Orientale lumen (Wortlaut)

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Apostolisches Schreiben
Orientale lumen

von Papst
Johannes Paul II.
an den Episkopat, den Klerus und die Gläubigen
zum hundertsten Jahrestag des Apostolischen Schreibens „Orientalium dignitas“ von Papst Leo XIII.
2. Mai 1995
(Offizieller lateinischer Text: AAS 87 [1995] 921-982)

(Quelle: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121, S. 83-118)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Verehrte Mitbrüder,
liebe Söhne und Töchter der Kirche!

Einleitend

1. Das Licht aus dem Osten hat die Gesamtkirche erleuchtet, seitdem über uns ein aus der Höhe aufstrahlendes Licht (Lk 1,78), Jesus Christus, unser Herr, erschienen ist, den alle Christen als Erlöser des Menschen und Hoffnung der Welt anrufen.

Jenes Licht inspirierte meinen Vorgänger Papst Leo XIII. zu dem Apostolischen Schreiben Orientalium Dignitas, mit dem er die Bedeutung der östlichen Überlieferungen für die ganze Kirche verteidigen wollte.<ref> Vgl. Leonis XIII Acta, 14 (1894), 358-370. Der Papst erinnert an die Wertschätzung und konkrete Hilfe, die der Hl. Stuhl den orientalischen Kirchen erwiesen hat, und an den Willen, ihre Eigenart zu schützen; außerdem Apostol. Schreiben Praeclara gratulationis (20. Juni 1894): a.a.O., 195-214; Enzyklika Christi nomen (24. Dezember 1894): a.a.O., 405-409.</ref>

Aus Anlaß des hundertsten Jahrestages jenes Ereignisses und damit einhergehender Initiativen, mit denen dieser Papst die Wiederherstellung der Einheit mit allen Christen des Ostens zu fördern gedachte, hatte ich den Wunsch, einen ähnlichen Aufruf an die katholische Kirche zu richten, der durch die vielen Erfahrungen des Kennenlernens und der Begegnungen, zu denen es in diesem letzten Jahrhundert gekommen ist, bereichert ist.

Da wir nämlich glauben, daß die altehrwürdige Überlieferung der Orientalischen Kirchen einen wesentlichen Bestandteil des Erbgutes der Kirche Christi darstellt, müssen die Katholiken vor allem diese Überlieferung kennenlernen, um sich mit ihr vertraut machen und, soweit es dem einzelnen möglich ist, den Prozeß der Einheit fördern zu können.

Unsere orientalischen katholischen Brüder sind sich sehr wohl bewußt, daß sie zusammen mit den orthodoxen Brüdern die lebendigen Träger dieser Überlieferung sind. Auch die Söhne und Töchter der katholischen Kirche lateinischer Tradition müssen unbedingt diesen Schatz in seiner ganzen Fülle kennenlernen können und so gemeinsam mit dem Papst den leidenschaftlichen Wunsch verspüren, daß der Kirche und der Welt das vollständige Erscheinungsbild der Katholizität zurückgegeben werde, wie sie nicht nur in einer einzigen Überlieferung und schon gar nicht im Gegeneinander der Gemeinschaften Ausdruck findet; und daß es auch uns allen vergönnt sein möge, jenes von Gott geoffenbarte und ungeteilte Erbgut der Gesamtkirche<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium ecclesiarum, 1; Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 17.</ref> voll auszukosten, das im Leben der Kirchen des Ostens wie in jenem des Westens bewahrt wird und weiterwächst.

2. Mein Blick geht zu dem Orientale Lumen, das von Jerusalem aus erstrahlt (vgl. Jes 60,1; Offb 21,10), der Stadt, in der das um unserer Rettung willen als Jude und Nachkomme Davids (Röm 1,3; 2 Tim 2,8) menschgewordene Wort Gottes gestorben ist und auferweckt wurde. In jener heiligen Stadt wurde, als der Pfingsttag gekommen war und sich alle am gleichen Ort befanden (Apg 2,1), der Heilige Geist, der Paraklet, auf Maria und die Jünger herabgesandt. Von dort verbreitete sich die Gute Nachricht in die Welt, weil sie, erfüllt vom Heiligen Geist, freimütig das Wort Gottes verkündeten (Apg 4,31). Von dort, von der Mutter aller Kirchen,<ref> Dazu bemerkt der Hl. Augustinus: "Von wo hat die Kirche ihren Ausgang genommen? Von Jerusalem", In Epistulam Ioannis, II, 2, PL 35, 1990.</ref> wurde das Evangelium allen Nationen verkündet, von denen sich viele rühmen, in einem der Apostel den ersten Zeugen des Herrn gehabt zu haben.<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium 23; Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.</ref> Die verschiedensten Kulturen und Traditionen genossen in jener Stadt Gastrecht im Namen des einen Gottes (vgl. Apg 2,9-11). Wenn wir uns ihr mit Sehnsucht und Dankbarkeit zuwenden, finden wir wieder die Kraft und den Enthusiasmus, das Bemühen um die Eintracht in jener Authentizität und Vielgestaltigkeit, die das Ideal der Kirche bleibt, zu intensivieren.<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 4.</ref>

3. Ein Papst, Sohn eines slawischen Volkes, vernimmt in seinem Herzen besonders den Ruf jener Völker, zu denen sich die beiden heiligen Brüder Cyrill und Methodius begeben haben; sie stellen ein ruhmreiches Vorbild als Apostel der Einheit dar, die es verstanden, auf der Suche nach der Gemeinschaft zwischen dem Osten und dem Westen trotz der Schwierigkeiten, die die beiden Welten immer wieder entzweiten, Christus zu verkünden. Ich habe mich mehrmals mit dem Beispiel ihres Wirkens befaßt,<ref> Vgl. Apostol. Schreiben Egregiae virtutis (31. Dezember 1980): AAS 73 (1981), 258-262; Enzyklika Slavorum apostoli (2. Juni 1985), 12-14: AAS 77 (1985), 792-796.</ref> wobei ich mich auch an alle wandte, die dem Glauben und der Kultur nach ihre Söhne sind.

Diese Überlegungen sollen nun ausgeweitet werden und alle Orientalischen Kirchen in der Vielfalt ihrer verschiedenen Überlieferungen umfassen. Meine Gedanken richten sich an die Brüder der Ostkirchen mit dem Wunsch, in gemeinsamer Anstrengung nach einer Antwort auf die Fragen zu suchen, die sich der heutige Mensch überall auf der Welt stellt. An das Erbgut ihres Glaubens und Lebens möchte ich mich in dem Bewußtsein wenden, daß der Weg zur Einheit keinen Meinungsumschwung erfahren kann, sondern so unumkehrbar ist wie der Aufruf des Herrn zur Einheit. "Meine Lieben, wir haben gemeinsam diese Aufgabe, wir müssen zusammen, im Osten wie im Westen, sagen: Ne evacuetur Crux!" (vgl. 1 Kor 1,17). Das Kreuz Christi darf nicht entleert werden, denn wenn das Kreuz Christi entleert wird, hat der Mensch keine Wurzeln und keine Aussicht mehr: er ist zugrunde gerichtet! Das ist der Aufschrei am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Schrei Roms, der Schrei Konstantinopels, der Schrei Moskaus. Es ist der Aufschrei der ganzen Christenheit: Nord- und Südamerikas, Afrikas, Asiens, der Schrei aller. Es ist der Ruf nach Neuevangelisierung.<ref> Schlusswort nach dem Kreuzweg am Karfreitag (1. April 1994), 3: AAS 87 (1995), 88.</ref>

Meine Gedanken richten sich an die Ostkirchen, so wie es zahlreiche andere Päpste in der Vergangenheit getan haben, die sich vor allem dazu beauftragt fühlten, die Einheit der Kirche zu bewahren und unermüdlich dort nach der Einheit der Christen zu suchen, wo diese Einheit zerrissen war. Uns verbindet bereits ein besonders enges Band. Wir haben nahezu alles gemeinsam;<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14-18.</ref> und wir haben vor allem die aufrichtige Sehnsucht nach Einheit gemeinsam.

4. Alle Kirchen, im Osten wie im Westen, erreicht der Schrei der heutigen Menschen, die nach einem Sinn für ihr Leben fragen. Wir vernehmen den Ruf dessen, der den vergessenen und verlorenen Vater sucht (vgl. Lk 15,18-20; Joh 14,8). Die Menschen von heute bitten uns, ihnen Christus zu zeigen, der den Vater kennt und ihn uns geoffenbart hat (vgl. Joh 8,55; 14,8-11). Indem wir die Fragen der Welt an uns herankommen lassen und sie uns demütig und ergriffen anhören in voller Solidarität mit dem, der sie stellt, sind wir aufgerufen, mit Worten und Taten unserer Zeit auf die unermeßlichen Reichtümer zu verweisen, die unsere Kirchen in den Schatzkammern ihrer Überlieferungen aufbewahren. Wir lernen vom Herrn selbst, der auf seinem Weg bei den Leuten stehen blieb, sie anhörte, mit ihnen Mitleid hatte, als er sie sah "wie Schafe, die keinen Hirten haben" (Mt 9,36; vgl. Mk 6,34). Von ihm müssen wir jenen liebevollen Blick lernen, mit dem er die Menschen mit dem Vater und mit sich selber versöhnte, indem er ihnen jene Kraft vermittelte, die allein den ganzen Menschen zu heilen vermag.

Angesichts dieses Appells sind die Kirchen im Osten und im Westen aufgerufen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: "Wir dürfen nicht vor Christus, den Herrn der Geschichte, so gespalten hintreten, wie wir uns leider im Verlauf des zweiten Jahrtausends herausgestellt haben. Diese Spaltungen müssen weichen und den Weg zur Wiederannäherung und zur Eintracht freigeben; die Wunden auf dem Weg zur Einheit der Christen müssen vernarben".<ref> Ansprache an das außerordentliche Konsistorium der Kardinäle (13. Juni 1994): L'Osservatore Romano, 13.-14. Juni 1994, S. 5.</ref>

Jenseits unserer Schwächen müssen wir uns Ihm, dem einzigen Meister, zuwenden durch Teilnahme an seinem Tod, um so von jenem eifersüchtigen Festhalten an Gefühlen und Erinnerungen geläutert zu werden, Erinnerungen nicht an die großen Dinge, die Gott für uns getan hat, sondern an die Menschlichkeiten einer Vergangenheit, die noch immer schwer auf uns lastet. Möge der Geist unseren Blick klären, damit wir gemeinsam auf den modernen Menschen zugehen können, der auf die Frohbotschaft wartet.

Wenn wir angesichts der Erwartungen und Leiden der Welt eine einhellige, erleuchtende, lebendig machende Antwort geben, werden wir tatsächlich zu einer wirksameren Verkündigung des Evangeliums unter den Menschen unserer Zeit beitragen.

I. KENNENLERNEN DES CHRISTLICHEN OSTENS: EINE GLAUBENSERFAHRUNG

5. Bei der Erklärung der Offenbarungswahrheit sind im Orient und im Abendland verschiedene Methoden und Arten des Vorgehens zur Erkenntnis und zum Bekenntnis der göttlichen Dinge angewendet worden. Daher darf es nicht wundernehmen, daß von der einen und von der anderen Seite bestimmte Aspekte des offenbarten Mysteriums manchmal besser verstanden und deutlicher ins Licht gestellt wurden, und zwar so, daß man bei jenen verschiedenartigen theologischen Formeln oft mehr von einer gegenseitigen Ergänzung als von einer Gegensätzlichkeit sprechen muß.<ref> II. Vatikan. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 17.</ref>

Während ich die angedeuteten Fragen, Sehnsüchte und Erfahrungen im Herzen trage, wendet sich mein Geist dem christlichen Erbgut des Orients zu. Ich habe nicht die Absicht, dieses Erbe zu beschreiben oder zu interpretieren: Ich höre auf die Orientalischen Kirchen, von denen ich weiß, daß sie lebendige Interpreten des von ihnen gehüteten Überlieferungsschatzes sind. Bei näherer Betrachtung tauchen vor meinen Augen Elemente auf, die für ein vollständigeres und umfassenderes Verständnis der christlichen Erfahrung und daher auch für eine vollständigere christliche Antwort auf die Erwartungen der Menschen von heute von großer Bedeutung sind. Im Vergleich zu jeder anderen Kultur fällt nämlich dem christlichen Osten als ursprünglichem Rahmen für die entstehende Kirche eine einzigartige und privilegierte Rolle zu. Die orientalische christliche Überlieferung schließt eine Art und Weise ein, den Glauben an den Herrn Jesus anzunehmen, zu verstehen und zu leben.

