gericht ergeht über jene, die andere beherrschen.

7. Denn dem Geringen wird Barmherzigkeit zuteil, aber die Mächtigen werden gewaltige Züchtigungen zu erdulden haben.

8. Denn Gott wird niemals Rücksicht nehmen auf die Person, noch irgend jemandes Größe scheuen; hat er doch den Kleinen wie den Großen selber geschaffen und sorgt für alle auf gleiche Weise.

9. Den Gewaltigen aber drohen heftigere Strafen.

10. An euch also, ihr Könige ergehen diese meine Reden, damit ihr Weisheit lernt und nicht irre geht.

11. Denn diejenigen, welche nach Gerechtigkeit recht gehandelt haben, werden gerechtfertigt werden; und die sich darüber haben belehren lassen, werden sich zu verantworten wissen.

12. So tragt denn ein großes Verlangen nach meinen Worten und liebt sie, und ihr werdet die rechte Lebensweise erlangen.

4 13. Klar und unverwelklich ist die Weisheit, und leicht wird sie von denen gesehen, welche sie lieben, und von denen gefunden, welche sie suchen.

14. Ja, sie kommt denen zuvor, die nach ihr verlangen, um sich ihnen zuerst zu zeigen.

15. Wer schon am Morgen auf sie acht hat, wird keine Mühe haben, denn er wird sie an seiner Türe sitzend finden.

16. Über die Weisheit also nachsinnen, ist vollendete Klugheit, und wer um ihretwillen wacht, wird bald ohne Sorgen sein.

17. Denn sie selbst geht umher und sucht die auf, die ihrer würdig sind, und erscheint ihnen freundlich auf ihren Wegen und kommt ihnen mit aller Sorgfalt entgegen.

18. Denn ihr Anfang ist ein ganz aufrichtiges Verlangen nach Belehrung.

19. Das Streben nach Zucht zeigt sich in der Liebe, die Liebe in der Beobachtung ihrer Gesetze, die Beobachtung ihrer Gesetze aber in Festigung der vollkommenen Reinheit der Seele.

20. Die Reinheit der Seele aber macht, dass man ganz nahe bei Gott ist.

21. So führt also das Verlangen nach Weisheit zur ewigen Herrschaft.

22. Wenn ihr also Freude habt an Thronen und Szeptern, ihr Könige der Völker, so liebt die Weisheit, auf dass ihr ewig herrscht.

23. Liebt das Licht der Weisheit, ihr alle, die ihr über die Völker herrscht!

24. Was aber die Weisheit ist und wie sie geworden, will ich verkündigen und will die Geheimnisse Gottes vor euch nicht verbergen, sondern von Anfang ihres Ursprungs an, will ich nachforschen und ihre Erkenntnis ins Licht setzen und die Wahrheit nicht verschweigen.

25. Auch will ich nicht mit zehrendem Neid es halten, denn ein solcher Mensch hat keine Gemeinschaft mit der Weisheit.

26. Die große Zahl der Weisen ist das Heil des Erdkreises, und ein weiser König ist die Stütze des Volkes.

27. Darum nehmt die Belehrung durch meine Worte an, und es wird euch frommen.»

5 In diesem Kapitel, lieber Leser, wollte ich nicht meine schwachen Worte mit der Kraft und Erhabenheit der Worte des Heiligen Geistes vermengen; jedoch wirst du mir gestatten, im Verein mit dir festzustellen:

1. Wie süß, wie zugänglich und einnehmend die Ewige Weisheit in sich selbst ist, obgleich sie so glänzend, ausgezeichnet und erhaben ist! Sie ruft die Menschen herbei, um sie die Mittel und Wege zu lehren, glücklich zu sein. Sie sucht sie auf, sie lächelt ihnen zu, sie überhäuft sie mit tausend Wohltaten, sie kommt ihnen auf hunderterlei Arten zuvor, ja sie geht so weit, sich an die Tür ihres Hauses zu setzen, um sie zu erwarten und ihnen Zeichen der Freundschaft zu geben. Wäre es da denn möglich, sein Herz ihrem liebevollen Werben zu verschließen?

6 2. Wie groß das Unglück der Mächtigen und Reichen ist, wenn sie die Weisheit nicht lieben! Wie schrecklich sind die Worte, die sie ihnen zuruft! Worte, die in unserer Sprache gar nicht auszudrücken sind. «Schrecklich und in kurzer Zeit wird er euch erscheinen, denn das strengste Gericht ergeht über jene, die andere beherrschen. . .. Denn die Mächtigen werden gewaltige Züchtigungen zu erdulden haben .... Den Gewaltigen aber drohen heftigere Strafen» (Weish 6, 6-9).

Fügen wir diesen Aussprüchen noch einige von den Worten bei, welche die Ewige Weisheit nach ihrer Menschwerdung zu ihnen gesprochen oder ihnen sagen ließ: «Wehe euch, ihr Reichen!» (Lk 6, 24) «Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch, als ein Reicher in das Himmelreich» (Mt 19,24). Diese letzten Worte wurden von der Ewigen Weisheit während ihres Erdenwandels so oft wiederholt, dass drei Evangelisten sie auf dieselbe Weise berichten, ohne etwas daran zu ändern, so dass alle Reichen darüber in Tränen zerfließen, laut klagen und heulen sollten: «Wohlan nun, ihr Reichen, weint und wehklagt über die Trübsale, welche über euch hereinbrechen werden» (Jak 5,1).

Aber ach, sie haben ihren Trost hienieden, sie sind von ihren Freuden und Reichtümern wie bezaubert und sehen das Unglück nicht, das über ihrem Haupt schwebt.

7 3. Salomon versichert, er gebe uns eine getreue Schilderung der Weisheit, und weder der Neid noch der Stolz, welche Feinde der Liebe sind, werden ihn hindern, eine Wissenschaft mitzuteilen, die ihm vom Himmel in solchem Maße gegeben worden war, dass er nicht fürchtet, es könnten andere ihm an Erkenntnis gleichkommen, oder gar übertreffen.

Nach dem Beispiel dieses großen Mannes gehe ich daran, euch ganz einfachhin zu erklären, was die Weisheit war vor der Menschwerdung und nach der Menschwerdung, sowie die Mittel anzugeben, sie zu erlangen und zu bewahren.

Aber weil mir die Fülle des Wissens und des Lichtes abgeht, welche Salomon besaß, habe ich auch nicht so sehr den Neid und Stolz zu fürchten, als vielmehr mein Unvermögen und meine Unwissenheit, und ich bitte euch, dies in Liebe zu ertragen und zu entschuldigen.

Erstes Kapitel: Um die göttliche Weisheit zu lieben und zu suchen, muss man sie kennen

8 Kann man lieben, was man nicht kennt? Kann man feurig lieben, was man nur unvollkommen kennt? Warum liebt man die ewige und menschgewordene Weisheit, den anbetungswürdigen Jesus, so wenig, wenn nicht deshalb, weil man ihn entweder gar nicht oder doch nur sehr wenig kennt? Beinahe niemand vertieft sich mit dem Apostel in die alles überragende Wissenschaft Jesu, und doch ist sie die edelste, die süßeste, die nützlichste und notwendigste aller Wissenschaften im Himmel und auf Erden.

1. Die edelste Wissenschaft

9 Sie ist erstens die edelste aller Wissenschaften, denn ihr Gegenstand ist das Edelste und Erhabenste, was es gibt: die unerschaffene und menschgewordene Weisheit, die in sich die ganze Fülle der Gottheit (vgl. Kol 2, 9) und Menschheit, ja alles einschließt, was es im Himmel und auf Erden Großes gibt, alle sichtbaren und unsichtbaren, geistigen und körperlichen Geschöpfe.

Der heilige Johannes Chrysostomus sagt, Jesus Christus sei ein Inbegriff der Werke Gottes, ein Sammelbild aller Vollkommenheiten, die sich in Gott und in der gesamten Schöpfung finden.

«Jesus Christus, die Ewige Weisheit, ist alles, was du wünschen kannst und sollst. Verlange nach ihm, suche ihn, denn er ist jene einzige und kostbare Perle, für deren Erwerb du gerne bereit sein sollst, alles zu verkaufen, was du hast» (hl. Bernhard, Vitis Mystica, PL 184,679).

«Dessen rühme sich, wer sich rühmt, dass er Einsicht hat und mich kennt» (Jer 9,24). Der Weise soll sich seiner Weisheit nicht rühmen, noch der Starke seiner Stärke, noch der Reiche seiner Reichtümer, sondern wer sich rühmen will, rühme sich, dass er mich kennt, und nicht, dass er etwas anderes kennt.

2. Die süßeste Wissenschaft

10 Es gibt nichts Süßeres als die Kenntnis der göttlichen Weisheit.

Glücklich jene, die auf sie hören. Glücklicher jene, die nach ihr verlangen und sie suchen! Aber wirklich glückselig sind jene, die ihre Wege bewahren, und in ihrem Herzen die unendliche Süßigkeit verkosten, welche die Freude des Ewigen Vaters und der Ruhm der Engel ist! Wüsste man, welche Wonne eine Seele verkostet, die die Schönheit der Weisheit kennt und die Milch aus dieser Brust des Vaters trinkt, mamilla patris, so würde man mit der Braut im Hohen Liede ausrufen: «Die Milch deiner Brust ist süßer als der vorzüglichste Wein» (Hld 1, 1) und als alle Süßigkeiten der Geschöpfe, besonders dann, wenn die Ewige Weisheit der sie betrachtenden Seele die Worte zu verstehen gibt: «verkostet und seht (Ps 33, 9); «esset und trinkt> (Hld 5, 1); «und berauscht euch (ebd.) an meinen Süßigkeiten; «denn mein Umgang hat nichts Bitteres und meine Gesellschaft nichts Widriges an sich, sondern man findet bei mir nur Frohsinn und Freude» (Weish 8,16).

3. Die nützlichste und notwendigste Wissenschaft

11 Die Kenntnis der Ewigen Weisheit ist nicht nur die edelste und süßeste, sondern auch die nützlichste und notwendigste, weil das ewige Leben darin besteht, Gott und seinen Sohn Jesus Christus zu kennen (Joh 17,3). «Dich kennen», ruft Salomon aus, indem er von der Weisheit spricht, «ist vollkommene Gerechtigkeit; deine Gerechtigkeit und Macht begreifen ist die Wurzel der Unsterblichkeit» (Weish 15,3). Wollen wir also in der Tat das ewige Leben erlangen, so lasst uns die Kenntnis der Ewigen Weisheit besitzen.

Wollen wir in dieser Welt die vollkommene Heiligkeit erreichen, so lasst uns die Weisheit erkennen. Wollen wir in unserem Herzen den Keim der Unsterblichkeit tragen, so lasst uns in unserem Geiste die Erkenntnis der Weisheit haben.

Jesus Christus, die unerschaffene Weisheit, kennen, heißt genug wissen; alles wissen und ihn nicht kennen, heißt nichts wissen. (vgl. Augustin, Conf. 5,6.4,7, PL 32,708f; allg. Zitat nach den heiligen Vätern).

12 Was nützt es dem Bogenschützen, rechts oder links neben das Ziel zu schießen, wenn er das Ziel selbst nicht trifft? Was nützen uns alle anderen zum Heil notwendigen Wissenschaften, wenn wir nicht die Wissenschaft Jesu Christi besitzen, welche die allein notwendige ist und das Zentrum, auf das alle anderen hinzielen müssen? Obwohl der große Apostel Paulus so viel wusste und in den menschlichen Wissenschaften so sehr bewandert war, sagte er doch, «er glaube nichts anderes zu kennen, als Jesus Christus, den Gekreuzigten» (1 Kor 2,4). Sprechen wir daher mit ihm: «Was mir Gewinn war, das alles habe ich um Christi willen für Verlust erachtet. Ja, ich halte alles für Verlust gegen die alles überragende Erkenntnis Jesu Christi, meines Herrn» (Phi! 3,7f). Ich verachte alle Wissenschaften, deren ich mich bisher gerühmt, im Vergleich zur Wissenschaft meines Herrn Jesus Christus. Ich sehe jetzt und erfahre, dass diese Wissenschaft so ausgezeichnet, so vortrefflich, so vorteilhaft und so bewunderungswürdig ist, dass ich alle anderen Kenntnisse für nichts erachte, die mir vorher so sehr gefielen. Jetzt erscheinen sie mir so leer und lächerlich, dass es Zeitverlust ist, sich damit abzugeben. «Dies aber sage ich, damit euch niemand täusche mit hochfahrender Rede. Sehet zu, dass euch niemand verführe durch die Weltweisheit und eitlen Trug» (Kol 2, 4, 8). Ich sage euch, Jesus Christus ist der Abgrund aller Wissenschaften, damit ihr euch nicht durch schöne und hochfahrende Worte der Redner täuschen lasset, noch durch die trügerischen Spitzfindigkeiten der Weltweisen. «Wachset in der Gnade und in der Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus» (2 Petr 3, 18). Damit wir nun alle in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus, der menschgewordenen Weisheit, wachsen, werden die folgenden Kapitel von ihr handeln. Vorher aber unterscheiden wir mehrere Arten von Weisheit.

4. Einteilung und Begriffsbestimmung

13 Die Weisheit im allgemeinen ist ihrem Wortsinn nach eine «schmackhafte Wissenschaft», oder mit anderen Worten, die Freude an Gott und seiner Wahrheit.

Es gibt verschiedene Arten von Weisheit.

Sie unterscheidet sich erstens in wahre und falsche Weisheit. Die wahre Weisheit ist die Freude an der Wahrheit, ohne Lüge und Verstellung.

Die falsche Weisheit ist die Freude an der Lüge unter dem Scheine der Wahrheit.

Diese falsche Weisheit ist die weltliche Weisheit oder Klugheit, die der Heilige Geist dreifach unterscheidet: «die irdische, die fleischliche und die teuflische Weisheit» (1 Jak 3, 15).

Die wahre Weisheit unterscheidet sich in natürliche und übernatürliche.

Die natürliche Weisheit ist eine hervorragende Kenntnis der natürlichen Dinge in ihren letzten Ursachen. Die übernatürliche Weisheit ist die Erkenntnis der übernatürlichen und göttlichen Dinge in ihrem Ursprung.

Die übernatürliche Weisheit unterscheidet sich wieder in die wesentliche (substantielle) und unerschaffene und in die außerwesentliche (akzidentelle) und erschaffene.

Die akzidentelle und erschaffene Weisheit ist die Mitteilung, welche die unerschaffene Weisheit den Menschen von sich selber macht; mit anderen Worten: es ist die Gabe der Weisheit.

Die substantielle und unerschaffene Weisheit ist der Sohn Gottes, die zweite Person der Heiligsten Dreifaltigkeit, oder mit anderen Worten: die Ewige Weisheit in der Ewigkeit, oder Jesus Christus in der Zeit.

Von dieser Ewigen Weisheit werden wir von nun an sprechen.

5. Der Gegenstand dieses Buches

14 Wir werden sie betrachten in ihrem Ursprung in der Ewigkeit, wie sie im Schoß ihres Vaters wohnt, als Gegenstand seines Wohlgefallens. Wir werden sie dann sehen in der Zeit, wie sie hervorleuchtet in der Erschaffung des Weltalls. Dann werden wir sie betrachten, wie sie sich erniedrigt in der Menschwerdung und in ihrem sterblichen Leben. Darauf werden wir sie glorreich und triumphierend im Himmel wiederfinden.

Endlich wollen wir sehen, welches die Mittel sind, deren man sich bedienen muss, um diese Weisheit zu erlangen und zu bewahren.

Ich überlasse also den Philosophen die Beweisgründe ihrer Philosophie als etwas ganz Unnützes; ich überlasse den Chemikern die Geheimnisse ihrer weltlichen Weisheit.

«Wir reden Weisheit unter den Vollkommenen» (1 Kor 2, 6). Wir wollen zu den vollkommenen und auserwählten Seelen von der wahren Weisheit, von der ewigen, unerschaffenen und menschgewordenen Weisheit reden.

Zweites Kapitel: Ursprung und Vortrefflichkeit der Ewigen Weisheit

1. Ihr Ursprung

15 Hier müssen wir mit dem heiligen Paulus ausrufen: « O Tiefe, o Unermesslichkeit, o Unbegreiflichkeit der Weisheit Gottes!» (Röm 11, 33) «Sein Geschlecht, wer wird es erzählen?» (Apg 8,33) Welcher Engel wäre erleuchtet genug, welcher Mensch verwegen genug, um sich zu unterstehen, ihren Ursprung auf gebührende Weise zu erklären?

Hier müssen aller Augen sich schließen, um nicht von einem so lebhaften und strahlenden Licht geblendet zu werden.

Hier muss jede Zunge schweigen, um nicht eine so vollkommene Schönheit zu trüben, während sie sich bemüht, dieselbe zu schildern.

Hier muss jeder Geist sich aufs tiefste verdemütigen und anbeten, um nicht von der ungeheuren Wucht der Herrlichkeit der göttlichen Weisheit erdrückt zu werden, während er sie ergründen will.

16 Hören wir indessen, wie der Heilige Geist, um sich unserer Schwachheit anzupassen, in dem «Buch der Weisheit», das er ja nur unsertwegen verfasst hat, die göttliche Weisheit schildert:

«Die Ewige Weisheit ist ein Hauch der Kraft Gottes und ein reiner Ausfluss der Klarheit des allmächtigen Gottes; darum kommt nichts Unreines zu ihr. Sie ist nämlich der Glanz des ewigen Lichtes und der makellose Spiegel der Herrlichkeit Gottes und das Bild seiner Güte» (Weish 7, 25 f).

17 Sie ist die wesenhafte und ewige Idee der göttlichen Schönheit, die dem heiligen Evangelisten Johannes in der wunderbaren Verzückung auf der Insel Patmos gezeigt wurde, als er ausrief: «Im Anfang war das Wort, der Sohn Gottes, oder die Ewige Weisheit und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott» (Joh 1, 1).

18 Von ihr ist an mehreren Stellen der Bücher Salomons gesagt, sie sei von Anfang an erschaffen, d. h. hervorgebracht, vor allen Dingen und vor allen Zeiten. Sie sagt von sich selbst: «Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Alters her, ehedem die Erde geworden. Die Tiefen waren noch nicht, und ich war schon empfangen» (Spr 8, 23f).

2. Ihre Schönheit

19 An dieser höchsten Schönheit der Weisheit hat Gott der Vater sein Wohlgefallen gefunden von Ewigkeit her und in der Zeit, wie der große Gott am Tage der Taufe und bei der Verklärung Jesu Christi selbst ausdrücklich bezeugt: «Dies ist mein vielgeliebter Sohn, an dem ich mein innigstes Wohlgefallen habe» (Mt 17,5).

Von dieser leuchtenden und unaussprechlichen Klarheit schauten die Apostel einige wenige Strahlen bei der Verklärung, und wurden dadurch mit Süßigkeit und Entzücken erfüllt. «Diese Ewige Weisheit ist etwas Herrliches, Erhabenes, Unermessliches und älter als Himmel und Erde» (Vesperhymnus zur Verklärung Christi).

Wenn ich keine Worte finde, um den ganz kleinen Begriff auszudrücken, den ich mir von dieser Schönheit und höchsten Süßigkeit gebildet habe, trotzdem dieser Begriff unendlich hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, wer wird sich dann ein richtiges Bild davon machen und sie gebührend erklären können? Nur Du allein, o großer Gott, weißt, was die Ewige Weisheit ist, und Du allein kannst sie offenbaren, wem Du willst!

3. Ihre Wirksamkeit

20 Höre nun, wie die Weisheit selbst erklärt, was sie ist in Bezug auf ihre Tätigkeit in den Seelen. Ich werde meine schwachen Worte nicht mit den ihrigen vermischen, um nicht ihre Wucht und Erhabenheit zu vermindern. Es ist das 24. Kapitel des Buches Jesus Sirach.

1. «Die Weisheit lobt sich selbst und findet Ehre in Gott und rühmt sich inmitten ihres Volkes.

2. Sie tut in der Versammlung des Allerhöchsten ihren Mund auf und rühmt sich angesichts seiner Heerscharen

3. und wird inmitten ihres Volkes erhoben und in der vollen Versammlung der Heiligen bewundert,

4. und unter der Schar der Auserwählten wird sie gepriesen und wird unter den Gesegneten gesegnet, da sie spricht:

21 5. Aus dem Munde des Allerhöchsten bin ich hervorgegangen als Erstgeborene vor aller Schöpfung.

6. Ich bewirkte, dass das unversiegbare Licht am Himmel aufging, und wie ein Nebel bedeckte ich die ganze Erde.

7. Meine Wohnung war in den Höhen, und mein Thron ruhte auf einer Wolkensäule.

8. Den Umkreis des Himmels umwandelte ich allein, in die Tiefen des Abgrundes drang ich, wandelte auf den Fluten des Meeres,

9. und auf der ganzen Erde stand ich,

22 10. und über alle Völker und über alle Nationen übte ich die Herrschaft.

11. Ich bezwang die Herzen aller Großen und Niedrigen; und bei diesen allen sah ich mich um, wo ich eine Ruhestätte fände. In dem Erbe des Herrn will ich weilen.

23 12. Da gebot und sprach zu mir der Schöpfer aller Dinge, und der mich geschaffen, ließ mich in meinem Zelte ruhen.

13. Und er sprach zu mir: In Jakob sei deine Wohnung und in Israel habe dein Erbe und schlage Wurzel in meinen Auserwählten.

24 14.Im Anfang und vor aller Zeit bin ich erschaffen und werde in alle Ewigkeit nicht aufhören, und in der heiligen Wohnung diente ich vor ihm.

15. Und so ward mir eine feste Stätte auf Sion, in der heiligen Stadt verlieh er mir gleicherweise einen Ruheort, und so herrschte ich in Jerusalem.

25 16.Ich schlug Wurzel bei einem geehrten Volke und im Anteil meines Gottes, der sein Erbe ist; und in der Gemeinde der Heiligen ist mein Aufenthalt.

17. Ich wuchs empor wie eine Zeder des Libanon und wie eine Zypresse auf dem Berge Sion.

18. Wie eine Palme in Kades wuchs ich empor und wie ein Rosenstock in Jericho.

19. Wie ein lieblicher Ölbaum auf den Gefilden und wie ein Ahornbaum wuchs ich auf am Wasser auf den Plätzen.

20. Wie Zimt und wohlriechender Balsam gab ich Duft und verbreitete lieblichen Geruch wie die auserlesenste Myrrhe.

21. Und wie Storax und Galban und Onyx und Stakte und wie Rauchwerk, das ohne Einschnitt hervorquillt, durchduftete ich meine Wohnung, und wie ungemischter Balsam war mein Wohlgeruch.

22. Wie eine Terebinte breitete ich meine Zweige aus, voll Pracht und Lieblichkeit waren meine Zweige.

23. Einem Weinstock gleich trug ich wohlriechende, liebliche Früchte, und meine Blüten tragen herrliche und reiche Edelfrucht.

26 24. Ich bin die Mutter der schönen Liebe und der Gottesfurcht, der Erkenntnis und der heiligen Hoffnung.

25. Bei mir ist alle Gnade des guten Wandels und der Wahrheit, bei mir alle Hoffnung des Lebens und der Tugend.

27 26. Kommet her zu mir alle, die ihr mich begehrt und sättigt euch an meinen Früchten!

27. Denn mein Geist ist süßer als Honig und mein Besitz über Honig und Honigseim.

28. Mein Andenken dauert immer und ewig.

28 29. Wer mich kostet, hungert nach mehr; und wer mich trinkt, dürstet nach mehr.

30. Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden; und wer in mir seine Werke tut, der sündigt nicht.

31. Die über mich Licht verbreiten, erhalten das ewige Leben.

32. Das alles ist das Buch des Lebens, der Bund des Allerhöchsten und die Erkenntnis der Wahrheit.»

29 Alle Bäume und Pflanzen, mit denen sich die Weisheit vergleicht, und die so verschiedene Früchte und Eigenschaften besitzen, bezeichnen die große Mannigfaltigkeit der Zustände, Tätigkeiten und Tugenden der Seelen. Sie gleichen nämlich den Zedern durch den Aufschwung ihrer Herzen zum Himmel; oder den Zypressen durch die fortgesetzte Betrachtung des Todes. Sie gleichen Palmen durch die demütige Ertragung ihrer Mühen; oder den Rosensträuchern durch ihr Martyrium und die Vergießung ihres Blutes; oder den Platanen am Rande der Gewässer; oder den Terebinten, die ihre Zweige sehr weit ausbreiten, durch ihre weithinreichende Nächstenliebe. Alle die anderen wohlriechenden Pflanzen, wie z. B. der Balsam, die Myrrhe und die übrigen, die den Blicken weniger ausgesetzt sind, versinnbilden jene zurückgezogenen Seelen, die von dem Wunsch beseelt sind, mehr von Gott als von den Menschen erkannt zu sein.

30 Nachdem die Weisheit sich als Ursprung und Quelle aller Güter vorgestellt hat, ermahnt sie alle Menschen, alles zu verlassen, um einzig nach ihr zu trachten. Denn, wie der heilige Augustinus sagt, schenkt sie sich nur denen, die nach ihr verlangen und sie mit jenem Eifer suchen, dessen ein so erhabener Gegenstand würdig ist.

Im 30. und 31. Vers beschreibt die göttliche Weisheit drei Grade der Frömmigkeit, deren letzter der höchste ist:

  • mit demütiger Unterwürfigkeit auf Gott hören;
  • mit beharrlicher Treue in ihm und durch ihn handeln;
  • endlich die notwendige Erleuchtung und Salbung erwerben, um den anderen die Liebe zur Weisheit einzuflößen und sie zum ewigen Leben zu führen.

Drittes Kapitel: Die Machtwunder der göttlichen Weisheit in der Erschaffung der Welt und des Menschen

1. In der Erschaffung der Welt

31 Die Ewige Weisheit begann aus dem Schoß der Gottheit hervorzutreten, als sie nach einer ganzen Ewigkeit das Licht, den Himmel und die Erde erschuf. Der heilige Johannes sagt: «Alles ist durch das Wort gemacht worden» (Joh 1,3), d. h. durch die Ewige Weisheit.

Salomon sagt, sie sei die Mutter und Künstlerin aller Dinge: «Die Weisheit ging vor mir her und ich wusste nicht, dass sie von allem dem die Mutter ist... Die Weisheit, die Künstlerin von allem ... » (Weish 7, 12.21).

Bemerke wohl, dass er sie nicht nur Künstlerin aller Dinge, sondern Mutter nennt; denn eine Künstlerin liebt und unterhält ihr Werk nicht so, wie eine Mutter ihr Kind.

32 Nachdem die Ewige Weisheit alles erschaffen, wohnt sie in allen Dingen, um sie zu umfassen, zu unterhalten und zu erneuern. «Sie macht alles neu» (Weish 7, 27). Diese höchst weise Schönheit hat, nachdem sie die Welt erschaffen, auch die schöne Ordnung, die darin herrscht, hineingelegt. Sie hat alles, was in der Welt ist, geteilt, gefügt, abgewogen, ausgeschmückt und gezählt.

