Fides et ratio (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen
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'''14.''' Die Lehre der beiden Vatikanischen Konzilien eröffnet auch für das philosophische Wissen einen Horizont echter Neuerung. Die Offenbarung führt in die Geschichte einen Bezugspunkt ein, von dem der Mensch nicht absehen kann, wenn er dahin gelangen will, das Geheimnis seines Daseins zu verstehen; andererseits verweist diese Erkenntnis ständig auf das Geheimnis Gottes, das der Verstand nicht auszuschöpfen vermag, sondern nur im Glauben empfangen und annehmen kann. Innerhalb dieser beiden Momente hat die Vernunft ihren besonderen Platz, der ihr das Erkunden und Begreifen erlaubt, ohne von etwas anderem eingeschränkt zu werden als von ihrer Endlichkeit angesichts des unendlichen Geheimnisses Gottes. | '''14.''' Die Lehre der beiden Vatikanischen Konzilien eröffnet auch für das philosophische Wissen einen Horizont echter Neuerung. Die Offenbarung führt in die Geschichte einen Bezugspunkt ein, von dem der Mensch nicht absehen kann, wenn er dahin gelangen will, das Geheimnis seines Daseins zu verstehen; andererseits verweist diese Erkenntnis ständig auf das Geheimnis Gottes, das der Verstand nicht auszuschöpfen vermag, sondern nur im Glauben empfangen und annehmen kann. Innerhalb dieser beiden Momente hat die Vernunft ihren besonderen Platz, der ihr das Erkunden und Begreifen erlaubt, ohne von etwas anderem eingeschränkt zu werden als von ihrer Endlichkeit angesichts des unendlichen Geheimnisses Gottes. | ||
− | Die Offenbarung führt also in unsere Geschichte eine universale und letzte Wahrheit ein, die den Verstand des Menschen dazu herausfordert, niemals stehenzubleiben; ja, sie spornt ihn an, den Raum seines Wissens ständig zu erweitern, bis er gewahr wird, ohne jegliche Unterlassung alles in seiner Macht Stehende getan zu haben. Bei dieser Überlegung kommt uns eine der geistreichsten und bedeutendsten schöpferischen Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte zu Hilfe, auf die sich sowohl die Philosophie als auch die Theologie beziehen: der hl. Anselm. In seinem Proslogion schreibt der Bischof von Canterbury: »Während ich häufig und voll Eifer meine Gedanken auf dieses Problem richtete, schien es mir zuweilen, als könnte ich das, wonach ich suchte, schon ergreifen; ein anderes Mal hingegen entglitt es vollständig meinem Denken; bis ich schließlich die Hoffnung, es je finden zu können, verlor und die Suche nach etwas, das sich unmöglich finden ließ, aufgeben wollte. Als ich aber jene Gedanken aus mir vertreiben wollte, damit sie nicht meinen Geist beschäftigten und mich von anderen Problemen abhalten würden, aus denen ich irgendeinen Gewinn ziehen konnte, da stellten sie sich mit immer größerer Aufdringlichkeit ein [...]. Was aber habe ich Armseliger, einer von Evas Söhnen, fern von Gott, was habe ich zu unternehmen begonnen und was ist mir gelungen? Wonach ging meine Neigung und wohin bin ich gelangt? Wonach strebte ich und wonach sehne ich mich noch immer? [...] O Herr, du bist nicht nur das Größte, das man sich denken kann (non solum es quo maius cogitari nequit), sondern du bist größer als alles, was man sich denken kann (quiddam maius quam cogitari possit) [...]. Wenn du nicht so beschaffen wärest, könnte man sich etwas Größeres als dich vorstellen, aber das ist unmöglich«.<ref> Proslogion, Proemium und Nr. 1.15: [[PL]] 158, 223-224.226; 235. </ref> | + | Die Offenbarung führt also in unsere Geschichte eine universale und letzte Wahrheit ein, die den Verstand des Menschen dazu herausfordert, niemals stehenzubleiben; ja, sie spornt ihn an, den Raum seines Wissens ständig zu erweitern, bis er gewahr wird, ohne jegliche Unterlassung alles in seiner Macht Stehende getan zu haben. Bei dieser Überlegung kommt uns eine der geistreichsten und bedeutendsten schöpferischen Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte zu Hilfe, auf die sich sowohl die Philosophie als auch die Theologie beziehen: der hl. Anselm. In seinem [[Proslogion]] schreibt der Bischof von Canterbury: »Während ich häufig und voll Eifer meine Gedanken auf dieses Problem richtete, schien es mir zuweilen, als könnte ich das, wonach ich suchte, schon ergreifen; ein anderes Mal hingegen entglitt es vollständig meinem Denken; bis ich schließlich die Hoffnung, es je finden zu können, verlor und die Suche nach etwas, das sich unmöglich finden ließ, aufgeben wollte. Als ich aber jene Gedanken aus mir vertreiben wollte, damit sie nicht meinen Geist beschäftigten und mich von anderen Problemen abhalten würden, aus denen ich irgendeinen Gewinn ziehen konnte, da stellten sie sich mit immer größerer Aufdringlichkeit ein [...]. Was aber habe ich Armseliger, einer von Evas Söhnen, fern von Gott, was habe ich zu unternehmen begonnen und was ist mir gelungen? Wonach ging meine Neigung und wohin bin ich gelangt? Wonach strebte ich und wonach sehne ich mich noch immer? [...] O Herr, du bist nicht nur das Größte, das man sich denken kann (non solum es quo maius cogitari nequit), sondern du bist größer als alles, was man sich denken kann (quiddam maius quam cogitari possit) [...]. Wenn du nicht so beschaffen wärest, könnte man sich etwas Größeres als dich vorstellen, aber das ist unmöglich«.<ref> [[Proslogion]], Proemium und Nr. 1.15: [[PL]] 158, 223-224.226; 235. </ref> |
'''15.''' Die Wahrheit der christlichen Offenbarung, der wir in Jesus von Nazaret begegnen, ermöglicht jedem, das »Geheimnis« des eigenen Lebens anzunehmen, sie achtet zutiefst die Autonomie des Geschöpfes und seine Freiheit, verpflichtet es aber im Namen der Wahrheit, sich der Transzendenz zu öffnen. Hier erreicht das Verhältnis von Freiheit und Wahrheit seinen Höhepunkt, und man versteht voll und ganz das Wort des Herrn: »Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8, 32). | '''15.''' Die Wahrheit der christlichen Offenbarung, der wir in Jesus von Nazaret begegnen, ermöglicht jedem, das »Geheimnis« des eigenen Lebens anzunehmen, sie achtet zutiefst die Autonomie des Geschöpfes und seine Freiheit, verpflichtet es aber im Namen der Wahrheit, sich der Transzendenz zu öffnen. Hier erreicht das Verhältnis von Freiheit und Wahrheit seinen Höhepunkt, und man versteht voll und ganz das Wort des Herrn: »Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8, 32). | ||
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'''41.''' Die Kirchenväter des Ostens und des Abendlandes haben also in verschiedenen Formen Verbindung mit den philosophischen Schulen aufgenommen. Das heißt nicht, dass sie den Inhalt ihrer Botschaft mit den Systemen, auf die sie Bezug nahmen, identifiziert hätten. Die Frage Tertullians: »Was haben Athen und Jerusalem gemein? Was die Akademie und die Kirche?«<ref> De praescriptione haereticorum, VII, 9: [[SC]] 46, 98: »Quid ergo Athenis et Hierosolymis? Quid academiae et e[[CCL]]esiae?«. </ref> ist ein klares Anzeichen für das kritische Bewußtsein, mit dem sich die christlichen Denker von Anfang an mit dem Problem des Verhältnisses von Glaube und Philosophie auseinandersetzten; sie sahen es umfassend, in seinen positiven Aspekten ebenso wie in seinen Grenzen. Sie waren keine naiven Denker. Gerade weil sie den Inhalt des Glaubens intensiv lebten, vermochten sie zu den tiefgründigsten Formen spekulativen Denkens zu gelangen. Es ist daher ungerecht und oberflächlich, ihr Werk auf die bloße Umsetzung der Glaubensinhalte in philosophische Kategorien einzuengen. Sie haben weit mehr geleistet. Es gelang ihnen nämlich, das voll sichtbar werden zu lassen, was sich noch unausgesprochen und propädeutisch im Denken der großen antiken Philosophen andeutete.<ref> Vgl. [[Kongregation für das Katholische Bildungswesen]], Instruktion über das [[Inspectis dierum |Studium der Kirchenväter in der Priesterausbildung]] (10. November 1989), 25: [[AAS]] 82 (1990), 617-618. </ref> Sie hatten, wie gesagt, die Aufgabe zu zeigen, wie die von den äußeren Fesseln befreite Vernunft aus der Sackgasse der Mythen herausfinden könnte, um sich der Transzendenz auf angemessenere Weise zu öffnen. Eine geläuterte und aufrichtige Vernunft war also imstande, sich auf die höchsten Ebenen der Reflexion zu erheben, und schuf damit eine solide Grundlage für die Wahrnehmung des Seins, der Transzendenz und des Absoluten.
Genau hierin liegt das von den Kirchenvätern vollbrachte Neue. Sie anerkannten voll die für das Absolute offene Vernunft und pflanzten ihr den aus der Offenbarung stammenden Reichtum ein. Zur Begegnung kam es nicht nur auf der Ebene von Kulturen, von denen die eine vielleicht dem Zauber der anderen verfallen war; sie geschah in den Herzen und war Begegnung zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer. Die Vernunft konnte dadurch, dass sie über das Ziel, dem sie kraft ihrer Natur unbewußt zustrebte, hinausging, in der Person des fleischgewordenen Wortes zum höchsten Gut und zur höchsten Wahrheit gelangen. Die Kirchenväter scheuten sich jedoch nicht, gegenüber den Philosophien sowohl die gemeinsamen Elemente als auch die Verschiedenheiten anzuerkennen, die diese bezüglich der Offenbarung aufwiesen. Das Bewußtsein von den Übereinstimmungen trübte in ihnen nicht das Erkennen der Unterschiede. | '''41.''' Die Kirchenväter des Ostens und des Abendlandes haben also in verschiedenen Formen Verbindung mit den philosophischen Schulen aufgenommen. Das heißt nicht, dass sie den Inhalt ihrer Botschaft mit den Systemen, auf die sie Bezug nahmen, identifiziert hätten. Die Frage Tertullians: »Was haben Athen und Jerusalem gemein? Was die Akademie und die Kirche?«<ref> De praescriptione haereticorum, VII, 9: [[SC]] 46, 98: »Quid ergo Athenis et Hierosolymis? Quid academiae et e[[CCL]]esiae?«. </ref> ist ein klares Anzeichen für das kritische Bewußtsein, mit dem sich die christlichen Denker von Anfang an mit dem Problem des Verhältnisses von Glaube und Philosophie auseinandersetzten; sie sahen es umfassend, in seinen positiven Aspekten ebenso wie in seinen Grenzen. Sie waren keine naiven Denker. Gerade weil sie den Inhalt des Glaubens intensiv lebten, vermochten sie zu den tiefgründigsten Formen spekulativen Denkens zu gelangen. Es ist daher ungerecht und oberflächlich, ihr Werk auf die bloße Umsetzung der Glaubensinhalte in philosophische Kategorien einzuengen. Sie haben weit mehr geleistet. Es gelang ihnen nämlich, das voll sichtbar werden zu lassen, was sich noch unausgesprochen und propädeutisch im Denken der großen antiken Philosophen andeutete.<ref> Vgl. [[Kongregation für das Katholische Bildungswesen]], Instruktion über das [[Inspectis dierum |Studium der Kirchenväter in der Priesterausbildung]] (10. November 1989), 25: [[AAS]] 82 (1990), 617-618. </ref> Sie hatten, wie gesagt, die Aufgabe zu zeigen, wie die von den äußeren Fesseln befreite Vernunft aus der Sackgasse der Mythen herausfinden könnte, um sich der Transzendenz auf angemessenere Weise zu öffnen. Eine geläuterte und aufrichtige Vernunft war also imstande, sich auf die höchsten Ebenen der Reflexion zu erheben, und schuf damit eine solide Grundlage für die Wahrnehmung des Seins, der Transzendenz und des Absoluten.
Genau hierin liegt das von den Kirchenvätern vollbrachte Neue. Sie anerkannten voll die für das Absolute offene Vernunft und pflanzten ihr den aus der Offenbarung stammenden Reichtum ein. Zur Begegnung kam es nicht nur auf der Ebene von Kulturen, von denen die eine vielleicht dem Zauber der anderen verfallen war; sie geschah in den Herzen und war Begegnung zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer. Die Vernunft konnte dadurch, dass sie über das Ziel, dem sie kraft ihrer Natur unbewußt zustrebte, hinausging, in der Person des fleischgewordenen Wortes zum höchsten Gut und zur höchsten Wahrheit gelangen. Die Kirchenväter scheuten sich jedoch nicht, gegenüber den Philosophien sowohl die gemeinsamen Elemente als auch die Verschiedenheiten anzuerkennen, die diese bezüglich der Offenbarung aufwiesen. Das Bewußtsein von den Übereinstimmungen trübte in ihnen nicht das Erkennen der Unterschiede. | ||
− | '''42.''' In der scholastischen Theologie wird unter dem Anstoß der Interpretation des intellectus fidei durch Anselm von Canterbury die Rolle der philosophisch geschulten Vernunft noch gewichtiger. Für den heiligen Erzbischof von Canterbury steht der Vorrang des Glaubens nicht im Wettbewerb mit der Suche, wie sie der Vernunft eigen ist. Diese ist nämlich nicht dazu berufen, ein Urteil über die Glaubensinhalte zu formulieren; sie wäre, weil dafür ungeeignet, dazu auch gar nicht fähig. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, einen Sinn zu finden, Gründe zu entdecken, die es allen erlauben, zu einem gewissen Verständnis der Glaubensinhalte zu gelangen. Der hl. Anselm unterstreicht die Tatsache, dass sich der Verstand auf die Suche nach dem begeben muss, was er liebt: je mehr er liebt, um so mehr sehnt er sich nach Erkenntnis. Wer für die Wahrheit lebt, strebt nach einer Erkenntnisform, die immer mehr von Liebe zu dem entbrennt, was er erkennt, auch wenn er einräumen muss, noch nicht alles getan zu haben, was in seinem Verlangen gelegen wäre: »Ad te videndum factus sum; et nondum feci propter quod factus sum«.<ref> Hl. Anselm, Proslogion, 1: [[PL]] 158, 226. »Ich bin geschaffen worden, um dich zu schauen; und ich habe noch nicht getan, wozu ich geschaffen worden bin«. </ref> Das Streben nach Wahrheit drängt also die Vernunft, immer weiterzugehen; ja, sie wird gleichsam überwältigt von der Feststellung, dass ihre Fähigkeit immer größer ist als das, was sie tatsächlich erreicht. An diesem Punkt jedoch vermag die Vernunft zu entdecken, wo die Vollendung ihres Weges liegt: »Denn ich meine, dass einer, der etwas Unbegreifliches erforscht, sich zufriedengeben sollte, mit Hilfe der vernünftigen Auseinandersetzung mit sehr hoher Gewißheit die Wirklichkeit zu erkennen, auch wenn er nicht imstande ist, mit dem Verstand bis zu ihrer Seinsweise durchzudringen [...]. Denn gibt es etwas so Unbegreifliches und Unaussprechbares wie das, was oberhalb von allem ist? Wenn also das, was man bislang über das höchste Wesen diskutiert hat, auf Grund notwendiger Argumente festgelegt worden ist, obwohl man mit dem Verstand nicht derart bis zu ihm durchzudringen vermag, dass man es auch mit Worten erklären könnte, gerät deshalb das Fundament seiner Gewißheit nicht im geringsten ins Wanken. Denn wenn eine vorgängige Überlegung vernunftgemäß begriffen hat, dass die Art, wie die oberste Weisheit weiß, was sie geschaffen hat [...], unbegreiflich ist (rationabiliter comprehendit incomprensibile esse), wer wird dann erklären können, wie sie selbst sich erkennt und sich nennt — sie, über die der Mensch nichts oder fast nichts wissen kann?«.<ref> Ders., Monologion, 64: [[PL]] 158, 210. </ref> | + | '''42.''' In der scholastischen Theologie wird unter dem Anstoß der Interpretation des intellectus fidei durch Anselm von Canterbury die Rolle der philosophisch geschulten Vernunft noch gewichtiger. Für den heiligen Erzbischof von Canterbury steht der Vorrang des Glaubens nicht im Wettbewerb mit der Suche, wie sie der Vernunft eigen ist. Diese ist nämlich nicht dazu berufen, ein Urteil über die Glaubensinhalte zu formulieren; sie wäre, weil dafür ungeeignet, dazu auch gar nicht fähig. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, einen Sinn zu finden, Gründe zu entdecken, die es allen erlauben, zu einem gewissen Verständnis der Glaubensinhalte zu gelangen. Der hl. Anselm unterstreicht die Tatsache, dass sich der Verstand auf die Suche nach dem begeben muss, was er liebt: je mehr er liebt, um so mehr sehnt er sich nach Erkenntnis. Wer für die Wahrheit lebt, strebt nach einer Erkenntnisform, die immer mehr von Liebe zu dem entbrennt, was er erkennt, auch wenn er einräumen muss, noch nicht alles getan zu haben, was in seinem Verlangen gelegen wäre: »Ad te videndum factus sum; et nondum feci propter quod factus sum«.<ref> Hl. Anselm, [[Proslogion]], 1: [[PL]] 158, 226. »Ich bin geschaffen worden, um dich zu schauen; und ich habe noch nicht getan, wozu ich geschaffen worden bin«. </ref> Das Streben nach Wahrheit drängt also die Vernunft, immer weiterzugehen; ja, sie wird gleichsam überwältigt von der Feststellung, dass ihre Fähigkeit immer größer ist als das, was sie tatsächlich erreicht. An diesem Punkt jedoch vermag die Vernunft zu entdecken, wo die Vollendung ihres Weges liegt: »Denn ich meine, dass einer, der etwas Unbegreifliches erforscht, sich zufriedengeben sollte, mit Hilfe der vernünftigen Auseinandersetzung mit sehr hoher Gewißheit die Wirklichkeit zu erkennen, auch wenn er nicht imstande ist, mit dem Verstand bis zu ihrer Seinsweise durchzudringen [...]. Denn gibt es etwas so Unbegreifliches und Unaussprechbares wie das, was oberhalb von allem ist? Wenn also das, was man bislang über das höchste Wesen diskutiert hat, auf Grund notwendiger Argumente festgelegt worden ist, obwohl man mit dem Verstand nicht derart bis zu ihm durchzudringen vermag, dass man es auch mit Worten erklären könnte, gerät deshalb das Fundament seiner Gewißheit nicht im geringsten ins Wanken. Denn wenn eine vorgängige Überlegung vernunftgemäß begriffen hat, dass die Art, wie die oberste Weisheit weiß, was sie geschaffen hat [...], unbegreiflich ist (rationabiliter comprehendit incomprensibile esse), wer wird dann erklären können, wie sie selbst sich erkennt und sich nennt — sie, über die der Mensch nichts oder fast nichts wissen kann?«.<ref> Ders., [[Monologion]], 64: [[PL]] 158, 210. </ref> |
Der grundlegende Einklang von philosophischer Erkenntnis und Erkenntnis des Glaubens wird noch einmal bekräftigt: der Glaube verlangt, dass sein Gegenstand mit Hilfe der Vernunft verstanden wird; die Vernunft gibt auf dem Höhepunkt ihrer Suche das, was der Glaube vorlegt, als notwendig zu. |
Der grundlegende Einklang von philosophischer Erkenntnis und Erkenntnis des Glaubens wird noch einmal bekräftigt: der Glaube verlangt, dass sein Gegenstand mit Hilfe der Vernunft verstanden wird; die Vernunft gibt auf dem Höhepunkt ihrer Suche das, was der Glaube vorlegt, als notwendig zu. | ||
Aktuelle Version vom 4. Mai 2022, 14:25 Uhr
Fides et ratio |
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von Papst
Johannes Paul II.
An die Bischöfe der Katholischen Kirche
über das Verhältnis von Glaube und Vernunft
14. September 1998
(Offizieller lateinischer Text: AAS 91 [1998] 5-88)
(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite; auch in: VAS 135)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Gruß und Apostolischen Segen!
Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt. Das Streben, die Wahrheit zu erkennen und letztlich ihn selbst zu erkennen, hat Gott dem Menschen ins Herz gesenkt, damit er dadurch, dass er Ihn erkennt und liebt, auch zur vollen Wahrheit über sich selbst gelangen könne (vgl. Ex 33, 18; Ps 27 [26], 8-9; Ps 63 [62], 2-3; Joh 14, 8; 1 Joh 3, 2).
Inhaltsverzeichnis
- 1 EINLEITUNG: »ERKENNE DICH SELBST« (1-6)
- 2 KAPITEL I: DIE OFFENBARUNG DER WEISHEIT GOTTES
- 3 KAPITEL II: CREDO UT INTELLEGAM
- 4 KAPITEL III: INTELLEGO UT CREDAM
- 5 KAPITEL IV: DAS VERHÄLTNIS VON GLAUBE UND VERNUNFT
- 6 KAPITEL V: DIE WORTMELDUNGEN DES LEHRAMTES IM PHILOSOPHISCHEN BEREICH
- 7 KAPITEL VI: DIE WECHSELWIRKUNG ZWISCHEN THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE
- 8 KAPITEL VII: AKTUELLE FORDERUNGEN UND AUFGABEN
- 9 SCHLUSS
- 10 Anmerkungen
- 11 Weblinks
EINLEITUNG: »ERKENNE DICH SELBST« (1-6)
1. Sowohl im Orient als auch im Abendland läßt sich ein Weg feststellen, der im Laufe der Jahrhunderte die Menschheit fortschreitend zur Begegnung mit der Wahrheit und zur Auseinandersetzung mit ihr geführt hat. Ein Weg, der sich — anders konnte es gar nicht sein — im Horizont des Selbstbewußtseins der menschlichen Person entfaltet hat: je mehr der Mensch die Wirklichkeit und die Welt erkennt, desto besser erkennt er sich selbst in seiner Einmaligkeit, während sich für ihn immer drängender die Frage nach dem Sinn der Dinge und seines eigenen Daseins stellt. Alles, was als Gegenstand unserer Erkenntnis erscheint, wird daher selbst Teil unseres Lebens. Am Architrav des Tempels von Delphi war die ermahnende Aufforderung: Erkenne dich selbst! eingemeißelt — als Zeugnis für eine Grundwahrheit, die als Mindestregel von jedem Menschen angenommen werden muss, der sich innerhalb der ganzen Schöpfung gerade dadurch als »Mensch« auszeichnen will, dass er sich selbst erkennt.
Im übrigen zeigt uns ein bloßer Blick auf die Geschichte des Altertums deutlich, dass in verschiedenen Gegenden der Erde, die von ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt waren, zur selben Zeit dieselben Grundsatzfragen auftauchten, die den Gang des menschlichen Daseins kennzeichnen: Wer bin ich? Woher komme ich und wohin gehe ich? Warum gibt es das Böse? Was wird nach diesem Leben sein? Diese Fragen finden sich in Israels heiligen Schriften, sie tauchen aber auch in den Weden und ebenso in der Awesta auf; wir finden sie in den Schriften des Konfuzius und Lao-tse sowie in der Verkündigung der Tirthankara und bei Buddha. Sie zeigen sich auch in den Dichtungen des Homer und in den Tragödien von Euripides und Sophokles wie auch in den philosophischen Abhandlungen von Platon und Aristoteles. Es sind Fragen, die ihren gemeinsamen Ursprung in der Suche nach Sinn haben, die dem Menschen seit jeher auf der Seele brennt: von der Antwort auf diese Fragen hängt in der Tat die Richtung ab, die das Dasein prägen soll.
2. Die Kirche ist an diesem Weg der Suche nicht unbeteiligt und kann es auch gar nicht sein. Seit dem Ostertag, wo sie die letzte Wahrheit über das Leben des Menschen als Geschenk empfangen hat, ist sie zur Pilgerin auf den Straßen der Welt geworden, um zu verkünden, dass Jesus Christus »der Weg, die Wahrheit und das Leben« ist (Joh 14, 6). Unter den verschiedenen Diensten, die sie der Menschheit anzubieten hat, gibt es einen, der ihre Verantwortung in ganz besonderer Weise herausstellt: den Dienst an der Wahrheit.<ref> Das schrieb ich bereits in meiner ersten Enzyklika Redemptor hominis: »So sind wir also Teilhaber an dieser prophetischen Sendung Christi geworden, und aus der Kraft der gleichen Sendung dienen wir zusammen mit ihm der göttlichen Wahrheit in der Kirche. Die Verantwortung für eine solche Wahrheit bedeutet auch, sie zu lieben und möglichst genau zu verstehen zu suchen, damit sie uns selbst und den anderen in aller ihrer erlösenden Kraft, in ihrem hellen Glanz, in ihrer Tiefe und zugleich Einfachheit immer vertrauter wird«, Nr. 19: AAS 71 (1979), 306. </ref> Diese Sendung macht einerseits die gläubige Gemeinde zur Teilhaberin an der gemeinsamen Bemühung, welche die Menschheit vollbringt, um die Wahrheit zu erreichen;<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 16. </ref> andererseits verpflichtet sie sie dazu, sich um die Verkündigung der erworbenen Gewißheiten zu kümmern; dies freilich in dem Bewußtsein, dass jede erreichte Wahrheit immer nur eine Etappe auf dem Weg zu jener vollen Wahrheit ist, die in der letzten Offenbarung Gottes enthüllt werden wird: »Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen« (1 Kor 13, 12).
3. Der Mensch besitzt vielfältige Möglichkeiten, um den Fortschritt in der Wahrheitserkenntnis voranzutreiben und so sein Dasein immer menschlicher zu machen. Unter diesen ragt die Philosophie hervor, die unmittelbar dazu beiträgt, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen und die Antwort darauf zu entwerfen: sie stellt sich daher als eine der vornehmsten Aufgaben der Menschheit dar. Seiner etymologischen Herkunft aus dem Griechischen entsprechend bedeutet das Wort Philosophie »Liebe zur Weisheit«. Die Entstehung und Entfaltung der Philosophie fällt tatsächlich genau in die Zeit, als der Mensch begonnen hat, sich nach dem Grund der Dinge und nach ihrem Ziel zu fragen. Sie zeigt in verschiedenen Arten und Formen, dass das Streben nach Wahrheit zur Natur des Menschen gehört. Es ist eine seiner Vernunft angeborene Eigenschaft, sich nach dem Ursprung der Dinge zu fragen, auch wenn sich die nach und nach gegebenen Antworten in einen Horizont einfügen, der die Komplementarität der verschiedenen Kulturen, in denen der Mensch lebt, deutlich macht. Die Tatsache, dass sich die Philosophie stark auf die Gestaltung und Entwicklung der Kulturen des Abendlandes auswirkte, darf uns nicht den Einfluß vergessen lassen, den sie auch auf die Daseinsvorstellungen ausgeübt hat, aus denen der Orient lebt. Jedes Volk besitzt nämlich seine ihm eigene Ur-Weisheit, die als echter Reichtum der Kulturen danach strebt, sich auch in rein philosophischen Formen auszudrücken und zur Reife zu gelangen. Wie sehr das zutrifft, beweist der Umstand, dass eine bis in unsere Tage gegenwärtige Grundform philosophischen Wissens sogar in den Postulaten nachweisbar ist, denen die verschiedenen nationalen und internationalen Gesetzgebungen bei der Regelung des gesellschaftlichen Lebens folgen.
