Redemptoris mater (Wortlaut)

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Enzyklika
Redemptoris mater

von Papst
Johannes Paul II.
über die selige Jungfrau Maria im Leben der pilgernden Kirche
25. März 1987

(Offizieller lateinischerText AAS 79 [1987] 361-433)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite; VAS 75; DAS 1987, 1271-1332; auch in: Rudolf Graber/Anton Ziegenaus: Die marianischen Weltrundschreiben der Päpste von Pius IX. bis Johannes Paul II., Einführung von Prof. Dr. Leo Scheffczyk; Herausgabe im Auftrag des Institutum Marianum e.V.; Schnell & Steiner Verlag Regensburg 1997; 3. erweiterte und überarbeitete Auflage, Seiten 363-418; Kirchliche Dokumente nach dem Konzil, Nr. 25)

Ankündigung: Papst Johannes Paul II. kündigt darin ein marianisches Jahr vom Pfingstfest den 7. Juni 1987 bis am Fest der Aufnahme der seligsten Jungfrau Maria in den Himmel 1988, um »das große Zeichen am Himmel« hervorzuheben, von dem die Offenbarung des Johannes spricht.

Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Verehrte Brüder,
liebe Söhne und Töchter,
Gruß und Apostolischen Segen !
Die Mutter des Erlösers

EINLEITUNG

1 Die Mutter des Erlösers hat im Heilsplan eine ganz besondere Stellung; denn »als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetze stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen. Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater« (Gal 4, 4-6).

Mit diesen Worten des Apostels Paulus, die das II. Vatikanische Konzil am Beginn seiner Darlegungen über die selige Jungfrau Maria <ref> Vgl. Dogmatische Konstitution »Lumen gentium«, 52 und das ganze 8. Kapitel mit dem Titel »Die selige jungfräuliche Gottesmutter im Geheimnis Christi und der Kirche«.</ref> aufgreift, möchte auch ich meine Erwägungen über die Bedeutung Marias im Geheimnis Christi und über ihre aktive und beispielhafte Gegenwart im Leben der Kirche einleiten. Diese Worte feiern ja in einem gemeinsamen Lobpreis die Liebe des Vaters, die Sendung des Sohnes, das Geschenk des Geistes, die Frau, aus der der Erlöser geboren wurde, unsere göttliche Sohnschaft, und dies im Geheimnis der »Fülle der Zeit«.<ref>Der Ausdruck »Fülle der Zeit« (pleroma tou cronou) entspricht ähnlichen Formulierungen im biblischen (vgl. Gen 29, 21; 1 Sam 7, 12; Tob 14, 5) wie außerbiblischen Judentum und vor allem im Neuen Testament (vgl. Mk 1, 15; Lk 21, 24; Joh 7, 8; Eph 1, 10). Formal betrachtet, bezeichnet er nicht nur den Abschluss eines zeitlichen Prozesses, sondern vor allem das Reifwerden oder die Vollendung eines Zeitabschnittes besonderer Bedeutung, weil ausgerichtet auf die Verwirklichung einer Erwartung, die darum einen eschatologischen Charakter erlangt. Wenn man von Gal 4, 4 und seinem Kontext ausgeht, ist es die Ankunft des Gottessohnes, die offenbart, dass die Zeit sozusagen ihr Maß erfüllt hat; das heißt, der Zeitabschnitt, der von der Verheißung an Abraham sowie vom mosaischen Gesetz geprägt war, hat seinen Höhepunkt darin erreicht, dass Christus nunmehr die göttliche Verheißung erfüllt und das alte Gesetz überwindet.</ref>

Diese »Fülle« gibt den von aller Ewigkeit her bestimmten Augenblick an, in dem der Vater seinen Sohn sandte, »damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat« (Joh 3, 16). Sie weist auf die selige Stunde hin, in der das »Wort«, das »bei Gott« war, »Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat« (Joh 1, 1.14) und unser Bruder wurde. Sie bezeichnet den Moment, an dem der Heilige Geist, der Maria von Nazaret schon die Fülle der Gnade geschenkt hatte, in ihrem jungfräulichen Schoß die menschliche Natur Christi formte. Sie bestimmt den Zeitpunkt, an dem durch das Eingehen des Ewigen in die Zeit die Zeit selbst erlöst wird und endgültig zur »Heilszeit« wird, indem sie sich mit dem Geheimnis Christi »füllt«. Sie bezeichnet schließlich den geheimnisvollen Beginn des Weges der Kirche. In der Liturgie grüßt die Kirche nämlich Maria von Nazaret als ihren Anfang<ref>Vgl. »Römisches Messbuch«, Präfation vom Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria, am 8. Dezember; AMBROSIUS, »De Institutione Virginis«, XV, 93-94: PL 16, 342; II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 68.</ref>, weil sie im Ereignis der Empfängnis ohne Erbsünde bereits die österliche Gnade der Erlösung, vorweggenommen in ihrem hervorragendsten Mitglied, sich abzeichnen sieht und vor allem weil sie im Ereignis der Menschwerdung Christus und Maria untrennbar miteinander verbunden findet: derjenige, der ihr Herr und Haupt ist (vgl. Kol 1, 18), und diejenige, die durch das erste »Fiat« des Neuen Bundes ein Vorbild für ihre Aufgabe als Braut und Mutter darstellt.

2 Durch die Gegenwart Christi bestärkt (vgl. Mt 28, 20), schreitet die Kirche in der Zeit voran auf die Vollendung der Geschichte zu und geht ihrem Herrn entgegen, der kommt. Aber auf dieser Pilgerschaft - das möchte ich sogleich hervorheben - geht sie denselben Weg, den auch die Jungfrau Maria zurückgelegt hat, die »den Pilgerweg des Glaubens gegangen ist und ihre Verbundenheit mit dem Sohn in Treue bewahrt hat«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 58.</ref> .

Ich möchte diese dichten und bedenkenswerten Worte der Konstitution »Lumen gentium« aufgreifen, die in ihrem Schlussteil eine eindrucksvolle Synthese der Lehre der Kirche über das Thema der Mutter Christi vorlegt, die sie als ihre geliebte Mutter und als ihr Vorbild im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe verehrt.

Wenige Jahre nach dem Konzil wollte mein großer Vorgänger Paul VI. erneut über die heilige Jungfrau Maria sprechen, indem er in der Enzyklika »Christi matri« und dann in den Apostolischen Schreiben »Signum magnum« und »Marialis cultus«<ref>Paul VI., Enzyklika »Christi matri« (15.9.1966): AAS 58 (1966) 745-749; Apostolisches Schreiben »Signum magnum« (13.5.1967): AAS 59 (1967) 465-475, Apostolisches Schreiben »Marialis cultus« (2.2.1974): AAS 66 (1974) 113-168.</ref> die Grundlagen und Kriterien jener besonderen Verehrung darlegte, welche die Mutter Christi in der Kirche empfängt, sowie die verschiedenen Formen der Marienfrömmigkeit - in der Liturgie, im Volkstum, im privaten Bereich -, wie sie dem Geist unseres Glaubens entsprechen.

3 Der Umstand, der mich nun drängt, das Wort zu diesem Thema zu ergreifen, ist der Blick auf das bereits nahe Jahr 2000, in dem das zweitausendjährige Jubiläum der Geburt Christi unsere Augen zugleich auf seine Mutter lenkt. In den letzten Jahren sind verschiedene Stimmen laut geworden, die auf die gute Gelegenheit hinweisen, diesem Gedenken ein ähnliches Jubiläum voraufgehen zu lassen, das der Feier der Geburt Marias gewidmet ist.

In der Tat, wenn es auch nicht möglich ist, einen genauen Zeitpunkt für das Datum der Geburt Marias festzustellen, so ist sich die Kirche doch stets bewusst, dass Maria vor Christus am Horizont der Heilsgeschichte erschienen ist<ref>Das Alte Testament hat das Geheimnis Marias in vielfältiger Weise angekündigt: vgl. Johannes von Damaskus, »Hom. in Dormitionem«, I, 8-9: S. Ch. 80, 103-107.</ref>. Es ist eine Tatsache, dass beim Herannahen der endgültigen »Fülle der Zeit«, das heißt beim erlösenden Kommen des Immanuel, diejenige, die von Ewigkeit her dazu bestimmt war, seine Mutter zu sein, bereits auf der Erde lebte. Diese ihre Anwesenheit schon vor der Ankunft Christi findet jedes Jahr ihren Ausdruck in der Adventsliturgie. Wenn man also die Jahre, die uns dem Ende des zweiten Jahrtausends nach Christus und dem Beginn des dritten näher bringen, mit jener alten geschichtlichen Erwartung des Retters vergleicht, wird es vollauf verständlich, dass wir uns in diesem Zeitabschnitt in besonderer Weise an diejenige wenden möchten, die in der »Nacht« der adventlichen Erwartung als wahrer »Morgenstern« (Stella matutina) zu leuchten begann. Bekanntlich geht dieser Stern zusammen mit der »Morgenröte« dem Aufgang der Sonne vorauf: So ist Maria dem Kommen des Heilands voraufgegangen, dem Aufgehen der »Sonne der Gerechtigkeit« in der Geschichte des Menschengeschlechtes<ref>Vgl. »Insegnamenti di Giovanni Paolo II«, VI/2 (1983) 225 f.; Pius IX., Apostolisches Schreiben »Ineffabilis deus« (8.12.1854): PII IX »P.M. Acta«, pars I, 597-599.</ref>.

Ihre Anwesenheit in Israel - so unauffällig, dass sie den Augen der Zeitgenossen fast verborgen blieb - leuchtete ganz hell vor dem ewigen Gott, der diese verborgene »Tochter Zions« (Zef 3, 14; Sach. 2, 14) mit dem Heilsplan verbunden hatte, der die gesamte Geschichte der Menschheit umfasst. Wir Christen, die wissen, dass der Plan der Vorsehung der Göttlichen Dreifaltigkeit die zentrale Wirklichkeit der Offenbarung und des Glaubens ist, verspüren also gegen Ende des zweiten Jahrtausends zu Recht die Notwendigkeit, die einzigartige Gegenwart der Mutter Christi in der Geschichte hervorzuheben, vor allem in diesen letzten Jahren vor dem Jahr 2000.

4 Auf dies alles bereitet uns das II. Vatikanische Konzil vor, wenn es in seiner Lehre die Mutter Gottes »im Geheimnis Christi und der Kirche« vorstellt. Wenn es nämlich stimmt, dass »sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft aufklärt« - wie dasselbe Konzil verkündet<ref>Vgl. Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute »Gaudium et spes«, 22.</ref> -, dann muss man dieses Prinzip in ganz besonderer Weise auf jene außergewöhnliche »Tochter des Menschengeschlechtes« anwenden, auf jene außerordentliche »Frau«, die die Mutter Christi wurde. Allein im Geheimnis Christi klärt sich voll und ganz ihr eigenes Geheimnis. So hat es übrigens die Kirche von Anfang an zu sehen versucht: Das Geheimnis der Menschwerdung hat es ihr ermöglicht, das Geheimnis der Mutter des menschgewordenen Wortes immer tiefer zu durchdringen und aufzuhellen. Für ein solch tieferes Verständnis hatte das Konzil von Ephesus (431) eine entscheidende Bedeutung: Hier wurde zur großen Freude der Christen die Wahrheit von der göttlichen Mutterschaft Marias feierlich als Glaubenswahrheit der Kirche bestätigt. Maria ist die Mutter Gottes (= »Theotokos«), weil sie Jesus Christus, den Sohn Gottes und eines Wesens mit dem Vater, durch den Heiligen Geist in ihrem jungfräulichen Schoß empfangen und zur Welt gebracht hat<ref> KONZIL VON EPHESUS: »Conciliorum Oecumenicorum Decreta«, Bologna 1973(3), 41-44; 59-62 (DS 250-264); vgl. KONZIL VON CHALZEDON: a.a.O., 84-87 (DS 300-303).</ref>. »Denn er, der Sohn Gottes..., geboren aus Maria, der Jungfrau, ist in Wahrheit einer aus uns geworden...«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute »Gaudium et spes«, 22.</ref> , ist Mensch geworden. Durch das Geheimnis Christi leuchtet also am Horizont des Glaubens der Kirche das Geheimnis seiner Mutter voll auf. Das Dogma von der göttlichen Mutterschaft Marias war seinerseits für das Konzil von Ephesus, und ist es für die Kirche immer noch, ein Zeichen der Bestätigung für das Dogma von der Menschwerdung, in der das ewige Wort in der Einheit seiner Person die menschliche Natur wahrhaft annimmt, ohne sie auszulöschen.

5 Wenn das II. Vatikanische Konzil Maria im Geheimnis Christi darstellt, findet es so auch den Weg, um die Erkenntnis des Geheimnisses der Kirche zu vertiefen. Maria ist ja als Mutter Christi in ganz besonderer Weise mit der Kirche verbunden, »die der Herr als seinen Leib gegründet hat«<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 52.</ref>. Der Konzilstext stellt diese Wahrheit von der Kirche als Leib Christi (nach der Lehre der Paulusbriefe) bezeichnenderweise nahe neben die Wahrheit, dass der Sohn Gottes »durch den Heiligen Geist aus Maria, der Jungfrau geboren ist«. Die Wirklichkeit der Menschwerdung findet gleichsam ihre Fortsetzung im Geheimnis der Kirche, des Leibes Christi. Und an die Wirklichkeit der Menschwerdung wiederum kann man nicht denken, ohne sich auf Maria, die Mutter des menschgewordenen Wortes, zu beziehen.

In den vorliegenden Erwägungen möchte ich jedoch vor allem auf jenen »Pilgerweg des Glaubens« hinweisen, den die selige Jungfrau gegangen ist und auf dem sie »ihre Verbundenheit mit Christus in Treue bewahrt hat«<ref>Vgl. ebd., 58.</ref>. Auf diese Weise erhält jenes »doppelte Band«, das die Mutter Gottes mit Christus und mit der Kirche verbindet, eine gesamtgeschichtliche Bedeutung. Es geht hierbei nicht nur um die Lebensgeschichte der jungfräulichen Mutter, um ihren persönlichen Glaubensweg und um den »besseren Teil«, den sie im Heilsgeheimnis hat, sondern auch um die Geschichte des gesamten Gottesvolkes, von allen, die am selben »Pilgerweg des Glaubens« teilnehmen.

Dies drückt das Konzil aus, indem es in einem anderen Abschnitt feststellt, dass Maria »vorangegangen ist«, weil sie »der Typus der Kirche auf der Ebene des Glaubens, der Liebe und der vollkommenen Einheit mit Christus« geworden ist<ref>Ebd., 63; vgl. AMBROSIUS, »Expos. Evang. sec. Luc.«, II, 7: CSEL 32, 4, S. 45; »De Instit. Virginis«, XIV, 88-89: PL 16, 341.</ref>. Dieses »Vorangehen« als Typus oder Modell bezieht sich auf das innerste Geheimnis der Kirche, die ihre eigene Heilssendung verwirklicht und vollzieht, indem sie in sich - wie Maria - die Eigenschaften der Mutter und der Jungfrau vereinigt. Sie ist Jungfrau, weil sie »das Treuewort, das sie dem Bräutigam gegeben hat, unversehrt und rein bewahrt«; sie wird »auch selbst Mutter, weil sie ... die vom Heiligen Geist empfangenen und aus Gott geborenen Kinder zu neuem und unsterblichem Leben gebiert«<ref>Vgl. Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 64.</ref> .

6 Das alles vollzieht sich in einem großen geschichtlichen Prozess und gewissermaßen »auf einem Weg«. Der »Pilgerweg des Glaubens« weist auf die innere Geschichte hin, sozusagen auf die »Geschichte der Seelen«. Er ist aber auch die Geschichte der Menschen, die auf dieser Erde der Vergänglichkeit unterworfen und von der geschichtlichen Dimension umfasst sind. In den folgenden Erwägungen wollen wir uns vor allem auf die gegenwärtige Phase konzentrieren, die an sich noch nicht Geschichte ist, aber doch unaufhörlich Geschichte formt, und dies auch im Sinne von Heilsgeschichte. Hier öffnet sich ein weiter Raum, in welchem die selige Jungfrau Maria immer noch dem Gottesvolk »vorangeht«. Ihr außergewöhnlicher Pilgerweg des Glaubens stellt so einen bleibenden Bezugspunkt dar für die Kirche, für die einzelnen und für die Gemeinschaften, für die Völker und Nationen und in gewissem Sinne für die ganze Menschheit. Es ist fürwahr schwierig, seinen ganzen Umfang zu erfassen und zu ermessen. Das Konzil unterstreicht, dass die Mutter Gottes bereits die eschatologische Vollendung der Kirche ist: »Während aber die Kirche in der seligsten Jungfrau Maria schon zur Vollkommenheit gelangt ist, in der sie ohne Makel und Runzel ist (vgl. Eph 5, 27), bemühen sich die Christgläubigen noch, die Sünde zu besiegen und in der Heiligkeit zu wachsen. Daher richten sie ihre Augen auf Maria, die der ganzen Gemeinschaft der Auserwählten als Urbild der Tugenden voranleuchtet«<ref>Ebd., 65.</ref>. Der Pilgerweg des Glaubens gehört nicht mehr zur Mutter des Gottessohnes: An der Seite ihres Sohnes im Himmel verherrlicht, hat Maria bereits die Schwelle zwischen Glauben und Schauen »von Angesicht zu Angesicht« (1 Kor 13, 12) überwunden. Zugleich aber bleibt sie in dieser eschatologischen Vollendung der »Meeresstern« (Maris Stella)<ref>»Nimm die Sonne hinweg, die die Welt erleuchtet: Wo bleibt dann der Tag? Nimm Maria hinweg, den Stern des Meeres, ja des großen, weiten Meeres: Was wird dann bleiben außer völligem Nebel, Todesschatten und dichterster Finsternis?«: Bernhard von Clairvaux, »In Nativitate B. Mariae Sermo - De aquaeductu«, 6: »S. Bernardi Opera«, V (1968) 279; vgl. »In laudibus Virginis Matris«, Homilia II, 17: a.a.O., IV (1966) 34 f.</ref> für all diejenigen, die noch den Weg des Glaubens gehen. Wenn diese an den verschiedenen Orten irdischer Existenz die Augen zu ihr erheben, tun sie dies, weil sie »einen Sohn gebar, den Gott gesetzt hat zum Erstgeborenen unter vielen Brüdern (Röm 8, 29)«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 63.</ref> , und auch weil sie »bei der Geburt und Erziehung« vieler Brüder und Schwestern »in mütterlicher Liebe mitwirkt«<ref>Ebd., 63.</ref>.

ERSTER TEIL: MARIA IM GEHEIMNIS CHRISTI

1. Voll der Gnade

7 »Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns mit allem Segen seines Geistes gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel« (Eph 1, 3). Diese Worte des Epheserbriefes offenbaren den ewigen Plan Gottes, des Vaters, seinen Heilsplan für den Menschen in Christus. Es ist ein universaler Plan, der alle Menschen betrifft, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes (vgl. Gen. 1, 26) geschaffen sind. Wie alle »im Anfang« vom Schöpferwirken Gottes umfasst sind, so werden sie auch in Ewigkeit vom göttlichen Heilsplan umfasst, der sich ganz und gar, bis zur »Fülle der Zeit« in der Ankunft Christi, offenbaren muss. »Denn in ihm« - so lauten die folgenden Worte desselben Briefes - hat jener Gott, der der »Vater unseres Herrn Jesus Christus« ist, »uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott; er hat uns aus Liebe im voraus dazu bestimmt, seine Söhne zu werden durch Jesus Christus und nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen, zum Lob seiner herrlichen Gnade. Er hat sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn; durch sein Blut haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade« (Eph 1, 4-7).

Der göttliche Heilsplan, der uns mit dem Kommen Christi offenbart worden ist, hat auf ewig Bestand. Er ist auch - nach der Lehre dieses Epheserbriefes sowie anderer Paulusbriefe - auf ewig mit Christus verbunden. Er umfasst alle Menschen, räumt aber einen besonderen Platz jener »Frau« ein, die die Mutter dessen ist, dem der Vater das Erlösungswerk anvertraut hat<ref>Über die Vorherbestimmung Marias vgl. Johannes von Damaskus, »Hom. in Nativitatem«, 7; 10: S. Ch. 80, 65 u. 73; »Hom. in Dormitionem«, I, 3: S. Ch. 80, 85: »Sie ist es ja, die, seit alter Zeit erwählt, kraft der Vorherbestimmung und Gnade Gottes, des Vaters, der dich (das Wort Gottes) außerhalb der Zeit und ohne sich selbst zu verlassen oder zu verändern, gezeugt hat, sie also ist es, die dich in diesen letzten Zeiten geboren und mit ihrem Leib genährt hat ...«.</ref> . »Sie ist«, wie das II. Vatikanische Konzil schreibt, »schon prophetisch in der Verheißung..., die den in Sünde gefallenen Stammeltern gegeben wurde (vgl. Gen 3, 15), schattenhaft angedeutet. Ähnlich bedeutet sie die Jungfrau, die empfangen und einen Sohn gebären wird, dessen Name Immanuel sein wird« nach den Worten des Jesaja (vgl. 7, 14)<ref>»Lumen gentium«, 55.</ref>. In dieser Weise bereitet das Alte Testament jene »Fülle der Zeit« vor, wenn Gott seinen Sohn senden wird, »geboren von einer Frau, ... damit wir die Sohnschaft erlangen« (Gal 4, 4-5). Das Kommen des Gottessohnes in die Welt ist das Ereignis, das in den ersten Kapiteln der Evangelien nach Lukas und Matthäus dargestellt wird.

8 Durch dieses Ereignis, die Verkündigung des Engels, wird Maria endgültig in das Geheimnis Christi eingeführt. Dies geschieht in Nazaret in einer konkreten geschichtlichen Situation Israels, des Volkes, dem die Verheißungen Gottes zuerst gelten. Der Bote Gottes spricht zu der Jungfrau: »Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir« (Lk 1, 28). Maria »erschrak über die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe« (Lk 1, 29): was alle jene außergewöhnlichen Worte zu bedeuten haben, insbesondere der Ausdruck »du Begnadete« (»kecharitomŽne«)<ref>Zu diesem Ausdruck gibt es in der patristischen Tradition eine breite und vielfältige Auslegung: vgl. ORIGENES, »In Lucam homiliae«, VI, 7: S. Ch. 87, 148; SEVERIAN VON GABALA, »In mundi creationem«, »Oratio VI«, 10: PG 56, 497 f.; JOHANNES CHRYSOSTOMUS (Pseudonym), »In Annuntiationem Deiparae et contra Arium impium«: PG 62, 765 f.; BASILIUS VON SELEUKIA, »Oratio 39«, »In Sanctissimae Deiparae Annuntiationem«, 5: PG 85, 441-446; ANTIPATER VON BOSTRA, »Hom. II«, »In Sanctissimae Deiparae Annuntiationem«, 3-11: PG 85, 1777-1783; SOPHRONIUS VON JERUSALEM, »Oratio II«, »In Sanctissimae Deiparae Annuntiationem«, 17-19: PG 87/3, 3235-3240, Johannes von Damaskus, »Hom. in Dormitionem«, I, 7: S. Ch. 80, 96-101; HIERONYMUS, »Epistola« 65, 9: PL 22, 628; AMBROSIUS, »Expos. Evang. sec. Lucam«, II, 9: CSEL 32/4, 45 f.; AUGUSTINUS, »Sermo 291«, 4-6: PL 38, 1318 f.; »Enchiridion«, 36, 11: PL 40, 250; PETRUS CHRYSOLOGUS, »Sermo 142«: PL 52, 579 f.; »Sermo 143«: PL 52, 583; FULGENTIUS VON RUSPE, »Epistola 17«, VI, 12: PL 65, 458; BERNHARD V. CL.., »In laudibus Virginis Matris«, Homilia III, 2-3: »S. Bernardi Opera«, IV (1966) 36-38.</ref> .