Sie hat die Himmel ausgebreitet. Sie hat der Sonne, dem Mond, den Sternen in Ordnung den Platz gewiesen. Sie hat die Fundamente der Erde gelegt. Sie hat dem Meer und den Abgründen Grenzen und Gesetze gegeben. Sie hat die Berge gebildet. Sie hat alles abgewogen bis zu den Wasserquellen. Und schließlich fügt sie bei: Ich war bei Gott und ich ordnete alles mit solch vollkommener Richtigkeit und so angenehmer Mannigfaltigkeit, dass es gleichsam ein Spiel war, zu meiner und meines Vaters Freude. «Da war ich bei ihm, alles ordnend, und war in Entzücken Tag um Tag, spielend vor ihm allezeit» (Spr 8, 30).

33 Dieses unaussprechliche Spiel der göttlichen Weisheit zeigt sich wirklich in den verschiedenartigen Geschöpfen, die sie im Weltall ins Dasein rief. Denn ohne von den verschiedenen Gattungen der Engel zu sprechen, die sozusagen unzählbar sind, ohne von den verschiedenen Größen der Sterne oder von den verschiedenen Temperamenten der Menschen zu reden, was sehen wir nicht für eine wunderbare Abwechslung in den Jahreszeiten und Witterungen! Welche Mannigfaltigkeit der Naturtriebe bei den Tieren! Welche verschiedene Pflanzenarten! Welch mannigfaltige Schönheit in den Blumen! Welch abwechslungsreicher Geschmack in den Früchten! «Wer ist weise und versteht dies?» (Ps 106, 43) Wem hat die göttliche Weisheit sich mitgeteilt? Ein solcher allein besitzt die Kenntnis dieser Naturgeheimnisse.

34 Die Weisheit hat sie den Heiligen geoffenbart, wie wir in ihren Lebensbeschreibungen lesen. Sie waren manchmal so erstaunt über die Schönheit, Lieblichkeit und Ordnung der göttlichen Weisheit in den kleinsten Dingen, wie z. B. in einer Biene, einer Ameise, einer Kornähre, einer Blume, einem Würmlein, dass sie darüber in Entzückung gerieten.

2. In der Erschaffung des Menschen

35 Wenn die Macht und Lieblichkeit der Ewigen Weisheit schon in der Schöpfung, in der Schönheit und Ordnung des Weltalls so sehr hervorleuchtet, so erglänzt sie noch vielmehr in der Erschaffung des Menschen. Der Mensch ist ja der Ewigen Weisheit bewunderungswürdiges Meisterwerk, das lebendige Abbild ihrer Schönheit, wie ihrer Vollkommenheiten, das große Gefäß ihrer Gnaden, die bewundernswerte Schatzkammer ihrer Reichtümer und ihr einziger Stellvertreter auf Erden. «Durch deine Weisheit hast du den Menschen bestimmt, dass er über die Geschöpfe herrsche, welche du gemacht hast» (Weish 9, 2).

36 Hier wäre es am Platze, zum Ruhm dieser schönen und mächtigen Schöpferin die ursprüngliche Schönheit und Vortrefflichkeit, welche der Mensch bei seiner Erschaffung von ihr empfangen hatte, zu erklären. Aber die unermessliche Sünde, die er begangen und deren Schatten und Befleckung auch mich elendes Kind Evas getroffen, hat meinen Verstand so sehr verdunkelt, dass ich nur auf sehr unvollkommene Weise von ihr zu sprechen vermag.

Der Mensch im Urzustand

'37 Die Ewige Weisheit schuf sozusagen leuchtende Abbilder, Kopien ihres Verstandes, Gedächtnisses und Willens und gab sie der Menschenseele, damit sie das lebendige Abbild der Gottheit sei. Sie entzündete im Menschenherzen einen Feuerbrand der reinen Gottesliebe; sie bildete ihm einen lichtstrahlenden Leib; sie schloss wie in einer kleinen Welt all die verschiedenen Vollkommenheiten der Engel, der Tiere und der übrigen Geschöpfe im Menschen ein.

38 Alles im Menschen war licht und ohne Finsternis, schön ohne Hässlichkeit, rein und ohne Makel, wohl geregelt ohne Unordnung und ohne irgendwelche Anhänglichkeit oder Unvollkommenheit. Als Erbteil hatte er das Licht der Weisheit in seinem Geist, womit er seinen Schöpfer und dessen Geschöpfe vollkommen erkannte. Er hatte die Gnade Gottes in seiner Seele, durch die er unschuldig und in den Augen des Allerhöchsten wohlgefällig war. Sein Leib besaß die Unsterblichkeit; in seinem Herzen glühte die reine Gottesliebe, ohne Furcht vor dem Tod, mit welcher er immerwährend und ohne Unterlass Gott einzig um seiner selbst willen liebte. Mit einem Wort, er war so göttlich, dass er beständig außer sich selbst lebte und in Gott entrückt war, ohne dass er irgendeine Leidenschaft zu überwinden oder irgendeinen Feind zu bekämpfen hatte.

O wie freigebig war die Ewige Weisheit dem Menschen gegenüber! O glücklicher Zustand des Menschen in seiner Unschuld!

Schrecklicher Undank im Sündenfall

39 Doch Unglück über Unglück! Das göttliche Gefäß zersplittert in tausend Stücke; der schöne Stern fällt; die schöne Sonne wird mit Schmutz bedeckt; der Mensch - er sündigt, und verliert so seine Weisheit, seine Unschuld, Schönheit, Unsterblichkeit, überhaupt alle Güter, die er empfangen hatte, und wird von einer Menge unzähliger Übel befallen.

Sein Geist wird ganz stumpfsinnig und verfinstert, er sieht nichts mehr. Sein Herz wird eisig kalt gegen Gott und liebt ihn nicht mehr; seine Seele ist von Sünden schwarz und gleicht dem Teufel; seine Leidenschaften sind alle ungeordnet, und er beherrscht sie nicht mehr. Es bleibt ihm nichts mehr als die Gesellschaft der Teufel, deren Wohnstätte und Sklave er geworden. Die Geschöpfe greifen ihn an und führen Krieg gegen ihn. So ist der Mensch in einem Augenblick der Sklave der Dämonen geworden, ein Gegenstand des Zornes Gottes und das Opfer der Hölle.

Er kommt sich selbst so hässlich vor, dass er sich vor Scham verbirgt. Er ist verflucht und zum Tod verurteilt; er wird aus dem irdischen Paradies vertrieben und hat kein Paradies mehr im Himmel: ohne Hoffnung, einmal wieder glücklich zu werden, muss er auf der verfluchten Erde ein elendes Dasein führen. Er muss dort als Verbrecher sterben, und nach seinem Tod muss er, wie die Teufel, der Verdammnis anheimfallen mit Leib und Seele, er mit allen seinen Nachkommen. So groß ist das Unglück, in das der Mensch durch die Sünde stürzte. Das ist der gerechte Urteilsspruch, den die Gerechtigkeit Gottes über ihn fällte.

40 Adam ist in diesem Zustand wie verzweifelt. Weder von den Engeln noch von den übrigen Geschöpfen kann er ein Heilmittel erhalten. Nichts ist fähig, für ihn genugzutun, denn er war zu schön, zu vorzüglich erschaffen, und durch die Sünde ist er zu hässlich und unrein geworden. Er musste aus dem Paradies und aus der Gegenwart Gottes vertrieben werden. Allüberall sieht er die Gerechtigkeit Gottes, die ihn samt seiner ganzen Nachkommenschaft verfolgt; er sieht den Himmel verschlossen und die Hölle offen, und niemand ist da, der ihm jenen öffnen und diese verschließen könnte.

Viertes Kapitel: Wunder der Güte und Barmherzigkeit der Ewigen Weisheit vor ihrer Menschwerdung

1. Im Rat der Gottheit

41 Die Ewige Weisheit ist von dem Unglück des armen Adam und aller seiner Nachkommen tief ergriffen. Sie sieht mit großem Missfallen das Gefäß ihrer Ehre zerbrochen, ihr Ebenbild zerrissen, ihr Meisterwerk zerstört, ihren Stellvertreter auf Erden gestürzt. Sie leiht seinen Seufzern und Klagerufen zärtlich ihr Ohr. Mit Wohlgefallen betrachtet sie den Schweiß auf seiner Stirne, die Tränen in seinen Augen, die Mühen seiner Hände, den Schmerz seines Herzens und die Betrübnis seiner Seele.

42 Es ist mir, als sähe ich diese liebenswürdige Herrscherin, wie sie gleichsam ein zweites Mal die Heiligste Dreifaltigkeit zusammenruft und versammelt, um den Menschen wieder herzustellen, wie sie es getan hatte, um ihn zu bilden. Es scheint mir, als entstehe in diesem großen Rat eine Art Widerstreit zwischen der Ewigen Weisheit und der Gerechtigkeit Gottes.

43 Ich meine die Ewige Weisheit zu hören, welche für den Menschen eintritt. Sie sagt, er habe durch seine Sünde in der Tat verdient, samt seiner Nachkommenschaft auf ewig mit den aufrührerischen Engeln verdammt zu werden; aber die Gottheit müsse sich seiner erbarmen, da er mehr aus Schwäche und Unwissenheit, denn aus Bosheit gesündigt habe. Einerseits stellt sie vor, welch großer Schaden es sei, wenn ein so vollkommenes Meisterwerk auf immer der Sklave des Feindes bleibe und wenn Millionen und Millionen von Menschen um der Sünde eines einzigen willen auf ewig verloren gingen. Andererseits weist sie hin auf die durch den Fall der abtrünnigen Engel leer gewordenen Plätze im Himmel, die doch besetzt werden müssten, und auf die große Verherrlichung, die Gott in Zeit und Ewigkeit empfangen werde, wenn der Mensch gerettet würde.

44 Ich meine die Gerechtigkeit zu hören, welche antwortet, das Urteil auf Tod und ewige Verdammung sei über den Menschen und seine Nachkommen gefällt und es müsse unverzüglich und erbarmungslos vollstreckt werden, so gut wie bei Luzifer und seinem Anhang. Der Mensch sei undankbar gewesen gegen die empfangenen Wohltaten; er sei dem Teufel im Ungehorsam und Stolz gefolgt und müsse ihm nun auch in der Züchtigung folgen, denn die Sünde müsse notwendigerweise gestraft werden.

2. Der Sieg der barmherzigen Liebe

45 Die Ewige Weisheit sieht, dass nichts in der ganzen Welt fähig ist, die Sünde der Menschen zu tilgen, die Gerechtigkeit zufrieden zu stellen und den Zorn Gottes zu besänftigen. Sie will indessen den armen Menschen, dem sie in Liebe zugetan war (qu'elle aimait d'inclination), retten, und findet ein wunderbares Mittel.

O staunenswertes Geheimnis, o unbegreifliche Liebe, die bis zum Übermaß geht! Die liebenswürdige und hohe Fürstin bietet sich selbst ihrem himmlischen Vater als Opfer an, um seiner Gerechtigkeit genugzutun und seinen Zorn zu besänftigen, uns aber aus der Sklaverei des Teufels und den Flammen der Hölle zu retten und uns die ewige Glückseligkeit zu verdienen.

46 Ihr Anerbieten wird angenommen. Es wird der Beschluss gefasst und bestimmt: Die Ewige Weisheit, d. h. der Sohn Gottes soll zu gegebener Zeit und unter festgelegten Umständen Mensch werden. Während der fast viertausend Jahre, die seit der Erschaffung der Welt und der Sünde Adams bis zur Menschwerdung der göttlichen Weisheit verflossen, starben zwar Adam und seine Nachkommen nach dem von Gott gegen sie erlassenen Gesetze, aber in Voraussicht der Menschwerdung des Gottessohnes empfingen sie die Gnade, seinen Geboten zu gehorchen oder nach deren Übertretung würdige Buße zu tun. Und wenn sie in der Gnade und Liebe Gottes starben, stiegen ihre Seelen in die Vorhölle hinab, um ihren Erlöser und Befreier, der ihnen die Himmelspforte öffnen sollte, zu erwarten.

3. Die große Adventszeit

47 Während der ganzen Zeit, die bis zur Menschwerdung verfloss, bezeugte die Ewige Weisheit den Menschen auf tausenderlei Arten die Freundschaft, die sie zu ihnen hegte, und ihr Verlangen, ihnen ihre Gunst zu erweisen und sich mit ihnen zu unterhalten: «Meine Freude ist es, so sagt sie, bei den Menschenkindern zu sein. - Deliciae meae esse cum filiis hominum» (Spr 8,31). Sie geht selbst umher und sucht auf, die ihrer würdig sind. «Sie geht selbst umher, um die zu suchen, die ihrer würdig sind» (Weish 6,16); d. h. sie sucht Menschen, die würdig sind ihrer Freundschaft, würdig ihrer Schätze, würdig ihrer Person. Sie ergoss sich unter den verschiedenen Völkern in die heiligen Seelen, um aus ihnen Freunde Gottes und Propheten zu machen. Sie allein bildete alle heiligen Patriarchen, die Freunde Gottes, die Propheten und Heiligen des Alten und Neuen Testamentes: «Von Geschlecht zu Geschlecht tritt sie in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten» (Weish 7,27).

Sie, die Ewige Weisheit, hat die Gottesmänner erleuchtet und durch den Mund der Propheten gesprochen; sie hat ihnen die Wege gewiesen, sie in ihren Zweifeln erleuchtet, in ihrer Schwäche gestützt und von allen Übeln befreit.

4. Die Ewige Weisheit als Retterin der Menschheit

48 Höre nun, wie dies der Heilige Geist selbst im zehnten Kapitel des Buches der Weisheit beschreibt:

1. «Diese (Weisheit) hat den Urvater der Welt (Adam) nach seiner Erschaffung behütet.

2. Sie zog ihn auch aus seiner Sünde heraus und gab ihm Kraft, alles zu beherrschen.

3. Von ihr wich jener Ungerechte (Kain) in seinem Zorn ab und ging durch seinen brudermörderischen Zorn unter.

4. Als um seinetwillen die Erde durch eine Wasserflut verheert ward, half ihr wiederum die Weisheit, indem sie den Gerechten (Noe) durch geringfügiges Holz lenkte.

5. Sie erkannte auch, als die Völker zusammen sich der Bosheit hingaben (beim Turmbau zu Babel) und durch die Verwirrung der Sprache getrennt wurden, den Gerechten (Abraham) und bewahrte ihn unsträflich vor Gott und bewahrte ihn starkmütig gegen das Mitleid mit seinem Sohn (Isaak).

6. Sie errettete beim Untergang der Gottlosen den fliehenden Gerechten (Lot), als das Feuer auf die fünf Städte herabfiel.

7. Wovon noch jetzt zum Zeugnis ihrer Bosheit der Erdboden öde liegt und raucht und die Bäume Früchte tragen, die nicht reif werden, und die Salzsäule zum Andenken an eine ungläubige Seele dasteht.

8. Denn da sie die Weisheit nicht achteten, gerieten sie nicht nur dahin, dass sie das Gute nicht erkannten, sondern sie hinterließen auch den Menschen ein Denkmal ihrer Torheit, so dass sie in dem, worin sie gesündigt hatten, nicht verborgen bleiben konnten.

49 9. Die Weisheit aber rettete ihre Diener, welche sie verehrten, aus jeglicher Mühsal.

10. Sie führte den Gerechten (Jakob), der vor dem Zorn seines Bruders floh, auf rechten Wegen, zeigte ihm das Reich Gottes, gab ihm die Erkenntnis dessen, was heilig ist, bereicherte ihn bei seinen Mühen und segnete seine Arbeiten.

11. Sie stand ihm bei, da er mit List sollte hintergangen werden und machte ihn reich.

12. Sie schützte ihn vor seinen Feinden, stellte ihn sicher vor seinen Bedrängern und ließ ihn siegen im harten Streit (mit dem Engel), damit er erkennen sollte, wie die Weisheit mächtiger ist als alle Dinge.

13. Sie verließ den verkauften Gerechten (Joseph) nicht, sondern errettete ihn von den Sündern; sie stieg mit ihm in die Grube.

14. Sie verließ ihn auch in Banden nicht, bis sie ihm das Zepter der Herrschaft gab und Macht wider die, welche ihn unterdrückt hatten; und sie erwies die als Lügner, welche ihn so verunglimpften und verlieh ihm ewigen Ruhm.

15. Sie erlöste das gerechte Volk (Israel) und das unsträfliche Geschlecht von den Völkern, die es unterdrückten.

16. Sie ging in die Seele des Dieners Gottes (Moses) ein und trat furchtbaren Königen entgegen durch Wunder und Zeichen.

17. Sie gab den Gerechten (Israeliten) den Lohn für ihre Mühen, leitete sie auf wunderbare Wege, und war ihnen (durch die Wolken- und Feuersäule) Schirm am Tage und Stern und Leuchte des Nachts.

18. Sie führte sie durch das Rote Meer und brachte sie durch große Gewässer.

19. Ihre Feinde aber versenkte sie ins Meer und ließ sie aus der Tiefe des Abgrundes heraufkommen. Darum trugen die Gerechten die Beute der Gottlosen davon.

20. Sie priesen mit ihren Gesängen, o Herr, deinen heiligen Namen und lobten einhellig deine siegreiche Hand.

21. Denn die Weisheit öffnete den Mund der Stummen und machte die Zungen der Unmündigen beredt.»

50 In dem folgenden (11.) Kapitel des Buches der Weisheit bezeichnet der Heilige Geist die verschiedenen Plagen, aus denen die Weisheit Moses und die Israeliten während ihrer Wüstenwanderung befreite. Und man kann beifügen, dass alle jene, welche im Alten und Neuen Testament aus großen Gefahren errettet wurden, wie z. B. Daniel aus der Löwengrube, Susanna aus der falschen Anschuldigung des Verbrechens, die drei Jünglinge aus dem Feuerofen zu Babyion, der heilige Petrus aus dem Gefängnis, der heilige Johannes aus dem siedenden Öl und eine Unmenge von Märtyrern und Bekennern aus den Qualen, mit denen man ihren Körper peinigte, und aus den Verleumdungen, mit denen man ihren Ruf verdunkelte. Man kann beifügen, sage ich, dass alle diese von der Ewigen Weisheit errettet oder geheilt worden sind. «Denn durch die Weisheit wurde denen Heil, die dir, o Herr, von Anbeginn her wohlgefällig waren» (Weish 9,19).

51 Rufen wir darum aus: Tausendmal glücklich eine Seele, von welcher die Weisheit Besitz genommen, um darin Wohnung zu nehmen! Welche Kämpfe man ihr auch liefern mag, sie wird siegreich bleiben; welche Gefahren sie auch bedrohen mögen, sie wird daraus befreit werden; von welcher Traurigkeit sie niedergedrückt werde, sie wird erfreut und getröstet werden; in welche Demütigungen sie auch fallen mag, sie wird daraus erhoben und verherrlicht werden in Zeit und Ewigkeit!

Fünftes Kapitel: Die wunderbare Erhabenheit der Ewigen Weisheit

52 Der Heilige Geist hat sich herabgelassen, uns im 8. Kapitel des Buches der Weisheit ihre Vortrefflichkeit in so erhabenen und verständlichen Worten zu zeigen, dass es genügt, sie einfach mit einigen kleinen Erläuterungen wiederzugeben.

53 1. «(Die Weisheit) reicht also mit Kraft von einem Ende zum anderen und ordnet alles mit Milde.»

Nichts ist so süß wie die Weisheit, sie ist süß an sich, ohne Bitterkeit; süß für alle jene, die sie lieben, ohne je Überdruss aufkommen zu lassen. Sie ist sanft in ihrer Führung, ohne irgendwie Gewalt anzutun. Oft möchte man meinen, sie zeige sich in Unfällen und Verwirrungen, die vorkommen, gar nicht, so sehr ist sie verborgen und sanft; aber mit unwiderstehlicher Kraft führt sie alles unmerklich und bestimmt zum Ziel auf Wegen, die dem Menschen unbekannt sind. Der Weise soll, nach ihrem Beispiel, fest mit Milde und milde mit Festigkeit handeln. Suaviter fortis et fortiter suavis.

54 2. «Sie habe ich geliebt und sie von meiner Jugend an auserwählt und habe sie mir als Braut heimzuführen gesucht …»

Wer immer den großen Schatz der Weisheit erwerben will, muss ihn nach dem Beispiele Salomons beizeiten suchen, und zwar womöglich schon von früher Jugend an; Geistigerweise und rein, wie ein keuscher Bräutigam seine Braut; beharrlich bis ans Ende, bis man sie erlangt hat. Es ist gewiss, dass die Ewige Weisheit eine solche Liebe zu den Seelen hegt, dass sie sich mit ihnen vermählt und eine geistige, aber dennoch wahre Ehe, welche die Welt gar nicht kennt, mit ihnen eingeht. Die Geschichte liefert uns Beispiele hierfür. (wie z. B. der Selige Heinrich Suso)

55 3. «Sie verherrlicht ihren edlen Ursprung, da sie mit Gott Umgang hat, und der Herr aller Dinge hat sie lieb.»

Die Weisheit ist Gott selbst: Dies ist der Ruhm ihres Ursprungs. Gott der Vater hat an ihr sein innigstes Wohlgefallen, wie er es bezeugt hat: «Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen gefunden habe» (Mt 3,17). So sehr wird die Ewige Weisheit geliebt!

56 4. «Denn sie ist die Lehrmeisterin der Zucht Gottes und die Lenkerin seiner Werke.»

Die Weisheit allein erleuchtet jeden Menschen, der in diese Welt kommt (vgl. Joh 1,9); sie allein ist vom Himmel gekommen, um uns die Geheimnisse Gottes zu lehren; und wir haben keinen anderen wahren Lehrmeister als diese menschgewordene Weisheit, genannt Jesus Christus. Sie allein führt alle Werke Gottes ans Ziel, insbesondere die Heiligen; sie lässt sie erkennen, was sie tun sollen, und lässt sie verkosten und durchführen, was sie ihnen zu erkennen gegeben hat.

57 5. «Und wenn Reichtum wünschenswert ist im Leben, was ist reicher als die Weisheit, die alles schafft?»

6. «Wenn der Geist des Menschen etwas wirkt, wer ist unter allem, was da ist, eine größere Künstlerin als sie?»

7. «Und wenn jemand Gerechtigkeit lieb hat, in ihren Mühen findet er die Tugenden als Wirkung; denn sie lehrt Mäßigkeit und Klugheit, Gerechtigkeit und Starkmut, welche das Nützlichste sind im Menschenleben.»

Salomon zeigt, gleichwie man nur die Weisheit allein lieben dürfe, so müsse man auch von ihr allein alles erwarten, die Glücksgüter, die Kenntnis der Naturgeheimnisse, die Güter der Seele, die drei göttlichen und die vier sittlichen Tugenden.

58 8. «Wenn aber jemand Verlangen trägt, viel zu wissen, so weiß sie das Vergangene und ermisst das Zukünftige, sie versteht kunstvolle Wendungen der Reden und Lösung der Rätsel; Zeichen und Wunder weiß sie, ehe sie geschehen, und die Ereignisse der Zeiten und Weltalter.» Wer immer in der Ordnung der Gnade und der Natur eine Wissenschaft besitzen will, die nicht gewöhnlich, trocken und oberflächlich, sondern außerordentlich, heilig und tief sein soll, der muss sich alle Mühe geben, jene Weisheit zu erlangen, ohne die «der Mensch vor Gott nichts gilt, - in nihilum computabitur» (vgl. Weish 1,17), mag er auch in den Augen der Welt als gelehrt gelten.

59 9. «Deshalb beschloss ich, sie mir zur Lebensgefährtin heimzuführen, wohl wissend, dass sie mich ihrer Güter teilhaftig machen und in Sorgen und Trauer mir zusprechen wird.»

Wer kann arm sein, wenn er die Weisheit besitzt, die so reich und freigebig ist? Wer kann traurig sein, wenn er die Weisheit hat, die so süß, so schön und so zart ist? Wer von all denen, welche die Weisheit suchen, spricht aufrichtig mit Salomon: «Deshalb beschloss ich?» Die meisten haben diesen aufrichtigen Entschluss nicht gefasst. Sie möchten wohl, aber wollen nicht, sie fassen höchstens schwankende und gleichgültige Vorsätze. Darum finden sie die Weisheit niemals.

60 10. «Um ihretwillen werde ich bei den Menschen Ruhm erlangen und Ehre bei den Alten schon als Jüngling.

11. Auch werde ich scharfsinnig im Gericht erfunden werden, und in den Augen der Mächtigen bewundert, und die Fürsten werden mich anstaunen.

12. Wenn ich schweige, werden sie auf mich warten, wenn ich spreche, auf mich lauschen, und wenn ich länger fortrede, die Hände auf ihren Mund legen.

13. Überdies werde ich durch sie Unsterblichkeit erlangen und den Nachkommen ein ewiges Andenken hinterlassen.

14. Ich werde Völker beherrschen und Nationen werden mir untertan sein.»

Über diese Worte Salomons, in denen er sich selber lobt, stellt der heilige Gregor folgende Betrachtung an: «Jene, die Gott erwählt hat, um seine heiligsten Worte aufzuschreiben, treten in gewisser Hinsicht aus sich heraus, erfüllt vom Heiligen Geist, um in denjenigen einzugehen, der sie ganz beherrscht, und indem sie zur Zunge Gottes geworden, betrachten sie bei allem, was sie sagen, nur Gott. Sie sprechen von sich selbst, wie von einem anderen.» (Moralium 1, 3; PL 73,517-518)

61 15. «Furchtbare Könige werden mich fürchten, wenn sie mich hören; unter dem Volk werde ich mich gütig und im Kriege tapfer zeigen.

16. Wenn ich wieder in mein Haus gehe, werde ich bei ihr ausruhen; denn ihr Umgang hat nichts Bitteres und ihre Gesellschaft nichts Widriges, sondern Frohsinn und Freude.

17. Indem ich nun dies bei mir bedachte und in meinem Herzen erwog, dass Unsterblichkeit mit der Weisheit verwandt sei,

18. und in ihrer Freundschaft edles Vergnügen, in den Werken ihrer Hände unerschöpflicher Reichtum, in ihren Wechselreden Weisheit und in ihrer Unterhaltung Ruhm sei, ging ich umher, suchend, wie ich sie in mein Haus aufnehmen könnte.»

Nachdem der weise Salomon in kurzen Worten zusammengefasst, was er vorher ausgeführt hatte, zieht er folgenden Schluss daraus: «Ich ging überall umher, sie aufzusuchen». Um die Weisheit zu erlangen, muss man sie also eifrig suchen, d. h. man muss bereit sein, alles zu verlassen, alles zu leiden und alles zu unternehmen, um in ihren Besitz zu gelangen. Nur wenige finden sie, weil nur wenige sie so suchen, wie es sich geziemt.