4. Es muss allerdings betont werden, dass sich hinter einem einzigen Begriff verschiedene Bedeutungen verbergen. Daher erweist sich eine einleitende erläuternde Darstellung als notwendig. Angespornt von dem Streben, die letzte Wahrheit über das Dasein zu entdecken, versucht der Mensch jene universalen Kenntnisse zu erwerben, die es ihm erlauben, sich selbst besser zu begreifen und in seiner Selbstverwirklichung voranzukommen. Die grundlegenden Erkenntnisse entspringen dem Staunen, das durch die Betrachtung der Schöpfung in ihm geweckt wird: der Mensch wird von Staunen ergriffen, sobald er sich als eingebunden in die Welt und in Beziehung zu den anderen entdeckt, die ihm ähnlich sind und deren Schicksal er teilt. Hier beginnt der Weg, der ihn dann zur Entdeckung immer neuer Erkenntnishorizonte führen wird. Ohne das Staunen würde der Mensch in die Monotonie der Wiederholung verfallen und sehr bald zu einer wirklichen Existenz als Person unfähig werden.
Die dem menschlichen Geist eigentümliche Fähigkeit zum spekulativen Denken führt durch die philosophische Betätigung zur Ausbildung einer Form strengen Denkens und so, durch die logische Folgerichtigkeit der Aussagen und die Geschlossenheit der Inhalte, zum Aufbau eines systematischen Wissens. Dank dieses Prozesses wurden in verschiedenen kulturellen Umfeldern und in verschiedenen Epochen Ergebnisse erzielt, die zur Ausarbeitung echter Denksysteme geführt haben. Dadurch war man im Laufe der Geschichte immer wieder der Versuchung ausgesetzt, eine einzige Strömung mit dem gesamten philosophischen Denken gleichzusetzen. Ganz offenkundig tritt jedoch in diesen Fällen ein gewisser »philosophischer Hochmut« auf den Plan, der Anspruch darauf erhebt, die aus seiner eigenen Perspektive stammende, unvollkommene Sicht zur allgemeinen Lesart zu erheben. In Wirklichkeit muss jedes philosophische System, auch wenn es ohne jegliche Instrumentalisierung in seiner Ganzheit anerkannt wird, dem philosophischen Denken die Priorität zuerkennen, von dem es seinen Ausgang nimmt und dem es folgerichtig dienen soll.
So ist es möglich, trotz des Wandels der Zeiten und der Fortschritte des Wissens einen Kern philosophischer Erkenntnisse zu erkennen, die in der Geschichte des Denkens ständig präsent sind. Man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, an die Prinzipien der Non-Kontradiktion, der Finalität, der Kausalität wie auch an die Auffassung von der Person als freiem und verständigem Subjekt und an ihre Fähigkeit, Gott, die Wahrheit und das Gute zu erkennen; man denke ferner an einige moralische Grundsätze, die allgemein geteilt werden. Diese und andere Themen weisen darauf hin, dass es abgesehen von den einzelnen Denkrichtungen eine Gesamtheit von Erkenntnissen gibt, in der man so etwas wie ein geistiges Erbe der Menschheit erkennen kann; gleichsam als befänden wir uns im Angesicht einer impliziten Philosophie, auf Grund der sich ein jeder bewußt ist, diese Prinzipien, wenngleich in undeutlicher, unreflektierter Form zu besitzen. Diese Erkenntnisse sollten, eben weil sie in irgendeiner Weise von allen geteilt werden, eine Art Bezugspunkt der verschiedenen philosophischen Schulen darstellen. Wenn es der Vernunft gelingt, die ersten und allgemeinen Prinzipien des Seins zu erfassen und zu formulieren und daraus in rechter Weise konsequente Schlussfolgerungen von logischer und deontologischer Bedeutung zu entwickeln, dann kann sie sich als eine richtige Vernunft oder, wie die antiken Denker sie nannten, als orthòs logos, recta ratio ausgeben.
5. Die Kirche ihrerseits kann nicht umhin, den Einsatz der Vernunft für das Erreichen von Zielen anzuerkennen, die das menschliche Dasein immer würdiger machen. Denn sie sieht in der Philosophie den Weg, um Grundwahrheiten zu erkennen, welche die Existenz des Menschen betreffen. Gleichzeitig betrachtet sie die Philosophie als unverzichtbare Hilfe, um das Glaubensverständnis zu vertiefen und die Wahrheit des Evangeliums allen, die sie noch nicht kennen, mitzuteilen.
Im Anschluss an ähnliche Initiativen meiner Vorgänger möchte daher auch ich den Blick auf diese besondere Betätigung der Vernunft richten. Dazu drängt mich die Beobachtung, dass vor allem in unserer Zeit die Suche nach der letzten Wahrheit oft getrübt erscheint. Die moderne Philosophie hat zweifellos das große Verdienst, ihre Aufmerksamkeit auf den Menschen konzentriert zu haben. Von daher hat eine mit Fragen beladene Vernunft ihr Streben nach immer mehr und immer tieferer Erkenntnis weiterentwickelt. So wurden komplexe Denksysteme aufgebaut, die in den verschiedenen Wissensbereichen Früchte getragen haben, da sie die Entfaltung von Kultur und Geschichte förderten. Die Anthropologie, die Logik, die Naturwissenschaften, die Geschichte, die Sprache..., gewissermaßen die Gesamtheit des Wissens wurde davon erfaßt. Die positiven Ergebnisse, die erzielt wurden, dürfen jedoch nicht zur Vernachlässigung der Tatsache verleiten, dass dieselbe Vernunft, mit einseitigen Forschungen über den Menschen als Subjekt beschäftigt, vergessen zu haben scheint, dass dieser Mensch immer auch dazu berufen ist, sich einer Wahrheit zuzuwenden, die ihn übersteigt. Ohne Beziehung zu dieser Wahrheit bleibt jeder vom eigenen Gutdünken abhängig, und seine Verfaßtheit als Person wird schließlich nach pragmatischen, im wesentlichen auf empirischen Angaben beruhenden Kriterien beurteilt, in der irrigen Überzeugung, alles müsse von der Technik beherrscht werden. So kam es, dass sich die Vernunft, anstatt die Spannung zur Wahrheit bestmöglich auszudrücken, unter der Last des vielen Wissens über sich selbst gebeugt hat und von Tag zu Tag unfähiger wurde, den Blick nach oben zu erheben, um das Wagnis einzugehen, zur Wahrheit des Seins zu gelangen. Die moderne Philosophie hat das Fragen nach dem Sein vernachlässigt und ihr Suchen auf die Kenntnis vom Menschen konzentriert. Anstatt von der dem Menschen eigenen Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis Gebrauch zu machen, hat sie es vorgezogen, deren Grenzen und Bedingtheiten herauszustellen.
Daraus entstanden verschiedene Formen von Agnostizismus und Relativismus, die schließlich zur Folge hatten, dass sich das philosophische Suchen im Fließsand eines allgemeinen Skeptizismus verlor. In jüngster Zeit haben dann verschiedene Lehren Bedeutung erlangt, die sogar jene Wahrheiten zu entwerten trachten, die erreicht zu haben für den Menschen eine Gewißheit war. Die legitime Pluralität von Denkpositionen ist einem indifferenten Pluralismus gewichen, der auf der Annahme fußt, alle Denkpositionen seien gleichwertig: Das ist eines der verbreitetsten Symptome für das Mißtrauen gegenüber der Wahrheit, das man in der heutigen Welt feststellen kann. Auch manche aus dem Orient stammende Lebensanschauungen entgehen nicht diesem Vorbehalt. In ihnen wird nämlich der Wahrheit ihr Exklusivcharakter abgesprochen. Dabei geht man von der Annahme aus, dass die Wahrheit in verschiedenen, ja sogar einander widersprechenden Lehren gleichermaßen in Erscheinung trete. In diesem Horizont ist alles auf Meinung reduziert. Man hat den Eindruck einer Bewegung, die sich wie eine Welle nach oben und nach unten bewegt: Während es dem philosophischen Denken einerseits gelungen ist, in den Weg einzumünden, der es immer näher an die menschliche Existenz und ihre Ausdrucksformen heranführt, ist es andererseits bestrebt, existentielle, hermeneutische oder linguistische Anschauungen zu entwickeln, die auf die radikale Frage nach der Wahrheit des Lebens als Person, des Seins und Gottes verzichten. Als Folge davon sind beim modernen Menschen, und das nicht nur bei einigen Philosophen, Haltungen eines verbreiteten Mißtrauens gegenüber den großartigen Erkenntnisfähigkeiten des Menschen zutage getreten. Mit falscher Bescheidenheit gibt man sich mit provisorischen Teilwahrheiten zufrieden, ohne überhaupt noch zu versuchen, radikale Fragen nach dem Sinn und letzten Grund des menschlichen, persönlichen und gesellschaftlichen Lebens zu stellen. Die Hoffnung, von der Philosophie endgültige Antworten auf diese Fragen zu erhalten, ist also geschwunden.
6. Ausgestattet mit der Kompetenz, die ihr als Verwahrerin der Offenbarung Jesu Christi erwächst, will nun die Kirche die Notwendigkeit des Nachdenkens über die Wahrheit neu bekräftigen. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, mich sowohl an die Mitbrüder im Bischofsamt zu wenden, mit denen ich die Sendung teile, »offen die Wahrheit« (2 Kor 4, 2) zu verkünden, als auch an die Theologen und Philosophen, deren Aufgabe die Erforschung der verschiedenen Aspekte der Wahrheit ist, sowie an alle Menschen, die sich auf der Suche befinden: Ich will sie teilhaben lassen an einigen Überlegungen hinsichtlich des Weges, der zur wahren Weisheit führt, damit jeder, der die Liebe zu ihr im Herzen trägt, den richtigen Weg einzuschlagen vermag, um sie zu erreichen und in ihr Ruhe in seiner Mühsal sowie geistige Freude zu finden.
Anstoß zu dieser Initiative ist für mich zunächst die vom II. Vatikanischen Konzil formulierte Erkenntnis, dass die Bischöfe »Zeugen der göttlichen und katholischen Wahrheit« sind.<ref> Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 25. </ref> Die Wahrheit zu bezeugen ist also eine Aufgabe, die uns Bischöfen übertragen wurde; ihr können wir uns nicht versagen, ohne das Amt, das wir erhalten haben, zu vernachlässigen. Durch neuerliche Bekräftigung der Glaubenswahrheit können wir dem Menschen unserer Zeit wieder echtes Vertrauen in seine Erkenntnisfähigkeiten geben und der Philosophie eine Herausforderung bieten, damit sie ihre volle Würde wiedererlangen und entfalten kann.
Noch ein weiterer Beweggrund veranlaßt mich zur Abfassung dieser Überlegungen. In der Enzyklika Veritatis splendor habe ich »einige fundamentale Wahrheiten der katholischen Lehre in Erinnerung« gerufen, »die im heutigen Kontext Gefahr laufen, verfälscht oder verneint zu werden«.<ref> Nr. 4: AAS 85 (1993), 1136. </ref> Mit dem vorliegenden Schreiben möchte ich nun jenen Gedanken weiterführen und dabei die Aufmerksamkeit eben auf das Thema Wahrheit und auf ihr Fundament im Verhältnis zum Glauben konzentrieren. Denn man kann nicht leugnen, dass unsere Zeit mit ihren raschen und umfassenden Veränderungen vor allem die jungen Generationen, denen die Zukunft gehört und von denen sie abhängt, dem Gefühl aussetzt, ohne echte Bezugspunkte zu sein. Das Erfordernis eines Fundamentes, auf dem das Dasein des einzelnen und der Gesellschaft aufgebaut werden kann, macht sich vor allem dann in dringender Weise bemerkbar, wenn man die Bruchstückhaftigkeit von Angeboten feststellen muss, die unter Vortäuschung der Möglichkeit, zum wahren Sinn des Daseins zu gelangen, das Vergängliche zum Wert erheben. So kommt es, dass viele ihr Leben fast bis an den Rand des Abgrunds dahinschleppen, ohne zu wissen, worauf sie eigentlich zugehen. Das hängt auch damit zusammen, dass diejenigen, die dazu berufen waren, die Frucht ihres Nachdenkens in kulturellen Formen auszudrücken, den Blick von der Wahrheit abgewandt haben und der Mühe geduldigen Suchens nach dem, was gelebt zu werden verdient, den Erfolg im Unmittelbaren vorziehen. Die Philosophie, der die große Verantwortung zukommt, das Denken und die Kultur durch den fortwährenden Hinweis auf die Wahrheitssuche zu gestalten, muss mit aller Kraft ihre ursprüngliche Berufung zurückgewinnen. Deshalb habe ich nicht nur das Bedürfnis gefühlt, sondern es auch als meine Pflicht empfunden, mich zu diesem Thema zu äußern, damit die Menschheit an der Schwelle des dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung sich der großartigen Fähigkeiten, die ihr gewährt wurden, deutlicher bewußt werde und sich mit neuem Mut für die Verwirklichung des Heilsplanes einsetze, in den ihre Geschichte eingebettet ist.
KAPITEL I: DIE OFFENBARUNG DER WEISHEIT GOTTES
Jesus als Offenbarer des Vaters (7-12)
7. Jede von der Kirche angestellte Reflexion erfolgt auf der Grundlage des Bewußtseins, Verwahrerin einer Botschaft zu sein, die ihren Ursprung in Gott selbst hat (vgl. 2 Kor 4, 1-2). Die Erkenntnis, die sie dem Menschen anbietet, rührt nicht aus ihrem eigenen Nachdenken her, und wäre es noch so erhaben, sondern aus dem gläubigen Hören des Wortes Gottes (vgl. 1 Thess 2, 13). Am Anfang unseres Gläubigseins steht eine einzigartige Begegnung, die das Offenbarwerden eines seit ewigen Zeiten verborgenen, jetzt aber enthüllten Geheimnisses (vgl. 1 Kor 2, 7; Röm 16, 25-26) markiert: »Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1, 9): dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur«.<ref> II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 2. </ref> Dabei handelt es sich um eine völlig ungeschuldete Initiative, die von Gott ausgeht, um die Menschheit zu erreichen und zu retten. Gott als Quelle der Liebe will sich zu erkennen geben, und die Erkenntnis, die der Mensch von Ihm hat, bringt jede andere wahre Erkenntnis über den Sinn seiner eigenen Existenz zur Vollendung, zu der sein Verstand zu gelangen vermag.
8. Unter beinahe wörtlicher Übernahme der von der dogmatischen Konstitution Dei Filius des I. Vatikanischen Konzils dargebotenen Lehre und unter Berücksichtigung der vom Konzil von Trient vorgelegten Grundsätze hat die Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanums den Gang der Glaubenseinsicht, intelligentia fidei, durch die Jahrhunderte fortgesetzt, indem sie über die Offenbarung im Lichte der biblischen Lehre und der gesamten Vätertradition nachdachte. Die Konzilsväter des I. Vatikanums hatten den übernatürlichen Charakter der Offenbarung Gottes hervorgehoben. Die rationalistische Kritik, die zu jener Zeit auf Grund weitverbreiteter falscher Thesen gegen den Glauben vorgebracht wurde, betraf die Leugnung jeder Erkenntnis, die nicht den natürlichen Fähigkeiten der Vernunft entspränge. Dieser Umstand hatte das Konzil zu der nachdrücklichen Bekräftigung verpflichtet, dass es außer der Erkenntnis der menschlichen Vernunft, die auf Grund ihrer Natur den Schöpfer zu erreichen vermag, eine Erkenntnis gibt, die dem Glauben eigentümlich ist. Diese Erkenntnis ist Ausdruck einer Wahrheit, die sich auf die Tatsache des sich offenbarenden Gottes selbst gründet und Wahrheitsgewißheit ist, weil Gott weder täuscht noch täuschen will.<ref> Vgl. Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, Kap. III: DS 3008. </ref>
9. Das I. Vatikanische Konzil lehrt also, dass die durch philosophisches Nachdenken erlangte Wahrheit und die Wahrheit der Offenbarung weder sich miteinander vermischen noch einander überflüssig machen. »Es gibt zwei Erkenntnisordnungen, die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden sind: im Prinzip, weil wir in der einen [Ordnung] mit der natürlichen Vernunft, in der anderen mit dem göttlichen Glauben erkennen; im Gegenstand aber, weil uns außer der Wahrheit, zu der die natürliche Vernunft gelangen kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie nicht von Gott geoffenbart wären, nicht bekannt werden könnten«.<ref> Ebd., Kap. IV: DS 3015; zitiert auch in II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 59. </ref> Der Glaube, der sich auf das Zeugnis Gottes gründet und der übernatürlichen Hilfe der Gnade bedient, ist in der Tat von einer anderen Ordnung als die philosophische Erkenntnis. Denn diese stützt sich auf die Sinneswahrnehmung, auf die Erfahrung und bewegt sich allein im Licht des Verstandes. Die Philosophie und die Wissenschaften schweifen im Bereich der natürlichen Vernunft umher, während der vom Geist erleuchtete und geleitete Glaube in der Heilsbotschaft die »Fülle von Gnade und Wahrheit« (vgl. Joh 1, 14) erkennt, die Gott in der Geschichte endgültig durch seinen Sohn Jesus Christus offenbart hat (vgl. 1 Joh 5, 9; Joh 5, 31-32).
10. Die Konzilsväter des II. Vatikanums haben den Blick fest auf den offenbarenden Jesus gerichtet und dabei den Heilscharakter der Offenbarung Gottes in der Geschichte dargelegt. Das Wesen der Offenbarung haben sie so formuliert: »In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 1 Tim 1, 17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 11; Joh 15, 14-15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen. Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind: die Werke nämlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekräftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten; die Worte verkündigen die Werke und lassen das Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten. Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist«. <ref> Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 2. </ref>
11. So ist die Offenbarung Gottes eingebettet in Zeit und Geschichte. Ja, die Menschwerdung Jesu Christi geschieht in der »Fülle der Zeit« (Gal 4, 4). Zweitausend Jahre nach jenem Ereignis sehe ich es als meine Pflicht an, nachdrücklich hervorzuheben, dass »im Christentum der Zeit eine fundamentale Bedeutung« zukommt.<ref> Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente (10. November 1994), 10: AAS 87 (1995), 11. </ref> Denn in ihr kommt das ganze Werk der Schöpfung und der Erlösung an den Tag; vor allem wird sichtbar, dass wir durch die Menschwerdung des Gottessohnes schon jetzt die zukünftige Vollendung der Zeit erleben und vorwegnehmen (vgl. Hebr 1, 2).
Die Wahrheit, die Gott dem Menschen über sich und über sein Leben übergeben hat, ist daher eingebettet in Zeit und Geschichte. Sie ist natürlich ein für allemal im Geheimnis des Jesus von Nazaret verkündet worden. Das sagt mit ausdrucksvollen Worten die Konstitution Dei Verbum: »Nachdem Gott viele Male und auf viele Weisen durch die Propheten gesprochen hatte, "hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns gesprochen im Sohn" (Hebr 1, 1-2). Er hat seinen Sohn, das ewige Wort, das Licht aller Menschen, gesandt, damit er unter den Menschen wohne und ihnen vom Innern Gottes Kunde bringe (vgl. Joh 1, 1-18). Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, als "Mensch zu den Menschen" gesandt, "redet die Worte Gottes" (Joh 3, 34) und vollendet das Heilswerk, dessen Durchführung der Vater ihm aufgetragen hat (vgl. Joh 5, 36; 17, 4). Wer ihn sieht, sieht auch den Vater (vgl. Joh 14, 9). Er ist es, der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt«.<ref> Nr. 4. </ref>
Die Geschichte stellt also für das Volk Gottes einen Weg dar, der ganz durchlaufen werden muss, so dass die geoffenbarte Wahrheit dank des unablässigen Wirkens des Heiligen Geistes ihre Inhalte voll zum Ausdruck bringen kann (vgl. Joh 16, 13). Das lehrt wiederum die Konstitution Dei Verbum, wenn sie feststellt: »Die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis sich an ihr Gottes Worte erfüllen«.<ref> Nr. 8. </ref>
12. Die Geschichte wird daher zu dem Ort, an dem wir Gottes Handeln für die Menschheit feststellen können. Er erreicht uns in dem, was für uns am vertrautesten und leicht zu überprüfen ist, weil es sich um unsere tägliche Umgebung handelt, ohne die wir uns nicht zu begreifen vermöchten.
Die Menschwerdung Gottes erlaubt es, die ewige und endgültige Synthese vollzogen zu sehen, die sich der menschliche Geist von sich aus nicht einmal hätte vorstellen können: das Ewige geht ein in die Zeit, das Ganze verbirgt sich im Bruchstück, Gott nimmt die Gestalt des Menschen an. Die in der Offenbarung Christi zum Ausdruck gekommene Wahrheit ist somit nicht mehr in einen engen territorialen und kulturellen Bereich eingeschlossen, sondern öffnet sich jedem Mann und jeder Frau, der/die sie als ein für allemal gültiges Wort annehmen will, um dem Dasein Sinn zu geben. Nun haben alle Menschen in Christus Zugang zum Vater; durch seinen Tod und seine Auferstehung hat er das göttliche Leben geschenkt, das der erste Adam ausgeschlagen hatte (vgl. Röm 5, 12-15). Mit dieser Offenbarung wird dem Menschen die letzte Wahrheit über sein Leben und über das Schicksal der Geschichte angeboten: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf«, stellt die Konstitution Gaudium et spes<ref> Nr. 22. </ref> fest. Außerhalb dieser Sicht bleibt das Geheimnis der menschlichen Person ein unlösbares Rätsel. Wo sonst als in dem Licht, das vom Geheimnis der Passion, des Todes und der Auferstehung Christi ausstrahlt, könnte der Mensch die Antwort auf so dramatische Fragen suchen wie die des Schmerzes, des Leidens Unschuldiger und des Todes?
Die Vernunft vor dem Geheimnis (13-15)
13. Es soll freilich nicht vergessen werden, dass die Offenbarung bis heute etwas Geheimnisvolles bleibt. Gewiß enthüllt Jesus durch sein Leben das Antlitz des Vaters, denn er ist ja gekommen, »damit er vom Innern Gottes Kunde bringe«;<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 4. </ref> doch die Erkenntnis, die wir von diesem Antlitz haben, ist stets von der Bruchstückhaftigkeit und Begrenztheit unseres Begreifens gezeichnet. Einzig und allein der Glaube gestattet es, in das Innere des Geheimnisses einzutreten, dessen Verständnis er in angemessener Weise begünstigt.
Das Konzil lehrt, dass »dem offenbarenden Gott der Gehorsam des Glaubens zu leisten« ist.<ref> Ebd., 5. </ref> Mit dieser kurzen, aber wichtigen Aussage wird auf eine fundamentale Wahrheit des Christentums hingewiesen. Es heißt darin vor allem, dass der Glaube gehorsame Antwort an Gott ist. Das aber setzt voraus, dass dieser in seiner Gottheit, Transzendenz und höchsten Freiheit anerkannt wird. Der Gott, der sich zu erkennen gibt, bringt in der Autorität seiner absoluten Transzendenz die Glaubwürdigkeit der von ihm geoffenbarten Inhalte mit. Durch den Glauben gibt der Mensch seine Zustimmung zu diesem göttlichen Zeugnis. Das heißt, er anerkennt voll und ganz die Wahrheit dessen, was geoffenbart wurde, weil Gott selbst sich zu ihrem Garanten macht. Diese dem Menschen geschenkte und von ihm nicht einforderbare Wahrheit fügt sich in den Horizont der interpersonalen Kommunikation ein. Sie drängt die Vernunft, sich der Wahrheit zu öffnen und ihren tiefen Sinn anzunehmen. Darum ist der Akt, mit dem man sich Gott anvertraut, von der Kirche stets als ein grundlegender Entscheidungsvorgang angesehen worden, in den die ganze Person eingebunden ist. Verstand und Wille setzen bis zum äußersten ihre geistige Natur ein, um dem Subjekt den Vollzug eines Aktes zu erlauben, in dem die persönliche Freiheit im Vollsinn gelebt wird.<ref> Das I. Vatikanische Konzil, auf das der oben angeführte Satz Bezug nimmt, lehrt, dass der Gehorsam des Glaubens die Aufbietung des Verstandes und des Willens erfordert: »Da der Mensch ganz von Gott als seinem Schöpfer und Herrn abhängt und die geschaffene Vernunft der ungeschaffenen Wahrheit völlig unterworfen ist, sind wir gehalten, dem offenbarenden Gott im Glauben vollen Gehorsam des Verstandes und des Willens zu leisten« (Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, Kap. III: DS 3008). </ref> Im Glauben ist also die Freiheit nicht einfach nur da; sie ist gefordert. Ja, der Glaube ermöglicht es einem jeden, seine Freiheit bestmöglich zum Ausdruck zu bringen. Mit anderen Worten, die Freiheit verwirklicht sich nicht in Entscheidungen gegen Gott. In der Tat, wie könnte die Weigerung, sich dem zu öffnen, was die Selbstverwirklichung ermöglicht, als ein glaubwürdiger Gebrauch der Freiheit angesehen werden? Im Glauben vollzieht der Mensch den bedeutsamsten Akt seines Daseins; denn die Freiheit gelangt zur Gewißheit der Wahrheit und entschließt sich, in ihr zu leben.
Der Vernunft, die das Geheimnis zu verstehen sucht, kommen auch die in der Offenbarung vorhandenen Zeichen zur Hilfe. Sie dienen dazu, die Wahrheitssuche gründlicher vorzunehmen und dem Verstand selbständige Erkundungen auch innerhalb des Geheimnisses zu ermöglichen. Diese Zeichen geben zwar einerseits der Vernunft größeres Gewicht, weil sie ihr erlauben, mit den ihr eigenen Mitteln, auf die sie zu Recht stolz ist, das Geheimnis von innen her zu ergründen; andererseits sind die Zeichen für die Vernunft Ansporn, über ihre zeichenhafte Wirklichkeit hinauszugehen, um deren jenseitige Bedeutung, die sie tragen, zu erfassen. In ihnen ist also eine verborgene Wahrheit bereits gegenwärtig, auf die der Verstand verwiesen wird und von der er nicht absehen kann, ohne das ihm angebotene Zeichen selbst zu zerstören.
Man wird gewissermaßen auf den sakramentalen Horizont der Offenbarung und insbesondere auf das Zeichen der Eucharistie verwiesen, wo es die unauflösliche Einheit zwischen der Wirklichkeit und ihrer Bedeutung erlaubt, die Tiefe des Geheimnisses zu erfassen. Christus ist in der Eucharistie wahrhaftig gegenwärtig und lebendig, er wirkt und handelt durch seinen Geist, doch wie der hl. Thomas richtig gesagt hatte: »Du siehst nicht, du begreifst nicht, aber der Glaube bestärkt dich jenseits der Natur. Was da erscheint, ist ein Zeichen: es verbirgt im Geheimnis erhabene Wirklichkeiten«.<ref> Vgl. Sequenz am Fest des heiligsten Leibes und Blutes Christi. </ref> Ihm pflichtet der Philosoph Pascal bei: »Wie Jesus Christus unter den Menschen unerkannt geblieben ist, so unterscheidet sich seine Wahrheit äußerlich nicht von den allgemeinen Meinungen. Und so ist die Eucharistie gewöhnliches Brot«.<ref> Pensées, 789 (ed. L. Brunschvicg). </ref>
Die Glaubenserkenntnis hebt also das Geheimnis nicht auf; sie macht es nur einsichtiger und offenbart es als für das Leben des Menschen wesentliche Tatsache: »Christus der Herr ... macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«,<ref> II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22. </ref> nämlich teilzuhaben am Geheimnis des dreifaltigen Lebens Gottes.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 2. </ref>
14. Die Lehre der beiden Vatikanischen Konzilien eröffnet auch für das philosophische Wissen einen Horizont echter Neuerung. Die Offenbarung führt in die Geschichte einen Bezugspunkt ein, von dem der Mensch nicht absehen kann, wenn er dahin gelangen will, das Geheimnis seines Daseins zu verstehen; andererseits verweist diese Erkenntnis ständig auf das Geheimnis Gottes, das der Verstand nicht auszuschöpfen vermag, sondern nur im Glauben empfangen und annehmen kann. Innerhalb dieser beiden Momente hat die Vernunft ihren besonderen Platz, der ihr das Erkunden und Begreifen erlaubt, ohne von etwas anderem eingeschränkt zu werden als von ihrer Endlichkeit angesichts des unendlichen Geheimnisses Gottes.