Wenn wir zusammen mit Maria über diese Worte und vor allem über den Ausdruck »du Begnadete« nachdenken wollen, können wir einen sehr ergiebigen Ansatzpunkt hierfür gerade im Epheserbrief an der oben zitierten Stelle finden. Wenn die Jungfrau von Nazaret nach der Verkündigung des himmlischen Boten sogar »gesegnet ... mehr als alle anderen Frauen« (vgl. Lk 1, 42) genannt wird, so erklärt sich das durch jenen Segen, mit dem uns »Gott Vater« »durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel« gesegnet hat. Es ist ein »Segen seines Geistes«, der sich auf alle Menschen bezieht und jene allumfassende Fülle (»mit allem Segen«) enthält, wie sie aus der Liebe hervorgeht, die den wesensgleichen Sohn im Heiligen Geist mit dem Vater verbindet. Zugleich ist es ein Segen, der durch Jesus Christus in der Menschengeschichte bis zu ihrem Ende über alle Menschen ausgegossen wird. Maria aber wird von diesem Segen in einem ganz besonderen und einzigartigen Maße erfüllt. Elisabeth begrüßt sie ja als »gesegnet ... mehr als alle anderen Frauen«.

Der Grund für den doppelten Gruß ist also, dass sich in der Seele dieser »Tochter Zion« gewissermaßen die gesamte »herrliche Gnade« kundgetan hat, die der »Vater ... uns in seinem geliebten Sohn geschenkt hat«. Der Gottesbote begrüßt Maria ja als die »Begnadete«. Er nennt sie so, als ob dies ihr wahrer Name sei. Die er anspricht, nennt er nicht mit dem Namen, der ihr unter den Menschen zu eigen ist: »Miryam« (= Maria), sondern mit diesem neuen Namen: »Begnadete«. Was bedeutet dieser Name? Warum nennt der Erzengel die Jungfrau von Nazaret gerade so?

In der Sprache der Bibel bedeutet »Gnade« ein besonderes Geschenk, das seine Quelle nach dem Neuen Testament im dreifaltigen Leben Gottes selbst hat, jenes Gottes, der die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4, 8). Frucht dieser Liebe ist die »Erwählung«, von der der Epheserbrief spricht. Von Gott her ist diese »Erwählung« sein ewiger Wille, den Menschen durch die Teilhabe an seinem eigenen Leben (vgl. 2 Petr 1, 4) in Christus zu retten: Es ist die Rettung durch Teilhabe am übernatürlichen Leben. Die Wirkung dieses ewigen Geschenkes, dieser Gnade der Erwählung des Menschen durch Gott, ist wie ein Keim der Heiligkeit oder wie eine Quelle, die in der Seele des Menschen aufsprudelt als Geschenk Gottes selbst, der die Erwählten durch die Gnade belebt und heiligt. Auf diese Weise erfüllt sich, das heißt verwirklicht sich jene »Segnung« des Menschen »mit allem Segen seines Geistes«, jenes »seine Söhne werden in Christus«, in dem, der von Ewigkeit her der »geliebte Sohn« des Vaters ist.

Wenn wir lesen, dass der Bote zu Maria »du Begnadete« sagt, lässt uns der Kontext des Evangeliums, in dem alte Offenbarungen und Verheißungen zusammenfließen, verstehen, dass es sich hier um einen besonderen »Segen« unter allen »geistlichen Segnungen in Christus« handelt. Sie ist im Geheimnis Christi bereits »vor der Erschaffung der Welt« gegenwärtig als diejenige, die der Vater als Mutter seines Sohnes in der Menschwerdung »erwählt« hat und die zusammen mit dem Vater auch der Sohn erwählt hat, indem er sie von Ewigkeit her dem Geist der Heiligkeit anvertraute. Maria ist auf eine besondere und einzigartige Weise mit Christus verbunden. Auf besondere und einzigartige Weise ist sie zugleich geliebt in diesem von Ewigkeit her »geliebten Sohn«, in diesem dem Vater wesensgleichen Sohn, in dem die gesamte »herrliche Gnade« zusammengefasst ist. Gleichzeitig ist und bleibt sie vollkommen offen für dieses »Geschenk von oben« (vgl. Jak 1, 17). Wie das Konzil lehrt, »ragt (Maria) unter den Demütigen und Armen des Herrn hervor, die das Heil mit Vertrauen von ihm erhoffen und empfangen«<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 55.</ref> .

9 Wenn auch der Gruß und die Anrede »du Begnadete« all dies bedeuten, so beziehen sie sich im Zusammenhang der Verkündigung des Engels doch vor allem auf die Erwählung Marias zur Mutter des Sohnes Gottes. Zugleich aber weist die Fülle der Gnade auf das gesamte übernatürliche Gnadengeschenk hin, das Maria besitzt, weil sie zur Mutter Christi erwählt und bestimmt worden ist. Wenn diese Erwählung grundlegend ist für die Verwirklichung der Heilspläne Gottes gegenüber der Menschheit, wenn die Erwählung in Christus von Ewigkeit her und die Berufung zur Würde der Sohnschaft sich auf alle Menschen beziehen, so ist die Erwählung Marias völlig einzigartig und einmalig. Hieraus folgt dann auch die Einzigartigkeit ihrer Stellung im Geheimnis Christi.

Der Gottesbote sagt zu ihr »Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: Dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden« (Lk 1, 30-32). Und als die Jungfrau, von diesem außergewöhnlichen Gruß verwirrt, fragt: »Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?«, empfängt sie vom Engel eine Bekräftigung und Deutung der vorhergehenden Worte. Gabriel sagt ihr: »Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden« (Lk 1, 35).

Die Verkündigung ist also die Offenbarung des Geheimnisses der Menschwerdung am Beginn seiner irdischen Verwirklichung. Die erlösende Hingabe, in der Gott sich selbst, sein göttliches Leben, in gewisser Weise der ganzen Schöpfung und unmittelbar dem Menschen schenkt, erreicht im Geheimnis der Menschwerdung einen Höhepunkt. Dieses ist ja fürwahr ein Gipfel unter allen Gnadengaben in der Geschichte des Menschen und des Kosmos. Maria ist »voll der Gnade«, weil die Menschwerdung des göttlichen Wortes, die Verbindung des Gottessohnes mit der Menschennatur in einer Person (unio hypostatica), sich gerade in ihr verwirklicht und vollzieht. Wie das Konzil sagt, ist Maria »die Mutter des Sohnes Gottes und daher die bevorzugt geliebte Tochter des Vaters und das Heiligtum des Heiligen Geistes ... Durch dieses hervorragende Gnadengeschenk hat sie bei weitem den Vorrang vor allen anderen himmlischen und irdischen Kreaturen«<ref>Ebd., 53.</ref>.

10 Wo der Epheserbrief von der »herrlichen Gnade« spricht, die »Gott, der Vater, ... uns in seinem geliebten Sohn geschenkt hat«, fügt er noch hinzu: »Durch sein Blut haben wir die Erlösung« (Eph 1, 7). Nach der Lehre, wie sie von der Kirche in feierlichen Dokumenten formuliert worden ist, hat sich diese »herrliche Gnade« an der Mutter Gottes dadurch gezeigt, dass sie »auf erhabenere Weise« erlöst worden ist<ref>Vgl. PIUS IX., Apostolisches Schreiben »Ineffabilis Deus« (8.12.1854): »Pii IX P.M. Acta«, pars I, 616. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 53.</ref>. Kraft der reichen Gnade des geliebten Sohnes und wegen der Erlöserverdienste dessen, der ihr Sohn werden wollte, ist Maria vom Erbe der Ursünde bewahrt worden<ref>Vgl. GERMANUS VON KONSTANTINOPEL, »In Annuntiationem SS. Deiparae Hom.«: PG 98, 327 f.; ANDREAS VON KRETA, »Canon. in B. Mariae Natalem«, 4: PG 97, 1321 f.; »In Nativitatem B. Mariae«, I: PG 97, 811 f.; »Hom. in Dormitionem S. Mariae«, 1: PG 97, 1067 f.</ref> . Auf diese Weise gehört sie vom ersten Augenblick ihrer Empfängnis, das heißt ihrer eigenen Existenz, an zu Christus; sie hat Anteil an der heilenden und heiligmachenden Gnade und an jener Liebe, die vom »geliebten Sohn« ausgeht, dem Sohn des ewigen Vaters, der durch die Menschwerdung ihr eigener Sohn geworden ist. Darum ist es zutiefst wahr, dass Maria durch den Heiligen Geist auf der Ebene der Gnade, das heißt der Teilhabe an der göttlichen Natur (vgl. 2 Petr 1, 4), von demjenigen das Leben empfängt, dem sie selbst es, auf der Ebene irdischer Zeugung, als Mutter gegeben hat. Die Liturgie zögert nicht, sie »Tochter deines göttlichen Sohnes« zu nennen<ref>»Stundengebet« zum Hochfest von Mariä Aufnahme in den Himmel, am 15. August, Hymnus zur 1. und 2. Vesper; Petrus Damiani, »Carmina et preces«, XLVII: PL 145, 934.</ref> , und sie mit den Worten, die Dante Alighieri dem hl. Bernhard in den Mund legt, zu grüßen: »Tochter deines Sohnes«<ref>»Göttliche Komödie«, »Paradies«, XXXIII, 1; Vgl. »Stundengebet«, Mariengedenken am Samstag, 2. Hymnus zur Lesehore.</ref> . Und weil Maria dieses »neue Leben« in einer Fülle empfängt, wie sie der Liebe des Sohnes zu seiner Mutter, der Würde göttlicher Mutterschaft also, entspricht, nennt sie der Engel bei der Verkündigung »voll der Gnade«.

11 Im Heilsplan der Heiligsten Dreifaltigkeit stellt das Geheimnis der Menschwerdung die überreiche Erfüllung der Verheißung dar, die Gott den Menschen nach der Ursünde gegeben hatte, nach jener ersten Sünde, deren Folgen auf der gesamten Geschichte des Menschen auf Erden lasten (vgl. Gen 3, 15). So kommt ein Sohn zur Welt, der »Nachwuchs« einer Frau, der das Übel der Sünde an der Wurzel selbst besiegen wird: »Er trifft (die Schlange) am Kopf«. Wie aus den Worten des Protoevangeliums hervorgeht, wird der Sohn der Frau erst nach einem harten Kampf siegen, der die ganze Geschichte des Menschen durchziehen muss. Die »Feindschaft«, zu Anfang angekündigt, wird im Buch der Offenbarung, dem Buch der letzten Dinge der Kirche und der Welt, bestätigt: Hier begegnet uns erneut das Zeichen einer »Frau«, diesmal »mit der Sonne bekleidet« (Offb 12, 1).

Maria, Mutter des menschgewordenen ewigen Wortes, wird in die Mitte jener Feindschaft gestellt, jenes Kampfes, der die Geschichte der Menschheit auf Erden und auch die Heilsgeschichte selbst begleitet. An diesem Ort trägt sie, die zu den »Demütigen und Armen des Herrn« gehört, wie kein anderer unter den Menschen jene »herrliche Gnade« in sich, die der Vater »uns in seinem geliebten Sohn geschenkt hat«, und diese Gnade bestimmt die außergewöhnliche Größe und Schönheit ihres ganzen menschlichen Seins. Maria bleibt so vor Gott und auch vor der ganzen Menschheit gleichsam das bleibende und unzerstörbare Zeichen jener Erwählung durch Gott, von der der Paulusbrief spricht: »In ihm (Christus) hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, ... dazu bestimmt, seine Söhne zu werden« (Eph 1, 4. 5). Diese Erwählung ist stärker als jede Erfahrung des Bösen und der Sünde, all jener »Feindschaft«, von der die Geschichte des Menschen geprägt ist. In dieser Geschichte bleibt Maria ein Zeichen sicherer Hoffnung.

2. Selig ist, die geglaubt hat

12 Kurz nach dem Verkündigungsbericht lässt uns der Evangelist Lukas der Jungfrau von Nazaret auf ihrem Weg in »eine Stadt im Bergland von Judäa« folgen (Lk 1, 39). Nach den Gelehrten müsste diese Stadt das heutige Ain-Karim sein, das in den Bergen nicht weit von Jerusalem liegt. Maria »eilte« dorthin, um Elisabeth, ihre Verwandte, zu besuchen. Der Grund für diesen Besuch liegt auch darin, dass Gabriel bei der Verkündigung in bedeutungsvoller Weise Elisabeth genannt hat, die noch im vorgeschrittenen Alter durch Gottes mächtiges Wirken einen Sohn von ihrem Mann Zacharias empfangen hatte: »Elisabeth, deine Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen; obwohl sie als unfruchtbar galt, ist sie jetzt schon im sechsten Monat. Denn für Gott ist nichts unmöglich« (Lk 1, 36-37). Der göttliche Bote verwies auf das Geschehen in Elisabeth, um auf die Frage Marias zu antworten: »Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?« (Lk 1, 34). Ja, es wird möglich durch die »Kraft des Höchsten«, genauso, und sogar noch mehr, wie bei Elisabeth.

Maria begibt sich also aus Liebe in das Haus ihrer Verwandten. Als sie dort eintritt und Elisabeth bei der Antwort auf ihren Gruß das Kind in ihrem Leib hüpfen fühlt, da grüßt diese, »vom Heiligen Geist erfüllt«, ihrerseits Maria mit lauter Stimme: »Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes« (vgl. Lk 1, 40-42). Dieser preisende Ausruf Elisabeths sollte dann als Fortsetzung des Grußes des Engels in das Ave-Maria eingehen und so zu einem der am häufigsten gesprochenen Gebete der Kirche werden. Noch bedeutungsvoller aber sind die Worte Elisabeths in der Frage, die folgt: »Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?« (Lk 1, 43). Elisabeth gibt Zeugnis für Maria: Sie erkennt und bekennt, dass vor ihr die Mutter des Herrn, die Mutter des Messias, steht. An diesem Zeugnis beteiligt sich auch der Sohn, den Elisabeth in ihrem Schoß trägt: »Das Kind hüpfte vor Freude in meinem Leib« (Lk 1, 44). Das Kind ist der künftige Johannes der Täufer, der am Jordan auf Jesus, den Messias, hinweisen wird.

Jedes Wort im Gruß Elisabeths ist voller Bedeutung; doch von grundlegender Wichtigkeit scheint zu sein, was sie am Ende sagt: »Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ« (Lk 1, 45)<ref>Vgl. AUGUSTINUS, »De Sancta Virginitate«, III, 3: PL 40, 398; »Sermo« 25, 7: PL 46, 937 f.</ref> . Diese Worte kann man neben die Anrede »du Begnadete« beim Gruß des Engels stellen. In beiden Texten offenbart sich die Wahrheit ihres wesentlich mariologischen Inhalts, das heißt die Wahrheit über Maria, die im Geheimnis Christi gerade darum wirklich gegenwärtig geworden ist, weil sie »geglaubt hat«. Die Fülle der Gnade, die der Engel verkündet, bedeutet das Geschenk Gottes selbst; der Glaube Marias, der von Elisabeth beim Besuch gepriesen wird, zeigt, wie die Jungfrau von Nazaret auf dieses Geschenk geantwortet hat.

13 »Dem offenbarenden Gott ist der "Gehorsam des Glaubens" (Röm 16, 26; vgl. Röm 1, 5; 2 Kor 10, 5-6) zu leisten. Darin überantwortet sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit«, lehrt das Konzil<ref>Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei verbum«, 5.</ref>. Diese Umschreibung des Glaubens fand in Maria ihre vollkommene Verwirklichung. Der »entscheidende« Augenblick war die Verkündigung, und die Worte Elisabeths: »Selig ist die, die geglaubt hat« beziehen sich in erster Linie gerade auf diesen Augenblick<ref>Ein klassisches Thema, das schon von Irenäus behandelt wird: »Durch eine ungehorsame Jungfrau wurde der Mensch getroffen, stürzte nieder und starb; in gleicher Weise ist der Mensch mit der Hilfe der dem Wort Gottes gehorsamen Jungfrau durch das Leben zum Leben wiedergeboren worden. Denn es war recht und notwendig, ... dass Eva in Maria wiederhergestellt würde, damit eine Jungfrau für die Jungfrau eintrete und der Ungehorsam der einen durch den Gehorsam der anderen ausgelöscht und zerstört werde«: »Expositio doctrinae apostolicae«, 33: S. Ch. 62, 83-86; vgl. auch »Adversus haereses«, V, 19, 1: S. Ch. 153, 248-250.</ref> .

Bei der Verkündigung hat Maria sich ja vollkommen Gott überantwortet, indem sie demjenigen »den Gehorsam des Glaubens« entgegenbrachte, der durch seinen Boten zu ihr sprach, indem sie sich ihm »mit Verstand und Willen voll unterwirft«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei verbum«, 5.</ref> . Sie hat also mit ihrem ganzen menschlichen, fraulichen »Ich« geantwortet. In dieser Glaubensantwort waren ein vollkommenes Zusammenwirken mit der »zuvorkommenden und helfenden Gnade Gottes« und eine vollkommene Verfügbarkeit gegenüber dem Wirken des Heiligen Geistes enthalten, der »den Glauben ständig durch seine Gaben vervollkommnet«<ref>Ebd., 5; vgl. Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 56.</ref>.

Das Wort des lebendigen Gottes, das der Engel Maria verkündet, bezieht sich auf sie selbst: »Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären« (Lk 1, 31). Wenn Maria diese Ankündigung annahm, sollte sie die »Mutter des Herrn« werden und das göttliche Geheimnis der Menschwerdung sich in ihr vollziehen: »Der Vater der Erbarmungen wollte aber, dass vor der Menschwerdung die vorherbestimmte Mutter ihr empfangendes Ja sagte«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 56.</ref>. Und nachdem Maria alle Worte des Boten gehört hat, gibt sie diese Zustimmung. Sie sagt: »Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast« (Lk 1, 38). Dieses Fiat Marias - »mir geschehe« - hat von der menschlichen Seite her über die Verwirklichung des göttlichen Geheimnisses entschieden. Es findet sich hier eine volle Übereinstimmung mit den Worten des Sohnes, der nach dem Hebräerbrief beim Eintritt in die Welt zum Vater sagt: »Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gefordert, doch einen Leib hast du mir geschaffen ... Ja, ich komme ..., um deinen Willen, Gott, zu tun« (Hebr 10, 5-7). Das Geheimnis der Menschwerdung hat sich also vollzogen, als Maria ihr »Fiat« gesprochen hat: »Mir geschehe, wie du es gesagt hast«, indem sie, soweit es sie nach dem göttlichen Plan betraf, die Erhörung des Wunsches ihres Sohnes ermöglicht hat.

Maria hat dieses »Fiat im Glauben« gesprochen. Im Glauben hat sie sich ohne Vorbehalte Gott überantwortet und »gab sich als Magd des Herrn ganz der Person und dem Werk ihres Sohnes hin«<ref>Ebd., 56.</ref>. Und diesen Sohn - so lehren uns die Väter - hat sie, noch bevor sie ihn im Leib empfing, im Geist empfangen: eben durch den Glauben!<ref>Vgl. ebd., 53; AUGUSTINUS, »De Sancta Virginitate« III, 3: PL 40, 398; »Sermo« 215, 4: PL 38, 1074; »Sermo« 196, 1: PL 38, 10l9; »De peccatorum meritis et remissione«, I, 29, 57: PL 44, 142; »Sermo« 25, 7: PL 46, 937 f.; Leo der Große, »Tractatus 21«, »De natale Domini«, 1: CCL 138, 86.</ref> Zu Recht also lobt Elisabeth Maria: »Selig ist, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ«. Diese Worte haben sich schon erfüllt: Maria tritt über die Schwelle des Hauses Elisabeths und des Zacharias als die Mutter des Sohnes Gottes. Dies ist die freudige Entdeckung Elisabeths: »Die Mutter meines Herrn kommt zu mir«!

14 Deshalb kann auch der Glaube Marias mit dem Abrahams verglichen werden, den der Apostel »unseren Vater im Glauben« nennt (vgl. Röm 4, 12). In der Heilsordnung der Offenbarung Gottes bildet der Glaube Abrahams den Anfang des Alten Bundes. Der Glaube Marias bei der Verkündigung eröffnet den Neuen Bund. Wie Abraham »gegen alle Hoffnung voll Hoffnung geglaubt hat, dass er der Vater vieler Völker werde« (vgl. Röm 4, 18), so hat Maria, nachdem sie im Augenblick der Verkündigung ihre Jungfräulichkeit bekannt hatte (»Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?«) geglaubt, dass sie durch die Kraft des Höchsten, durch den Heiligen Geist, nach der Offenbarung des Engels die Mutter des Sohnes Gottes werden würde: »Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden« (Lk 1, 35).

Doch betreffen die Worte Elisabeths: »Selig ist, die geglaubt hat« nicht nur jenen besonderen Augenblick der Verkündigung. Gewiss ist dies der Höhepunkt für den Glauben Marias in der Erwartung Christi; sie ist aber auch der Ausgangspunkt, an dem ihr ganzer »Weg zu Gott«, ihr Glaubensweg insgesamt, beginnt. Und auf diesem Weg, der herausragend und wahrhaft heroisch ist, - ja, mit wachsendem Glaubensheroismus - wird sich der »Gehorsam« verwirklichen, den sie gegenüber dem Wort der göttlichen Offenbarung bekannt hat. Dieser »Gehorsam des Glaubens« von seiten Marias wird auf ihrem ganzen Weg überraschende Ähnlichkeiten mit dem Glauben Abrahams haben. Wie der Patriarch des Volkes Gottes hat auch Maria auf dem Weg ihres kindlichen und mütterlichen Fiat »geglaubt voll Hoffnung gegen alle Hoffnung«. Vor allem in einigen Etappen dieses Weges offenbart sich die Seligpreisung derjenigen, »die geglaubt hat«, mit besonderer Deutlichkeit. Glauben will besagen, sich der Wahrheit des Wortes des lebendigen Gottes zu »überantworten«, obwohl man darum weiß und demütig anerkennt, »wie unergründlich seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege sind« (Röm 11, 33). Maria, die sich nach dem ewigen Willen des Höchsten sozusagen im Mittelpunkt jener »unerforschlichen Wege« und jener »unergründlichen Entscheidungen« Gottes befindet, verhält sich im Halbdunkel des Glaubens entsprechend, indem sie mit offenem Herzen alles voll und ganz annimmt, was in Gottes Plan verfügt ist.