In diesem Sinne kommt sie der christlichen Tradition des Abendlandes sehr nahe, die aus demselben Glauben entsteht und aus ihm gespeist wird. Doch sie unterscheidet sich in legitimer und einnehmender Weise insofern von ihr, als der orientalische Christ eine eigene Methode hat, seine Beziehung zum Erlöser wahrzunehmen und zu erfassen und daher auch eine ursprüngliche Art, diese Beziehung zu leben. Ich möchte mich hier lieber mit Ehrfurcht und Behutsamkeit der Haltung der Anbetung nähern, die diese Kirchen zum Ausdruck bringen, als diesen oder jenen spezifischen theologischen Punkt herauszugreifen, der im Laufe der Jahrhunderte in der Debatte zwischen Orient und Abendland in polemischem Gegensatz zutage getreten ist.

Der christliche Osten zeigt sich im Innern von Anfang an vielgestaltig und fähig, die Wesenszüge jeder einzelnen Kultur mit höchster Achtung für jede Teilgemeinschaft aufzunehmen. Wir können nur tiefbewegt Gott danken für die wunderbare Vielfalt, mit der Er bereit war, aus verschiedenen Steinchen ein derart reiches und buntes Mosaik zusammenzusetzen.

6. Manche Wesenszüge der spirituellen und theologischen Überlieferung, die den verschiedenen Kirchen des Orients gemeinsam sind, lassen deren Sensibilität gegenüber den Formen erkennen, die die Weitergabe des Evangeliums in den Ländern des Abendlandes angenommen hat. Das II. Vatikanische Konzil faßt sie wie folgt zusammen: Es ist allgemein bekannt, mit welcher Liebe die orientalischen Christen die liturgischen Feiern begehen, besonders die Eucharistiefeier, die Quelle des Lebens der Kirche und das Unterpfand der kommenden Herrlichkeit, bei der die Gläubigen, mit ihrem Bischof geeint, Zutritt zu Gott, dem Vater, haben durch den Sohn, das fleischgewordene Wort, der gelitten hat und verherrlicht wurde, in der Ausgießung des Heiligen Geistes, und so die Gemeinschaft mit der allerheiligsten Dreifaltigkeit erlangen, indem sie der göttlichen Nahrung teilhaftig (2 Petr 1,4) geworden sind. <ref> Ebd., 15.</ref>

In diesen Wesenszügen zeichnet sich die orientalische Auffassung vom Christsein ab, dessen Ziel die Teilnahme an der göttlichen Natur durch die Gemeinschaft mit dem Geheimnis der allerheiligsten Dreifaltigkeit ist. Darin lassen sich die alleinige Herrschaft des Vaters und die Auffassung vom Heil gemäß der Heilsökonomie erkennen, wie sie die orientalische Theologie nach dem hl. Irenäus von Lyon darlegt und wie sie bei den kappadozischen Kirchenvätern verbreitet ist.<ref> Vgl. Hl. Irenäus, Adversus haereses V, 36, 2: SCh 153/2, 461; Hl. Basilius, De Spiritu Sancto, XV, 36: PG 32, 132; XVII, 43: a.a.O., 148; XVIII, 47: a.a.O., 153.</ref>

Verwirklicht wird die Teilnahme am trinitarischen Leben durch die Liturgie und besonders durch die Eucharistie, das Geheimnis von der Gemeinschaft mit dem verherrlichten Leib Christi, Ursprung der Unsterblichkeit.<ref> Hl. Gregor von Nyssa, Oratio catechetica, XXXVII: PG 45, 97.</ref> In der Vergöttlichung und vor allem in den Sakramenten schreibt die orientalische Theologie dem Heiligen Geist eine ganz besondere Rolle zu: durch die Macht des im Menschen wohnenden Geistes beginnt die Vergöttlichung bereits auf Erden, das Geschöpf wird verklärt und das Reich Gottes bricht an.

Die Lehre der kappadozischen Kirchenväter über die Vergöttlichung ist in die Überlieferung aller orientalischen Kirchen eingegangen und stellt einen wesentlichen Bestandteil ihres gemeinsamen Erbes dar. Das läßt sich in einem Gedanken zusammenfassen, den der hl. Irenäus schon zu Ende des 2. Jahrhunderts ausgesprochen hat: Gott ist Kind eines Menschen geworden, damit der Mensch Kind Gottes werde.<ref> Vgl. Adversus haereses III, 10, 2: SCh 211/2, 121; III, 18, 7: a.a.O., 365; III, 19, 1: a.a.O., 375; IV, 20, 4: SCh 100/2, 635; IV, 33, 4: a.a.O., 811; V, Praef., SCh 153/2, 15.</ref> Diese Theologie der Vergöttlichung bleibt eine der Errungenschaften, die dem orientalischen christlichen Denken besonders teuer sind.<ref> Eingepflanzt in Christus "werden die Menschen göttlich und Kinder Gottes, ... der Staub ist zu solcher Herrlichkeit emporgewachsen, daß er nunmehr an Ehre und Göttlichkeit der göttlichen Natur gleich ist", Nikolaus Cabasilas, Vom Leben in Christus, I: PG 150, 505.</ref>

Auf diesem Weg der Vergöttlichung gehen uns diejenigen voraus, die die Gnade und der Einsatz auf dem Weg des Guten Christus am ähnlichsten gemacht haben: die Märtyrer und die Heiligen.<ref> Vgl. Hl. Johannes von Damaskus, Bilderrede, I, 19: PG 94, 1249.</ref> Und unter diesen nimmt die Selige Jungfrau Maria, aus der Jesses junger Trieb hervorgesprossen ist (vgl. Jes 11,1), einen Sonderplatz ein. Ihre Gestalt ist nicht nur die der Mutter, die auf uns wartet, sondern die der reinsten Jungfrau, die - in Verwirklichung so vieler vorausdeutender Darstellungen im Alten Testament - Bild der Kirche, Symbol und Vorwegnahme der von der Gnade verklärten Menschheit, Vorbild und sichere Hoffnung für alle ist, die auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem sind.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptoris mater (25. März 1987), 31-34: AAS 79 (1987), 402-406; II. Vatikan. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15.</ref>

Trotz nachdrücklicher Betonung des trinitarischen Realismus und seiner Einbeziehung in das sakramentale Leben verknüpft der Orient den Glauben an die Einheit der göttlichen Natur mit der Unerkennbarkeit des göttlichen Wesens. Die orientalischen Kirchenväter behaupten immer, daß es unmöglich sei zu wissen, was Gott ist; was man wissen kann, ist einzig und allein, daß es Ihn gibt, da Er sich in der Heilsgeschichte als Vater, Sohn und Heiliger Geist geoffenbart hat.<ref> Vgl. Hl. Irenäus, Adversus haereses, II, 28, 3-6: SCh 294, 274-284; Hl. Gregor von Nyssa, De vita Moysis: PG 44, 377; Hl. Gregor von Nazianz, Oratio XLV, 3s.: PG 36, 625-630.</ref>

Dieser Sinn für die unaussprechliche göttliche Wirklichkeit spiegelt sich in der Feier der Liturgie wider, wo von allen Gläubigen des christlichen Orients der Sinn für das Geheimnis so tief entwickelt wird.

Im Orient finden sich auch die Reichtümer jener geistlichen Traditionen, die besonders im Mönchtum ihre Ausprägung gefunden haben. Denn seit den glorreichen Zeiten der heiligen Väter blühte dort jene monastische Spiritualität, die sich von dorther auch in den Gegenden des Abendlandes ausbreitete und aus der das Ordenswesen der Lateiner als aus seiner Quelle seinen Ursprung nahm und immer wieder neue Kraft erhielt. Deshalb wird mit Nachdruck empfohlen, daß die Katholiken sich mehr mit diesen geistlichen Reichtümern der orientalischen Väter vertraut machen, die den Menschen in seiner Ganzheit zur Betrachtung der göttlichen Dinge emporführen.<ref> II. Vatikan. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15.</ref>

Evangelium, Kirchen und Kulturen

7. Schon bei anderen Gelegenheiten habe ich darauf hingewiesen, daß ein besonders im christlichen Orient gelebter großer Wert in der Achtung der Völker und ihrer Kulturen besteht, damit das Wort Gottes und sein Lobpreis in jeder Sprache erklingen kann. Mit diesem Thema habe ich mich bereits in der Enzyklika Slavorum Apostoli befaßt, wo ich hervorhob, daß Cyrill und Methodius "danach strebten, in allem denjenigen ähnlich zu werden, denen sie das Evangelium brachten; sie wollten Mitbürger jener Völker werden und ihr Geschick in allem teilen";<ref> Nr. 9: AAS 77 (1985), 789-790.</ref> es handelte sich um eine neue katechetische Methode.<ref> Ebd., 11: a.a.O., 791.</ref> Damit brachten sie eine im christlichen Orient weitverbreitete Haltung zum Ausdruck: Dadurch daß die heiligen Cyrill und Methodius das Evangelium mit der einheimischen Kultur der von ihnen missionierten Völker in eine lebendige Einheit gebracht haben, besitzen sie besondere Verdienste um die Bildung und Fortentwicklung eben dieser Kultur oder, besser, vieler Kulturen.<ref> Ebd., 21: a.a.O., 802-803.</ref> Achtung und Rücksichtnahme auf die einzelnen Kulturen verbinden sich bei ihnen mit der Leidenschaft für die Universalität der Kirche, um deren Verwirklichung sie sich unermüdlich bemühen. Die Haltung der beiden Brüder aus Saloniki ist im christlichen Altertum repräsentativ für einen typischen Stil vieler Kirchen: die Offenbarung wird dann in angemessener Weise verkündet und vollkommen verständlich, wenn Christus die Sprache der verschiedenen Völker spricht und diese in ihrer Sprache und in den ihnen eigenen Ausdrucksformen die Heilige Schrift lesen und die Liturgie singen können, was gleichsam eine Erneuerung des Pfingstwunders bedeutet.

In einer Zeit, in der man es als ein immer fundamentaleres Recht eines jeden Volkes anerkennt, sich dem eigenen Kultur- und Gedankenerbe gemäß auszudrücken, bietet sich uns die Erfahrung der einzelnen Kirchen des Orients als ein glaubwürdiges Beispiel gelungener Inkulturation an.

Von diesem Vorbild lernen wir, daß wir, wenn wir das Wiedererstehen von Partikularismen und auch erbitterten Nationalismen vermeiden wollen, begreifen müssen, daß die Verkündigung des Evangeliums in der je besonderen Eigenart der Kulturen tiefverwurzelt und zugleich offen sein muß für das Einmünden in eine Universalität, die Austausch mit dem Ziel der gegenseitigen Bereicherung ist.

Zwischen Erinnerung und Erwartung

8. Wir fühlen uns heutzutage oft als Gefangene der Gegenwart: es ist, als hätte der Mensch das Wahrnehmungsvermögen dafür verlernt, daß er an einer Geschichte teilhat, die ihm einerseits vorausgeht und andererseits nach ihm kommt. In dieser Schwierigkeit, sich mit dankbarem Herzen für die empfangenen und zu erwartenden Wohltaten zwischen Vergangenheit und Zukunft einzuordnen, bieten vor allem die Ostkirchen einen ausgeprägten Sinn für Kontinuität an, der in den Begriffen Überlieferung und eschatologische Erwartung Ausdruck findet.

Die Überlieferung ist Erbgut der Kirche Christi, lebendige Erinnerung an den Auferstandenen, dem die Apostel begegnet sind und von dem sie Zeugnis gegeben haben; sie haben die lebendige Erinnerung an ihn an ihre Nachfolger weitergegeben in einer ununterbrochenen Folge, die von der apostolischen Sukzession durch das Auflegen der Hände bis zu den Bischöfen unserer Tage gewährleistet ist. Die Überlieferung drückt sich im geschichtlichen und kulturellen Erbe jeder Kirche aus, das sich in ihr aus dem Zeugnis der Märtyrer, der Väter und der Heiligen sowie aus dem lebendigen Glauben aller Christen im Laufe der Jahrhunderte bis herauf in unsere Tage herausgebildet hat. Es handelt sich nicht um eine gleichbleibende Wiederholung von Formeln, sondern um ein Erbe, das den lebendigen ursprünglichen kerygmatischen Kern hütet. Die Überlieferung entreißt die Kirche der Gefahr, nur veränderliche Meinungen zu sammeln, und garantiert ihre Sicherheit und Kontinuität.