Die Offenbarung führt also in unsere Geschichte eine universale und letzte Wahrheit ein, die den Verstand des Menschen dazu herausfordert, niemals stehenzubleiben; ja, sie spornt ihn an, den Raum seines Wissens ständig zu erweitern, bis er gewahr wird, ohne jegliche Unterlassung alles in seiner Macht Stehende getan zu haben. Bei dieser Überlegung kommt uns eine der geistreichsten und bedeutendsten schöpferischen Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte zu Hilfe, auf die sich sowohl die Philosophie als auch die Theologie beziehen: der hl. Anselm. In seinem Proslogion schreibt der Bischof von Canterbury: »Während ich häufig und voll Eifer meine Gedanken auf dieses Problem richtete, schien es mir zuweilen, als könnte ich das, wonach ich suchte, schon ergreifen; ein anderes Mal hingegen entglitt es vollständig meinem Denken; bis ich schließlich die Hoffnung, es je finden zu können, verlor und die Suche nach etwas, das sich unmöglich finden ließ, aufgeben wollte. Als ich aber jene Gedanken aus mir vertreiben wollte, damit sie nicht meinen Geist beschäftigten und mich von anderen Problemen abhalten würden, aus denen ich irgendeinen Gewinn ziehen konnte, da stellten sie sich mit immer größerer Aufdringlichkeit ein [...]. Was aber habe ich Armseliger, einer von Evas Söhnen, fern von Gott, was habe ich zu unternehmen begonnen und was ist mir gelungen? Wonach ging meine Neigung und wohin bin ich gelangt? Wonach strebte ich und wonach sehne ich mich noch immer? [...] O Herr, du bist nicht nur das Größte, das man sich denken kann (non solum es quo maius cogitari nequit), sondern du bist größer als alles, was man sich denken kann (quiddam maius quam cogitari possit) [...]. Wenn du nicht so beschaffen wärest, könnte man sich etwas Größeres als dich vorstellen, aber das ist unmöglich«.<ref> Proslogion, Proemium und Nr. 1.15: PL 158, 223-224.226; 235. </ref>
15. Die Wahrheit der christlichen Offenbarung, der wir in Jesus von Nazaret begegnen, ermöglicht jedem, das »Geheimnis« des eigenen Lebens anzunehmen, sie achtet zutiefst die Autonomie des Geschöpfes und seine Freiheit, verpflichtet es aber im Namen der Wahrheit, sich der Transzendenz zu öffnen. Hier erreicht das Verhältnis von Freiheit und Wahrheit seinen Höhepunkt, und man versteht voll und ganz das Wort des Herrn: »Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8, 32).
Die christliche Offenbarung ist der wahre Leitstern für den Menschen zwischen den Bedingtheiten der immanentistischen Denkweise und den Verengungen einer technokratischen Logik; sie ist die äußerste von Gott angebotene Möglichkeit, um den ursprünglichen Plan der Liebe, der mit der Schöpfung begonnen hat, vollständig wiederzufinden. Dem Menschen, der sich nach Erkenntnis des Wahren sehnt, wird, sofern er noch imstande ist, den Blick über sich selbst und die eigenen Pläne hinaus zu erheben, die Möglichkeit gegeben, das natürliche Verhältnis zu seinem Leben dadurch wiederzugewinnen, dass er den Weg der Wahrheit geht. Die Worte aus dem Buch Deuteronomium lassen sich gut auf diese Situation anwenden: »Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im Himmel, so dass du sagen müßtest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, so dass du sagen müßtest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten« (30, 11-14). Diesem Text stimmt der heilige Augustinus, Philosoph und Theologe, mit dem berühmten Gedanken zu: »Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas« [Geh nicht nach draußen, kehre zu dir selbst zurück. Im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit].<ref> De vera religione, XXXIX, 72: CCL 32, 234. </ref>
Im Lichte dieser Überlegungen drängt sich eine erste Schlussfolgerung auf: Die Wahrheit, welche die Offenbarung uns erkennen läßt, ist nicht die reife Frucht oder der Höhepunkt eines von der Vernunft aufbereiteten Denkens. Sie erscheint hingegen mit dem Wesensmerkmal der Ungeschuldetheit, bringt Denken hervor und fordert, als Ausdruck der Liebe angenommen zu werden. Diese geoffenbarte Wahrheit ist in unsere Geschichte gelegte Vorwegnahme jener letzten und endgültigen Anschauung Gottes, die denen vorbehalten ist, die an ihn glauben oder ihn mit aufrichtigem Herzen suchen. Das letzte Ziel des menschlichen Daseins als Person ist also Forschungsobjekt sowohl der Philosophie als auch der Theologie. Beide führen uns, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln und Inhalten, diesen »Pfad zum Leben« (Ps 16, 11) vor Augen, der schließlich, wie uns der Glaube sagt, in die volle und ewig währende Freude der Anschauung des dreieinigen Gottes einmündet.
KAPITEL II: CREDO UT INTELLEGAM
Die Weisheit weiß und versteht alles (vgl. Weish 9, 11) (16-20)
16. Wie tief der Zusammenhang zwischen Glaubens- und Vernunfterkenntnis ist, wird bereits in der Heiligen Schrift mit erstaunlich deutlichen Hinweisen aufgezeigt. Das bezeugen besonders die Weisheitsbücher. Was bei der unvoreingenommenen Lektüre dieser Seiten der Heiligen Schrift beeindruckt, ist die Tatsache, dass in diesen Texten nicht nur Israels Glaube enthalten ist, sondern auch der Reichtum bereits untergegangener Zivilisationen und Kulturen. Wie nach einem besonderen Plan lassen Ägypten und Mesopotamien wieder ihre Stimme hören, und manche gemeinsamen Züge der altorientalischen Kulturen werden auf diesen Seiten, die so reich sind an inneren Einsichten einzigartiger Tiefe, wieder ins Leben zurückgeholt. Es ist kein Zufall, dass der heilige Verfasser den weisen Menschen, den er beschreiben möchte, als denjenigen darstellt, der die Wahrheit liebt und nach ihr sucht: »Wohl dem Menschen, der nachsinnt über die Weisheit, der sich bemüht um Einsicht, der seinen Sinn richtet auf ihre Wege und auf ihre Pfade achtet, der ihr nachgeht wie ein Späher und an ihren Eingängen lauert, der durch ihre Fenster schaut und an ihren Türen horcht, der sich bei ihrem Haus niederläßt und seine Zeltstricke an ihrer Mauer befestigt, der neben ihr sein Zelt aufstellt und so eine gute Wohnung hat, der sein Nest in ihr Laub baut und in ihren Zweigen die Nacht verbringt, der sich in ihrem Schatten vor der Hitze verbirgt und im Schutz ihres Hauses wohnt« (Sir 14, 20-27).
Wie man sieht, ist für den inspirierten Verfasser der sehnliche Wunsch nach Erkenntnis ein Wesensmerkmal, das alle Menschen vereint. Dank des Denkvermögens ist allen, Glaubenden wie Nichtglaubenden, die Möglichkeit gegeben, »zu schöpfen im tiefen Wasser« der Erkenntnis (vgl. Spr 20, 5). Im alten Israel erfolgte das Erkennen der Welt und ihrer Erscheinungen sicher nicht durch Abstraktion, wie das für den jonischen Philosophen oder den ägyptischen Weisen zutrifft. Noch weniger empfing der gute Israelit die Erkenntnis mit Hilfe der Kriterien, wie sie der zunehmend nach Wissensspaltung tendierenden modernen Zeit eigen sind. Trotzdem hat die Welt der Bibel in das große Meer der Erkenntnislehre ihren originellen Beitrag einfließen lassen.
Wie sieht dieser Beitrag aus? Die Besonderheit, die den Bibeltext auszeichnet, besteht in der Überzeugung, dass zwischen der Vernunft- und der Glaubenserkenntnis eine tiefe, untrennbare Einheit besteht. Die Welt und was in ihr vorgeht ebenso wie die Geschichte und die wechselvollen Ereignisse des Volkes sind Wirklichkeiten, die mit den Mitteln der Vernunft betrachtet, analysiert und beurteilt werden, ohne dass aber der Glaube an diesem Prozeß unbeteiligt bliebe. Er greift nicht ein, um die Autonomie der Vernunft zu beschneiden oder ihren Handlungsraum einzuschränken, sondern nur dazu, um dem Menschen begreiflich zu machen, dass der Gott Israels in diesen Geschehnissen sichtbar wird und handelt. Die Welt und die geschichtlichen Begebenheiten gründlich zu kennen, ist also unmöglich, ohne sich gleichzeitig zum Glauben an den in ihnen wirkenden Gott zu bekennen. Der Glaube schärft den inneren Blick, indem er den Verstand dafür offen macht, im Strom der Ereignisse die tätige Gegenwart der Vorsehung zu entdecken. Ein Satz aus dem Buch der Sprichwörter ist in diesem Zusammenhang bezeichnend: »Des Menschen Herz plant seinen Weg, doch der Herr lenkt seinen Schritt« (Spr 16, 9). Man könnte sagen, der Mensch vermag mit dem Licht der Vernunft seinen Weg zu erkennen, kann ihn aber nur dann rasch und ohne Hindernisse zu Ende gehen, wenn er mit redlichem Herzen sein Forschen in den Horizont des Glaubens einfügt. Vernunft und Glaube lassen sich daher nicht voneinander trennen, ohne dass es für den Menschen unmöglich wird, sich selbst, die Welt und Gott in entsprechender Weise zu erkennen.
17. Es gibt also keinen Grund für das Bestehen irgendeines Konkurrenzkampfes zwischen Vernunft und Glaube: sie wohnen einander inne, und beide haben ihren je eigenen Raum zu ihrer Verwirklichung. Wieder ist es das Buch der Sprichwörter, das uns mit dem Ausruf in diese Richtung weist: »Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verhüllen, des Königs Ehre ist es, eine Sache zu erforschen« (Spr 25, 2). Gott und der Mensch sind in ihrer jeweiligen Welt in eine einzigartige Wechselbeziehung gestellt. In Gott hat alles seinen Ursprung, in ihm sammelt sich die Fülle des Geheimnisses, und das macht seine Ehre aus; dem Menschen fällt die Aufgabe zu, mit seiner Vernunft nach der Wahrheit zu forschen, und darin besteht sein Adel. Ein weiterer Stein zu diesem Mosaik wird vom Psalmisten hinzugefügt, wenn er betet: »Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken, wie gewaltig ist ihre Zahl! Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand. Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir« (Ps 139, 17-18). Das Streben nach Erkenntnis ist so groß und mit einem derartigen Dynamismus verbunden, dass sich das Herz des Menschen trotz der Erfahrung der unüberschreitbaren Grenze nach dem unendlichen Reichtum sehnt, der sich jenseits befindet, weil es ahnt, dass dort die befriedigende Antwort auf jede noch ungelöste Frage gehütet wird.
18. Wir können daher sagen, Israel hat es vermocht, mit seinem Nachdenken der Vernunft den Weg zum Geheimnis zu eröffnen. In der Offenbarung Gottes konnte es alles gründlich erkunden, was es mit der Vernunft vergeblich zu erreichen versuchte. Von dieser tiefsten Erkenntnisform ausgehend hat das auserwählte Volk verstanden, dass die Vernunft einige Grundregeln beachten muss, um der ihr eigenen Natur bestmöglich Ausdruck geben zu können. Die erste Regel besteht in der Berücksichtigung der Tatsache, dass das Erkennen des Menschen ein Weg ist, der keinen Stillstand kennt; die zweite entsteht aus dem Bewußtsein, dass man sich auf diesen Weg nicht mit dem Hochmut dessen begeben darf, der meint, alles sei Frucht persönlicher Errungenschaft; eine dritte Regel gründet auf der »Gottesfurcht«: die Vernunft muss Gottes souveräne Transzendenz und zugleich seine sorgende Liebe bei der Lenkung der Welt anerkennen.
Wenn der Mensch von diesen Regeln abweicht, setzt er sich der Gefahr des Scheiterns aus und befindet sich schließlich in der Verfassung des »Toren«. Für die Bibel beinhaltet diese Torheit eine Bedrohung des Lebens. Denn der Tor bildet sich ein, viele Dinge zu wissen, ist aber in Wirklichkeit nicht imstande, den Blick auf die wesentlichen Dinge zu heften. Das hindert ihn daran, Ordnung in seinen Verstand zu bringen (vgl. Spr 1, 7) und gegenüber sich selbst und seiner Umgebung eine entsprechende Haltung einzunehmen. Wenn er dann so weit geht zu behaupten: »Es gibt keinen Gott« (Ps 14, 1), enthüllt er mit endgültiger Klarheit, wie unzureichend sein Wissen ist und wie weit er von der vollen Wahrheit über die Dinge, ihren Ursprung und ihre Bestimmung entfernt ist.
19. Einige wichtige Texte, die weiteres Licht auf dieses Thema werfen, sind im 13. Kapitel des Buches der Weisheit enthalten. Darin spricht der Verfasser von Gott, der sich auch durch die Natur erkennen läßt. In der Antike fiel das Studium der Naturwissenschaften großenteils mit dem philosophischen Wissen zusammen. Nachdem der heilige Text ausgeführt hat, dass der Mensch mit seinem Verstand in der Lage ist, »den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente, ... den Kreislauf der Jahre und die Stellung der Sterne, die Natur der Tiere und die Wildheit der Raubtiere« zu verstehen (Weish 7, 17. 19-20), mit einem Wort, dass er fähig ist zu philosophieren, vollzieht er einen sehr bemerkenswerten Schritt nach vorn. Während der Verfasser das Denken der griechischen Philosophie aufgreift, auf das er sich in diesem Zusammenhang offensichtlich bezieht, erklärt er, dass man eben durch vernünftiges Nachdenken über die Natur wieder auf den Schöpfer zurückkommen könne: »Denn von der Größe und Schönheit der Geschöpfe läßt sich auf ihren Schöpfer schließen« (Weish 13, 5). Es wird also eine erste Stufe der göttlichen Offenbarung anerkannt, die aus dem wunderbaren »Buch der Natur« besteht; liest der Mensch dieses Buch mit den seiner Vernunft eigenen Mitteln, kann er zur Erkenntnis des Schöpfers gelangen. Wenn der Mensch mit seinem Verstand Gott, den Schöpfer von allem, nicht zu erkennen vermag, dann liegt das nicht so sehr am Fehlen eines geeigneten Mittels als vielmehr an dem Hindernis, das ihm von seinem freien Willen und seiner Sünde in den Weg gelegt wurde.
20. Die Vernunft wird in dieser Sicht gewürdigt, aber nicht überbewertet. Denn alles, was sie erreicht, kann zwar wahr sein, erlangt aber volle Bedeutung erst, wenn sein Inhalt in den weiteren Horizont des Glaubens gestellt wird: »Der Herr lenkt die Schritte eines jeden. Wie könnte der Mensch seinen Weg verstehen?« (Spr 20, 24). Nach dem Alten Testament befreit also der Glaube die Vernunft, da er ihr ermöglicht, ihren Erkenntnisgegenstand konsequent zu erreichen und ihn in jene höchste Ordnung zu stellen, in der alles seine Sinnhaftigkeit erlangt. Mit einem Wort, der Mensch gelangt durch die Vernunft zur Wahrheit, weil er zugleich mit dem Glauben den tiefen Sinn von allem und insbesondere den Sinn seines eigenen Daseins entdeckt. Mit Recht setzt daher der Verfasser als den Anfang der wahren Erkenntnis die Gottesfurcht voraus: »Gottesfurcht ist Anfang der Erkenntnis« (Spr 1, 7; vgl. Sir 1, 14).
»Erwirb dir Weisheit, erwirb dir Einsicht« (Spr 4, 5) (21-23)
21. Die Erkenntnis beruht nach dem Alten Testament nicht nur auf einer sorgfältigen Beobachtung des Menschen, der Welt und der Geschichte, sondern setzt auch eine unerläßliche Beziehung zum Glauben und zu den Inhalten der Offenbarung voraus. Hier liegen auch die Herausforderungen, denen sich das auserwählte Volk stellen musste und auf die es geantwortet hat. Beim Nachdenken über diese seine Lage hat der biblische Mensch entdeckt, dass er sich nur begreifen kann, insofern er »in Beziehung steht«: in Beziehung zu sich selbst, zum Volk, zur Welt und zu Gott. Diese Öffnung für das Geheimnis, die ihm von der Offenbarung zukam, war schließlich für ihn die Quelle einer wahren Erkenntnis, die seiner Vernunft das Eintauchen in die Räume des Unendlichen erlaubte, wodurch er bis dahin unverhoffte Verständnismöglichkeiten erhielt.
Die Anstrengung des Forschens war für den Verfasser nicht frei von der Mühseligkeit, die von der Auseinandersetzung mit den Grenzen der Vernunft herrührt. Das läßt sich zum Beispiel den Worten entnehmen, mit denen das Buch der Sprichwörter den Zustand der Erschöpfung offenlegt, der sich bei dem Versuch, die geheimnisvollen Pläne Gottes zu begreifen, einstellte (vgl. Spr 30, 1-6). Der Glaubende gibt sich jedoch trotz der Beschwerlichkeit nicht geschlagen. Die Kraft, um seinen Weg zur Wahrheit fortzusetzen, erhält er aus der Gewißheit, dass Gott ihn als »Forscher« erschaffen hat (vgl. Koh 1, 13), der den Auftrag hat, trotz der ständigen Erpressung durch den Zweifel nichts unversucht zu lassen. Dadurch, dass er sich auf Gott stützt, bleibt er immer und überall auf das Schöne, Gute und Wahre ausgerichtet.
22. Der hl. Paulus hilft uns im ersten Kapitel seines Briefes an die Römer, die Überlegung der Weisheitsbücher in ihrer Eindringlichkeit besser zu würdigen. Mit seiner Darlegung einer philosophischen Argumentation in der Sprache des Volkes bringt der Apostel eine tiefe Wahrheit zum Ausdruck: Durch die Schöpfung können die »Augen des Verstandes« zur Erkenntnis Gottes gelangen. Denn durch die Geschöpfe läßt er die Vernunft seine »Macht« und seine »Gottheit« erahnen (vgl. Röm 1, 20). Der Vernunft des Menschen wird also eine Fähigkeit zuerkannt, die gleichsam ihre natürlichen Grenzen zu übersteigen scheint: nicht nur dass sie von dem Augenblick an, wo sie kritisch darüber nachdenken kann, nicht mehr in die sinnliche Erkenntnis verbannt ist, sondern auch durch das Argumentieren über die Sinneswahrnehmungen kann sie zu dem Grund vordringen, der am Anfang jeder sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit steht. In philosophischer Fachsprache könnten wir sagen, dass in dem wichtigen Text die metaphysische Fähigkeit des Menschen bejaht wird. Nach Überzeugung des Apostels war im ursprünglichen Schöpfungsplan die Fähigkeit der Vernunft vorgesehen, die Sinnenwelt mit Leichtigkeit zu übersteigen, um zum eigentlichen Ursprung von allem zu gelangen: dem Schöpfer. Infolge des Ungehorsams, durch den sich der Mensch die volle und absolute Unabhängigkeit gegenüber seinem Schöpfer erwirken wollte, ist diese Leichtigkeit des Aufstiegs zum Schöpfergott verloren gegangen.
Das Buch Genesis beschreibt auf anschauliche Weise diesen Zustand des Menschen, wenn es davon erzählt, dass Gott ihn in den Garten Eden setzte, in dessen Mitte »der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« stand (Gen 2, 17). Das Symbol ist klar: Der Mensch war nicht in der Lage, von sich aus zu unterscheiden und zu entscheiden, was gut und was böse war, sondern musste sich auf ein höheres Prinzip berufen. Verblendung durch Überheblichkeit verführte unsere Stammeltern zu der trügerischen Täuschung, sie wären souverän und unabhängig und könnten auf die von Gott stammende Erkenntnis verzichten. In ihren Ur-Ungehorsam zogen sie jeden Mann und jede Frau hinein und fügten der Vernunft Wunden zu, die von da an den Weg zur vollen Wahrheit behindern sollten. Das menschliche Vermögen, die Wahrheit zu erkennen, wurde nunmehr von der Auflehnung gegen denjenigen beeinträchtigt, der Quelle und Ursprung der Wahrheit ist. Wieder ist es der Apostel, der darlegt, wie auf Grund der Sünde die Gedanken der Menschen »nichtig« geworden sind und sich ihre Überlegungen als entstellt und falsch orientiert erwiesen haben (vgl. Röm 1, 21-22). Die Augen des Verstandes waren nun nicht mehr in der Lage, klar zu sehen: die Vernunft wurde zunehmend zur Gefangenen ihrer selbst. Das Kommen Christi war das Heilsereignis, das die Vernunft aus ihrer Schwachheit erlöste und sie von den Fesseln, in denen sie sich selbst gefangen hatte, befreite.
23. Das Verhältnis des Christen zur Philosophie verlangt daher eine tiefgreifende Unterscheidung. Im Neuen Testament, vor allem in den Briefen des hl. Paulus, tritt eine Tatsache klar ans Licht: die Gegenüberstellung zwischen der »Weisheit dieser Welt« und der in Jesus Christus geoffenbarten Weisheit Gottes. Die Tiefgründigkeit der geoffenbarten Weisheit sprengt den Zirkel unserer üblichen Denkschemata, die keinesfalls in der Lage sind, sie adäquat wiederzugeben.
Der Anfang des ersten Briefes an die Korinther wirft dieses Dilemma in radikaler Weise auf. Der gekreuzigte Sohn Gottes ist das geschichtliche Ereignis, an dem jeder Versuch des Verstandes scheitert, auf rein menschlichen Argumenten einen ausreichenden Beleg für den Sinn des Daseins aufzubauen. Der wahre Knotenpunkt, der die Philosophie herausfordert, ist der Tod Jesu Christi am Kreuz. Denn hier ist jeder Versuch, den Heilsplan des Vaters auf reine menschliche Logik zurückzuführen, zum Scheitern verurteilt. »Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Welt? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt?« (1 Kor 1, 20), fragt sich der Apostel emphatisch. Für das, was Gott verwirklichen will, genügt nicht bloß die Weisheit des weisen Menschen, vielmehr ist ein entschlossener Übergang zur Annahme von etwas völlig Neuem gefordert: »Das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen [...]. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten« (1 Kor 1, 27-28). Die Weisheit des Menschen lehnt es ab, in ihrer Schwachheit die Voraussetzung für ihre Stärke zu sehen; aber der hl. Paulus zögert nicht zu bekräftigen: »Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark« (2 Kor 12, 10). Der Mensch vermag nicht zu begreifen, wie der Tod Quelle von Leben und Liebe sein könne, aber Gott hat gerade das für die Enthüllung des Geheimnisses seines Heilsplanes erwählt, was die Vernunft als »Torheit« und »Ärgernis« ansieht. Mit Hilfe der Sprache der Philosophen seiner Zeit erreicht Paulus den Höhepunkt seiner Lehre und des Paradoxons, das er ausdrücken will: »Gott hat in der Welt das, was nichts ist, erwählt, um das, was etwas ist, zu vernichten« (1 Kor 1, 28). Der Apostel scheut sich nicht, von der radikalsten Sprache, welche die Philosophen in ihren Erwägungen über Gott verwendeten, Gebrauch zu machen, um das Wesen der ungeschuldeten Liebe zum Ausdruck zu bringen, die sich im Kreuz Jesu Christi geoffenbart hat. Die Vernunft kann das Geheimnis, das das Kreuz darstellt, nicht der Liebe entleeren; statt dessen kann das Kreuz der Vernunft die letzte Antwort geben, nach der sie sucht. Nicht die Weisheit der Worte, sondern das Wort von der Weisheit ist es, das der hl. Paulus als Kriterium der Wahrheit und damit des Heils festsetzt.
Die Weisheit des Kreuzes überwindet daher jede kulturelle Grenze, die man ihr auferlegen will, und verpflichtet dazu, sich der Universalität der Wahrheit, deren Trägerin sie ist, zu öffnen. Was für eine Herausforderung stellt sich da unserer Vernunft und welchen Nutzen zieht sie daraus, wenn sie sich denn geschlagen gibt! Die Philosophie, die schon von sich aus imstande ist, die unablässige Selbsttranszendierung des Menschen auf die Wahrheit hin zu erkennen, kann sich mit Hilfe des Glaubens öffnen, um in der »Torheit« des Kreuzes die echte Kritik an denen aufzugreifen, die sich der Täuschung hingeben, die Wahrheit zu besitzen, während sie sie in die Untiefen ihres Systems gefangenhalten. Das Verhältnis von Glaube und Philosophie trifft in der Verkündigung vom gekreuzigten und auferstandenen Christus auf die Felsenklippe, an der es Schiffbruch erleiden kann. Doch jenseits dieser Klippe kann es in das unendliche Meer der Wahrheit einmünden. Hier zeigt sich deutlich die Grenze zwischen Vernunft und Glaube, es wird aber auch der Raum klar erkennbar, in dem sich beide begegnen können.
KAPITEL III: INTELLEGO UT CREDAM
Auf dem Weg der Suche nach der Wahrheit (24-27)
24. Der Evangelist Lukas erzählt in der Apostelgeschichte, dass Paulus auf seinen Missionsreisen nach Athen kam. Die Stadt der Philosophen war voll von Statuen, die verschiedene Götzen darstellten. Ein Altar erregte seine Aufmerksamkeit, und er nahm das sogleich zum Anlaß, darin eine gemeinsame Grundlage zu entdecken, auf der er mit der Verkündigung des Kerygmas beginnen konnte. Und so sprach er: »Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: Einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch« (Apg 17, 22-23). Von da ausgehend spricht der hl. Paulus von Gott als Schöpfer, als dem, der alles übersteigt und alles zum Leben bringt. Dann setzt er seine Rede so fort: »Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgelegt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern« (Apg 17, 26-27).
Der Apostel legt eine Wahrheit vor, die sich die Kirche stets zunutze gemacht hat: Das Streben und die Sehnsucht nach Gott ist tief in das Menschenherz eingesät. Daran erinnert auch ausdrücklich die Karfreitagsliturgie, wenn sie uns im Gebet für alle Nichtglaubenden sprechen läßt: »Allmächtiger, ewiger Gott, du hast eine so tiefe Sehnsucht nach dir ins Herz des Menschen gesenkt, dass sie erst Frieden haben, wenn sie dich finden«.<ref> »Ut te semper desiderando quaererent et inveniendo quiescerent«: Missale Romanum. </ref> Es gibt also einen Weg, den der Mensch, wenn er will, gehen kann; er beginnt mit der Fähigkeit der Vernunft, sich über das Zufällige zu erheben, um auf das Unendliche zuzutreiben.
Der Mensch hat auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeiten bewiesen, dass er imstande ist, dieser seiner tiefsten Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur und jedes andere Erzeugnis seines schöpferischen Verstandes sind zu Kanälen geworden, durch die er sein sehnsüchtiges Suchen ausdrückt. In besonderer Weise hat die Philosophie diesen Antrieb in sich aufgenommen und mit ihren Mitteln sowie ihren wissenschaftlichen Möglichkeiten gemäß diesem universalen Streben des Menschen Ausdruck verliehen.