15 Als Maria bei der Verkündigung vom Sohn sprechen hört, dessen Mutter sie werden und dem sie »den Namen Jesus (= Erlöser) geben soll«, erfährt sie auch, dass ihrem Sohn »der Herr den Thron seines Vaters David geben wird«, dass er »über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft kein Ende haben wird« (Lk 1, 32-33). In diese Richtung ging die Hoffnung ganz Israels. Der verheißene Messias sollte »groß« sein, und auch der himmlische Bote verkündet, dass er »groß sein wird« - groß, sei es durch den Namen Sohn des Höchsten, sei es durch die Übernahme von Davids Erbe. Er soll also König sein und »über das Haus Jakob« herrschen. Konnte Maria, die inmitten dieser Erwartungen ihres Volkes aufgewachsen ist, im Augenblick der Verkündigung erfassen, welche wesentliche Bedeutung diese Worte des Engels haben? Wie soll man jenes »Reich« verstehen, das »kein Ende« haben wird? Wenn sie sich auch in jenem Augenblick durch ihren Glauben als Mutter des »Messias-König« fühlte, so antwortete sie doch: »Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast« (Lk 1, 38). Vom ersten Augenblick an hat Maria den »Gehorsam des Glaubens« bekannt, indem sie sich der geheimnisvollen Bedeutung überantwortete, die jenen Worten der Verkündigung derjenige gegeben hat, von dem sie kamen: Gott selbst.

16 Auf dem Weg dieses »Gehorsams des Glaubens« hört Maria etwas später noch andere Worte, die im Tempel von Jerusalem ausgesprochen werden. Es war der vierzigste Tag nach der Geburt Jesu, als Maria und Josef nach der Vorschrift des mosaischen Gesetzes »das Kind nach Jerusalem hinaufbrachten, um es dem Herrn zu weihen« (Lk 2, 22). Die Geburt war in größter Armut erfolgt. Wir wissen ja von Lukas, dass Maria, als sie sich anlässlich der von der römischen Obrigkeit angeordneten Volkszählung mit Josef nach Betlehem begab und sich »in der Herberge kein Platz« für sie fand, ihren Sohn in einem Stall geboren hat und »ihn in eine Krippe legte« (vgl. Lk 2, 7).

Ein gerechter und gottesfürchtiger Mann namens Simeon erscheint an jenem Beginn des Glaubensweges Marias. Seine Worte, die vom Heiligen Geist eingegeben wurden (vgl. Lk 2, 25-27), bestätigen einerseits die Wahrheit der Verkündigung. Wir lesen nämlich, dass er das Kind »in seine Arme nahm«, dem - nach dem Auftrag des Engels - »der Name Jesus gegeben worden war« (vgl. Lk 2, 21). Die Rede Simeons entspricht dem Inhalt dieses Namens, der Heiland bedeutet: »Gott ist Heil«. Zum Herrn gewandt, sagt er: »Meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel« (Lk 2, 30. 32). Zugleich aber wendet sich Simeon auch an Maria mit den folgenden Worten: »Dieser ist dazu bestimmt, dass viele in Israel durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden«. Und mit direktem Bezug auf Maria fügt er hinzu: »Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« (vgl. Lk 2, 34. 35). Die Worte Simeons werfen auf die Verkündigung, die Maria vom Engel gehört hat, ein neues Licht: Jesus ist der Heiland, er ist »Licht«, das die Menschen »erleuchtet«. Ist es nicht das, was sich in gewisser Weise in der Nacht von Weihnachten offenbart hat, als die Hirten zum Stall gekommen sind? (vgl. Lk 2, 8-20). Ist es nicht das, was sich noch deutlicher im Kommen der Weisen aus dem Morgenland kundtun sollte? (vgl. Mt 2, 1-12). Zugleich aber wird der Sohn Marias schon am Anfang seines Lebens - und mit ihm seine Mutter - auch die Wahrheit der anderen Worte Simeons an sich erfahren: »Zeichen, dem widersprochen wird« (Lk 2, 34). Dieses Wort Simeons erscheint wie eine zweite Verkündigung an Maria; denn es zeigt ihr die konkrete geschichtliche Dimension, in der ihr Sohn seine Sendung ausführen wird, nämlich im Unverständnis und im Leid. Wenn eine solche Ankündigung einerseits ihren Glauben an die Erfüllung der göttlichen Heilsverheißungen bestätigt ,so offenbart sie andererseits auch, dass Maria ihren Glaubensgehorsam im Leid leben muss, an der Seite des leidenden Heilandes, und dass ihre Mutterschaft umschattet und schmerzenreich sein wird. Und in der Tat, schon nach dem Besuch der Weisen, nach ihrer Ehrenbezeugung (»sie fielen nieder und huldigten ihm«), nach der Übergabe der Geschenke (vgl. Mt 2, 11) muss Maria zusammen mit ihrem Kind unter dem sorgenden Schutz Josefs nach Ägypten fliehen; denn »Herodes suchte das Kind, um es zu töten« (vgl. Mt 2, 13). Und bis zum Tode des Herodes werden sie in Ägypten bleiben müssen (vgl. Mt 2, 15).

17 Als die heilige Familie nach dem Tode des Herodes nach Nazaret zurückkehrt, beginnt die lange Periode ihres verborgenen Lebens. Diejenige, »die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ« (Lk 1, 45), lebt jeden Tag den Inhalt dieser Worte. Täglich ist an ihrer Seite der Sohn, dem sie »den Namen Jesus gegeben hat«; gewiss benutzte sie im Umgang mit ihm diesen Namen, der übrigens bei niemandem Verwunderung erregen konnte, da er seit langer Zeit in Israel gebräuchlich war. Dennoch weiß Maria, dass jener, der den Namen Jesus trägt, vom Engel »Sohn des Höchsten« genannt worden ist (vgl. Lk 1, 32). Maria weiß, dass sie ihn empfangen und geboren hat, »ohne einen Mann zu erkennen«, durch den Heiligen Geist, durch die Kraft des Höchsten, die sie überschattet hat (vgl. Lk 1, 35), so wie die Wolke zur Zeit des Mose und der Väter die Gegenwart Gottes umhüllte (vgl. Ex 24, 16; 40, 34-35; 1 Kön 8, 10-12). Maria weiß also, dass der Sohn, der von ihr auf diese Weise jungfräulich geboren worden ist, eben jener »Heilige«, »der Sohn Gottes« ist, von dem der Engel gesprochen hat.

Während der Jahre des verborgenen Lebens Jesu im Haus von Nazaret ist auch das Leben Marias »mit Christus verborgen in Gott« (vgl. Kol 3, 3) durch den Glauben. Der Glaube ist nämlich eine Berührung mit dem Geheimnis Gottes. Maria ist ständig, täglich in Berührung mit dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes, der Mensch geworden ist, einem Geheimnis, das alles übersteigt, was im Alten Bund offenbart worden ist. Seit dem Augenblick der Verkündigung ist der Geist der Jungfrau und Mutter in die völlige »Neuheit« der Selbstoffenbarung Gottes eingeführt und sich dieses Geheimnisses bewusst geworden. Sie ist die erste jener »Kleinen«, von denen Jesus eines Tages sagen wird: »Vater, ... du hast all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart« (Mt 11, 25). Denn »niemand kennt den Sohn, nur der Vater« (Mt 11, 27). Wie kann also Maria »den Sohn kennen«? Natürlich kennt sie ihn nicht wie der Vater. Und doch ist sie die erste unter denen, denen der Vater »ihn hat offenbaren wollen« (vgl. Mt 11, 26-27; 1 Kor 2, 11). Wenn Maria aber vom Augenblick der Verkündigung an der Sohn offenbart worden ist, von dem nur der Vater die volle Wahrheit kennt als derjenige, der ihn im ewigen »Heute« zeugt (vgl. Ps 2, 7), so ist sie, die Mutter, mit der Wahrheit ihres Sohnes nur im Glauben und durch den Glauben in Berührung! Sie ist also selig, weil sie »geglaubt hat« und jeden Tag glaubt inmitten der Prüfungen und Widerwärtigkeiten in der Zeit der Kindheit Jesu und dann während der Jahre seines verborgenen Lebens in Nazaret, wo Jesus »ihnen gehorsam war« (Lk 2, 51): gehorsam Maria und auch Josef gegenüber, weil dieser vor den Menschen die Stelle des Vaters vertrat; deswegen wurde der Sohn Marias von den Leuten als »der Sohn des Zimmermanns« angesehen (Mt 13, 55).

Die Mutter jenes Sohnes, eingedenk all dessen, was ihr bei der Verkündigung und den nachfolgenden Begebenheiten gesagt worden ist, trägt also die völlige »Neuheit« des Glaubens in sich: den Anfang des Neuen Bundes. Dieser ist der Anfang des Evangeliums, der guten, frohen Botschaft. Es ist aber nicht schwer, in jenem Anfang auch eine besondere Mühe des Herzens zu erkennen, die mit einer gewissen »Glaubensnacht« verbunden ist - um ein Wort des hl. Johannes vom Kreuz zu gebrauchen -, gleichsam ein »Schleier«, durch den hindurch man sich dem Unsichtbaren nahen und mit dem Geheimnis in Vertrautheit leben muss<ref>Vgl. »Der Aufstieg zum Berge Karmel«, Buch II, Kap. 3, 4-6.</ref> . Auf diese Weise lebte Maria viele Jahre in Vertrautheit mit dem Geheimnis ihres Sohnes und schritt voran auf ihrem »Glaubensweg«, während Jesus »an Weisheit zunahm und Gefallen fand bei Gott und den Menschen« (Lk 2, 52). Immer mehr offenbarte sich vor den Augen der Menschen die besondere Liebe, die Gott für ihn hatte. Die erste unter diesen menschlichen Geschöpfen, die Christus immer tiefer erkennen durften, war Maria, die mit Josef im selben Haus in Nazaret lebte.

Als die Eltern den zwölfjährigen Jesus im Tempel wiederfanden und seine Mutter ihn fragte: »Wie konntest du uns das antun«, antwortete dieser: »Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?«. Aber der Evangelist fügt hinzu: »Doch sie (Josef und Maria) verstanden nicht, was er damit sagen wollte« (Lk 2, 48-50). Jesus war sich also bewusst, dass »den Sohn nur der Vater kennt« (vgl. Mt 11, 27). Sogar diejenige, der das Geheimnis seiner göttlichen Sohnschaft tiefer offenbart worden war, seine Mutter, lebte nur durch den Glauben in Vertrautheit mit diesem Geheimnis! An der Seite ihres Sohnes, unter demselben Dach, »bewahrte sie die Verbundenheit mit dem Sohn in Treue« und schritt voran »auf dem Pilgerweg des Glaubens«, wie es das Konzil unterstreicht<ref>Vgl. Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 58.</ref>. So tat sie es auch während des öffentlichen Lebens Christi (vgl. Mk 3, 21-35), wobei sich an ihr täglich die Seligpreisung erfüllte, die bei ihrem Besuch von Elisabeth ausgesprochen worden war: »Selig ist, die geglaubt hat«.

18 Diese Seligpreisung erreicht ihre volle Bedeutung, als Maria unter dem Kreuze ihres Sohnes steht (vgl. Joh 19, 25). Das Konzil betont, dass das »nicht ohne göttliche Absicht« geschah: Dadurch dass Maria »heftig mit ihrem Eingeborenen litt und sich mit seinem Opfer in mütterlichem Geist verband, indem sie der Darbringung des Opfers, das sie geboren hatte, liebevoll zustimmte«, bewahrte sie »ihre Verbundenheit mit dem Sohn in Treue bis zum Kreuz«<ref>Ebd., 58.</ref> : die Verbundenheit durch den Glauben, denselben Glauben, mit dem es ihr möglich geworden war, im Augenblick der Verkündigung die Offenbarung des Engels anzunehmen. Sie hatte damals auch die Worte vernommen: »Er wird groß sein ... Der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben« (Lk 1, 32-33).

Und nun, zu Füßen des Kreuzes, ist Maria, menschlich gesprochen, Zeuge einer völligen Verneinung dieser Worte. Ihr Sohn stirbt an jenem Holze wie ein Ausgestoßener. »Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen ...; er war verachtet, und man schätzte ihn nicht«: fast völlig vernichtet (vgl. Jes 53, 3-5). Wie groß, wie heroisch ist somit »der Gehorsam des Glaubens«, den Maria angesichts dieser »unergründlichen Entscheidungen« Gottes zeigt. Wie hat sie sich ohne Vorbehalt »Gott überantwortet«, indem sie sich demjenigen »mit Verstand und Willen voll unterwirft«<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei verbum«, 5.</ref> , dessen »Wege unerforschlich sind« (vgl. Röm 11, 33)! Und wie mächtig ist zugleich das Wirken der Gnade in ihrer Seele, wie durchdringend der Einfluss des Heiligen Geistes, seines Lichtes und seiner Kraft.

Durch diesen Glauben ist Maria vollkommen mit Christus in seiner Entäußerung verbunden. Denn obwohl Jesus Christus »Gott gleich war, hielt er nicht daran fest ..., sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich«: Gerade hier auf Golgota »erniedrigte er sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz« (vgl. Phil 2, 8). Und am Fuß des Kreuzes nahm Maria durch den Glauben teil an dem erschütternden Geheimnis dieser Entäußerung. Dies ist vielleicht die tiefste »kenosis« (Entäußerung) des Glaubens in der Geschichte des Menschen: Durch den Glauben nimmt Maria teil am Tod des Sohnes - an seinem Erlösertod. Im Gegensatz zum Glauben der Jünger, die flohen, besaß sie aber einen erleuchteteren Glauben. Durch das Kreuz hat Jesus auf Golgota endgültig bestätigt, dass er das »Zeichen ist, dem widersprochen wird«, wie Simeon vorhergesagt hatte. Gleichzeitig haben sich dort auch jene Worte erfüllt, die dieser an Maria gerichtet hatte: »Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen«<ref>Über die Teilnahme oder das »Mitleiden« Marias beim Tode Christi vgl. Bernhard von Clairvaux, »In Dominica infra octavam Assumptionis Sermo«, 14: »S. Bernardi Opera«, V (1968) 273.</ref> .

19 In der Tat, wahrhaft »selig ist, die geglaubt hat«! Diese erhabenen Worte, die Elisabeth nach der Verkündigung gesprochen hat, scheinen hier, zu Füßen des Kreuzes, in ihrer dichtesten Bedeutung widerzuhallen, und die in ihnen enthaltene Kraft wird überwältigend. Vom Kreuz, sozusagen von der Herzmitte des Geheimnisses der Erlösung, geht ein Lichtstrahl aus und erweitert den Horizont jener Seligpreisung des Glaubens. Sie reicht »bis zum Anfang« zurück und wird in gewissem Sinn das Gegengewicht zum Ungehorsam und Unglauben, die in der Sünde der Stammeltern enthalten sind. So lehren die Kirchenväter und vor allem Irenäus, der von der Konstitution »Lumen gentium« zitiert wird: »Der Knoten des Ungehorsams der Eva ist gelöst worden durch den Gehorsam Marias; was die Jungfrau Eva durch den Unglauben gebunden hat, das hat die Jungfrau Maria durch den Glauben gelöst«<ref>IRENÄUS, »Adversus haereses«, III, 22, 4: S. Ch. 211, 438-444; vgl. Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 56, Anm. 6.</ref> . Im Licht dieses Vergleiches mit Eva nennen die Väter - wie das Konzil weiter sagt - Maria »die Mutter der Lebendigen« und betonen oft: »Der Tod kam durch Eva, das Leben durch Maria«<ref>Vgl. »Lumen gentium«, 56 und die dort in den Anmerkungen 8 u. 9 zitierten Väter.</ref>. Mit Recht können wir also in jenem Satz »Selig ist, die geglaubt hat« gleichsam einen Schlüssel suchen, der uns die innerste Wirklichkeit Marias erschließt: derjenigen, die der Engel im Augenblick der Verkündigung als »voll der Gnade« bezeichnet hat. Wenn sie als die »Begnadete« seit Ewigkeit im Geheimnis Christi gegenwärtig gewesen ist, so erhält sie durch den Glauben in vollem Umfang Anteil an seinem irdischen Lebensweg: Sie schritt voran auf dem »Pilgerweg des Glaubens«. Zugleich macht sie auf diskrete, aber unmittelbare und wirksame Weise dieses Geheimnis Christi für die Menschen gegenwärtig. Und sie tut dies noch immer und ist durch das Geheimnis Christi auch selbst unter den Menschen zugegen.

3. Siehe, deine Mutter

20 Das Lukasevangelium berichtet von der Begebenheit, da »eine Frau aus der Menge Jesus zurief: Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat!« (Lk 11, 27). Diese Worte sind ein Lob für Maria als leibliche Mutter Jesu. Die Mutter Jesu war dieser Frau vielleicht nicht persönlich bekannt; als Jesus nämlich seine messianische Tätigkeit begann, hat ihn Maria nicht begleitet, sondern blieb weiterhin in Nazaret. Man könnte sagen, dass die Worte jener unbekannten Frau sie in gewisser Weise aus ihrer Verborgenheit haben heraustreten lassen.

Durch jene Worte ist in der Menge, wenigstens für einen Augenblick, das Evangelium von der Kindheit Jesu aufgeleuchtet. Es ist das Evangelium, in dem Maria gegenwärtig ist als die Mutter, die Jesus in ihrem Schoß empfängt, ihn zur Welt bringt und mütterlich stillt: die stillende Mutter, auf die jene Frau aus der Menge anspielt. Durch diese Mutterschaft ist Jesus - der Sohn des Höchsten (vgl. Lk 1, 32) - ein wahrer Menschensohn. Er ist »Fleisch« wie jeder Mensch: »Das Wort ist Fleisch geworden« (vgl. Joh 1, 14). Er ist Fleisch und Blut Marias!<ref>»Christus ist Wahrheit, Christus ist Fleisch: Christus als Wahrheit im Geist Marias, Christus als Fleisch im Schoß Marias«: AUGUSTINUS, »Sermo 25« (Sermones inediti), 7: PL 46, 938.</ref> Auf die Seligpreisung, die jene Frau gegenüber seiner leiblichen Mutter ausspricht, antwortet Jesus jedoch auf bezeichnende Weise: »Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen« (Lk 11, 28). Er will die Aufmerksamkeit von der als leibliche Bindung verstandenen Mutterschaft ablenken, um auf jene geheimnisvollen geistigen Bande hinzuweisen, die sich im Hören und Befolgen des Wortes Gottes bilden.

Derselbe Verweis auf den Bereich der geistigen Werte zeigt sich noch deutlicher in einer anderen Antwort Jesu, die von allen Synoptikern berichtet wird. Als Jesus gemeldet wird, dass seine »Mutter und seine Brüder draußen stehen und ihn sprechen möchten«, antwortet er: »Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln« (vgl. Lk 8, 20-21). Das sagte er, indem er »auf die Menschen blickte, die im Kreis um ihn herumsaßen«, wie wir bei Markus lesen (3, 34), nach Matthäus (12, 49), indem »er die Hand über seine Jünger ausstreckte«.

Diese Aussagen scheinen auf der Linie dessen zu liegen, was der zwölfjährige Jesus zu Maria und Josef gesagt hat, als sie ihn nach drei Tagen im Tempel von Jerusalem fanden. Nun, da Jesus Nazaret verließ und sein öffentliches Leben in ganz Palästina begann, war er bereits vollkommen und ausschließlich mit dem beschäftigt, »was seinem Vater gehört« (vgl. Lk 2, 49). Er verkündete das Reich Gottes: »Reich Gottes« und »Dinge des Vaters« sind auch eine neue Dimension und eine neue Sinngebung für all das, was menschlich ist, und somit auch für jede menschliche Bindung hinsichtlich der Ziele und Aufgaben, die jedem Menschen gestellt sind. In dieser neuen Dimension bedeutet auch eine Bindung wie jene der »Brüderlichkeit« etwas anderes als das »Brudersein nach dem Fleisch«, das durch die gemeinsame Abstammung von denselben Eltern bestimmt wird. Und sogar die »Mutterschaft« erhält in der Dimension des Reiches Gottes, im Licht der Vaterschaft Gottes selbst, einen anderen Sinn. Mit den von Lukas berichteten Worten lehrt Jesus genau diesen neuen Sinn der Mutterschaft. Entfernt er sich damit von derjenigen, die seine Mutter, seine leibliche Mutter, ist? Will er sie etwa im Schatten der Verborgenheit lassen, die sie selber gewählt hat? Wenn es auch nach dem Klang der Worte so scheinen könnte, so muss man doch feststellen, dass die neue und andere Mutterschaft, von der Jesus zu den Jüngern spricht, in einer ganz besonderen Weise gerade auf Maria zutrifft. Ist nicht gerade Maria die erste unter denen, »die das Wort Gottes hören und danach handeln«? Und bezieht sich nicht vor allem auf sie jene Seligpreisung, die von Jesus als Antwort auf die Worte der »Frau aus der Menge« ausgesprochen wird? Ohne Zweifel ist Maria dieser Seligpreisung würdig, schon aufgrund der Tatsache, dass sie für Jesus die Mutter nach dem Fleisch geworden ist (»Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat«), aber auch und vor allem deswegen, weil sie schon im Augenblick der Verkündigung das Wort Gottes angenommen hat, weil sie ihm geglaubt hat, weil sie Gott gegenüber gehorsam war, weil sie das Wort »bewahrte« und »es in ihrem Herzen erwog« (vgl. Lk 1, 38. 45; 2, 19. 51) und es mit ihrem ganzen Leben verwirklichte. Wir können deshalb sagen, dass die von Jesus ausgesprochene Seligpreisung trotz des Anscheins nicht im Gegensatz zu jener Seligpreisung steht, die von der »Frau aus der Menge« ausgerufen worden ist, sondern dass sich beide in der Person jener Mutter und Jungfrau begegnen, die allein sich als »Magd des Herrn« bezeichnet hat (Lk 1, 38). Wenn es wahr ist, dass »alle Geschlechter sie selig preisen« (vgl. Lk 1, 48), kann man sagen, dass jene unbekannte »Frau aus der Menge« die erste gewesen ist, die ohne ihr Wissen jenen prophetischen Vers von Marias Magnifikat bestätigt und selbst das Magnifikat der Jahrhunderte eröffnet hat.