62 Im siebenten Kapitel des Buches der Weisheit spricht der Heilige Geist folgendermaßen von der Vortrefflichkeit der Weisheit: «In der Weisheit ist ein Geist des Verstandes, ein heiliger, einzigartiger, mannigfaltiger, feiner, beredter, beweglicher, unbefleckter, zuverlässiger, lieblicher, Gutes liebender, scharfsinniger, nicht zu hemmender, wohltuender, menschenfreundlicher, gütiger, fester, sorgenfreier, sicherer, allvermögender, alles vorhersehender, alle Geister durchdringender, einsichtsvoller, reiner, feiner Geist. Denn beweglicher als alles Bewegliche ist die Weisheit, sie dringt überall hin, kraft ihrer Reinheit» (Weish 7,22-24).

«Die Weisheit ist endlich ein unerschöpflicher Schatz für die Menschen; wer ihn benützt, wird der Freundschaft Gottes teilhaftig und um der Gaben der Wissenschaft willen empfohlen» (Weish 7,14).

63 Wer wollte nach so kraftvollen und doch so zärtlichen Worten des Heiligen Geistes über die Schönheit, die Vorzüglichkeit und die Schätze der Weisheit, diese Weisheit nicht lieben und nicht mit allen Kräften suchen? Um so mehr, da sie ein unendlicher Schatz ist, der dem Menschen gehört, für den der Mensch erschaffen ist, und da sie selbst ein unendliches Verlangen trägt, sich dem Menschen hinzugeben.

Sechstes Kapitel: Die Sehnsucht der göttlichen Weisheit, sich den Menschen hinzugeben

1. Die Liebe der göttlichen Weisheit zu den Menschen

64 Es besteht ein so inniges Freundschaftsverhältnis (une si grande liaison d'amitié) zwischen der Ewigen Weisheit und den Menschen, dass wir es nicht zu begreifen vermögen. Die Weisheit ist für den Menschen und der Mensch für die Weisheit bestimmt. «Sie ist ein unerschöpflicher Schatz für die Menschen» (Weish 7,14), und nicht für die Engel, noch für die übrigen Geschöpfe.

Diese Freundschaft der Weisheit zum Menschen kommt daher, dass er in seiner Erschaffung der Abriss der Wunder der Weisheit, ihre große und kleine Welt, ihr lebendiges Abbild und ihr Stellvertreter auf Erden ist. Seitdem sie aber im Übermaß ihrer Liebe zum Menschen selbst Mensch und so dem Menschen ähnlich geworden, nachdem sie um ihn zu erlösen, sich dem Tod ausgeliefert, liebt sie ihn als ihren Bruder, Freund, Jünger und Schüler, als den Preis ihres Blutes und als den Miterben ihres Reiches, so dass man ihr unendlich Gewalt antut, wenn man ihr ein Menschenherz verweigert oder entreißt.

2. Ihr Brief an die Menschen

65 Diese ewige und höchst liebenswürdige Schönheit hat ein solches Verlangen nach der Freundschaft des Menschen, dass sie ein Buch eigens zu dem Zwecke schrieb, diese Freundschaft zu gewinnen, in welchem sie ihre Vorzüge und ihre Sehnsucht nach dem Menschen offenbart. Dieses Buch ist gleichsam ein Brief einer Liebenden an ihren Geliebten, um dessen Zuneigung zu gewinnen. Die darin ausgedrückte Sehnsucht nach dem Menschenherzen ist so eindringlich, das Werben um seine Freundschaft so zärtlich, ihre Einladung und Wünsche so liebevoll, dass man fast glauben möchte, wenn man sie hört, sie sei nicht die Königin des Himmels und der Erde und sie bedürfe des Menschen, um glücklich zu sein.

66 Um den Menschen zu finden, eilt sie bald auf der großen Landstraße dahin, bald steigt sie auf die Gipfel der höchsten Berge, bald geht sie an die Tore der Städte, bald auf die öffentlichen Plätze, mitten in die Versammlungen hinein und ruft, so laut sie kann: «O ihr Männer, o Menschenkinder! An euch ergeht seit langem mein Ruf» (Weish 8,4), an euch wendet sich meine Stimme; nach euch sehne ich mich; euch suche ich; euch verlange ich. Hört, kommet zu mir; ich will euch glücklich machen!

Und um sie mächtiger an sich zu ziehen, sagt sie zu ihnen: «Durch mich und meine Gnade regieren die Könige, befehlen die Fürsten, tragen die Mächtigen und Monarchen Zepter und Krone. Ich gebe den Gesetzgebern die Wissenschaft ein, gute Gesetze zu erlassen, um die Staaten zu ordnen, und ich gebe den Behörden die Kraft, billig und furchtlos die Gerechtigkeit zu üben.»

67 «Ich liebe, die mich lieben, und wer immer eifrig sucht, findet mich und mit mir den Überfluss an allen Gütern; denn die Reichtümer, der Ruhm, die Ehren, die Würden, die echten Vergnügen und die wahren Tugenden sind bei mir, und es ist einem Menschen unvergleichlich besser, mich zu besitzen als alles Gold und Silber der Erde, alle Edelsteine und alle Güter des ganzen Weltalls. Die Menschen, die mich lieben, führe ich auf den Wegen der Gerechtigkeit und Klugheit, und ich bereichere sie mit dem Reichtum der wahren Gotteskinder bis zum Vollmaß ihrer Wünsche; und seid überzeugt, dass meine größte Freude und mein liebstes Vergnügen ist, mit den Menschenkindern zusammen zu sein und bei ihnen zu wohnen» (vgl. Spr 8,4;15-31).

68 «Nun denn, meine Kinder, hört auf mich! Glückselig der Mensch, der auf mich hört und der an meinen Türen wacht Tag für Tag und Acht hat an den Pfosten meines Tores! Wer mich findet, findet das Leben und erlangt Heil von der Güte des Herrn. Wer sich aber gegen mich verfehlt, schadet seiner eigenen Seele. Alle, die mich hassen, lieben den Tod» (Spr 8,31-36).

69 Nachdem die Ewige Weisheit alle Zärtlichkeit und Anziehungskraft aufgeboten, um die Freundschaft der Menschen zu gewinnen, fürchtet sie noch, ihr wunderbarer Glanz und ihre erhabene Majestät könnte noch ein Hindernis bilden, so dass die Menschen aus Ehrfurcht es nicht wagen, sich ihr zu nahen. Darum lässt sie ihnen mitteilen, der Zutritt zu ihr sei leicht, sie zeige sich jenen, die sie lieben, gerne; sie komme denen zuvor, die nach ihr verlangen. Sie zeige sich ihnen zuerst, und wer frühmorgens sich erhebe, um sie zu suchen, der habe nicht viel Mühe, sie zu finden, denn er werde sie an seiner Türe sitzend finden, um auf ihn zu warten (vgl. Weish 6,12-14).

3. Die Menschwerdung

70 Um den Menschen möglichst entgegenzukommen und ihnen die Liebe augenscheinlicher zu beweisen, ging die Ewige Weisheit schließlich so weit, Mensch zu werden, ein Kind, ja ganz arm zu werden, und sogar für sie am Kreuze zu sterben.

Wie oft hat sie während ihres Erdenwandels ausgerufen: «Kommt zu mir, kommt alle zu mir» (Mt 11,28). «Ich bin es, fürchtet euch nicht» (Joh 6,20). «Warum fürchtet ihr euch? Ich bin euch ja ähnlich, ich liebe euch. Fürchtet ihr vielleicht, weil ihr Sünder seid? O gerade die Sünder suche ich; ich bin der Freund der Sünder. Vielleicht, weil ihr durch eure Schuld euch aus dem Schafstall verirrt habt? O, ich bin der gute Hirt! Vielleicht, weil ihr mit Sünden beladen, mit Schmutz bedeckt, von Traurigkeit niedergedrückt seid? O, eben deshalb müsst ihr zu mir kommen; denn ich werde sie euch abnehmen, euch reinigen und trösten.»

4. Der Triumph der Liebe der göttlichen Weisheit

71 Da die Ewige Weisheit einerseits die Größe ihrer Liebe zum Menschen dadurch zeigen wollte, dass sie an seiner statt starb, um ihn zu retten, und sich andererseits doch wieder nicht entschließen konnte, den Menschen zu verlassen, erfand sie ein geheimnisvolles Mittel, zugleich zu sterben und zu leben und bis ans Ende der Welt bei den Menschen zu bleiben. Diese liebevolle Erfindung ist die heilige Eucharistie. Und damit es ihr gelinge, ihre Liebe durch dieses Geheimnis zur Vollendung zu bringen, scheut sie sich nicht, alle Gesetze der Natur zu ändern und außer Kraft zu setzen.

Wenn sie sich nicht unter dem Glanz eines Diamanten oder eines anderen Edelsteines verbirgt, so geschieht dies, weil sie nicht nur äußerlich bei den Menschen bleiben will; sondern sie verbirgt sich unter der Gestalt eines kleinen Stückleins Brot, der natürlichen Nahrung des Menschen, damit sie so, vom Menschen genossen, in sein Herz eingehe, um darin ihre Wohnung zu finden. «so handelt nur, wer glühend liebt!» (Joh. Chrysostomus)

«O ewige Weisheit», sagt ein Heiliger (B. Guerricus), «O Gott, der nach dem Menschen ein solches Verlangen trägt», dass er sich ihm in verschwenderischem Maße hingibt!

5. Strafen derjenigen, die sie verschmähen

72 Wie hartherzig und undankbar müssen wir doch sein, wenn uns ein so sehnliches Verlangen, so liebevolle Bemühungen und die Freundschaftsbeweise der so liebenswürdigen Weisheit nicht rühren!

Wenn wir aber, anstatt auf sie zu hören, ihr unser Ohr verschließen; wenn wir, statt sie zu suchen, sie fliehen; wenn wir, anstatt sie zu ehren und zu lieben, sie verachten und beleidigen, wie groß ist da nicht unsere Grausamkeit und welches muss schon in dieser Welt unsere Züchtigung sein! «Jene, sagt der Heilige Geist, die sich nicht darum bemühten, die Weisheit zu erwerben, haben nicht nur das Gute nicht erkannt, sondern auch den Menschen ein Mahnmal ihrer Torheit hinterlassen, so dass ihre Fehler nicht verborgen bleiben konnten» (Weish 10,8).

Dreimal unglückselig sind also schon in diesem Leben jene, die sich keine Mühe geben, die Weisheit zu erwerben. Sie fallen erstens in Unwissenheit und Verblendung, zweitens in Torheit und drittens in Ärgernis und Sünde.

Welches aber ist ihr Unglück im Tod, wenn sie gegen ihren Willen den Vorwurf der Weisheit hören müssen: «Ich rief euch, und ihr habt mir nicht geantwortet» (Spr 1,24). Tag für Tag habe ich meine Hände nach euch ausgestreckt, und ihr habt mich verachtet; ich habe an eurer Türe sitzend auf euch gewartet, und ihr seid nicht zu mir gekommen: «Daher werde auch ich bei eurem Untergang lachen und werde spotten, wenn euch begegnet, was ihr fürchtetet» (Spr 1,24-26). Ich habe keine Ohren mehr, um euer Rufen zu hören, noch Augen, um eure Tränen zu sehen, kein Herz mehr, um von eurem Wehklagen gerührt zu werden, noch Hände, um euch Hilfe zu bringen!

Wie groß aber wird ihr Unglück erst in der Hölle sein! Lies nach, was der Heilige Geist selbst von dem Unglück und Jammer, von der Reue und Verzweiflung der Toren in der Hölle sagt, die zu spät einsehen, welches ihre Torheit und ihr Unglück war, die Weisheit Gottes im Leben verachtet zu haben. «So sprechen die Sünder in der Hölle» (Weish 5,14). Sie beginnen weise zu sprechen, aber erst in der Hölle.

6. Folgerungen

73 Verlangen wir also einzig nach der göttlichen Weisheit und suchen wir sie allein! «Alles, was man wünschen kann, kann mit ihr nicht verglichen werden» (Spr 3,15). Und an einer anderen Stelle: «Nichts, was man nur wünschen mag, kann mit ihr verglichen werden» (Spr 8,11). Man kann nichts Höheres wünschen als die Weisheit. Was du somit an Gaben Gottes und himmlischen Schätzen auch wünschen kannst, wenn du nicht nach der Weisheit verlangst, so wünschest du etwas, was geringer ist als sie.

O wenn wir wüssten, was dieser unendliche Schatz der Weisheit für den Menschen bedeutet, (denn ich gestehe, dass ich bisher so gut wie nichts von ihr gesagt habe), wir würden Tag und Nacht nach ihr seufzen; wir würden mit Windeseile bis an die Grenzen der Erde fliegen, und wir würden, sofern es nötig wäre, mit Freuden durch Feuer und Flammen gehen, um sie zu verdienen.

Aber man muss sich bei der Wahl der Weisheit vor Täuschung hüten, denn es gibt mehrere Arten von Weisheit.

Siebtes Kapitel: Wahl der wahren Weisheit

74 Gott hat seine Weisheit, und diese ist die einzig wahre, die als ein großer Schatz geliebt und gesucht werden muss.

Aber auch die verdorbene Welt hat ihre Weisheit, und diese muss als schlecht und verderblich verworfen und verabscheut werden.

Auch die Philosophen haben ihre Weisheit, und diese muss als unnütz und für das Seelenheil gar oft schädlich verachtet werden.

Wir haben bisher, wie der Apostel sagt, von der Weisheit Gottes zu den vollkommenen Seelen geredet (1 Kor 2,6). Damit sie jedoch nicht vom falschen Schein der weltlichen Weisheit getäuscht werden, wollen wir deren Trug und Bosheit zeigen.

1. Begriff der weltlichen Weisheit

75 Die Weisheit der Welt ist jene, von der geschrieben steht: «Zugrunde richten werde ich die Weisheit der Weisen» (1 Kor 1,19) im Sinne der Welt. «Die Weisheit des Fleisches ist feindlich gegen Gott» (Röm 8,7). «Diese Weisheit kommt nicht vom Himmel, sondern sie ist eine irdische, fleischliche, teuflische» (Jak 3,15).

Die Weisheit der Welt besteht in einer vollkommenen Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Gebräuchen der Welt. Sie ist ein beständiges Streben nach Größe und Ehre. Sie ist eine beständige und geheime Sucht nach Vergnügen und nach dem eigenen Vorteil, zwar nicht auf grobe, schreiende Art, wobei man sich Anstoß erregende Verfehlungen zuschulden kommen ließe, sondern auf feine, trügerische, listige Weise. Sonst wäre dies nach dem Urteile der Welt nicht mehr Weisheit, sondern Liederlichkeit.

2. Der Weise im Sinne der Welt

76 Ein Weiser im Sinne der Welt ist also ein Mensch, der seine Sache, seine Geschäfte gut versteht und alles zu seinem zeitlichen Vorteil zu lenken weiß, scheinbar ohne es zu wollen; der die Kunst versteht, sich zu verstellen und auf feine Weise zu täuschen, ohne dass man es gewahrt; der etwas sagt oder tut und dabei ganz anders denkt; der alle Gebräuche und Anstandsregeln der Welt kennt; der es versteht, sich allem anzupassen, damit er sein Ziel erreiche, ohne sich dabei viel um die Ehre und die Interessen Gottes zu kümmern. Er versteht es, einen geheimen, aber verderblichen Einklang herzustellen zwischen der Wahrheit und der Lüge, zwischen dem Evangelium und der Welt, zwischen der Tugend und der Sünde, zwischen Christus und Belial; der als Ehrenmann, aber nicht als fromm gelten will; der gerne alle Andachtsübungen, die nicht zu den seinigen passen, verachtet, vergiftet oder verurteilt. Ein Weiser im Sinne der Welt endlich ist ein Mensch, der, weil er sich nur vom Lichte der Sinne und der natürlichen Vernunft leiten lässt, sich nur den Schein eines Christen und rechtschaffenen Menschen geben will, ohne sich indessen darum zu kümmern, Gott zu gefallen und durch Bußfertigkeit die Sünden zu tilgen, die er gegen die göttliche Majestät begangen hat.

3. Seine Grundsätze

77 Das ganze Verhalten eines solchen klugen Weltmenschen beruht ausschließlich: auf der Ehrenfrage, auf dem «was würde man dazu sagen?» auf Sitte und Gewohnheit, auf dem Lebensgenuss, auf dem eigenen Vorteil, auf dem vornehmen Wesen, auf Witzigkeit. Dies sind die sieben nach seiner Meinung harmlosen Beweggründe, auf die er sich stützt, um ein ruhiges Leben zu führen.

Er besitzt besondere Tugenden, um derentwillen die Weltmenschen ihn heiligsprechen, wie z. B. Durchtriebenheit, Schlauheit, Gewandtheit, Geschicklichkeit, galante Umgangsformen, Höflichkeit und Heiterkeit. In seinen Augen sind Unempfindlichkeit, Dummheit, Armut, Ungeschliffenheit, Frömmelei ganz beträchtliche Sünden.

78 Er befolgt so treu wie möglich die Gebote, welche die Welt ihm auferlegt:

- Du sollst dich in der Welt gut auskennen;

- Du sollst als Ehrenmann dastehen;

- Du sollst in deinen Geschäften erfolgreich sein;

- Du sollst festhalten, was du hast;

- Du sollst es zu etwas bringen;

- Du sollst dir Freunde machen;

- Du sollst viel in der feinen Gesellschaft verkehren;

- Du sollst gut essen und trinken;

- Du sollst dir keine trüben Gedanken machen;

- Du sollst auffälliges und ungeschliffenes Benehmen und die Frömmelei meiden.

79 Nie war die Welt so schlecht wie jetzt, weil sie nie so verschlagen, so schlau und auf ihre Art klug war. Sie bedient sich so gewandt der Wahrheit, um die Lüge beizubringen, der Tugend, um die Sünde zu rechtfertigen, ja selbst der Grundsätze Jesu Christi, um ihre eigenen zu bemänteln, dass sogar diejenigen oft getäuscht werden, die am meisten von der göttlichen Weisheit besitzen. «Die Zahl derer, die in den Augen der Welt Weise, in den Augen Gottes aber Toren sind, ist unendlich groß - Stultorum infinitus numerus» (Sir 1,15).

4. Die irdische Weisheit

80 Die irdische Weisheit, von welcher der heilige Jakobus spricht, ist die Liebe zu den Gütern dieser Welt, (die Habsucht bzw. Augenlust). Dieser irdischen Weisheit huldigen innerlich die Klugen dieser Welt, wenn sie das Herz an ihre Besitztümer hängen und darnach trachten, reich zu werden. Wenn sie Prozesse führen und sich in nutzlose Auseinandersetzungen verstricken, um irdische Güter zu erwerben oder zu bewahren, wenn sie den größten Teil ihrer Zeit nichts anderes denken, reden oder tun, außer zum Zweck, ein zeitliches Gut zu besitzen oder zu bewahren, und endlich dabei sich um ihr Seelenheil und die Heilsmittel, wie Beichte, Kommunion, Gebet usw. nicht weiter kümmern, als nur hie und da, auf oberflächliche Weise, um die Sache erledigt zu haben und um den Schein zu wahren.

5. Die fleischliche Weisheit

81 Die fleischliche Weisheit ist die Vergnügungssucht (bzw. Fleischeslust). Dieser Weisheit huldigen die Klugen dieser Welt, wenn sie überall nur den Sinnengenuss suchen; wenn sie dem guten Essen und Trinken frönen; wenn sie alles von sich fern halten, was den Körper abtöten oder ihm wehtun könnte, wie z. B. Fasten und körperliche Strengheiten usw.; wenn sie gewöhnlich nur ans Essen, Trinken, Spielen, Lachen, an Vergnügen und angenehmen Zeitvertreib denken, und sie weiche Betten, zerstreuende Spiele, angenehme Feste und Gesellschaften aufsuchen.

Und nachdem sie skrupellos alle diese Vergnügen genossen haben, die sie sich erlauben konnten, ohne der Welt zu missfallen und ihre Gesundheit zu gefährden, suchen sie den weitherzigsten Beichtvater auf (so nennen sie nämlich jene laxen Beichtväter, die ihre Pflicht nicht tun), um von ihm auf billige Weise den Frieden für ihr verweichlichtes Leben zu erlangen. Ich sage auf billige Weise, denn diese Klugen nach dem Fleische wünschen gewöhnlich als Buße nur einige Gebete oder Almosen, und hassen alles, was für den Körper mühevoll sein könnte.

6. Die teuflische Weisheit

82 Die teuflische Weisheit ist die Liebe und Hochschätzung der Ehre, (die Ehrsucht bzw. Hoffart des Lebens). Dieser Weisheit huldigen die Klugen dieser Welt, wenn sie, wenn auch im geheimen, nach Größe, Ehren, Würden und hohen Ämtern streben; wenn sie suchen, von den Menschen gesehen, geachtet, gelobt und gerühmt zu werden; wenn sie in ihren Studien, Arbeiten und Kämpfen, in ihren Worten und Werken nur menschliche Ehre und Ruhm ins Auge fassen, um als fromme Personen, gelehrte Leute, als große Führer, gelehrte Advokaten, hoch verdiente und ausgezeichnete Persönlichkeiten von großer Besonnenheit zu gelten; wenn sie es nicht leiden können, dass man sie geringschätzig behandelt oder tadelt; wenn sie ihre Fehler verbergen und nur ihre schöne Seite sehen lassen.

83 Mit dem göttlichen Heiland, der menschgewordenen Weisheit, müssen wir diese drei Arten falscher Weisheit verabscheuen und verurteilen, um die wahre Weisheit zu erlangen, welche nie ihr eigenes Interesse sucht, und die sich nicht auf Erden und in den Herzen jener findet, welche bequem dahinleben, und welcher alles ein Gräuel ist, was vor den Menschen als groß und erhaben gilt.

7. Die natürliche Weisheit oder Philosophie

84 Außer dieser weltlichen Weisheit, welche verwerflich ist und verderblich wirkt, gibt es unter den Philosophen eine natürliche Weisheit.

Diese war es, die seinerzeit von den Ägyptern und Griechen so eifrig gesucht wurde: «Die Griechen suchen Weisheit» (1 Kor 1,22). Die sie erworben hatten, nannte man Magier oder Weise. Diese Weisheit besteht in einer hervorragenden Kenntnis der Natur in ihren tiefsten Ursachen. Sie wurde Adam, als er noch im Stand der Unschuld war, in ihrer ganzen Fülle mitgeteilt, sie ward Salomon in reichlichem Maße verliehen, und im Laufe der Zeit haben manche große Männer, wie die Geschichte dies lehrt, sie teilweise empfangen.

85 Die Philosophen preisen ihre philosophischen Beweisgründe als ein Mittel, die Weisheit zu erlangen. Die Alchimisten preisen die Geheimnisse ihrer Kabbalistik, um den Stein der Weisen zu finden, in welchem nach ihrer Einbildung diese Weisheit eingeschlossen sein müsse.

In ganz christlichem Sinne studiert, öffnet die Philosophie in der Tat den Geist und befähigt ihn zum Studium der höheren Wissenschaften; niemals aber vermittelt sie jene so genannte natürliche Weisheit, die im Altertum so gerühmt wurde.

8. Die Chemie oder Alchimie

(Mancher Leser mag sich wohl fragen, warum Grignion von Montfort diesen Abschnitt über die Alchimie schreibt. Dieses Goldmachergewerbe blühte zur damaligen Zeit als betrügerisches Handwerk, so dass es notwendig erschien, als Volksmissionar auf dessen Gefahren hinzuweisen, wie es Grignion tat.)

86 Die Chemie oder Alchimie oder die Wissenschaft, die natürlichen Körper aufzulösen und sie auf ihre ersten Elemente zurückzuführen, ist noch nichtiger und gefährlicher. Diese Wissenschaft, an sich zwar echt, hat eine Unmasse von Leuten infolge des Zieles, das sie sich steckten, betrogen und getäuscht. Und ich zweifle nicht mehr, kraft der Erfahrung, die ich selbst hierüber besitze, dass der Teufel sich ihrer heutzutage unter dem Vorwand, den Stein der Weisen zu finden, dazu bedient, manchen um sein Geld und seine Zeit, um die Gnade und sogar um die Seligkeit zu bringen. Es gibt keine Wissenschaft, die größere Dinge, und zwar durch ganz augenscheinliche Mittel anstrebt.

Diese Wissenschaft verspricht, den Stein der Weisen zu finden, oder ein Pulver, welches sie Streupulver nennen. In irgendein flüssiges Metall geworfen, verwandle es dieses in Silber oder Gold; es verleihe Gesundheit, heile die Krankheiten, ja es verlängere sogar das Leben und wirke eine Unmenge staunenswerter Dinge, die natürlich bei den Unwissenden als göttlich und wunderbar gelten.

Es gibt eine Gesellschaft von Leuten, welche sich Gelehrte in dieser so genannten kabbalistischen Wissenschaft nennen. Sie halten aber die Geheimnisse dieser Wissenschaft so sehr verborgen, dass sie eher das Leben verlieren, als ihre vorgeblichen Geheimnisse preiszugeben.

87 Was sie vorgeben, rechtfertigen sie:

1. Durch die Geschichte Salomons, von dem sie versichern, er habe das Geheimnis des Steines der Weisen empfangen. Sie schreiben ihm auch ein geheimes, aber falsches und gefährliches Buch, unter dem Titel «Salomons Schlüssel», zu.

2. Durch die Geschichte Esdras, dem Gott einen himmlischen Trank gegeben habe, der ihm die Weisheit verlieh, wie im 7. Buch Esdras zu lesen ist (apokryphe Schrift).

3. Durch die Geschichte des Raymundus Lullus und mehrerer anderer großer Philosophen, welche nach ihrer Behauptung den Stein der Weisen sollen gefunden haben.

4. Um endlich ihre Betrügereien mit dem Mantel der Frömmigkeit zu bedecken, sagen sie, dies sei eine Gabe Gottes, die er nur jenen verleihe, welche lange Zeit darum gebetet und sie durch ihre Arbeiten und Gebete verdient haben.

88 Ich habe die Träumereien und Täuschungen dieser falschen Wissenschaft angeführt, damit man nicht, wie so viele andere, betrogen werde. Denn ich kenne solche, welche schließlich, nachdem sie manche unnütze Ausgabe gemacht und viel Zeit verloren hatten, um unter den schönsten und frömmsten Vorwänden der Welt und auf ganz fromme Art dieses Geheimnis zu finden, den Trug und die Täuschung bereuen und bekennen mussten.

Ich glaube nicht, dass der Stein der Weisen möglich sei. Der gelehrte DeI Rio behauptet es und will die Möglichkeit beweisen, andere verneinen es. Wie dem auch sei, es geziemt sich nicht und ist sogar gefährlich, dass ein Christ es versuche, ihn zu finden. Das hieße Jesus Christus eine Unbill zufügen, ihm, der menschgewordenen Weisheit, in dem alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft Gottes eingeschlossen sind, sowie alle Güter der Natur, der Gnade und der Glorie. Das wäre auch Ungehorsam gegenüber dem Heiligen Geist, welcher sagt: «Suche nicht zu ergründen, was deine Kräfte übersteigt» (Sir 3,21).