Wenn die jeder Kirche eigenen Bräuche und Gewohnheiten als bloße Unbeweglichkeit verstanden werden, besteht gewiß die Gefahr, der Tradition jene lebendige Wirklichkeit zu entziehen, die wächst und sich entfaltet und die der Geist ihr eben garantiert, damit sie zu den Menschen aller Zeiten sprechen kann. Und wie schon die Schrift mit jedem wächst, der sie liest,<ref> "Divina eloquia cum legente crescunt": Hl. Gregor der Große, In Ezechiel, I, VII, 8: PL 76, 843.</ref> so wächst jedes andere Element des lebendigen Erbes der Kirche im Verständnis der Gläubigen und wird in der Treue und Kontinuität durch neue Beiträge bereichert.<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 8.</ref> Nur wenn die Annahme dessen, was die Kirche Überlieferung nennt, im Gehorsam des Glaubens erfolgt, wird dieser die Einpflanzung in die verschiedenen geschichtlich-kulturellen Situationen und Gegebenheiten erlauben.<ref> Vgl. Internationale Theologenkommission, Interpretationis problema (Oktober 1989), II, 1-2: Enchiridion Vaticanum 11, S. 1717-1719.</ref> Die Tradition ist niemals bloße Sehnsucht nach vergangenen Dingen oder Formen oder schmerzliche Erinnerung an verlorengegangene Privilegien, sondern sie ist die lebendige Erinnerung der Braut, die von der ihr innewohnenden Liebe ewig jung erhalten wird.

Wenn uns die Überlieferung in Kontinuität mit der Vergangenheit bringt, so macht uns die eschatologische Erwartung offen für die Zukunft Gottes. Jede Kirche muß gegen die Versuchung ankämpfen, das, was sie vollbringt, zu verabsolutieren und sich so entweder dem Selbstruhm oder der Betrübnis hinzugeben. Doch die Zeit gehört Gott, und nichts von dem, was in Erfüllung geht, läßt sich jemals mit der Fülle des Reiches gleichsetzen, das immer unverdientes Geschenk ist. Der Herr Jesus ist gekommen, um für uns zu sterben, und er ist von den Toten auferstanden, während die in der Hoffnung erlöste Schöpfung noch in Geburtswehen liegt (vgl. Röm 8,22); jener selbe Herr wird wiederkommen, um die Welt dem Vater zu übergeben (vgl. 1 Kor 15,28). Um diese Wiederkunft des Herrn fleht die Kirche, und bevorzugter Zeuge dafür ist der Mönch und Ordensmann.

Der Orient gibt der Wirklichkeit der Überlieferung und der Erwartung lebendigen Ausdruck. Insbesondere ist seine gesamte Liturgie Erinnerung an die Erlösung und flehentliche Bitte um die Wiederkehr des Herrn. Und wenn die Überlieferung die Kirchen Treue zu dem lehrt, was sie hervorgebracht hat, so ist die eschatologische Erwartung für sie Anstoß, das zu sein, was sie noch nicht in Fülle sind und von dem der Herr will, daß sie es werden; Anstoß also dazu, nach immer neuen Wegen der Treue zu suchen, die den Pessimismus dadurch überwinden, daß sie auf die Hoffnung auf Gott hin orientiert sind, der nicht enttäuscht.

Wir müssen den Menschen die Schönheit der Erinnerung zeigen, die Kraft, die uns vom Geist zukommt und uns zu Zeugen macht, weil wir Söhne von Zeugen sind; wir müssen sie die herrlichen Dinge genießen lassen, die der Geist in der Geschichte ausgesät hat; wir müssen ihnen zeigen, daß es gerade die Tradition ist, die diese Kostbarkeiten bewahrt und damit denen Hoffnung gibt, die wissen, auch wenn sie ihre Anstrengungen nicht von Erfolg gekrönt sehen, daß ein anderer sie zur Vollendung bringen wird; da wird sich der Mensch weniger allein, weniger eingesperrt fühlen in den engen Winkeln seines individuellen Wirkens.

Das Mönchtum als Vorbildlichkeit für das getaufte Leben

9. Nun möchte ich die weite Landschaft des orientalischen Christentums von einer besonderen Warte aus betrachten, die uns viele seiner Wesenszüge erkennen läßt: dem Mönchtum.

Im Orient hat das Mönchtum große Einheit bewahrt, da es nicht wie im Abendland die Ausbildung der unterschiedlichen Typen apostolischen Lebens kennt. Die verschiedenen Ausdrucksformen monastischen Lebens, vom strengen Koinobitentum, wie es Pachomius oder Basilius verstanden, bis zum allerstrengsten Eremitentum eines Antonius oder eines Makarios von Ägypten, entsprechen eher verschiedenen Stufen des geistlichen Weges als der Wahl zwischen unterschiedlichen Lebensformen. Auf jeden Fall greifen alle auf das Mönchtum an sich zurück, in welcher Form auch immer es sich ausdrückt.

Außerdem wurde das Mönchtum im Orient nicht nur als eine Art Ausnahmesituation angesehen, die nur eine Kategorie von Christen betrifft, sondern eigentlich als Bezugspunkt für alle Getauften im Rahmen der jedem einzelnen vom Herrn zugeteilten Gaben, so daß es als eine sinnbildliche Synthese des Christentums erscheint.

Wenn die Berufung durch Gott eine totale ist wie im monastischen Leben, dann vermag die Person die höchste Stufe dessen zu erreichen, was Sensibilität, Kultur und Spiritualität auszudrücken imstande sind. Das gilt um so mehr für die Ostkirchen, für die das Mönchtum eine wesentliche Erfahrung darstellte und das sich auch heute noch als blühend erweist, kaum daß die Verfolgung aufhört und die Herzen sich in Freiheit zum Himmel erheben können. Das Kloster ist der prophetische Ort, in dem die Schöpfung zum Lobpreis Gottes und das konkret gelebte Gebot der Nächstenliebe zum Ideal menschlichen Zusammenlebens wird und wo der Mensch Gott ohne Schranken und Hindernisse sucht, ein Ort, der so zum Bezug für alle wird, sie im Herzen trägt und ihnen bei der Gottsuche hilft.

Erinnern möchte ich auch an das leuchtende Zeugnis der Nonnen im christlichen Orient. Es hat ein Modell der Hochschätzung des spezifisch Weiblichen in der Kirche aufgezeigt, indem es auch die Denkweise der Zeit aufgebrochen hat. Als im Zuge der jüngsten Verfolgungen, vor allem in den Ländern Osteuropas, viele Männerklöster gewaltsam geschlossen wurden, hat das weibliche Ordenswesen die Flamme des monastischen Lebens am Brennen erhalten. Das Charisma der Nonne mit den für sie spezifischen Wesensmerkmalen ist ein sichtbares Zeichen für jene Mütterlichkeit Gottes, auf die sich die Heilige Schrift so oft beruft.

Ich werde also meinen Blick auf das Mönchtum richten, um jene Werte auszumachen, von denen ich glaube, daß sie heute sehr wichtig sind, um den Beitrag des christlichen Orients für die Kirche Christi auf ihrem Weg zum Reich Gottes darzustellen. Ohne daß die monastische Erfahrung oder das Erbe des Orients Exklusivcharakter besitzen, haben diese Aspekte dort bisweilen einen besonderen Bedeutungsgehalt angenommen. Im übrigen versuchen wir nicht, die Exklusivität aufzuwerten, sondern die gegenseitige Bereicherung durch das, wozu der eine Geist in der einen Kirche Christi die Menschen angeregt hat.

Das Mönchtum ist seit jeher die eigentliche Seele der Ostkirchen gewesen: die ersten christlichen Mönche sind im Orient geboren, und das monastische Leben war wesentlicher Bestand des lumen orientale, das von den großen Vätern der ungeteilten Kirche an das Abendland weitergegeben wurde.<ref> Groß war im Westen der Einfluss der vom Hl. Athanasius verfassten Vita Antonii: PG 26, 835-977. Sie wird unter anderen vom Hl. Augustinus in seinen Confessiones, VIII, 6: CSEL 33, 181-182, erwähnt. Die (lateinischen) Übersetzungen von Werken der östlichen Kirchenväter, darunter die Regeln des Hl. Basilius: PG 31, 889-1305, die Geschichte der ägyptischen Mönche: PG 65, 441-456, und die Apophthegmata Patrum (Aussprüche der Wüstenväter): PG 65, 72-440, prägten das abendländische Mönchtum. Vgl. Wilhelm von Saint-Thierry, Epistula ad Fratres de Monte Dei: SCh 223, 130-384.</ref>

Die starken gemeinsamen Wesenszüge, die die östliche und die abendländische monastische Erfahrung verbinden, machen sie zu einer wunderbaren Brücke der Brüderlichkeit, wo die gelebte Einheit sogar heller erstrahlt als alles, was im Dialog zwischen den Kirchen sichtbar zu werden vermag.

Zwischen Wort und Eucharistie

10. Das Mönchtum macht auf besondere Weise offenbar, daß das Leben zwischen zwei Höhepunkten schwebt: zwischen dem Wort und der Eucharistie. Das heißt, daß es immer, auch in seinen Formen des Einsiedlerlebens, gleichzeitig persönliche Antwort auf eine individuelle Berufung und Kirchen- und Gemeinschaftsereignis ist.

Ausgangspunkt für den Mönch ist das Wort Gottes, ein Wort, das ruft, das einlädt, das persönlich verpflichtet, so wie es den Aposteln erging. Wenn ein Mensch vom Wort erreicht wird, entsteht der Gehorsam, das heißt das Hören, das das Leben verändert. Der Mönch nährt sich jeden Tag vom Brot des Wortes. Ohne dieses Brot ist er wie tot und hat nichts mehr, was er den Brüdern mitteilen könnte, denn das Wort ist Christus, dem gleich zu werden der Mönch berufen ist.

Auch wenn er mit seinen Brüdern das Gebet singt, das die Zeit heiligt, setzt er seine Assimilierung des Wortes fort. Der Reichtum an liturgischen Hymnen, auf den alle Kirchen des christlichen Orients mit Recht stolz sind, ist nur die Fortsetzung des gelesenen, erfaßten, assimilierten und schließlich gesungenen Wortes: jene Hymnen sind großenteils vortreffliche, durch die Erfahrung des einzelnen und der Gemeinschaft abgeklärte und personalisierte Paraphrasen des biblischen Textes.

Angesichts des unendlichen göttlichen Erbarmens bleibt dem Mönch nichts anderes übrig, als das Wissen um seine radikale Armseligkeit zu verkünden, was sogleich zur flehenden Bitte um und zum Jubelschrei über eine noch großzügigere, weil unverhoffte Rettung aus dem Abgrund seines Elends wird.<ref> Vgl. z.B. Hl. Basilius, Regula brevis: PG 31, 1079-1305; Hl. Johannes Chrysostomos, De compunctione: PG 47, 391-422; Predigten über Matthäus, Hom. XV, 3: PG 57, 225-228; Hl. Gregor von Nyssa, Über die Seligpreisungen, Hom. 3: PG 44, 1219-1232.</ref> Daher machen das Flehen um Vergebung und die Verherrlichung Gottes den wesentlichen Teil des liturgischen Gebetes aus. Der Christ versinkt in Staunen über dieses Paradoxon, das letzte in einer endlosen Reihe, die als ganze voll Dankbarkeit in der Sprache der Liturgie gepriesen wird: das Grenzenlose wird zur Grenze; eine Jungfrau bringt ein Kind zur Welt; durch den Tod besiegt der, der das Leben ist, für immer den Tod; im Himmel sitzt ein menschlicher Leib zur Rechten des Vaters.

Am Höhepunkt dieser Gebetserfahrung steht die Eucharistie, der andere unlösbar mit dem Wort verbundene Höhepunkt, als Ort, an dem das Wort Fleisch und Blut wird, eine himmlische Erfahrung, wo das Wort wieder Ereignis wird.