Wenn Maria durch den Glauben die leibliche Mutter des ewigen Sohnes geworden ist, der ihr in der Kraft des Heiligen Geistes vom Vater gegeben worden ist, wobei sie ihre Jungfräulichkeit unversehrt bewahrte, so hat sie in demselben Glauben die andere Dimension der Mutterschaft entdeckt und angenommen, die von Jesus während seiner messianischen Sendung offenbart worden ist. Man kann sagen, dass diese Dimension der Mutterschaft schon von Anfang an, das heißt vom Augenblick der Empfängnis und Geburt ihres Sohnes an, Maria zu eigen war. Von da an war sie diejenige, »die geglaubt hat«. Als sich aber allmählich vor ihren Augen und in ihrem Geiste die messianische Sendung des Sohnes klärte, öffnete sie selbst sich als Mutter immer mehr jener »Neuheit« der Mutterschaft, welche ihren »Anteil« an der Seite des Sohnes darstellen sollte. Hatte sie nicht von Anfang an gesagt: »Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast« (Lk 1, 38)? Im Glauben fuhr sie fort, jenes Wort zu hören und zu bedenken, in dem ihr in einer Weise, »die alle Erkenntnis übersteigt« (Eph 3, 19), die Selbstoffenbarung des lebendigen Gottes immer offenkundiger wurde. Maria, die Mutter, wurde so in gewissem Sinn die erste »Jüngerin« ihres Sohnes, die erste, der er zu sagen schien: »Folge mir nach«, noch bevor er diesen Ruf an die Apostel oder an jemand anderen richtete (vgl. Joh 1, 43).

21 Besonders beredt ist unter diesem Gesichtspunkt der Text des Johannesevangeliums, der uns Maria bei der Hochzeit zu Kana zeigt. Maria erscheint hier als Mutter Jesu am Beginn seines öffentlichen Lebens: »Es fand eine Hochzeit in Kana in Galiläa statt, und die Mutter Jesu war dabei. Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit eingeladen« (Joh 2, 1-2). Aus dem Text könnte man schließen, dass Jesus und seine Jünger zusammen mit Maria eingeladen waren, gleichsam wegen ihrer Anwesenheit bei diesem Fest: Der Sohn scheint wegen der Mutter eingeladen zu sein. Die Folge der mit dieser Einladung verbundenen Ereignisse ist bekannt, jener »Anfang der Zeichen« Jesu - die Verwandlung des Wassers in Wein -, der den Evangelist sagen lässt: Jesus »offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn« (Joh 2, 11).

Maria ist zu Kana in Galiläa als Mutter Jesu anwesend und trägt in bezeichnender Weise zu jenem »Anfang der Zeichen« bei, die die messianische Kraft ihres Sohnes offenbaren: »Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen« (Joh 2, 3-4). Im Johannesevangelium bezeichnet jene »Stunde« den vom Vater bestimmten Augenblick, in welchem der Sohn sein Werk erfüllt und verherrlicht werden soll (vgl. Joh 7, 30; 8, 20; 12, 23. 27; 13, 1; 17, 1; 19, 27). Obwohl die Antwort Jesu an seine Mutter scheinbar wie eine Zurückweisung klingt (vor allem, wenn man weniger seine Frage als vielmehr die entschiedene Feststellung beachtet: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen«), wendet sich Maria dennoch an die Diener und sagt zu ihnen: »Was er euch sagt, das tut« (Joh 2, 5). Darauf befiehlt Jesus dem Dienern, die Krüge mit Wasser zu füllen, und das Wasser wird zu Wein, besser als jener, der zuerst den Gästen des Hochzeitsmahles serviert worden ist.

Welch tiefes Einverständnis gab es zwischen Jesus und seiner Mutter? Wie soll man das Geheimnis ihrer inneren geistigen Einheit erforschen? Das Geschehen selbst aber ist deutlich. Es ist gewiss, dass sich in jenem Ereignis schon recht klar die neue Dimension, der neue Sinn der Mutterschaft Marias abzeichnet. Sie hat eine Bedeutung, die nicht ausschließlich in den Worten Jesu und in den verschiedenen Ereignissen enthalten ist, wie sie die Synoptiker berichten (Lk. 11, 27-28; 8, 19-21; Mt 12, 46-50; Mk 3, 31-35). In diesen Texten will Jesus vor allem die Mutterschaft, die sich aus der Geburt selbst ergibt, dem gegenüberstellen, was jene »Mutterschaft« (wie die »Bruderschaft«) in der Dimension des Gottesreiches, im Heilsbereich der Vaterschaft Gottes sein soll. Im johanneischen Text hingegen zeichnet sich in der Darstellung des Ereignisses von Kana ab, was sich konkret als neue Mutterschaft nach dem Geist und nicht nur aus dem Fleisch erweist, nämlich die Sorge Marias für die Menschen, ihre Hinwendung zu ihnen in der ganzen Breite ihrer Bedürfnisse und Nöte. Zu Kana in Galiläa wird nur ein konkreter Aspekt der menschlichen Bedürftigkeit gezeigt, scheinbar nur klein und von geringer Bedeutung (»Sie haben keinen Wein mehr«). Aber er hat symbolischen Wert: Jene Hinwendung zu den Bedürfnissen der Menschen bedeutet zugleich, sie in den Bereich der messianischen Sendung und erlösenden Macht Christi zu führen. Es liegt also eine Vermittlung vor: Maria stellt sich zwischen ihren Sohn und die Menschen in der Situation ihrer Entbehrungen, Bedürfnisse und Leiden. Sie stellt sich »dazwischen«, das heißt, sie macht die Mittlerin, nicht wie eine Fremde, sondern in ihrer Stellung als Mutter, und ist sich bewusst, dass sie als solche dem Sohn die Nöte der Menschen vortragen kann, ja sogar das »Recht« dazu hat. Ihre Vermittlung hat also den Charakter einer Fürsprache: Maria »spricht für« die Menschen. Nicht nur das: Als Mutter möchte sie auch, dass sich die messianische Macht des Sohnes offenbart, nämlich seine erlösende Kraft, die darauf gerichtet ist, dem Menschen im Unglück zur Hilfe zu eilen, ihn vom Bösen zu befreien, das in verschiedenen Formen und Maßen auf seinem Leben lastet. Ganz wie es der Prophet Jesaja in dem berühmten Text, auf den sich Jesus vor seinen Landsleuten in Nazaret berufen hat, vom Messias angekündet hatte: »... den Armen eine gute Nachricht bringen, den Gefangenen die Entlassung verkünden und den Blinden das Augenlicht...« (vgl. Lk 4, 18).

Ein anderes wesentliches Element dieser mütterlichen Aufgabe Marias kommt in den Worten an die Diener zum Ausdruck: »Was er euch sagt, das tut«. Die Mutter Christi zeigt sich vor den Menschen als Sprecherin für den Willen des Sohnes, als Wegweiserin zu jenen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sich die erlösende Macht des Messias offenbaren kann. Wegen der Fürsprache Marias und dem Gehorsam der Diener lässt Jesus in Kana »seine Stunde« beginnen. In Kana zeigt Maria ihren Glauben an Jesus: Ihr Glaube führt zum ersten »Zeichen« und trägt dazu bei, den Glauben der Jünger zu wecken.

22 Wir können also sagen, dass wir in diesem Abschnitt des Johannesevangeliums gleichsam ein erstes Aufleuchten der Wahrheit von der mütterlichen Sorge Marias finden. Diese Wahrheit hat auch in der Lehre des letzten Konzils ihren Ausdruck gefunden. Es ist wichtig festzustellen, wie dort die mütterliche Aufgabe Marias in ihrer Beziehung zur Mittlerschaft Christi dargestellt wird. Wir lesen dort nämlich: »Marias mütterliche Aufgabe gegenüber den Menschen aber verdunkelt oder mindert diese einzige Mittlerschaft Christi in keiner Weise, sondern zeigt ihre Wirkkraft«; denn »einer (ist) Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus« (1 Tim 2, 5). Diese mütterliche Aufgabe fließt nach dem Wohlgefallen Gottes »aus dem Überfluss der Verdienste Christi, stützt sich auf seine Mittlerschaft, hängt von ihr vollständig ab und schöpft aus ihr seine ganze Wirkkraft«<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 60.</ref>. Genau in diesem Sinne bietet uns das Geschehen zu Kana in Galiläa gleichsam ein erstes Aufleuchten der Mittlerschaft Marias, die ganz auf Christus bezogen und auf die Offenbarung seiner Heilsmacht ausgerichtet ist. Aus dem johanneischen Text geht hervor, dass es sich um eine mütterliche Vermittlung handelt. Entsprechend verkündet das Konzil: Maria »ist ... uns in der Ordnung der Gnade Mutter«. Diese Mutterschaft in der Ordnung der Gnade ist aus ihrer göttlichen Mutterschaft selbst hervorgegangen. Weil sie nach dem Willen der göttlichen Vorsehung Mutter und Ernährerin des Erlösers war, ist sie auch »in einzigartiger Weise vor den anderen hochherzige Gefährtin und demütige Magd des Herrn« geworden und hat »beim Werk der Erlösung ... in Gehorsam, Glaube, Hoffnung und brennender Liebe mitgewirkt zur Wiederherstellung des übernatürlichen Lebens der Seelen«<ref>Ebd., 61.</ref>. »Diese Mutterschaft Marias in der Gnadenordnung dauert unaufhörlich fort ... bis zur ewigen Vollendung aller Auserwählten«<ref>Ebd., 62.</ref> .

23 Wenn der Abschnitt des Johannesevangeliums über das Geschehen in Kana die Muttersorge Marias zu Beginn des messianischen Wirkens Christi darstellt, bestätigt eine andere Stelle desselben Evangeliums diese Mutterschaft in der Heilsordnung der Gnade an ihrem Höhepunkt, das heißt, als sich das Kreuzesopfer Christi, sein österliches Geheimnis, vollendet. Die Darstellung des Johannes ist kurz und knapp: »Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich« (Joh 19, 25-27).

Zweifellos ist in diesem Vorgang ein Ausdruck der besonderen Sorge des Sohnes für die Mutter zu sehen, die er in einem so tiefen Schmerz zurücklässt. Über den Sinn dieser Fürsorge sagt das »Kreuzestestament« Christi jedoch noch mehr aus. Jesus macht ein neues Band zwischen Mutter und Sohn deutlich, dessen ganze Wahrheit und Wirklichkeit er feierlich bestätigt. Wenn die Mutterschaft Marias gegenüber den Menschen bereits früher angedeutet worden ist, wird sie nun - so kann man sagen - klar gefasst und festgelegt: Sie geht aus der endgültigen Vollendung des österlichen Geheimnisses des Erlösers hervor. Die Mutter Christi, die in der unmittelbaren Reichweite dieses Geheimnisses steht, das den Menschen - jeden einzelnen und alle - umfasst, wird diesem - jedem einzelnen und allen - als Mutter gegeben. Dieser Mensch zu Füßen des Kreuzes ist Johannes, »der Jünger, den er liebte«<ref>Bekannt ist, was Origenes zur Anwesenheit von Maria und Johannes auf Kalvaria geschrieben hat: »Die Evangelien sind die Erstlingsfrüchte der Heiligen Schrift, und das Johannesevangelium ist das erste der Evangelien. Niemand kann seine Bedeutung erfassen, wenn er nicht den Kopf an die Brust Jesu gelegt und nicht von Jesus Maria als Mutter erhalten hat«: »Comm. in Ioan.« 1, 6: PG 14, 31; vgl. AMBROSIUS, »Expos. Evang. sec. Luc.«, X, 129-131: CSEL 32/4, 504 f.</ref> . Aber nicht er allein. In Anlehnung an die Tradition zögert das Konzil nicht, Maria »Mutter Christi und Mutter der Menschen« zu nennen. In der Tat »findet sie sich mit allen ... Menschen in der Nachkommenschaft Adams verbunden ...; ja, "sie ist wahrhaft Mutter der Glieder (Christi), ... denn sie hat in Liebe mitgewirkt, dass die Gläubigen in der Kirche geboren würden"«<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 54 und 53; der zweite Konzilstext ist ein Zitat aus AUGUSTINUS, »De Sancta Virginitate«, VI, 6: PL 40, 399.</ref>. Diese »neue Mutterschaft Marias«, aus dem Glauben gezeugt, ist also eine Frucht der »neuen« Liebe, die in ihr unter dem Kreuz, durch ihre Teilnahme an der erlösenden Liebe des Sohnes, zur vollen Reife gekommen ist.

24 Wir befinden uns so mitten in der Erfüllung jener Verheißung, die im Protoevangelium enthalten ist: Er (der Nachwuchs der Frau) »wird der Schlange den Kopf zermalmen« (vgl. Gen 3, 15). Jesus Christus besiegt ja in der Tat mit seinem Erlösertod das Übel der Sünde und des Todes an der Wurzel selbst. Es ist bezeichnend, dass er, als er sich vom Kreuz herab an die Mutter wendet, sie »Frau« nennt und zu ihr sagt: »Frau, siehe, dein Sohn«. Mit dem gleichen Wort hatte er sie ja auch in Kana angesprochen (vgl. Joh 2, 4). Kann man bezweifeln, dass gerade jetzt, auf Golgota, dieser Satz in die Tiefe des Geheimnisses Marias vordringt und die einzigartige Stellung berührt, die sie in der ganzen Heilsordnung einnimmt? So lehrt das Konzil: Mit Maria »als der erhabenen Tochter Zions ist schließlich nach langer Erwartung der Verheißung die Zeit erfüllt und die neue Heilsökonomie begonnen, als der Sohn Gottes die Menschennatur aus ihr annahm, um durch die Mysterien seines Fleisches den Menschen von der Sünde zu befreien«<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 55.</ref>.

Die Worte, die Jesus vom Kreuz herab spricht, bedeuten, dass die Mutterschaft derer, die ihn geboren hat, sich in der Kirche und durch die Kirche »neu« fortsetzt, die durch Johannes symbolisiert und dargestellt wird. Sie, die als die »Begnadete« in das Geheimnis Christi eingeführt worden ist, um seine Mutter zu werden und so heilige Gottesgebärerin zu sein, bleibt auf diese Weise durch die Kirche in jenem Geheimnis zugegen als »die Frau«, die vom Buch der Genesis (3, 15) am Anfang und von der Offenbarung des Johannes (12, 1) am Ende der Heilsgeschichte genannt wird. Nach dem ewigen Plan der Vorsehung soll sich die göttliche Mutterschaft Marias über die Kirche ausbreiten, wie es Aussagen der Tradition andeuten, wonach die Mutterschaft Marias über die Kirche der Abglanz und die Fortsetzung ihrer Mutterschaft über den Sohn Gottes ist<ref>Vgl. Leo der Große, »Tractatus 26«, »De natale Domini«, 2: CCL 138, 126.</ref>.

Schon die Stunde selbst, da die Kirche geboren wird und ganz offen vor die Welt tritt, lässt nach dem Konzil diese fortdauernde Mutterschaft Marias erkennen: »Da es aber Gott gefiel, das Sakrament des menschlichen Heils nicht eher feierlich zu verkünden, als bis er den verheißenen Heiligen Geist ausgegossen hatte, sehen wir die Apostel vor dem Pfingsttag "einmütig im Gebet verharren mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern" (Apg 1, 14) und Maria mit ihren Gebeten die Gabe des Geistes erflehen, der sie schon bei der Verkündigung überschattet hatte«<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 59.</ref>.

Es gibt also in der Gnadenordnung, die sich unter dem Wirken des Heiligen Geistes vollzieht, eine einzigartige Entsprechung zwischen dem Augenblick der Menschwerdung des Wortes und jenem der Geburt der Kirche. Die Person, die beide Momente vereinigt, ist Maria: Maria in Nazaret und Maria im Abendmahlssaal von Jerusalem. In beiden Fällen ist ihre zurückhaltende, aber wesentliche Gegenwart ein Hinweis auf den Weg der »Geburt durch den Heiligen Geist«. Die im Geheimnis Christi als Mutter gegenwärtig ist, wird so - durch den Willen des Sohnes und das Wirken des Heiligen Geistes - auch gegenwärtig im Geheimnis der Kirche. Auch in der Kirche bleibt sie mütterlich zugegen, wie die am Kreuz gesprochenen Worte anzeigen: »Frau, siehe, dein Sohn« - »Siehe, deine Mutter«.

ZWEITER TEIL: DIE GOTTESMUTTER INMITTEN DER PILGERNDEN KIRCHE

1. Die Kirche, das Volk Gottes, in allen Völkern der Erde verwurzelt

25 »Die Kirche "schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin"<ref>AUGUSTINUS, »De Civitate Dei«, XVIII, 51: CCL 48, 650 (konzilseigene Zitation).</ref> und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl. 1 Kor 11, 26)«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 8.</ref>. »Wie aber schon das Israel dem Fleische nach auf seiner Wüstenwanderung Kirche Gottes genannt wird (2 Esdr 13, 1; vgl. Num 20, 4; Dtn 23, 1 ff.), so wird auch das neue Israel ... Kirche Christi genannt (vgl. Mt 16, 18). Er selbst hat sie ja mit seinem Blut erworben (vgl. Apg 20, 28), mit seinem Geist erfüllt und mit geeigneten Mitteln sichtbarer und gesellschaftlicher Einheit ausgerüstet. Gott hat die Versammlung derer, die zu Christus als dem Urheber des Heils und dem Ursprung der Einheit und des Friedens gläubig aufschauen, zusammengerufen und als seine Kirche gestiftet, damit sie allen und jedem das sichtbare Sakrament dieser heilbringenden Einheit sei«<ref>Ebd., 9.</ref>

Das II. Vatikanische Konzil spricht von der Kirche auf dem Wege, wobei es eine Analogie mit dem Volk Israel des Alten Bundes auf seinem Weg durch die Wüste herstellt. Ein solcher Weg zeigt sich auch nach außen und wird sichtbar in der Zeit und dem Raum, wo er sich geschichtlich verwirklicht. »Bestimmt zur Verbreitung über alle Länder, tritt sie (die Kirche) in die menschliche Geschichte ein und übersteigt doch zugleich Zeiten und Grenzen der Völker«.<ref>Ebd., 9.</ref> Der wesentliche Charakter ihres Pilgerweges ist jedoch innerlich. Es handelt sich um eine Pilgerschaft im Glauben, in der »Kraft des auferstandenen Herrn«<ref>Ebd., 8.</ref>, um eine Pilgerschaft im Heiligen Geist, der der Kirche als unsichtbarer Beistand (Parakletos) gegeben ist (vgl. Joh 14, 26; 15, 26; 16, 7): »Auf ihrem Weg durch Prüfungen und Bedrängnis wird die Kirche durch die Kraft der ihr vom Herrn verheißenen Gnade Gottes gestärkt, damit sie ... unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern, bis sie durch das Kreuz zum Licht gelangt, das keinen Untergang kennt«.<ref>Ebd., 9.</ref>

Auf diesem kirchlichen Pilgerweg durch Raum und Zeit und noch mehr in der Geschichte der Seelen ist Maria zugegen als diejenige, die »selig ist, weil sie geglaubt hat«, als diejenige, die »den Pilgerweg des Glaubens« geht, indem sie wie kein anderer Mensch am Geheimnis Christi teilnimmt. Weiter sagt das Konzil, dass »Maria ..., da sie zuinnerst in die Heilsgeschichte eingegangen ist, gewissermaßen die größten Glaubensgeheimnisse in sich vereinigt und widerstrahlt«<ref>Ebd., 65.</ref>. Vor allen Gläubigen ist sie wie ein »Spiegel«, in dem sich »die Großtaten Gottes« (Apg 2, 11) in tiefster und reinster Weise widerspiegeln.

26 Die Kirche, von Christus auf den Aposteln erbaut, ist sich dieser Großtaten Gottes am Pfingsttag voll bewusst geworden, als die im Abendmahlssaal Versammelten »mit dem Heiligen Geist erfüllt wurden und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab« (Apg 2, 4). In diesem Augenblick beginnt auch jener Weg des Glaubens, die Pilgerschaft der Kirche durch die Geschichte der Menschen und der Völker. Man weiß, dass am Beginn dieses Weges Maria gegenwärtig ist, die wir mitten unter den Aposteln im Abendmahlssaal »mit ihren Gebeten die Gabe des Geistes erflehen« sehen.<ref>Ebd., 59.</ref>

Ihr Glaubensweg ist in einem gewissen Sinne länger. Der Heilige Geist ist bereits auf sie herabgekommen, die bei der Verkündigung seine treue Braut geworden ist, indem sie das ewige Wort des wahren Gottes aufnahm und sich dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwarf und seiner Offenbarung willig zustimmte, ja, sich im »Gehorsam des Glaubens« ganz und gar Gott überließ<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei verbum«, 5.</ref> und darum dem Engel antwortete: »Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast«. Der Glaubensweg Marias, die wir betend im Abendmahlssaal sehen, ist also länger als der Weg der dort Versammelten: Maria geht ihnen »voraus« und auch »voran«<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 63.</ref>. Der Pfingsttag in Jerusalem ist, außer durch das Kreuz, auch durch den Augenblick der Verkündigung in Nazaret vorbereitet worden. Im Abendmahlssaal trifft sich der Weg Marias mit dem Glaubensweg der Kirche. In welcher Weise?

Unter denen, die im Abendmahlssaal im Gebet verharrten und sich darauf vorbereiteten, »in die ganze Welt« zu ziehen, nachdem sie den Heiligen Geist empfingen, waren einige nach und nach durch Jesus vom Anfang seiner Sendung in Israel an berufen worden. Elf von ihnen waren als Apostel eingesetzt worden, und ihnen hatte Jesus die Sendung übergeben, die er selbst vom Vater erhalten hatte: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch« (Joh 20, 21), so hatte er den Aposteln nach der Auferstehung gesagt. Vierzig Tage später, vor seiner Rückkehr zum Vater, hatte er hinzugefügt: Wenn »die Kraft des Heiligen Geistes ... auf euch herabkommen wird, ... werdet ihr meine Zeugen sein ... bis an die Grenzen der Erde« (vgl. Apg 1, 8). Diese Sendung der Apostel beginnt mit dem Augenblick, da sie den Abendmahlssaal in Jerusalem verlassen. Die Kirche wird geboren und wächst nun durch das Zeugnis, das Petrus und die anderen Apostel von Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, ablegen (vgl. Apg 2, 31-34; 3, 15-18; 4, 10-12; 5, 30-32).

Maria hat nicht diese apostolische Sendung direkt empfangen. Sie befand sich nicht unter denen, die Jesus, als er ihnen jene Sendung verlieh, in die ganze Welt sandte, um alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen (vgl. Mt 28, 19). Sie war jedoch im Abendmahlssaal, wo sich die Apostel darauf vorbereiteten, diese Sendung mit dem Kommen des Geistes der Wahrheit zu übernehmen: Dort war sie bei ihnen. In ihrer Mitte war sie »beharrlich im Gebet« als die »Mutter Jesu« (Apg 1, 13-14), das heißt als Mutter des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Und jener erste Kern derer, die im Glauben »auf Jesus, den Urheber des Heils«<ref>Vgl. ebd., 9. </ref> schauten, war sich bewusst, dass Jesus der Sohn Marias war und sie seine Mutter und dass sie so vom Augenblick der Empfängnis und Geburt an eine besondere Zeugin des Geheimnisses Jesu war, jenes Geheimnisses, das sich vor ihren Augen in Kreuz und Auferstehung ausgeprägt und bestätigt hatte. Die Kirche »schaute« also vom ersten Augenblick an auf Maria von Jesus her, wie sie auf Jesus von Maria her »schaute«. Diese wurde für die Kirche von damals und für immer eine einzigartige Zeugin der Kindheitsjahre Jesu und seines verborgenen Lebens in Nazaret, da sie »alles bewahrte, was geschehen war, und in ihrem Herzen darüber nachdachte« (Lk 2, 19; vgl. v. 51).