25. »Alle Menschen streben nach Wissen«;<ref> Aristoteles, Metaphysik, I,1. </ref> Gegenstand dieses Strebens ist die Wahrheit. Selbst das Alltagsleben zeigt, wie sehr ein jeder daran interessiert ist herauszufinden, wie über das bloß gehörte Wort hinaus die Dinge in Wahrheit sind. Der Mensch ist das einzige Wesen in der ganzen sichtbaren Schöpfung, das nicht nur zu wissen fähig ist, sondern auch um dieses Wissen weiß; darum interessiert er sich für die tatsächliche Wahrheit dessen, was für ihn sichtbar ist. Ehrlicherweise darf niemandem die Wahrheit seines Wissens gleichgültig sein. Wenn er entdeckt, dass es falsch ist, verwirft er es; wenn er es hingegen als wahr feststellen kann, ist er zufrieden. Das ist die Lehre des hl. Augustinus, wenn er schreibt: »Ich habe manchen gefunden, der andere täuschen wollte, aber keinen, der getäuscht sein wollte«.<ref> Bekenntnisse, X, 23, 33: CCL 27, 173. </ref> Mit Recht gilt ein Mensch dann als erwachsen, wenn er mit eigenen Mitteln zwischen wahr und falsch unterscheiden kann, indem er sich über die objektive Wirklichkeit der Dinge sein Urteil bildet. Hier liegt der Grund zu vielen Forschungen, besonders auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, die in den letzten Jahrhunderten so bedeutsame Ergebnisse erbracht und damit einen echten Fortschritt der gesamten Menschheit gefördert haben.
Nicht weniger wichtig als die Forschung auf theoretischem Gebiet ist jene im praktischen Bereich. Denn durch sein sittliches Handeln schlägt die menschliche Person, wenn sie ihrem freien und rechten Willen gemäß handelt, den Weg der Glückseligkeit ein und strebt nach Vollkommenheit. Auch in diesem Fall geht es um die Wahrheit. Diese Überzeugung habe ich in der Enzyklika Veritatis splendor unterstrichen: »Moral ohne Freiheit gibt es nicht... Wenn für den Menschen das Recht besteht, auf seinem Weg der Wahrheitssuche respektiert zu werden, so besteht noch vorher die für jeden schwerwiegende moralische Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen und an der anerkannten Wahrheit festzuhalten«.<ref> Nr. 34: AAS 85 (1993), 1161. </ref> Es ist also notwendig, dass die angenommenen und durch das eigene Leben verfolgten Werte wahr sind, weil nur wahre Werte die menschliche Person durch Verwirklichung ihrer Natur vollenden können. Diese Wahrheit der Werte findet der Mensch nicht dadurch, dass er sich in sich verschließt, sondern indem er sich öffnet, um sie auch in den über ihn hinausgehenden Dimensionen anzunehmen. Das ist eine unerläßliche Voraussetzung, damit ein jeder er selbst werden und als erwachsene, reife Person wachsen kann.
26. Die Wahrheit stellt sich beim Menschen anfangs in Frageform vor: Hat das Leben einen Sinn? Wohin führt es? Auf den ersten Blick könnte das Dasein des Menschen als Person gänzlich sinnlos erscheinen. Man braucht nicht Philosophen, die die Absurdität vertreten, oder die provokatorischen Fragen im Buch Ijob heranzuziehen, um am Sinn des Lebens zu zweifeln. Die tägliche Erfahrung von eigenem und fremdem Leid, der Anblick so vieler Tatsachen, die im Lichte der Wahrheit unerklärlich erscheinen, genügen, dass wir unausweichlich eine so dramatische Frage wie jene nach dem Sinn stellen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Salvifici doloris (11. Februar 1984), 9: AAS 76 (1984), 209-210. </ref> Hinzukommt, dass die erste absolut sichere Wahrheit unserer Existenz außer der Tatsache, dass wir überhaupt da sind, die Unvermeidbarkeit unseres Todes ist. Angesichts dieses bestürzenden Umstandes stellt sich die Suche nach einer erschöpfenden Antwort. Jeder will — und soll — die Wahrheit über sein Ende kennen. Er will wissen, ob der Tod das endgültige Ende seines Daseins ist oder ob es noch etwas gibt, das über den Tod hinausreicht; ob er auf ein Weiterleben hoffen darf oder nicht. Nicht von ungefähr hat das philosophische Denken seine entscheidende Orientierung vom Tod des Sokrates her erhalten und ist seit über zweitausend Jahren davon geprägt geblieben. Es ist also durchaus kein Zufall, dass angesichts der Tatsache des Todes die Philosophen sich dieses Problems, zusammen mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und der Unsterblichkeit, immer von neuem angenommen haben.
27. Niemand, weder der Philosoph noch der gewöhnliche Mensch, kann diesen Fragen aus dem Weg gehen. Von der Antwort darauf hängt eine entscheidende Etappe der Suche ab: Ob es möglich ist, zu einer universalen und absoluten Wahrheit zu gelangen oder nicht. An und für sich erscheint jede Wahrheit, auch Teilwahrheit, wenn sie wirklich Wahrheit ist, als universal. Was wahr ist, muss für alle und für immer wahr sein. Außer dieser Universalität sucht der Mensch jedoch nach einem Absoluten, das in der Lage sein soll, seinem ganzen Suchen und Forschen Antwort und Sinn zu geben: etwas Letztes, das sich als Grund jeder Sache herausstellt. Mit anderen Worten, er sucht nach einer endgültigen Erklärung, nach einem höchsten Wert, über den hinaus es weitere Fragen oder Verweise weder gibt noch geben kann. Hypothesen können den Menschen faszinieren, aber sie befriedigen ihn nicht. Es kommt für alle der Zeitpunkt, wo sie, ob sie es zugeben oder nicht, das Bedürfnis haben, ihre Existenz in einer als endgültig anerkannten Wahrheit zu verankern, welche eine Gewißheit vermittelt, die nicht mehr dem Zweifel unterworfen ist.
Die Philosophen haben im Laufe der Jahrhunderte versucht, eine solche Wahrheit zu entdecken und zum Ausdruck zu bringen, indem sie Denksysteme und -schulen ins Leben riefen. Über die philosophischen Systeme hinaus gibt es jedoch noch andere Ausdrucksformen, in denen der Mensch seiner »Philosophie« Gestalt zu geben versucht: dabei handelt es sich um persönliche Überzeugungen oder Erfahrungen, um familiäre oder kulturelle Traditionen oder um Lebensprogramme, wo man sich der Autorität eines Meisters anvertraut. Aus jeder dieser Erscheinungen spricht stets der lebhafte Wunsch, zur Gewißheit der Wahrheit und ihres absoluten Wertes zu gelangen.
Die verschiedenen Gesichter der Wahrheit des Menschen (28-35)
28. Die Wahrheitssuche stellt sich zugegebenermaßen nicht immer mit solcher Transparenz und Folgerichtigkeit dar. Die angeborene Begrenztheit der Vernunft und die Unbeständigkeit des Herzens trüben oft die persönliche Suche und lenken sie ab. Verschiedenartige andere Interessen können die Wahrheit unterdrücken. Es kommt vor, dass der Mensch, kaum dass er die Wahrheit flüchtig erblickt, geradewegs vor ihr flieht, weil er sich vor ihren Ansprüchen fürchtet. Trotzdem beeinflußt die Wahrheit, auch wenn er sie meidet, immer sein Dasein. Denn niemals könnte er sein Leben auf Zweifel, Ungewißheit oder Lüge gründen; eine solche Existenz wäre ständig von Angst und Furcht bedroht. Man kann also den Menschen als den definieren, der nach der Wahrheit sucht.
29. Es ist undenkbar, dass eine so tief in der menschlichen Natur verwurzelte Suche völlig nutzlos und vergeblich sein könnte. Die Fähigkeit, nach der Wahrheit zu suchen und Fragen zu stellen, schließt nämlich bereits eine erste Antwort ein. Der Mensch würde gar nicht anfangen, etwas zu suchen, von dem er überhaupt nichts wüßte oder das er für absolut unerreichbar hielte. Erst die Aussicht, zu einer Antwort gelangen zu können, kann ihn veranlassen, den ersten Schritt zu tun. Tatsächlich geschieht genau das normalerweise in der wissenschaftlichen Forschung. Wenn ein Wissenschaftler, seiner Intuition folgend, sich der Suche nach der logischen und nachweisbaren Erklärung eines bestimmten Phänomens widmet, vertraut er von Anfang an darauf, eine Antwort zu finden, und kapituliert nicht angesichts der Mißerfolge. Er hält seine ursprüngliche Eingebung nicht für nutzlos, nur weil er das Ziel nicht erreicht hat; er wird vielmehr zu Recht sagen, er habe noch nicht die adäquate Antwort gefunden. Dasselbe muss auch für die Wahrheitssuche im Bereich der letzten Fragen gelten. Die Sehnsucht nach der Wahrheit wurzelt so tief im Herzen des Menschen, dass das Abstandnehmen davon die Existenz gefährden würde. Es genügt schließlich die Beobachtung des Alltagslebens um festzustellen, dass jeder von uns die quälende Last einiger wesentlicher Fragen in sich trägt und zugleich in seinem Herzen zumindest den Entwurf der dazugehörigen Antworten hütet. Es sind Antworten, von deren Wahrheit man auch deshalb überzeugt ist, weil man die Erfahrung macht, dass sie sich im wesentlichen nicht von den Antworten unterscheiden, zu denen viele andere gelangt sind. Sicherlich besitzt nicht jede Wahrheit, die erworben wird, denselben Wert. Von der Gesamtheit der erreichten Ergebnisse wird jedoch die Fähigkeit des Menschen bestätigt, grundsätzlich zur Wahrheit zu gelangen.
30. Es mag nützlich sein, diese verschiedenen Formen der Wahrheit im folgenden kurz zu erwähnen. Am zahlreichsten sind jene Formen, die auf unmittelbarer Einsichtigkeit beruhen oder durch Erprobung Bestätigung finden. Es handelt sich dabei um die Wahrheitsordnung des Alltagslebens und der wissenschaftlichen Forschung. Auf einer anderen Ebene sind die Wahrheiten philosophischen Charakters anzusiedeln, zu denen der Mensch durch die spekulative Kraft seines Verstandes gelangt. Schließlich gibt es die religiösen Wahrheiten, die in gewissem Maße auch in der Philosophie verwurzelt sind. Enthalten sind sie in den Antworten, welche die verschiedenen Religionen in ihren Traditionen auf die letzten Fragen geben.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Erklärung über die Beziehungen der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 2. </ref>
Was die philosophischen Wahrheiten betrifft, gilt es klarzustellen, dass sie sich nicht allein auf die mitunter kurzlebigen Wahrheiten der Berufsphilosophen beschränken. Wie ich schon gesagt habe, ist jeder Mensch auf eine gewisse Art ein Philosoph und besitzt seine philosophischen Auffassungen, nach denen er sein Leben ausrichtet. Er bildet sich auf die eine oder andere Weise eine Gesamtanschauung und eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Daseins: in diesem Licht deutet er sein persönliches Schicksal und regelt sein Verhalten. Hier müßte er sich die Frage nach dem Verhältnis der philosophisch-religiösen Wahrheiten zu der in Jesus Christus geoffenbarten Wahrheit stellen. Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir noch eine weitere Gegebenheit der Philosophie bedenken.
31. Der Mensch ist nicht geschaffen, um allein zu leben. Er wird geboren und wächst in einer Familie auf, um sich später mit seiner Arbeit in die Gesellschaft einzugliedern. Er findet sich also von Geburt an in verschiedene Traditionen eingebunden, von denen er nicht nur die Sprache und die kulturelle Bildung, sondern auch vielfältige Wahrheiten empfängt, denen er gleichsam instinktiv glaubt. Persönliches Wachstum und Reifung bringen es jedoch mit sich, dass diese Wahrheiten durch den besonderen Einsatz des kritischen Denkens in Zweifel gezogen und überprüft werden können. Das hindert nicht, dass nach dieser Übergangsphase dieselben Wahrheiten aufgrund der mit ihnen gemachten Erfahrung oder kraft nachfolgender Überlegungen »wiedergewonnen« werden. Trotzdem sind im Leben eines Menschen die einfachhin geglaubten Wahrheiten viel zahlreicher als jene, die er durch persönliche Überprüfung erwirbt. Wer wäre denn imstande, die unzähligen wissenschaftlichen Ergebnisse, auf die sich das moderne Leben stützt, kritisch zu prüfen? Wer vermöchte für sich allein den Strom der Informationen zu kontrollieren, die Tag für Tag aus allen Teilen der Welt eintreffen und die immerhin als grundsätzlich wahr angenommen werden? Wer könnte schließlich die Erfahrungs- und Denkwege wiederholen, auf denen sich die Schätze der Menschheit an Weisheit und Religiosität angesammelt haben? Der Mensch, ein Wesen, das nach der Wahrheit sucht, ist also auch derjenige, der vom Glauben lebt.
32. Im Glauben vertraut sich ein jeder den von anderen Personen erworbenen Erkenntnissen an. Darin ist eine bedeutungsvolle Spannung erkennbar: einerseits erscheint die Erkenntnis durch Glauben als eine unvollkommene Erkenntnisform, die sich nach und nach durch die persönlich gewonnene Einsicht vervollkommnen soll; andererseits erweist sich der Glaube oft als menschlich reicher im Vergleich zur bloßen Einsichtigkeit, weil er eine Beziehung zwischen Personen einschließt und nicht nur die persönlichen Erkenntnisfähigkeiten, sondern auch die tiefergehende Fähigkeit ins Spiel bringt, sich anderen Personen anzuvertrauen, indem man eine festere und innige Verbindung mit ihnen eingeht.
Es sei unterstrichen, dass die in dieser zwischenmenschlichen Beziehung gesuchten Wahrheiten nicht in erster Linie in die faktische oder in die philosophische Ordnung gehören. Gesucht wird vielmehr nach der eigentlichen Wahrheit der Person: was sie ist und was sie von ihrem Innersten sichtbar werden läßt. Die Vollkommenheit des Menschen besteht nämlich nicht allein in der Aneignung der abstrakten Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch in einer lebendigen Beziehung der Hingabe und Treue gegenüber dem anderen. In dieser Treue, die sich hinzugeben vermag, findet der Mensch volle Gewißheit und Sicherheit. Gleichzeitig ist die Erkenntnis durch Glauben, die sich auf das zwischenmenschliche Vertrauen stützt, jedoch nicht ohne Bezug zur Wahrheit: der gläubige Mensch vertraut sich der Wahrheit an, die der andere ihm kundtut.
Wie viele Beispiele ließen sich zur Erläuterung dieser Tatsache anführen! Meine Gedanken wenden sich jedoch geradewegs dem Zeugnis der Märtyrer zu. Der Märtyrer ist in der Tat der zuverlässigste Zeuge der Wahrheit über das Dasein. Er weiß, dass er in der Begegnung mit Jesus Christus die Wahrheit über sein Leben gefunden hat; nichts und niemand wird ihm jemals diese Gewißheit zu entreißen vermögen. Weder das Leiden noch der gewaltsame Tod werden ihn dazu bringen können, die Zustimmung zu der Wahrheit zu widerrufen, die er in der Begegnung mit Christus entdeckt hat. Deshalb fasziniert uns bis heute das Zeugnis der Märtyrer, es weckt Zustimmung, stößt auf Gehör und findet Nachahmung. Das ist der Grund, warum man auf ihr Wort vertraut: Man entdeckt in ihnen ganz offensichtlich eine Liebe, die keiner langen Argumentationen bedarf, um zu überzeugen, da sie zu jedem von dem spricht, was er im Innersten bereits als wahr vernimmt und seit langem gesucht hat. Schließlich ruft der Märtyrer ein tiefes Vertrauen in uns hervor, weil er sagt, was wir bereits empfinden, und offenkundig macht, was auch wir, wenn wir denn die Kraft dazu fänden, gern ausdrücken würden.
33. So kann man sehen, dass die Linien des Problems fortschreitend ergänzt werden. Der Mensch sucht von Natur aus nach der Wahrheit. Diese Suche ist nicht allein zur Aneignung von partiellen, faktischen oder wissenschaftlichen Wahrheiten bestimmt; der Mensch sucht nicht nur für jede seiner Entscheidungen das wahre Gute. Seine Suche strebt nach einer jenseitigen Wahrheit, die in der Lage sein soll, den Sinn des Lebens zu erklären; es handelt sich daher um eine Suche, die nur im Absoluten Antwort finden kann.<ref> Von dieser von mir seit langem verfolgten Argumentation habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten gesprochen: »"Was ist der Mensch, und wozu nützt er? Was ist gut an ihm und was ist schlecht?" (Sir 18, 8)... Diese Fragen trägt jeder Mensch im Innersten seines Herzens, wie der dichterische Genius aller Zeiten und Völker beweist, der wie eine Prophezeiung der Menschheit immer wieder die ernste Frage stellt, die den Menschen erst wirklich zum Menschen macht. Sie drücken die Dringlichkeit aus, einen Grund für das Dasein zu finden, für jeden seiner Augenblicke, für die wichtigen und entscheidenden Perioden ebenso wie für den gewöhnlichen Alltag. In diesen Fragen bestätigt sich die tiefe Vernünftigkeit des menschlichen Daseins, denn Verstand und Wille des Menschen werden hier angeregt, in Freiheit nach einer Lösung zu suchen, die dem Leben einen vollen Sinn zu bieten vermag. Diese Fragen stellen daher den erhabensten Ausdruck der Natur des Menschen dar: Infolgedessen ist die Antwort auf sie der Maßstab für die Tiefe, mit der er sein Dasein bewältigt. Besonders wenn man bei der Suche nach der letzten und erschöpfendsten Antwort den Grund der Dinge vollständig erforschen will, erreicht die menschliche Vernunft ihren Gipfel und öffnet sich dem Religiösen. Denn die Religiosität stellt die erhabenste Äußerung der menschlichen Person dar, weil sie der Höhepunkt ihrer Natur als Vernunftwesen ist. Sie entspringt der tiefen Sehnsucht des Menschen nach der Wahrheit und liegt seinem freien und persönlichen Suchen nach dem Göttlichen zugrunde«. Generalaudienz am 19. Oktober 1983, 1-2, in: Insegnamenti VI, 2 (1983), 814-815. </ref> Dank der dem Denken innewohnenden Fähigkeiten ist der Mensch imstande, einer solchen Wahrheit zu begegnen und sie zu erkennen. Diese lebenswichtige und für seine Existenz wesentliche Wahrheit wird nicht nur auf rationalem Weg erreicht, sondern auch dadurch, dass sich der Mensch vertrauensvoll auf andere Personen verläßt, welche die Sicherheit und Authentizität der Wahrheit garantieren können. Die Fähigkeit und Entscheidung, sich selbst und sein Leben einem anderen Menschen anzuvertrauen, stellen gewiß einen der anthropologisch gewichtigsten und ausdrucksstärksten Akte dar. Man möge nicht vergessen, dass auch die Vernunft bei ihrer Suche auf die Unterstützung durch vertrauensvollen Dialog und aufrichtige Freundschaft angewiesen ist. Ein Klima aus Verdacht und Mißtrauen, wie es die spekulative Forschung mitunter umgibt, vernachlässigt die Lehre der antiken Philosophen, welche die Freundschaft als eine der für das richtige Philosophieren geeignetsten Rahmenbedingungen herausstellten.
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass sich der Mensch auf einer nach menschlichem Ermessen endlosen Suche befindet: der Suche nach Wahrheit und der Suche nach einer Person, der er sich anvertrauen kann. Der christliche Glaube kommt ihm dadurch entgegen, dass er ihm die konkrete Möglichkeit bietet, das Ziel dieser Suche verwirklicht zu sehen. Indem er beim Menschen das Stadium des gewöhnlichen Glaubens überwindet, führt er ihn in jene Gnadenordnung ein, die ihm die Teilhabe an dem Geheimnis Christi erlaubt, in dem ihm die wahre und angemessene Erkenntnis des dreieinigen Gottes geschenkt wird. In Jesus Christus, der die Wahrheit ist, anerkennt somit der Glaube den letzten Aufruf, der an die Menschheit gerichtet wird, damit sie das, was sie als Streben und Sehnsucht erfährt, zur Erfüllung bringen kann.
34. Diese »Wahrheit«, die uns Gott in Jesus Christus offenbart, steht nicht im Widerspruch zu den Wahrheiten, zu denen man durch das Philosophieren gelangt. Die beiden Erkenntnisordnungen führen ja erst zur Wahrheit in ihrer Fülle. Die Einheit der Wahrheit ist bereits ein grundlegendes Postulat der menschlichen Vernunft, das im Non-Kontradiktionsprinzip ausgedrückt ist. Die Offenbarung bietet die Sicherheit für diese Einheit, indem sie zeigt, dass der Schöpfergott auch der Gott der Heilsgeschichte ist. Ein und derselbe Gott, der die Verstehbarkeit und Vernünftigkeit der natürlichen Ordnung der Dinge, auf die sich die Wissenschaftler vertrauensvoll stützen,<ref> »[Galilei] hat ausdrücklich erklärt, dass die beiden Wahrheiten, die Wahrheit des Glaubens und die Wahrheit der Wissenschaft, niemals einander widersprechen können, "da die Heilige Schrift und die Natur gleichermaßen dem göttlichen Wort entspringen, jene als diktiert vom Heiligen Geist, diese als getreue Vollstreckerin der Anordnungen Gottes", wie er in seinem Brief an P. Benedetto Castelli am 21. Dezember 1613 schrieb. Das II. Vatikanische Konzil drückt sich nicht anders aus; ja, es nimmt die gleiche Ausdrucksweise wieder auf, wenn es lehrt: "Vorausgesetzt, dass die methodische Forschung in allen Wissensbereichen in einer wirklichen wissenschaftlichen Weise und gemäß den Normen der Sittlichkeit vorgeht, wird sie niemals in einen echten Konflikt mit dem Glauben kommen, weil die Wirklichkeiten des profanen Bereichs und die des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben" (Gaudium et spes, 36). Galilei fühlt bei seiner wissenschaftlichen Forschung die Gegenwart des Schöpfers, der ihn anspornt, seinen Eingebungen zuvorkommt und beisteht, indem er in der Tiefe seines Geistes wirkt«. Johannes Paul II. Ansprache an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften, 10. November 1979: Insegnamenti, II, 2 (1979), 1111-1112. </ref> begründet und gewährleistet, ist identisch mit dem Gott, der sich als Vater unseres Herrn Jesus Christus offenbart. Diese Einheit von natürlicher und geoffenbarter Wahrheit findet ihre lebendige und personale Identifikation in Christus, worauf der Apostel anspielt: »Die Wahrheit ist in Christus« (vgl. Eph 4, 21; Kol 1, 15-20). Er ist das ewige Wort, in dem alles erschaffen worden ist, und zugleich ist er das fleischgewordene Wort, das in seiner ganzen Person den Vater offenbart (vgl. Joh 1, 14.18).<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 4. </ref> Das, was die menschliche Vernunft sucht, »ohne es zu kennen« (Apg 17, 23), kann nur durch Christus gefunden werden: denn in ihm offenbart sich die »volle Wahrheit« (vgl. Joh 1, 14-16) jedes Wesens, das in ihm und durch ihn erschaffen worden ist und daher in ihm seine Vollendung findet (vgl. Kol 1, 17).
35. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Betrachtungen gilt es nun, eine unmittelbarere Untersuchung des Verhältnisses zwischen geoffenbarter Wahrheit und Philosophie vorzunehmen. Dieses Verhältnis nötigt uns zu einer doppelten Überlegung, da die Wahrheit, die aus der Offenbarung stammt, gleichzeitig eine Wahrheit ist, die im Lichte der Vernunft verstanden werden muss. Erst in dieser zweifachen Bedeutung ist es nämlich möglich, das richtige Verhältnis zum philosophischen Wissen genau zu bestimmen. Wir betrachten deshalb zunächst die Beziehungen zwischen Glaube und Philosophie im Laufe der Geschichte. Von daher werden sich einige Grundsätze feststellen lassen, an die man sich als Bezugspunkte halten muss, um das richtige Verhältnis zwischen den beiden Erkenntnisordnungen festzulegen.
KAPITEL IV: DAS VERHÄLTNIS VON GLAUBE UND VERNUNFT
Bedeutsame Schritte der Begegnung zwischen Glaube und Vernunft (36-42)
36. Nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte sah sich die christliche Verkündigung von Anfang an mit den zeitgenössischen philosophischen Strömungen konfrontiert. So berichtet das Buch darüber, dass der hl. Paulus in Athen mit »einigen epikureischen und stoischen Philosophen« diskutierte (17, 18). Die exegetische Analyse jener Rede, die der Apostel im Areopag gehalten hatte, hob die wiederholten Anspielungen auf populäre Überzeugungen zumeist stoischer Herkunft hervor. Das war sicher kein Zufall. Um von den Heiden verstanden zu werden, konnten es die ersten Christen in ihren Reden nicht beim Hinweis »auf Mose und die Propheten« bewenden lassen; sie mussten sich auch auf die natürliche Gotteserkenntnis und auf die Stimme des moralischen Gewissens jedes Menschen stützen (vgl. Röm 1, 19-21; 2, 14-15; Apg 14, 14-16). Da diese natürliche Erkenntnis jedoch in der heidnischen Religion zum Götzendienst verkommen war (vgl. Röm 1, 21-32), hielt es der Apostel für klüger, seine Rede mit dem Denken der Philosophen zu verknüpfen, die von Anfang an den Mythen und Mysterienkulten Gedanken entgegengesetzt hatten, die der göttlichen Transzendenz größere Achtung entgegenbrachten.
Die Gottesvorstellung der Menschen von mythologischen Formen zu reinigen, war in der Tat eine der größten Anstrengungen, die die Philosophen des klassischen Denkens unternommen haben. Wie wir wissen, war auch die griechische Religion, nicht anders als die meisten kosmischen Religionen, polytheistisch. Dabei ging sie so weit, dass sie Dinge und Naturphänomene vergöttlichte. Die Versuche des Menschen, den Ursprung der Götter und in ihnen des Universums zu begreifen, fanden ihren ersten Ausdruck in der Dichtkunst. Die Theogonien sind bis heute das erste Zeugnis dieser Suche des Menschen. Aufgabe der Väter der Philosophie war es, den Zusammenhang zwischen Vernunft und Religion sichtbar zu machen. Da sie den Blick auf allgemeine Prinzipien hin ausweiteten, gaben sie sich nicht mehr mit alten Mythen zufrieden, sondern wollten ihrem Glauben an die Gottheit eine rationale Grundlage geben. So wurde ein Weg eingeschlagen, der, ausgehend von den einzelnen alten Überlieferungen, in eine Entwicklung einmündete, die den Anforderungen der allgemeinen Vernunft entsprach. Das Ziel, das diese Entwicklung anstrebte, war das kritische Bewußtsein dessen, woran man glaubte. Dieser Weg schlug sich positiv zunächst in der Gottesvorstellung nieder. Formen von Aberglauben wurden als solche erkannt, und die Religion wurde durch die Kraft der rationalen Analyse wenigstens zum Teil geläutert. Auf dieser Grundlage begannen die Kirchenväter einen fruchtbaren Dialog mit den antiken Philosophen und bahnten so der Verkündigung und dem Verständnis des Gottes Jesu Christi den Weg.