9. Folgerung

89 Bleiben wir daher bei Jesus Christus, der ewigen und menschgewordenen Weisheit, fern von ihm erwartet uns nur Verirrung, Lüge und Tod. «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» (Joh 14,6).

Betrachten wir nun die Wirkungen der göttlichen Weisheit in den Seelen.

Achtes Kapitel: Wunderbare Wirkungen der Ewigen Weisheit in den Seelen derjenigen, die sie besitzen

90 Weil diese unübertreffliche Schönheit natürlicherweise das Gute liebt (Weish 7,22), namentlich aber das Gute im Menschen, so findet sie ihre größte Freude daran, sich mitzuteilen. Deshalb sagt der Heilige Geist, sie suche unter den Völkern Menschen, die ihrer würdig seien, und sie ergieße sich «in die heiligen Seelen», in die sie eingeht. Diese Mitteilung der Ewigen Weisheit hat sie zu «Freunden Gottes und Propheten» gemacht (Weish 7,27).

Einst ging sie in die Seele des Dieners Gottes Moses ein und teilte ihm überreichliches Licht mit, große Dinge zu schauen, und eine wunderbare Kraft, Wunder zu wirken und Siege über die Feinde davonzutragen. «Sie ging in die Seele des Dieners Gottes ein und er trat furchtbaren Königen entgegen mit Wundern und Zeichen» (Weish 10,16).

Wenn die göttliche Weisheit in einer Seele einkehrt, so bringt sie alle erdenklichen Güter mit sich und teilt ihr unzählige Reichtümer mit. «Es kam mir aber alles Gute zugleich mit ihr und unzählbarer Wohlstand durch ihre Hand» (Weish 7,11). Dieses Zeugnis gibt Salomon der Wahrheit, nachdem er selbst die Weisheit empfangen hatte.

91 Von den zahllosen Wirkungen, welche die Weisheit in den Seelen oft auf so verborgene Weise hervorbringt, dass die Seele selbst sie nicht kennt, führe ich nur einige der gewöhnlichsten hier an.

1. Die Erleuchtung des Geistes

92 Die Ewige Weisheit teilt der Seele, welche sie besitzt, ihren Geist des reinen Lichtes mit. «Ich wünschte, und es ward mir Verständnis gegeben: ich rief, und es kam der Geist der Weisheit über mich» (Weish 7,7), jener feine und durchdringende Geist, welcher bewirkt, dass ein Mensch, gleich wie Salomon, alles mit großer Unterscheidungskraft und großem Scharfblick beurteilt «Infolge dieser Weisheit (welche mir ihren Geist mitgeteilt hat) wird man die Geistesschärfe in meinem Urteilen erkennen, und die Mächtigen werden staunen, wenn sie mich sehen» (Weish 8,11).

93 Sie teilt dem Menschen die große Wissenschaft der Heiligen und die übrigen natürlichen Wissenschaften, selbst die geheimsten mit, insofern sie ihm dienlich sind.

«Hat aber jemand das Verlangen, viel zu wissen, so weiß sie das Vergangene und kann ermessen, was künftig ist; sie versteht die Worte schön zu formen und Rätselhaftes zu deuten» (Weish 8, 8).

Sie verlieh Jakob die Wissenschaft der Heiligen: «Sie gab ihm die Erkenntnis dessen, was heilig ist» (Weish 10,10).

Salomon verlieh sie die wahre Erkenntnis der gesamten Natur: «Er gab mir die wahre Erkenntnis von dem, was ist» (Weish 7,17). Eine Unmenge von Geheimnissen deckte sie ihm auf, die vor ihm niemand erkannt hatte: «Alles, was irgend verborgen und unsichtbar ist, habe ich kennengelernt» (Weish 7,21).

94 Aus dieser unendlichen Quelle des Lichtes haben die größten Kirchenlehrer, unter ihnen der heilige Thomas von Aquin, wie er selbst gesteht, ihre bewunderungswürdigen Kenntnisse geschöpft, durch welche sie so berühmt geworden sind. Beachte dabei wohl, dass die Erleuchtungen und Erkenntnisse, welche die Weisheit verleiht, nicht trocken, unfruchtbar und unfromm sind, sondern licht- und salbungsvoll, tätig und heilig, so dass sie den Geist erleuchten und zugleich das Herz ergreifen und ihm den Frieden geben.

2. Mitteilungsgabe

95 Die Weisheit gibt dem Menschen nicht nur ihr Licht, um die Wahrheit zu erkennen, sondern noch dazu eine wunderbare Fähigkeit, sie anderen mitzuteilen. «Der Geist des Herrn ... kennt jeden Laut» (Weish 1,7). Die Weisheit verleiht das Verständnis dessen, was man sagt und teilt überdies die Fähigkeit mit, sich richtig auszudrücken: «denn sie öffnete den Mund der Stummen und machte die Zungen der Kinder beredt» (Weish 10,21). Sie löste die Zunge des Moses, welche gebunden war. Sie verlieh den Propheten «die Worte, um auszureißen, zu zerstören, zu zerstreuen, aufzubauen und zu pflanzen» (Jer 1,10). Obgleich die Apostel gestehen, dass sie aus sich selbst nicht anders sprechen können, als wie Kinder, so gab ihnen die Weisheit doch die Leichtigkeit, allüberall das Evangelium zu predigen und «die Wunderwerke Gottes zu verkünden» (Apg 2,11). «Sie bereicherte ihren Mund mit der Gabe der Rede» (Veni creator).

Da die göttliche Weisheit sowohl in der Ewigkeit, wie in der Zeit das Wort ist, so hat sie immer gesprochen, und auf ihr Wort hin wurde alles gemacht und wurde alles wieder hergestellt. Sie hat gesprochen durch die Propheten und die Apostel und sie wird bis zum Ende der Zeiten sprechen durch den Mund derjenigen, denen sie sich schenkt.

96 Aber die Worte, welche die göttliche Weisheit mitteilt, sind nicht gewöhnliche, natürliche, menschliche Worte.

«Es sind göttliche Worte» (1 Thess 2,13). Es sind starke, ergreifende, durchdringende Worte: «schärfer als jedes zweischneidige Schwert» (Hebr 4,12), die aus dem Herzen des Sprechenden und bis ins Herz des Hörenden dringen. Diese Gabe der Weisheit hat Salomon empfangen, als er sagte, Gott habe ihm die Gnade gegeben, zu sprechen, wie er es im Herzen fühle: «Mir aber verlieh Gott, mit Einsicht zu reden» (Weish 7,15).

97 Solche Worte meinte der Heiland, als er den Aposteln versprach: «Denn ich werde euch Mund und Weisheit geben, welcher all eure Widersacher nicht werden widerstehen und widersprechen können (Lk 21,15). Ich werde euch eine solche Gewandtheit im Sprechen geben, eine solche Weisheit und Kraft in euren Reden, dass euch alle eure Feinde nicht widerstehen können.

O wie wenige Prediger gibt es doch in unserer Zeit, die diese unaussprechliche Gabe der Rede besitzen und die mit dem heiligen Paulus sagen können: «Wir reden Gottes Weisheit» (1 Kor 2,7). Die meisten aus ihnen sprechen nach dem natürlichen Licht ihres Geistes oder was sie in den Büchern gelesen<ref>"Weil unter allen Gebieten der seelsorgerlichen Tätigkeit die Predigt des Wortes Gottes das ausgedehnteste, das heilsamste und schwierigste ist, verlegen sich die Missionäre unaufhörlich auf das Studium und auf das Gebet, um von Gott die Gabe der Weisheit zu erlangen, deren ein wahrer Prediger so sehr bedarf, um die Wahrheit zu erkennen, zu verkosten und den Seelen den Geschmack an der Wahrheit zu vermitteln. Nichts ist leichter, als zu predigen und nach der Art zu predigen wie es jetzt Mode geworden ist, aber wie schwer und erhaben ist es, nach der apostolischen Art zu predigen; zu sprechen, wie der Weise, oder wie Jesus Christus sagt, aus der Fülle des Herzens; von Gott zum Lohn für seine Arbeiten und Gebete eine Zunge, einen Mund, eine Weisheit empfangen zu haben, denen die Feinde der Wahrheit nicht zu widerstehen vermögen! Auf tausend Prediger - ich dürfte sagen zehntausend, ohne zu lügen - gibt es kaum einen, der diese große Gabe des Heiligen Geistes besitzt. Die meisten haben nur die Zunge, den Mund und die Weisheit eines Menschen. Darum werden nur wenige Seelen durch ihre Worte erleuchtet, bewegt, gerührt und bekehrt. ... Weil dies alles nur menschlich und natürlich ist, bringt es nur Menschliches, Natürliches hervor.» (Aus der handschriftlichen Regel Grignions für die Missionare der Gesellschaft Mariä.).</ref>, aber nicht «mit Einsicht» (Weish 7,15), nicht was die göttliche Weisheit ihnen eingibt, noch «aus der Überfülle des Herzens» (Mt 12,34), aus der göttlichen Fülle, welche die Weisheit ihnen mitteilt. Darum erlebt man gegenwärtig so wenige Bekehrungen durch das Wort. Wenn ein Prediger diese Gabe der Rede wirklich von der Weisheit empfangen hätte, so würden die Zuhörer seinen Worten kaum widerstehen, wie einst jene, welche dem heiligen Märtyrer Stephanus zuhörten, «aber sie vermochten nicht standzuhalten der Weisheit und dem Geist, der aus ihm redete» (Apg 6,10). Ein solcher Prediger würde zugleich mit solcher Milde und Macht reden, «wie einer, der da Macht hat» (Mt 7,29), dass sein Wort nie frucht- und erfolglos zu ihm zurückkäme.

3. Eine Quelle reiner Süßigkeiten und Tröstungen

98 Die Ewige Weisheit, der Gegenstand der Glückseligkeit und des Wohlgefallens des Ewigen Vaters und die Freude der Engel, ist für den Menschen, der sie besitzt, eine Quelle reinster Süßigkeiten und Tröstungen. Sie gibt ihm einen Geschmack für alles, was Gottes ist. Sie bewirkt, dass er die Freude an den Geschöpfen verliert. Sie erfreut seinen Geist durch den Glanz ihres Lichtes. Sie gießt in sein Herz unaussprechliche Freude, Süßigkeit und Frieden, selbst inmitten der herbsten Bitterkeiten und Trübsale, wie der heilige Paulus bezeugt, indem er ausruft: «Ich überströme von Freude inmitten unserer Trübsal» (2 Kor 7,4).

«Wenn ich in mein Haus gehe, sagt Salomon, werde ich, obwohl ich allein bin, bei ihr ausruhen; denn ihr Umgang hat nichts Bitteres und ihre Gesellschaft nichts Widriges, sondern Genuss und Freude. Und ich freute mich, nicht nur in meinem Hause und in ihrem Verkehr, sondern überall und an allem, denn diese Weisheit ging vor mir her» (Weish 8,16; 7,12). «Und in ihrer Freundschaft findet man ein heiliges und wahres Vergnügen» (Weish 8,18), während die Freuden und Vergnügen, welche man in den Geschöpfen findet, nichts als Scheinfreuden und Betrübnis des Geistes sind.

4. Die Gaben des Heiligen Geistes und die Tugenden

99 Wenn sich die Ewige Weisheit einer Seele mitteilt, gibt sie ihr alle Gaben des Heiligen Geistes und alle großen Tugenden in hervorragendem Maße, nämlich die göttlichen Tugenden: lebendigen Glauben, feste Hoffnung, glühende Liebe; die Kardinaltugenden: geordnete Mäßigkeit, vollendete Klugheit, vollkommene Gerechtigkeit und unerschütterlichen Starkmut; die sittlichen Tugenden: vollkommene Gottesfurcht, tiefe Demut, liebliche Sanftmut, blinden Gehorsam, allgemeine Losschälung, beständige Abtötung, erhabenes Gebet.

Dies sind die wunderbaren Tugenden und himmlischen Gaben, welche der Heilige Geist auf göttliche Weise in wenigen Worten ausdrückt, wenn er sagt: «Wenn jemand Gerechtigkeit lieb hat, so hat ihr Bemühen große Tugenden als Wirkung; denn sie lehrt Mäßigkeit und Klugheit, Gerechtigkeit und Starkmut, welche das Nützlichste sind im Menschenleben» (Weish 8,7).

100 Da endlich nichts tätiger ist als die Weisheit, «denn beweglicher als alles Bewegliche ist die Weisheit» (Weish 7,24), so lässt sie auch niemals jene in Lauheit und Nachlässigkeit versinken, welche sich ihrer Freundschaft erfreuen. Sie entflammt sie mit Feuereifer; sie gibt ihnen großzügige Unternehmungen zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen ein. Und um sie zu prüfen und sie der Gottesgabe würdig zu machen, verschafft sie ihnen harte Kämpfe und verbindet fast alles, was sie unternehmen, mit Widersprüchen und Widerwärtigkeiten.

Bald erlaubt sie dem Teufel, sie zu versuchen, bald der Welt, sie zu verleumden und zu verachten, bald ihren Feinden, sie zu überwinden und niederzuwerfen, bald ihren Freunden und Verwandten, sie zu verlassen und zu verraten. Hier verschafft sie ihnen einen Verlust an zeitlichen Gütern, dort eine Krankheit; hier Beleidigung, dort Traurigkeit und Betrübnis des Herzens. Sie prüft sie endlich auf jede Weise im Schmelztiegel der Trübsal, wie das Gold im Feuerofen.

Ihre Betrübnis jedoch, sagt der Heilige Geist, war leicht, und ihr Lohn wird groß sein; denn Gott hat sie geprüft und sie seiner wert gefunden. Wie Gold im Ofen prüfte er sie und wie ein Brandopfer nahm er sie auf und er wird sie, sobald ihre Zeit gekommen, mit Wohlgefallen ansehen. «Wenn sie auch vor den Menschen Qual erduldet haben, so ist doch ihre Hoffnung voll der Unsterblichkeit. Nachdem sie ein wenig gelitten, wird ihnen viel Gutes zuteil; denn Gott hat sie geprüft und seiner würdig befunden» (Weish 3,4-7).

An einer anderen Stelle heißt es: «Die Weisheit hat den Gerechten in seinen Arbeiten bereichert und ihn deren Früchte ernten lassen. Sie half ihm gegen jene, die ihn durch ihre Betrügereien überlisten wollten und machte ihn reich. Sie schützte ihn vor seinen Feinden, bewahrte ihn vor den Verführern und ließ ihn siegen im harten Streit, damit er erkenne, wie die Weisheit mächtiger sei als alle Dinge» (Weish 10,10-12).

5. Ein Beispiel

101 Im Leben des seligen Dominikanermönchs Heinrich Seuse wird berichtet, er habe im brennenden Verlangen, die Ewige Weisheit zu besitzen, sich oftmals anerboten, alle Arten von Qualen zu erleiden, wenn er dabei nur ihr Wohlgefallen und ihre Freundschaft gewänne.

«Wie», sagte er sich eines Tages, «weißt du denn nicht, dass die Liebhaber tausenderlei Leiden auf sich nehmen um ihrer Geliebten willen? Nachtwachen sind ihnen süß, die Ermüdung angenehm und die Mühe eine Erholung, wenn sie einmal sicher sind, dass die geliebte Person sich dadurch verpflichtet fühlt und zufrieden ist. Wenn die Menschen solches tun, um ein stinkendes Aas zufrieden zu stellen, schämst du dich nicht, wankelmütig zu sein in deinem Entschluss, die Weisheit zu erlangen? Nein, o Ewige Weisheit, ich will in Deiner Liebe nie nachlassen! Müsste ich mich auch mit meinem ganzen Körper durch Hecken und Dornen bis zu Deinem Aufenthaltsort durchwinden, müsste ich auch tausend Grausamkeiten an Leib und Seele erdulden, ich will dennoch Deine Freundschaft über alles schätzen, und Du sollst unumschränkt über alle meine Neigungen herrschen.»

102 Einige Tage später war er auf der Reise und fiel in die Hände der Räuber, welche ihn schlugen und in einen so erbärmlichen Zustand versetzten, dass sie ihn selbst bemitleideten. Als Heinrich Seuse sich in diesem Zustand sah, jeder Hilfe bar, fiel er in tiefe Traurigkeit. Er vergaß seinen Entschluss, in der Trübsal mutig zu sein und begann zu weinen und darüber nachzudenken, warum Gott ihn so heimsuche. Während er sich diesen Gedanken hingab, übernahm ihn der Schlaf, und frühmorgens gegen Tagesanbruch hörte er eine Stimme, die ihm folgenden Vorwurf machte: «Seht da unseren Soldaten, der Berge sprengt und über Felsen klettert, der Festungen erstürmt und alle seine Feinde tötet und in Stücke haut, solange es ihm gut geht; im Unglück aber hat er keinen Mut und keine Arme und Beine. Ein Löwe zur Zeit der Tröstung, ist er ein furchtsamer Hirsch in der Trübsal. Die Ewige Weisheit schenkt ihre Freundschaft nicht solchen Memmen (jemand, der furchtsam, verweichlicht ist) und Feiglingen!»

Auf diese Vorwürfe hin bekannte der selige Heinrich, dass er durch übermäßige Betrübnis gefehlt habe. Gleichzeitig bat er die Weisheit um Erlaubnis, zu weinen und so sein bedrücktes Herz zu erleichtern.

«Nein, nein, erwiderte die Stimme, alle Himmelsbewohner würden keine Achtung vor dir haben, wenn du dich wie ein Kind oder eine Frau den Tränen überließest. Trockne die Tränen und zeige ein heiteres Antlitz!»

103 ' So ist also das Kreuz der Anteil und die Belohnung jener, welche nach der Ewigen Weisheit verlangen oder sie besitzen. Aber diese liebenswürdige Herrin, die alles nach Maß, Zahl und Gewicht anordnet, gibt ihren Freunden nur solche Kreuze, die ihren Kräften angepasst sind, und diese Kreuze überströmt sie so sehr mit der Salbung ihrer Süßigkeit, dass sie ihnen zur Wonne gereichen.

Neuntes Kapitel: Menschwerdung und Lebenslauf der Ewigen Weisheit

1. Maria, das auserwählte Werkzeug der Menschwerdung

104 Nachdem die Ewige Weisheit, das Ewige Wort, im großen Ratschluss der Allerheiligsten Dreifaltigkeit beschlossen hatte, Mensch zu werden, um die gefallene Menschheit wiederherzustellen, offenbarte sie Adam, wie man annehmen darf, und versprach sie den Patriarchen, wie die Heilige Schrift berichtet, dass sie Mensch werden würde, um die Welt zu erlösen.

Darum haben während der viertausend Jahre, die seit der Erschaffung der Welt verflossen, alle Heiligen des Alten Bundes in inständigen Gebeten um die Ankunft des Messias gefleht. Sie seufzten und weinten und riefen: «Tauet, Himmel, den Gerechten, o Erde, bringe den Erlöser hervor» (Is 45,8). «O Weisheit, die du aus dem Munde des Allerhöchsten hervorgegangen, komm und erlöse uns!» (Adventsliturgie)

Aber ihr Rufen, ihre Gebete und Opfer besaßen nicht genug Kraft, um die Ewige Weisheit, den Sohn Gottes, aus dem Schoße des Vaters auf die Erde herabzuziehen. Sie erhoben die Hände zum Himmel; aber ihre Arme vermochten nicht bis zum Thron des Allerhöchsten hinaufzureichen. Sie brachten Gott beständig Opfer, sogar das Opfer ihres Herzens dar; aber all ihre Opfer waren nicht kostbar genug, um jene Gnade aller Gnaden zu verdienen.

105 Als endlich die zur Erlösung der Menschen vorherbestimmte Zeit gekommen war, «schuf sich die Ewige Weisheit selbst ein Haus und eine ihrer würdige Wohnung» (Spr 9,1). Sie schuf und bildete die allerreinste Jungfrau im Schoße der heiligen Anna, und zwar mit größerer Freude als die ganze übrige Welt. Es ist unmöglich zu schildern, auf welch unaussprechliche Weise sich ihrerseits die Heiligste Dreifaltigkeit diesem schönsten Geschöpfe mitteilte und andererseits mit welcher Treue Maria den Gnaden ihres Schöpfers entsprach.

106 Der gewaltige Strom der unendlichen Güte Gottes, der seit der Erschaffung der Welt durch die Sünden der Menschen gewaltsam aufgehalten war, ergoss sich mit Ungestüm in seiner ganzen Fülle in das Herz Maria. Die Ewige Weisheit gab ihr alle Gnaden, die Adam und alle seine Nachkommen von ihrer Freigebigkeit empfangen hätten, wenn sie in der ursprünglichen Gerechtigkeit verharrt wären. Die ganze Fülle der Gottheit, sagt endlich ein Heiliger, ergoss sich in Maria, in dem Maße als ein bloßes Geschöpf dessen fähig ist.

O Maria! O Meisterwerk des Allerhöchsten! O Wunder der Ewigen Weisheit! O Wunderwerk der göttlichen Allmacht! O Abgrund der Gnade! Nur jener, ich bekenne es mit allen Heiligen, nur jener, der dich erschaffen, kennt die Höhe, Breite und Tiefe der Gnaden, die er dir mitgeteilt hat!

2. Die Menschwerdung

107 Die Allerseligste Jungfrau Maria besaß mit vierzehn Jahren einen solchen Zuwachs an Gnade und Weisheit Gottes, eine solch vollkommene Treue gegenüber seiner Liebe, dass sie nicht nur alle Engel, sondern auch Gott selbst entzückte und in Staunen versetzte. Ihre tiefe Verdemütigung bis ins Nichts entzückt ihn; ihre ganz göttliche Reinheit zieht ihn an; ihr lebendiger Glaube und ihre häufigen und liebe glühenden Gebete tun ihm Gewalt an: Die Weisheit lässt sich gerne besiegen durch solch liebevolles Werben! «O wie groß war die Liebe Mariens», ruft der heilige Augustin aus, «die den Allerhöchsten besiegt hat!»

O Staunen! Als der Sohn Gottes, die Ewige Weisheit, aus dem Schoß des Vaters in den Schoß einer Jungfrau herabsteigen wollte, um dort unter den Lilien ihrer Reinheit zu ruhen und sich ihr ganz hinzugeben, indem er in ihr Mensch wurde, sandte er den Erzengel Gabriel zu ihr, um sie zu grüßen und ihr mitzuteilen, sie habe sein Herz gewonnen und er wolle in ihr Mensch werden, falls sie selbst ihre Zustimmung dazu gebe.

Der Erzengel führte seinen Auftrag aus, versicherte Maria, dass sie Jungfrau und Mutter zugleich sein werde, und erlangte von ihrem Herzen trotz des Widerstandes ihrer tiefen Demut die unaussprechliche, von der heiligsten Dreifaltigkeit, allen Engeln und der ganzen Schöpfung seit so vielen Jahrhunderten erwartete Einwilligung, als sie sprach, indem sie sich vor ihrem Schöpfer erniedrigte: «Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort!» (Lk 1,38)

108 Betrachte, wie in demselben Augenblick, als Maria einwilligte, Mutter Gottes zu werden, mehrere Wunder geschahen. Der Heilige Geist bildete aus dem reinsten Blut des Herzens Maria einen kleinen Körper mit vollkommen ausgebildeten Gliedern. Gott schuf die vollkommenste Seele, die er je erschaffen. Die Ewige Weisheit, der Sohn Gottes, verband sich in Einheit der Person mit diesem Leib und dieser Seele. So geschah das größte Wunder im Himmel und auf Erden, gewirkt im unbegreiflichen Übermaß der Liebe Gottes: «Das Wort ist Fleisch geworden». Die Ewige Weisheit ist Fleisch geworden, ohne aufzuhören, Gott zu sein. Dieser Gottmensch heißt Jesus, das heißt Heiland.

3. Abriss seines göttlichen Lebens

109 Er wollte von einer vermählten Frau geboren werden, obgleich sie in der Tat Jungfrau war, damit man ihm nicht vorwerfen konnte, er sei aus dem Ehebruch geboren - oder auch aus anderen sehr wichtigen Gründen, welche die Kirchenväter anführen. Seine Empfängnis wurde, wie wir soeben gesehen, der Allerseligsten Jungfrau durch den Erzengel Gabriel angekündigt. Er wurde ein Kind Adams, nicht aber Erbe seiner Schuld.

110 Diese Empfängnis geschah, wie man glaubt, an einem Freitag, am 25. März. Am 25. Dezember wurde der Heiland der Welt in der Stadt Bethlehem in einem armseligen Stall geboren, wo eine Krippe ihm zur Wiege diente. Ein Engel verkündete den Hirten, welche auf den Fluren ihre Herden weideten, dass ihr Erlöser geboren sei und forderte sie auf, nach Bethlehem zu gehen und ihn anzubeten. Und gleichzeitig hörten sie eine himmlische Melodie der Engel, welche sangen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.

111 Am achten Tage wurde das göttliche Kind nach dem mosaischen Gesetz, dem es jedoch nicht unterworfen war, beschnitten und erhielt den Namen Jesus, der vom Himmel gekommen war. Drei Weise aus dem Morgenland kamen, das Kind anzubeten. Sie waren durch die Erscheinung eines außerordentlichen Sternes belehrt worden, und sie folgten ihm nach Bethlehem. Dieses Fest heißt Epiphanie, d. h. Erscheinung des Herrn, und wird am 6. Januar gefeiert.

112 Vierzig Tage nach seiner Geburt wollte Jesus sich selbst im Tempel aufopfern und alles beobachten, was das Gesetz Moses für den Loskauf der Erstgeborenen vorschrieb. Bald darauf befahl der Engel dem heiligen Joseph, dem Bräutigam der Allerseligsten Jungfrau, das Kind Jesus und seine Mutter zu nehmen, und nach Ägypten zu fliehen, um dem Zorn des Königs Herodes zu entgehen. So ist es geschehen. Einige Autoren glauben, Jesus sei zwei Jahre in Ägypten gewesen, andere drei; wieder andere, wie Baronius, sogar acht. Seine Gegenwart heiligte das ganze Land und machte es würdig, später mit so vielen heiligen Einsiedlern bevölkert zu werden, wie man später gesehen hat. Eusebius sagt, beim Einzug Jesu haben die Dämonen die Flucht ergriffen, und der heilige Athanasius berichtet, die Götzenbilder seien umgestürzt.

113 Im Alter von zwölf Jahren lehrte der Sohn Gottes inmitten der Schriftgelehrten mit solcher Weisheit, dass er alle seine Zuhörer mit Staunen und Bewunderung erfüllte. Von diesem Zeitpunkt an schweigt die Heilige Schrift von ihm bis zu seiner Taufe, in seinem dreißigsten Lebensjahr. Nachher zog er sich in die Wüste zurück und fastete vierzig Tage lang, ohne zu essen und zu trinken. Er kämpfte dort mit dem Teufel und überwand ihn.