Aber in der Kirche von damals und immer war und ist Maria vor allem jene, die »selig ist, weil sie geglaubt hat«: Als erste hat sie geglaubt. Vom Augenblick der Verkündigung und der Empfängnis an, seit der Stunde der Geburt im Stall von Betlehem folgte Maria Jesus Schritt für Schritt auf ihrer mütterlichen Pilgerschaft des Glaubens. Sie folgte ihm all die Jahre seines verborgenen Lebens in Nazaret, sie folgte ihm auch in der Zeit der äußeren Trennung, als er inmitten von Israel »zu handeln und zu lehren« begann (vgl. Apg 1, 1), sie folgte ihm vor allem in der tragischen Erfahrung von Golgota. Jetzt, da Maria am Beginn der Kirche mit den Aposteln im Abendmahlssaal von Jerusalem weilte, fand ihr Glaube, der aus den Worten der Verkündigung geboren war, seine Bestätigung. Der Engel hatte ihr damals gesagt: »Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und ... über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben«. Die gerade zurückliegenden Ereignisse von Kalvaria hatten diese Verheißung ins Dunkel gehüllt; und doch ist auch unter dem Kreuz der Glaube Marias nicht erloschen. Sie war dort immer noch jene, die (wie Abraham) »gegen alle Hoffnung voll Hoffnung« geglaubt hat (Röm 4, 18). Und siehe, nach der Auferstehung hatte die Hoffnung ihr wahres Antlitz enthüllt, und die Verheißung hatte begonnen, Wirklichkeit zu werden. Tatsächlich hatte Jesus ja, ehe er zum Vater zurückkehrte, den Aposteln gesagt: »Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern. ... Seid gewiss! Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (vgl. Mt 28, 19. 20). So hatte derjenige gesprochen, der sich durch seine Auferstehung als Sieger über den Tod erwiesen hatte, als Herrscher des Reiches, das nach der Ankündigung des Engels »kein Ende haben wird«.

27 Jetzt, an den Anfängen der Kirche, am Beginn ihres langen Weges im Glauben, der mit dem Pfingstereignis in Jerusalem anfing, war Maria mit allen zusammen, die den Keim des »neuen Israels« bildeten. Sie war mitten unter ihnen als außerordentliche Zeugin des Geheimnisses Christi. Und die Kirche verharrte zusammen mit ihr im Gebet und »betrachtete sie« zugleich »im Licht des ewigen Wortes, das Mensch geworden war«. So sollte es immer sein. Wenn die Kirche stets tiefer »in das erhabene Geheimnis der Menschwerdung eindringt«, denkt sie ja dabei in tiefer Verehrung und Frömmigkeit auch an die Mutter Christi<ref>Vgl. ebd., 65.</ref>. Maria gehört untrennbar zum Geheimnis Christi, und so gehört sie auch zum Geheimnis der Kirche von Anfang an, seit dem Tag von deren Geburt. Zur Grundlage all dessen, was die Kirche von Anfang an ist und was sie von Generation zu Generation inmitten aller Nationen der Erde unaufhörlich werden muss, gehört diejenige, die »geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ« (Lk 1, 45). Gerade dieser Glaube Marias, der den Beginn des neuen und ewigen Bundes Gottes mit der Menschheit in Jesus Christus anzeigt, dieser heroische Glaube »geht« dem apostolischen Zeugnis der Kirche »voran« und bleibt im Herzen der Kirche zugegen, verborgen als ein besonderes Erbe der Offenbarung Gottes. Alle, die von Generation zu Generation das apostolische Zeugnis der Kirche annehmen, haben an diesem geheimnisvollen Erbe Anteil und nehmen gewissermaßen teil am Glauben Marias.

Auch im Pfingstereignis bleiben die Worte Elisabeths »Selig, die geglaubt hat« mit Maria verbunden; sie folgen ihr durch alle Zeiten überall dorthin, wo sich durch das apostolische Zeugnis und den Dienst der Kirche die Kenntnis vom Heilsgeheimnis Christi ausbreitet. Auf diese Weise erfüllt sich die Verheißung des Magnifikats: »Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig« (Lk 1, 48-49). Die Erkenntnis des Geheimnisses Christi führt ja zur Lobpreisung seiner Mutter in der Form einer besonderen Verehrung für die Gottesgebärerin. In dieser Verehrung ist aber immer der Lobpreis ihres Glaubens eingeschlossen, weil die Jungfrau von Nazaret nach den Worten Elisabeths vor allem durch diesen Glauben selig geworden ist. Alle, die unter den verschiedenen Völkern und Nationen der Erde die Generationen hindurch das Geheimnis Christi, des menschgewordenen Wortes und Erlösers der Welt, gläubig aufnehmen, wenden sich nicht nur mit Verehrung an Maria und gehen vertrauensvoll zu ihr wie zu einer Mutter, sondern suchen auch in ihrem Glauben Kraft für den eigenen Glauben. Und gerade diese lebendige Teilnahme am Glauben Marias entscheidet über ihre besondere Gegenwart bei der Pilgerschaft der Kirche als neues Gottesvolk auf der ganzen Erde.

28 Das Konzil sagt hierzu: »Maria ... (ist) zuinnerst in die Heilsgeschichte eingegangen. ... Daher ruft ihre Verkündigung und Verehrung die Gläubigen hin zu ihrem Sohn und seinem Opfer und zur Liebe des Vaters«<ref>Ebd., 65.</ref>. Deshalb wird in gewisser Weise der Glaube Marias auf der Grundlage des apostolischen Zeugnisses der Kirche unaufhörlich zum Glauben des Gottesvolkes auf seinem Pilgerweg: zum Glauben der Personen und Gemeinden, der Kreise und Gemeinschaften sowie der verschiedenen Gruppen, die es in der Kirche gibt. Es ist ein Glaube, der mit Verstand und Herz zugleich vermittelt wird; man findet ihn oder erlangt ihn wieder stets durch das Gebet. »Daher blickt die Kirche auch in ihrem apostolischen Wirken mit Recht zu ihr auf, die Christus geboren hat, der dazu vom Heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau geboren wurde, dass er durch die Kirche auch in den Herzen der Gläubigen geboren werde und wachse«<ref>Ebd., 65.</ref>.

Heute, da wir uns auf dieser Pilgerschaft des Glaubens dem Ende des zweiten christlichen Jahrtausends nähern, erinnert die Kirche durch die Lehre des II. Vatikanischen Konzils daran, wie sie sich selber sieht, als »dieses eine Gottesvolk«, das »in allen Völkern der Erde wohnt«; sie erinnert an die Wahrheit, nach der alle Gläubigen, auch wenn sie »über den Erdkreis hin verstreut (sind), mit den übrigen im Heiligen Geiste in Gemeinschaft stehen«<ref>Vgl. ebd., 13</ref>, so dass man sagen kann, dass sich in dieser Einheit das Pfingstgeheimnis ständig verwirklicht. Zugleich bleiben die Apostel und die Jünger des Herrn unter allen Völkern der Erde »beharrlich im Gebet zusammen mit Maria, der Mutter Jesu« (vgl. Apg 1, 14). Indem sie von Generation zu Generation das Zeichen des Reiches bilden, das nicht von dieser Welt ist<ref> Vgl. ebd., 13.</ref>, sind sie sich auch bewusst, dass sie sich inmitten dieser Welt um jenen König sammeln müssen, dem die Völker zum Erbe gegeben sind (Ps 2, 8), dem Gott Vater »den Thron seines Vaters David« gegeben hat, so dass er »über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft kein Ende haben wird«.

Mit diesem Glauben, der sie besonders vom Augenblick der Verkündigung an selig gemacht hat, ist Maria in dieser Zeit der Erwartung zugegen in der Sendung der Kirche, zugegen im Wirken der Kirche, die das Reich ihres Sohnes in die Welt einführt<ref>Vgl. ebd., 13.</ref>. Diese Gegenwart Marias findet heute wie in der ganzen Geschichte der Kirche vielfältige Ausdrucksweisen. Sie hat auch einen vielseitigen Wirkungsbereich: durch den Glauben und die Frömmigkeit der einzelnen Gläubigen, durch die Traditionen der christlichen Familien oder der »Hauskirchen«, der Pfarr- und Missionsgemeinden, der Ordensgemeinschaften, der Diözesen, durch die werbende und ausstrahlende Kraft der großen Heiligtümer, in denen nicht nur einzelne oder örtliche Gruppen, sondern bisweilen ganze Nationen und Kontinente die Begegnung mit der Mutter des Herrn suchen, mit derjenigen, die selig ist, weil sie geglaubt hat, die die erste unter den Gläubigen ist und darum Mutter des Immanuel geworden ist. Das ist der Ruf der Erde Palästinas, der geistigen Heimat aller Christen, weil es die Heimat des Erlösers der Welt und seiner Mutter ist. Das ist der Ruf so vieler Kirchen, die der christliche Glaube in Rom und über die ganze Welt hin die Jahrhunderte hindurch errichtet hat. Das ist auch die Botschaft der Orte wie Guadalupe, Lourdes, Fatima und der anderen in den verschiedenen Ländern, unter denen auch, wie könnte ich nicht daran denken, jener Ort meiner Heimat ist, Jasna Gora. Man könnte von einer eigenen »Geographie« des Glaubens und der marianischen Frömmigkeit sprechen, die alle diese Orte einer besonderen Pilgerschaft des Gottesvolkes umfasst, das die Begegnung mit der Muttergottes sucht, um im Bereich der mütterlichen Gegenwart »derjenigen, die geglaubt hat«, den eigenen Glauben bestärkt zu finden. Im Glauben Marias hat sich ja schon bei der Verkündigung und dann endgültig unter dem Kreuz von seiten des Menschen jener innere Raum wieder geöffnet, in welchem der ewige Vater uns »mit allem geistlichen Segen« erfüllen kann: der Raum »des neuen und ewigen Bundes«<ref>Vgl. »Römisches Messbuch«, Worte zur Kelchkonsekration in den Eucharistischen Hochgebeten.</ref>. Dieser Raum bleibt in der Kirche bestehen, die in Christus »gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« ist<ref> II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 1.</ref>. Im Glauben, den Maria bei der Verkündigung als »Magd des Herrn« bekannte und mit dem sie dem Gottesvolk auf seinem Pilgerweg ständig »vorangeht«, strebt die Kirche »unablässig danach, die ganze Menschheit ... unter dem einen Haupt Christus zusammenzufassen in der Einheit seines Geistes«<ref>Ebd., 13.</ref> .

2. Der Weg der Kirche und die Einheit aller Christen

29 »Der Geist erweckt in allen Jüngern Christi Sehnsucht und Taten, dass sich alle in der von Christus festgesetzten Weise in der einen Herde unter dem einen Hirten in Frieden vereinen«<ref>Ebd., 15.</ref>. Der Weg der Kirche ist vor allem in unserer Epoche vom Ökumenismus gekennzeichnet; die Christen suchen nach Wegen, um jene Einheit wieder herzustellen, die Christus am Tag vor seinem Leiden für seine Jünger vom Vater erbeten hat: »Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast« (Joh 17, 21). Die Einheit der Jünger Christi ist also ein großes Zeichen, um den Glauben der Welt zu wecken, während ihre Spaltung ein Ärgernis darstellt<ref>Dekret über den Ökumenismus »Unitatis redintegratio«, 1.</ref>.

Die ökumenische Bewegung als klareres und weitverbreitetes Bewusstsein, dass es die Einheit aller Christen dringlich zu verwirklichen gilt, hat auf seiten der katholischen Kirche ihren höchsten Ausdruck im Werk des II. Vatikanischen Konzils gefunden: Die Christen sollen in sich selbst und in jeder ihrer Gemeinschaften jenen »Glaubensgehorsam« vertiefen, für den Maria das erste und leuchtendste Beispiel ist. Und weil sie »dem pilgernden Gottesvolk als Zeichen der sicheren Hoffnung und des Trostes voranleuchtet«, »bereitet es dieser Heiligen Synode große Freude und Trost, dass auch unter den getrennten Brüdern solche nicht fehlen, die der Mutter des Herrn und Erlösers die gebührende Ehre erweisen, und dies besonders bei den Orientalen«<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 68; 69. Zu Maria als Förderin der Einheit der Christen und zur Marienverehrung im Orient vgl. Leo XIII., Enzyklika »Adiutricem populi« (5.9.1895): »Acta Leonis«, XV, 300-312.</ref> .

30 Die Christen wissen, dass sie ihre Einheit nur dann wahrhaft wiederfinden, wenn sie diese auf die Einheit ihres Glaubens gründen. Sie haben dabei keine geringen Unterschiede in der Lehre vom Geheimnis und vom Dienstamt der Kirche sowie manchmal auch von der Aufgabe Marias im Heilswerk zu überwinden<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus »Unitatis redintegratio«, 20.</ref>. Die verschiedenen Dialoge, die von der katholischen Kirche mit den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften im Abendland<ref>Vgl. ebd., 19.</ref> begonnen worden sind, konzentrieren sich immer mehr auf diese beiden untrennbar miteinander verbundenen Aspekte des einen Heilsgeheimnisses. Wenn das Geheimnis des menschgewordenen göttlichen Wortes uns auch das Geheimnis der göttlichen Mutterschaft erkennen lässt und die Betrachtung der Gottesmutter uns ihrerseits zu einem tieferen Verständnis des Geheimnisses der Inkarnation führt, so muss man dasselbe vom Geheimnis der Kirche und von der Aufgabe Marias im Heilswerk sagen. Indem die Christen ein tieferes Verständnis des einen wie des anderen suchen und das eine durch das andere erhellen, werden sie, die darauf bedacht sind zu tun - wie ihre Mutter ihnen rät -, was Jesus ihnen sagt (vgl. Joh 2, 5), gemeinsame Fortschritte machen können auf dieser »Pilgerschaft des Glaubens«, für die Maria selbst das bleibende Beispiel ist: Sie soll sie zur Einheit führen, wie sie von dem einen, allen gemeinsamen Herrn gewollt ist und von denjenigen heiß ersehnt wird, die aufmerksam auf das hören, »was der Geist heute den Kirchen sagt« (vgl. Offb 2, 7. 11. 17).

Indessen ist es ein gutes Vorzeichen, dass diese Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in grundlegenden Punkten des christlichen Glaubens, auch was die Jungfrau Maria betrifft, mit der katholischen Kirche übereinstimmen. Sie erkennen sie ja als Mutter des Herrn an und sind davon überzeugt, dass dies zu unserem Glauben an Christus, den wahren Gott und wahren Menschen, gehört. Sie schauen auf sie, die zu Füßen des Kreuzes den Lieblingsjünger als ihren Sohn empfängt, der wiederum sie als Mutter erhält.

Warum also nicht alle zusammen auf sie als unsere gemeinsame Mutter schauen, die für die Einheit der Gottesfamilie betet und die allen »vorangeht« an der Spitze des langen Zuges von Zeugen für den Glauben an den einen Herrn, der Sohn Gottes ist und durch den Heiligen Geist in ihrem jungfräulichen Schoß empfangen wurde? 

31 Andererseits möchte ich unterstreichen, wie tief sich die katholische Kirche, die orthodoxe Kirche und die altorientalischen Kirchen in der Liebe und Verehrung für die Theotokos, die Gottesgebärerin, verbunden wissen. Nicht nur sind »die grundlegenden Dogmen des christlichen Glaubens von der Dreifaltigkeit und des aus der Jungfrau Maria menschgewordenen Wortes Gottes auf ökumenischen Konzilien, die im Orient stattfanden, definiert worden«<ref>Ebd., 14.</ref>, sondern auch in ihrer Liturgie »preisen die Orientalen in herrlichen Hymnen Maria als die allzeit jungfräuliche ... und heilige Gottesmutter«<ref>Ebd., 15.</ref>.

Die Brüder dieser Kirchen haben schwierige Epochen durchlebt; aber immer war ihre Geschichte von einem lebendigen Verlangen nach christlichem Einsatz und apostolischer Ausstrahlung durchdrungen, auch wenn oft sogar unter blutigen Verfolgungen. Es ist eine Geschichte der Treue zum Herrn, eine wahrhafte »Pilgerschaft im Glauben« durch Orte und Zeiten, während denen die orientalischen Christen immer mit grenzenlosem Vertrauen auf die Mutter des Herrn geschaut, sie mit Gesängen gefeiert und mit Gebeten unaufhörlich angerufen haben. In den schwierigen Augenblicken ihrer mühevollen christlichen Existenz »haben sie sich unter ihren Schutz geflüchtet«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 66.</ref>, weil sie sich bewusst waren, in ihr eine mächtige Helferin zu haben. Die Kirchen, die sich zur Glaubenslehre von Ephesus bekennen, nennen die Jungfrau »wahre Mutter Gottes«; denn »unser Herr Jesus Christus, vom Vater vor aller Zeit in seiner Göttlichkeit geboren, ist als derselbe in den letzten Tagen für uns und zu unserem Heil von der Jungfrau Maria und Mutter Gottes in seiner Menschheit geboren worden«<ref>ÖKUMENISCHES KONZIL VON CHALZEDON, »Definitio fidei: Conciliorum Oecumenicorum Decreta«, Bologna 1973(3), 86 (DS 301).</ref> . Indem die griechischen Väter und die byzantinische Tradition die Jungfrau im Licht des menschgewordenen Wortes betrachteten, haben sie die Tiefe jenes geistigen Bandes zu durchdringen gesucht, das Maria als Muttergottes mit Christus und mit der Kirche verbindet: Die Jungfrau bleibt im gesamten Bereich des Heilsgeheimnisses stets gegenwärtig.

Die koptischen und äthiopischen Traditionen sind durch den hl. Cyrill von Alexandrien in diese Betrachtungsweise des Geheimnisses Marias eingeführt worden und haben sie ihrerseits in reichen poetischen Werken gefeiert<ref>Vgl. das Buch »Weddase Maryam (Marienlob)«, das sich an das äthiopische Psalterium anschließt und Hymnen und Gebete zu Maria für jeden Tag der Woche enthält. Vgl. auch das Buch »Matshafa Kidana Mehrat (Buch des Bundes der Barmherzigkeit)«; man muss die Bedeutung unterstreichen, die Maria in der äthiopischen Hymnologie und Liturgie gegeben wird.</ref> . Die dichterische Kunst des hl. Ephräm des Syrers, der »Zither des Heiligen Geistes« genannt worden ist, hat unermüdlich Maria besungen und in der Tradition der syrischen Kirche eine noch heute vorhandene Spur hinterlassen<ref>Vgl. Ephräm der Syrer, »Hymn. de Nativitate: Scriptores Syri«, 82: CSCO, 186.</ref>. In seinem Lobgesang an die Theotokos vertieft der hl. Gregor von Narek, eine der berühmtesten Gestalten Armeniens, mit machtvoller poetischer Begabung die verschiedenen Aspekte des Geheimnisses der Inkarnation, und jeder von ihnen ist ihm eine Gelegenheit, die außergewöhnliche Würde und herrliche Schönheit der Jungfrau Maria, der Mutter des menschgewordenen Wortes, zu besingen und zu preisen.<ref>Vgl. GREGOR VON NAREK, »Le livre de prières«: S. Ch., 78, 160-163; 428-432.</ref>

Es verwundert darum nicht, dass Maria in der Liturgie der altorientalischen Kirchen mit einer unvergleichlichen Fülle von Festen und Hymnen einen bevorzugten Platz einnimmt.

32 In der byzantinischen Liturgie ist in allen Horen des Stundengebetes mit dem Lobpreis des Sohnes und mit dem Lobpreis, der durch den Sohn im Heiligen Geist zum Vater aufsteigt, auch der Lobpreis der Mutter verbunden. In der Anaphora, dem eucharistischen Hochgebet, des heiligen Johannes Chrysostomus besingt die versammelte Gemeinde gleich nach der Epiklese die Muttergottes mit folgenden Worten: »Wahrhaft recht ist es, dich, o Gottesgebärerin, Seligzupreisen, der du die seligste und reinste Mutter unseres Gottes bist. Wir lobpreisen dich, der du an Ehre die Kerubim übertriffst, an Herrlichkeit die Seraphim bei weitem überragst. Der du, ohne deine Jungfräulichkeit zu verlieren, das Wort Gottes zur Welt gebracht hast; der du wahrhaft Mutter Gottes bist«.

Diese Lobpreisungen, die sich in jeder Feier der eucharistischen Liturgie zu Maria erheben, haben den Glauben, die Frömmigkeit und das Gebetsleben der Gläubigen geformt. Im Laufe der Jahrhunderte haben sie ihre ganze geistliche Einstellung durchdrungen und in ihnen eine tiefe Verehrung für die »Hochheilige Mutter Gottes« hervorgerufen.

33 In diesem Jahr werden es 1200 Jahre seit dem II. Ökumenischen Konzil von Nizäa (787), auf dem zur Beendigung der bekannten Auseinandersetzung über die Verehrung von religiösen Bildern definiert wurde, dass man nach der Lehre der Väter und der allgemeinen Tradition der Kirche zusammen mit dem heiligen Kreuz auch die Bilder der Muttergottes, der Engel und der Heiligen in den Kirchen sowie in den Häusern und an den Straßen den Gläubigen zur Verehrung anbieten dürfe<ref>II. ÖKUMENISCHES KONZIL VON NIZÄA: »Conciliorum Oecumenicorum Decreta«, Bologna 1973(3), 135-138 (DS 600-609).</ref>. Dieser Brauch hat sich im ganzen Osten und auch im Westen erhalten: Die Bilder der Jungfrau Maria haben in den Kirchen und Häusern einen Ehrenplatz. Maria ist dort dargestellt als Thron Gottes, der den Herrn trägt und ihn den Menschen schenkt (Theotokos), oder als Weg, der zu Christus führt und auf ihn hinweist (Odigitria) oder als Betende in fürbittender Haltung und als Zeichen der Gegenwart Gottes auf dem Pilgerweg der Gläubigen bis zum Tag des Herrn (Deisis) oder als Schirmherrin, die ihren Mantel über die Völker breitet (Prokov) oder als barmherzige und mitfühlende Jungfrau (Eleousa). Gewöhnlich ist sie zusammen mit ihrem Sohn dargestellt, mit dem Jesuskind auf dem Arm: Die Beziehung zum Sohn verherrlicht ja die Mutter. Zuweilen umarmt sie ihn liebevoll (Glykofilousa); manchmal scheint sie ernst und erhaben der Betrachtung dessen hingegeben, der der Herr der Geschichte ist (vgl. Offb 5, 9-14).<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 59.</ref>

Es ist angebracht, auch an die Ikone der Madonna von Wladimir zu erinnern, die den Glaubensweg der Völker des alten Rus' stets begleitet hat. Es nähert sich die Tausendjahrfeier der Bekehrung zum Christentum jener bedeutenden Gegenden: Land einfacher Leute, von Denkern und Heiligen. Die Ikonen werden noch heute unter verschiedenen Titeln in der Ukraine, in Weißrußland und in Russland verehrt: Es sind Bilder, die den Glauben und den Gebetsgeist des einfachen Volkes bezeugen, das ein Gespür für die beschützende Gegenwart der Muttergottes hat. In ihnen leuchtet die Jungfrau auf als Abbild der göttlichen Schönheit, als Sitz der ewigen Weisheit, als Vorbild des betenden Menschen, als Urbild der Kontemplation, als Bild der Herrlichkeit: diejenige, die seit ihrem irdischen Leben ein geistliches Wissen besaß, das menschlichem Denken unzugänglich ist, und die durch den Glauben eine noch tiefere Erkenntnis erlangt hat. Ferner erinnere ich an die Ikone von der Jungfrau im Abendmahlssaal, mit den Aposteln im Gebet versammelt in Erwartung des Heiligen Geistes: Könnte sie nicht gleichsam das Zeichen der Hoffnung für all diejenigen werden, die in brüderlichem Dialog ihren Glaubensgehorsam vertiefen möchten?