37. Wenn man auf diese Annäherungsbewegung der Christen an die Philosophie hinweist, muss man freilich auch die vorsichtige Haltung erwähnen, die andere Elemente der heidnischen Kulturwelt, wie zum Beispiel die Gnosis, bei ihnen hervorriefen. Als praktische Weisheit und Lebensschule konnte die Philosophie leicht mit einer Erkenntnis höherer, esoterischer Art, die nur wenigen Vollkommenen vorbehalten war, verwechselt werden. Zweifellos denkt der hl. Paulus an diese Weise esoterischer Spekulationen, wenn er die Kolosser warnt: »Gebt acht, dass euch niemand mit seiner Philosophie und falschen Lehre verführt, die sich nur auf menschliche Überlieferung stützen und sich auf die Elementarmächte der Welt, nicht auf Christus berufen« (2, 8). Die Worte des Apostels erscheinen äußerst aktuell, wenn wir sie auf die verschiedenen Formen der Esoterik beziehen, die heutzutage auch bei manchen Gläubigen, denen es am erforderlichen kritischen Sinn mangelt, um sich greifen. Dem Beispiel des hl. Paulus folgend erhoben andere Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, im besonderen der hl. Irenäus und Tertullian, ihrerseits Vorbehalte gegen eine kulturelle Konzeption, die forderte, die Wahrheit der Offenbarung der Interpretation der Philosophen unterzuordnen.
38. Die Begegnung des Christentums mit der Philosophie erfolgte also weder spontan noch war sie einfach. Die Tätigkeit der Philosophen und der Besuch ihrer Schulen erschien den ersten Christen eher als Störung denn als Chance. Für sie war die erste, dringende Aufgabe die Verkündigung des auferstandenen Christus in einer persönlichen Begegnung, die den Gesprächspartner zur inneren Umkehr und zur Bitte um die Taufe führen sollte. Das heißt freilich nicht, dass sie die Aufgabe, das Verständnis des Glaubens und seiner Begründungen zu vertiefen, unbeachtet gelassen hätten. Im Gegenteil: Die Kritik des Kelsos, der die Christen bezichtigt, »ungebildete und grobschlächtige« Leute<ref> Contra Celsum, 3, 55: SC 136, 130. </ref> zu sein, stellt sich daher als ungerecht und als Vorwand heraus. Die Erklärung für ihre anfängliche Gleichgültigkeit muss anderswo gesucht werden. In Wirklichkeit bot die Begegnung mit dem Evangelium eine derart befriedigende Antwort auf die bis dahin ungelöste Frage nach dem Sinn des Lebens, dass ihnen der Umgang mit den Philosophen wie eine ferne und in gewisser Hinsicht überholte Angelegenheit vorkam.
Das erscheint heute noch klarer, wenn man an jenen Beitrag des Christentums denkt, der in der Bestätigung des Rechtes aller auf Zugang zur Wahrheit besteht. Das Christentum hatte nach dem Niederreißen der durch Rasse, sozialen Stand und Geschlecht bedingten Schranken von Anfang an die Gleichheit aller Menschen vor Gott verkündet. Die erste Konsequenz dieser Auffassung wandte man auf das Thema Wahrheit an. Der elitäre Charakter, den die Wahrheitssuche bei den Alten hatte, wurde mit Entschlossenheit überwunden: Da der Zugang zur Wahrheit ein Gut ist, das es ermöglicht, zu Gott zu gelangen, müssen alle in der Lage sein, diesen Weg gehen zu können. Die Wege, um die Wahrheit zu erreichen, sind vielfältig; dennoch kann, da die christliche Wahrheit Heilswert besitzt, jeder dieser Wege nur dann eingeschlagen werden, wenn er zum letzten Ziel, das heißt zur Offenbarung Jesu Christi, führt.
Als Pionier einer positiven Begegnung mit dem philosophischen Denken, wenn auch unter dem Vorzeichen vorsichtiger Unterscheidung, muss der hl. Justin genannt werden: Obwohl er sich seine große Wertschätzung für die griechische Philosophie auch nach seiner Bekehrung bewahrt hatte, beteuerte er klar und entschieden, im Christentum »die einzige sichere und nutzbringende Philosophie« gefunden zu haben.<ref> Dialog mit Triphon, 8, 1: PG 6, 492. </ref> Ähnlich nannte Clemens Alexandrinus das Evangelium »die wahre Philosophie«<ref> Stromata, I, 18, 90: SC 30, 115. </ref> und interpretierte die Philosophie in Analogie zum mosaischen Gesetz als eine Vorunterweisung für den christlichen Glauben<ref> Vgl. ebd., I, 16, 80, 5: SC 30, 108. </ref> und eine Vorbereitung auf das Evangelium.<ref> Vgl. ebd., I, 5, 28, 1: SC 30, 65. </ref> Denn »nach dieser Weisheit trägt die Philosophie Verlangen; diese ist ein Streben der Seele sowohl nach der Fähigkeit richtigen Denkens als auch nach der Reinheit des Lebens; sie ist gegen die Weisheit freundschaftlich und liebevoll gesinnt und tut alles, um ihrer teilhaftig zu werden. Philosophen aber heißen bei uns diejenigen, die nach der Weisheit, die alle Dinge geschaffen hat und alles lehrt, Verlangen tragen, das heißt nach der Erkenntnis des Sohnes Gottes«.<ref> Ebd., VI, 7, 55, 1-2: PG 9, 277. </ref> Hauptzweck der griechischen Philosophie ist für den Alexandriner nicht die Ergänzung oder Stärkung der christlichen Wahrheit; ihre Aufgabe ist vielmehr die Verteidigung des Glaubens: »In sich vollendet und keiner Ergänzung bedürftig ist die Lehre im Sinne des Erlösers, da sie göttliche Kraft und Weisheit ist. Wenn aber die griechische Weisheit hinzukommt, so macht sie die Wahrheit zwar nicht wirksamer, aber weil sie die sophistischen Angriffe entkräftet und die listigen Angriffe gegen die Wahrheit abwehrt, ist sie mit Recht Zaun und Mauer des Weinbergs genannt worden«.<ref> Ebd., I, 20, 100, 1: SC 30, 124. </ref>
39. In der Geschichte dieser Entwicklung läßt sich jedenfalls die kritische Übernahme des philosophischen Denkens seitens der christlichen Denker feststellen. Unter den ersten Beispielen, denen man begegnen kann, ist Origenes sicher von maßgebender Bedeutung. Um auf die vom Philosophen Kelsos erhobenen Angriffe zu antworten und ihnen zu entgegnen, übernimmt Origenes die platonische Philosophie. Unter Einbeziehung zahlreicher Elemente des platonischen Denkens geht er daran, zum ersten Mal so etwas wie eine christliche Theologie zu erarbeiten. Der Name Theologie ebenso wie die Vorstellung von ihr als vernünftiges Reden über Gott war nämlich bis dahin noch an ihren griechischen Ursprung gebunden. In der aristotelischen Philosophie zum Beispiel bezeichnete der Ausdruck den vornehmsten Teil und eigentlichen Höhepunkt der philosophischen Erörterung. Was vorher auf eine allgemeine Lehre über die Götter hindeutete, bekam hingegen im Lichte der christlichen Offenbarung eine ganz neue Bedeutung, weil Theologie nunmehr das Nachdenken bezeichnete, das der Glaubende vollzog, um die wahre Lehre über Gott zu formulieren. Dieses in ständiger Weiterentwicklung begriffene neue christliche Denken bediente sich der Philosophie, war aber gleichzeitig auf klare Unterscheidung von ihr bedacht. Die Geschichte zeigt, dass das in die Theologie übernommene platonische Denken selbst tiefgreifende Veränderungen erfahren hat, besonders was Begriffe wie Unsterblichkeit der Seele, Vergöttlichung des Menschen und Ursprung des Bösen betrifft.
40. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Christianisierungswerk des platonischen und neuplatonischen Denkens die Kappadokier, Dionysios Areopagita und vor allem der hl. Augustinus. Der große abendländische Gelehrte war mit verschiedenen philosophischen Schulen in Kontakt gekommen, doch hatten ihn alle enttäuscht. Als dann die Wahrheit des christlichen Glaubens in sein Blickfeld trat, besaß er die Kraft, jene radikale Bekehrung zu vollziehen, zu welcher ihn die von ihm vorher wiederholt aufgesuchten Philosophen nicht bringen konnten. Den Grund dafür erzählt er selbst: »Von jetzt an aber gab ich immerhin der katholischen Lehre den Vorzug; empfand ich doch, um wieviel bescheidener und ohne die geringste betrügerische Absicht hier befohlen wird zu glauben, was nicht bewiesen wird, gleichviel ob es zu beweisen wäre, aber nicht für jeden, oder überhaupt nicht bewiesen werden kann; während bei den anderen das Wissen in vermessener Weise versprochen und über die Glaubwilligkeit gelacht wird und nachher befohlen wird, dass man nur Erdichtetes, ja Abwegigstes glauben soll, das nie bewiesen werden kann«.<ref> Hl. Augustinus, Confessiones VI, 5, 7: CCL 27, 77-78. </ref> Denselben Platonikern, auf die man sich vorwiegend bezog, warf Augustinus vor, dass sie zwar das anzustrebende Ziel kannten, jedoch nichts von dem Weg wissen wollten, der dorthin führt: dem fleischgewordenen Wort.<ref> Vgl. ebd., VII, 9, 13-14: CCL 27, 101-102. </ref> Dem Bischof von Hippo gelang es, die erste große Synthese des philosophischen und theologischen Denkens zu erstellen, in die Strömungen des griechischen und lateinischen Denkens einflossen. Auch bei ihm wurde die große Einheit des Wissens, deren Ausgangspunkt und Grundlage das biblische Denken war, von der Gründlichkeit des spekulativen Denkens bestätigt und getragen. Die vom hl. Augustinus vollzogene Synthese sollte Jahrhunderte lang die höchste Form philosophischen und theologischen Denkens bleiben, die das Abendland gekannt hat. Gefestigt durch seine persönliche Lebensgeschichte und gestützt auf ein wunderbar heiligmäßiges Leben, war er auch in der Lage, in seine Werke vielfältige Gegebenheiten einzubringen, die durch den Rückgriff auf die Erfahrung künftige Entwicklungen mancher philosophischer Denkrichtungen anzeigten.
41. Die Kirchenväter des Ostens und des Abendlandes haben also in verschiedenen Formen Verbindung mit den philosophischen Schulen aufgenommen. Das heißt nicht, dass sie den Inhalt ihrer Botschaft mit den Systemen, auf die sie Bezug nahmen, identifiziert hätten. Die Frage Tertullians: »Was haben Athen und Jerusalem gemein? Was die Akademie und die Kirche?«<ref> De praescriptione haereticorum, VII, 9: SC 46, 98: »Quid ergo Athenis et Hierosolymis? Quid academiae et eCCLesiae?«. </ref> ist ein klares Anzeichen für das kritische Bewußtsein, mit dem sich die christlichen Denker von Anfang an mit dem Problem des Verhältnisses von Glaube und Philosophie auseinandersetzten; sie sahen es umfassend, in seinen positiven Aspekten ebenso wie in seinen Grenzen. Sie waren keine naiven Denker. Gerade weil sie den Inhalt des Glaubens intensiv lebten, vermochten sie zu den tiefgründigsten Formen spekulativen Denkens zu gelangen. Es ist daher ungerecht und oberflächlich, ihr Werk auf die bloße Umsetzung der Glaubensinhalte in philosophische Kategorien einzuengen. Sie haben weit mehr geleistet. Es gelang ihnen nämlich, das voll sichtbar werden zu lassen, was sich noch unausgesprochen und propädeutisch im Denken der großen antiken Philosophen andeutete.<ref> Vgl. Kongregation für das Katholische Bildungswesen, Instruktion über das Studium der Kirchenväter in der Priesterausbildung (10. November 1989), 25: AAS 82 (1990), 617-618. </ref> Sie hatten, wie gesagt, die Aufgabe zu zeigen, wie die von den äußeren Fesseln befreite Vernunft aus der Sackgasse der Mythen herausfinden könnte, um sich der Transzendenz auf angemessenere Weise zu öffnen. Eine geläuterte und aufrichtige Vernunft war also imstande, sich auf die höchsten Ebenen der Reflexion zu erheben, und schuf damit eine solide Grundlage für die Wahrnehmung des Seins, der Transzendenz und des Absoluten. Genau hierin liegt das von den Kirchenvätern vollbrachte Neue. Sie anerkannten voll die für das Absolute offene Vernunft und pflanzten ihr den aus der Offenbarung stammenden Reichtum ein. Zur Begegnung kam es nicht nur auf der Ebene von Kulturen, von denen die eine vielleicht dem Zauber der anderen verfallen war; sie geschah in den Herzen und war Begegnung zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer. Die Vernunft konnte dadurch, dass sie über das Ziel, dem sie kraft ihrer Natur unbewußt zustrebte, hinausging, in der Person des fleischgewordenen Wortes zum höchsten Gut und zur höchsten Wahrheit gelangen. Die Kirchenväter scheuten sich jedoch nicht, gegenüber den Philosophien sowohl die gemeinsamen Elemente als auch die Verschiedenheiten anzuerkennen, die diese bezüglich der Offenbarung aufwiesen. Das Bewußtsein von den Übereinstimmungen trübte in ihnen nicht das Erkennen der Unterschiede.
42. In der scholastischen Theologie wird unter dem Anstoß der Interpretation des intellectus fidei durch Anselm von Canterbury die Rolle der philosophisch geschulten Vernunft noch gewichtiger. Für den heiligen Erzbischof von Canterbury steht der Vorrang des Glaubens nicht im Wettbewerb mit der Suche, wie sie der Vernunft eigen ist. Diese ist nämlich nicht dazu berufen, ein Urteil über die Glaubensinhalte zu formulieren; sie wäre, weil dafür ungeeignet, dazu auch gar nicht fähig. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, einen Sinn zu finden, Gründe zu entdecken, die es allen erlauben, zu einem gewissen Verständnis der Glaubensinhalte zu gelangen. Der hl. Anselm unterstreicht die Tatsache, dass sich der Verstand auf die Suche nach dem begeben muss, was er liebt: je mehr er liebt, um so mehr sehnt er sich nach Erkenntnis. Wer für die Wahrheit lebt, strebt nach einer Erkenntnisform, die immer mehr von Liebe zu dem entbrennt, was er erkennt, auch wenn er einräumen muss, noch nicht alles getan zu haben, was in seinem Verlangen gelegen wäre: »Ad te videndum factus sum; et nondum feci propter quod factus sum«.<ref> Hl. Anselm, Proslogion, 1: PL 158, 226. »Ich bin geschaffen worden, um dich zu schauen; und ich habe noch nicht getan, wozu ich geschaffen worden bin«. </ref> Das Streben nach Wahrheit drängt also die Vernunft, immer weiterzugehen; ja, sie wird gleichsam überwältigt von der Feststellung, dass ihre Fähigkeit immer größer ist als das, was sie tatsächlich erreicht. An diesem Punkt jedoch vermag die Vernunft zu entdecken, wo die Vollendung ihres Weges liegt: »Denn ich meine, dass einer, der etwas Unbegreifliches erforscht, sich zufriedengeben sollte, mit Hilfe der vernünftigen Auseinandersetzung mit sehr hoher Gewißheit die Wirklichkeit zu erkennen, auch wenn er nicht imstande ist, mit dem Verstand bis zu ihrer Seinsweise durchzudringen [...]. Denn gibt es etwas so Unbegreifliches und Unaussprechbares wie das, was oberhalb von allem ist? Wenn also das, was man bislang über das höchste Wesen diskutiert hat, auf Grund notwendiger Argumente festgelegt worden ist, obwohl man mit dem Verstand nicht derart bis zu ihm durchzudringen vermag, dass man es auch mit Worten erklären könnte, gerät deshalb das Fundament seiner Gewißheit nicht im geringsten ins Wanken. Denn wenn eine vorgängige Überlegung vernunftgemäß begriffen hat, dass die Art, wie die oberste Weisheit weiß, was sie geschaffen hat [...], unbegreiflich ist (rationabiliter comprehendit incomprensibile esse), wer wird dann erklären können, wie sie selbst sich erkennt und sich nennt — sie, über die der Mensch nichts oder fast nichts wissen kann?«.<ref> Ders., Monologion, 64: PL 158, 210. </ref> Der grundlegende Einklang von philosophischer Erkenntnis und Erkenntnis des Glaubens wird noch einmal bekräftigt: der Glaube verlangt, dass sein Gegenstand mit Hilfe der Vernunft verstanden wird; die Vernunft gibt auf dem Höhepunkt ihrer Suche das, was der Glaube vorlegt, als notwendig zu.
Die bleibende Neuheit des Denkens des hl. Thomas von Aquin (43-44)
43. Ein ganz besonderer Platz auf diesem langen Weg gebührt dem hl. Thomas nicht nur wegen des Inhalts seiner Lehre, sondern auch wegen der Beziehung, die er im Dialog mit dem arabischen und jüdischen Denken seiner Zeit herstellen konnte. In einer Epoche, in der die christlichen Denker die Schätze der antiken, genauer der aristotelischen Philosophie wiederentdeckten, kam ihm das große Verdienst zu, dass er die Harmonie, die zwischen Vernunft und Glaube besteht, in den Vordergrund gerückt hat. Das Licht der Vernunft und das Licht des Glaubens kommen beide von Gott, lautete sein Argument; sie können daher einander nicht widersprechen.<ref> Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, I, VII. </ref>
Noch grundlegender anerkennt Thomas, dass die Natur, die Gegenstand der Philosophie ist, zum Verstehen der göttlichen Offenbarung beitragen kann. Der Glaube fürchtet demnach die Vernunft nicht, sondern sucht sie und vertraut auf sie. Wie die Gnade die Natur voraussetzt und vollendet,<ref> Vgl. ders., Summa Theologiae, I, 1, 8 ad 2: »cum enim gratia non tollat naturam sed perficiat«. </ref> so setzt der Glaube die Vernunft voraus und vollendet sie. Vom Glauben erleuchtet, wird diese von der Gebrechlichkeit und den aus dem Ungehorsam der Sünde herrührenden Grenzen befreit und findet die nötige Kraft, um sich zur Erkenntnis des Geheimnisses vom dreieinigen Gott zu erheben. Der Doctor Angelicus hat, so nachdrücklich er auch den übernatürlichen Charakter des Glaubens unterstrich, den Wert seiner Vernunftgemäßheit nicht vergessen; ja, er vermochte in die Tiefe zu gehen und den Sinn dieser Vernunftgemäßheit näher zu erklären. Denn der Glaube ist eine Art »Denkübung«; die Vernunft nimmt sich durch ihre Zustimmung zu den Glaubensinhalten weder zurück noch erniedrigt sie sich; zu den Glaubensinhalten gelangt man in jedem Fall durch freie Entscheidung und das eigene Gewissen.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer am IX. Internationalen Thomas-Kongreß (29. September 1990): Insegnamenti, XIII, 2 (1990), 770-771. </ref> Aus diesem Grund ist der hl. Thomas zu Recht von der Kirche immer als Lehrmeister des Denkens und Vorbild dafür hingestellt worden, wie Theologie richtig betrieben werden soll. Ich möchte in diesem Zusammenhang anführen, was mein Vorgänger, der Diener Gottes Papst Paul VI., anläßlich des siebenhundertsten Todestages des hl. Thomas geschrieben hat: »Thomas besaß zweifellos in höchstem Maße den Mut zur Wahrheit, die Freiheit des Geistes, wenn er an die neuen Probleme heranging, die intellektuelle Redlichkeit dessen, der die Verschmelzung des Christentums mit der weltlichen Philosophie ebenso wenig gelten läßt wie deren apriorische Ablehnung. Er ging deshalb in die Geschichte des christlichen Denkens als ein Pionier auf dem neuen Weg der Philosophie und der universalen Kultur ein. Der zentrale, ja gleichsam Kernpunkt der Lösung, die er mit seinem genialen prophetischen Scharfsinn für das Problem der neuen Gegenüberstellung von Vernunft und Glaube fand, war die Versöhnung zwischen der säkularen Diesseitigkeit der Welt und der Radikalität des Evangeliums; damit entzog er sich der widernatürlichen Tendenz zur Leugnung der Welt und ihrer Werte, ohne allerdings die höchsten und unbeugsamen Ansprüche der übernatürlichen Ordnung zu vernachlässigen«.<ref> Apostolisches Schreiben Lumen ecclesiae (20. November 1974), 8: AAS 66 (1974), 680. </ref>
44. Zu den großen Einsichten des hl. Thomas gehört auch jene bezüglich der Rolle, die der Heilige Geist dabei spielt, menschliches Wissen zu Weisheit reifen zu lassen. Bereits auf den ersten Seiten seiner Summa Theologiae<ref> Vgl. I, 1, 6: »Praeterea, haec doctrina per studium acquiritur. Sapientia autem per infusionem habetur, unde inter septem dona Spiritus Sancti connumeratur«. </ref> zeigte der Aquinat den Vorrang jener Weisheit auf, die Gabe des Heiligen Geistes ist und in die Erkenntnis der göttlichen Wirklichkeiten einführt. Seine Theologie ermöglicht es, die Eigenart der Weisheit in ihrer engen Beziehung zum Glauben und zur Gotteserkenntnis zu begreifen. Die Weisheit erkennt auf Grund ihrer natürlichen Verwandtschaft (Konnaturalität), sie setzt den Glauben voraus und formuliert schließlich ihr richtiges Urteil von der Wahrheit des Glaubens her: »Die Weisheit, die zu den Gaben des Heiligen Geistes zählt, unterscheidet sich von jener (Klugheit), die zu den Tugenden des Verstandes gehört. Diese letztere nämlich erwirbt man sich durch das Studium: jene hingegen "kommt von oben", wie es der hl. Jakobus ausdrückt. So ist sie auch verschieden vom Glauben. Denn der Glaube nimmt die göttliche Wahrheit so an, wie sie ist: Eigenart der Gabe der Weisheit ist es hingegen, gemäß der göttlichen Wahrheit zu urteilen«.<ref> Ebd., II, II, 45, 1 ad 2; vgl. auch II, II, 45, 2. </ref> Der Vorrang, den er dieser Weisheit zuerkennt, läßt den Doctor Angelicus freilich nicht das Vorhandensein zweier anderer ergänzender Weisheitsformen vergessen: die philosophische, die sich auf das Vermögen des Verstandes stützt, innerhalb der ihm angeborenen Grenzen die Wirklichkeit zu erforschen; und die theologische, die auf der Offenbarung beruht und die Glaubensinhalte prüft, wodurch sie zum Geheimnis Gottes selbst vorstößt.
Zutiefst davon überzeugt, dass »omne verum a quocumque dicatur a Spiritu Sancto est«,<ref> Ebd., I, II, 109, 1 ad 1, greift den bekannten Satz des Ambrosiaster auf, In prima Cor 12, 3: PL 17, 258: "Alles Wahre, wer auch immer es sagt, ist vom Heiligen Geist". </ref> liebte der hl. Thomas in uneigennütziger Weise die Wahrheit. Er suchte sie überall, wo sie sich zeigen könnte, und machte ihre Universalität höchst einsichtig. Das Lehramt der Kirche hat in ihm die Leidenschaft für die Wahrheit erkannt und gewürdigt; sein Denken erreichte, eben weil es immer im Horizont der universalen, objektiven und transzendenten Wahrheit blieb, »Gipfel, wie sie die menschliche Intelligenz niemals zu denken vermocht hätte«.<ref> Leo XIII., Enzyklika Aeterni Patris (4. August 1879): AAS 11 (1878-1879), 109. </ref> Er darf also mit Recht »Apostel der Wahrheit«<ref> Paul VI., Apostol. Schreiben Lumen ecclesiae (20. November 1974), 8: AAS 66 (1974), 683. </ref> genannt werden. Weil er die Wahrheit vorbehaltlos anstrebte, konnte er in seinem Realismus deren Objektivität anerkennen. Seine Philosophie ist wahrhaftig die Philosophie des Seins und nicht des bloßen Scheins.
Das Drama der Trennung zwischen Glaube und Vernunft (45-48)
45. Mit der Errichtung der ersten Universitäten sah sich die Theologie mit anderen Formen des Forschens und des wissenschaftlichen Wissens unmittelbarer konfrontiert. Der hl. Albertus Magnus und der hl. Thomas waren die ersten, die, obwohl sie an einer organischen Verbindung zwischen Theologie und Philosophie festhielten, der Philosophie und den Wissenschaften die nötige Autonomie zuerkannten, die diese brauchen, um sich den jeweiligen Forschungsgebieten erfolgreich widmen zu können. Vom späten Mittelalter an verwandelte sich jedoch die legitime Unterscheidung zwischen den beiden Wissensformen nach und nach in eine unselige Trennung. Infolge des Vorherrschens eines übertriebenen rationalistischen Geistes bei einigen Denkern wurden die Denkpositionen radikaler, bis man tatsächlich bei einer getrennten und gegenüber den Glaubensinhalten absolut autonomen Philosophie anlangte. Zu den Folgen dieser Trennung gehörte unter anderen auch ein wachsender Argwohn gegenüber der Vernunft. Einige begannen, sich zu einem allgemeinen, skeptischen und agnostischen Mißtrauen zu bekennen, entweder um dem Glauben mehr Raum vorzubehalten oder aber um jede nur mögliche seiner Beziehungen zur Vernunft in Mißkredit zu bringen. Was das patristische und mittelalterliche Denken als tiefe Einheit, die eine zu den höchsten Formen spekulativen Denkens befähigende Erkenntnis hervorbrachte, ersonnen und verwirklicht hatte, wurde letztendlich von jenen Systemen zerstört, die für eine vom Glauben getrennte und zu ihm alternative Vernunfterkenntnis eintraten.
46. Die auffälligsten Radikalisierungen sind bekannt und vor allem in der Geschichte des Abendlandes deutlich sichtbar. Das moderne philosophische Denken hat sich, so kann man ohne Übertreibung sagen, zu einem gehörigen Teil in seiner allmählichen Abwendung von der christlichen Offenbarung entwickelt, bis es schließlich zu klaren Gegenpositionen gelangte. Im vorigen Jahrhundert hat diese Bewegung ihren Höhepunkt erreicht. Einige Vertreter des Idealismus haben auf verschiedenste Weise versucht, den Glauben und seine Inhalte, ja sogar das Geheimnis vom Tod und Auferstehung Jesu Christi, in rational faßbare dialektische Strukturen umzuwandeln. Diesem Denken stellten sich verschiedene, philosophisch aufbereitete Formen eines atheistischen Humanismus entgegen, die den Glauben als für die Entwicklung der vollen Vernünftigkeit schädlich und entfremdend darstellten. Sie scheuten sich nicht, sich als neue Religionen zu präsentieren; damit war die Ausgangsbasis für Zielsetzungen geschaffen, die sich auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene zu totalitären Systemen und damit zu einem Trauma für die Menschheit auswuchsen.
Im Bereich der wissenschaftlichen Forschung setzte sich eine positivistische Denkweise durch, die sich nicht nur von jedem Bezug zur christlichen Weltanschauung entfernt, sondern auch und vor allem jeden Hinweis auf die metaphysische und moralische Sicht fallen gelassen hatte. Die Folge davon ist, dass bestimmte Wissenschaftler, die keinen sittlichen Anhaltspunkt haben, Gefahr laufen, dass nicht mehr der Mensch und die Ganzheit seines Lebens im Mittelpunkt ihres Interesses steht. Mehr noch: einige von ihnen scheinen in Kenntnis der dem technologischen Fortschritt innewohnenden Möglichkeiten außer der Logik des Marktes der Versuchung zu einer demiurgischen Macht über die Natur und über den Menschen selbst nachzugeben.
Als Folge der Krise des Rationalismus hat sich schließlich der Nihilismus herausgebildet. Er schafft es, als Philosophie vom Nichts auf unsere Zeitgenossen seinen Zauber auszuüben. Seine Anhänger stellen Theorien darüber auf, dass die Suche in sich selbst ihr Ende hat, ohne irgendeine Hoffnung oder Möglichkeit, das Ziel der Wahrheit je zu erreichen. Nach nihilistischer Auslegung ist das Dasein nur eine Gelegenheit für Eindrücke und Erfahrungen, in denen das Flüchtige den Vorrang hat. Der Nihilismus steht am Anfang jener verbreiteten Geisteshaltung, wonach man keine endgültige Verpflichtung mehr übernehmen muss, weil ohnehin alles vergänglich und vorläufig ist.