114 Alsdann begann er in Judäa zu predigen, seine Apostel zu berufen und all jene verehrungswürdigen Wunderwerke zu vollbringen, die in der Heiligen Schrift erwähnt werden. Ich beschränke mich darauf, zu bemerken, dass Jesus im dritten Lehrjahr und im dreiunddreißigsten seines Lebens Lazarus erweckte, am 29. März seinen feierlichen Einzug in die Stadt Jerusalem hielt und am darauffolgenden Donnerstag, am 2. April, dem 4. Tag des Monats Nisan, mit den Jüngern das Abendmahl feierte, wobei er den Aposteln die Füße wusch und das allerheiligste Sakrament des Altares unter den Gestalten von Brot und Wein einsetzte.

115 Am Abend desselben Tages wurde er von seinen Feinden unter Führung des Verräters Judas gefangen genommen; am anderen Morgen, am 3. April, verurteilte man ihn trotz des Festes zum Tod, nachdem er gegeißelt, mit Dornen gekrönt und mit äußerster Grausamkeit und Niederträchtigkeit misshandelt worden war. Noch am selben Tage wurde er auf den Kalvarienberg geführt und zwischen zwei Verbrechern ans Kreuz genagelt. Auf diese Weise wollte der Gott der Unschuld des schmählichsten Todes sterben und die Strafe erleiden, die einem Räuber, namens Barabbas, welchen die Juden ihm vorgezogen hatten, gebührt hätte. Die Kirchenväter berichten, Jesus Christus sei mit vier Nägeln an das Kreuz geheftet worden und in der Mitte des Kreuzes sei ein Stück Holz in Form eines Sitzes vorgestanden, auf welchem der Körper ruhte.

116 Der Heiland der Welt starb, nachdem er drei Stunden lebend am Kreuze geschmachtet hatte, in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahre. Joseph von Arimathäa hatte den Mut, Pilatus um den Leichnam zu bitten, den er in ein neu errichtetes Grabmal legte. Aber es darf nicht übersehen werden, dass die Natur über den Tod ihres Schöpfers durch verschiedene Wunder, die im Augenblick seines Todes geschahen, Schmerz bekundete. Am 5. April stand er von den Toten auf, erschien mehrmals seiner heiligen Mutter und den Jüngern vierzig Tage lang bis zum Donnerstag, dem 14. Mai, wo er seine Jünger auf den Ölberg führte. Dort stieg er vor ihren Augen aus eigener Kraft in den Himmel hinauf, zur Rechten des Vaters, indem er die Spuren seiner heiligen Füße auf Erden zurückließ.

Zehntes Kapitel: Die entzückende Schönheit und unaussprechliche Süßigkeit und Milde der menschgewordenen Weisheit

117 Weil die Weisheit nur Mensch wurde, um die Menschenherzen für ihre Freundschaft und Nachfolge zu gewinnen, so gefiel es ihr, sich mit den lieblichsten und anmutigsten menschlichen Liebenswürdigkeiten ohne Fehler noch Hässlichkeit zu bekleiden.

1. Jesus, süß und mild in seinem Ursprung

118 Betrachten wir die menschgewordene Weisheit in ihrem Ursprung, so ist sie nichts als Güte, Süßigkeit und Milde. Sie ist ein Geschenk der Liebe des Ewigen Vaters und eine Wirkung der Liebe des Heiligen Geistes. Sie wurde von der Liebe gegeben und von der Liebe gebildet. «Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingab» (Joh 3,16). Sie ist daher ganz Liebe, oder vielmehr sie ist die Liebe selbst des Vaters und des Heiligen Geistes.

Sie wurde geboren von der sanftmütigsten, zärtlichsten und schönsten aller Mütter, von der erhabensten Jungfrau Maria. Willst du mir die Süßigkeit und Milde Jesu anschaulich machen, so beschreibe mir zuvor die Süßigkeit und Milde Mariä, seiner Mutter, welcher er in der Anmut seines Temperamentes ganz gleicht. Jesus ist das Kind Mariä, und daher gibt es in ihm weder Stolz noch Härte noch Hässlichkeit, ja unendlich weniger noch als in seiner Mutter, weil er die Ewige Weisheit, Milde und Güte selbst ist.

119 Die Propheten, denen die menschgewordene Weisheit im Bild gezeigt wurde, nennen sie ein Schäflein und «ein Lamm an Sanftmut» (Jer 11,19). Sie sagen voraus, sie werde wegen ihrer Sanftmut «das geknickte Rohr nicht brechen, noch den glimmenden Docht auslöschen» (Is 42,3). Das heißt, sie werde so sanftmütig sein, dass sie einen armen Sünder, mag er auch von seinen Sünden niedergebeugt, verblendet und ins tiefste Elend gestürzt sein, ja gleichsam schon einen Fuß in der Hölle haben, nicht ganz aufgeben werde, wenn der Sünder nicht selber sie dazu zwingt.

Der heilige Johannes der Täufer, der nahezu dreißig Jahre in der Wüste zugebracht hatte, um dort durch seine Strengheiten die Kenntnis und Liebe der menschgewordenen Weisheit zu erlangen, hatte sie kaum erblickt, als er sie, mit dem Finger auf sie hinweisend, den Jüngern zeigte und ausrief: «Seht da das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt!» (Joh 1,29) Er sagt nicht, wie man erwartet hätte: Seht den Allerhöchsten! Seht den König der Herrlichkeit! Seht den Allmächtigen! sondern, weil er das innerste Wesen Jesu Christi besser erkannte als je ein Mensch vor ihm oder nach ihm, sprach er: Seht das Lamm Gottes, seht die Ewige Weisheit, welche, um unsere Herzen zu entzücken und unsere Sünden wieder gutzumachen, in sich alle Anmut Gottes und der Menschen, des Himmels und der Erde vereinigt hat.

2. Jesus, süß und mild in seinem Namen

120 Was aber besagt uns der Name Jesus, der Name der menschgewordenen Weisheit, anderes als brennende Liebe, eine unendliche Liebe und entzückende Süßigkeit? Jesus, der Heiland, der die Menschen erlöst, dem es eigen ist, den Menschen zu lieben und zu erlösen.

«Kein Lied ist, das so sanft verzückt, kein Ton, der liebreicher erquickt, nichts wird erdacht, das so beglückt, wie Gottes Sohn das Herz entzückt» (Hymnus: Jesu, dulcis memoria).

O wie süß klingt der Name Jesus dem Ohr und dem Herzen einer auserwählten Seele! Er ist, sagt der heilige Bernhard, «dem Munde süßer Honigseim, für das Ohr angenehme Musik und für das Herz der reinste Jubelgesang.»

3. Jesus, lieblich von Angesicht

121 Jesus ist lieblich von Angesicht, süß und milde in seinen Worten und sanftmütig in seinen Handlungen.

Unser liebenswürdigster Heiland hatte ein so gütiges und sanftmütiges Antlitz, dass er Augen und Herz aller, die ihn sahen, entzückte. Die Hirten, welche kamen, um ihn im Stall zu sehen, waren alle so entzückt über die Lieblichkeit und Schönheit seines Antlitzes, dass sie tagelang wie außer sich dort blieben und ihn anschauten. Die stolzesten Könige selbst hatten kaum die liebevollen Züge dieses schönen Kindes gesehen, als sie, jeden Stolz ablegend, ohne weiteres vor der Krippe auf die Knie niederfielen. Wie oft sagten sie zueinander: Freunde, wie süß ist es, hier zu sein! In unseren Palästen gibt es keine Freude, die sich mit der Freude vergleichen ließe, welche man hier in diesem Stall beim Anblick des lieben Gotteskindes verkostet.

Als Jesus noch ganz klein war, kamen die bedrängten Menschen und die Kinder aus der ganzen umliegenden Gegend, um ihn zu sehen, sich an ihm zu erfreuen, und sie sprachen zueinander: Lasset uns den kleinen Jesus, das schöne Kind Mariä, sehen! Die Schönheit und Majestät seines Antlitzes, sagt der heilige Chrysostomus, war so lieblich und ehrfurchtgebietend zugleich, dass, wer ihn kannte, ihn lieben musste, und sogar Könige aus fernen Gegenden wollten auf den Ruf von seiner Schönheit hin sein Bild besitzen. Man glaubt, der göttliche Heiland habe es aus besonderer Gunst dem König Abgar zugesandt.

Einige Schriftsteller versichern, die römischen Soldaten und die Juden hätten das Angesicht nur deshalb verhüllt, um ihn besser schlagen und grausamer misshandeln zu können, denn aus seinen Augen und seinem Antlitz strahlte ein so lieblicher und entzückender Glanz der Schönheit, dass selbst die Grausamsten entwaffnet wurden.

4. Jesus, süß und mild in seinen Worten

122 Jesus ist süß und milde in seinen Worten. Als er auf Erden lebte, gewann er alles durch die Milde seiner Rede, und man hat ihn, wie die Propheten es voraussagten, nie zu laut schreien, noch hitzig streiten hören: «Er wird nicht zanken, noch schreien, noch wird jemand seine Stimme auf den Gassen hören» (Mt 12,19; Is 42,2). Alle jene, die ihm neidlos zuhörten, waren so begeistert über die Worte des Lebens, welche seinem Munde entströmten, dass sie ausriefen: «Niemals hat ein Mensch so geredet, wie dieser Mensch» (Joh 7,46). Und selbst jene, die ihn hassten, fragten, ganz erstaunt über seine Beredsamkeit und die Weisheit seiner Worte: Nie hat ein Mensch mit soviel Milde und Anmut geredet. «Woher hat dieser so viel Weisheit in seinen Worten?» (Mt 13, 54).

Mehrere tausend arme Leute verließen ihre Häuser und Familien, um ihn zu hören, und folgten ihm sogar in die Wüste. Sie blieben mehrere Tage ohne Speise und Trank, einzig gesättigt von der Süßigkeit seiner Worte. Durch die Süßigkeit seiner Worte zog er wie mit einer Lockspeise die Apostel zu seiner Nachfolge an, heilte unheilbare Krankheiten und tröstete die Betrübten. Der untröstlichen Maria Magdalena sagte er nur dieses eine Wort: «Maria», und erfüllte sie dadurch mit Freude und Wonne.

Elftes Kapitel: Die Milde der menschgewordenen Weisheit im Handeln

123 Jesus ist endlich sanft und milde in seinen Handlungen und in seinem ganzen Benehmen. «Er hat alles wohl gemacht» (Mk 7,37), d. h. alles, was Jesus Christus tat, vollbrachte er mit solcher Genauigkeit, Weisheit, Heiligkeit und Milde, dass sich nichts Mangelhaftes, nichts Unordentliches daran finden lässt.

1. Jesus, sanft und mild gegen alle Menschen

Betrachten wir nun, wie milde sich diese liebenswürdige Weisheit in ihrem ganzen Verhalten zeigte.

124 Die Armen und die kleinen Kinder folgten ihr überall wie ihresgleichen; sie sahen im lieben Heiland soviel Einfachheit und Wohlwollen, Herablassung und Liebe, dass sie sich drängten, um ihm nahe zu kommen. Als er eines Tages in einer Straße predigte, drängten die Kinder, die es gewohnt waren, furchtlos zu ihm zu kommen, voran, um noch näher bei ihm zu sein. Die Apostel, welche dem göttlichen Heiland am nächsten waren, stießen sie zurück. Jesus bemerkte es, tadelte die Apostel und sprach zu ihnen: «Lasset die lieben Kleinen zu mir kommen!» (Mt 19,14) Als sie bei ihm waren, umarmte und segnete er sie. O welche Milde und Güte!

Den Armen, welche sahen, wie ärmlich gekleidet er war, wie einfach in seinem ganzen Benehmen, ohne Prunk und Stolz, gefiel es nur in seiner Nähe. Sie nahmen ihn überall in Schutz gegen die Reichen, welche ihn verleumdeten und verfolgten. Er hinwieder spendete ihnen bei jeder Gelegenheit tausendfach Lob und Segen.

125 Wer könnte aber die Milde Jesu gegen die armen Sünder beschreiben! Mit welcher Milde behandelte er die Sünderin Magdalena! Mit welch sanfter Herablassung bekehrte er die Samariterin! Mit welcher Barmherzigkeit verzieh er der Ehebrecherin! Mit welcher Liebe ging er mit den öffentlichen Sündern zu Tisch, um sie zu gewinnen! Nahmen nicht seine Feinde seine große Milde und Herablassung zum Vorwand, um ihn zu verfolgen, indem sie ihm vorwarfen, er verursache durch seine Milde die Übertretung des Gesetzes Moses, und indem sie ihn wie zum Schimpf Freund der Sünder und der Zöllner nannten? Mit welcher Güte und Demut suchte er Judas, der ihn verraten wollte, zu gewinnen, indem er ihm die Füße wusch und ihn seinen Freund nannte! Mit welcher Liebe endlich bat er Gott, seinen Vater, um Verzeihung für seine Henker, indem er sie wegen ihrer Unwissenheit entschuldigte!

2. Jesus, sanft und mild zu allen Zeiten

126 O, wie schön, mild und liebevoll ist Jesus, die menschgewordene Weisheit! Wie schön ist er in der Ewigkeit! Ist er ja der Abglanz des Vaters, der makellose Spiegel und das Abbild seiner Güte, schöner als die Sonne, leuchtender als das Licht selbst! Wie schön ist er in der Zeit! Wurde er ja vom Heiligen Geist gebildet, rein ohne Sünde, schön ohne Makel. Hat er doch während seines Lebens Augen und Herzen der Menschen entzückt und ist jetzt die Freude der Engel! Wie zärtlich und milde war er gegen die Menschen und vor allem gegen die armen Sünder! Um sie zu suchen, kam er sichtbar in die Welt, und noch jeden Tag sucht er sie auf unsichtbare Weise.

3. Jesus, sanft und mild in seiner Herrlichkeit

127 Und man bilde sich nicht ein, Jesus sei, weil er jetzt triumphierend und glorreich ist, deshalb weniger liebenswürdig und herablassend! Im Gegenteil! Seine Herrlichkeit vervollkommnet in gewissem Sinne seine Milde: er wünscht nicht so sehr zu herrschen als zu verzeihen, nicht so sehr die Reichtümer seiner Herrlichkeit zu offenbaren als vielmehr die seiner Barmherzigkeit.

128 Man lese die Geschichte und man wird sehen, dass die menschgewordene und glorreiche Weisheit, wenn sie ihren Freunden erschien, sich nicht unter Blitz und Donner offenbarte, sondern auf sanfte und gütige Weise. Sie hat nicht die Majestät einer Herrscherin oder des Gottes der Heerscharen angenommen, sondern die Zärtlichkeit eines Bräutigams und die Liebenswürdigkeit eines Freundes. Manchmal hat sie sich in der Eucharistie gezeigt, aber ich erinnere mich nicht, gelesen zu haben, dass sie je anders als unter der Gestalt eines lieblichen und schönen Kindes erschienen sei.

4. Beispiele

129 Vor einiger Zeit zückte ein Unglückseliger aus Wut darüber, dass er sein Geld beim Spiel verloren hatte, seinen Dolch gegen den Himmel und gab dem göttlichen Heiland die Schuld an dem Verlust seines Geldes. Doch, o Wunder! Statt der Blitze und der Donnerkeile, die sich über ihn hätten entladen sollen, fiel ein Stück Papier vom Himmel und flatterte um ihn herum. Überrascht nimmt er es in die Hand, öffnet es und liest: «Miserere mei, Deus ... Erbarme Dich meiner, o Gott!» (Ps 50,3) Der Dolch entfällt seiner Hand, und bis ins Innerste betroffen, wirft er sich zur Erde und ruft um Erbarmen.

130 Der heilige Dionysius der Areopagite erzählt folgende Begebenheit. Ein Bischof, namens Carpus, hatte einen Heiden mit großer Mühe zum Christentum bekehrt. Als er nachher vernahm, dass ein Götzendiener den Neubekehrten in einem Augenblick vom Glauben abtrünnig gemacht hatte, verrichtete er die ganze Nacht hindurch inständige Gebete zu Gott, er möge doch die seiner Majestät zugefügte Beleidigung rächen und die Schuldigen strafen. Mitten im größten Eifer und inständigsten Gebete sah er plötzlich die Erde sich öffnen und gewahrte am Rande der Hölle den Abtrünnigen samt dem Heiden, beide im Begriff, von den Teufeln hinabgestürzt zu werden. Er erhebt die Augen und sieht den Himmel sich öffnen und Jesus Christus mit einer großen Engelschar zu ihm herabsteigen. Der Heiland spricht zu ihm: «Carpus, du bittest mich um Rache; du kennst mich nicht. Weißt du, um was du bittest und was die Sünder mich gekostet haben? Warum willst du, dass ich sie verdamme? Ich liebe sie so sehr, dass ich bereit wäre, für jeden einzelnen von ihnen noch einmal zu sterben, wenn es notwendig wäre.» Hierauf näherte sich Jesus Christus dem Carpus, und indem er ihm die entblößten Schultern zeigte, fügte er hinzu: «Carpus, wenn du dich rächen willst, so schlage lieber auf mich als auf diese armen Sünder!»

131 Und könnten wir nach alledem die Ewige Weisheit nicht lieben, die uns mehr geliebt hat und liebt als ihr Leben, und deren Schönheit und Süßigkeit alles übertrifft, was es Schönes und Süßes gibt im Himmel und auf Erden?

132 Im Leben des seligen Heinrich Seuse wird berichtet, wie die Ewige Weisheit, nach der er ein feuriges Verlangen trug, ihm eines Tages auf folgende Weise erschienen sei. Sie nahm körperliche Gestalt an, umgeben von einer leuchtenden, durchsichtigen Wolke, sitzend auf einem elfenbeinernen Thron, das Angesicht und die Augen strahlender als die Mittagssonne. Ihre Krone war die Ewigkeit, ihr Kleid die Glückseligkeit, ihr Wort die Süßigkeit, und ihre Umarmung erfüllte alle Seligen mit der höchsten Wonne. In dieser Pracht zeigte sie sich dem seligen Heinrich. Noch mehr aber wunderte sich der Selige, dass sie ihm bald als herrliche Jungfrau vorkam, das Wunder aller himmlischen und irdischen Schönheit, bald wieder als herrlicher Jüngling, dessen Angesicht alle geschaffene Schönheit in sich vereinigte. Bald sah er sie das Haupt über alle Himmel erheben und zugleich mit ihren Füßen auf den Abgründen der Erde ruhen; bald sah er sie ferne von sich, bald wieder nahe; bald majestätisch und bald herablassend, gütig, milde und voll Zärtlichkeit gegen alle, die zu ihr kamen. Als sie ihm so erschien, wandte sie sich an ihn mit anmutigem Lächeln und sprach: «Mein Sohn, gib mir dein Herz!» (Spr 23,26) Gleichzeitig warf sich ihr Heinrich zu Füßen und übergab ihr sein Herz zum unwiderruflichen Geschenke (Büchlein der Ewigen Weisheit, 3. Kap.).

Bringen wir nach dem Beispiel dieses Seligen der ewigen und menschgewordenen Weisheit unser Herz zum unwiderruflichen Geschenke dar, denn das Herz ist alles, was sie von uns verlangt.

Zwölftes Kapitel: Hauptsächlichste Aussprüche der menschgewordenen Weisheit, die man glauben und üben muss, um gerettet zu werden

133 1. Wenn jemand mir nachfolgen will, so verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach (Lk 9, 23).

2. Wenn einer mich liebt, so wird er meine Lehre halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen (Joh 14, 23).

3. Wenn du deine Gabe zum Altar bringst und du erinnerst dich daselbst, dass dein Bruder etwas wider dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar und gehe hin und versöhne dich mit deinem Bruder (Mt 5, 23f).

134 4. Wenn jemand zu mir kommt und hasst («Hassen» bedeutet zum Opfer bringen; alles was man sonst mit Recht am innigsten liebt. Jesus verlangt, selbst Herzensband zu zerreißen, wenn sie dem Seelenheil und der Liebe zu Gott feindlich gegenüberstehen) nicht seinen Vater und Mutter, und Frau und Kinder, und Brüder und Schwestern, ja, auch sogar sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein (Lk 14, 26).

5. Und jeder, der sein Haus, oder Brüder, oder Schwestern, oder Vater, oder Mutter, oder Frau, oder Kind, oder Äcker verlässt um meines Namens willen, wird Hundertfältiges empfangen und das ewige Leben erben (Mt 19, 29).

6. Willst du vollkommen sein, so gehe, verkaufe, was du hast, und du wirst deinen Schatz im Himmel haben (Mt 19, 21).

135 7. Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist (Mt 7, 21).

8. Jeder, der diese meine Worte hört und sie tut, wird einem klugen Mann gleich sein, der sein Haus auf einen Felsen gebaut hat (Mt 7, 24).

9. Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr euch nicht bekehrt und nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen (Mt 18, 3).

10. Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen (Mt 11, 29).

136 11. Und wenn ihr betet, seid nicht wie die Heuchler, welche es lieben, in den Synagogen und an den Straßenecken stehend zu beten, damit sie von den Menschen gesehen werden (Mt 6, 5).

12. Macht nicht viel Worte wie die Heiden ... denn euer Vater weiß schon vorher, wessen ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet (Mt 6, 7f).

13. Wenn ihr euch zum Gebet anschickt, so vergebt, wenn ihr etwas gegen jemand habet, damit auch euer Vater, der im Himmel ist, euch eure Sünden vergebe (Mk 11, 25).

14. Alles, was ihr immer im Gebet erbittet, glaubt, dass ihr es erhalten werdet, so wird es euch zuteil werden (Mk 11, 24).

137 15. Wenn ihr aber fastet, so macht kein finsteres Gesicht, wie die Heuchler! Die geben sich ein düsteres Aussehen, damit die Menschen sehen, dass sie fasten. Wahrlich sage ich euch, sie haben ihren Lohn schon empfangen (Mt 6, 16).

138 16.Im Himmel wird größere Freude sein über einen einzigen Sünder, der sich bekehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die der Bekehrung nicht bedürfen (Lk 15, 7).

17. Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern Sünder zur Buße (Lk 5, 32).

139 18. Selig, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leiden, denn ihrer ist das Himmelreich (Mt 5, 10).

19. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen, verstoßen und schmähen und euch um euren guten Namen bringen um des Menschensohnes willen. Freuet euch an jenem Tage und frohlockt! Denn sehet, euer Lohn ist groß im Himmel (Lk 6, 22f).

20. Wenn euch die Welt hasst, so wisst, mich hat sie schon vor euch gehasst. Wärt ihr von der Welt, so würde die Welt euch als ihresgleichen lieben. Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch von der Welt auserwählt habe, deshalb hasst euch die Welt (Joh 15, 18f).

140 21. Kornmet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, und ich werde euch erquicken (Mt 11, 28).

22. Ich bin das lebendige Brot, das vorn Himmel herabgekommen ist. Wenn jemand von diesem Brot isst, so wird er leben in Ewigkeit; und das Brot, welches ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt (Joh 6, 51f).

23. Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise, und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm (Joh 6, 56f). 141

24. Ihr werdet von allen gehasst sein um meines Namens willen, aber nicht ein Haar von eurem Haupte wird verlorengehen (Lk 21, 17f).

142 25. Niemand kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhangen und den anderen verschmähen (Mt 6, 24).

143 26. Die schlechten Gedanken, die aus dem Herzen wie aus ihrer Quelle kommen, verunreinigen den Menschen; mit ungewaschenen Händen aber zu essen, verunreinigt den Menschen nicht (Mt 15, 19f).

27. Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens Gutes hervor; und der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatz Böses hervor (Mt 12,35).

144 28. Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurück sieht, ist tauglich für das Reich Gottes (Lk 9, 62).

29. Die Haare eures Hauptes sind alle gezählt. Fürchtet euch also nicht; ihr seid mehr wert als die Sperlinge (Lk 12, 7).

30. Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern, dass die Welt durch ihn selig werde (Joh 3, 17).

145 31. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht an das Licht, damit seine Werke nicht zutage kommen (Joh 3, 20).

32. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn anbeten im Geist und in der Wahrheit (Joh 4, 24).

33. Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und Leben (Joh 6, 64).

34. Wer Sünde tut, ist der Sünde Sklave. Der Sklave bleibt nicht für immer im Haus, der Sohn bleibt immer (Joh 8, 34f).

35. Wer im Kleinsten treu ist, ist auch im Größten getreu; und wer im Kleinsten untreu ist, der ist auch im Größten untreu (Lk 16, 10).

36. Eher werden Himmel und Erde vergehen, als dass ein einziges Strichlein vom Gesetz wegfalle (Lk 16, 17).

37. So leuchte euer Licht vor den Menschen, auf dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist (Mt 5, 16).

146 38. Wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener sein wird als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen (Mt 5, 20).

39. Wenn dein rechtes Auge dir zum Ärgernis wird, so reiße es aus und wirf es von dir; denn es ist besser, dass von deinen Gliedern eines verlorengehe, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde (Mt 5, 29).

40. Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt brauchen, reißen es an sich (Mt 11, 12).

41.Häuft euch keine Schätze auf Erden an, wo sie Rost und Motte verzehren und wo die Diebe einbrechen und stehlen; sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo sie weder Rost noch Motte verzehren und wo Diebe nicht einbrechen noch stehlen (Mt 6, 19-20).

42. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn das Urteil, das ihr fällt, wird über euch gefällt, und mit dem Maße, mit dem ihr messt, werdet ihr auch gemessen werden (Mt 7, 1 f).

147 43. Hütet euch vor den falschen Propheten, welche in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen (Mt 7, 15f).

44. Seht zu, dass ihr nicht eines von diesen Kleinen verachtet; denn ich sage euch, ihre Engel im Himmel schauen immerfort das Angesicht ihres Vaters, der im Himmel ist (Mt 18, 10).

45. Wachet also, denn ihr kennet weder den Tag noch die Stunde (wo der Herr kommt) (Mt 25, 13).

148 46. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten können, aber weiter nichts vermögen. Fürchtet den, der nach dem Tod die Macht hat, in die Hölle zu stürzen (Lk 12, 4f).

47. Sorgt nicht für euer Leben, was ihr essen, noch für den Leib, was ihr anziehen sollt ... Euer Vater weiß, dass ihr dessen bedürfet (Lk 12, 22 u. 30).

48. Nichts ist verborgen, das nicht offenbar, nichts geheim, was nicht bekannt würde (Lk 8, 17).

149 49. Wer immer unter euch groß werden will, soll euer Diener sein, und wer unter euch der erste sein will, soll euer Knecht sein (Mt 20, 26f).

50. Wie schwer ist es für die, welche viel Geld haben, in das Reich Gottes einzugehen (Mk 10, 23; Lk 18, 24).

51. Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes eingehe (Lk 18, 25).

52. Ich aber sage euch, liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, welche euch verleumden und verfolgen (Mt 5, 44).