In der Eucharistie offenbart sich das tiefe Wesen der Kirche als Gemeinschaft derer, die zusammengerufen sind, um die Hingabe dessen zu feiern, der Spender und Opfergabe zugleich ist: durch die Teilnahme an den heiligen Geheimnissen werden sie zu Blutsverwandten Christi<ref> Vgl. Nicolaus Cabasilas, Vita in Christo, IV: PG 150, 584-585; Cyrill von Alexandrien, Johannes-Traktat, 11: PG 74, 561; ebd., 12: a.a.O., 564; Hl. Johannes Chrysostomos, Homilie über Matthäus, Hom. LXXXII, 5: PG 58, 743-744.</ref> und nehmen so in dem nunmehr untrennbaren Band, das in Christus Gottes- und Menschennatur verbindet, die Erfahrung der Vergöttlichung vorweg.

Aber die Eucharistie nimmt auch die Zugehörigkeit von Menschen und Dingen zum himmlischen Jerusalem vorweg. Sie offenbart auf diese Weise vollständig ihr eschatologisches Wesen: als lebendiges Zeichen dieser Erwartung setzt der Mönch in der Liturgie den Gebetsruf der Kirche fort und vollendet ihn; die Kirche wird als die Braut gesehen, die in einem nicht nur mit Worten, sondern mit der ganzen Existenz ständig wiederholten marana tha flehentlich um die Rückkehr des Bräutigams bittet.

Eine Liturgie für den ganzen Menschen und für den ganzen Kosmos

11. In der liturgischen Erfahrung ist Christus, der Herr, das Licht, das den Weg erhellt und wie in der Schrift die Transparenz des Kosmos offenbar macht. Das Geschehen der Vergangenheit findet in Christus Sinn und Erfüllung, und die Schöpfung offenbart sich als das, was sie ist: eine Gesamtheit von Wesenszügen, die erst in der Liturgie ihre Vollendung, ihre volle Bestimmung finden. Darum ist die Liturgie der Himmel auf Erden, und in ihr durchdringt das fleischgewordene Wort die Materie mit einer potentiellen Heilskraft, die in ihrer ganzen Fülle in den Sakramenten offenbar wird: da teilt die Schöpfung einem jeden die ihr von Christus übertragene Macht mit. So überträgt der Herr durch sein Untertauchen im Jordan dem Wasser eine Macht, die es mit der Fähigkeit ausstattet, Bad der Wiedergeburt durch die Taufe zu sein.<ref> Vgl. Hl. Gregor von Nazianz, Oratio XXXIX: PG 36, 335-360.</ref>

Mit diesem Bild beweist das liturgische Gebet im Orient eine großartige Gabe, die menschliche Person in ihrer Ganzheit einzubeziehen: das Geheimnis wird in seinen erhabenen Inhalten, aber auch mit der Wärme der Gefühle besungen, die es im Herzen der erlösten Menschheit weckt. Bei der heiligen Handlung wird auch die Leiblichkeit zum Lob eingeladen, und die Schönheit, die im Orient eine der beliebtesten Bezeichnungen für die göttliche Harmonie und Vorbild der verklärten Menschheit ist,<ref> Vgl. Clemens von Alexandrien, Paidagogos, III, 1, 1: SCh 158, 12.</ref> tritt überall zutage: in Gestalt und Ausstattung der Kirchen, in den Klängen, in den Farben, in der Beleuchtung, in den Düften. Die lange Dauer der Zelebrationen, die wiederholte Anrufung, alles ist Ausdruck für das stufenweise Sich-Einfühlen in das Mysterium, das mit dem ganzen Menschen gefeiert wird. Und so wird das Gebet der Kirche bereits Teilnahme an der himmlischen Liturgie und Vorwegnahme der endgültigen Glückseligkeit.

Diese Gesamtbewertung des Menschen in seinen Vernunft- und Gefühlskomponenten, in der Ekstase und in der Immanenz ist von hoher Aktualität, stellt sie doch eine bewundernswerte Schule dar, um die Bedeutung der geschaffenen Wirklichkeit zu begreifen: sie ist weder ein Absolutum noch ein Schlupfwinkel für Sünde und Ungerechtigkeit. In der Liturgie enthüllen die Dinge ihre Natur als Gabe, die der Menschheit vom Schöpfer angeboten wurde: Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut (Gen 1,31). Auch wenn das alles vom Drama der Sünde gekennzeichnet ist, die auf der Materie lastet und ihre Transparenz verhindert, wird diese doch in der Inkarnation erlöst und voll zur Gottesträgerin, das heißt fähig, uns in Beziehung zum Vater zu bringen: besonders offenkundig wird diese Eigentümlichkeit in den heiligen Geheimnissen, den Sakramenten der Kirche.

Das Christentum verwirft nicht die Materie, die Leiblichkeit, ja sie wertet sie im liturgischen Akt sogar vollständig auf, in dem der menschliche Leib sein tiefstes Wesen als Tempel des Geistes zeigt und sich mit dem Herrn Jesus vereinigt, der um der Rettung der Welt willen auch einen Leib angenommen hat. Das schließt aber keine absolute Verherrlichung alles Physischen ein, denn wir wissen sehr wohl, was für eine Unordnung die Sünde in die Harmonie des menschlichen Daseins hineingetragen hat. Die Liturgie macht offenbar, daß sich der Leib, wenn er durch das Mysterium des Kreuzes hindurchgeht, auf dem Weg zur Verklärung, zum Erfülltsein vom Pneuma befindet: auf dem Berg Tabor hat Christus in strahlendem Licht gezeigt, daß es der Wille des Vaters ist, daß er ins Sein zurückkehre.

Und auch die kosmische Wirklichkeit ist zur Danksagung eingeladen, denn der gesamte Kosmos ist berufen, in Christus, dem Herrn, alles zu vereinen. In dieser Auffassung kommt eine wunderbar ausgewogene Lehre über die Würde, die Achtung und die Zielsetzung der Schöpfung und im besonderen des menschlichen Leibes zum Ausdruck. Dieser menschliche Leib wird, unter Zurückweisung jedes Dualismus und jedes Vergnügungskultes als Selbstzweck, zu einem von der Gnade erleuchteten und daher im Vollsinn menschlichen Ort.

Wer nach einem echten Sinnbezug zu sich selber und zu der so häufig von Egoismus und Gier entstellten Welt sucht, dem enthüllt die Liturgie den Weg zur Ausgeglichenheit des neuen Menschen und lädt ein zur Achtung vor der eucharistischen Wirkkraft der geschaffenen Welt: sie ist dazu bestimmt, aufgenommen zu werden in die Eucharistie des Herrn, in sein Pascha, das im Opfer am Altar gegenwärtig ist.

Ein klarer Blick auf die Selbstfindung

12. Auf Christus, den Gottmenschen, ist der Blick des Mönches gerichtet: in dem verzerrten Angesicht des Schmerzensmannes nimmt er bereits die prophetische Ankündigung des verklärten Antlitzes des Auferstandenen wahr. Dem kontemplativen Blick offenbart sich Christus wie den Jerusalemer Frauen, die hinaufgezogen waren, um sich das geheimnisvolle Schauspiel am Kalvarienberg anzusehen. Und ausgebildet in jener Schule der Beschaulichkeit gewöhnt sich der Blick des Mönches daran, Christus auch in den verborgenen Winkeln der Schöpfung und in der Geschichte der Menschen zu betrachten, diese freilich begriffen in ihrer fortschreitenden Angleichung an den ganzen Christus.

Der nach und nach Christus ähnlich gewordene Blick lernt so, sich abzukehren vom Äußerlichen, vom Sturm der Gefühle, das heißt von allem, was den Menschen daran hindert, sich leicht und bereitwillig vom Geist ergreifen zu lassen. Sobald er sich auf diesem Weg befindet, läßt er sich in einem nicht endenden Bekehrungsprozeß mit Christus versöhnen: im Bewußtsein der eigenen Sünde und der Ferne vom Herrn, das zur Zerknirschung des Herzens führt, Symbol der eigenen Taufe im heilsamen Wasser der Tränen; im Schweigen und in der gesuchten und geschenkten inneren Ruhe, wo er lernt, das Herz im Einklang mit dem Rhythmus des Geistes schlagen zu lassen, und so jede Scheinheiligkeit oder Zweideutigkeit ausschaltet. Seine wachsende Genügsamkeit und Wesentlichkeit, durch die er für sich selbst transparenter wird, kann den Mönch, wenn er seine Entwicklung für die Frucht eigener asketischer Anstrengung hält, in Stolz und Intransigenz verfallen lassen. Die geistliche Unterscheidung in ständiger Läuterung macht ihn demütig und sanft und bringt ihm zum Bewußtsein, daß er nur einige Züge jener Wahrheit wahrzunehmen vermag, die seine Sehnsucht stillt, da sie Geschenk des Bräutigams ist, der allein Fülle der Glückseligkeit ist.

Dem Menschen, der nach dem Sinn des Lebens sucht, bietet der Orient diese Schule an, damit er sich selbst kennenlernt und frei und geliebt ist von jenem Jesus, der gesagt hat: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt" (Mt 11,28). Dem, der nach innerer Heilung sucht, rät er weiterzusuchen: wenn die Absicht redlich und der Weg rechtschaffen ist, wird sich am Ende das Angesicht des Vaters zu erkennen geben, wie es dem menschlichen Herzen tief eingeprägt ist.

Ein Vater im Geist

13. Der Weg des Mönches trägt im allgemeinen nicht allein den Akzent persönlicher Anstrengung, sondern steht in Beziehung zu einem geistlichen Vater, dem er sich mit kindlichem Vertrauen und in der Gewißheit anheimgibt, daß sich in ihm die liebevoll fordernde Väterlichkeit Gottes zeigt. Diese Gestalt des geistlichen Vaters verleiht dem orientalischen Mönchtum eine außerordentliche Flexibilität: denn durch ihn wird der Weg eines jeden Mönches sowohl hinsichtlich der Zeiten und des Rhythmus des Tagesablaufes wie der Methoden der Gottsuche sehr persönlich gestaltet. Gerade weil der geistliche Vater der Bezugs- und Anpassungspunkt ist, gestattet dies dem Mönchtum die größte Vielfalt an Ausdrucksformen, koinobitischen ebenso wie eremitischen. Auf diese Weise konnte das Mönchtum im Orient die Erwartungen jeder Kirche in den verschiedenen Perioden ihrer Geschichte verwirklichen.<ref> Bezeichnend sind z.B. die Erfahrungen des Antonius. Vgl. Hl. Athanasius, De vita Antonii, 15: PG 26, 865, und des Hl. Pachomius, Les Vies coptes de saint Pakhöme et ses successeurs, ed. L. Th. Lefon, Louvain 1943, S. 3; und das Zeugnis des Euagrios Pontikos, Tractatus practicus, 100: SCh 171, 710.</ref>

Bei dieser Suche lehrt der Orient im besonderen, daß es Brüder und Schwestern gibt, die der Geist mit der Gabe der geistlichen Führung beschenkt hat: sie sind wertvolle Bezugspunkte, weil sie mit dem Auge der Liebe schauen, das Gott auf uns ruhen läßt. Es handelt sich nicht um einen Verzicht auf die eigene Freiheit, um sich von anderen leiten zu lassen: es geht darum, aus der Kenntnis des Herzens, die ein echtes Charisma ist, Nutzen zu ziehen, um sich mit freundlicher Festigkeit helfen zu lassen und so den Weg zur Wahrheit zu finden. Unsere Welt hat Vaterfiguren in hohem Maße nötig. Häufig hat sie sie abgelehnt, weil sie ihr wenig glaubwürdig erschienen oder ihr Vorbild als überholt und für das gängige Empfinden wenig anziehend galt. Sie hat jedoch große Mühe, neue zu finden und leidet nun in Angst und Unsicherheit, ohne Vorbilder und Bezugspunkte. Wer wirklich ein Vater im Geist ist _ und das Volk Gottes hat immer bewiesen, daß es ihn zu erkennen vermag _, wird den anderen nicht sich gleich machen, sondern ihm helfen, den Weg zum Reich Gottes zu finden.