34 Ein solcher Reichtum an Lobpreis, wie er von den verschiedenen Formen der großen Tradition der Kirche angesammelt worden ist, könnte uns dazu verhelfen, dass diese wieder ganz mit zwei Lungen atmet: mit Orient und Okzident. Wie ich schon mehrmals betont habe, ist dies heute mehr denn je notwendig. Dies wäre eine echte Hilfe, um den Dialog, der zwischen der katholischen Kirche und den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften des Abendlandes im Gange ist, voranzubringen<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dekret über den Ökumenismus »Unitatis redintegratio«, 19.</ref>. Es wäre für die pilgernde Kirche auch der Weg, ihr Magnifikat vollkommener zu singen und zu leben.

3. Das Magnifikat der Kirche auf ihrem Pilgerweg

35 In der gegenwärtigen Phase ihres Pilgerweges sucht die Kirche die Einheit derer wiederzufinden, die sich in ihrem Glauben zu Christus bekennen, jene Einheit, die im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen ist, um sich so ihrem Herrn gegenüber gehorsam zu erweisen, der vor seinem Leiden für diese Einheit gebetet hat. Indessen »schreitet die Kirche ... auf ihrem Pilgerweg voran und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 8.</ref> . »Auf ihrem Weg durch Prüfungen und Trübsal wird die Kirche durch die Kraft der ihr vom Herrn verheißenen Gnade Gottes gestärkt, damit sie in der Schwachheit des Fleisches nicht abfalle von der vollkommenen Treue, sondern die würdige Braut ihres Herrn verbleibe und unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern, bis sie durch das Kreuz zum Lichte gelangt, das keinen Untergang kennt«<ref>Ebd., 9.</ref>.

Die Jungfrau und Mutter ist auf diesem Weg des Volkes Gottes im Glauben zum Licht stets gegenwärtig. Das zeigt in einer besonderen Weise der Lobgesang des Magnifikat, der, aus der Tiefe des Glaubens Marias auf ihrem Besuch bei Elisabeth entsprungen, unaufhörlich im Herzen der Kirche die Jahrhunderte hindurch widerhallt. Das beweist seine tägliche Wiederholung in der Vesperliturgie und in so vielen anderen Momenten persönlicher wie gemeinschaftlicher Frömmigkeit.

»Meine Seele preist die Größe des Herrn,

und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.

Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.

Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.

Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig.

Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten.

Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:

Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron

und erhöht die Niedrigen.

Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben

und lässt die Reichen leer ausgehen.

Er nimmt sich seines Knechtes Israel an

und denkt an sein Erbarmen,

das er unsern Vätern verheißen hat,

Abraham und seinen Nachkommen auf ewig« (Lk 1, 46-55).

36 Als Elisabeth ihre junge Verwandte begrüßte, die von Nazaret zu ihr kam, antwortete Maria mit dem Magnifikat. In ihrer Begrüßung hatte Elisabeth zuvor Maria seliggepriesen: wegen der »Frucht ihres Leibes« und dann wegen ihres Glaubens (vgl. Lk 1, 42. 45). Diese zwei Seligpreisungen bezogen sich unmittelbar auf den Augenblick der Verkündigung. Jetzt, bei diesem Besuch, als der Gruß Elisabeths auf diesen allesüberragenden Augenblick hinweist, wird sich Maria ihres Glaubens in einer neuen Weise bewusst und gibt ihm einen neuen Ausdruck. Was bei der Verkündigung in der Tiefe des »Gehorsams des Glaubens« verborgen blieb, bricht jetzt gleichsam hervor wie eine helle, belebende Flamme des Geistes. Die Worte, die Maria an der Schwelle zum Haus Elisabeths benutzt, stellen ein geistgewirktes Bekenntnis dieses ihres Glaubens dar, bei dem sich ihre Antwort auf die vernommene Offenbarung in einer frommen und poetischen Erhebung ihres ganzen Seins zu Gott ausdrückt. Ihre erlesenen Worte, die so einfach und zugleich ganz durch die heiligen Texte Israels inspiriert sind<ref>Bekanntlich sind in den Worten des Magnifikats zahlreiche Stellen des Alten Testamentes enthalten oder klingen an.</ref>, zeigen die tiefe persönliche Erfahrung Marias, den Jubel ihres Herzens. In ihnen leuchtet ein Strahl des Geheimnisses Gottes auf, der Glanz seiner unsagbaren Heiligkeit, seine ewige Liebe, die als ein unwiderrufliches Geschenk in die Geschichte des Menschen eintritt.

Maria ist die erste, die an dieser neuen göttlichen Offenbarung und der darin liegenden neuen »Selbstmitteilung« Gottes teilhat. Darum ruft sie aus: »Großes hat der Mächtige an mir getan, und heilig ist sein Name«. Ihre Worte geben die Freude ihres Geistes wieder, die nur schwer auszudrücken ist: »Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter«. Denn »die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei verbum«, 2.</ref> . Im Jubel ihres Herzens bekennt Maria, Einlass gefunden zu haben in die innerste Mitte dieser Fülle Christi. Sie ist sich bewusst, dass sich an ihr die Verheißung erfüllt, die an die Väter und vor allem an »Abraham und seine Nachkommen auf ewig« ergangen ist; dass also auf sie als die Mutter Christi der gesamte Heilsplan hingeordnet ist, in dem sich »von Geschlecht zu Geschlecht« derjenige offenbart, der als Gott des Bundes »an sein Erbarmen denkt«.

37 Die Kirche, die von Anfang an ihren irdischen Weg ähnlich wie die Mutter Gottes geht, spricht nach ihrem Beispiel immer wieder neu die Worte des Magnifikat. Aus dem tiefen Glauben der Jungfrau bei der Verkündigung des Engels und während des Besuches bei Elisabeth schöpft die Kirche die Wahrheit über den Gott des Bundes: über Gott, der allmächtig ist und »Großes« am Menschen tut; denn »heilig ist sein Name«. Im Magnifikat erkennt sie, dass die Sünde, die am Anfang der irdischen Geschichte des Mannes und der Frau steht, die Sünde der Ungläubigkeit, der »Kleingläubigkeit« gegenüber Gott, an der Wurzel besiegt ist. Gegen den Verdacht, den der »Vater der Lüge« im Herzen Evas, der ersten Frau, hat aufkeimen lassen, verkündet Maria, von der Tradition oft »neue Eva«<ref>Vgl. z. B. JUSTINUS, »Dialogus cum Tryphone Iudaeo«, 100: J. C. DE OTTO, »Corpus Apol.«, II, 358; IRENÄUS, »Adversus haereses«, III, 22, 4: S. Ch. 211, 439-445; TERTULLIAN, »De carne Christi«, 17/4-6: CCL II, 904 ff.</ref> und wahre »Mutter der Lebenden«<ref>Vgl. EPIPHANIUS, »Panarion«, III, 2; »Haer.« 78, 18: PG 42, 727-730; AMBROSIUS, »Expos. Evang. Lucae«, II, 86: CSEL 32/4, 90 f.</ref> genannt, kraftvoll die leuchtende Wahrheit über Gott: über den heiligen und allmächtigen Gott, der von Anfang an die Quelle jeder Gnadengabe ist, der »Großes« getan hat. Allem, was ist, schenkt Gott das Dasein im Schöpfungsakt. Indem er den Menschen erschafft, verleiht er ihm die Würde, sein Bild und Gleichnis zu sein, und dies auf besondere Weise im Vergleich zu allen anderen Kreaturen der Erde. Und trotz der Sünde des Menschen lässt sich Gott in seiner Bereitschaft, zu schenken, nicht aufhalten; er schenkt sich in seinem Sohn: »Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab« (Joh 3, 16). Maria bezeugt als erste diese wundervolle Wahrheit, die sich voll verwirklichen wird in den Taten und Worten (vgl. Apg 1, 1) ihres Sohnes und endgültig in seinem Kreuz und seiner Auferstehung.

Die Kirche, die auch in »Prüfungen und Bedrängnissen« unablässig mit Maria die Worte des Magnifikat wiederholt, wird durch die machtvolle Wahrheit über Gott gestärkt, wie sie damals in einer so außerordentlichen Schlichtheit verkündet worden ist, und möchte zugleich mit dieser Wahrheit über Gott die schwierigen und manchmal verschlungenen Wege der irdischen Existenz der Menschen erhellen. Der Pilgerweg der Kirche gegen Ende des zweiten christlichen Jahrtausends enthält einen neuen Sendungsauftrag. Die Kirche, die demjenigen folgt, der von sich gesagt: »Der Herr ... hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe« (vgl. Lk 4, 18), hat von Generation zu Generation dieselbe Sendung zu verwirklichen gesucht und tut dies auch heute.

Ihre vorrangige Liebe zu den Armen ist im Magnifikat Marias eindrucksvoll enthalten. Der Gott des Bundes, im Jubel des Herzens der Jungfrau von Nazaret besungen, ist zugleich derjenige, der »die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht«, der »die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt und die Reichen leer ausgehen lässt«, der »die Hochmütigen zerstreut« und »sich über alle erbarmt, die ihn fürchten«. Maria ist tief durchdrungen vom Geist der »Armen Jahwes«, die im Gebet der Psalmen ihr Heil von Gott erwarteten, in den sie ihre Hoffnung setzten (vgl. Ps 25; 31; 35; 55). Sie verkündet ja die Ankunft des Heilsgeheimnisses, das Kommen des »Messias der Armen« (vgl. Jes 11, 4; 61, 1). Indem die Kirche aus dem Herzen Marias schöpft, aus ihrem tiefen Glauben, wie er in den Worten des Magnifikat zum Ausdruck kommt, wird sich die Kirche immer wieder neu und besser bewusst, dass man die Wahrheit über Gott, der rettet, über Gott, die Quelle jeglicher Gabe, nicht von der Bekundung seiner vorrangigen Liebe für die Armen und Niedrigen trennen kann, wie sie, bereits im Magnifikat besungen, dann in den Worten und Taten Jesu ihren Ausdruck findet.

Die Kirche ist sich also nicht nur bewusst - und in unserer Zeit verstärkt sich dieses Bewusstsein in einer ganz besonderen Weise -, dass sich diese zwei schon im Magnifikat enthaltenen Elemente nicht voneinander trennen lassen, sondern auch, dass sie die Bedeutung, die die »Armen« und die »Option zugunsten der Armen« im Wort des lebendigen Gottes haben, sorgfältig sicherstellen muss. Es handelt sich hierbei um Themen und Probleme, die eng verbunden sind mit dem christlichen Sinn von Freiheit und Befreiung. »Ganz von Gott abhängig und durch ihren Glauben ganz auf ihn hingeordnet, ist Maria an der Seite ihres Sohnes das vollkommenste Bild der Freiheit und der Befreiung der Menschheit und des Kosmos. Auf Maria muss die Kirche, deren Mutter und Vorbild sie ist, schauen, um den Sinn ihrer eigenen Sendung in vollem Umfang zu verstehen«.<ref>Kongregation für die Glaubenslehre, »Instruktion über christliche Freiheit und Befreiung«(22. März 1986), 97.</ref>

DRITTER TEIL: MÜTTERLICHE VERMITTLUNG

1. Maria, Magd des Herrn

38 Die Kirche weiß und lehrt mit dem hl. Paulus, dass nur einer unser Mittler ist: »Einer ist Gott, einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle« (1 Tim 2, 5-6). »Marias mütterliche Aufgabe gegenüber den Menschen verdunkelt oder mindert diese einzige Mittlerschaft Christi in keiner Weise, sondern zeigt ihre Wirkkraft«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 60.</ref>: Sie ist Mittlerschaft in Christus.

Die Kirche weiß und lehrt, dass »jeglicher heilsame Einfluss der seligen Jungfrau auf die Menschen ... aus dem Wohlgefallen Gottes kommt und aus dem Überfluss der Verdienste Christi hervorgeht, sich auf seine Mittlerschaft stützt, von ihr vollständig abhängt und aus ihr seine ganze Wirkkraft schöpft; in keiner Weise behindert er die unmittelbare Verbundenheit der Gläubigen mit Christus, sondern fördert sie sogar«<ref>Ebd., 60.</ref>. Dieser heilsame Einfluss ist vom Heiligen Geist getragen, der ebenso, wie er die Jungfrau Maria mit seiner Kraft überschattete und in ihr die göttliche Mutterschaft beginnen ließ, sie fortwährend in ihrer Sorge für die Brüder ihres Sohnes bestärkt.

Die Mittlerschaft Marias ist ja eng mit ihrer Mutterschaft verbunden und besitzt einen ausgeprägt mütterlichen Charakter, der sie von der Mittlerschaft der anderen Geschöpfe unterscheidet, die auf verschiedene, stets untergeordnete Weise an der einzigen Mittlerschaft Christi teilhaben, obgleich auch Marias Mittlerschaft eine teilhabende ist<ref>Vgl. die Formulierung: Mittlerin »ad Mediatorem« (»zum Mittler«) bei Bernhard von Clairvaux, »In Dominica infra oct. Assumptionis Sermo«, 2: »S. Bernardi Opera«, V (1968) 263. Wie ein reiner Spiegel lenkt Maria alle Verherrlichung und Ehrung, die sie empfängt, auf den Sohn hin: ders., »In Nativitate B. Mariae Sermo - De aquaeductu«, 12: Ed. cit., 283.</ref>. Wenn »nämlich keine Kreatur mit dem menschgewordenen Wort und Erlöser jemals verglichen werden kann«, »so schließt (doch) die Einzigkeit der Mittlerschaft des Erlösers im geschöpflichen Bereich ein verschiedenartiges Zusammenwirken durch Teilhabe an der einzigen Quelle nicht aus, sondern regt es sogar an«. So »wird die Güte Gottes in verschiedener Weise wahrhaft auf die Geschöpfe ausgegossen«<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 62.</ref>.

Die Lehre des II. Vatikanischen Konzils stellt die Wahrheit von der Mittlerschaft Marias dar als Teilhabe an dieser einzigen Quelle der Mittlerschaft Christi selbst. So lesen wir dort: »Eine solche untergeordnete Aufgabe Marias zu bekennen zögert die Kirche nicht, sie erfährt sie ständig und legt sie den Gläubigen ans Herz, damit sie unter diesem mütterlichen Schutz dem Mittler und Erlöser inniger verbunden seien«<ref>Ebd., 62.</ref>. Diese Aufgabe ist zugleich besonders und außerordentlich. Sie entspringt aus ihrer göttlichen Mutterschaft und kann nur dann im Glauben verstanden und gelebt werden, wenn man die volle Wahrheit über diese Mutterschaft zugrundelegt. Indem Maria kraft göttlicher Erwählung die Mutter des dem Vater wesensgleichen Sohnes ist, »ist sie (auch) uns in der Ordnung der Gnade Mutter geworden«<ref>Ebd., 61.</ref>. Diese Aufgabe ist eine konkrete Weise ihrer Gegenwart im Heilsgeheimnis Christi und der Kirche.

39 Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir noch einmal das grundlegende Ereignis in der Heilsordnung, nämlich die Menschwerdung des Wortes bei der Verkündigung, betrachten. Es ist bedeutungsvoll, dass Maria, als sie im Wort des Gottesboten den Willen des Höchsten erkennt und sich seiner Macht unterwirft, spricht: »Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast« (Lk 1, 38). Der erste Akt der Unterwerfung unter diese eine Mittlerschaft »zwischen Gott und den Menschen«, die Mittlerschaft Jesu Christi, ist die Annahme der Mutterschaft durch die Jungfrau von Nazaret. Maria stimmt der Wahl Gottes zu, um durch den Heiligen Geist die Mutter des Sohnes Gottes zu werden. Man kann sagen, dass diese ihre Zustimmung zur Mutterschaft vor allem eine Frucht ihrer vollen Hingabe an Gott in der Jungfräulichkeit ist. Maria hat die Erwählung zur Mutter des Sohnes Gottes angenommen, weil sie von bräutlicher Liebe geleitet war, die eine menschliche Person voll und ganz Gott »weiht«. Aus der Kraft dieser Liebe wollte Maria immer und in allem »gottgeweiht« sein, indem sie jungfräulich lebte. Die Worte »Ich bin die Magd des Herrn« bringen zum Ausdruck, dass sie von Anfang an ihre Mutterschaft angenommen und verstanden hat als die völlige Hingabe ihrer selbst, ihrer Person, für den Dienst an den Heilsplänen des Höchsten. Und ihre ganze mütterliche Teilnahme am Leben Jesu Christi, ihres Sohnes, hat sie bis zum Schluss in einer Weise vollzogen, wie sie ihrer Berufung zur Jungfräulichkeit entsprach.

Die Mutterschaft Marias, die ganz von der bräutlichen Haltung einer »Magd des Herrn« durchdrungen ist, stellt die erste und grundlegende Dimension jener Mittlerschaft dar, welche die Kirche von ihr bekennt und verkündet<ref>Ebd., 62.</ref> und die sie den Gläubigen fortwährend ans Herz legt, weil sie hierauf große Hoffnung setzt. Man muss ja bedenken, dass sich zuerst Gott selbst, der ewige Vater, der Jungfrau von Nazaret anvertraut hat, indem er ihr den eigenen Sohn im Geheimnis der Menschwerdung schenkte. Diese ihre Erwählung zur höchsten Aufgabe und Würde, dem Sohn Gottes Mutter zu sein, bezieht sich auf der Ebene des Seins auf die Wirklichkeit der Verbindung der zwei Naturen in der Person des ewigen Wortes (hypostatische Union). Diese grundlegende Tatsache, Mutter des Sohnes Gottes zu sein, bedeutet von Anfang an ein völliges Offensein für die Person Christi, für all sein Wirken, für seine ganze Sendung. Die Worte »Ich bin die Magd des Herrn« bezeugen die geistige Offenheit Marias, die auf vollkommene Weise die der Jungfräulichkeit eigene Liebe und die charakteristische Liebe der Mutterschaft in sich vereint, die so beide miteinander verbunden und gleichsam verschmolzen sind.

Darum ist Maria nicht nur die »Mutter und Ernährerin« des Menschensohnes geworden, sondern auch die »ganz einzigartige hochherzige Gefährtin«<ref>Ebd., 61.</ref> des Messias und Erlösers. Sie ging - wie schon gesagt - den Pilgerweg des Glaubens, und auf dieser ihrer Pilgerschaft bis unter das Kreuz hat sich zugleich ihre mütterliche Mitwirkung an der gesamten Sendung des Heilandes mit ihren Taten und ihren Leiden vollzogen. Auf dem Weg dieser Mitwirkung beim Werk ihres Sohnes, des Erlösers, erfuhr die Mutterschaft Marias ihrerseits eine einzigartige Umwandlung, indem sie sich immer mehr mit einer »brennenden Liebe« zu all denjenigen anfüllte, denen die Sendung Christi galt. Durch eine solche »brennende Liebe«, die darauf gerichtet war, zusammen mit Christus die »Wiederherstellung des übernatürlichen Lebens der Seelen«<ref>Ebd., 61.</ref> zu wirken, ist Maria auf ganz persönliche Weise in die alleinige Mittlerschaft zwischen Gott und den Menschen eingetreten, in die Mittlerschaft des Menschen Jesus Christus. Wenn sie selbst als erste die übernatürlichen Auswirkungen dieser alleinigen Mittlerschaft an sich erfahren hat - schon bei der Verkündigung war sie als »voll der Gnade« begrüßt worden -, dann muss man sagen, dass sie durch diese Fülle an Gnade und übernatürlichem Leben in besonderer Weise für das Zusammenwirken mit Christus, dem einzigen Vermittler des Heils der Menschen, vorbereitet war. Und ein solches Mitwirken ist eben diese der Mittlerschaft Christi untergeordnete Mittlerschaft Marias.

Bei Maria handelt es sich um eine spezielle und außerordentliche Mittlerschaft, die auf ihrer »Gnadenfülle« beruht, die sich in eine volle Verfügbarkeit der »Magd des Herrn« übertrug. Als Antwort auf diese innere Verfügbarkeit seiner Mutter bereitete Jesus Christus sie immer tiefer vor, den Menschen »Mutter in der Ordnung der Gnade« zu werden. Darauf weisen wenigstens indirekt bestimmte Einzelangaben der Synoptiker (vgl. Lk 11, 28; 8, 20-21; Mk 3, 32-34; Mt 12, 47-49) und mehr noch des Johannesevangeliums (vgl. 2, 1-11; 19, 25-27) hin, die ich bereits hervorgehoben habe. Die Worte, die Jesus am Kreuz zu Maria und Johannes gesprochen hat, sind in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich.

40 Als Maria nach den Ereignissen von Auferstehung und Himmelfahrt mit den Aposteln in Erwartung des Pfingstfestes den Abendmahlssaal betrat, war sie dort zugegen als Mutter des verherrlichten Herrn. Sie war nicht nur diejenige, die »den Pilgerweg des Glaubens ging« und ihre Verbundenheit mit dem Sohn »bis zum Kreuz« in Treue bewahrte, sondern auch die »Magd des Herrn«, die ihr Sohn als Mutter inmitten der soeben entstehenden Kirche zurückgelassen hatte: »Siehe, deine Mutter!«. So begann sich ein besonderes Band zwischen dieser Mutter und der Kirche zu bilden. Die entstehende Kirche war ja die Frucht des Kreuzes und der Auferstehung ihres Sohnes. Maria, die sich von Anfang an vorbehaltlos der Person und dem Werk des Sohnes zur Verfügung gestellt hatte, mußte diese ihre mütterliche Hingabe von Beginn an auch der Kirche zuwenden. Nach dem Weggehen des Sohnes besteht ihre Mutterschaft in der Kirche fort als mütterliche Vermittlung: Indem sie als Mutter für alle ihre Kinder eintritt, wirkt sie mit im Heilshandeln des Sohnes, des Erlösers der Welt. Das Konzil lehrt: »Diese Mutterschaft Marias in der Gnadenordnung dauert unaufhörlich fort ... bis zur ewigen Vollendung aller Auserwählten«<ref>Ebd., 62.</ref>. Die mütterliche Mittlerschaft der Magd des Herrn hat mit dem Erlösertod ihres Sohnes eine universale Dimension erlangt, weil das Werk der Erlösung alle Menschen umfasst. So zeigt sich auf besondere Weise die Wirksamkeit der einen und universalen Mittlerschaft Christi »zwischen Gott und den Menschen«. Die Mitwirkung Marias nimmt in ihrer untergeordneten Art teil am allumfassenden Charakter der Mittlerschaft des Erlösers, des einen Mittlers. Darauf weist das Konzil mit den soeben zitierten Worten deutlich hin.