47. Andererseits darf man nicht vergessen, dass sich in der modernen Kultur die Rolle der Philosophie selbst verändert hat. Von Weisheit und universalem Wissen ist sie allmählich auf eines unter vielen Gebieten menschlichen Wissens zusammengeschrumpft; sie ist sogar in gewisser Hinsicht in eine völlige Nebenrolle abgedrängt worden. Inzwischen haben sich andere Formen von Vernünftigkeit mit immer größerem Gewicht durchgesetzt und dabei die Nebensächlichkeit des philosophischen Wissens hervorgehoben. Statt auf die Anschauung der Wahrheit und die Suche nach dem letzten Ziel und dem Sinn des Lebens sind diese Formen der Vernünftigkeit als »instrumentale Vernunft« darauf ausgerichtet, utilitaristischen Zielen, dem Genuß oder der Macht zu dienen. Zumindest können diese Formen darauf ausgerichtet werden.
Wie gefährlich es ist, diesen Weg zu verabsolutieren, darauf habe ich bereits in meiner ersten Enzyklika hingewiesen, wo ich schrieb: »Der Mensch von heute scheint immer wieder von dem bedroht zu sein, was er selbst produziert, das heißt vom Ergebnis der Arbeit seines Verstandes und seiner Willensentscheidung. Die Früchte dieser vielgestaltigen Aktivität des Menschen sind nicht nur Gegenstand von 'Entfremdung', weil sie demjenigen, der sie hervorgebracht hat, einfachhin genommen werden; allzu oft und nicht selten unvorhersehbar wenden sich diese Früchte, wenigstens teilweise, in einer konsequenten Folge von Wirkungen indirekt gegen den Menschen selbst. So sind sie tatsächlich gegen ihn gerichtet oder können es jederzeit sein. Hieraus scheint das wichtigste Kapitel des Dramas der heutigen menschlichen Existenz in seiner breitesten und universellen Dimension zu bestehen. Der Mensch lebt darum immer mehr in Angst. Er befürchtet, dass seine Produkte, natürlich nicht alle und auch nicht die Mehrzahl, aber doch einige und gerade jene, die ein beträchtliches Maß an Genialität und schöpferischer Kraft enthalten, sich in radikaler Weise gegen ihn selbst kehren könnten«.<ref> Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 15: AAS 71 (1979), 286. </ref>
Im Gefolge dieser kulturellen Veränderungen haben es einige Philosophen aufgegeben, die Wahrheit um ihrer selbst willen zu suchen, und als ihr einziges Ziel die Erreichung der subjektiven Gewißheit oder der praktischen Nützlichkeit übernommen. Als Konsequenz davon kam es zur Trübung der wahren Würde der Vernunft, der nicht mehr die Möglichkeit gegeben wurde, das Wahre zu erkennen und nach dem Absoluten zu forschen.
48. Aus diesem letzten Abschnitt der Philosophiegeschichte ergibt sich also die Feststellung einer fortschreitenden Trennung zwischen Glaube und philosophischer Vernunft. Es stimmt zwar, dass sich bei aufmerksamer Beobachtung auch in der philosophischen Reflexion derer, die zur Vergrößerung des Abstandes zwischen Glaube und Vernunft beigetragen haben, mitunter wertvolle Denkansätze erkennen lassen, die, wenn sie mit redlichem Geist und Herzen vertieft und entwickelt werden, helfen können, den Weg der Wahrheit zu entdecken. Zu finden sind diese Denkansätze zum Beispiel in den gründlichen Analysen über Wahrnehmung und Erfahrung, über die Imagination und das Unbewußte, über Persönlichkeit und Intersubjektivität, über Freiheit und Werte, über Zeit und Geschichte; auch das Thema Tod kann für jeden Denker eine ernste Aufforderung sein, in sich den echten Sinn seines Daseins zu suchen. Das hindert jedoch nicht, dass das derzeitige Verhältnis von Glaube und Vernunft ein sorgfältiges Bemühen um Unterscheidung erfordert, weil sowohl die Vernunft als auch der Glaube verarmt und beide gegenüber dem je anderen schwach geworden sind. Nachdem die Vernunft ohne den Beitrag der Offenbarung geblieben war, hat sie Seitenwege eingeschlagen, die die Gefahr mit sich bringen, dass sie ihr letztes Ziel aus dem Blick verliert. Der Glaube, dem die Vernunft fehlt, hat Empfindung und Erfahrung betont und steht damit in Gefahr, kein universales Angebot mehr zu sein. Es ist illusorisch zu meinen, angesichts einer schwachen Vernunft besitze der Glaube größere Überzeugungskraft; im Gegenteil, er gerät in die ernsthafte Gefahr, auf Mythos bzw. Aberglauben verkürzt zu werden. In demselben Maß wird sich eine Vernunft, die keinen reifen Glauben vor sich hat, niemals veranlaßt sehen, den Blick auf die Neuheit und Radikalität des Seins zu richten. Nicht unangebracht mag deshalb mein entschlossener und eindringlicher Aufruf erscheinen, dass Glaube und Philosophie die tiefe Einheit wiedererlangen sollen, die sie dazu befähigt, unter gegenseitiger Achtung der Autonomie des anderen ihrem eigenen Wesen treu zu sein. Der parresia (Freimütigkeit) des Glaubens muss die Kühnheit der Vernunft entsprechen.
KAPITEL V: DIE WORTMELDUNGEN DES LEHRAMTES IM PHILOSOPHISCHEN BEREICH
Das Urteilsvermögen des Lehramtes als Dienst an der Wahrheit (49-56)
49. Die Kirche legt weder eine eigene Philosophie vor noch gibt sie irgendeiner besonderen Philosophie auf Kosten der anderen den Vorzug.<ref> Vgl. Pius XII., Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 566. </ref> Der tiefere Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, dass die Philosophie auch dann, wenn sie mit der Theologie in Beziehung tritt, nach ihren eigenen Regeln und Methoden vorgehen muss; andernfalls gäbe es keine Gewähr dafür, dass sie auf die Wahrheit ausgerichtet bleibt und mit einem von der Vernunft her überprüfbaren Prozeß nach ihr strebt. Eine Philosophie, die nicht im Lichte der Vernunft nach eigenen Prinzipien und den für sie spezifischen Methoden vorginge, wäre wenig hilfreich. Im Grunde genommen ist der Ursprung der Autonomie, deren sich die Philosophie erfreut, daran zu erkennen, dass die Vernunft ihrem Wesen nach auf die Wahrheit hin orientiert und zudem in sich selbst mit den für deren Erreichung notwendigen Mitteln ausgestattet ist. Eine Philosophie, die sich dieser ihrer »Verfassung« bewußt ist, muss auch die Forderungen und Einsichten der geoffenbarten Wahrheit respektieren.
Die Geschichte hat jedoch gezeigt, auf welche Abwege und in welche Verirrungen vor allem das moderne philosophische Denken nicht selten geraten ist. Es ist weder Aufgabe noch Zuständigkeit des Lehramtes einzugreifen, um die Lücke eines fehlenden philosophischen Diskurses auszufüllen. Seine Pflicht ist es hingegen, klar und entschieden zu reagieren, wenn fragwürdige philosophische Auffassungen das richtige Verständnis des Geoffenbarten bedrohen und wenn falsche und parteiische Theorien verbreitet werden, die dadurch, dass sie die Schlichtheit und Reinheit des Glaubens des Gottesvolkes verwirren, schwerwiegende Irrtümer hervorrufen.
50. Das kirchliche Lehramt kann und soll daher im Lichte des Glaubens autoritativ seine kritische Unterscheidungskraft gegenüber den Philosophien und Auffassungen ausüben, die nicht mit der christlichen Lehre übereinstimmen.<ref> Vgl. I. Vat. Konzil, Erste Dogmatische Konstitution über die Kirche Christi Pastor aeternus, DS 3070; II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 25c. </ref> Aufgabe des Lehramtes ist es vor allem anzugeben, welche philosophischen Voraussetzungen und Schlussfolgerungen mit der geoffenbarten Wahrheit unvereinbar wären, und zugleich die Forderungen zu formulieren, die der Philosophie unter dem Gesichtspunkt des Glaubens auferlegt werden. Im Laufe der Entwicklung des philosophischen Wissens sind zudem verschiedene Denkschulen entstanden. Auch dieser Pluralismus stellt das Lehramt vor die Verantwortung, sein Urteil über die Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit der Grundgedanken, auf die sich diese Schulen stützen, mit den Ansprüchen des Wortes Gottes und der theologischen Reflexion auszusprechen.
Die Kirche hat die Pflicht anzuzeigen, was sich in einem philosophischen System als unvereinbar mit ihrem Glauben herausstellen kann. Denn viele philosophischen Inhalte, wie die Themen Gott, Mensch, seine Freiheit und sein sittliches Handeln, rufen die Kirche unmittelbar auf den Plan, weil sie an die von ihr gehütete geoffenbarte Wahrheit rühren. Wir Bischöfe haben, wenn wir diese Unterscheidung anwenden, die Aufgabe, »Zeugen der Wahrheit« zu sein bei der Ausübung eines demütigen, aber unermüdlichen Dienstes, den jeder Philosoph anerkennen sollte, zum Vorteil der recta ratio, das heißt der Vernunft, die über das Wahre in rechter Weise nachdenkt.
51. Diese Unterscheidung darf allerdings nicht in erster Linie negativ verstanden werden, so als läge es in der Absicht des Lehramtes, jede mögliche Vermittlung auszuschließen oder einzuschränken. Im Gegenteil, seine Interventionen wollen vor allem bezwecken, das philosophische Denken anzuregen, zu fördern und ihm Mut zu machen. Die Philosophen verstehen im übrigen als erste die Forderung nach Selbstkritik, nach Korrektur eventueller Irrtümer und die Notwendigkeit, die allzu engen Grenzen zu überschreiten, innerhalb der sich ihr Denken vollzieht. In besonderer Weise gilt es zu beachten, dass die Wahrheit nur eine ist, obwohl ihre Äußerungen den Stempel der Geschichte tragen und zudem das Werk einer von der Sünde verletzten und geschwächten menschlichen Vernunft sind. Daraus ergibt sich, dass keine historische Form der Philosophie legitim beanspruchen kann, die Gesamtwahrheit zu umfassen; dies gilt auch für die vollständige Erklärung des Menschen, der Welt und der Beziehung des Menschen zu Gott.
In der heutigen Zeit ist angesichts der Vermehrung der oft äußerst detailliert konzipierten philosophischen Systeme, Methoden, Begriffe und Argumente eine kritische Unterscheidung im Lichte des Glaubens mit um so größerer Dringlichkeit angesagt: eine keineswegs einfache Unterscheidung, denn wenn schon das Erkennen der angeborenen und unveräußerlichen Fähigkeiten der Vernunft mit ihren konstitutiven, historischen Grenzen mühsam ist, so kann es sich manchmal als noch problematischer erweisen, in den einzelnen philosophischen Vorgaben das, was sie vom Glaubensstandpunkt aus an Gültigem und Fruchtbarem bieten, von dem zu unterscheiden, was sich bei ihnen als irrig oder gefährlich herausstellt. Die Kirche weiß freilich, dass die »Schätze der Weisheit und Erkenntnis« in Christus verborgen sind (vgl. Kol 2, 3); deshalb greift sie ein und spornt die philosophische Reflexion an, sich nicht den Weg zu versperren, der zum Erkennen des Geheimnisses führt. 52. Das Lehramt der Kirche hat nicht erst in jüngster Zeit eingegriffen, um seine Ansicht gegenüber bestimmten philosophischen Lehren zu bekunden. Als Beispiele im Laufe der Jahrhunderte seien hier erwähnt: die Lehräußerungen gegen die Theorien, welche die Präexistenz der Seelen vertraten,<ref> Vgl. Synode von Konstantinopel, DS 403. </ref> sowie gegen verschiedene Formen von Götzendienst und abergläubischer Esoterik, die in astrologischen Auffassungen enthalten sind;<ref> Vgl. I. Konzil von Toledo, DS 205; I. Konzil von Braga, DS 459-460; Sixtus V., Bulle Coeli et terrae Creator (5. Januar 1586): Bullarium Romanum 44, Romae 1747, 176-179; Urban VIII., Inscrutabilis iudiciorum (1. April 1631): Bullarium Romanum 61, Romae 1758, 268-270. </ref> nicht zu vergessen die systematischeren Texte gegen einige, mit dem christlichen Glauben unvereinbare Auffassungen des lateinischen Averroismus.<ref> Vgl. Konzil von Vienne, Dekret Fidei catholicae, DS 902; V. Laterankonzil, Bulle Apostolici regiminis: DS 1440. </ref>
Wenn sich das Lehramt seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts häufiger zu Wort gemeldet hat, so deshalb, weil in jener Zeit nicht wenige Katholiken es als ihre Aufgabe ansahen, den verschiedenen Strömungen des modernen Denkens ihre eigene Philosophie entgegenzusetzen. Hier wurde es für das Lehramt der Kirche zur Verpflichtung, darüber zu wachen, dass diese Philosophien nicht ihrerseits in irrige und negative Formen abglitten. So ergingen gleichermaßen Zensuren: einerseits gegen den Fideismus<ref> Vgl. Theses a Ludovico Eugenio Bautain iussu sui Episcopi subscriptae (8. September 1840), DS 2751-2756; Theses a Ludovico Eugenio Bautain ex mandato S. Congr. Episcoporum et Religiosorum subscriptae (26. April 1844), DS 2765-2769. </ref> und den radikalen Traditionalismus<ref> Vgl. Hl. Indexkongregation, Dekret Theses contra traditionalismum Augustini Bonnetty (11. Juni 1855), DS 2811-2814. </ref> wegen ihres Mißtrauens gegenüber den natürlichen Fähigkeiten der Vernunft; andererseits gegen den Rationalismus<ref> Vgl. Pius IX., Breve Eximiam tuam (15. Juni 1857), DS 2828-2831; Breve Gravissimas inter (11. Dezember 1862), DS 2850-2861. </ref> und den Ontologismus,<ref> Vgl. Kongregation des Hl. Offiziums, Dekret Errores ontologistarum (18. September 1861), DS 2841-2847. </ref> weil sie der natürlichen Vernunft etwas zuschrieben, was nur im Lichte des Glaubens erkennbar ist. Die positiven Inhalte dieser Debatte wurden in der dogmatischen Konstitution Dei Filius formalisiert, mit der zum ersten Mal ein ökumenisches Konzil, nämlich das I. Vatikanum, zu den Beziehungen zwischen Vernunft und Glaube in feierlicher Form eingriff. Die in jenem Text enthaltene Lehre charakterisierte einprägsam und auf positive Art und Weise die philosophische Forschung vieler Gläubiger und stellt noch heute einen normativen Bezugspunkt für eine einwandfreie und konsequente christliche Reflexion in diesem besonderen Bereich dar.
53. Mehr als mit einzelnen philosophischen Auffassungen haben sich die Urteile des Lehramtes mit der Notwendigkeit der Vernunfterkenntnis und daher letzten Endes der philosophischen Erkenntnis für die Glaubenseinsicht befaßt. Das I. Vatikanische Konzil, das die Lehren, die das ordentliche Lehramt ständig für die Gläubigen aufgestellt hatte, in feierlicher Form zusammenfaßte und neu bestätigte, hob hervor, wie untrennbar und zugleich voneinander unabhängig natürliche Gotteserkenntnis und Offenbarung, Vernunft und Glaube seien. Das Konzil ging von der durch die Offenbarung selbst vorausgesetzten Grundforderung nach der natürlichen Erkennbarkeit der Existenz Gottes, dem Ursprung und Ziel aller Dinge,<ref> Vgl. I. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, II: DS 3004; und can. 2.1: DS 3026. </ref> aus und schloß mit der bereits zitierten feierlichen Beteuerung: »Es gibt zwei Erkenntnisordnungen, die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden sind«.<ref> Ebd., IV: DS 3015, zitiert in: II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 59. </ref> Es musste also gegenüber jeder Art von Rationalismus der Unterschied der Glaubensgeheimnisse von den philosophischen Entdeckungen und die Transzendenz und Priorität jener gegenüber diesen bekräftigt werden; andererseits war es notwendig, den fideistischen Versuchungen gegenüber die Einheit der Wahrheit und somit auch den positiven Beitrag zu betonen, den die Vernunfterkenntnis für die Glaubenserkenntnis leisten kann und soll: »Aber auch wenn der Glaube über der Vernunft steht, so kann es dennoch niemals eine wahre Unstimmigkeit zwischen Glaube und Vernunft geben: denn derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben mitteilt, hat in den menschlichen Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch (kann) jemals Wahres Wahrem widersprechen«.<ref> I. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, IV: DS 3017. </ref>
54. Auch in unserem Jahrhundert ist das Lehramt wiederholt auf das Thema zurückgekommen und hat vor der rationalistischen Versuchung gewarnt. In dieses Szenarium sind die Interventionen Papst Pius' X. einzuordnen, der feststellte, dass dem Modernismus philosophische Anschauungen phänomenalistischer, agnostischer und immanentistischer Tendenz zugrunde lagen.<ref> Vgl. Enzyklika Pascendi Dominici gregis (8. September 1907): AAS 40 (1907), 596-597. </ref> Auch die Bedeutung, die der katholischen Ablehnung der marxistischen Philosophie und des atheistischen Kommunismus zukam, darf nicht vergessen werden.<ref> Vgl. Pius XI., Enzyklika Divini redemptoris (19. März 1937): AAS 29 (1937), 65-106. </ref> Sodann erhob Papst Pius XII. seine Stimme, als er in der Enzyklika Humani generis vor irrigen Erklärungen im Zusammenhang mit den Auffassungen von Evolutionismus, Existentialismus und Historizismus warnte. Er stellte klar, dass diese Auffassungen nicht von Theologen erarbeitet und vorgelegt worden sind, haben sie doch ihren Ursprung »außerhalb des Schafstalls Christi«;<ref> Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 562-563. </ref> er fügte allerdings hinzu, dass derartige Abirrungen nicht einfach verworfen, sondern kritisch untersucht werden sollten: »Nun sollen aber die katholischen Theologen und Philosophen, denen die schwere Aufgabe obliegt, die göttliche und menschliche Wahrheit zu schützen und sie den Herzen der Menschen einzupflanzen, diese mehr oder weniger vom rechten Weg abirrenden Auffassungen weder ignorieren noch unbeachtet lassen. Ja, sie sollen diese Auffassungen sogar gründlich kennen, sowohl weil Krankheiten nicht angemessen geheilt werden können, wenn sie nicht vorher richtig erkannt wurden, als auch, weil manchmal selbst in falschen Ansichten ein Körnchen Wahrheit verborgen liegt, als auch schließlich, weil diese den Geist herausfordern, bestimmte Wahrheiten, sowohl philosophische als auch theologische, genauer zu durchforschen und zu untersuchen«.<ref> Ebd., aaO., 563-564. </ref>
Schließlich musste auch die Kongregation für die Glaubenslehre in Erfüllung ihrer besonderen Aufgabe im Dienst des universalen Lehramtes des Papstes<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostolische Konstitution Pastor bonus (28. Juni 1988), Art. 48-49: AAS 80 (1988), 873; Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen Donum veritatis (24. Mai 1990), 18: AAS 82 (1990), 1558. </ref> eingreifen, um nachdrücklich auf die Gefahr hinzuweisen, die eine unkritische Übernahme der aus dem Marxismus stammenden Auffassungen und Methoden durch einige Befreiungstheologen mit sich bringt.<ref> Vgl. Instruktion über einige Aspekte der »Theologie der Befreiung« Libertatis nuntius (6. August 1984), VII-X: AAS 76 (1984), 890-903. </ref> Das Lehramt hat also in der Vergangenheit wiederholt und unter verschiedenen Bedingungen die kritische Unterscheidung in bezug auf das Gebiet der Philosophie vorgenommen. Alles, was meine ehrwürdigen Vorgänger dazu geleistet haben, stellt einen wertvollen Beitrag dar, der nicht in Vergessenheit geraten darf.
55. Wenn wir uns die heutige Situation anschauen, sehen wir, dass die Probleme von einst wiederkehren, wobei sie aber neue Eigenheiten aufweisen. Es handelt sich nicht mehr nur um Fragen, die einzelne Personen oder Gruppen betreffen, sondern um Überzeugungen, die in der Gesellschaft so verbreitet sind, dass sie gewissermaßen zu einer gemeinsamen Denkweise werden. Das gilt zum Beispiel für das radikale Mißtrauen gegen die Vernunft, das die jüngsten Entwicklungen vieler philosophischer Studien an den Tag legen. Von mehreren Seiten war diesbezüglich vom »Ende der Metaphysik« zu hören: man will, dass sich die Philosophie mit bescheideneren Aufgaben begnügt, sich also nur der Erklärung des Tatsächlichen oder der Erforschung nur bestimmter Gebiete des menschlichen Wissens oder seiner Strukturen widmet.
In der Theologie selbst tauchen wieder die Versuchungen von einst auf. In einigen zeitgenössischen Theologien bahnt sich zum Beispiel neuerdings ein gewisser Rationalismus seinen Weg, vor allem wenn angeblich philosophisch begründete Aussagen als normativ für die theologische Forschung übernommen werden. Das geschieht vor allem dann, wenn sich der Theologe aus Mangel an philosophischer Fachkenntnis auf unkritische Weise von Aussagen beeinflussen läßt, die zwar in die gängige Sprache und Kultur Eingang gefunden haben, aber ohne ausreichende rationale Grundlage sind.<ref> Das I. Vatikanische Konzil hatte mit ebenso klaren wie gebieterischen Worten diesen Irrtum bereits verurteilt, indem es einerseits sagte: »Dieser Glaube aber [...] ist nach dem Bekenntnis der katholischen Kirche eine übernatürliche Tugend, durch die wir mit Unterstützung und Hilfe der Gnade Gottes glauben, dass das von ihm Geoffenbarte wahr ist, nicht etwa wegen der vom natürlichen Licht der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge, sondern wegen der Autorität des offenbarenden Gottes selbst, der weder sich täuschen noch täuschen kann«: Dogmatische Konstitution Dei Filius, III: DS 3008, und can. 3, 2: DS 3032. Andererseits erklärte das Konzil, dass die Vernunft niemals »dazu befähigt wird, sie [diese Geheimnisse] genauso zu durchschauen wie die Wahrheiten, die ihren eigentlichen (Erkenntnis)gegenstand ausmachen«: ebd., IV: DS 3016. Daraus zog es die praktische Folgerung: »Deswegen ist nicht nur allen gläubigen Christen verboten, solche Meinungen, von denen man erkennt, dass sie der Lehre des Glaubens entgegengesetzt sind — vor allem, wenn sie von der Kirche verworfen wurden —, als rechtmäßige Folgerungen der Wissenschaft zu verteidigen, sondern sie sind vielmehr durchaus verpflichtet, sie für Irrtümer zu halten, die den trügerischen Schein von Wahrheit vor sich hertragen«: ebd., IV: DS 3018. </ref>
Es fehlt auch nicht an gefährlichen Rückfällen in den Fideismus, der die Bedeutung der Vernunfterkenntnis und der philosophischen Debatte für die Glaubenseinsicht, ja für die Möglichkeit, überhaupt an Gott zu glauben, nicht anerkennt. Ein heutzutage verbreiteter Ausdruck dieser fideistischen Tendenz ist der »Biblizismus«, dessen Bestreben dahin geht, aus der Lesung der Heiligen Schrift bzw. ihrer Auslegung den einzigen glaubhaften Bezugspunkt zu machen. So kommt es, dass man das Wort Gottes einzig und allein mit der Heiligen Schrift identifiziert und auf diese Weise die Lehre der Kirche untergräbt, die das II. Vatikanische Konzil ausdrücklich bestätigt hat. Nachdem die Konstitution Dei Verbum darauf hingewiesen hat, dass das Wort Gottes sowohl in den heiligen Texten als auch in der Überlieferung gegenwärtig ist,<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, Nr. 9-10. </ref> führt sie mit Nachdruck aus: »Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes. Voller Anhänglichkeit an ihn verharrt das ganze heilige Volk, mit seinen Hirten vereint, ständig in der Lehre der Apostel«.<ref> Ebd., 10. </ref> Die Heilige Schrift ist daher nicht der einzige Anhaltspunkt für die Kirche. Denn die »höchste Richtschnur ihres Glaubens«<ref> Ebd., 21. </ref> kommt ihr aus der Einheit zwischen der Heiligen Überlieferung, der Heiligen Schrift und dem Lehramt der Kirche zu, die der Heilige Geist so geknüpft hat, dass keine der drei ohne die anderen bestehen kann.<ref> Vgl. ebd., 10. </ref>
Nicht unterschätzt werden darf zudem die Gefahr, die der Absicht innewohnt, die Wahrheit der Heiligen Schrift von der Anwendung einer einzigen Methode abzuleiten, und dabei die Notwendigkeit einer Exegese im weiteren Sinn außer acht läßt, die es erlaubt, zusammen mit der ganzen Kirche zum vollen Sinn der Texte zu gelangen. Alle, die sich dem Studium der Heiligen Schriften widmen, müssen stets berücksichtigen, dass auch den verschiedenen hermeneutischen Methoden eine philosophische Auffassung zugrunde liegt: sie gilt es vor ihrer Anwendung auf die heiligen Texte eingehend zu prüfen. Weitere Formen eines latenten Fideismus sind an dem geringen Ansehen, das der spekulativen Theologie entgegengebracht wird, ebenso erkennbar wie auch an der Geringschätzung für die klassische Philosophie, aus deren Begriffspotential sowohl das Glaubensverständnis als auch die dogmatischen Formulierungen ihre Begriffe geschöpft haben. Papst Pius XII. seligen Andenkens hat vor solcher Vernachlässigung der philosophischen Tradition und vor dem Aufgeben der überlieferten Terminologien gewarnt.<ref> Vgl. Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 565-567; 571-573. </ref>
56. Schließlich beobachtet man ein verbreitetes Mißtrauen gegen die umfassenden und absoluten Aussagen, vor allem von seiten derer, die meinen, die Wahrheit sei das Ergebnis des Konsenses und nicht der Anpassung des Verstandes an die objektive Wirklichkeit. Es ist sicherlich verständlich, dass es in einer in viele Fachbereiche unterteilten Welt schwierig wird, jenen vollständigen und letzten Sinn des Lebens zu erkennen, nach dem die Philosophie traditionell gesucht hat. Ich kann dennoch nicht umhin, im Lichte des Glaubens, der in Jesus Christus diesen letzten Sinn erkennt, die christlichen wie auch nichtchristlichen Philosophen zu ermutigen, in die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft zu vertrauen und sich bei ihrem Philosophieren nicht zu bescheidene Ziele zu setzen. Die Lehre der Geschichte dieses nunmehr zu Ende gehenden Jahrtausends zeugt davon, dass das der Weg ist, der eingeschlagen werden soll: Die Leidenschaft für die letzte Wahrheit und der Wunsch, sie zu suchen, verbunden mit dem Mut zur Entdeckung neuer Wege, dürfen nicht verloren gehen! Es ist der Glaube, der die Vernunft dazu herausfordert, aus jedweder Isolation herauszutreten und für alles, was schön, gut und wahr ist, etwas zu riskieren. So wird der Glaube zum überzeugten und überzeugenden Anwalt der Vernunft.