Natürlich gibt es auch im Abendland das wunderbare Geschenk eines monastischen Lebens, sowohl für Männer wie für Frauen, das die Gabe der Führung im Geiste bewahrt und auf seine Aufwertung wartet. Mögen in jenem Bereich und wo immer die Gnade solche kostbaren Mittel innerer Reifung weckt, die Verantwortlichen diese Gabe pflegen und hochhalten und alle davon Gebrauch machen können: auf diese Weise werden sie erfahren, welche Tröstung und Hilfe für ihren Glaubensweg die Vaterschaft im Geist darstellt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Predigt vor Ordensmännern und Ordensfrauen (2. Februar 1988), 6: AAS 80 (1988), 1111.</ref>

Gemeinschaft und Dienst

14. Gerade in der fortschreitenden Loslösung von dem, was ihn in der Welt an der Gemeinschaft mit seinem Herrn hindert, entdeckt der Mönch die Welt als Ort, wo sich die Schönheit des Schöpfers und die Liebe des Erlösers widerspiegeln. In seinem Gebet ruft der Mönch in einer Epiklese den Heiligen Geist auf die Welt herab, und da es am Gebet Christi selbst teilhat, ist er sicher, erhört zu werden. Er fühlt in sich eine tiefe Liebe zur Menschheit wachsen, jene Liebe, die das Gebet im Orient so häufig als Eigenschaft Gottes, des Freundes der Menschen, preist, der nicht gezögert hat, seinen Sohn hinzugeben, damit die Welt gerettet werde. In dieser Haltung ist es dem Mönch manchmal gegeben, jene Welt zu schauen, die durch die vergöttlichende Tat des gestorbenen und auferstandenen Christus bereits verklärt ist.

Welche Bestimmung der Geist für ihn auch vorgesehen haben mag, im wesentlichen ist der Mönch immer der Mensch der Gemeinschaft. Mit diesem Namen wird seit der Antike auch der monastische Stil des koinobitischen Lebens bezeichnet. Das Mönchtum beweist uns, daß es keine glaubwürdige Berufung gibt, wenn sie nicht aus der Kirche und für die Kirche entsteht. Zeugnis dafür ist die Erfahrung vieler Mönche, die, eingeschlossen in ihren Zellen, in ihr Gebet eine außerordentliche Hingabe nicht nur für den Menschen, sondern für jede Kreatur einbringen, in der unablässigen Anrufung, damit sich alles zum heilbringenden Strom der Liebe Christi bekehre. Dieser Weg der inneren Befreiung in der Öffnung zum anderen hin macht den Mönch zum Mann der Nächstenliebe. Der Schule des Apostels Paulus folgend, der die Erfüllung des Gesetzes in der Liebe sieht (vgl. Röm 13,10), war die östliche Mönchsgemeinschaft stets darauf bedacht, die Überlegenheit der Liebe gegenüber jedem Gesetz zu gewährleisten.

Sie äußert sich zunächst im Dienst an den Brüdern im monastischen Leben, sodann aber auch an der kirchlichen Gemeinschaft, und zwar in Formen, die sich je nach Zeit und Ort ändern und von den sozialen Werken bis zur Wanderpredigt reichen. Die Ostkirchen haben mit großer Hochherzigkeit dieses Engagement gelebt, angefangen bei der Evangelisierung, dem erhabensten Dienst, den der Christ dem Bruder anbieten kann, und weiter in vielen anderen Formen geistlichen und materiellen Dienstes. Ja, man kann sagen, das Mönchtum ist in der Antike - und verschiedentlich auch in späterer Zeit - das bevorzugte Werkzeug für die Evangelisierung der Völker gewesen.

Ein Mensch in Beziehung zu Gott

15. Das Leben des Mönches ist ein Beweis für die im Orient bestehende Einheit zwischen Spiritualität und Theologie: der Christ und im besonderen der Mönch sucht nicht so sehr nach abstrakten Wahrheiten, weiß er doch, daß allein sein Herr die Wahrheit und das Leben ist; aber er weiß auch, daß dieser Herr der Weg ist (vgl. Joh 14,6), um zu beiden zu gelangen: Erkennen und Teilhaben sind also eine einzige Wirklichkeit: von der Person durch die Fleischwerdung des Wortes Gottes zu dem einen Gott in drei Personen.

Der Orient hilft uns mit seinem großen Reichtum an Elementen, die christliche Bedeutung der menschlichen Person zu beschreiben. Sie ist ganz auf die Inkarnation gerichtet, von der die Schöpfung selbst das Licht empfängt. In Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, offenbart sich die Fülle der menschlichen Berufung: damit der Mensch Gott werde, hat das Wort Menschengestalt angenommen. So versinkt der Mensch, der ständig den bitteren Geschmack seiner Grenzen und seiner Sünde erfährt, nicht in Anklage oder Angst, weil er weiß, daß in ihm die Macht der Gottheit wirkt. Die Menschheit wurde von Christus ohne Trennung von der göttlichen Natur und unvermischt angenommen,<ref> Vgl. Symbolum Chalcedonense: DS 301-302.</ref> und der Mensch wird nicht allein gelassen, wenn er auf tausenderlei Weise und oft vergebens eine ihm unmögliche Erklimmung des Himmels versucht: da gibt es einen ruhmreichen Tabernakel, nämlich die allerheiligste Person Jesu, des Herrn, wo sich Göttliches und Menschliches in einer Umarmung begegnen, die niemals aufgelöst werden kann: das Wort ist Fleisch geworden, in allem uns ähnlich außer der Sünde. Es senkt die Gottheit in das kranke Herz der Menschheit und, indem es den Geist des Vaters ausgießt, befähigt es sie, durch Gnade Gott zu werden.

Aber wenn uns der Sohn das geoffenbart hat, dann ist es uns gegeben, dem Geheimnis des Vaters, dem Anfang der Gemeinschaft in Liebe, näherzukommen. Die Heiligste Dreifaltigkeit erscheint uns dann wie eine Liebesgemeinschaft: einen solchen Gott erkennen heißt, die Dringlichkeit spüren, daß er zur Welt spreche, daß er sich mitteile; und die Heilsgeschichte ist nur die Geschichte der Liebe Gottes zum Geschöpf, das er geliebt und erwählt hat und das er als das "Bild des Bildes" wünschte - wie es in der Intuition der orientalischen Kirchenväter ausgedrückt ist<ref> Vgl. Hl. Irenäus, Adversus haereses V, 16, 2: SCh 153/2, 217; IV, 33, 4: SCh 100/2, 811; Hl. Athanasius, Contra gentiles, 2-3 u. 34: PG 25, 5-8 u. 68-69; De incarnatione verbi, 12-13: SCh 18, 228-231.</ref> -, das heißt, es wird geformt nach dem Bild des Bildes, das der Sohn ist, und vom Geist der Liebe, der heilig macht, zur vollkommenen Gemeinschaft geführt. Und auch wenn der Mensch sündigt, sucht und liebt ihn dieser Gott, damit die Beziehung nicht zerbreche und die Liebe weiterfließe. Er liebt ihn im Geheimnis des Sohnes, der sich von einer Welt, die ihn nicht erkannt hat, am Kreuz töten ließ, aber vom Vater auferweckt wurde als ewige Gewähr dafür, daß niemand die Liebe töten kann, weil jeder, der an ihr teilhat, von Gottes Herrlichkeit berührt wird: es ist der von der Liebe verwandelte Mensch, den die Jünger auf dem Tabor gesehen haben, der Mensch, der zu sein wir alle berufen sind.

Anbetendes Schweigen

16. Doch dieses Geheimnis hält sich ständig bedeckt und hüllt sich in Schweigen,<ref> Das Schweigen (hesychia) ist ein wesentlicher Bestandteil der orientalischen monastischen Spiritualität. Vgl. Leben und Aussprüche der Wüstenväter: PG 65, 72-456; Euagrios Pontikos, Betrachtungen über das Mönchswesen: PG 40, 1252-1264.</ref> um zu vermeiden, daß an Stelle Gottes ein Idol aufgebaut wird. Erst in einer fortschreitenden Läuterung der Erkenntnis von Gemeinschaft werden der Mensch und Gott sich begegnen und in der ewigen Umarmung ihre niemals ausgelöschte Wesensgleichheit der Liebe wiedererkennen.

So entsteht, was man als den Apophatismus des christlichen Orients bezeichnet: je mehr der Mensch in der Erkenntnis Gottes wächst, umso mehr nimmt er ihn als unerreichbares, in seinem Wesen unbegreifliches Geheimnis wahr. Das darf nicht mit einem geheimnisvollen Mystizismus verwechselt werden, wo sich der Mensch in rätselhaften impersonalen Dingen verliert. Die Christen des Orients wenden sich vielmehr an Gott als Vater, Sohn und Heiligen Geist, lebendige, unaufdringlich gegenwärtige Personen, denen sie eine feierliche und demütige, würdevolle und schlichte liturgische Doxologie darbringen. Sie bemerken jedoch, daß man diesem Gegenwärtigsein vor allem dann näherkommt, wenn man sich zu einem anbetenden Schweigen erziehen läßt, denn auf dem Höhepunkt der Erkenntnis und der Erfahrung Gottes steht seine absolute Transzendenz. Zu ihr gelangt man nicht in erster Linie durch systematische Meditation, sondern vielmehr durch die Aufnahme der Schrift und der Liturgie im Gebet.

In diesem demütigen Annehmen der durch das Geschöpfsein bedingten Grenze angesichts der grenzenlosen Transzendenz eines Gottes, der nicht abläßt, sich als der Gott zu offenbaren, der die Liebe ist, als Vater unseres Herrn Jesus Christus, in der Freude des Heiligen Geistes, erblicke ich die Haltung des Gebetes und die theologische Methode, die der Osten bevorzugt und weiterhin allen, die an Christus glauben, anbietet.

Wir müssen uns eingestehen, daß wir alle dieses von angebeteter Gegenwart erfüllte Schweigen nötig haben: die Theologie, um die eigene Seele der Weisheit und des Geistes voll erschließen zu können; das Gebet, damit es niemals vergesse: Gott schauen heißt, mit so strahlendem Gesicht vom Berg hinabzusteigen, daß man es mit einem Schleier verhüllen muß (vgl. Ex 34,33), und damit unsere Versammlungen unter Vermeidung von Selbstverherrlichung der Gegenwart Gottes Raum zu geben wissen; die Verkündigung, damit sie sich nicht der Täuschung hingebe, es genüge, viele Worte zu machen, um zur Gotteserfahrung hinzuführen; das Engagement, damit es darauf verzichtet, sich in einen Kampf zu verbeißen, der keine Liebe und Gnade kennt. Nötig hat dieses Schweigen der heutige Mensch, der oft nicht mehr zu schweigen vermag aus Angst, sich selbst zu begegnen, sich zu enthüllen, die Leere zu verspüren, die zur Frage nach dem Sinn wird; der Mensch, der im Lärm Betäubung sucht. Alle, Glaubende und Nicht-Glaubende, müssen ein Schweigen erlernen, das dem anderen zu sprechen erlaubt, wann und wo er will, und uns jenes Wort verstehen läßt.

II. VOM KENNENLERNEN ZUR BEGEGNUNG

17. Dreißig Jahre ist es her, seitdem die zum Konzil versammelten Bischöfe der katholischen Kirche in Anwesenheit zahlreicher Brüder der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften die Stimme des Geistes vernommen haben, der tiefe Wahrheiten über das Wesen der Kirche zur Einsicht brachte. Dadurch wurde offenkundig, daß alle, die an Christus glauben, einander viel näher waren, als sie gedacht hätten: alle waren auf dem Weg zu dem einen Herrn, alle erfuhren Hilfe und Unterstützung von seiner Gnade. Von hier ging eine immer dringendere Aufforderung zur Einheit aus.

Seit damals ist ein langer Weg im gegenseitigen Kennenlernen zurückgelegt worden. Es hat die Wertschätzung füreinander verstärkt und uns oft erlaubt, auf einem Weg der Liebe, der bereits eine Pilgerschaft zur Einheit hin ist, gemeinsam zu dem einen Herrn und auch füreinander zu beten.

Nach den bedeutsamen Schritten, die Papst Paul VI. vollbracht hatte, wollte ich, daß man auf dem Weg des gegenseitigen Kennenlernens in Liebe weiter vorankäme. Ich kann die tiefe Freude bezeugen, die die brüderliche Begegnung mit so vielen Oberhäuptern und Vertretern von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in diesen Jahren in mir ausgelöst hat. Wir haben Sorgen und Erwartungen miteinander geteilt, gemeinsam haben wir den Herrn um Einheit zwischen unseren Kirchen und um Frieden für die Welt angerufen. Wir haben uns gemeinsam verantwortlicher für das Gemeinwohl gefühlt, nicht nur als einzelne, sondern im Namen der Christen, zu deren Hirten uns der Herr bestellt hat. Manchmal sind hier beim Römischen Stuhl die eindringlichen Appelle anderer Kirchen eingetroffen, die bedroht waren oder von Gewalt und Übergriffen heimgesucht wurden. Er hat versucht, ihnen allen sein Herz zu öffnen. Soweit es möglich war, hat der Bischof von Rom seine Stimme für sie erhoben, damit die Menschen guten Willens den Schrei jener leidenden Brüder hörten.