53. Wehe euch, ihr Reichen; denn ihr habt schon euren Trost (in dieser Welt) (Lk 6, 24)!

150 54. Geht ein durch die enge Pforte; denn weit ist die Pforte und breit der Weg, welcher in das Verderben führt, und viele sind es, die durch dieselbe eingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden (Mt 7, 13f).

55. Die Letzten werden die Ersten und die Ersten die Letzten sein; denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt (Mt 10, 16).

Geben ist seliger als nehmen (Apg 20, 35).

56. Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin. Will jemand mit dir rechten und dir deinen Rock nehmen, so lass ihm auch den Mantel (Mt 5, 39-40).

57. Man muss allzeit beten und nicht nachlassen (Lk 18,1). Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt (Mt 26, 41).

58. Jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden (Lk14, 11).

59. Gebt lieber den Inhalt als Almosen. Dann ist alles für euch rein (Lk 11, 41).

60. Wenn deine Hand oder dein Fuß dir zum Ärgernis wird, so haue sie ab und wirf sie von dir: denn es ist besser für dich, dass du verkrüppelt oder lahm in das Leben eingehest, als zwei Hände oder zwei Füße zu haben und in das ewige Feuer geworfen zu werden (Mt 18,8f).

61. Die acht Seligpreisungen

151 1. Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.

2. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen.

3. Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.

4. Selig sind die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.

5. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

6. Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott anschauen.

7. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.

8. Selig sind die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leiden, denn ihrer ist das Himmelreich (Mt 5, 3-10).

152 62. Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, Kleinen aber geoffenbart hast. Ja, Vater, so war es dir wohlgefällig (Mt 11, 25f).

153 Das ist also ein Abriss der großen und wichtigen Wahrheiten, welche zu lehren die Ewige Weisheit selbst auf die Erde gekommen ist, nachdem sie dieselben zuerst geübt hat, um uns aus der Verblendung und Verirrung zurückzuführen, in die unsere Sünden uns gestürzt hatten.

Glücklich jene, welche diese ewigen Wahrheiten verstehen!

Glücklicher jene, welche sie glauben.

Überglücklich aber jene, die sie glauben, üben und andere lehren; denn sie werden im Himmel in alle Ewigkeit glänzen wie Sterne (Dn 12, 3).

Dreizehntes Kapitel: Abriss der unerklärlichen Leiden, welche die menschgewordene Weisheit aus Liebe zu uns erdulden wollte

154 Von allen Gründen, die uns bewegen können, Jesus Christus, die menschgewordene Weisheit zu lieben, ist nach meiner Ansicht der mächtigste, die Leiden, welche er erdulden wollte, um uns seine Liebe zu bezeugen.

Ein Beweggrund, sagt der heilige Bernhard, ist mächtiger als alle anderen, ergreift mich mehr und drängt mich, Jesus Christus zu lieben: Es ist, o guter Jesus, der Kelch der Bitterkeit, den du für uns getrunken, und das Werk der Erlösung, was dich unseren Herzen liebenswürdig macht. Denn diese höchste Wohltat, dieser unvergleichliche Beweis deiner Liebe bewegt uns leicht zur Gegenliebe, sie zieht uns sanfter an, drängt uns gewaltiger und ergreift uns mächtiger. Der Grund dafür, den uns der heilige Kirchenlehrer in wenigen Worten angibt, ist folgender: weil der liebe Heiland sich so sehr abgemüht und soviel gelitten hat, um unsere Erlösung zu vollbringen. O, wie viele Mühen und Ängste hat er ausgestanden!

155 Was uns jedoch die unendliche Liebe der Weisheit zu uns klar beweist, sind die Umstände, welche in seinem Leiden zusammenwirken.

1. Erster Umstand: Die Erhabenheit seiner Person

Der erste Umstand ist die Vortrefflichkeit seiner Person, die unendlich ist und deshalb allem, was er in seinem Leiden erduldet hat, einen unendlichen Wert verliehen hat. Hätte Gott einen Seraphim oder einen Engel aus dem letzten Engelchore gesandt, auf dass er Mensch werde und für uns sterbe, so wäre dies zweifelsohne etwas sehr Staunenswertes gewesen und wir hätten ewig dafür dankbar sein müssen. Da nun aber der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Eingeborene Sohn Gottes, die Ewige Weisheit selbst gekommen ist, um sein Leben hinzugeben, jenes Leben, mit dem verglichen das Leben aller Engel, aller Menschen und aller Geschöpfe miteinander unendlich bedeutungsloser ist, als das Leben einer Fliege verglichen mit dem Leben aller Monarchen der Welt, welches Übermaß der Liebe hat uns da Gott in diesem Geheimnis erwiesen und wie groß muss dann unsere Bewunderung und Dankbarkeit sein!

2. Zweiter Umstand: Die Beschaffenheit derjenigen, für die er leidet

156 Der zweite Umstand ist die Beschaffenheit der Personen, für die er leidet. Es sind Menschen, niedrige Geschöpfe und seine Feinde, von denen er nichts zu fürchten noch etwas zu hoffen hatte. Es gab schon Freunde, die für ihre Freunde in den Tod gegangen sind; aber wird man je außer dem Sohn Gottes jemand finden, der für seinen Feind gestorben ist. «Gott erweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist da wir noch Sünder waren» (Rom 5, 8f). Jesus Christus hat die Liebe, die er zu uns hegt, bewiesen, indem er für uns starb, während wir noch Sünder und infolgedessen seine Feinde waren.

3. Dritter Umstand: Die Mannigfaltigkeit, Dauer und Größe seiner Leiden

I. Die Mannigfaltigkeit seiner Leiden

(vgl. Thomas von Aquin, S. Th. III, q 46, Art. 5-7).

157 Die Menge seiner Leiden war so groß, dass er der Mann der Schmerzen genannt wurde (Is 53,3), an dem «von der Fußsohle bis zum Scheitel nichts Gesundes ist, nichts als Wunden» (Is 1,6). Jesus, der liebende Freund unserer Seelen, hat in allem gelitten: äußerlich und innerlich, an Leib und Seele.

a) Äußerlich:

158 Er hat gelitten an den zeitlichen Gütern. Ich übergehe die Armut bei seiner Geburt, bei der Flucht und dem Aufenthalt in Ägypten und während seines ganzen Lebens.

In seinem bitteren Leiden wurde er von den Soldaten seiner Kleider beraubt, welche sie dann unter sich verteilten. Hierauf wurde er entblößt ans Kreuz genagelt, ohne dass man ihm ein armseliges Stück Tuch gelassen hätte, sich damit zu bedecken.

b) Innerlich:

159 In seiner Ehre und an seinem Namen; indem er mit Schmach überhäuft, ein Gotteslästerer, Aufrührer, ein Trinker, Schlemmer und ein Besessener u. a. m. genannt wurde.

In seiner Weisheit: er wurde als ein Unwissender und als Betrüger ausgegeben und als Tor behandelt.

In seiner Macht: er wurde für einen Zauberer und Schwarzkünstler gehalten, der im Einvernehmen mit dem Teufel Scheinwunder wirkte.

In seinen Jüngern: der eine verkaufte und verriet ihn, und die anderen ließen ihn im Stich.

160 Endlich wurde er von allen möglichen Menschenklassen gequält: von Königen, Statthaltern, Richtern, Höflingen, Soldaten, Hohenpriestern, Priestern und Laien, Juden und Heiden, Männern und Frauen, und überhaupt von allen.

Selbst seine heiligste Mutter war ihm ein furchtbarer Zuwachs an Betrübnis, als er sie bei seinem Tod gegenwärtig sah, am Fuße des Kreuzes in ein Meer von Traurigkeit versenkt.

c) Am Leib:

161 Unser lieber Heiland hat überdies gelitten:

1. an allen Gliedern seines Leibes: sein Haupt wurde mit Dornen gekrönt, Haare und Bart wurden ihm ausgerissen, seine Wangen geschlagen, das Antlitz mit Speichel und Auswurf bedeckt, Hals und Arme mit Stricken zusammengeschnürt, seine Schulter niedergedrückt und geschunden von der Last des Kreuzes, Hände und Füße von Nägeln durchbohrt, seine Seite und sein Herz von einer Lanze geöffnet, sein ganzer Körper erbarmungslos von mehr als 5000 Geißelstreichen zerfleischt, so dass man seine halbentblößten Gebeine sah.

2. Auch alle seine Sinne waren gleichsam in dieses Meer von Schmerzen getaucht: seine Augen, beim Anblick der Grimassen und des Spottes seiner Feinde; seine Ohren, beim Anhören der Schmähungen, der falschen Zeugnisse, der Verleumdungen und der schrecklichen Gotteslästerungen, welche von jenen verruchten Mäulern gegen ihn ausgespieen wurden; der Geruchssinn, durch den Pesthauch des Auswurfes, den man ihm ins Angesicht spie; der Geschmackssinn, durch einen überaus brennenden Durst, in welchem man ihm nur Essig und Galle reichte; endlich sein Tastsinn, durch die entsetzlichen Schmerzen, welche ihm Geißel, Dornen und Nägel bereiteten.

d) An seiner Seele:

162 Seine heiligste Seele wurde aufs äußerste gepeinigt durch die Sünden aller Menschen, weil sie seinem himmlischen Vater, den er unendlich liebte, ebenso viele Beleidigungen und Unbilden zufügen und weil sie die Ursache des ewigen Verderbens so vieler Seelen sind, die trotz seines Leidens und Todes verdammt werden. Und die heiligste Seele Jesu hatte nicht nur Mitleid mit allen Menschen im allgemeinen, sondern mit jedem einzelnen im besonderen, da sie ja jeden einzelnen kannte.

II. Die Dauer seiner Leiden

Was all diese Qualen erhöhte, das war ihre Dauer. Sie begannen im ersten Augenblick seiner Empfängnis und dauerten bis zum Tod; denn im unendlichen Lichte seiner Weisheit kannte er alle Leiden, die er erdulden sollte, und hatte sie unaufhörlich vor Augen.

III. Die Größe seiner Leiden

Zu all diesen Qualen kam noch die grausamste und entsetzlichste von allen hinzu: die Verlassenheit am Kreuz, als er ausrief: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mt 27, 46)

Aus alle dem muss man mit dem heiligen Thomas (S. Th. 163 III, q 46, Art. 5) und den Kirchenvätern schließen, dass unser guter Jesus mehr gelitten hat als alle Märtyrer zusammen, soviel ihrer auch waren oder bis zum Ende der Welt sein werden.

Wenn also der geringste Schmerz des Gottessohnes mehr zu achten ist und uns mehr zu Herzen gehen muss, als wenn alle Engel und Menschen für uns gestorben oder erniedrigt worden wären, wie groß muss dann unser Schmerz, unsere Dankbarkeit und Liebe zu ihm sein, da er für uns alles gelitten hat, was man leiden kann, und zwar mit übermäßiger Liebe, ohne dazu verpflichtet zu sein! «obwohl die Freude vor ihm lag, nahm er das Kreuz auf sich» (Hebr 12,2). Das heißt nach der Auslegung der Kirchenväter: Während Jesus Christus, die Ewige Weisheit, droben im Himmel, in seiner Herrlichkeit in unendlichem Abstand von unserem Elend hätte bleiben können, zog er es in Rücksicht auf uns vor, auf die Erde herniederzusteigen, Mensch zu werden und sich kreuzigen zu lassen. Selbst nachdem er Mensch geworden, hätte er seinem Leibe dieselbe Freude, Unsterblichkeit und Glückseligkeit verleihen können, die er jetzt im Himmel genießt; aber er wollte es nicht, um leiden zu können.

164 Rupertus fügt bei, der Ewige Vater habe seinem Sohn im Augenblick der Menschwerdung die Wahl vorgelegt, die Welt durch Freuden oder durch Leiden, durch Ehren oder Verachtung, durch Reichtümer oder Armut, durch sein Leben oder durch seinen Tod zu erlösen. Er hätte also, wenn er gewollt hätte, durch Freuden und Wonne, Vergnügen, Ehren und Reichtümer, glorreich und triumphierend, die Menschen erlösen und mit sich ins Paradies führen können. Er aber wählte lieber Leiden und Kreuz, um Gott, seinem Vater, mehr Ehre zu erweisen und den Menschen das Zeugnis einer größeren Liebe zu geben.

165 Mehr noch: er hat uns also geliebt, dass er, anstatt seine Leiden abzukürzen, danach verlangte, sie zu verlängern und noch tausendmal mehr zu erdulden. Aus diesem Grund rief er am Kreuz, mit Schmach gesättigt und in Leiden versenkt, gleichsam als ob er noch nicht genug litte: «Mich dürstet!» (Joh 19,28) Und wonach dürstete ihn? Dieser Durst ging aus der Glut seiner Liebe, aus dem tiefen Quell und der Fülle seiner Liebe hervor. « Er dürstete, sagt der heilige Laurentius Justinianus, nach uns, um sich uns hinzugeben und für uns zu leiden.»

166 Haben wir nach alle dem nicht Grund, mit dem heiligen Franz von Paula auszurufen: «O Liebe! Gott der Liebe! O wie übersteigt doch die Liebe, die du uns durch dein Leiden und Sterben erwiesen hast, alle Maßen!» Oder mit der heiligen Maria Magdalena von Pazzis, als sie ein Kruzifix umarmte: «O Liebe! O Liebe! Wie wenig wirst du erkannt!» Oder mit dem heiligen Franz von Assisi, als er sich im Staub der Straßen dahinschleppte: «O! Jesus, meine gekreuzigte Liebe, wird nicht gekannt! Jesus, meine Liebe, wird nicht geliebt!»

In der Tat, mit Recht lässt uns die Kirche jeden Tag beten: «Die Welt kennt Jesus Christus, die menschgewordene Weisheit, nicht» (Joh 1,10). Und wenn wir die Sprache der Vernunft reden wollen, müssen wir sagen: Wenn man weiß, was unser Herr und Heiland für uns gelitten hat, dann ist es, moralisch gesehen, eine Unmöglichkeit, ihn nicht glühend zu lieben, wie die Welt es tut.

Vierzehntes Kapitel: Der Triumph der Ewigen Weisheit im Kreuz und durch das Kreuz

1. Das Geheimnis des Königs

167 Dies ist nach meiner Meinung das größte «Geheimnis des Königs» (Tob 12,7), das größte Geheimnis der Ewigen Weisheit: das Kreuz.

O, wie weit entfernt und wie verschieden sind doch die Gedanken und Wege der Ewigen Weisheit von denen der Menschen, selbst der weisesten! Der große Gott will die Welt erlösen, die Teufel vertreiben und fesseln, die Hölle schließen und den Himmel für die Menschen öffnen, dem Ewigen Vater eine unendliche Ehre erweisen. Das ist gewiss ein großer Plan, eine schwere Aufgabe und ein großes Unternehmen! Welches Mittel wird die Weisheit anwenden, die durch ihre Kenntnis von einem Ende der Welt bis zum anderen reicht und alles sanft ordnet und stark ausführt? (vgl. Weish 8,1) Ihr Arm ist allmächtig; mit einer einzigen Handbewegung kann sie alles zerstören, was sich ihr widersetzt und alles tun, was sie will; mit einem einzigen Wort aus ihrem Munde kann sie vernichten oder erschaffen. Was sage ich? Sie braucht nur zu wollen, um alles zu vollbringen.

168 Aber die Liebe gibt ihrer Allmacht Gesetze. Sie will Mensch werden, um dem Menschen ihre Freundschaft zu bezeigen. Sie will selbst auf die Erde herniedersteigen, um ihn in den Himmel hinaufzuführen. So sei es! Aber selbstverständlich wird diese menschgewordene Weisheit glorreich und triumphierend erscheinen, begleitet von Millionen von Engeln oder wenigstens von Millionen auserwählter Menschen, und mit diesen Armeen, mit dieser Pracht und Herrlichkeit, ohne Armut und Schande, ohne Demütigung und Schwäche alle ihre Feinde niederschmettern und die Herzen aller Menschen durch ihre Reize, Genüsse, Größe und Reichtümer gewinnen?

Nichts weniger als dies! O Wunder! Sie sieht etwas, was für die Juden ein Gegenstand des Ärgernisses und der Abscheu und für die Heiden ein Gegenstand der Torheit ist (vgl. 1 Kor 1,23); sie sieht ein geringes und verächtliches Stück Holz, dessen man sich zur Strafe und Qual der größten und gemeinsten Verbrecher bedient; man heißt es Marterpfahl, Galgen, Kreuz. Auf dieses Kreuz richtet sie ihr Augenmerk. Sie findet ihr größtes Wohlgefallen daran. Aus all dem Großen und Glänzenden, das es im Himmel und auf Erden gibt, wählt sie es mit zärtlicher Liebe aus zum Werkzeug ihrer Eroberungen und zum Schmuck ihrer Majestät, zum Reichtum und zur Wonne ihres Reiches, zur Freundin und Braut ihres Herzens. «O Tiefe der Weisheit und Wissenschaft Gottes!» (Röm 11,38) Wie überraschend ist seine Wahl! Wie erhaben und unbegreiflich sind seine Pläne und Urteile! Wie unaussprechlich ist doch seine Liebe zum Kreuz!

2. Jesu Kreuzesliebe

a) Von Kindheit an

169 Die menschgewordene Weisheit «hat das Kreuz von Kindheit an geliebt» (Weish 8,2). Kaum in die Welt eingetreten, hat sie es im Mutterschoß aus der Hand des Ewigen Vaters entgegengenommen und mitten im Herzen aufgepflanzt, damit es dort herrsche, und sprach: «Mein Gott ich will es, und dein Gesetz ist in meines Herzens Mitte!» (Ps 39, 9). Mein Gott, mein Vater, dieses Kreuz habe ich erwählt, als ich noch in Deinem Schoß war. Ich erwähle es wieder im Schoß meiner Mutter; ich liebe es aus allen meinen Kräften und ich pflanze es mitten in mein Herz als meine Braut und Herrin.

b) Während seines Erdenlebens

170 Während seines ganzen Lebens hat Jesus, die menschgewordene Weisheit, das Kreuz mit Eifer gesucht. Wenn er wie ein dürstender Hirsch von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt eilte; wenn er mit Riesenschritten dem Kalvarienberg entgegenging; wenn er immer wieder zu den Aposteln und Jüngern und auf Tabor sogar zu den Propheten von seinem Leiden und Sterben sprach; wenn er so häufig ausrief: «ich habe mit Sehnsucht, mit unendlicher Sehnsucht darnach verlangt» (Lk 12, 50), so galten alle seine Schritte, all sein Eifer, all seine Bemühungen und all sein Sehnen dem Kreuz, und er betrachtete es als die Krönung seiner Herrlichkeit und als sein höchstes Glück, in seiner Umarmung zu sterben.

c) Im Tode

Die Ewige Weisheit hat sich in ihrer Menschwerdung mit unaussprechlicher Liebe mit dem Kreuz vermählt. Sie hat es ihr ganzes Leben lang mit unsäglicher Freude gesucht und getragen; denn ihr Leben war nichts anderes als ein immerwährendes Kreuz; und nachdem sie sich mehrmals bemüht hatte, es zu umarmen und auf Golgotha daran zu sterben, rief sie aus: «Ich muss mit einer Taufe getauft werden, und wie drängt es mich, bis sie vollzogen ist» (Lk 12, 50). Wie, bin ich denn verhindert? Und was hält mich noch auf?

Und warum kann ich dich noch nicht umfangen, du liebes Kreuz auf Kalvaria?

171 Endlich langte sie auf dem Höhepunkt ihrer Wünsche an: sie wurde, mit Schmach bedeckt, ans Kreuz geheftet und gleichsam daran genietet. Und mit Freuden starb sie in der Umarmung der geliebten Braut, wie auf einem Ehren- und Triumphbette.

d) Nach dem Tode

172 Glaube nicht, dass sie nach dem Tod, um besser zu triumphieren, sich vom Kreuz getrennt, das Kreuz verstoßen hätte. Weit entfernt! Sie hat sich so sehr mit dem Kreuz vereinigt und gleichsam das Kreuz mit sich verkörpert, dass weder Engel noch Menschen, noch irgendein Geschöpf im Himmel und auf Erden sie davon trennen könnte. Ihr Band ist unauflöslich, ihr Bund währt ewig. - Niemals ist das Kreuz ohne Jesus, noch Jesus ohne das Kreuz!

3. Die Verehrung des Kreuzes

Die menschgewordene Weisheit hat durch ihren Tod die Schande des Kreuzes so glorreich, seine Armut und Blöße so reich, seine Schmerzen so angenehm und seine Härte so reizend gemacht, dass es gleichsam vergöttlicht und Engeln und Menschen anbetungswürdig wurde. Und Jesus Christus hat verordnet, dass alle seine Untergebenen ihn und sein Kreuz anbeten. Sie will nicht, dass die Ehre der Anbetung, selbst der relativen, einem anderen Geschöpfe erwiesen werde, so erhaben es auch sei, wie z. B. seiner heiligsten Mutter; diese große Ehre ist nur seinem geliebten Kreuz vorbehalten und gebührt ihm allein. Am großen Tag des Gerichtes wird sie die Verehrung aller, auch der kostbarsten Reliquien der Heiligen, aufheben. Für das heilige Kreuz jedoch wird sie den ersten Seraphim und Cherubim befehlen, in der ganzen Welt alle Teilchen des wahren Kreuzes zu sammeln, und die Allmacht des liebevollen Erlösers wird alle diese Teile so gut zusammenfügen, dass sie nur noch ein Kreuz ausmachen werden und zwar dasselbe Kreuz, an dem die menschgewordene Weisheit gestorben ist. Sie wird dieses Kreuz unter denJubelgesängen der Engel im Triumph einhertragen lassen. Dasselbe Kreuz wird auf der glänzendsten Wolke, die je erschienen, dem Weltenrichter vorausgehen, und mit dem Kreuz und durch das Kreuz wird er die Welt richten.

Wie groß wird alsdann die Freude der Freunde des Kreuzes sein, wenn sie es erblicken werden! Wie schrecklich hingegen wird die Verzweiflung seiner Feinde sein, die den Anblick des strahlenblitzenden Kreuzes nicht werden ertragen können und zu den Bergen sprechen werden: Fallet über uns! (vgl. Lk 23, 30) Und zu der Hölle: Verschlinge uns!

Das Kreuz als Kennzeichen und Waffe des Christen

173 In der Erwartung des großen Tages ihres Triumphes beim letzten Gericht will die Ewige Weisheit, dass das Kreuz das Zeichen, das Merkmal und die Waffe all ihrer Auserwählten sei.

Sie nimmt kein Kind auf, das nicht mit diesem Merkmal bezeichnet ist. Sie nimmt keinen Jünger auf, der es nicht auf seiner Stirne trägt, ohne sich seiner zu schämen, in seinem Herzen, ohne den Mut zu verlieren, auf seinen Schultern, ohne es zu schleppen oder abzuschütteln. «Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach» (Mt 16, 24). Sie nimmt keinen als Soldaten an, der das Kreuz nicht als seine Waffe gebrauchen wollte, um sich zu verteidigen, um alle Feinde anzugreifen, nieder zu werfen und zu zerschmettern. Und sie ruft ihnen zu: «Vertraut, ich habe die Welt besiegt!» (Joh 16, 33) «In diesem Zeichen wirst du siegen.» (Konstantin gegen Maxentius).

Vertrauet auf mich, meine Soldaten, ich bin euer Führer, ich habe meine Feinde durch das Kreuz besiegt, auch ihr werdet in diesem Zeichen siegen!

4. Die Kenntnis des Kreuzes ist eine besondere Gnade

174 Die Ewige Weisheit hat so große Schätze und Gnaden des Lebens und der Freude im Kreuz eingeschlossen, dass sie nur ihren größten Lieblingen dessen Erkenntnis verleiht. Ihren Freunden, wie den Aposteln, eröffnet sie zwar oftmals alle übrigen Geheimnisse: «Ich habe euch alles kundgetan» (Joh 15,15), nicht aber die Geheimnisse des Kreuzes, außer sie hätten sich durch große Treue und viel Mühen ihrer würdig erwiesen.

O wie demütig, klein, abgetötet, innerlich und von der Welt verachtet muss man sein, um das Geheimnis des Kreuzes zu kennen! Es ist auch heute nicht nur den Juden und Heiden, den Muslimen und Abtrünnigen, den Aufgeklärten und den schlechten Katholiken, sondern selbst Personen, die man fromm, ja sehr fromm nennt, ein Gegenstand des Ärgernisses oder der Torheit, der Verachtung und der Flucht - zwar nicht in der Theorie, denn nie hat man mehr von der Schönheit und Vortrefflichkeit des Kreuzes gesprochen, nie mehr darüber geschrieben als heutzutage, - wohl aber in der Praxis, denn man fürchtet sich, man beklagt sich, man entschuldigt sich, man ist gekränkt, man flieht, sobald es sich darum handelt, etwas zu leiden.

Eines Tages war die menschgewordene Weisheit in freudigem Entzücken über die Schönheit des Kreuzes so hingerissen, dass sie jubelte: «Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil Du die Schätze und Herrlichkeiten meines Kreuzes den Weisen und Klugen dieser Welt verborgen, den Demütigen und Kleinen aber geoffenbart hast!» (vgl. Lk 10, 21)

5. Der Besitz des Kreuzes ist eine größere Gnade

175 Wenn die Kenntnis des Geheimnisses des Kreuzes schon eine so außerordentliche Gnade ist, was muss dann erst ihr Genuss und der wirkliche Besitz sein! Dieses Gnadengeschenk gewährt die Ewige Weisheit nur ihren größten Freunden und zwar erst nach vielen Gebeten, heftigem Verlangen und inständigem Flehen. So erhaben auch das Geschenk des Glaubens sei, durch den wir Gott wohlgefällig werden und uns ihm nahen, durch den die Feinde überwunden und ohne den wir verdammt werden, so ist doch das Geschenk des Kreuzes noch größer.

Der heilige Johannes Chrysostomus sagt: «Der heilige Petrus ist glücklicher, für Jesus Christus im Gefängnis zu sein, als mitten in der Herrlichkeit auf Tabor. Es ist für ihn ruhmvoller, die Ketten an den Füßen, als die Schlüssel des Himmelreiches in den Händen zu tragen» (Horn in Eph. 1,2). Der heilige Paulus setzt mehr Ruhm darein, für seinen Erlöser in Ketten zu liegen, als bis in den dritten Himmel entrückt zu sein. (vgl. Eph 3,1; 4,1) Gott schenkte den Aposteln und Märtyrern eine größere Gnade, indem er ihnen sein Kreuz zu tragen gab in den Verdemütigungen, in der Armut und in den grausamsten Qualen, als wenn er ihnen die Gabe der Wunder und die Macht verliehen hätte, alle Menschen zu bekehren.

Alle jene, denen die Ewige Weisheit sich mitgeteilt hat, sehnten sich alle nach dem Kreuz, sie suchten es, und wenn sich ihnen eine Gelegenheit darbot, zu leiden, riefen sie aus tiefstem Herzensgrund mit dem heiligen Andreas aus: «O liebes Kreuz, o langersehntes Kreuz!»