Das Interesse der Kirche für die Philosophie (57-63)
57. Das Lehramt hat sich freilich nicht darauf beschränkt, nur die Irrtümer und Abweichungen der philosophischen Lehren aufzudecken. Mit derselben Aufmerksamkeit hat es die Grundprinzipien für eine echte Erneuerung des philosophischen Denkens unterstrichen und auch konkret einzuschlagende Wege aufgezeigt. In diesem Sinn vollzog Papst Leo XIII. mit seiner Enzyklika Æterni Patris einen Schritt von wahrhaft historischer Tragweite für das Leben der Kirche. Jener Text war bis zum heutigen Tag das einzige päpstliche Dokument auf solcher Ebene, das ausschließlich der Philosophie gewidmet war. Der große Papst griff die Lehre des I. Vatikanischen Konzils über das Verhältnis von Glaube und Vernunft auf und entwickelte sie weiter, indem er zeigte, dass das philosophische Denken ein grundlegender Beitrag zum Glauben und zur theologischen Wissenschaft ist.<ref> Vgl. Enzyklika Aeterni Patris (4. August 1879): AAS 11 (1878-1879), 97-115. </ref> Nach über einem Jahrhundert haben viele in jenem Text enthaltene Hinweise sowohl unter praktischem wie unter pädagogischem Gesichtspunkt nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt; das gilt zuallererst für die Bedeutung in bezug auf den unvergleichlichen Wert der Philosophie des hl. Thomas. Das Denken des Doctor Angelicus neu vorzulegen, erschien Papst Leo XIII. als der beste Weg, mit der Philosophie wieder so umzugehen, dass sie mit den Ansprüchen des Glaubens übereinstimmt. Der Papst schrieb: »Im selben Augenblick, in dem er (der hl. Thomas), wie es sich gehört, den Glauben vollkommen von der Vernunft unterscheidet, vereint er die beiden durch Bande wechselseitiger Freundschaft: er sichert jeder von ihnen ihre Rechte zu und schützt ihre Würde«.<ref> Ebd., aaO., 109. </ref>
58. Die glücklichen Folgen, die jene päpstliche Aufforderung nach sich zog, sind bekannt. Die Forschungen über das Denken des hl. Thomas und anderer scholastischer Autoren erfuhren einen neuen Aufschwung. Starken Auftrieb erhielt die historische Forschung mit der Wiederentdeckung der bis dahin weithin unbekannten Schätze des mittelalterlichen Denkens zur Folge; außerdem entstanden neue thomistische Schulen. Durch die Anwendung der historischen Methode machte die Kenntnis des Werkes des hl. Thomas große Fortschritte; zahlreiche Gelehrte brachten mutig die thomistische Überlieferung in die Diskussionen über die damaligen philosophischen und theologischen Probleme ein. Die einflußreichsten katholischen Theologen dieses Jahrhunderts, deren Denken und Forschen das II. Vatikanische Konzil viel zu verdanken hat, sind Kinder dieser Erneuerung der thomistischen Philosophie. So stand der Kirche im Laufe des 20. Jahrhunderts eine starke Gruppe von Denkern zur Verfügung, die in der Schule des Doctor Angelicus herangebildet worden waren.
59. Die thomistische und neothomistische Erneuerung war allerdings nicht das einzige Zeichen einer Wiederaufnahme des philosophischen Denkens in die christlich geprägte Kultur. Schon vor der Aufforderung Papst Leos und parallel zu ihr waren zahlreiche katholische Philosophen aufgetreten, die an jüngere Denkströmungen angeknüpft und dabei nach ihrer eigenen Methode philosophische Werke von großem Einfluß und bleibendem Wert hervorgebracht hatten. Darunter befanden sich einige, die Synthesen von solchem Profil entwickelten, dass sie den großen Systemen des Idealismus in nichts nachstanden; wieder andere legten die erkenntnistheoretischen Grundlagen für eine neue Behandlung des Glaubens im Lichte eines erneuerten Verständnisses des moralischen Gewissens; noch andere schufen eine Philosophie, die, ausgehend von der Analyse des Innerweltlichen, den Weg zum Transzendenten eröffnete; und schließlich gab es auch jene, welche die Forderungen des Glaubens im Horizont der phänomenologischen Methode anzuwenden versuchten. Von verschiedenen Perspektiven her hat man also fortwährend Formen philosophischer Spekulation hervorgebracht, die die großartige Tradition christlichen Denkens in der Einheit von Glaube und Vernunft lebendig erhalten wollten.
60. Das II. Vatikanische Konzil legt seinerseits eine sehr reiche und fruchtbare Lehre in bezug auf die Philosophie vor. Ich kann besonders im Rahmen dieser Enzyklika nicht vergessen, dass ein ganzes Kapitel der Konstitution Gaudium et spes gleichsam eine Zusammenfassung biblischer Anthropologie und damit auch Inspirationsquelle für die Philosophie darstellt. Auf jenen Seiten geht es um den Wert der nach dem Bild Gottes geschaffenen menschlichen Person, es werden ihre Würde und Überlegenheit über die übrige Schöpfung begründet und die transzendente Fähigkeit ihrer Vernunft aufgezeigt.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 14-15. </ref> Auch das Problem des Atheismus kommt in Gaudium et spes in den Blick; dabei werden die Irrtümer jener philosophischen Anschauung, vor allem gegenüber der unveräußerlichen Würde der Person und ihrer Freiheit, genau begründet.<ref> Vgl. ebd., 20-21. </ref> Tiefe philosophische Bedeutung besitzt gewiß auch die Formulierung, die den Höhepunkt jenes Abschnittes bildet. Ich habe sie in meiner Enzyklika Redemptor hominis aufgegriffen; sie gehört zu den festen Bezugspunkten meines Lehrens: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«.<ref> Ebd., 22; vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 8: AAS 71 (1979), 271-272. </ref>
Das Konzil hat sich auch mit dem Studium der Philosophie befaßt, dem sich die Priesteramtskandidaten widmen sollen; es handelt sich um Empfehlungen, die sich allgemeiner auf das christliche Lehren in seiner Gesamtheit ausdehnen lassen. Das Konzil lehrt: »Die philosophischen Disziplinen sollen so dargeboten werden, dass die Alumnen vor allem zu einem gründlichen und zusammenhängenden Wissen über Mensch, Welt und Gott hingeführt werden. Sie sollen sich dabei auf das stets gültige philosophische Erbe stützen. Es sollen aber auch die philosophischen Forschungen der neueren Zeit berücksichtigt werden«.<ref> II. Vat. Konzil, Dekret über die Priesterausbildung Optatam totius, 15. </ref>
Diese Weisungen sind wiederholt in anderen lehramtlichen Dokumenten bekräftigt und genauerhin erläutert worden, um vor allem für jene, die sich auf das Theologiestudium vorbereiten, eine solide philosophische Bildung zu gewährleisten. Ich habe meinerseits mehrmals die Bedeutung dieser philosophischen Bildung für alle betont, die sich eines Tages in der Seelsorge mit den Forderungen der modernen Welt auseinandersetzen und die Ursachen mancher Haltungen werden begreifen müssen, um umgehend darauf antworten zu können.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostol. Konstitution Sapientia christiana (15. April 1979), Art. 79-80: AAS 71 (1979), 495-496; Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 52: AAS 84 (1992), 750-751. Vgl. auch einige Kommentare zur Philosophie des hl. Thomas: Ansprache an die Päpstliche Internationale Universität Angelicum (17. November 1979): Insegnamenti II, 2 (1979), 1177-1189; Ansprache an die Teilnehmer am VIII. Internationalen Thomistischen Kongreß (13. September 1980): Insegnamenti III, 2 (1980), 604-615; Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Kongreß der »Sankt Thomas«-Gesellschaft (4. Januar 1986): Insegnamenti IX, 1 (1986), 18-24. Ferner: Hl. Kongregation für die katholische Erziehung, Ratio fundamentalis institutionis sacerdotalis (6. Januar 1970), 70-75: AAS 62 (1970), 366-368; Dekret Sacra theologia (20. Januar 1972): AAS 64 (1972), 583-586. </ref>
61. Wenn sich unter verschiedenen Umständen eine Intervention zu diesem Thema — wobei man auch den Wert der Einsichten des Doctor Angelicus bekräftigte und auf der Aneignung seines Denkens bestand — als notwendig erwies, so hatte das seinen Grund darin, dass die Weisungen des Lehramtes nicht immer mit der erwünschten Bereitschaft befolgt worden sind. In vielen katholischen Schulen war in den Jahren unmittelbar nach dem II. Vatikanischen Konzil diesbezüglich ein gewisser Verfall zu beobachten, der einer geringeren Wertschätzung nicht nur der scholastischen Philosophie, sondern allgemeiner des Studiums der Philosophie überhaupt zuzuschreiben ist. Mit Verwunderung und Bedauern muss ich feststellen, dass nicht wenige Theologen diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Studium der Philosophie teilen.
Es sind verschiedene Gründe, die dieser Abneigung zugrunde liegen. An erster Stelle ist das Mißtrauen gegen die Vernunft festzuhalten, das ein Großteil der zeitgenössischen Philosophie dadurch bekundet, dass auf die metaphysische Erforschung der letzten Fragen des Menschen weitgehend verzichtet wird, um die Aufmerksamkeit auf Teil- und Gebietsprobleme, mitunter auch reine Formprobleme zu konzentrieren. Außerdem kommt das Mißverständnis hinzu, das vor allem in bezug auf die »Humanwissenschaften« entstanden ist. Das II. Vatikanische Konzil hat mehrmals auf den positiven Wert der wissenschaftlichen Forschung für eine tiefere Erkenntnis des Geheimnisses des Menschen hingewiesen.<ref> Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 57; 62. </ref> Die Aufforderung an die Theologen, sich diese Wissenschaften anzueignen und sie, wenn nötig, in ihrer Forschung korrekt anzuwenden, darf jedoch nicht als unausgesprochene Ermächtigung dazu interpretiert werden, die Philosophie in der Pastoralausbildung und in der praeparatio fidei nur am Rande zu behandeln oder gar zu ersetzen. Endlich darf man das wiederentdeckte Interesse für die Inkulturation des Glaubens nicht vergessen. Besonders das Leben der jungen Kirchen bot Gelegenheit, neben gehobenen Denkformen das Vorhandensein vielfältiger Ausdrucksformen der Volksweisheit zu entdecken, die ein wirkliches Erbe an Kulturen und Traditionen darstellen. Die Untersuchung dieser überlieferten Bräuche muss jedoch im Gleichschritt mit der philosophischen Forschung einhergehen. Diese erst wird es ermöglichen, die positiven Züge der Volksweisheit hervortreten zu lassen, indem die notwendige Verbindung mit der Verkündigung des Evangeliums hergestellt wird.<ref> Vgl. ebd., 44. </ref>
62. Ich möchte nachdrücklich betonen, dass das Studium der Philosophie ein grundlegendes und untilgbares Wesensmerkmal im Aufbau des Theologiestudiums und in der Ausbildung der Priesteramtskandidaten darstellt. Es ist kein Zufall, dass dem Curriculum der Theologie eine Periode vorausgeht, in der eine besondere Beschäftigung mit dem Studium der Philosophie vorgesehen ist. Diese vom V. Laterankonzil bestätigte Entscheidung<ref> Vgl. V. Laterankonzil, Bulle Apostolici regimini sollicitudo, sessio VIII: Conc. Oecum. Decreta, 1991, 605-606. </ref> hat ihre Wurzeln in der während des Mittelalters gereiften Erfahrung, als die Bedeutung einer konstruktiven Harmonie zwischen philosophischem und theologischem Wissen herausgestellt wurde. Diese Studienordnung hat, wenn auch auf indirekte Weise, zu einem guten Teil die Entwicklung der modernen Philosophie beeinflußt, erleichtert und gefördert. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist der von den Disputationes metaphysicae von Francisco Suárez ausgeübte Einfluß: sie fanden sogar in den deutschen lutherischen Universitäten Eingang. Der Verlust dieser Methode war hingegen Ursache schwerwiegender Mängel sowohl in der Priesterausbildung als auch in der theologischen Forschung. Man denke an die Gleichgültigkeit dem modernen Denken und der modernen Kultur gegenüber, die dazu geführt hat, sich jeder Form von Dialog zu verschließen oder aber jede Philosophie unterschiedslos anzunehmen. Ich vertraue sehr darauf, dass diese Schwierigkeiten durch eine sinnvolle philosophische und theologische Ausbildung überwunden werden, die in der Kirche niemals verloren gehen darf.
63. Wegen der genannten Gründe schien es mir dringend geboten, mit dieser Enzyklika das starke Interesse zu betonen, das die Kirche der Philosophie entgegenbringt; ja, es geht um die engen Bande, welche die theologische Arbeit mit der philosophischen Suche nach der Wahrheit verbinden. Daraus erwächst für das Lehramt die Verpflichtung, genau zu unterscheiden und ein philosophisches Denken anzuregen, das sich nicht in Unstimmigkeit mit dem Glauben befindet. Meine Aufgabe ist es, einige Grundsätze und Bezugspunkte vorzulegen, die ich als notwendig erachte, um wieder eine harmonische und wirksame Beziehung zwischen Philosophie und Theologie aufbauen zu können. Im Lichte dieser Grundsätze wird es möglich sein, mit größerer Klarheit zu prüfen, ob und welches Verhältnis die Theologie zu den verschiedenen philosophischen Systemen oder Auffassungen, die die heutige Welt aufweist, unterhalten solle.
KAPITEL VI: DIE WECHSELWIRKUNG ZWISCHEN THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE
Die Glaubenswissenschaft und die Erfordernisse der philosophischen Vernunft (64-74)
64. Das Wort Gottes richtet sich an jeden Menschen, zu jeder Zeit und an jedem Ort der Erde; und der Mensch ist von Natur aus Philosoph. Die Theologie, als durchdachte wissenschaftliche Erarbeitung des Verständnisses dieses Wortes im Lichte des Glaubens, kann sowohl für manche ihrer Verfahrensweisen wie auch für die Erfüllung bestimmter Aufgaben nicht darauf verzichten, mit den Philosophien in Beziehung zu treten, die im Laufe der Geschichte tatsächlich ausgearbeitet worden sind. Ohne den Theologen besondere Methoden empfehlen zu wollen, was dem Lehramt auch gar nicht zusteht, möchte ich vielmehr einige Aufgaben der Theologie ins Gedächtnis rufen, bei denen aufgrund des Wesens des geoffenbarten Wortes der Rückgriff auf das philosophische Denken geboten ist.
65. Die Theologie konstituiert sich als Glaubenswissenschaft im Lichte eines methodischen Doppelprinzips: dem auditus fidei und dem intellectus fidei. Durch das erste gelangt sie in den Besitz der Offenbarungsinhalte, so wie sie in der Heiligen Überlieferung, in der Heiligen Schrift und im lebendigen Lehramt der Kirche fortschreitend ausgefaltet worden sind.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 10. </ref> Mit dem zweiten Prinzip will die Theologie den Anforderungen des Denkens durch die spekulative Reflexion entsprechen. Was die Vorbereitung auf einen korrekten auditus fidei betrifft, so leistet die Philosophie der Theologie ihren eigentlichen Beitrag dann, wenn sie die Struktur der Erkenntnis und der persönlichen Mitteilung sowie besonders die vielfältigen Formen und Funktionen der Sprache betrachtet und bedenkt. Ebenso wichtig ist der Beitrag der Philosophie für ein zusammenhängendes Verständnis der kirchlichen Überlieferung, der Erklärungen des Lehramtes und der Sätze der großen Lehrer der Theologie: diese drücken sich nämlich häufig in Begriffen und Denkformen aus, die einer bestimmten philosophischen Tradition entlehnt sind. In diesem Fall wird vom Theologen verlangt, dass er nicht nur die Begriffe und Formulierungen erklärt, mit denen die Kirche über ihre Lehre nachdenkt und sie erarbeitet; er muss auch die philosophischen Systeme, die möglicherweise Begriffe und Terminologie beeinflußt haben, gründlich kennen, um zu korrekten und kohärenten Interpretationen zu gelangen.
66. Was den intellectus fidei betrifft, so ist vor allem zu beachten, dass die göttliche Wahrheit, »die uns in den von der Lehre der Kirche richtig ausgelegten Heiligen Schriften vorgelegt wird«,<ref> Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II, 5, 3 ad 2. </ref> eine eigene, in ihrer Logik so konsequente Verständlichkeit besitzt, dass sie sich als ein echtes Wissen darstellt. Der intellectus fidei legt diese Wahrheit aus, indem er nicht nur die logischen und begrifflichen Strukturen der Aussagen aufnimmt, in denen sich die Lehre der Kirche artikuliert, sondern auch und vorrangig die Heilsbedeutung sichtbar werden läßt, die diese Aussagen für den einzelnen und für die Menschheit enthalten. Von der Gesamtheit dieser Aussagen gelangt der Glaubende zur Kenntnis der Heilsgeschichte, die in der Person Jesu Christi und in seinem Ostergeheimnis ihren Höhepunkt hat. Durch seine Zustimmung aus dem Glauben hat er an diesem Geheimnis teil.
Die dogmatische Theologie muss ihrerseits imstande sein, den universalen Sinn des Geheimnisses des dreieinigen Gottes und des Heilsplanes sowohl in erzählerischer Weise als auch vor allem in Form der Argumentation darzulegen. Das muss sie mit Hilfe von Ausdrücken und Begriffen tun, die aus der Urteilskraft heraus formuliert und allgemein mitteilbar sind. Denn ohne den Beitrag der Philosophie ließen sich theologische Inhalte, wie zum Beispiel das Sprechen über Gott, die Personbeziehungen innerhalb der Trinität, das schöpferische Wirken Gottes in der Welt, die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, die Identität Christi, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist, nicht veranschaulichen. Dasselbe gilt für verschiedene Themen der Moraltheologie, wo ganz offenkundig Begriffe, wie z.B. Sittengesetz, Gewissen, Freiheit, persönliche Verantwortung, Schuld usw. zur Anwendung kommen, die im Rahmen der philosophischen Ethik definiert werden. Daher muss die Vernunft des Gläubigen eine natürliche, wahre und stimmige Kenntnis der geschaffenen Dinge, der Welt und des Menschen besitzen, die auch Gegenstand der göttlichen Offenbarung sind; mehr noch: die Vernunft des Gläubigen muss in der Lage sein, diese Kenntnis begrifflich und in der Form der Argumentation darzulegen. Die spekulative dogmatische Theologie setzt daher implizit eine auf die objektive Wahrheit gegründete Philosophie vom Menschen, von der Welt und, radikaler, vom Sein voraus.
67. Die Fundamentaltheologie wird sich wegen des Charakters dieser theologischen Disziplin, deren Aufgabe die Rechenschaft über den Glauben ist (vgl. 1 Petr 3, 15), darum kümmern müssen, die Beziehung zwischen dem Glauben und dem philosophischen Denken zu rechtfertigen und zu erklären. Schon das I. Vatikanische Konzil hatte die paulinische Lehre (vgl. Röm 1, 19-20) neu eingebracht und die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass es Wahrheiten gibt, die auf natürlichem Weg erkennbar sind. Daher sind sie es auch auf philosophischem Weg. Ihr Erkennen stellt eine notwendige Voraussetzung für die Annahme der Offenbarung Gottes dar. Beim Erforschen der Offenbarung und ihrer Glaubwürdigkeit, begleitet von dem entsprechenden Glaubensakt, wird die Fundamentaltheologie zeigen müssen, dass im Lichte der Erkenntnis durch den Glauben einige Wahrheiten ans Licht kommen, welche die Vernunft bereits auf ihrem selbständigen Weg der Suche erreicht. Die Offenbarung verleiht diesen Wahrheiten dadurch Sinnfülle, dass sie sie auf den Reichtum des geoffenbarten Geheimnisses hinlenkt, in dem sie ihr letztes Ziel finden. Man denke zum Beispiel an die natürliche Gotteserkenntnis, an die Möglichkeit der Unterscheidung der göttlichen Offenbarung von anderen Phänomenen oder an die Anerkennung ihrer Glaubwürdigkeit, an die Fähigkeit der menschlichen Sprache, ausdrücklich und wahrhaftig auch von dem zu sprechen, was jede menschliche Erfahrung übersteigt. Von allen diesen Wahrheiten wird der Geist dazu gebracht, das Vorhandensein eines wirklich auf den Glauben vorbereitenden Weges anzuerkennen, der in die Annahme der Offenbarung einmünden kann, ohne die eigenen Prinzipien und ihre Autonomie im geringsten zu verletzen.<ref> »Die Erforschung der Bedingungen, unter denen der Mensch von sich aus die ersten grundlegenden Fragen stellt nach dem Sinn des Lebens, nach dem Ziel, das er ihm geben will, und nach dem, was ihn nach dem Tod erwartet, bildet für die Fundamentaltheologie den notwendigen Vorspann, damit auch heute der Glaube der Vernunft in ihrer aufrichtigen Suche nach der Wahrheit voll den Weg weisen kann«: Johannes Paul II., Schreiben an die Teilnehmer an dem internationalen Kongreß für Fundamentaltheologie zum 125. Jahrestag der Veröffentlichung von "Dei Filius" (30. September 1995), 4: L'Osservatore Romano, 3. Oktober 1995, S. 8. </ref>
In demselben Maß wird die Fundamentaltheologie aufzeigen müssen, dass eine innere Vereinbarkeit zwischen dem Glauben und seinem wesentlichen Anspruch besteht, sich durch eine Vernunft darzustellen, die in der Lage ist, in voller Freiheit ihre Zustimmung zu geben. So wird der Glaube »einer Vernunft, die aufrichtig nach der Wahrheit sucht, voll den Weg weisen können. Auf diese Weise kann der Glaube als Geschenk Gottes, auch wenn er sich nicht auf die Vernunft stützt, sicher nicht auf sie verzichten; gleichzeitig erscheint es für die Vernunft notwendig, vom Glauben Gebrauch zu machen, um die Horizonte zu entdecken, die sie allein nicht zu erreichen vermöchte«.<ref> Ebd. </ref>
68. Die Moraltheologie hat vielleicht in noch höherem Maße den Beitrag der Philosophie nötig. Denn im Neuen Bund ist das menschliche Leben viel weniger durch Vorschriften geregelt als im Alten Bund. Das Leben im Heiligen Geist führt die Glaubenden zu einer Freiheit und Verantwortlichkeit, die über das Gesetz selbst hinausgehen. Immerhin stellen das Evangelium und die apostolischen Schriften sowohl allgemeine Prinzipien christlicher Lebensführung als auch gewissenhafte Lehren und Gebote auf. Um sie auf die besonderen Verhältnisse des Lebens des einzelnen und der Gesellschaft anzuwenden, muss der Christ imstande sein, sein Gewissen und seine Denkkraft bis zum Äußersten einzusetzen. Das heißt mit anderen Worten, die Moraltheologie muss sich einer richtigen philosophischen Sicht sowohl von der menschlichen Natur und Gesellschaft wie von den allgemeinen Prinzipien einer sittlichen Entscheidung bedienen.
69. Man mag vielleicht einwenden, dass sich der Theologe in der gegenwärtigen Situation weniger der Philosophie als vielmehr der Hilfe anderer Formen des menschlichen Wissens bedienen sollte, wie der Geschichte und vor allem der Naturwissenschaften, deren jüngste außergewöhnliche Entwicklungen alle bewundern. Andere dagegen vertreten infolge einer gesteigerten Sensibilität für die Beziehung zwischen Glaube und Kultur die Ansicht, die Theologie sollte sich statt einer Philosophie griechischen und eurozentrischen Ursprungs lieber den traditionellen Weisheitsformen zuwenden. Wieder andere leugnen, von einer falschen Vorstellung des Pluralismus der Kulturen ausgehend, schlechthin den universalen Wert des von der Kirche empfangenen philosophischen Erbes. Diese hier angeführten Ansichten, die uns unter anderem bereits in der Lehre des Konzils begegnen,<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 15; Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, 22. </ref> sind teilweise wahr. Die Bezugnahme auf die Naturwissenschaften ist in vielen Fällen nützlich, weil sie eine vollständigere Kenntnis des Forschungsobjektes ermöglicht; sie darf jedoch nicht die notwendige Vermittlung einer typisch philosophischen, kritischen und Allgemeingültigkeit anstrebenden Reflexion in Vergessenheit geraten lassen, die im übrigen von einem fruchtbaren Austausch zwischen den Kulturen gefordert wird. Was ich dringend unterstreichen möchte, ist die Verpflichtung, nicht beim konkreten Einzelfall stehenzubleiben und damit die vorrangige Aufgabe zu vernachlässigen, die darin besteht, den universalen Charakter des Glaubensinhaltes aufzuzeigen. Zudem darf man nicht vergessen, dass es der besondere Beitrag des philosophischen Denkens erlaubt, sowohl in den verschiedenen Lebensauffassungen wie in den Kulturen zu erkennen, »nicht was die Menschen denken, sondern welches die objektive Wahrheit ist«.<ref> Hl. Thomas von Aquin, De Caelo, 1, 22. </ref> Nicht die verschiedenen menschlichen Meinungen, sondern allein die Wahrheit kann für die Theologie hilfreich sein.
70. Das Thema der Beziehung zu den Kulturen verdient eine spezielle, wenn auch notgedrungen nicht erschöpfende Überlegung wegen der von dort herrührenden Implikationen sowohl im philosophischen wie im theologischen Bereich. Der Prozeß der Begegnung und Auseinandersetzung mit den Kulturen ist eine Erfahrung, welche die Kirche von den Anfängen der Verkündigung des Evangeliums an erlebt hat. Das Gebot Christi an die Jünger, überall hinzugehen, »bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1, 8), um die von ihm geoffenbarte Wahrheit weiterzugeben, hat die Christengemeinde in die Lage versetzt, schon sehr bald die Allgemeingültigkeit der Verkündigung und die aus der Verschiedenheit der Kulturen entstehenden Hindernisse festzustellen. Ein Abschnitt aus dem Brief des hl. Paulus an die Christen von Ephesus bietet eine gute Hilfe, um zu verstehen, wie die Urgemeinde an dieses Problem herangegangen ist. Der Apostel schreibt: »Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, durch Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen. Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riß durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder« (2, 13-14).
Im Lichte dieses Textes dehnt sich unsere Überlegung auf den Wandel aus, der sich in den Heiden ereignet hat, die einst zum Glauben gelangt sind. Angesichts der Fülle des von Christus vollbrachten Heils fallen die trennenden Wände zwischen den verschiedenen Kulturen. Die Verheißung Gottes wird nun in Christus zu einem Angebot für alle: sie ist nicht mehr auf die Eigenart eines Volkes, seiner Sprache und seiner Bräuche beschränkt, sondern wird als Schatz, aus dem jeder frei schöpfen kann, auf alle ausgedehnt. Von verschiedenen Orten und Traditionen sind alle in Christus dazu berufen, an der Einheit der Familie der Kinder Gottes teilzuhaben. Christus erlaubt den beiden Völkern »eins« zu werden. Jene, die »in der Ferne« waren, sind dank des vom Ostergeheimnis gewirkten Neuen »in die Nähe gekommen«. Jesus reißt die trennenden Wände nieder und vollzieht auf einzigartige und erhabene Weise die Vereinigung durch die Teilhabe an seinem Geheimnis. Diese Einheit ist so tief, dass die Kirche mit dem hl. Paulus sagen kann: »Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes« (Eph 2, 19).