"Zu den Sünden, die einen größeren Einsatz an Buße und Umkehr verlangen, müssen sicher jene gezählt werden, die die von Gott für sein Volk gewollte Einheit beeinträchtigt haben. Mehr noch als im ersten Jahrtausend hat die kirchliche Gemeinschaft im Verlauf des nun zu Ende gehenden Jahrtausends oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten<ref> II. Vatikan. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 3.</ref> schmerzliche Trennungen erlebt, die offenkundig dem Willen Christi widersprechen und der Welt ein Ärgernis sind. Diese Sünden der Vergangenheit lassen ihre Last leider noch immer spüren und bestehen als dieselben Versuchungen auch in der Gegenwart weiter. Dafür gilt es Wiedergutmachung zu leisten, indem Christus inständig um Vergebung angerufen wird".<ref> Johannes Paul II., Apostol. Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 34: AAS 87 (1995), 26.</ref>

Die Sünde unserer Spaltung ist sehr schwer: ich empfinde das Bedürfnis, daß unsere gemeinsame Verfügbarkeit gegenüber dem Geiste, der uns zur Umkehr ruft, wachsen möge, um den anderen mit brüderlicher Achtung anzunehmen und anzuerkennen, neue mutige Taten zu setzen, die uns von jeder Versuchung eines Zurückweichens befreien können. Wir spüren, daß wir über die Stufe der Gemeinsamkeit, die wir erreicht haben, hinausgehen müssen.

18. Mit jedem Tag regt sich in mir eindringlicher der Wunsch, die Geschichte der Kirchen neu zu überprüfen, um schließlich eine Geschichte unserer Einheit zu schreiben und so zurückzugehen in die Zeit, in der sich nach dem Tod und der Auferstehung des Herrn Jesus das Evangelium in den verschiedensten Kulturen verbreitete und ein äußerst fruchtbarer Austausch begann, von dem die Liturgien der Kirchen noch heute zeugen. Wenngleich es nicht an Schwierigkeiten und Gegensätzen gefehlt hat, so beweisen die Briefe der Apostel (vgl. 2 Kor 9,11-14) und der Kirchenväter<ref> Vgl. Hl. Clemens von Rom, Brief an die Korinther: Patres Apostolici, ed. F. X. Funk, I, 60-144; Hl. Ignatius von Antiochien, Briefe: a.a.O., 172-252; Hl. Polykarpos, Brief an die Philipper: a.a.O., 266-282.</ref> engste brüderliche Bande zwischen den Kirchen in voller Glaubensgemeinschaft und unter Achtung ihrer je besonderen Eigentümlichkeiten und Identitäten. Die gemeinsame Erfahrung des Martyriums und die Meditation über die Märtyrerakten jeder Kirche, die Teilhabe an der Lehre so vieler heiliger Glaubenslehrer durch eine intensive Verbreitung und vertieften Gedankenaustausch verstärken dieses wunderbare Gefühl der Einheit.<ref> Vgl. Hl. Irenäus, Adversus haereses I, 10, 2: SCh 264/2, 158-160.</ref> Die Herausbildung unterschiedlicher Erfahrungen kirchlichen Lebens war kein Hindernis dafür, daß die Christen durch gegenseitige Beziehungen weiterhin die Gewißheit empfinden konnten, in jeder Kirche zu Hause zu sein, weil von allen in einer wunderbaren Vielfalt von Sprachen und Modulationen das Lob des einen Vaters durch Christus im Heiligen Geist emporstieg; alle haben sich versammelt, um die Eucharistie zu feiern, Herz und Vorbild für die Gemeinschaft nicht nur im Hinblick auf die Spiritualität oder das sittliche Leben, sondern auch für die Struktur der Kirche in der Vielfalt der Ämter und Dienste unter dem Vorsitz des Bischofs, des Nachfolgers der Apostel.<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 26; Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum concilium,</ref> Die ersten Konzilien sind ein beredtes Zeugnis für diese fortdauernde Einheit in der Vielfalt.<ref> Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 15. 41 Vgl. Johannes Paul II., Schreiben zum 1600. Jahrestag des I. Konzils von Konstantinopel A Concilio Constantinopolitano I (25. März 1981), 2: AAS 73 (1981), 515; Apostol. Schreiben zur Zwölfhundertjahrfeier des II. Konzils von Nizäa Duodecimum saeculum (4. Dezember 1987), 2 u. 4: AAS 80 (1988), 242. 243-244.</ref>

Und auch als sich - oft unter dem Einfluß politischer und kultureller Faktoren - das gegenseitige Unverständnis in bestimmten dogmatischen Fragen verstärkte und bereits zu schmerzlichen Folgen in den Beziehungen zwischen den Kirchen führte, blieb das Bemühen lebendig, um die Einheit der Kirche zu flehen und sie zu fördern. Im ersten ökumenischen Dialogkontakt hat uns der Heilige Geist erlaubt, uns im gemeinsamen Glauben, der vollkommenen Weiterführung des apostolischen Kerygmas zu festigen, und dafür danken wir Gott aus ganzem Herzen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Predigt in Sankt Peter im Beisein des Erzbischofs von Konstantinopel und Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I. (6. Dez. 1987), 3: AAS 80 (1988), 713-714.</ref> Und auch wenn bereits in den ersten Jahrhunderten des christlichen Zeitalters im Leib der Kirche langsam Gegensätze aufbrachen, dürfen wir nicht vergessen, daß das ganze erste Jahrtausend hindurch die Einheit zwischen Rom und Konstantinopel trotz Schwierigkeiten fortbesteht. Wir haben immer besser begriffen, daß nicht so sehr ein historisches Ereignis oder lediglich eine Frage des Vorrangs das Netz der Einheit zerrissen hat, sondern eine fortschreitende Entfremdung, so daß die Verschiedenheit des anderen nicht mehr als gemeinsamer Reichtum, sondern als Unvereinbarkeit empfunden wird. Auch als im zweiten Jahrtausend mit der wachsenden Unkenntnis voneinander und mit zunehmenden Vorurteilen eine Verhärtung in der Polemik und in der Spaltung eintritt, kommt es dennoch immer wieder zu konstruktiven Begegnungen zwischen Kirchenoberhäuptern, die den Wunsch haben, die Beziehungen zu intensivieren und den Austausch zu fördern; ebenso geht das heiligmäßige Wirken von Männern und Frauen weiter, die in dem Gegeneinander eine schwere Sünde erkannten und sich für die Einheit und die Liebe begeisterten sowie auf vielerlei Weise versuchten, das Streben nach Gemeinschaft durch das Gebet, durch Studium und Überlegung sowie durch die offene und herzliche Begegnung zu fördern.<ref> Vgl. z.B. Anselm von Havelberg, Dialogi: PL 188, 1139-1248.</ref> Dieses verdienstvolle Wirken sollte dann als ganzes in die Überlegungen des II. Vatikanischen Konzils einfließen und in der von Papst Paul VI. und dem ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. ausgesprochenen Aufhebung des gegenseitigen Kirchenbannes aus dem Jahr 1054 sinnbildhaften Ausdruck finden.<ref> Vgl. Tomos Agapis, Vatican - Phanar (1958-1970), Rom - Istanbul, 1971, S. 278-295.</ref>

19. Infolge der jüngsten Geschehnisse, die Mittel- und Osteuropa in Mitleidenschaft gezogen haben, erlebt der Weg der Liebe neuerlich schwierige Augenblicke. Christliche Brüder, die miteinander unter der Verfolgung litten, blicken gerade jetzt, wo sich Perspektiven und Hoffnungen auf eine größere Freiheit eröffnen, voll Argwohn und Furcht aufeinander: ist das nicht eine neue, große Gefahr zur Sünde, die wir alle mit allen Kräften zu überwinden versuchen müssen, wenn wir wollen, daß Völker, die auf der Suche sind, den Gott der Liebe leichter finden können, statt von neuem aufgrund unserer Spaltungen und Gegensätze Anstoß zu erregen? Als Seine Heiligkeit Bartholomäus I., Patriarch von Konstantinopel, anläßlich des Karfreitags 1994 die Kirche von Rom mit seiner Kreuzweg-Meditation beschenkte, habe ich an diese Gemeinschaft in der allerjüngsten Erfahrung des Martyriums erinnert: "Wir sind verbunden in diesen Märtyrern zwischen Rom, dem Berg der Kreuze, den Solovieskj-Inseln und vielen anderen Vernichtungslagern. Da wir vor diesem Hintergrund der Märtyrer vereint und verbunden sind, können wir gar nicht anders als eins sein".<ref> Schlusswort nach dem Kreuzweg am Kolosseum am Karfreitag (1. April 1994): AAS 87 (1995), 87.</ref>

Es ist daher dringend notwendig, sich diese schwere Verantwortung bewußt zu machen: wir können heute an der Verkündigung des Reiches Gottes mitwirken oder aber zu Förderern neuer Spaltungen werden. Möge der Herr uns die Herzen öffnen, unseren Geist bekehren und uns zu konkreten, mutigen Schritten inspirieren, die imstande sind, wenn nötig, Gemeinplätze, leichtfertiges Resignieren oder Pattstellungen zu durchbrechen. Wenn einer, der der Erste sein will, dazu gerufen ist, zum Diener aller zu werden, dann wird man aus dem Mut dieser Liebe den Primat der Liebe erwachsen sehen. Ich bitte den Herrn, daß Er vor allem mich selbst und die Bischöfe der katholischen Kirche zu konkreten Handlungen inspirieren möge, die von dieser inneren Sicherheit Zeugnis geben. Das verlangt das innerste Wesen der Kirche. Jedesmal, wenn wir die Eucharistie, das Sakrament der Gemeinschaft, feiern, finden wir in dem ausgeteilten Leib und Blut das Sakrament und den Aufruf zu unserer Einheit.<ref> Vgl. Missale Romanum, Hochfest des Leibes und Blutes Christi (Fronleichnam), Gabengebet; ebd., III. eucharistisches Hochgebet; Hl. Basilius, Anaphora alexandrina, Hrsg. E. Renaudot, Liturgiarum orientalium collectio, I, Frankfurt 1847, S. 68.</ref> Wie werden wir voll glaubwürdig werden können, wenn wir getrennt vor der Eucharistie erscheinen, wenn wir nicht imstande sind, die Teilhabe an demselben Herrn, den wir der Welt verkünden sollen, auch zu leben? Angesichts des gegenseitigen Ausschlusses von der Eucharistie spüren wir unsere Armseligkeit und das Bedürfnis, jede Anstrengung zu unternehmen, damit der Tag komme, an dem wir gemeinsam an demselben Brot und demselben Kelch Anteil haben werden.<ref> Vgl. Missale Romanum, Hochfest des Leibes und Blutes Christi (Fronleichnam), Gabengebet; ebd., III. eucharistisches Hochgebet; Hl. Basilius, Anaphora alexandrina, Hrsg. E. Renaudot, Liturgiarum orientalium collectio, I, Frankfurt 1847, S. 68.</ref> Dann wird die Eucharistie wieder im Vollsinn als Prophezeiung des Reiches Gottes wahrgenommen werden, und mit voller Wahrheit werden die Worte aus einem uralten eucharistischen Gebet anklingen: "Wie dieses gebrochene Brot auf den Hügeln verstreut wurde und gesammelt zu einem Einzigen wurde, so möge sich deine Kirche von den Grenzen der Erde her in deinem Reich sammeln".<ref> Didache, IX, 4: Patres Apostolici; Hrsg. F. X. Funk, I, 22.</ref>

Erfahrungen der Einheit

20. Gedenktage von besonderer Bedeutung ermutigen uns dazu, mit Liebe und Ehrfurcht unsere Gedanken den orientalischen Kirchen zuzuwenden. Das gilt, wie schon erwähnt, vor allem für den hundertsten Jahrestag der Veröffentlichung des Apostolischen Schreibens Orientalium dignitas. Damit hatte ein Weg seinen Anfang genommen, der unter anderem im Jahr 1917 zur Gründung der Kongregation für die Orientalischen Kirchen<ref> Vgl. Motu proprio Dei providentis (1. Mai 1917): AAS 9 (1917), 529-531.</ref> und zur Errichtung des Päpstlichen Orientalischen Instituts<ref> Vgl. Motu proprio Orientis catholici (15. Oktober 1917): a.a.O., 531-533.</ref> durch Papst Benedikt XV. geführt hat. Später, am 5. Juni 1960, wurde von Johannes XXIII. das Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen errichtet.<ref> Vgl. Motu proprio Superno Dei nutu (5. Juni 1960), 9: AAS 52 (1960), 435-436.</ref> In jüngster Zeit, am 18. Oktober 1990, habe ich den Codex des kanonischen Rechtes der orientalischen Kirchen promulgiert,<ref> Vgl. Apostolische Konstitution Sacri canones (18. Oktober 1990): AAS 82 (1990), 1033-1044.</ref> damit die Eigentümlichkeit des orientalischen Erbes bewahrt und gefördert würde.