176 Das Kreuz ist gut und kostbar aus zahllosen Gründen:

1) Weil es uns Jesus Christus gleichförmig macht.

2) Weil es uns zu würdigen Kindern des Ewigen Vaters, zu würdigen Gliedern Christi und zu würdigen Tempeln des Heiligen Geistes macht. Gott der Vater züchtigt alle, die er als Kinder aufnimmt, wie die Heilige Schrift sagt: «Er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat» (Hebr 12, 6). Jesus Christus erkennt nur jene als die Seinigen an, die ihr Kreuz tragen. Der Heilige Geist behaut und schleift alle lebendigen Steine des himmlischen Jerusalem, d. h. die Auserwählten.

3) Das Kreuz ist gut, weil es den Geist erleuchtet und ihm mehr Verständnis verleiht, als alle Bücher der Welt. «Wer nicht geprüft ist, was weiß der?» (Sir 34, 9)

4) Weil das Kreuz, wenn es recht getragen wird, die Ursache, die Nahrung und der Beweis der Liebe zu Gott ist. Es entzündet das Feuer der göttlichen Liebe im Herzen, indem es das Herz von den Geschöpfen losschält. Es unterhält und vermehrt diese Liebe, und wie das Holz die Nahrung des Feuers, so ist das Kreuz die Nahrung der Liebe. Es ist der sicherste Beweis, dass man Gott liebt. Dieses Beweismittels hat sich Gott bedient, um uns zu zeigen, dass er uns liebt; diesen Beweis verlangt Gott auch von uns, um ihm zu zeigen, dass wir ihn lieben.

5) Das Kreuz ist gut, weil es eine überfließende Quelle jeder Art von Süßigkeit und Tröstung ist, und in der Seele Freude, Frieden und Gnade hervorbringt.

6) Endlich ist das Kreuz gut, weil es für denjenigen, der es trägt, «eine überschwengliche, alles überwiegende Herrlichkeit im Himmel bewirkt» (2 Kor 4, 17).

6. Die Kreuzesliebe der Heiligen

177 Würde man den Wert des Kreuzes kennen, man ließe, wie der heilige Petrus von Alcantara, Novenen halten, um dieses kostbare Stück Paradies zu erlangen. Man würde mit der heiligen Theresia sagen: Entweder leiden oder sterben! Mit der heiligen Maria Magdalena von Pazzis: Nicht sterben, sondern leiden! Man würde mit dem heiligen Johannes vorn Kreuz nur noch um die Gnade bitten, etwas für Gott zu leiden: Pati et cantemni pro te. «Von allen Dingen auf Erden schätzt man im Himmel nur das Kreuz», sagte dieser Heilige nach seinem Tod zu einer Dienerin Gottes. Der göttliche Heiland sagte zu einem seiner Diener: «Ich habe Kreuze von so hohem Wert, dass meine liebe Mutter, so allmächtig sie ist, nichts Größeres von mir für ihre treuen Diener erlangen kann.»

7. Die Weltmenschen und das Kreuz

178 Ihr weltlich Klugen, ihr Ehrenmänner im Sinne der Welt, ihr versteht nichts von dieser geheimnisvollen Sprache. Ihr liebt zu sehr das Vergnügen, ihr sucht zu sehr eure Bequemlichkeit, ihr hängt zu sehr an den Gütern dieser Welt, ihr fürchtet zu sehr die Verachtung und Verdemütigung. Mit einem Worte, ihr seid zu sehr Feinde des Kreuzes Jesu. Ihr schätzt zwar und lobt sogar das Kreuz im allgemeinen, aber nicht das eure, das ihr flieht, soviel ihr nur könnt, oder mit Widerwillen und Murren, mit Ungeduld und Jammern mitschleppt. Ich vermeine jene Kühe zu sehen, welche brüllend und widerstrebend die Bundeslade zogen, in welcher das Kostbarste eingeschlossen war, was die Welt besaß. «Trahentes et mugientes» (1 Sam 6, 12). Die Zahl der Toren und Unglückseligen ist unendlich, sagt die Weisheit (Sir 1, 15), weil die Zahl jener unendlich ist, welche den Wert des Kreuzes nicht erkennen und es mit Widerstreben tragen.

8. An die Freunde des Kreuzes

179 Ihr aber, wahre Jünger der Ewigen Weisheit, die ihr in viele Versuchungen und Trübsale gefallen seid, die ihr um der Gerechtigkeit willen viele Verfolgung leidet und wie der Kehricht der Welt behandelt werdet, tröstet euch, freut euch und frohlockt; denn das Kreuz, das ihr tragt, ist ein kostbares Geschenk, um das euch die Seligen beneiden. Denn sie sind nicht mehr leidensfähig. Alle Ehre, Herrlichkeit und Kraft Gottes, ja sein Heiliger Geist selbst ruht über euch. Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel, ja sogar schon auf Erden durch die geistlichen Gnaden, die euch das Kreuz vermittelt.

180 Trinkt, Freunde Jesu, trinkt aus seinem Kelch der Bitterkeit und ihr werdet seine Freunde werden. Leidet mit Geduld, ja sogar mit Freuden! Nur noch eine kleine Weile, dann kostet ihr eine Ewigkeit des Glückes für einen Augenblick der Mühe.

Täuschet euch nicht. Seitdem die menschgewordene Weisheit durch das Kreuz in den Himmel eingehen musste, kann man nur auf demselben Wege dahin gelangen. «Wohin immer ihr euch wendet», sagt die Nachfolge Christi, «werdet ihr immer das Kreuz finden» (II, 12,3): entweder das Kreuz der Auserwählten, wenn ihr es recht tragt mit Geduld und Freude aus Liebe zu Gott. Oder ihr findet das Kreuz der Verworfenen, wenn ihr es tragt mit Ungeduld und Widerwillen, wie es so viele doppelt Unglückselige tun, welche in der Hölle die ganze Ewigkeit hindurch sich sagen müssen: «Wir wanderten durch weglose Wüsten» (Weish 5, 7). Wir haben uns in der Welt abgemüht und gelitten, und nun am Ende sind wir verdammt!

Die wahre Weisheit findet sich nicht auf Erden, noch in den Herzen jener, die nur ihren Neigungen folgen. So sehr hat sie ihre Wohnung im Kreuz aufgeschlagen, dass man sie außerhalb desselben in der ganzen Welt nirgends finden kann; ja sie hat sich so sehr im Kreuz verkörpert und ist mit ihm eins geworden, dass man in Wahrheit sagen kann, die Weisheit ist das Kreuz und das Kreuz die Weisheit.

Fünfzehntes Kapitel: Die Mittel zur Erlangung der göttlichen Weisheit

Erstes Mittel: Ein brennendes Verlangen

181 Wie lange noch, ihr Menschenkinder, werdet ihr trägen und irdisch gesinnten Herzens sein? Wie lange noch werdet ihr die Eitelkeit lieben und die Lüge suchen? Warum wendet ihr eure Augen und Herzen nicht der göttlichen Weisheit zu, die von allen wünschenswerten Dingen das wünschenswerteste ist, die, um von den Menschen geliebt zu werden, selbst ihren Ursprung offenbart, ihre Schönheit und ihre Schätze zeigt und ihnen auf tausenderlei Arten ihr Verlangen offenbart, von ihnen ersehnt und gesucht zu werden? «Sehnt euch also danach, spricht sie, meine Worte zu hören» (Weish 6,12). «Sie kommt denen zuvor, die sich nach ihr sehnen» (Weish 6, 21). «Das Verlangen nach der Weisheit führt zum ewigen Reiche» (Sir 1, 33).

182 Das Verlangen nach der Weisheit muss ein großes Geschenk Gottes sein, da es der Lohn für die treue Beobachtung der Gebote Gottes ist. «Verlangst du, o Sohn, auf die richtige Weise nach der Weisheit, so bewahre die Gerechtigkeit und halte die Gebote und Gott wird sie dir geben. Betrachte immer die Gebote des Herrn und übe dich emsig in seinen Vorschriften. Er wird dir selbst ein Herz geben und dein Verlangen nach Weisheit wird dir gewährt werden» (Sir 1, 33).

«Denn die Weisheit geht nicht in eine schlechte Seele ein und wohnt nicht in einem Leibe, welcher der Sünde dient» (Weish 1,4).

Das Verlangen nach der Weisheit muss demnach heilig und aufrichtig sein, indem man die Gebote Gottes treu beobachtet; denn es gibt eine Unmenge von Toren und Trägen, die tausendmal das Gute wünschen oder vielmehr tun möchten. Solche Wünsche aber, die nicht dazu führen, dass man die Sünde aufgibt, noch sich Gewalt antut, sind falsch und trügerisch. Sie führen zum Tod und zur Verdammnis: «Den Faulen bringt sein Begehren um» (Spr 21,25). «Denn der Heilige Geist, der Lehrmeister der Wissenschaft, flieht vor der Verstellung und zieht sich vor unverständigen Gedanken zurück. Und die Ungerechtigkeit, welche dann noch hinzutritt, verbannt ihn völlig aus der Seele» (Weish 1,5).

183 Salomon, welchen uns der Heilige Geist zum Vorbild gegeben hat, wie man die Weisheit erwerben soll, hat sie erst empfangen, nachdem er sich lange nach ihr gesehnt, sie lange gesucht und lange darum gefleht hatte. Er sagt: «Ich habe die Weisheit ersehnt und sie ward mir gegeben; ich habe um den Geist der Weisheit gebeten und er ist in mich gekommen» (Weish 7, 7). «Ich habe sie geliebt und auserwählt von Jugend auf und ich suchte sie mir zur Braut und Gefährtin zu nehmen. Ich ging überall umher, um sie zu suchen» Weish 8, 2; 18).

Auch wir müssen wie Salomon und Daniel «Männer des Verlangens» (Dan 9, 23) sein, um diesen großen Schatz der Weisheit zu erlangen.

Zweites Mittel: Beharrliches Gebet

184 Je größer eine Gabe Gottes ist, desto schwieriger ist es, sie zu erlangen. Wie viele Gebete und Anstrengungen verlangt also die Gabe der Weisheit, welche die größte aller Gottesgaben ist! Hören wir, was die Weisheit selbst sagt: «Sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch aufgetan werden; bittet und ihr werdet empfangen» (Mt 7,7). Als ob sie sagen wollte: Wenn ihr mich finden wollt, so müsst ihr mich suchen; wenn ihr in meinen Palast eintreten wollt, so müsst ihr darum bitten. Niemand findet mich, wenn er mich nicht sucht; niemand tritt bei mir ein, ohne anzuklopfen; niemand empfängt mich, ohne zu bitten: dies alles aber geschieht durch das Gebet.

Die Notwendigkeit des Gebetes

Das Gebet ist der gewöhnliche Kanal, durch den Gott seine Gnaden, insbesondere seine Weisheit, mitteilt. Die Welt hat viertausend Jahre lang um die Menschwerdung der göttlichen Weisheit gebetet. Maria hat sich vierzehn Jahre lang durch das Gebet darauf vorbereitet, sie in ihren Schoß aufzunehmen. Salomon hat sie erst empfangen, nachdem er lange Zeit mit wunderbarer Inbrunst darum gefleht hatte. «Ich trat vor den Herrn hin und bat ihn und sprach zu ihm von ganzem Herzen: Gib mir jene Weisheit, die zu Deiner Seite thront!» (Weish 8, 21; 9, 4)

«Wenn es aber einem von euch an Weisheit gebricht, so bitte er Gott, welcher allen reichlich gibt und es nicht tadelt, und sie wird ihm gegeben werden» (Jak 1, 5). Bemerke nebenbei, dass der Heilige Geist nicht sagt: Wenn es jemand an Liebe, Demut, Geduld usw. gebricht, welches doch ausgezeichnete Tugenden sind, sondern: Wenn es einem von euch an Weisheit gebricht. Denn dann bittet man um alle Tugenden, die alle in ihr eingeschlossen sind.

Die Eigenschaften des Gebetes

185 Um sie zu erlangen, muss man darum bitten: Postulet.

Aber wie bitten?

Wir müssen erstens «mit lebendigem und festem Glauben um die Weisheit bitten, ohne zu zaudern» (Jak 1, 6), «denn wer nur einen schwankenden Glauben hat, muss nicht erwarten, dass er sie erlange» (Jak 1, 7).

186 Zweitens müssen wir mit reinem Glauben um die Weisheit bitten, ohne unser Gebet auf fühlbare Tröstungen, auf Gesichte oder besondere Offenbarungen zu stützen. Obgleich all dies gut und wahr sein kann, wie es bei manchen Heiligen der Fall war, so ist es doch immer gefährlich, sich darauf zu verlassen, und der Glaube ist oft um so weniger rein und verdienstlich, je mehr er sich auf solche außerordentliche und fühlbare Gnaden stützt. Was uns der Heilige Geist über die Größe und Schönheiten der Weisheit lehrt, sowie über das Verlangen Gottes, sie uns zu verleihen, und über unser Bedürfnis nach ihr, sind Beweggründe, die uns mächtig genug antreiben, mit großem Glauben und allem nur erdenklichen Eifer nach ihr zu trachten und sie von Gott zu erbitten.

187 Der reine Glaube ist die Ursache und die Wirkung der Weisheit in unserer Seele. Je mehr Glauben einer hat, desto mehr Weisheit besitzt er; je mehr Weisheit er besitzt, desto mehr Glauben hat er. Der Gerechte, oder der Weise, lebt nur aus dem Glauben (vgl. Röm 1, 17), ohne zu sehen, ohne zu fühlen, ohne zu kosten und ohne zu schwanken. Gott hat es gesagt oder versprochen: Das ist das Fundament all seiner Gebete und Handlungen, mag es vom natürlichen Standpunkt aus betrachtet auch scheinen, als ob Gott keine Augen habe, um sein Elend zu sehen, keine Ohren, um seine Bitten zu hören, keine Arme, um seine Feinde niederzuschmettern, keine Hände, um ihm zu Hilfe zu kommen; auch wenn er von Zerstreuungen, Zweifeln und Finsternis des Geistes, von Täuschungen in der Phantasie, von Überdruss und Trostlosigkeit im Herzen, von Traurigkeit und Todesängsten in der Seele angefochten wird.

Der Weise bittet nicht darum, außerordentliche Dinge zu sehen wie die Heiligen, noch fühlbare Süßigkeiten in seinen Gebeten und Andachtsübungen zu verkosten. Er bittet mit Glauben, in fide, um die göttliche Weisheit, et dabitur ei (Jak 1,6); und er muss mit größerer Sicherheit überzeugt sein, dass sie ihm gegeben wird, als wenn ein Engel vom Himmel herabgestiegen wäre, um ihn dessen zu versichern. Denn Gott hat gesagt: «Alle, die Gott auf gebührende Weise bitten, werden erhalten» (Lk 11, 10), um was sie beten. «Wenn also ihr, obschon ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer himmlischer Vater den guten Geist der Weisheit denjenigen geben, die darum bitten!» (Lk 11, 13).

188 Wir müssen drittens mit Beharrlichkeit um die Weisheit bitten. Zur Erlangung dieser kostbaren Perle, dieses unendlichen Schatzes, müssen wir Gott mit heiligem Ungestüm bitten, sonst werden wir sie nie erlangen. Wir dürfen nicht tun wie die meisten Menschen, welche von Gott eine Gnade erflehen. Wenn sie eine geraume Zeit, vielleicht Jahre lang, darum gebetet haben und dann keine Erhörung ihres Gebetes sehen, werden sie mutlos und hören auf zu beten, weil sie glauben, Gott wolle sie nicht erhören. So verlieren sie die Frucht ihrer Gebete und fügen Gott eine Unrecht zu; denn nichts tut Gott lieber, als geben, und gut verrichtete Gebete erhört er immer, sei es so oder anders.

Wer also die Weisheit erlangen will, muss Tag und Nacht darum bitten, ohne zu ermüden und ohne sich entmutigen zu lassen. Tausendmal glücklich wird er sein, wenn er sie nach zehn, zwanzig, ja dreißig Jahren des Gebetes erlangt, oder sogar erst eine Stunde vor seinem Tod. Und wenn er sie auch erst dann empfängt, nachdem er sein ganzes Leben damit zugebracht hat, sie zu suchen, darum zu bitten und sie durch jede Art von Mühe und Leid zu verdienen, so muss er fest überzeugt sein, dass sie ihm nicht aus Gerechtigkeit und als Lohn, sondern aus reiner Barmherzigkeit und als ein Almosen gewährt wird.

189 Nein, nein, nicht die nachlässigen und in ihren Bitten und Gebeten unbeständigen Seelen werden die Weisheit erlangen, sondern jene, welche dem Freund gleichen, der in der Nacht an der Tür seines Freundes anklopft, um drei Brote zu entlehnen. Beachte, dass die Weisheit selbst es ist, welche in diesem Gleichnis uns lehrt, auf welche Art und Weise wir beten sollen, um sie zu erlangen. Jener Freund klopft und wiederholt sein Klopfen und seine Bitte vier- oder fünfmal, immer heftiger und eindringlicher, obwohl zu ungehöriger Stunde, nämlich um Mitternacht, obschon sein Freund bereits zu Bett ist, obgleich er schon zwei- oder dreimal als unverschämt und zudringlich abgewiesen wurde. Schließlich, da der ruhende Freund von den Bitten seines Freundes so belästigt wurde, stand er auf, öffnete die Türe und gab ihm alles, was er wünschte. (vgl. Lk 11, 5-8)

190 Auf diese Weise müssen wir beten, wenn wir die Weisheit erlangen wollen. Unfehlbar wird sich Gott, der belästigt werden will, früher oder später erheben, die Tür seiner Barmherzigkeit öffnen und uns die drei Brote der Weisheit geben: das Brot des Lebens, das Brot des Verständnisses und das Brot der Engel.

Vernimm einige Gebete, die der Heilige Geist verfasst hat, um die Weisheit zu erlangen (Weish 9, 1-6; 9-19):

Gebet Salomons, um die göttliche Weisheit zu erlangen

191 «Gott meiner Väter und Herr der Barmherzigkeit, der du alles durch dein Wort geschaffen und durch deine Weisheit den Menschen bestimmt hast, dass er über die Geschöpfe herrsche, welche von dir gemacht worden. Er soll den Erdkreis mit Heiligkeit und Gerechtigkeit regieren und mit aufrichtigem Herzen Gericht halten. Gib mir die Weisheit, die bei deinem Thron steht.

Verstoß mich nicht aus der Zahl deiner Diener; denn ich bin dein Knecht und ein Sohn deiner Magd, ein schwacher Mensch, von kurzer Lebensdauer und von zu geringer Einsicht in das Recht und die Gesetze. Denn wenngleich einer unter den Menschenkindern vollkommen wäre, so ist er doch, wenn ihm deine Weisheit fehlt, für nichts zu achten.

192 Bei dir ist deine Weisheit, die deine Werke kennt und die auch damals zugegen war, als du den Erdkreis machtest, die da wusste, was wohlgefällig in deinen Augen und was recht ist nach deinen Geboten.

Sende sie herab von deinem heiligen Himmel, und von dem Thron deiner Hoheit, dass sie bei mir sei und mit mir arbeite, damit ich wisse, was bei dir angenehm sei; denn sie weiß und versteht alles und wird mich auf kluge Weise leiten in meinen Werken, und mich bewahren durch ihre Macht. So werden meine Werke angenehm sein, und so werde ich dein Volk gerecht regieren und des Thrones meines Vaters würdig sein. Denn welcher Mensch kann Gottes Ratschluss wissen? Oder wer kann begreifen, was Gott wünscht?

Denn die Gedanken der Sterblichen sind furchtsam, und unsere Vorsicht unsicher. Denn der Leib, der verweslich ist, beschwert die Seele und die irdische Hütte drückt nieder den um vieles besorgten Geist. Kaum fassen wir das, was auf Erden ist, und was uns vor den Augen liegt, finden wir mit Mühe; wer wird denn erforschen, was im Himmel ist? Wer wird deinen Sinn erkennen, wenn du ihm nicht Weisheit gibst und deinen Heiligen Geist aus der Höhe sendest, dass die Menschen lernen, was dir gefällt? Denn die dir, o Herr, vorn Anbeginn her gefällig waren, die wurden nur durch die Weisheit gerettet.»

Das betrachtende Gebet des Rosenkranzes

193 Dem mündlichen Gebet müssen wir das betrachtende Gebet hinzufügen, das den Geist erleuchtet, das Herz entzündet und die Seele befähigt, die Stimme der Weisheit zu vernehmen, ihre Süßigkeit zu verkosten und ihre Reichtümer zu besitzen.

Ich für meinen Teil finde kein mächtigeres Mittel, um das Reich Gottes, die Ewige Weisheit, in unsere Seele herabzuziehen, als das mündliche Gebet mit dem betrachtenden zu verbinden durch das Beten des Rosenkranzes, verbunden mit der Betrachtung der fünfzehn Geheimnisse, die er enthält.

Sechzehntes Kapitel: Drittes Mittel: Vollkommene Abtötung in allem

1. Notwendigkeit der Abtötung

194 «Die Weisheit, sagt der Heilige Geist, findet sich nicht bei jenen, welche ihrer Bequemlichkeit frönen» (Job 28, 13), die ihren Leidenschaften und Sinnen alles gewähren, was sie wünschen; denn diejenigen, «welche nach dem Fleische leben, können Gott nicht gefallen, und die Weisheit des Fleisches ist die Feindin Gottes (Röm 8, 8 und 8, 7). «Mein Geist wird nicht im Menschen bleiben, weil er Fleisch ist» (Gen 6, 3).

«Alle jene, welche Jesus Christus, der menschgewordenen Weisheit angehören, haben ihr Fleisch mit seinen Lastern und Begierlichkeiten gekreuzigt» (Gal 5, 24). «Sie tragen jetzt und immer die Abtötung Jesu an ihrem Leib» (2 Kor 4, 10), sie tun sich fortwährend Gewalt an, sie tragen ihr Kreuz alle Tage und sind in Jesus Christus gestorben und sogar begraben (vgl. Röm 6, 4/8; Kol 2, 12).

Dies sind Worte des Heiligen Geistes, die klarer als das Sonnenlicht zeigen, dass man die Abtötung, die Weltverachtung und Selbstverleugnung üben muss, um die menschgewordene Weisheit, Jesus Christus, zu besitzen.

195 Bilde dir nicht ein, diese Weisheit, welche reiner ist als der Sonnenstrahl, kehre in eine Seele oder in einen Körper ein, die von den Vergnügungen der Sinne befleckt ist. Glaube ja nicht, dass sie ihre Ruhe und ihren unaussprechlichen Frieden jenen verleihe, welche die Gesellschaft und die Eitelkeiten der Welt lieben! Sie sagt: «Nur wer die Welt und sich selbst besiegt hat, dem werde ich das verborgene Manna geben» (vgl. Offb 2, 17).

Obgleich diese liebenswürdige Herrscherin in ihrem unendlichen Licht alles in einem Augenblick erkennt und unterscheidet, sucht sie dennoch Menschen, die ihrer würdig sind (Weish 6, 17). Sie sucht sie, weil ihre Zahl so klein ist, dass sie kaum solche findet, die von der Welt genug losgelöst, genug verinnerlicht und abgetötet sind, um ihrer Person, ihrer Reichtümer und ihrer Verbindung würdig zu sein.

2. Die Eigenschaften der Abtötung

196 Um sich einer Seele mitzuteilen, verlangt die Weisheit nicht eine halbe Abtötung oder eine Abtötung von einigen Tagen, sondern eine gänzliche und beständige, mutvolle und kluge.

Um die Weisheit zu besitzen, muss man:

197 1) Entweder wirklich die Güter der Welt verlassen, wie es die Apostel, die Jünger, die ersten Christen und die Ordensleute taten: das ist am schnellsten getan, das beste, und auch das sicherste Mittel, die Weisheit zu besitzen. Oder man muss wenigstens sein Herz von den Gütern losschälen und sie besitzen, als besäße man sie nicht (vgl. 1 Kor 7,30), ohne nach ihrem Besitz zu streben, ohne sich um deren Bewahrung zu beunruhigen, ohne sich über ihren Verlust zu beklagen oder ungeduldig zu werden; und dies ist recht schwierig auszuführen.

198 2) Man darf sich den äußerlichen Gebräuchen und Moden der Weltleute nicht anpassen, sei es in der Kleidung oder im Hausrat oder in den Häusern oder in den Mahlzeiten, noch in den übrigen Gebräuchen und Gewohnheiten des Lebens. «Ihr sollt dieser Welt nicht gleichförmig werden» (Röm 12, 2). Diese Übung ist notwendiger, als man glaubt.

199 3) Man darf die falschen Grundsätze der Welt weder glauben noch befolgen. Man darf nicht denken, reden und handeln, wie die Weltleute. Ihre Lehre ist jener der menschgewordenen Weisheit so entgegengesetzt, wie die Finsternis dem Licht und der Tod dem Leben. Prüfe ihre Meinungen und ihre Reden genau: sie denken und reden schlecht von allen höchsten Wahrheiten. Sie lügen zwar nicht offen; aber sie verbergen ihre Lügen unter dem Schein der Wahrheit. Sie meinen, nicht zu lügen, tun es aber doch. Gewöhnlich lehren sie die Sünde nicht ausdrücklich, aber sie behandeln sie entweder als Tugend oder als Höflichkeit oder als eine gleichgültige Sache von geringer Bedeutung. In dieser Schlauheit, welche die Welt vorn Teufel gelernt hat, um die Hässlichkeit der Sünde und der Lüge zu verkehren, besteht jene Schlechtigkeit, von der der heilige Johannes spricht: «Die ganze Welt liegt im argen» (1 Joh 5,19), und dies heute mehr denn je.

200 4) Man muss soviel als möglich die Gesellschaft der Menschen fliehen, und zwar nicht nur die der Weltmenschen, deren Umgang gefährlich und verderblich ist, sondern auch die der Frommen, wenn ihre Gesellschaft unnütz und nur Zeitverschwendung ist. Wer weise und vollkommen werden will, muss die drei goldenen Worte befolgen, welche die Ewige Weisheit zum heiligen Arsenius gesprochen hat: «Fliehe, verbirg dich, schweige!» (PL 73, 801)

«Fliehe so gut du kannst die Gesellschaft der Menschen, wie es die größten Heiligen getan haben.» (Nachfolge Chr. 1. 20,1). «Euer Leben soll verborgen sein mit Christus in Gott» (Kol 3, 3). Schweige endlich den Menschen gegenüber, um dich dafür mit der Weisheit zu unterhalten. «Der Schweigsame ist ein Weiser» (Sir 20, 5).