»In den Himmel aufgenommen« - so lesen wir dort weiter - »hat sie nämlich diesen heilbringenden Auftrag nicht aufgegeben, sondern fährt durch ihre vielfältige Fürbitte fort, uns die Gaben des ewigen Heils zu erwirken«<ref>Ebd., 62.</ref>. Mit diesem »fürbittenden« Charakter, der sich zum erstenmal zu Kana in Galiläa gezeigt hat, setzt sich die Mittlerschaft Marias in der Geschichte der Kirche und der Welt fort. Wir lesen, dass Maria »in ihrer mütterlichen Liebe Sorge trägt für die Brüder ihres Sohnes, die noch auf der Pilgerschaft sind und in Gefahren und Bedrängnissen leben, bis sie zur seligen Heimat gelangen«<ref>Ebd., 62, auch in ihren Gebeten anerkennt und feiert die Kirche das »mütterliche Wirken« Marias: ihre Aufgabe, »Vergebung zu erbitten, Gnade zu erwirken, Versöhnung und Frieden zu vermitteln« (vgl. Präfation der Messe von der seligen Jungfrau Maria, Mutter und Gnadenvermittlerin, in: »Collectio Missarum de Beata Maria Virgine«, ed. typ. 1987, I, 120).</ref>. So dauert die Mutterschaft Marias in der Kirche unaufhörlich fort als Mittlerschaft der Fürbitte, und die Kirche bekundet ihren Glauben an diese Wahrheit, indem sie Maria »unter dem Titel der Fürsprecherin, der Helferin, des Beistandes und der Mittlerin« anruft<ref> II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 62.</ref>.

41 Durch ihre Mittlerschaft, die jener des Erlösers untergeordnet ist, trägt Maria in besonderer Weise zur Verbundenheit der pilgernden Kirche auf Erden mit der eschatologischen und himmlischen Wirklichkeit der Gemeinschaft der Heiligen bei, da sie ja schon »in den Himmel aufgenommen« worden ist<ref>Ebd., 62; vgl. Johannes von Damaskus, »Hom. in Dormitionem«, I, 11; II, 2, 14; III, 2: S. Ch. 80, 111 f., 127-131; 157-161; 181-185; Bernhard von Clairvaux, »In Assumptione Beatae Mariae Sermo«, 1-2: »S. Bernardi Opera«, V (1968) 228-238.</ref>. Die Wahrheit von der Aufnahme Marias, die von Pius XII. definiert wurde, ist vom II. Vatikanischen Konzil bekräftigt worden, das den Glauben der Kirche auf folgende Weise ausdrückt: »Schließlich wurde die unbefleckte Jungfrau, von jedem Makel der Erbsünde unversehrt bewahrt, nach Vollendung des irdischen Lebenslaufs mit Leib und Seele in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen und als Königin des Alls vom Herrn erhöht, um vollkommener ihrem Sohn gleichgestaltet zu sein, dem Herrn der Herren (vgl. Offb 19, 16) und dem Sieger über Sünde und Tod«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 59; vgl. PIUS XII., Apostolische Konstitution »Munificentissimus Deus« (1.11.1950): AAS 42 (1950) 769-771; BERNHARD V. CL.. stellt Maria dar wie eingetaucht in den Glanz der Herrlichkeit des Sohnes: »In Dominica infra oct. Assumptionis Sermo«, 3: »S. Bernardi Opera«, V (1968) 263 f.</ref>. Mit dieser Lehre hat Pius XII. an die Tradition angeknüpft, die in der Geschichte der Kirche, sei es im Orient oder im Okzident, vielfältige Ausdrucksformen gefunden hat.

Im Geheimnis ihrer Aufnahme in den Himmel haben sich an Maria alle Wirkungen der alleinigen Mittlerschaft Christi, des Erlösers der Welt und auferstandenen Herrn, auf endgültige Weise erfüllt: »Alle werden in Christus lebendig gemacht. Es gibt aber eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus; dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören« (1 Kor 15, 22-23). Im Geheimnis der Aufnahme in den Himmel kommt der Glaube der Kirche zum Ausdruck, nach dem Maria »durch ein enges und unauflösliches Band« mit Christus verbunden ist. Denn wenn die jungfräuliche Mutter in einzigartiger Weise mit ihm bei seinem ersten Kommen verbunden war, wird sie es durch ihr fortwährendes Mitwirken mit ihm auch in der Erwartung seiner zweiten Ankunft sein; »im Hinblick auf die Verdienste ihres Sohnes auf erhabenere Weise erlöst«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 53.</ref>, hat sie jene Aufgabe als Mutter und Mittlerin der Gnade auch bei seiner endgültigen Ankunft, wenn alle zum Leben erweckt werden, die Christus angehören, und »der letzte Feind, der entmachtet wird, der Tod ist« (1 Kor 15, 26)<ref>Über diesen Einzelaspekt der Mittlerschaft Marias als »Gnadenvermittlerin« bei ihrem Sohn und Richter vgl. BERNHARD V. CL.., »In Dominica infra oct. Assumptionis Sermo«, 1-2: »S. Bernardi Opera«, V (1968), 262 f.; LEO XIII., Enzyklika »Octobri Mense« (22.9.1891): »Acta Leonis«, XI, 299-315.</ref>.

Mit dieser Erhöhung der »erhabenen Tochter Zion«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 55.</ref> durch ihre Aufnahme in den Himmel ist das Geheimnis ihrer ewigen Herrlichkeit verbunden. Die Mutter Christi ist nämlich als »Königin des Alls«<ref>Ebd., 59.</ref> verherrlicht worden. Diejenige, die sich bei der Verkündigung als »Magd des Herrn« bezeichnet hat, ist bis zum Ende dem treu geblieben, was diese Bezeichnung zum Ausdruck bringt. Dadurch hat sie bekräftigt, dass sie eine wahre »Jüngerin« Christi ist, der den Dienstcharakter seiner Sendung nachdrücklich unterstrichen hat: Der Menschensohn »ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mt 20, 28). So ist auch Maria die erste unter denen geworden, die »Christus auch in den anderen dienen und ihre Brüder in Demut und Geduld zu dem König hinführen, dem zu dienen herrschen ist«<ref>Ebd., 36.</ref>, und hat jenen »Zustand königlicher Freiheit«, der den Jüngern Christi eigen ist, vollkommen besessen: Dienen bedeutet herrschen!

»Christus ist gehorsam geworden bis zum Tod. Deshalb wurde er vom Vater erhöht (vgl. Phil 2, 8-9) und ging in die Herrlichkeit seines Reiches ein. Ihm ist alles unterworfen, bis er sich selbst und alles Geschaffene dem Vater unterwirft, damit Gott alles in allem sei (vgl. 1 Kor 15, 27-28)«<ref>Ebd., 36.</ref>. Maria, die Magd des Herrn, nimmt teil an dieser Herrschaft des Sohnes<ref>Zum Titel »Maria Königin« vgl. Johannes von Damaskus, »Hom. in Nativitatem«, 6; 12; »Hom. in Dormitionem«, I, 2, 12, 14; II, 11; III, 4: S. Ch. 80, 59 f.; 77 f.; 113 f.; 117; 151 f.; 189-193.</ref>. Die Herrlichkeit des Dienens bleibt ihre königliche Würde: Nach ihrer Aufnahme in den Himmel endet nicht jener Heilsdienst, in dem sich ihre mütterliche Vermittlung »bis zur ewigen Vollendung aller Auserwählten«<ref> II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 62.</ref> ausdrückt. So bleibt diejenige, die hier auf Erden »ihre Verbundenheit mit dem Sohn in Treue bis zum Kreuz bewahrte«, weiterhin dem verbunden, dem schon »alles unterworfen ist, bis er selbst sich und alles Geschaffene dem Vater unterwirft«. So ist Maria bei ihrer Aufnahme in den Himmel gleichsam von der ganzen Wirklichkeit der Gemeinschaft der Heiligen umgeben, und ihre eigene Verbundenheit mit dem Sohn in der Herrlichkeit ist ganz auf jene endgültige Fülle des Reiches ausgerichtet, wenn »Gott alles in allem sein wird«.

Auch in dieser Phase bleibt die mütterliche Mittlerschaft Marias dem »untergeordnet«, der der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist bis zur endgültigen Verwirklichung »der Fülle der Zeit«, bis dass alles in Christus vereint ist (vgl. Eph 1, 10).

2. Maria im Leben der Kirche und jedes Christen

42 Das II. Vatikanische Konzil hat in enger Verbindung mit der Tradition neues Licht auf die Stellung der Mutter Christi im Leben der Kirche geworfen. »Die selige Jungfrau ist durch das Geschenk ... der göttlichen Mutterschaft, durch die sie mit ihrem Sohn und Erlöser vereint ist, und durch ihre einzigartigen Gnaden und Gaben auch mit der Kirche auf das innigste verbunden. Die Gottesmutter ist ... der Typus der Kirche auf der Ebene des Glaubens, der Liebe und der vollkommenen Einheit mit Christus«<ref>Ebd., 63.</ref>. Schon früher haben wir gesehen, wie Maria von Anfang an in Erwartung des Pfingsttages mit den Aposteln zusammengeblieben ist und als die »Selige, die geglaubt hat«, von Generation zu Generation in der im Glauben pilgernden Kirche gegenwärtig ist, als Modell für die Hoffnung, die nicht enttäuscht (vgl. Röm 5, 5).

Maria »hat geglaubt, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ«. Als Jungfrau hat sie geglaubt, dass »sie einen Sohn empfangen und gebären wird«: den »Heiligen«, dem der Name »Sohn Gottes«, der Name »Jesus« (= Gott, der rettet) entspricht. Als Magd des Herrn blieb sie der Person und der Sendung dieses Sohnes vollkommen treu. Als Mutter »gebar sie im Glauben und Gehorsam den Sohn des Vaters auf Erden, und zwar ohne einen Mann zu erkennen, vom Heiligen Geist überschattet«.<ref>Ebd., 63.</ref>

Aus diesem Grund wird Maria mit Recht »von der Kirche in einem Kult eigener Art geehrt. Schon seit ältesten Zeiten wird ... (sie) unter dem Titel der "Gottesgebärerin" verehrt, unter deren Schutz die Gläubigen in allen Gefahren und Nöten bittend Zuflucht nehmen«<ref>Ebd., 66.</ref>. Dieser Kult ist ganz eigener Art: Er beinhaltet und bekundet jene tiefe Verbindung, die zwischen der Mutter Christi und der Kirche besteht<ref>Vgl. AMBROSIUS, »De Institutione Virginis«, XIV, 88-89: PL 16, 341; AUGUSTINUS, »Sermo 215«, 4: PL 38, 1074; »De Sancta Virginitate«, II, 2; V, 5; VI, 6: PL 40, 397; 398 f.; 399; »Sermo 191«, II, 3: PL 38, 1010 f.</ref>. Als Jungfrau und Mutter bleibt Maria für die Kirche »beständiges Vorbild«. Man kann also sagen, dass vor allem durch diesen Aspekt, das heißt als Vorbild oder viel mehr als »Typus«, Maria, die im Geheimnis Christi zugegen ist, auch ständig im Geheimnis der Kirche gegenwärtig bleibt. Auch die Kirche wird ja »Mutter und Jungfrau« genannt, und diese Namen haben eine tiefe biblische und theologische Berechtigung.<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 63.</ref>

43 Die Kirche »wird selbst Mutter ... durch die gläubige Annahme des Wortes Gottes«<ref>Ebd., 64.</ref>. Wie Maria, die als erste geglaubt hat, indem sie das bei der Verkündigung ihr offenbarte Wort Gottes annahm und ihm in allen ihren Prüfungen bis zum Kreuz treu blieb, so wird die Kirche Mutter, wenn sie, indem sie in Treue das Wort Gottes aufnimmt, »durch Predigt und Taufe die vom Heiligen Geist empfangenen und aus Gott geborenen Kinder zum neuen und unsterblichen Leben gebiert«<ref> Ebd., 64.</ref>. Diese »mütterliche« Eigenschaft der Kirche ist auf besonders lebhafte Weise vom Völkerapostel ausgedrückt worden, wenn er schreibt: »Meine Kinder, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt annimmt!« (Gal 4, 19). In diesem Wort des hl. Paulus ist ein interessanter Hinweis auf das mütterliche Bewusstsein der Urkirche enthalten, das mit ihrem apostolischen Dienst unter den Menschen verbunden ist. Dieses Bewusstsein erlaubte und erlaubt es der Kirche ständig, das Geheimnis ihres Lebens und ihrer Sendung nach dem Beispiel der Mutter des Sohnes zu verstehen, der »der Erstgeborene von vielen Brüdern« ist (Röm 8, 29).

Die Kirche lernt sozusagen von Maria auch ihre eigene Mutterschaft. Sie erkennt die mütterliche Dimension ihrer Berufung, die mit ihrer sakramentalen Natur wesentlich verbunden ist, indem sie »ihre (Marias) erhabene Heiligkeit betrachtet und ihre Liebe nachahmt und den Willen des Vaters treu erfüllt«<ref>Ebd., 64.</ref>. Wenn die Kirche Zeichen und Werkzeug für die innige Vereinigung mit Gott ist, so ist sie dies aufgrund ihrer Mutterschaft: weil sie, vom Geist belebt, Söhne und Töchter der Menschheitsfamilie zu einem neuen Leben in Christus »gebiert«. Denn wie Maria im Dienst des Geheimnisses der Menschwerdung steht, so bleibt die Kirche im Dienst des Geheimnisses der Annahme an Kindes Statt durch die Gnade.

Gleichzeitig bleibt die Kirche nach dem Beispiel Marias die ihrem Bräutigam treue Jungfrau: »Auch sie ist Jungfrau, da sie das Treuewort, das sie dem Bräutigam gegeben hat, unversehrt und rein bewahrt«<ref>Ebd., 64.</ref>. Die Kirche ist ja die Braut Christi, wie es sich aus den paulinischen Briefen (vgl. z. B. Eph 5, 21-33; 2 Kor 11, 2) und aus der Bezeichnung des Johannes: »die Frau des Lammes« (Offb 21, 9) ergibt. Wenn die Kirche als Braut »das Christus gegebene Treuewort bewahrt«, dann besitzt diese Treue, auch wenn sie in der Unterweisung des Apostels zum Bild für die Ehe geworden ist (vgl. Eph 5, 23-30), zugleich den Wert eines Typus für die Ganzhingabe an Gott in der Ehelosigkeit »um des Himmelreiches willen«, das heißt für die gottgeweihte Jungfräulichkeit (vgl. Mt 19, 11-12; 2 Kor 11, 2). Gerade diese Jungfräulichkeit, nach dem Beispiel der Jungfrau von Nazaret, ist Quelle einer besonderen geistigen Fruchtbarkeit: ist Quelle der Mutterschaft im Heiligen Geist.

Aber die Kirche hütet auch den von Christus empfangenen Glauben: Nach dem Beispiel Marias, die alles bewahrte und in ihrem Herzen erwog (vgl. Lk 2, 19. 51), was ihren göttlichen Sohn betraf, ist sie bemüht, das Wort Gottes zu bewahren, mit Unterscheidungsgabe und Umsicht seinen inneren Reichtum zu erforschen und davon in jeder Epoche allen Menschen in Treue Zeugnis zu geben<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei verbum«, 8; BONAVENTURA, »Comment. in Evang. Lucae«, Ad Claras Aquas, VII, 53, Nr. 40; 68, Nr. 109.</ref>.

44 Aufgrund dieses Vorbildcharakters begegnet die Kirche Maria und sucht ihr ähnlich zu werden: »In Nachahmung der Mutter ihres Herrn in der Kraft des Heiligen Geistes bewahrt sie jungfräulich einen unversehrten Glauben, eine feste Hoffnung und eine aufrichtige Liebe«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 64.</ref>. Maria ist also im Geheimnis der Kirche gegenwärtig als Vorbild. Aber das Geheimnis der Kirche besteht auch im Gebären zu einem neuen, unsterblichen Leben: Es ist ihre Mutterschaft im Heiligen Geist. Und hierbei ist Maria nicht nur Vorbild und Typus der Kirche, sondern weit mehr. Denn »in mütterlicher Liebe wirkt sie mit bei der Geburt und Erziehung« der Söhne und Töchter der Mutter Kirche. Die Mutterschaft der Kirche verwirklicht sich nicht nur nach dem Vorbild und dem Typus der Mutter Gottes, sondern auch durch ihre »Mitwirkung«. Die Kirche schöpft in reichem Maße aus dieser Mitwirkung, das heißt aus dieser besonderen mütterlichen Vermittlung, da Maria schon auf Erden bei der Geburt und Erziehung der Söhne und Töchter der Kirche als Mutter jenes Sohnes mitgewirkt hat, »den Gott gesetzt hat zum Erstgeborenen unter vielen Brüdern«<ref>Ebd., 63.</ref>.

In mütterlicher Liebe wirkte sie dabei mit, wie das II. Vatikanische Konzil lehrt<ref>Vgl. ebd., 63.</ref>. Hier erkennt man die wahre Bedeutung jener Worte, die Jesus in der Stunde des Kreuzes zu seiner Mutter gesagt hat: »Frau, siehe, dein Sohn«; und zum Jünger: »Siehe, deine Mutter« (Joh 19, 26-27). Es sind Worte, die die Stellung Marias im Leben der Jünger Christi bestimmen. Sie bringen - wie schon gesagt - die neue Mutterschaft der Mutter des Erlösers zum Ausdruck: die geistige Mutterschaft, die tief im österlichen Geheimnis des Erlösers der Welt entspringt. Es ist eine Mutterschaft in der Gnadenordnung, weil sie die Gabe des Heiligen Geistes erfleht, der die neuen, durch das Opfer Christi erlösten Kinder Gottes zum Leben erweckt: jener Geist, den zusammen mit der Kirche auch Maria am Pfingsttag empfangen hat.

Diese ihre Mutterschaft wird vom christlichen Volk in besonderer Weise wahrgenommen und erlebt bei der heiligen Eucharistie, bei der liturgischen Feier des Erlösungsgeheimnisses, in der Christus mit seinem wahren, aus der Jungfrau Maria geborenen Leib gegenwärtig wird. Zu Recht hat das christliche Volk in seiner Frömmigkeit immer eine tiefe Verbindung zwischen der Verehrung der heiligen Jungfrau und dem Kult der Eucharistie gesehen: Dies ist eine Tatsache, die in der westlichen wie östlichen Liturgie, in der Tradition der Ordensgemeinschaften, in der Spiritualität heutiger religiöser Bewegungen, auch unter der Jugend, und in der Pastoral der marianischen Wallfahrtsorte ersichtlich ist. Maria führt die Gläubigen zur Eucharistie.

45 Es gehört zur Natur der Mutterschaft, dass sie sich auf eine Person bezieht. Sie führt immer zu einer einzigartigen und unwiederholbaren Beziehung von zwei Personen: der Mutter zum Kind und des Kindes zur Mutter. Auch wenn ein und dieselbe Frau Mutter von vielen Kindern ist, kennzeichnet ihre persönliche Beziehung zu jedem einzelnen von ihnen wesentlich ihre Mutterschaft. Jedes Kind ist nämlich auf einmalige und unwiederholbare Weise gezeugt worden, und das gilt sowohl für die Mutter als auch für das Kind. Jedes Kind wird auf die nämliche Weise von jener mütterlichen Liebe umgeben, auf der seine menschliche Erziehung und Reifung gründen.

Man kann sagen, dass »die Mutterschaft in der Ordnung der Gnade« eine Ähnlichkeit bewahrt mit dem, was »in der Ordnung der Natur« die Verbindung der Mutter mit ihrem Kind kennzeichnet. In diesem Licht wird es verständlicher, dass im Testament Christi auf Golgota die neue Mutterschaft seiner Mutter in der Einzahl, mit Bezug auf einen Menschen, ausgedrückt worden ist: »Siehe, dein Sohn«.

Man kann ferner sagen, dass in diesen Worten das Motiv für die marianische Dimension im Leben der Jünger Christi klar angegeben wird: nicht nur des Johannes, der zu jener Stunde zusammen mit der Mutter seines Meisters unter dem Kreuze stand, sondern jedes Jüngers Christi, jedes Christen. Der Erlöser vertraut seine Mutter dem Jünger an, und zugleich gibt er sie ihm zur Mutter. Die Mutterschaft Marias, die zum Erbe des Menschen wird, ist ein Geschenk, das Christus persönlich jedem Menschen macht. Wie der Erlöser Maria dem Johannes anvertraut, so vertraut er gleichzeitig den Johannes Maria an. Zu Füßen des Kreuzes hat jene besondere vertrauensvolle Hingabe des Menschen an die Mutter Christi ihren Anfang, die dann in der Geschichte der Kirche auf verschiedene Weise vollzogen und zum Ausdruck gebracht worden ist. Wenn der gleiche Apostel und Evangelist, nachdem er die von Jesus am Kreuz an die Mutter und an ihn selbst gerichteten Worte angeführt hat, noch hinzufügt: »Und von jener Stunde nahm sie der Jünger zu sich« (Joh 19, 27), will dies gewiss besagen, dass dem Jünger damit die Rolle eines Sohnes übertragen worden ist, und er die Sorge für die Mutter des geliebten Meisters übernommen hat. Und weil Maria ihm persönlich zur Mutter gegeben worden ist, meint diese Aussage, wenn auch nur indirekt, all das, was die innerste Beziehung eines Kindes zu seiner Mutter ausdrückt. Dies alles kann man in dem Wort »Vertrauen« zusammenfassen. Vertrauen ist die Antwort auf die Liebe einer Person und im besonderen auf die Liebe der Mutter.

Die marianische Dimension im Leben eines Jüngers Christi kommt in besonderer Weise durch ein solches kindliches Vertrauen zur Muttergottes zum Ausdruck, wie es im Testament des Erlösers auf Golgota seinen Ursprung hat. Indem der Christ sich wie der Apostel Johannes Maria kindlich anvertraut, nimmt er die Mutter Christi »bei sich« auf<ref>Bekanntlich besagt der Ausdruck »eis ta idia« des griechischen Textes mehr, als dass Maria von dem Jünger lediglich für die äußere Unterbringung und Versorgung in seine Wohnung aufgenommen worden wäre; vielmehr bezeichnet er eine »Lebensgemeinschaft«, die sich zwischen beiden aufgrund der Worte des sterbenden Christus bildet: vgl. AUGUSTINUS, »In Ioan. Evang. tract.«, 119, 3: CCL 36, 659: »Er nahm sie zu sich, nicht in sein Besitztum, weil er nichts zu eigen besaß, sondern in seine Verantwortung, der er mit Hingabe nachkam«.</ref> und führt sie ein in den gesamten Bereich seines inneren Lebens, das heißt in sein menschliches und christliches »Ich«: »Er nahm sie zu sich«. Auf diese Weise sucht er in den Wirkungskreis jener »mütterlichen Liebe« zu gelangen, mit der die Mutter des Erlösers »Sorge für die Brüder ihres Sohnes trägt«<ref> II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 62.</ref>, »bei deren Geburt und Erziehung sie mitwirkt«<ref>Ebd., 63.</ref> nach dem Maß der Gnadengabe, die jeder durch die Kraft des Geistes Christi besitzt. So entfaltet sich auch jene Mutterschaft nach dem Geist, die unter dem Kreuz und im Abendmahlssaal Marias Aufgabe geworden ist.