Das sind die Kennzeichen einer Haltung, die die Kirche von Rom immer als wesentlichen Bestandteil des Auftrags angesehen hat, der dem Apostel Petrus von Jesus Christus anvertraut wurde: die Brüder im Glauben und in der Einheit stärken (vgl. Lk 22,32). Die in der Vergangenheit unternommenen Versuche stießen, bedingt durch den Zeitgeist und durch das damalige Verständnis von den Wahrheiten über die Kirche, an ihre Grenzen. Doch möchte ich hier noch einmal betonen, daß diesem Einsatz die Überzeugung zugrunde liegt, daß sich Petrus (vgl. Mt 16,17-19) in den Dienst einer in Liebe vereinten Kirche stellen will. "Die Aufgabe Petri ist, stets die Wege zu suchen, die der Wahrung der Einheit dienen. Er darf daher keine Hindernisse schaffen, sondern er muß Mittel und Wege suchen - was absolut nicht im Widerspruch steht zu der Aufgabe, die Christus ihm anvertraut hat: die Brüder im Glauben zu stärken" (vgl. Lk 22,32). Es ist außerdem bezeichnend, daß Christus diese Worte ausgerechnet in dem Moment ausspricht, als der Apostel sich anschickt, ihn zu verleugnen. Es ist, als wollte der Herr selber sagen: "Erinnere dich, daß du schwach bist und daß du der ständigen Umkehr bedarfst. Du kannst die anderen stärken, wenn du dir deiner eigenen Schwäche bewußt wirst. Ich gebe dir als Aufgabe die Wahrheit mit, die große Wahrheit Gottes, die für das Heil des Menschen bestimmt ist. Doch kann diese Wahrheit nur durch die Liebe gepredigt und verwirklicht werden". Es ist immer notwendig, veritatem facere in caritate, sich von der Liebe geleitet an die Wahrheit zu halten (vgl. Eph 4,15).<ref> Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, Hamburg 1994, S. 181-182.</ref> Heute wissen wir, daß die Einheit nur dann von der Liebe Gottes verwirklicht werden kann, wenn die Kirchen dies bei voller Achtung der einzelnen Traditionen und der notwendigen Autonomie gemeinsam wollen. Wir wissen, daß sich das nur von der Liebe von Kirchen her erfüllen kann, die sich aufgerufen fühlen, immer stärker die nur aus einer Taufe und aus einer Eucharistie hervorgegangene eine Kirche Christi zu bezeugen, und die Schwestern sein wollen.<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 14.</ref> Die Kirche Christi ist _ wie ich unlängst ausführte _ eine. Wenn es Spaltungen gibt, müssen sie überwunden werden; doch die Kirche ist eine, die Kirche Christi im Orient und im Okzident kann nur eine sein, eine und geeint.<ref> Grußwort an die Dozenten des Päpstl. Orientalischen Instituts (12. Dezember 1993): L'Osservatore Romano, 13.-14. Dez. 1993, S. 4.</ref>

Nach heutiger Sicht erscheint es klar, daß eine echte Einheit nur unter voller Achtung der Würde des anderen möglich war; daß man also nicht die Bräuche und Gewohnheiten der lateinischen Kirche insgesamt für vollkommener und für besser geeignet hielt, die Fülle der rechten Lehre sichtbar zu machen; daß dieser Einheit ferner ein Gemeinschaftsbewußtsein vorausgehen mußte, das die ganze Kirche durchdringen und sich nicht auf ein Übereinkommen zwischen Vertretern auf höchster Ebene beschränken sollte. Heute wissen wir - und das wird immer wieder beteuert -, daß die Einheit Wirklichkeit werden wird, wie und wann der Herr es will, und daß sie den Beitrag der Sensibilität und die Kreativität der Liebe erfordert und dabei vielleicht auch über die bereits historisch bewährten Formen hinausgehen wird.<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium ecclesiarum, 30.</ref>

21. Die Ostkirchen, die in volle Gemeinschaft mit dieser Kirche von Rom getreten sind, wollten sichtbares Zeichen dieser Sorge sein, was sie entsprechend dem Reifegrad des damaligen Kirchenbewußtseins zum Ausdruck brachten.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Botschaft Magnum baptismi donum (14. Febr. 1988), 4: AAS 80 (1988), 991-992.</ref> Mit ihrem Eintritt in die katholische Gemeinschaft wollten sie keineswegs die Treue zu ihrer Tradition verleugnen, von der sie im Laufe der Jahrhunderte in heroischer Weise und oft unter Blutvergießen Zeugnis abgelegt haben. Auch wenn es in ihren Beziehungen zu den orthodoxen Kirchen zuweilen zu Missverständnissen und offenen Gegensätzen gekommen ist, wissen wir alle, daß wir unaufhörlich um das göttliche Erbarmen und um ein neues Herz bitten müssen, das ungeachtet allen erlittenen und zugefügten Unrechts fähig zur Versöhnung ist.

Es wurde wiederholt betont, daß die bereits verwirklichte volle Einheit der katholischen Ostkirchen mit der Kirche von Rom für sie keine Verminderung im Bewußtsein der eigenen Authentizität und Originalität mit sich bringen darf.<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium ecclesiarum, 24.</ref> Falls das vorgekommen sein sollte, hat das II. Vatikanische Konzil sie zur vollen Wiederentdeckung ihrer Identität ermuntert, da sie "das volle Recht und die Pflicht (haben), sich jeweils nach ihren eigenen Grundsätzen zu richten, die sich durch ihr ehrwürdiges Alter empfehlen, den Gewohnheiten ihrer Gläubigen besser entsprechen und der Sorge um das Seelenheil angemessener erscheinen."<ref> Ebd., 5.</ref> Diese Kirchen tragen tief im Fleisch eine dramatische Rißwunde, weil ihnen noch immer eine volle Einheit mit den orthodoxen Ostkirchen versperrt ist, mit denen sie immerhin das Erbe ihrer Väter teilen. Es bedarf einer ständigen und gemeinsamen Umkehr, damit sie entschlossen und mit Elan auf dem Weg des gegenseitigen Verstehens voranschreiten. Und Umkehr wird auch von der lateinischen Kirche verlangt, damit sie die Würde der Orientalen voll achtet und bewertet und dankbar die geistlichen Schätze annimmt, deren Träger die katholischen Ostkirchen zum Nutzen der gesamten katholischen Gemeinschaft sind;<ref> Vgl. II. Vatikan. Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 17; Johannes Paul II., Ansprache an das Außerordentliche Konsistorium (13. Juni 1994): L'Osservatore Romano, 13.-14. Juni 1994, S. 5.</ref> auf diese Weise möge sie konkret und viel stärker als in der Vergangenheit zeigen, wie sehr sie den christlichen Osten schätzt und bewundert und wie sehr sie seinen Beitrag als wesentlich dafür erachtet, daß die Universalität der Kirche voll gelebt werden könne.

Sich begegnen, sich kennenlernen, miteinander arbeiten

22. Es ist mein inständiger Wunsch, daß die Worte, die der hl. Paulus aus dem Orient an die Kirche von Rom richtete, heute aus dem Mund der Christen im Westen mit Blick auf ihre Brüder in den Ostkirchen wieder erklingen mögen: "Zunächst danke ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle, weil euer Glaube in der ganzen Welt verkündet wird" (Röm 1,8). Und gleich darauf teilte der Völkerapostel voll Enthusiasmus seine Absicht mit: "Denn ich sehne mich danach, euch zu sehen; ich möchte euch geistliche Gaben vermitteln, damit ihr dadurch gestärkt werdet, oder besser: damit wir, wenn ich bei euch bin, miteinander Zuspruch empfangen durch euren und meinen Glauben" (Röm 1,11-12). Hier wird also auf wunderbare Weise die Dynamik der Begegnung in Worte eingefangen: die Kenntnis von den Glaubensschätzen des anderen _ die ich soeben in großen Zügen zu schildern versucht habe _ ruft spontan das Verlangen nach einer neuen und tieferen Begegnung unter Brüdern hervor, die ein echter und aufrichtiger gegenseitiger Austausch sein soll. Es ist ein Verlangen, das der Heilige Geist ständig in der Kirche weckt und das gerade in sehr schwierigen Zeiten noch eindringlicher wird.

23. Ich bin mir freilich bewußt, daß augenblicklich manche Spannungen zwischen der Kirche von Rom und einigen Kirchen des Ostens den Weg der gegenseitigen Wertschätzung im Hinblick auf die Gemeinschaft schwieriger gestalten. Dieser Stuhl in Rom hat sich mehrmals bemüht, Weisungen zu erlassen, die den gemeinsamen Weg aller Kirchen in einem für das Leben der Welt derart wichtigen Augenblick begünstigen sollen; das gilt vor allem für Osteuropa, wo dramatische historische Ereignisse die Ostkirchen in jüngster Zeit häufig daran gehindert haben, den Evangelisierungsauftrag, den sie gleichwohl als dringend ansahen, voll zu verwirklichen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Brief an die Bischöfe des europäischen Kontinents (31. Mai 1991): AAS 84 (1992), 163-168; außerdem« Les principes généraux et normes pratiques pour coordonner l’évangélisation et l'engagement oecuménique de l'Église catholique en Russie et dans les autres Pays de la C.E.I. (veröffentlicht von der Päpstliche Kommission Pro Russia am 1. Juni 1992).</ref>

Von größerer Freiheit gekennzeichnete Situationen bieten ihnen heute neue Möglichkeiten, auch wenn die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel wegen der Schwierigkeiten der betreffenden Länder sehr knapp sind. Ich möchte nachdrücklich betonen, daß die Gemeinschaften im Westen bereit sind - nicht wenige sind ja bereits in diesem Sinne tätig -, die Intensivierung dieses Dienstes der Diakonie dadurch zu fördern, daß sie ihre Erfahrung zur Verfügung stellen, die sie in den Jahren einer freieren Ausübung der Nächstenliebe erwerben konnten. Wehe uns, wenn der Überfluß der einen Seite Anlaß zur Demütigung der anderen Seite oder zu fruchtlosem und anstoßerregendem Konkurrenzdenken wäre. Die Gemeinschaften im Westen werden es sich ihrerseits zur Pflicht machen, wo es möglich ist, vor allem den Dienst betreffende Vorhaben mit den Brüdern der Ostkirchen zu teilen oder zur Verwirklichung dessen beizutragen, was diese im Dienst an ihren Völkern unternehmen; und sie werden in Gebieten gemeinsamer Präsenz niemals eine Haltung an den Tag legen, die respektlos gegenüber den mühsamen Anstrengungen erscheinen könnte, für deren Durchführung den Ostkirchen um so höheres Verdienst gebührt, je prekärer ihre zur Verfügung stehenden Mittel sind.

Handlungen gemeinsamer Liebe der einen Seite gegenüber der anderen und beider gemeinsam gegenüber den in Not und Bedrängnis geratenen Menschen werden als ein Akt von unmittelbarer Aussagekraft erscheinen. Bleiben solche Gesten aus oder kommt es gar zu gegenteiligen Bezeugungen, so wird dies alle, die uns beobachten, zu der Annahme verleiten, jedes Bemühen um Annäherung zwischen den Kirchen in Liebe sei nichts weiter als eine abstrakte Aussage ohne Überzeugungskraft und ohne Konkretisierung.

Das Gebot des Herrn, sich auf jeden Fall darum zu bemühen, daß alle, die an Christus glauben, ihren Glauben gemeinsam bezeugen, halte ich vor allem in den Ländern für grundlegend, in denen sich das Zusammenleben zwischen Söhnen und Töchtern der katholischen Kirche - Lateinern und Orientalen - und Söhnen und Töchtern der orthodoxen Kirchen besonders eng gestaltet. Nach dem gemeinsamen Martyrium, das sie unter dem Druck der atheistischen Regime für Christus erlitten haben, ist nun der Augenblick gekommen, wo es nötigenfalls zu leiden gilt, um niemals im Zeugnis der Liebe unter Christen nachzulassen, denn selbst wenn wir unseren Leib dem Feuer übergäben, hätten aber die Liebe nicht, würde es uns nichts nützen (vgl. 1 Kor 13,3). Wir werden intensiv darum beten müssen, daß der Herr unseren Geist und unsere Herzen rühre und uns Geduld und Milde schenke.