201 5) Um die Weisheit zu erlangen, muss man seinen Körper abtöten, und zwar nicht nur durch geduldiges Ertragen der Krankheiten des Leibes, der Unannehmlichkeiten der Jahreszeiten und der Angriffe von Seiten der Geschöpfe, denen man in diesem Leben ausgesetzt ist, sondern auch dadurch, dass man sich mancherlei Mühen und Abtötungen, z. B. Fasten, Nachtwachen und andere strenge Übungen heiliger Büßer auferlegt. Dazu braucht es Mut, weil das Fleisch von Natur aus sich selbst anbetet und weil die Welt alle körperlichen Abtötungen für unnütz hält und verwirft. Was sagt und tut sie nicht, um von der Übung solcher Strengheiten der Heiligen abzuhalten! Und doch gilt von einem jeden der Heiligen mehr oder weniger: «Der Weise oder der Heilige hat seinen Leib in Botmäßigkeit gebracht durch beständige Nachtwachen, Fasten, Kasteiungen, Kälte, Entblößung und alle Arten von Strengheiten. Und er hat mit ihm einen Vertrag geschlossen, ihm in dieser Welt keine Ruhe zu gönnen» (Brevier, hl. Petrus Alcantara). Der Heilige Geist selbst sagt, dass alle Heiligen Feinde der befleckten Hülle ihres Leibes waren: «Hütet euch vor dem Gewand, das vorn Fleische befleckt ist» (Jud 23).

202 6) Damit diese äußere und freiwillige Abtötung gut sei, muss man sie notwendigerweise mit der Abtötung des Urteils und des Willens durch den heiligen Gehorsam verbinden. Denn ohne diesen Gehorsam ist jede Abtötung vorn Eigenwillen befleckt und oft dem Teufel angenehmer als dem Herrn.

Deshalb soll man keine beträchtliche Abtötung verrichten, ohne zuvor um Rat gefragt zu haben. «Die Weisheit wohnt im Rat» (Spr 8,12). Wer auf sich selbst vertraut, vertraut einem Toren: «Wer auf seine eigene Einsicht vertraut, ist ein Tor» (Spr 28, 26). «Ein weiser Mann tut alles mit Rat» (Spr 13,16). Wer will, dass ihn seine Tat nachher nicht gereue, der handle nie ohne vorher einen weisen Mann um Rat gefragt zu haben. Das ist ein guter Rat, den der Hl. Geist selbst gibt (Sir 32,16). «Suche immer bei Verständigen Rat» (Tob 4,18).

Kraft dieses heiligen Gehorsams wird die Eigenliebe, welche alles verdirbt, vertrieben; die geringste Handlung wird sehr verdienstvoll; man ist vor den Täuschungen des Teufels geschützt; man wird über alle Feinde siegen und man gelangt sicher und wie im Schlafe in den Hafen des Heiles.

Alles, was ich eben gesagt habe, ist eingeschlossen in dem großen Rat: «Verlasse alles, und du wirst alles finden in Jesus Christus, der menschgewordenen Weisheit» (Nachf. Chr. III, 32,1).

Siebzehntes Kapitel: Viertes Mittel: Eine zärtliche und wahre Andacht zur Allerseligsten Jungfrau

1. Grundlagen der Andacht zu Maria

203 Nun komme ich endlich zum wirksamsten Mittel, zum wunderbarsten aller Geheimnisse, um die göttliche Weisheit zu erlangen und zu bewahren, und das ist eine zärtliche und aufrichtige Andacht zu Maria.

Niemand außer Maria hat je Gnade gefunden bei Gott (vgl. Lk 1, 30), für sich selbst und für das ganze Menschengeschlecht. Sie allein hatte die Fähigkeit, der Ewigen Weisheit die menschliche Natur zu geben und sie zur Welt zu bringen, und nur sie allein besitzt durch die Wirkung des Heiligen Geistes die Macht, die menschgewordene Weisheit in den Auserwählten Mensch werden zu lassen, um es so auszudrücken.

Die Patriarchen, die Propheten und Heiligen des Alten Bundes haben um die Menschwerdung der Ewigen Weisheit geschrieen, geseufzt und gebetet; aber keiner von ihnen konnte sie verdienen. Maria allein stieg durch die Erhabenheit ihrer Tugenden bis zum Thron der Gottheit empor und verdiente diese unendliche Wohltat.

Sie wurde Mutter, Herrin und Thron der göttlichen Weisheit.

a) Maria, die würdigste Mutter der göttlichen Weisheit

204 Maria ist die würdigste Mutter Jesu; denn sie hat ihm die menschliche Natur gegeben und hat ihn der Welt geschenkt als die Frucht ihres Leibes: «Und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus.»

Überall also, wo Jesus ist, sei es im Himmel oder auf Erden, in den Tabernakeln oder in unseren Herzen, überall kann man in Wahrheit sagen, dass er die Frucht und die Gabe Mariä ist, dass Maria allein der Baum des Lebens ist, der keine andere Frucht als Jesus hervorbringt.

Wer daher immer diese bewunderungswürdige Frucht in seinem Herzen haben will, der muss den Baum besitzen, der sie hervorbringt. Wer Jesus haben will, muss Maria haben.

b) Maria, die Herrin der göttlichen Weisheit

205 Maria ist die Herrin der göttlichen Weisheit, nicht als ob sie größer wäre als die göttliche Weisheit, die wahrer Gott ist, oder ihr gleich wäre. Solches zu meinen oder zu sagen, wäre eine Gotteslästerung! Aber da Gott der Sohn, die Ewige Weisheit, sich Maria als seiner Mutter vollkommen unterworfen hat, so hat er ihr eine mütterliche und natürliche Gewalt über sich selbst gegeben, die unbegreiflich ist, und zwar nicht nur für die Zeit seines Erdenlebens, sondern auch im Himmel, weil die Glorie nicht nur die Natur nicht zerstört, sondern vervollkommnet. Deshalb ist Jesus im Himmel ebenso sehr wie ehemals das Kind Mariä und Maria seine Mutter.

In dieser Eigenschaft besitzt sie Macht über ihn und er ist ihr in gewissem Sinne untertan, weil er es so will. Das heißt, Maria erlangt von Jesus durch ihr mächtiges Gebet und ihre Gottesmutterschaft alles, was sie will; sie gibt ihn, wem sie will und sie bringt ihn jeden Tag in den Seelen hervor, wo sie will.

206 O, wie glücklich ist eine Seele, welche die Huld Mariä gewonnen hat! Sie darf sicher sein, dass sie bald die Weisheit besitzen werde. Denn da Maria jene liebt, die sie lieben, so teilt sie ihnen mit vollen Händen ihre Güter und vor allem das unendliche Gut aus, in welchem alle anderen eingeschlossen sind: Jesus, die Frucht ihres Leibes.

207 Wenn man also in Wahrheit sagen kann, Maria sei in gewissem Sinne die Herrin der menschgewordenen Weisheit, was müssen wir dann denken von ihrer Macht, die sie über alle Gnaden und Gaben Gottes besitzt, und von der Freiheit, mit der sie davon austeilt, ganz nach ihrem Gutdünken!

Sie ist nach dem Ausspruch der Kirchenväter der unermessliche Ozean aller Herrlichkeiten Gottes, die große Schatzkammer aller seiner Güter, der unerschöpfliche Schatz des Herrn, die Schatzmeisterin und Ausspenderin aller seiner Gaben.

Es ist der Wille Gottes, dass, nachdem er ihr seinen Sohn geschenkt, wir alles aus ihrer Hand empfangen, und es steigt kein himmlisches Geschenk auf die Erde nieder, das nicht durch sie wie durch einen Kanal hindurchginge.

Aus ihrer Fülle haben wir alle empfangen, und wenn sich in uns eine Gnade, einige Heilshoffnung findet, so ist dies ein Gut, das uns durch sie von Gott zukommt. Sie ist in solchem Maße Herrin über die Güter Gottes, dass sie wem sie will, soviel sie will, wann sie will und wie sie will, alle Gnaden Gottes, alle Tugenden Jesu Christi und alle Gaben des Heiligen Geistes, alle Güter der Natur, der Gnade und der Glorie austeilt. Das sind Gedanken und Aussprüche der Kirchenväter, deren lateinische Texte ich nur der Kürze halber nicht anführe (vgl. Wahre Andacht, Nr. 26).

Aber so große Gaben diese erhabene und liebenswürdige Königin uns auch spendet, so ist sie doch nicht zufrieden, solange sie uns nicht die menschgewordene Weisheit, ihren Sohn Jesus Christus, geben kann; und tagtäglich ist sie damit beschäftigt, Seelen zu suchen, die der Ewigen Weisheit würdig wären, damit sie ihnen Jesus schenken könne.

c) Maria, der königliche Thron der Ewigen Weisheit

208 Maria ist überdies der königliche Thron der Ewigen Weisheit. In Maria offenbart die Ewige Weisheit ihre Größe, in Maria entfaltet sie ihre Schätze, in Maria findet sie ihre Wonne. Und es gibt keinen Ort im Himmel und auf Erden, wo die Ewige Weisheit eine größere Pracht entfaltete und soviel Wohlgefallen fände, als in der unvergleichlichen Maria.

Darum nennen die Kirchenväter Maria das Heiligtum der Gottheit, die Ruhe und Freude der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, den Thron Gottes, die Stadt Gottes, den Altar Gottes, den Tempel Gottes, die Welt Gottes und das Paradies Gottes. Alle diese Bezeichnungen und Lobsprüche sind sehr wahr in Bezug auf die verschiedenen Wunder, die der Allerhöchste in Maria gewirkt hat.

209 Nur durch Maria kann man also die Weisheit erlangen. Wenn wir aber ein so großes Geschenk wie die Weisheit es ist, empfangen haben, welche Wohnung werden wir ihr anweisen? Was für ein Haus, was für einen Sitz, was für einen Thron werden wir dieser so reinen und strahlenden Fürstin geben, vor der die Sonnenstrahlen nur Staub und Finsternis sind? Vielleicht antwortest du mir, sie verlange nur nach unserem Herzen und dieses also müssten wir ihr geben und dort ihr Wohnung anweisen.

210 Aber wissen wir denn nicht, dass unser Herz befleckt, unrein, fleischlich und von tausend Leidenschaften erfüllt und daher unwürdig ist, einen so hohen und heiligen Gast zu besitzen? Und hätten wir auch hunderttausend Herzen wie das unsrige, um sie ihr als Thron anzubieten, so würde sie noch immer mit Recht unsere Bemühungen gering schätzen, für unsere Bitten ein taubes Ohr haben und uns sogar der Kühnheit und Unverschämtheit bezichtigen, dass wir sie an einem so verdorbenen und ihrer Majestät unwürdigen Ort unterbringen wollten.

211 Wie sollen wir also tun, um unser Herz ihrer würdig zu machen? Höre den guten Rat, vernimm das bewunderungswürdige Geheimnis: Lassen wir Maria, um uns so auszudrücken, in unser Haus einziehen, indem wir uns ihr ohne jeden Vorbehalt als ihre Diener und Sklaven weihen. Übergeben wir in ihre Hände und zu ihrer Ehre das Teuerste, was wir haben, ohne uns irgend etwas vorzubehalten, und diese gute Herrin, die sich nie an Freigebigkeit übertreffen ließ, wird sich uns auf eine unaussprechliche, aber wahrhaftige Weise schenken, und in ihr wird die Ewige Weisheit wie auf einem glorreichen Throne ihre Wohnung aufschlagen.

d) Maria, der heilige Magnet

212 Maria ist der heilige Magnet, der überall, wo er ist, die Ewige Weisheit so heftig anzieht, dass sie nicht widerstehen kann. Dieser Magnet hat die Ewige Weisheit für alle Menschen auf die Erde herabgezogen und er zieht sie noch tagtäglich in jeden einzelnen herab, in dem er sich befindet. Ist Maria einmal in uns, so erlangen wir durch ihre Vermittlung leicht und in kurzer Zeit die göttliche Weisheit.

Von allen Mitteln, Jesus Christus zu besitzen, ist Maria das sicherste, das leichteste, das kürzeste und heiligste. Wenn wir die schwersten Bußwerke verrichteten, die beschwerlichsten Reisen und härtesten Arbeiten unternähmen, ja sogar all unser Blut vergießen würden, um die Ewige Weisheit zu erlangen, wenn aber die Fürbitte Mariä und die Andacht zu ihr sich nicht bei all diesen Anstrengungen finden würde, so wären sie unnütz und unfähig, uns die Weisheit zu erlangen. Wenn aber Maria ein Wort für uns einlegt, wenn ihre Liebe in uns ist, wenn wir gezeichnet sind mit dem Merkmal ihrer treuen Diener, die ihre Wege bewahren, dann werden wir bald und mit wenig Aufwand die göttliche Weisheit besitzen.

e) Maria, die Mutter aller Glieder am Leib Christi

213 Beachte, dass Maria nicht nur die Mutter Jesu, des Hauptes aller Auserwählten ist, sondern auch die Mutter aller seiner Glieder, und zwar in dem Sinne, dass sie dieselben hervorbringt, in ihrem Schoße trägt und durch die Gnade Gottes, welche sie ihnen mitteilt, zur himmlischen Glorie gebiert. Dies ist die Lehre der Kirchenväter, unter anderen des heiligen Augustinus, welcher sagt, die Auserwählten seien im Schoß Mariä geborgen und sie bringe sie erst zur Welt, wenn sie in die Glorie eingehen (vgl. Wahre Andacht Nr. 30-33). Überdies hat Gott Maria befohlen, in Jakob zu wohnen, in Israel ihr Erbe zu nehmen und in den Auserwählten und Vorherbestimmten Wurzel zu schlagen (Sir 24, 13).

j) Folgerungen

214 Aus diesen Wahrheiten ergibt sich:

1. dass man sich umsonst schmeichelt, ein Kind Gottes und Jünger der Weisheit zu sein, wenn man kein Kind Mariä ist.

2. Um zur Zahl der Auserwählten zu gehören, ist erfordert, dass Maria in uns wohne und durch eine zarte und wahre Andacht zu ihr Wurzel schlage.

3. An ihr ist es, uns in Jesus Christus hervorzubringen und Jesus Christus in uns, bis zur Vollkommenheit und zum Vollrnaß des Alters Christi (Eph 4,13), so dass sie von sich mit mehr Wahrheit sagt, was der heilige Paulus auf sich anwendet: «Ich bilde euch tagtäglich in mir, meine lieben Kinder, bis Jesus Christus, mein Sohn, in euch vollkommen gestaltet ist» (vgl. GaI 4,19).

2. Worin die wahre Andacht zu Maria besteht

215 Es fragt mich vielleicht jemand, der die Allerseligste Jungfrau zu verehren verlangt, worin die wahre Andacht zu Maria denn bestehe.

Ich antworte in wenigen Worten: sie besteht in einer tiefen Hochachtung vor ihrer Größe und Würde, in einer großen Dankbarkeit für ihre Wohltaten, in einem großen Eifer für ihre Ehre, in der beständigen Anrufung ihrer Hilfe, in einer vollständigen Abhängigkeit von ihrer Macht und einem festen und zärtlichen Vertrauen auf ihre mütterliche Güte.

216 Wir müssen uns recht hüten vor den falschen Andachten zu Maria, deren sich der Teufel bedient, um manche Seelen zu täuschen und in Verdammnis zu stürzen.

Ich halte mich nicht dabei auf, sie zu schildern. Es genügt, zu sagen, dass die wahre Andacht zur Allerseligsten Jungfrau:

1. immer innerlich ist, ohne Heuchelei und ohne Aberglauben;

2. zärtlich, ohne Gleichgültigkeit und Ängstlichkeit;

3. beharrlich, ohne Wankelmut und Untreue;

4. heilig, ohne Vermessenheit und Unordnung.

217 Wir dürfen nicht zur Zahl jener falschen heuchlerischen Verehrer gehören, die ihre Andacht nur auf den Lippen und in ihrem Äußeren zeigen.

Wir dürfen auch nicht zur Zahl jener nörgelnden und engherzigen Verehrer gehören, welche fürchten, Maria zu viel Ehre zu erweisen, und die meinen, den Sohn zu entehren, wenn man die Mutter ehrt.

Wir dürfen nicht zu jenen gleichgültigen und eigennützigen Verehrern gehören, welche weder eine zärtliche Liebe, noch ein kindliches Vertrauen zu Maria besitzen und die nur dann ihre Zuflucht zu ihr nehmen, wenn es sich um Erwerbung oder Bewahrung zeitlicher Güter handelt.

Wir dürfen nicht zu jenen unbeständigen und leichtsinnigen Verehrern gehören, welche nur nach der Laune gehen und zeitweise Verehrung gegen die Allerseligste Jungfrau haben, zur Zeit der Versuchung aber sich ihrem Dienste entziehen.

Endlich müssen wir uns wohl hüten, zur Zahl jener vermessenen Verehrer zu gehören, welche unter dem Schein einiger äußerer Andachtsübungen, denen sie obliegen, ein durch die Sünde verdorbenes Herz verbergen; die sich einbilden, sie werden wegen ihrer Andachtsübungen zur Allerseligsten Jungfrau nicht ohne Beichte sterben und so gerettet werden, mögen sie unterdessen noch so sehr sündigen.

218 Unterlassen wir hingegen nicht, in die Bruderschaften, namentlich in die des heiligen Rosenkranzes, einzutreten, um darin die Pflichten zu erfüllen, die so sehr zur Heiligung beitragen.

3. Die vollkommene Andacht zu Maria

219 Aber die vollkommene und nützlichste aller Andachten zur Allerseligsten Jungfrau besteht darin, sich ganz Jesu und Maria in der Eigenschaft eines Sklaven zu weihen, indem man ihr rückhaltlos und auf ewig seinen Leib und seine Seele, seine äußeren und inneren Güter, den genugtuenden und verdienstlichen Wert aller seiner guten Handlungen und sein eigenes Verfügungsrecht darüber, und endlich alle Güter schenkt und weiht, die man in der Vergangenheit empfangen, gegenwärtig besitzt und in Zukunft besitzen wird.

Da es mehrere Bücher gibt, die über diese Andacht handeln, beschränke ich mich darauf, zu sagen, dass ich niemals eine Andachtsübung zu Maria gefunden habe, die besser begründet wäre, da sie sich ja auf das Beispiel Jesu stützt. Ich kenne auch keine, die für Gott glorreicher, für die Seele heilsamer, den Feinden des Heiles schrecklicher, die endlich lieblicher und leichter wäre, als diese.

220 Wenn diese Andacht auf rechte Weise geübt wird, so wird Jesus Christus, die Ewige Weisheit, nicht nur in eine Seele hineingezogen, sondern wird in ihr zurückgehalten und vor dem Tod bewahrt. Denn, lieber Leser, was würde es uns nützen, tausend Geheimnisse zu suchen und tausend Anstrengungen zu machen, um den Schatz der Weisheit zu erlangen, wenn wir nach deren Empfang das Unglück hätten, ihn durch unsere Untreue wieder zu verlieren, wie Salomon? Er war weiser, als wir es vielleicht je sein werden, und in allem war er stärker, erleuchteter: dennoch wurde er getäuscht und besiegt und fiel in Sünde und Torheit und versetzte alle, die nach ihm kamen in zweifaches Staunen, nämlich über sein Licht und seine Finsternis, über seine Weisheit und die Torheit seiner Sünden. Man kann sagen, wenn einerseits sein Beispiel und seine Bücher alle seine Nachkommen aneifern mussten, nach der Weisheit zu trachten, so musste doch andererseits sein tatsächlicher Fall oder wenigstens der wohlbegründete Zweifel an seiner Rettung eine unermessliche Zahl von Seelen abhalten, nach einem an sich wohl schönen, aber so leicht verlierbaren Gute zu streben.

221 Um also in gewissem Sinne weiser zu sein, als Salomon, müssen wir alles, was wir besitzen und selbst das Gut aller Güter, Jesus Christus, in die Hände Mariä legen, damit sie es uns bewahre. Wir sind zu gebrechliche Gefäße; legen wir nicht ein so kostbares Gut und das himmlische Manna hinein. Wir haben zu zahlreiche, zu schlaue und erfahrene Feinde gegen uns; bauen wir nicht auf unsere Kraft und Klugheit. Wir haben mit unserer Unbeständigkeit und unserem natürlichen Leichtsinn zu traurige Erfahrungen gemacht; hegen wir Misstrauen gegen unsere Weisheit und unseren Eifer.

222 Maria ist weise: legen wir alles in ihre Hände; sie weiß am besten über uns und all das Unsrige zur größeren Ehre Gottes zu verfügen.

Maria ist liebevoll: sie liebt uns als ihre Kinder und Diener. Opfern wir ihr alles auf, wir werden nichts verlieren, sie wird alles zu unserem Vorteil gereichen lassen.

Maria ist freigebig: sie gibt mehr zurück, als man ihr gibt. Übergeben wir ihr alles, was wir besitzen, ohne den geringsten Vorbehalt, wir erhalten dafür hundertfaches.

Maria ist mächtig: nichts ist imstande, ihr das zu entreißen, was in ihre Hände gelegt wurde. Übergeben wir uns ganz ihren Händen; sie wird uns verteidigen und uns den Sieg über alle Feinde verleihen.

Maria ist treu: sie lässt nichts von dem, was man ihr anvertraut, abhanden kommen oder verlorengehen. Sie ist die getreueste Jungfrau gegen Gott und gegen die Menschen. Sie hat getreulich alles bewahrt und behütet, was Gott ihr anvertraut hat, ohne den geringsten Teil davon zu verlieren, und sie bewahrt noch immer mit besonderer Sorgfalt alle, die sich gänzlich unter ihren Schutz und Schirm gestellt haben.

Vertrauen wir also alles ihrer Treue an; klammern wir uns an sie wie an eine Säule, die nicht gestürzt, wie an einen Anker, der nicht losgerissen, oder vielmehr wie an den Berg Sion, der nicht erschüttert werden kann.

Mögen wir von Natur aus noch so blind, schwach und unbeständig sein, mögen unsere Feinde noch so zahlreich und boshaft sein, niemals werden wir uns dann täuschen oder irregehen, und niemals werden wir dann das Unglück haben, die Gnade Gottes und den unendlichen Schatz der Ewigen Weisheit zu verlieren.

Weihe seiner selbst an Jesus Christus, die menschgewordene Weisheit, durch die Hände Mariä

1. Gebet zur ewigen Weisheit

223 O ewige, menschgewordene Weisheit! Liebenswürdigster und anbetungswürdigster Jesus, wahrer Gott und wahrer Mensch, eingeborener Sohn des ewigen Vaters und der immerwährenden Jungfrau Maria!

In tiefster Ehrfurcht bete ich Dich an im Schoß und in der Herrlichkeit Deines Vaters von Ewigkeit her, und im jungfräulichen Schoße Mariä, Deiner würdigsten Mutter, im Hinblick auf Deine Menschwerdung in der Zeit.

Ich sage Dir Dank, dass Du Dich selbst vernichtet hast, indem Du Knechtsgestalt annahmst, um mich aus der grausamen Knechtschaft Satans zu befreien.

Ich preise und verherrliche Dich dafür, dass Du Dich Maria, Deiner heiligen Mutter, in allen Dingen unterwerfen wolltest, um mich durch sie zu Deinem getreuen Sklaven zu machen.

Aber ach! Undankbar und untreu, wie ich bin, habe ich Dir die Gelübde und Versprechen nicht gehalten, die ich so feierlich bei meiner Taufe gemacht habe. Ich habe meine Verpflichtungen nicht erfüllt; ich verdiene nicht, Dein Kind noch Dein Sklave zu heißen. Und da in mir nichts ist, wodurch ich nicht Deine Zurechtweisung und Deinen Zorn verdiente, so wage ich es nicht mehr, mich selbst Deiner heiligsten und erhabensten Majestät zu nahen.

Daher nehme ich meine Zuflucht zur Fürsprache und Barmherzigkeit Deiner heiligsten Mutter, welche Du mir zur Mittlerin bei Dir gegeben hast. Durch ihre Vermittlung hoffe ich, von Dir die Gnade der Reue und die Verzeihung meiner Sünden, die Erwerbung und die Bewahrung der Weisheit zu erlangen.

2. Gebet zu Maria

224 Ich grüße Dich, o unbefleckte Jungfrau Maria, Du lebendiger Tabernakel der Gottheit, in dem die ewige verborgene Weisheit von den Engeln und Menschen angebetet werden will.

Ich grüße Dich, Du Königin des Himmels und der Erde, deren Herrschaft alles, was Gott untersteht, unterworfen ist.

Ich grüße Dich, Du sichere Zuflucht der Sünder, deren Barmherzigkeit niemandem versagt wurde.

Erhöre mein Verlangen nach der göttlichen Weisheit und empfange die Gelöbnisse und Gaben, die meine Niedrigkeit dir darbringt.

3. Die eigentliche Hingabe

225 Ich, N.N., treuloser Sünder, erneuere und bekräftige heute in Deine Hände meine Taufgelübde. Ich widersage für immer dem Satan, seiner Pracht und seinen Werken, und übergebe mich ganz Jesus Christus, der menschgewordenen Weisheit, um mein Kreuz ihm nachzutragen alle Tage meines Lebens.

Damit ich ihm aber treuer diene, als ich es bis jetzt getan, erwähle ich Dich heute, o Maria, in Gegenwart des ganzen himmlischen Hofes, zu meiner Mutter und Herrin. Ich übergebe und weihe Dir in der Eigenschaft eines Sklaven meinen Leib und meine Seele, meine inneren und äußeren Güter und selbst den Wert aller meiner vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen guten Handlungen, indem ich Dir alles Recht und volle Gewalt überlasse, über mich und all mein Eigentum zu verfügen, ohne Ausnahme, nach Deinem Wohlgefallen, zur größeren Ehre Gottes in der Zeit und in der Ewigkeit.

4. Schlussgebet zu Maria

226 Empfange, o gütige Jungfrau, diese kleine Opfergabe meiner Sklavenschaft zur Ehre und in Vereinigung mit der Unterwerfung, welche die ewige Weisheit Deiner Mutterschaft erwiesen hat, als Anerkennung der Macht, die Ihr beide über mich armseligen Erdenwurm und elenden Sünder besitzet, und zur Danksagung für die Vorzüge, mit denen die heilige Dreifaltigkeit Dich begünstigt hat.

Ich beteuere, dass ich von nun an als Dein wahrer Sklave nur Deine Ehre suchen und Dir in allem gehorchen will.

O wunderbare Mutter, stelle mich Deinem lieben Sohne als ewigen Sklaven vor, damit er mich durch Dich aufnehme, wie er mich durch Dich erlöst hat.

227 O Mutter der Barmherzigkeit, erweise mir die Gnade, die wahre Weisheit von Gott zu erlangen, und mich in die Zahl derjenigen aufzunehmen, die Du liebst, lehrst und führst, die Du nährst und beschützest als Deine Kinder und als Deine Sklaven.

O getreue Jungfrau, mache mich in allen Dingen zu einem so vollkommenen Schüler, Nachahmer und Sklaven der menschgewordenen Weisheit Jesu Christi, Deines Sohnes, dass ich durch Deine Fürbitte und nach Deinem Beispiel zur Fülle Seines Alters auf Erden und Seiner Glorie im Himmel gelange. Amen.

Wer es fassen kann, der fasse es! (Mt 19, 12)

Wer ist weise und wird dies verstehen? (Hos 14, 10)

Anmerkungen

<references />

Literatur