46 Diese kindliche Beziehung, dieses Sichanvertrauen eines Kindes an die Mutter, hat nicht nur in Christus ihren Anfang, sondern man kann sagen, dass sie im Letzten auf ihn hingeordnet ist. Man kann sagen, dass Maria fortfährt, für uns alle dieselben Worte zu wiederholen, die sie zu Kana in Galiläa gesprochen hat: »Was er euch sagt, das tut!« Denn er, Christus, ist der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen; er ist »der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6); er ist derjenige, den der Vater der Welt gegeben hat, auf dass der Mensch »nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat« (Joh 3, 16). Die Jungfrau von Nazaret ist die erste »Zeugin« dieser Erlöserliebe des Vaters geworden und möchte auch immer und überall seine demütige Magd bleiben. Für jeden Christen, jeden Menschen ist Maria diejenige, die als erste »geglaubt hat«; mit diesem ihrem Glauben als Jungfrau und Mutter will sie auf alle jene einwirken, die sich ihr als Kinder anvertrauen. Es ist bekannt, je mehr diese Kinder in einer solchen Haltung verharren und darin fortschreiten, desto näher führt sie Maria zu den »unergründlichen Reichtümern Christi« (Eph 3, 8). Und ebenso erkennen sie immer besser die Würde des Menschen und den letzten Sinn seiner Berufung in ihrer ganzen Fülle, weil Christus »dem Menschen den Menschen selbst voll kundmacht«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute »Gaudium et spes«, 22.</ref>.

Diese marianische Dimension im christlichen Leben erhält einen eigenen Akzent im Blick auf die Frau und ihre Lebenslage. In der Tat enthält das Wesen der Frau ein besonderes Band zur Mutter des Erlösers, ein Thema, das an anderer Stelle noch wird vertieft werden können. Hier möchte ich nur hervorheben, dass die Gestalt Marias von Nazaret schon allein dadurch die Frau als solche ins Licht stellt, dass sich Gott im erhabenen Geschehen der Menschwerdung seines Sohnes dem freien und tätigen Dienst einer Frau anvertraut hat. Man kann daher sagen, dass die Frau durch den Blick auf Maria dort das Geheimnis entdeckt, wie sie ihr Frausein würdig leben und ihre wahre Entfaltung bewirken kann. Im Licht Marias erblickt die Kirche auf dem Antlitz der Frau den Glanz einer Schönheit, die die höchsten Gefühle widerspiegelt, deren das menschliche Herz fähig ist: die vorbehaltlose Hingabe der Liebe; eine Kraft, die größte Schmerzen zu ertragen vermag; grenzenlose Treue und unermüdlicher Einsatz; die Fähigkeit, tiefe Einsichten mit Worten des Trostes und der Ermutigung zu verbinden.

47 Während des Konzils hat Paul VI. feierlich erklärt, dass Maria die Mutter der Kirche ist, das heißt »Mutter des ganzen christlichen Volkes, sowohl der Gläubigen als auch der Hirten«<ref>Vgl. Paul VI., »Ansprache« vom 21. Nov. 1964: AAS 56 (1964) 1015.</ref>. Später, im Jahre 1968, bekräftigte er diese Aussage noch nachdrücklicher in dem Glaubensbekenntnis, das unter dem Namen »Credo des Gottesvolkes« bekannt ist, mit den folgenden Worten: »Wir glauben, dass die heiligste Gottesmutter, die neue Eva, Mutter der Kirche, für die Glieder Christi ihre mütterliche Aufgabe im Himmel fortsetzt, indem sie bei der Geburt und Erziehung des göttlichen Lebens in den Seelen der Erlösten mitwirkt«<ref>Paul VI., »Feierliches Glaubensbekenntnis« (30.6.1968), 15: AAS 60 (1968) 438 f.</ref>.

Das Konzil hat in seiner Lehre betont, dass die Wahrheit über die heiligste Jungfrau, die Mutter Christi, eine wirksame Hilfe für die Vertiefung der Wahrheit über die Kirche darstellt. Derselbe Paul VI. sagte, als er zu der soeben vom Konzil approbierten Konstitution »Lumen gentium« das Wort ergriff: »Die Kenntnis der wahren katholischen Lehre über die selige Jungfrau Maria wird immer einen Schlüssel für das genaue Verständnis des Geheimnisses Christi und der Kirche darstellen«<ref>Paul VI., »Ansprache« vom 21. Nov. 1964: AAS 56 (1964) 1015.</ref>. Maria ist in der Kirche gegenwärtig als Mutter Christi und zugleich als jene Mutter, die Christus im Geheimnis der Erlösung in der Person des Apostels Johannes dem Menschen gegeben hat. Deshalb umfängt Maria mit ihrer neuen Mutterschaft im Geiste alle und jeden in der Kirche, sie umfängt auch alle und jeden durch die Kirche. In diesem Sinn ist die Mutter der Kirche auch deren Vorbild. Die Kirche soll nämlich - wie Paul VI. wünscht und fordert - »von der Jungfrau und Gottesmutter die reinste Form der vollkommenen Christusnachfolge übernehmen«<ref>Ebd., 1016.</ref>.

Dank dieses besonderen Bandes, das die Mutter Christi mit der Kirche verbindet, erklärt sich besser das Geheimnis jener »Frau«, die von den ersten Kapiteln des Buches Genesis bis zur Apokalypse die Offenbarung des Heilsplanes Gottes für die Menschheit begleitet. Maria ist nämlich in der Kirche gegenwärtig als die Mutter des Erlösers, nimmt mütterlich teil an jenem »harten Kampf gegen die Mächte der Finsternis ..., der die ganze Geschichte der Menschheit durchzieht«<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute »Gaudium et spes«, 37.</ref>. Durch diese ihre kirchliche Identifizierung mit der »Frau, mit der Sonne bekleidet« (Offb 12, 1)<ref>Vgl. BERNHARD V. CL.., »In Dominica infra oct. Assumptionis Sermo: S. Bernardi Opera«, V (1968) 262-274.</ref>, kann man sagen, dass »die Kirche in der seligsten Jungfrau schon zur Vollkommenheit gelangt ist, in der sie ohne Makel und Runzeln ist«. Deshalb erheben die Christen während ihrer irdischen Pilgerschaft im Glauben ihre Augen zu Maria und bemühen sich, »in der Heiligkeit zu wachsen«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 65.</ref>. Maria, die erhabene Tochter Zion, hilft ihren Kindern - wo und wie auch immer sie gerade leben - in Christus den Weg zum Hause des Vaters zu finden.

So weiß sich die Kirche in ihrem ganzen Leben mit der Mutter Christi durch ein Band verbunden, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Heilsgeheimnisses umfasst, und verehrt Maria als geistige Mutter der Menschheit und Fürsprecherin der Gnade.

3. Der Sinn des Marianischen Jahres

48 Gerade die besondere Verbindung der Menschheit mit dieser Mutter hat mich veranlasst, in der Zeit vor dem Abschluss des zweiten Jahrtausends seit der Geburt Christi in der Kirche ein Marianisches Jahr auszurufen. Eine ähnliche Initiative fand bereits in der Vergangenheit statt, als Pius XII. das Jahr 1954 als Marianisches Jahr ausrief, um die außerordentliche Heiligkeit der Mutter Christi hervorzuheben, wie sie in den Geheimnissen ihrer Empfängnis ohne Makel der Erbsünde (genau ein Jahrhundert zuvor definiert) und ihrer Aufnahme in den Himmel zum Ausdruck kommt<ref>Vgl. Enzyklika »Fulgens corona« (8.9.1953): AAS 45 (1953) 577-592; Pius X. hatte mit der Enzyklika »Ad diem illum« (2.2.1904) zum 50jährigen Gedenken der dogmatischen Definition der Unbefleckten Empfängnis der seligen Jungfrau Maria ein außerordentliches Jubiläum von einigen Monaten verkündet: »Pii X P.M. Acta« I, 147-166.</ref>.

Indem ich der vom II. Vatikanischen Konzil gewiesenen Richtung folge, möchte ich die besondere Gegenwart der Gottesmutter im Geheimnis Christi und seiner Kirche hervortreten lassen. Dies ist ja in der Tat eine grundlegende Dimension, die der marianischen Lehre des Konzils entspringt, von dessen Abschluss uns inzwischen mehr als zwanzig Jahre trennen. Die außerordentliche Bischofssynode vom Jahre 1985 hat alle aufgefordert, den Lehren und Anweisungen des Konzils treu zu folgen. Man kann sagen, dass in beiden - Konzil und Synode - enthalten ist, was der Heilige Geist selbst in der gegenwärtigen Phase der Geschichte »der Kirche sagen« will.

In einem solchen Zusammenhang soll das Marianische Jahr dazu dienen, auch all das erneut und vertieft zu bedenken, was das Konzil über die selige Jungfrau und Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche gesagt hat und worauf sich die Betrachtungen dieser Enzyklika beziehen. Hierbei geht es nicht nur um die Glaubenslehre, sondern auch um das Glaubensleben und folglich auch um die echte »marianische Spiritualität«, wie sie im Licht der Tradition sichtbar wird, und insbesondere um die Spiritualität, zu der uns das Konzil ermutigt<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 66-67.</ref> . Darüber hinaus findet die marianische Spiritualität, ebenso wie die entsprechende Marienverehrung, eine überaus reiche Quelle in der geschichtlichen Erfahrung der Personen und der verschiedenen christlichen Gemeinschaften, die unter den verschiedenen Völkern und Nationen auf der ganzen Erde leben. In diesem Zusammenhang erinnere ich unter den vielen Zeugen und Meistern einer solchen Spiritualität gern an die Gestalt des hl. Ludwig Maria Grignion de Montfort<ref>Vgl. das Buch »Traité de la vraie dévotion à la sainte Vierge«. Diesem Heiligen kann man zu Recht die Gestalt des hl. Alfons Maria von Liguori zur Seite stellen, dessen 200. Jahrestag nach seinem Tode wir dieses Jahr begehen: vgl. unter seinen Werken »Le glorie di Maria«.</ref> , der den Christen die Weihe an Christus durch die Hände Marias als wirksames Mittel empfahl, um die Taufverpflichtungen treu zu leben. Mit Freuden stelle ich fest, dass es auch in unseren Tagen neue Zeichen dieser Spiritualität und Frömmigkeit gibt. Wir haben also sichere Ansatzpunkte, auf die wir uns im Zusammenhang dieses Marianischen Jahres aufmerksam beziehen wollen.

49 Das Marianische Jahr soll mit dem Pfingstfest am kommenden 7. Juni beginnen. Es handelt sich ja nicht nur darum zu erinnern, dass Maria dem Eintritt Christi, des Herrn, in die Menschheitsgeschichte vorausgegangen ist, sondern ebenso, im Licht Marias zu unterstreichen, dass seit der Vollendung des Geheimnisses der Menschwerdung die Geschichte der Menschheit »in die Fülle der Zeit« eingetreten ist und die Kirche das Zeichen dieser Fülle darstellt. Als Volk Gottes pilgert die Kirche im Glauben, inmitten aller Völker und Nationen, auf die Ewigkeit zu, beginnend mit dem Pfingsttag. Die Mutter Christi, die am Beginn der »Zeit der Kirche« zugegen war, als sie in Erwartung des Heiligen Geistes beharrlich im Gebet inmitten der Apostel und Jünger ihres Sohnes weilte, »geht« der Kirche auf ihrem Pilgerweg durch die Geschichte der Menschheit ständig »voran«. Sie ist es auch, die gerade als »Magd des Herrn« am Heilswerk Christi, ihres Sohnes, unaufhörlich mitwirkt.

So wird die ganze Kirche durch dieses Marianische Jahr dazu aufgerufen, sich nicht nur an all das zu erinnern, was in ihrer Vergangenheit das besondere mütterliche Mitwirken der Gottesmutter am Heilswerk Christi, des Herrn, bezeugt, sondern auch ihrerseits für die Zukunft die Wege für dieses Zusammenwirken zu bereiten: Denn das Ende des zweiten christlichen Jahrtausends eröffnet zugleich einen neuen Blick auf die Zukunft.

50 Wie schon erinnert wurde, verehren und feiern auch unter den getrennten Brüdern viele die Mutter des Herrn, besonders bei den Orientalen. Das ist ein marianisches Licht, das auf den Ökumenismus fällt. Ich möchte hier noch besonders daran erinnern, dass während des Marianischen Jahres die Tausendjahrfeier der Taufe des hl. Wladimir, des Großfürsten von Kiew (im Jahre 988), stattfindet, die den Anfang des Christentums in den Territorien des einstmaligen Rus' und danach in weiteren Gegenden Osteuropas setzte; und dass sich auf diesem Wege, durch das Werk der Evangelisierung, das Christentum auch über Europa hinaus bis zu den nördlichen Bereichen des asiatischen Kontinents ausgebreitet hat. Wir wollen uns deshalb besonders während dieses Jahres im Gebet mit all denen vereinen, die die Tausendjahrfeier dieser Taufe begehen, Orthodoxe und Katholiken, indem wir wiederholen und bestätigen, was das Konzil geschrieben hat: »Es bereitet große Freude und Trost, dass ... sich die Orientalen an der Verehrung der allzeit jungfräulichen Gottesmutter mit glühendem Eifer und andächtiger Gesinnung beteiligen«<ref>II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 69.</ref>. Auch wenn wir noch immer die schmerzliche Auswirkung der Trennung erfahren, die wenige Jahrzehnte später erfolgte (im Jahre 1054), können wir doch sagen, dass wir uns vor der Mutter Christi als wahre Brüder und Schwestern innerhalb jenes messianischen Volkes fühlen, das dazu berufen ist, eine einzige Gottesfamilie auf der Erde zu sein, wie ich schon zu Beginn des neuen Jahres verkündet habe: »Wir wollen erneut dieses universale Erbe aller Brüder und Schwestern auf dieser Erde bestätigen«<ref>»Homilie« vom 1. Januar 1987.</ref>.

Bei der Ankündigung des Marianischen Jahres habe ich ebenso darauf hingewiesen, dass sein Abschluss im kommenden Jahr am Fest der Aufnahme der seligsten Jungfrau Maria in den Himmel begangen werden wird, um »das große Zeichen am Himmel« hervorzuheben, von dem die Offenbarung des Johannes spricht. In dieser Weise wollen wir auch die Aufforderung des Konzils erfüllen, das auf Maria als das »Zeichen sicherer Hoffnung und des Trostes für das pilgernde Gottesvolk« schaut. Dieser Aufruf des Konzils ist in den folgenden Worten enthalten: »Alle Christgläubigen mögen inständig zur Mutter Gottes und Mutter der Menschen flehen, dass sie, die den Anfängen der Kirche mit ihren Gebeten zur Seite stand, auch jetzt, im Himmel über alle Seligen und Engel erhöht, in Gemeinschaft mit allen Heiligen bei ihrem Sohn Fürbitte einlege, bis alle Völkerfamilien, mögen sie den christlichen Ehrennamen tragen oder ihren Erlöser noch nicht kennen, in Friede und Eintracht glückselig zum einen Gottesvolk versammelt werden, zur Ehre der heiligsten und ungeteilten Dreifaltigkeit«<ref> II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«, 69.</ref>.

SCHLUSS

51 Am Ende des täglichen Stundengebetes richtet die Kirche neben anderen diesen Gebetsruf an Maria:

»Alma Redemptoris Mater…«

»Erhabne Mutter des Erlösers,

du allzeit offene Pforte des Himmels

und Stern des Meeres,

komm, hilf deinem Volk,

das sich müht, vom Falle aufzustehen.

Du hast geboren, der Natur zum Staunen,

deinen heiligen Schöpfer«.
»Der Natur zum Staunen« (»natura mirante«)!

Diese Worte der Antiphon geben jenes gläubige Staunen wider, das das Geheimnis der göttlichen Mutterschaft Marias begleitet. Es begleitet es in gewissem Sinne im Herzen der gesamten Schöpfung und unmittelbar im Herzen des ganzen Gottesvolkes, im Herzen der Kirche. Wie wunderbar weit ist Gott, der Schöpfer und Herr aller Dinge, in der »Offenbarung seiner selbst« an den Menschen gegangen<ref>Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei verbum«, 2: »In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott ... aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde ... und verkehrt mit ihnen ..., um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen«. </ref>! Wie deutlich hat er alle Räume jener unendlichen »Distanz« überwunden, die den Schöpfer vom Geschöpf trennt! Wenn er schon in sich selbst unaussprechlich und unerforschlich bleibt, so ist er noch unaussprechlicher und unerforschlicher in der Wirklichkeit der Inkarnation des göttlichen Wortes, das durch die Jungfrau von Nazaret Mensch geworden ist.

Wenn er von Ewigkeit her den Menschen zur »Teilhabe an der göttlichen Natur« (vgl. 2 Petr 1, 4) berufen hat, kann man sagen, dass er die »Vergöttlichung« des Menschen zugleich seiner geschichtlichen Lage entsprechend vorgesehen hat, so dass er auch nach dem Sündenfall bereit ist, den ewigen Plan seiner Liebe durch die »Vermenschlichung« des Sohnes, der ihm wesensgleich ist, um einen hohen Preis wiederherzustellen. Die ganze Schöpfung und noch unmittelbarer der Mensch müssen vom Staunen über dieses Geschenk getroffen bleiben, das ihnen im Heiligen Geist zuteil geworden ist: »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab« (Joh. 3, 16).

Im Zentrum dieses Geheimnisses, im Mittelpunkt dieses gläubigen Staunens steht Maria, die erhabne Mutter des Erlösers, sie hat es als erste erfahren: »Du hast geboren, der Natur zum Staunen, deinen heiligen Schöpfer« (»Tu quae genuisti, natura mirante, tuum sanctum Genitorem«)!

52 In den Worten dieser liturgischen Antiphon kommt auch die Wahrheit von der »großen Wende« zum Ausdruck, die dem Menschen vom Geheimnis der Inkarnation bestimmt ist. Diese Wende gehört zu seiner ganzen Geschichte, von jenem Anfang an, der uns in den ersten Kapiteln der Genesis offenbart ist, bis zum letzten Ende, im Hinblick auf das Weltenende nämlich, von dem uns Jesus »weder den Tag noch die Stunde« (vgl. Mt 25, 13) offenbart hat. Es ist eine unaufhörliche und ständige Wende vom Fallen zum Wiederaufstehen, vom Menschen der Sünde zum Menschen der Gnade und Gerechtigkeit. Die Liturgie, vor allem im Advent, zielt auf den entscheidenden Punkt dieser Wende und erfasst dabei ihr ständiges »heute und jetzt«, wenn sie ausruft: »Komm, hilf deinem Volk, das sich müht, vom Falle aufzustehen« (»Succurre cadenti surgere qui curat populo«).

Diese Worte beziehen sich auf jeden Menschen, auf die Gemeinschaften, Nationen und Völker, auf die Generationen und Epochen der menschlichen Geschichte, auf unsere Epoche, auf diese letzten Jahre des Jahrtausends, das sich dem Ende zuneigt: »Komm, hilf deinem Volk, das fällt« (»Succurre cadenti ... populo«)!

Das ist die Bitte an Maria, die »erhabne Mutter des Erlösers«, die Bitte an Christus, der durch Maria in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist. Jahr für Jahr steigt diese Antiphon zu Maria auf und erinnert an den Augenblick, da sich diese wesentliche geschichtliche Wende vollzogen hat, die in einem gewissen Sinne unumkehrbar fortdauert: die Wende vom »Fallen« zum »Auferstehen«.

Die Menschheit hat wunderbare Entdeckungen gemacht und aufsehenerregende Ergebnisse im Bereich von Wissenschaft und Technik erzielt, sie hat große Taten auf dem Weg des Fortschritts und der Zivilisation vollbracht, und in jüngster Zeit, so könnte man sagen, ist es ihr sogar gelungen, den Lauf der Geschichte zu beschleunigen; aber die grundlegende Wende, jene, die man »originell« nennen kann, begleitet den Weg des Menschen ständig, und durch alle geschichtlichen Ereignisse hindurch begleitet sie alle und jeden. Es ist die Wende vom »Fallen« zum »Auferstehen«, vom Tod zum Leben. Sie ist auch eine unaufhörliche Herausforderung an das menschliche Gewissen, eine Herausforderung an das ganze geschichtliche Bewusstsein des Menschen: die Herausforderung, den Weg des »Nicht-Fallens« auf immer zugleich alte und neue Weise zu gehen und den Weg des »Aufstehens« zu beschreiten, wenn man »gefallen« ist.

Während sich die Kirche zusammen mit der ganzen Menschheit dem Übergang zwischen den zwei Jahrtausenden nähert, nimmt sie von ihrer Seite her mit der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen und in Verbindung mit jedem Menschen guten Willens die große Herausforderung an, die in diesen Worten der marianischen Antiphon vom »Volk, das sich müht, vom Falle aufzustehen«, enthalten ist, und wendet sich an den Erlöser und seine Mutter zugleich mit der Bitte: »Steh uns bei!« Sie erblickt ja - und dieses Gebet bestätigt es - die selige Gottesmutter im erlösenden Geheimnis Christi und in ihrem eigenen Geheimnis; sie schaut sie tief in der Geschichte der Menschheit verwurzelt, in der ewigen Berufung des Menschen, nach dem Plan, den Gott in seiner Vorsehung von Ewigkeit her für ihn vorherbestimmt hat; sie erblickt sie mütterlich und teilnahmsvoll anwesend bei den vielfältigen und schwierigen Problemen, die heute das Leben der einzelnen, der Familien und der Völker begleiten; sie sieht in ihr die Helferin des christlichen Volkes beim unaufhörlichen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, damit es nicht »falle«, oder wenn gefallen, wieder »aufstehe«. Ich wünsche von Herzen, dass auch die Gedanken der vorliegenden Enzyklika der Erneuerung dieser Sicht in den Herzen aller Gläubigen dienen!

Als Bischof von Rom sende ich allen, an die sich diese Erwägungen richten, den Friedenskuss mit Gruß und Segen in unserem Herrn Jesus Christus.

Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 25. März,

dem Fest Mariä Verkündigung des Jahres 1987,
dem neunten Jahr meines Pontifikates.

Johannes Paul II. PP.

Anmerkungen

<references />

siehe

Weblinks