24. Ich glaube, eine wichtige Möglichkeit, um im gegenseitigen Verstehen und in der Einheit zu wachsen, besteht eben darin, daß wir einander besser kennenlernen. Die Söhne und Töchter der katholischen Kirche kennen bereits die Wege, die der Heilige Stuhl angegeben hat, damit sie dieses Ziel erreichen können: Kennenlernen der Liturgie der Ostkirchen;<ref> Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instruktion In ecclesiasticam futurorum (3. Juni 1979), 48: Enchiridion Vaticanum 6, S. 1080.</ref> Vertiefung der Kenntnis von den geistlichen Traditionen der Väter und Lehrer des christlichen Orients;<ref> Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instruktion Inspectis dierum (10. Nov. 1989): AAS 82 (1990), 607-636.</ref> Herausstellung der Ostkirchen als Beispiel für die Inkulturation der Botschaft des Evangeliums; Ankämpfen gegen die Spannungen zwischen Lateinern und Orientalen und Anregung des Dialogs zwischen Katholiken und Orthodoxen; Ausbildung von Theologen, Liturgikern, Historikern und Kanonisten in Einrichtungen, die auf den christlichen Osten spezialisiert sind, damit sie ihrerseits die Kenntnis von den Kirchen des Orients verbreiten können; ein diesen Themen entsprechendes Lehrangebot - vor allem für die künftigen Priester - an den Priesterseminaren und an den Theologischen Fakultäten.<ref> Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Rundschreiben A l'égard au développement (6. Jan. 1987), 9-14: L'Osservatore Romano, 16. April 1987, S. 6.</ref> Auf diesen auch weiterhin beachtenswerten Hinweisen möchte ich mit besonderem Nachdruck beharren.

25. Außer der Kenntnis voneinander halte ich gegenseitige Besuche für äußerst wichtig. Ich wünsche mir, daß diesbezüglich die Klöster in besonderer Weise tätig werden, wegen der ganz besonderen Rolle, die dem monastischen Leben innerhalb der Kirchen zufällt, und wegen der vielen Punkte, die die Erfahrung des Ordenslebens und damit die geistliche Sensibilität im Orient und im Abendland vereinen. Eine weitere Form der Begegnung stellt die Aufnahme orthodoxer Dozenten und Studenten an den Päpstlichen Universitäten und anderen katholischen akademischen Einrichtungen dar. Wir wollen weiter unser möglichstes tun, damit diese Aufnahme in größerem Umfang erfolgen kann. Gott segne außerdem die Entstehung und Entwicklung von Unterkünften für unsere Brüder aus dem Osten, auch in der Stadt Rom, die das lebendige und gemeinsame Gedächtnis der Apostelfürsten und vieler Märtyrer hütet.

Wichtig ist, daß die Initiativen für Begegnung und Austausch in den umfassendsten Weisen und Formen die Kirchengemeinden einbeziehen: wir wissen zum Beispiel, wie positiv Initiativen zur Kontaktnahme zwischen Pfarreien sein können, die zur gegenseitigen kulturellen und geistlichen Bereicherung, auch in der Übung der Nächstenliebe, untereinander "Partnerschaften" eingehen.

Sehr positiv beurteile ich die Initiativen gemeinsamer Pilgerfahrten zu den Orten, wo im Gedenken an Männer und Frauen, die zu allen Zeiten die Kirche durch das Opfer ihres Lebens bereichert haben, die Heiligkeit in besonderer Weise Ausdruck findet. In dieser Richtung wäre es dann ein Akt von großer Bedeutung, wenn man zur gemeinsamen Anerkennung der Heiligkeit jener Christen gelangen könnte, die in den letzten Jahrzehnten, besonders in den Ländern Osteuropas, für den einen Glauben an Christus ihr Blut vergossen haben.

26. Meine Gedanken gehen sodann besonders zu den Diasporagebieten, wo in mehrheitlich lateinischer Umgebung zahlreiche Gläubige der Ostkirchen leben, die ihre Herkunftsländer verlassen haben. Diese Orte, wo der zwanglose Kontakt innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft leichter zustande kommt, könnten den idealen Rahmen für die Verbesserung und Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Kirchen bei der Ausbildung künftiger Priester und bei der Planung pastoraler und karitativer Vorhaben darstellen, was auch für die Herkunftsländer der Orientalen von Vorteil wäre.

Den lateinischen Bischöfen jener Länder lege ich das aufmerksame Studium, das volle Verständnis und die getreue Anwendung der von diesem Stuhl erlassenen Prinzipien und Normen über die ökumenische Zusammenarbeit<ref> Vgl. Päpstlicher Rat für die Förderung der Einheit der Christen, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus, V: AAS 85 (1993), 1096-1119.</ref> und über die Seelsorge an den Gläubigen der katholischen Ostkirchen besonders ans Herz, vor allem wenn diese ohne eigene Hierarchie sind.

Ich lade die Oberhäupter und den Klerus der katholischen Ostkirchen ein, mit den lateinischen Bischöfen eng für eine wirksame Seelsorge zusammenzuarbeiten, damit diese nicht bruchstückhaft bleibe, vor allem dann, wenn ihr Jurisdiktionsbereich sich auf sehr große Gebiete erstreckt, wo fehlende Zusammenarbeit tatsächlich Isolierung bedeutet. Die katholische orientalische Hierarchie wird alles unternehmen, um eine Atmosphäre der Brüderlichkeit, der aufrichtigen gegenseitigen Wertschätzung und der Zusammenarbeit mit ihren Brüdern der Kirchen zu fördern, mit denen uns noch keine volle Gemeinschaft verbindet, ganz besonders gegenüber denjenigen, die derselben kirchlichen Tradition angehören.

Dort, wo es im Westen keine orientalischen Priester für die Seelsorge an den Gläubigen der katholischen Ostkirchen gibt, sollten sich die lateinischen Bischöfe und ihre Mitarbeiter Mühe geben, damit in jenen Gläubigen das Bewußtsein und die Kenntnis ihrer eigenen Tradition wachse und sie dazu bestellt werden, durch ihren spezifischen Beitrag aktiv am Wachstum der christlichen Gemeinschaft mitzuwirken.

27. Was das Mönchtum betrifft, so wünschen wir uns angesichts seiner Bedeutung im orientalischen Christentum, daß es in den katholischen Ostkirchen wiederaufblühe und alle, die sich zum Einsatz für dieses Erstarken berufen fühlen, dazu ermutigt werden.<ref> Vgl. Botschaft der Ordentlichen Bischofssynode, VII, Aufruf an die Ordensmänner und Ordensfrauen der Ostkirchen (27. Oktober 1994): L'Osservatore Romano, 29. Oktober 1994, S. 7.</ref> Es besteht in der Tat ein innerer Zusammenhang zwischen dem liturgischen Gebet, der geistlichen Tradition und dem monastischen Leben im Osten. Eben darum könnte auch für sie eine richtig gestaltete und motivierte Wiederaufnahme des monastischen Lebens ein echtes kirchliches Aufblühen bedeuten. Und man soll nicht meinen, daß dies die Wirksamkeit des pastoralen Dienstes vermindere; ja, er wird letztlich von einer derart kräftigen Spiritualität gestärkt werden und auf diese Weise seinen idealen Platz wiederfinden. Dieser Wunsch betrifft auch die Gebiete der orientalischen Diaspora, wo das Vorhandensein orientalischer Klöster den Ostkirchen in jenen Ländern größere Festigkeit geben und darüber hinaus einen wertvollen Beitrag zum Ordensleben der Christen im Westen leisten würde.

Gemeinsam dem "Orientale Lumen" entgegengehen

28. Zum Abschluß dieses Schreibens gehen meine Gedanken zu den geliebten Brüdern, den Patriarchen, Bischöfen, Priestern und Diakonen, zu den Mönchen und Nonnen, zu den Männern und Frauen der Ostkirchen.

An der Schwelle des dritten Jahrtausends hören wir alle den Schrei der Menschen zu uns dringen, die, bedrückt von der Last schwerer Bedrohungen, dennoch _ ihnen selbst vielleicht sogar unbewußt _ den sehnlichen Wunsch haben, die von Gott gewollte Geschichte der Liebe kennenzulernen. Jene Menschen spüren, daß ein einmal aufgenommener Lichtstrahl allemal die Finsternis vom Blickfeld des zärtlichen Vaters her zu zerstreuen vermag.

Maria, "Mutter des Sternes, der nicht untergeht",<ref> Horologion, Hymnus Akathistos an die allerseligste Gottesmutter, Ikos 5.</ref> "Morgenröte des mystischen Tages",<ref> Ebd.</ref> "Aufgang der Sonne der Herrlichkeit",<ref> Horologion, Komplet vom Sonntag (1. Ton) in der byzantinischen Liturgie.</ref> zeige uns das Orientale Lumen.

Vom Osten steigt jeden Tag aufs neue die Sonne der Hoffnung auf, das Licht, das dem Menschengeschlecht seine Existenz wiedergibt. Vom Osten wird, wie es in einem schönen Bild heißt, unser Erlöser wiederkehren (vgl. Mt 24,27).

Die Männer und Frauen des Ostens sind für uns Zeichen des Herrn, der wiederkommt. Wir dürfen sie nicht vergessen, nicht nur, weil wir sie als vom selben Herrn erlöste Brüder und Schwestern lieben, sondern auch, weil die heilige Sehnsucht nach den Jahrhunderten, die wir in voller Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe gelebt haben, uns drängt, uns laut an unsere Schuld, unser Unverständnis füreinander erinnert: wir haben die Welt eines gemeinsamen Zeugnisses beraubt, das es vielleicht vermocht hätte, viele Dramen zu vermeiden, wenn nicht gar den Sinn der Geschichte zu ändern.

Wir empfinden es schmerzvoll, daß wir noch nicht an derselben Eucharistie teilnehmen können. Nun, da das Jahrtausend zu Ende geht und unser Blick ganz auf die aufgehende Sonne gerichtet ist, befinden wir uns voll Dankbarkeit auf dem Weg unseres Blickes und unseres Herzens.

Weiter erschallt kräftig das Echo des Evangeliums, des Wortes, das nicht enttäuscht, nur geschwächt durch unsere Spaltung: Christus ruft, doch der Mensch hat Mühe, seine Stimme zu hören, weil es uns nicht gelingt, einmütige Worte weiterzugeben. Wir hören gemeinsam das Flehen der Menschen, die das Wort Gottes in seiner Ganzheit hören wollen. Die Worte des Abendlandes haben die Worte des Orients nötig, damit das Wort Gottes seine unerforschlichen Reichtümer immer besser offenbare. Unsere Worte werden sich für immer im himmlischen Jerusalem begegnen, wir bitten aber und wollen, daß jene Begegnung in der heiligen Kirche, die sich noch auf der Pilgerschaft zur Fülle des Reiches befindet, vorweggenommen werden möge.

Möge Gott Zeit und Raum abkürzen. Bald, sehr bald möge uns Christus, das Orientale Lumen, entdecken lassen, daß wir trotz jahrhundertelanger Entfernung in Wirklichkeit einander sehr nahe waren, weil wir, vielleicht ohne es zu wissen, miteinander dem einen Herrn entgegen- und damit aufeinander zugingen.

Möge sich der Mensch des dritten Jahrtausends dieser Entdeckung erfreuen können, wenn ihn endlich ein einträchtiges und damit voll glaubwürdiges Wort erreicht, das von Brüdern verkündet wird, die einander lieben und dankbar sind für die Reichtümer, mit denen sie sich gegenseitig beschenken. Und so werden wir vor Gott hintreten mit den reinen Händen der Versöhnung, und die Menschen der Welt werden einen entscheidenden Grund mehr für ihr Glauben und Hoffen haben.

Mit diesen Wünschen erteile ich allen meinen Segen.

Aus dem Vatikan, am 2. Mai, dem Gedächtnis des hl. Athanasius, Bischof und Kirchenlehrer, des Jahres 1995,

dem siebzehnten Jahr meines Pontifikates

Benedikt XVI. PP.

Anmerkungen

<references />

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