In einem so einfachen Satz wird eine großartige Wahrheit beschrieben: Die Begegnung des Glaubens mit den verschiedenen Kulturen hat tatsächlich eine neue Wirklichkeit ins Leben gerufen. Wenn die Kulturen tief im Humanen verwurzelt sind, tragen sie das Zeugnis der typischen Öffnung des Menschen für das Universale und für die Transzendenz in sich. Deshalb stehen sie als verschiedene Annäherungen an die Wahrheit da; diese stellen sich als zweifellos nützlich für den Menschen heraus, den sie auf Werte hinweisen, die sein Dasein immer menschlicher machen können.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 53-59. </ref> Insofern sich dann die Kulturen auf die Werte der antiken Überlieferungen berufen, enthalten sie — zwar unausgesprochen, deshalb aber nicht weniger real — den Bezug auf das Sich-Offenbaren Gottes in der Natur, wie wir vorher bei der Besprechung der Weisheitstexte und der Lehre des hl. Paulus gesehen haben.
71. Da die Kulturen in enger Beziehung zu den Menschen und ihrer Geschichte stehen, teilen sie dieselben dynamischen Kräfte, mit denen sich die menschliche Zeit Ausdruck verschafft. Demzufolge sind Veränderungen und Fortschritte zu verzeichnen, die auf den Begegnungen der Menschen miteinander und auf ihrem gegenseitigen Austausch über ihre Lebensmodelle beruhen. Die Kulturen nähren sich aus der Mitteilung von Werten, und ihre Lebenskraft und ihr Bestand rührt von der Fähigkeit her, offen zu bleiben für die Aufnahme des Neuen. Welche Erklärung gibt es für diese dynamischen Kräfte? Jeder Mensch ist in eine Kultur verflochten, hängt von ihr ab und beeinflußt sie. Er ist zugleich Kind und Vater der Kultur, in der er eingebunden ist. In jeder seiner Lebensäußerungen trägt er etwas mit sich, was ihn aus der Schöpfung heraushebt: seine ständige Offenheit für das Geheimnis und sein unerschöpfliches Verlangen nach Erkenntnis. Infolgedessen trägt jede Kultur das Prägemal der auf eine Vollendung hin gerichtete Spannung an sich und läßt sie durchscheinen. Man kann daher sagen, die Kultur hat die Möglichkeit in sich, die göttliche Offenbarung anzunehmen.
Die Art und Weise, wie die Christen den Glauben leben, ist auch durchdrungen von der Kultur ihrer Umgebung und trägt ihrerseits dazu bei, fortlaufend deren Wesensmerkmale zu gestalten. Die Christen bringen in jede Kultur die von Gott in der Geschichte und in der Kultur eines Volkes geoffenbarte, unwandelbare Wahrheit von Gott ein. So pflanzt sich im Laufe der Jahrhunderte das Ereignis immer weiter fort, dessen Zeugen die am Pfingsttag in Jerusalem anwesenden Pilger waren. Als sie den Aposteln zuhörten, fragten sie sich: »Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden« (Apg 2, 7-11). Die Verkündigung des Evangeliums in den verschiedenen Kulturen verlangt von den einzelnen Empfängern das Festhalten am Glauben; sie hindert die Empfänger aber nicht daran, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Das erzeugt keine Spaltung, weil sich das Volk der Getauften durch eine Universalität auszeichnet, die jede Kultur aufnehmen kann, wodurch die Weiterentwicklung des in ihr implizit Vorhandenen hin zu seiner vollen Entfaltung in der Wahrheit begünstigt wird.
Die Schlussfolgerung daraus ist, dass eine Kultur niemals zum Urteilskriterium und noch weniger zum letzten Wahrheitskriterium gegenüber der Offenbarung Gottes werden kann. Das Evangelium steht nicht im Gegensatz zu dieser oder jener Kultur, als wollte es ihr bei der Begegnung mit ihr das aberkennen, was zu ihr gehört, und sie zur Annahme äußerer Formen nötigen, die nicht zu ihr passen. Im Gegenteil, die Verkündigung, die der Gläubige in die Welt und in die Kulturen trägt, ist eine wirkliche Form der Befreiung von jeder durch die Sünde eingeführten Unordnung und zugleich Aufruf zur vollen Wahrheit. Bei dieser Begegnung wird den Kulturen nichts aberkannt; sie werden sogar ermuntert, sich dem Neuen zu öffnen, das die Wahrheit des Evangeliums enthält, um daraus Ansporn zu weiteren Entwicklungen zu gewinnen.
72. Der Umstand, dass die Evangelisierung auf ihrem Weg zunächst der griechischen Philosophie begegnete, ist keineswegs ein Hinweis darauf, dass andere Wege der Annäherung ausgeschlossen wären. In unserer heutigen Zeit, in der das Evangelium nach und nach mit Kulturräumen in Berührung kommt, die sich bisher außerhalb des Verbreitungsbereiches des Christentums befunden hatten, eröffnen sich für die Inkulturation neue Aufgaben. Unserer Generation stellen sich ähnliche Probleme, wie sie die Kirche in den ersten Jahrhunderten zu bewältigen hatte.
Meine Gedanken gehen spontan zu den Ländern des Orients, die so reich an sehr alten religiösen und philosophischen Überlieferungen sind. Unter ihnen nimmt Indien einen besonderen Platz ein. Ein großartiger geistiger Aufschwung führt das indische Denken zur Suche nach einer Erfahrung, die dadurch, dass sie den Geist von den durch Zeit und Raum gegebenen Bedingtheiten befreit, Absolutheitswert hat. Im Dynamismus dieser Suche nach Befreiung finden sich große metaphysische Systeme.
Den Christen von heute, vor allem jenen in Indien, fällt die Aufgabe zu, aus diesem reichen Erbe die Elemente zu entnehmen, die mit ihrem Glauben vereinbar sind, so dass es zu einer Bereicherung des christlichen Denkens kommt. Für diese Unterscheidungsarbeit, zu der die Konzilserklärung Nostra aetate Anregung bietet, sollen sie eine Reihe von Kriterien berücksichtigen. Das erste ist die Universalität des menschlichen Geistes, dessen Grundbedürfnisse in den verschiedenen Kulturen identisch sind. Das zweite Kriterium, das sich aus dem ersten ergibt, besteht in Folgendem: Wenn die Kirche mit großen Kulturen in Kontakt tritt, mit denen sie vorher noch nicht in Berührung gekommen war, darf sie sich nicht von dem trennen, was sie sich durch die Inkulturation ins griechisch-lateinische Denken angeeignet hat. Der Verzicht auf ein solches Erbe würde dem Vorsehungsplan Gottes zuwiderlaufen, der seine Kirche die Straßen der Zeit und der Geschichte entlangführt. Dieses Kriterium gilt übrigens für die Kirche jeder Epoche, auch für die Kirche von morgen, die sich durch die in der heutigen Annäherung an die orientalischen Kulturen gewonnenen Errungenschaften bereichert fühlen wird. Sie wird in diesem Erbe neue Hinweise finden, um in einen fruchtbaren Dialog mit jenen Kulturen einzutreten, welche die Menschheit auf ihrem Weg in die Zukunft zum Erblühen bringen können. Drittens soll man sich davor hüten, den legitimen Anspruch des indischen Denkens auf Besonderheit und Originalität mit der Vorstellung zu verwechseln, eine kulturelle Tradition müsse sich in ihr Verschiedensein einkapseln und sich in ihrer Gegensätzlichkeit zu den anderen Traditionen behaupten; dies würde dem Wesen des menschlichen Geistes widersprechen.
Was hier für Indien gesagt wird, gilt auch für das Erbe, das die großen Kulturen Chinas, Japans und der anderen Länder Asiens sowie der Reichtum der vor allem mündlich überlieferten traditionellen Kulturen Afrikas enthalten.
73. Im Lichte dieser Überlegungen wird die Beziehung, die sich zwischen Theologie und Philosophie anbahnen soll, in Form einer Kreisbewegung erfolgen. Für die Theologie wird das in der Geschichte geoffenbarte Wort Gottes stets Ausgangspunkt und Quelle sein, während das letzte Ziel nur das in der Aufeinanderfolge der Generationen nach und nach vertiefte Verständnis des Gotteswortes sein kann. Da andererseits das Wort Gottes Wahrheit ist (vgl. Joh 17, 17), muss zu seinem besseren Verständnis die menschliche Suche nach der Wahrheit, das heißt das unter Respektierung der ihm eigenen Gesetze entwickelte Philosophieren, nutzbar gemacht werden. Dabei handelt es sich nicht einfach darum, in der theologischen Argumentation den einen oder anderen Begriff oder Bruchstücke eines philosophischen Gefüges zu verwenden; entscheidend ist, dass bei der Suche nach dem Wahren innerhalb einer Bewegung, die sich, ausgehend vom Wort Gottes, um dessen besseres Verständnis bemüht, die Vernunft des Glaubenden ihre Denkfähigkeiten einsetzt. Im übrigen ist klar, dass die Vernunft, wenn sie sich innerhalb dieser beiden Pole — Wort Gottes und sein besseres Verständnis — bewegt, gleichsam darauf hingewiesen, ja in gewisser Weise dazu angehalten wird, Wege zu meiden, die sie außerhalb der geoffenbarten Wahrheit und letzten Endes außerhalb der reinen, einfachen Wahrheit führen würden; sie wird sogar angespornt, Wege zu erforschen, von denen sie von sich aus nicht einmal vermutet hätte, sie je einschlagen zu können. Aus diesem Verhältnis zum Wort Gottes in Form der Kreisbewegung geht die Philosophie bereichert hervor, weil die Vernunft neue und unerwartete Horizonte entdeckt.
74. Den Beweis für die Fruchtbarkeit einer solchen Beziehung liefert die persönliche Geschichte großer christlicher Theologen, die sich auch als große Philosophen auszeichneten und Schriften von so hohem spekulativen Wert hinterließen, dass sie mit Recht neben die Meister der antiken Philosophie gestellt werden können. Das gilt sowohl für die Kirchenväter, von denen wenigstens die Namen des hl. Gregor von Nazianz und des hl. Augustinus genannt seien, als auch für die mittelalterlichen Gelehrten mit dem großen Dreigestirn hl. Anselm, hl. Bonaventura und hl. Thomas von Aquin. Die fruchtbare Beziehung zwischen der Philosophie und dem Wort Gottes schlägt sich auch in der mutigen Forschung nieder, die von einigen jüngeren Denkern geleistet wurde. Unter ihnen möchte ich für den westlichen Bereich Persönlichkeiten nennen wie John Henry Newman, Antonio Rosmini, Jacques Maritain, Étienne Gilson und Edith Stein. Aus dem östlichen Bereich sind Gelehrte wie Vladimir S. Solov'ev, Pavel A. Florenskij, Petr J. Tschaadaev und Vladimir N. Lossky zu erwähnen. Wenn ich mich auf diese Autoren berufe, neben denen noch andere Namen stehen könnten, möchte ich natürlich nicht alle Gesichtspunkte ihres Denkens bestätigen, sondern lediglich sprechende Beispiele eines philosophischen Forschungsweges vorstellen, der aus der Auseinandersetzung mit den Vorgaben des Glaubens beachtenswerte Vorteile gezogen hat. Eines ist sicher: Die Beachtung des geistlichen Weges dieser Lehrmeister muss dem Fortschritt in der Suche nach Wahrheit und in der Nutzbarmachung der erzielten Ergebnisse zum Wohl der Menschen dienen. Es bleibt zu hoffen, dass diese große philosophisch-theologische Tradition heute und in Zukunft zum Wohl der Kirche und der Menschheit ihre Fortsetzer und Verehrer finden möge.
Verschiedene Standorte der Philosophie (75-79)
75. Wie sich aus der oben kurz angedeuteten Geschichte der Beziehungen von Glaube und Philosophie ergibt, lassen sich verschiedene Standorte der Philosophie in bezug auf den christlichen Glauben unterscheiden. Da ist zuerst der Status der von der Offenbarung des Evangeliums völlig unabhängigen Philosophie: Gemeint ist die Philosophie, wie sie geschichtlich in den der Geburt des Erlösers vorausgehenden Epochen und danach in den vom Evangelium noch nicht erreichten Regionen Gestalt angenommen hat. In dieser Situation bekundet die Philosophie das legitime Bestreben, eine Unternehmung zu sein, die autonom ist; das heißt: sie geht nach ihren eigenen Gesetzen vor und bedient sich ausschließlich der Kräfte der Vernunft. Dieses Bestreben muss man unterstützen und stärken, auch wenn man sich der schwerwiegenden, durch die angeborene Schwäche der menschlichen Vernunft bedingten Grenzen bewußt ist. Denn das philosophische Engagement als Suche nach der Wahrheit im natürlichen Bereich bleibt zumindest implizit offen für das Übernatürliche. Mehr noch: Auch dann, wenn sich die theologische Argumentation philosophischer Begriffe und Argumente bedient, muss der Anspruch auf die rechte Autonomie des Denkens respektiert werden. Denn die nach strengen Vernunftkriterien entwickelte Argumentation ist Gewähr für das Erreichen allgemeingültiger Ergebnisse. Auch hier erfüllt sich das Prinzip, wonach die Gnade die Natur nicht zerstört, sondern vervollkommnet: Die Glaubenszustimmung, die den Verstand und den Willen verpflichtet, zerstört nicht die Willensfreiheit eines jeden Glaubenden, der das Geoffenbarte in sich aufnimmt, sondern vervollkommnet sie.
Von diesem korrekten Anspruch weicht ganz klar die Theorie von der sogenannten »getrennten« Philosophie ab, wie sie von einigen modernen Philosophen vertreten wird. Über die Bejahung der berechtigten Autonomie hinaus fordert sie eine Unabhängigkeit des Denkens, die sich klar als unzulässig erweist: Die aus der göttlichen Offenbarung kommenden Beiträge zur Wahrheit abzulehnen, bedeutet nämlich, sich zum Schaden der Philosophie den Zugang zu einer tieferen Wahrheitserkenntnis zu versperren.
76. Ein zweiter Standort der Philosophie ist jener, den viele mit dem Ausdruck christliche Philosophie bezeichnen. Die Bezeichnung ist an und für sich zulässig, darf aber nicht mißverstanden werden: Es wird damit nicht beabsichtigt, auf eine offizielle Philosophie der Kirche anzuspielen, da ja der Glaube an sich keine Philosophie ist. Vielmehr soll mit dieser Bezeichnung auf ein christliches Philosophieren, auf eine in lebendiger Verbundenheit mit dem Glauben konzipierte philosophische Spekulation hingewiesen werden. Man bezieht sich dabei also nicht einfach auf eine Philosophie, die von christlichen Philosophen erarbeitet wurde, die in ihrer Forschung dem Glauben nicht widersprochen haben. Wenn von christlicher Philosophie die Rede ist, will man damit alle jene bedeutenden Entwicklungen des philosophischen Denkens erfassen, die sich ohne den direkten oder indirekten Beitrag des christlichen Glaubens nicht hätten verwirklichen lassen.
Es gibt daher zwei Aspekte der christlichen Philosophie: einen subjektiven, der in der Läuterung der Vernunft durch den Glauben besteht. Als göttliche Tugend befreit er die Vernunft von der typischen Versuchung zur Anmaßung, der die Philosophen leicht erliegen. Schon der hl. Paulus, die Kirchenväter und Philosophen wie Pascal und Kierkegaard, die uns zeitlich näher sind, haben sie gebrandmarkt. Mit der Demut gewinnt der Philosoph auch den Mut, sich mit manchen Problemen auseinanderzusetzen, die er ohne Berücksichtigung der von der Offenbarung empfangenen Erkenntnisse kaum lösen könnte. Man denke zum Beispiel an die Probleme des Bösen und des Leides, an die Identität eines persönlichen Gottes und an die Frage nach dem Sinn des Lebens oder, direkter, an die radikale metaphysische Frage: »Warum gibt es etwas?«.
Daneben steht der objektive Aspekt, der die Inhalte betrifft: die Offenbarung legt klar und deutlich einige Wahrheiten vor, die von der Vernunft, obwohl sie ihr natürlich nicht unzugänglich sind, vielleicht niemals entdeckt worden wären, wenn sie sich selbst überlassen geblieben wäre. In diesem Blickfeld liegen Fragen wie der Begriff eines freien und schöpferischen persönlichen Gottes, der für die Entwicklung des philosophischen Denkens und insbesondere für die Philosophie des Seins so große Bedeutung gehabt hat. In diesen Bereich gehört auch die Realität der Sünde, wie sie im Lichte des Glaubens erscheint, der hilft, das Problem des Bösen in geeigneter Weise philosophisch anzugehen. Auch die Auffassung von der Person als geistiges Wesen ist eine besondere Eigenart des Glaubens: Die christliche Botschaft von der Würde, der Gleichheit und der Freiheit der Menschen hat sicher das philosophische Denken beeinflußt, das die Modernen vollzogen haben. Als Beispiel, das unserer Zeit näher ist, kann man die Entdeckung der Bedeutung des geschichtlichen Ereignisses für die Philosophie erwähnen, das die Mitte der christlichen Offenbarung bildet. Nicht zufällig ist es zur Grundlage einer Geschichtsphilosophie geworden, das sich als ein neues Kapitel der menschlichen Suche nach der Wahrheit darstellt. Zu den objektiven Elementen der christlichen Philosophie gehört auch die Notwendigkeit, die Vernünftigkeit mancher von der Heiligen Schrift ausgesprochenen Wahrheiten zu erforschen, wie die Möglichkeit einer übernatürlichen Berufung des Menschen und eben auch die Erbsünde. Das sind Aufgaben, welche die Vernunft veranlassen anzuerkennen, dass es Wahres und Vernünftiges außerhalb der engen Grenzen gibt, in die sich einzuschließen sie geneigt wäre. Diese Themen erweitern tatsächlich den Bereich des Vernünftigen.
Im Nachdenken über diese Inhalte sind die Philosophen nicht Theologen geworden; denn sie haben nicht versucht, die Glaubenswahrheiten von der Offenbarung her zu verstehen und zu deuten. Sie setzten die Arbeit auf ihrem eigenen Gebiet und mit ihrer rein rationalen Methode fort, dehnten aber ihre Untersuchung auf neue Bereiche des Wahren aus. Man kann sagen, dass es ohne diesen stimulierenden Einfluß des Wortes Gottes einen beachtlichen Teil der modernen und zeitgenössischen Philosophie gar nicht gäbe. Der Befund bewahrt seine ganze Bedeutung auch angesichts der enttäuschenden Feststellung, dass nicht wenige Denker dieser letzten Jahrhunderte die christliche Rechtgläubigkeit aufgegeben haben.
77. Ein weiterer bedeutsamer Standort der Philosophie ergibt sich, wenn die Theologie selbst die Philosophie hineinzieht. In Wirklichkeit hat die Theologie immer den philosophischen Beitrag gebraucht. Sie braucht ihn auch weiterhin. Da die theologische Arbeit ein Werk der kritischen Vernunft im Lichte des Glaubens ist, ist für sie bei ihrem ganzen Forschen eine in begrifflicher und argumentativer Hinsicht erzogene und ausgebildete Vernunft Voraussetzung und Forderung. Darüber hinaus braucht die Theologie die Philosophie als Gesprächspartnerin, um die Verständlichkeit und allgemeingültige Wahrheit ihrer Aussagen festzustellen. Nicht zufällig wurden von den Kirchenvätern und von den mittelalterlichen Theologen nichtchristliche Philosophien für diese Erklärungsfunktion übernommen. Diese historische Tatsache weist auf den Wert der Autonomie hin, den die Philosophie auch in diesem dritten Standort bewahrt, zeigt aber zugleich die notwendigen und tiefgreifenden Veränderungen auf, die sie auf sich nehmen muss.
Ganz im Sinne eines unerläßlichen und vortrefflichen Beitrags wurde die Philosophie seit der Väterzeit ancilla theologiae genannt. Der Beiname wurde nicht verwendet, um eine sklavische Unterwerfung oder eine rein funktionale Rolle der Philosophie gegenüber der Theologie zu bezeichnen. Er wurde vielmehr in dem Sinne gebraucht, in dem Aristoteles von den Erfahrungswissenschaften als »Mägden« der »ersten Philosophie« sprach. Der Ausdruck, der heute wegen der oben angeführten Autonomieprinzipien schwer anwendbar ist, diente im Laufe der Geschichte dazu, auf die Notwendigkeit der Beziehung zwischen den beiden Wissenschaften und auf die Unmöglichkeit ihrer Trennung hinzuweisen.
Würde sich der Theologe weigern, von der Philosophie Gebrauch zu machen, liefe er Gefahr, ohne sein Wissen Philosophie zu treiben und sich in Denkstrukturen einzuschließen, die dem Glaubensverständnis wenig angemessen sind. Der Philosoph wiederum würde sich, wenn er jeden Kontakt mit der Theologie ausschlösse, verpflichtet fühlen, sich eigenständig der Inhalte des christlichen Glaubens zu bemächtigen, wie das bei einigen modernen Philosophen der Fall war. Im einen wie im anderen Fall würde sich die Gefahr der Zerstörung der Grundprinzipien der Autonomie ergeben, deren Garantie jede Wissenschaft mit Recht für sich fordert. Der hier besprochene Status der Philosophie steht wegen der Implikationen, die er im Verständnis der Offenbarung mit sich bringt, zusammen mit der Theologie unmittelbarer unter der Autorität des Lehramtes und seiner Prüfung; dies habe ich vorher dargelegt. Denn aus der Glaubenswahrheit ergeben sich bestimmte Forderungen, welche die Philosophie in dem Augenblick respektieren muss, wo sie mit der Theologie in Verbindung tritt.
78. Im Lichte dieser Überlegungen wird es wohl verständlich, warum das Lehramt wiederholt die Verdienste des Denkens des hl. Thomas gelobt und ihn als führenden Lehrmeister und Vorbild für das Theologiestudium herausgestellt hat. Es war dem Lehramt weder daran gelegen, zu eigentlich philosophischen Fragen Stellung zu nehmen noch die Zustimmung zu besonderen Auffassungen aufzuerlegen. Die Absicht des Lehramtes war und ist es weiterhin zu zeigen, dass der hl. Thomas ein authentisches Vorbild für alle ist, die nach der Wahrheit suchen. Denn in seinem Denken haben der Anspruch der Vernunft und die Kraft des Glaubens zur höchsten Zusammenschau gefunden, zu der das Denken je gelangt ist. Er hat es verstanden, das radikal Neue, das die Offenbarung gebracht hat, zu verteidigen, ohne je den typischen Weg der Vernunft zu demütigen.
79. Mit einer weiteren ausführlichen Darlegung der Inhalte des bisherigen Lehramtes möchte ich in diesem letzten Teil einige Forderungen aufzeigen, die heute die Theologie — und zuvor noch das Wort Gottes — an das philosophische Denken und die modernen Philosophien stellt. Wie ich bereits hervorgehoben habe, muss der Philosoph nach eigenen Regeln vorgehen und sich auf seine eigenen Prinzipien stützen; die Wahrheit kann jedoch nur eine sein. Die Offenbarung mit ihren Inhalten wird niemals die Vernunft bei ihren Entdeckungen und in ihrer legitimen Autonomie unterdrücken können; umgekehrt wird jedoch die Vernunft in dem Bewußtsein, sich nicht zu absoluter und ausschließlicher Gültigkeit erheben zu können, nie ihre Fähigkeit verlieren dürfen, sich fragen zu lassen und zu fragen. Indem die geoffenbarte Wahrheit von dem Glanz her, der von dem subsistenten Sein selbst ausgeht, volle Erhellung über das Sein gewährt, wird sie den Weg der philosophischen Reflexion erleuchten. Die christliche Offenbarung wird somit zum eigentlichen Ansatz- und Vergleichspunkt zwischen philosophischem und theologischem Denken, die zueinander in einer Wechselbeziehung stehen. Daher ist es wünschenswert, dass sich Theologen und Philosophen von der einzigen Autorität der Wahrheit leiten lassen und eine Philosophie erarbeiten, die im Einklang mit dem Wort Gottes steht. Diese Philosophie wird der Boden für die Begegnung zwischen den Kulturen und dem christlichen Glauben sein, der Ort der Verständigung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden. Sie wird hilfreich sein, damit sich die Gläubigen aus nächster Nähe davon überzeugen, dass die Tiefe und Unverfälschtheit des Glaubens gefördert wird, wenn er sich mit dem Denken verbindet und nicht darauf verzichtet. Und wieder ist es die Lehre der Kirchenväter, die uns zu dieser Überzeugung führt: »Dasselbe glauben ist nichts anderes als zustimmend denken [...]. Jeder, der glaubt, denkt; wenn er glaubt, denkt er, und wenn er denkt, glaubt er [...]. Wenn der Glaube nicht gedacht wird, ist er nichts«.<ref> Hl. Augustinus, De praedestinatione sanctorum, 2, 5: PL 44, 963. </ref> Und an anderer Stelle heißt es: »Wenn einer die Zustimmung aufgibt, gibt er den Glauben auf, denn ohne Zustimmung glaubt man überhaupt nicht«.<ref> Ders., De fide, spe et caritate, 7: CCL 64, 61. </ref>
KAPITEL VII: AKTUELLE FORDERUNGEN UND AUFGABEN
Die unverzichtbaren Forderungen des Wortes Gottes (80-91)
80. Die Heilige Schrift enthält sowohl in expliziter wie impliziter Form eine Reihe von Elementen, die uns zu einem Menschenbild und einer Weltsicht von beträchtlicher philosophischer Stärke gelangen lassen. Die Christen wurden sich allmählich des in heiligen Büchern enthaltenen Reichtums bewußt. Aus jenen Seiten ergibt sich, dass die Wirklichkeit, die wir erfahren, nicht das Absolute ist: sie ist weder ungeschaffen noch ist sie sich selbst geschaffen. Nur Gott ist das Absolute. Aus den Seiten der Bibel geht außerdem eine Sicht vom Menschen als imago Dei, Abbild Gottes, hervor, die genaue Hinweise auf sein Sein, seine Freiheit und die Unsterblichkeit seiner Seele enthält. Da die geschaffene Welt sich nicht selbst genügt, führt jede Illusion von Autonomie, welche die wesentliche Abhängigkeit übersieht, in der jedes Geschöpf — einschließlich der Mensch — vor Gott steht, zu Konflikten, welche die rationale Suche nach der Harmonie und dem Sinn des menschlichen Daseins zunichte machen.
Auch das Problem des sittlich Bösen — die tragischste Form des Bösen — wird in der Bibel aufgegriffen, die uns sagt, dass es nicht auf irgendeinen durch die Materie bedingten Mangel zurückzuführen ist, sondern auf eine Wunde, die von einem ungeordneten Sich-Äußern der menschlichen Freiheit herrührt. Schließlich zeigt das Wort Gottes das Problem auf, welchen Sinn das Dasein hat, und enthüllt seine Antwort, indem es den Menschen auf Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, hinweist, der das menschliche Dasein im Vollsinn verwirklicht. Weitere Aspekte lieben sich aus der Lektüre des heiligen Textes verdeutlichen; jedenfalls ergibt sich daraus die Zurückweisung jeder Form von Relativismus, Materialismus und Pantheismus.
Die Grundüberzeugung dieser in der Bibel enthaltenen »Philosophie« besteht darin, dass das menschliche Leben und die Welt einen Sinn haben und auf ihre Vollendung hin ausgerichtet sind, die sich in Jesus Christus erfüllt. Das Geheimnis der Menschwerdung wird immer der Mittelpunkt bleiben, auf den man sich beziehen muss, um das Rätsel vom menschlichen Dasein, der geschaffenen Welt und von Gott selber begreifen zu können. In diesem Geheimnis liegen extreme Herausforderungen für die Philosophie, weil die Vernunft aufgerufen ist, sich eine Logik zu eigen zu machen, welche die Schranken niederreißt, hinter denen sie sich zu verschanzen droht. Erst hier jedoch erreicht der Sinn des Daseins seinen Höhepunkt. Denn es wird das innerste Wesen Gottes und des Menschen verständlich: Im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes werden göttliche und menschliche Natur in ihrer je eigenen Autonomie bewahrt, und zugleich offenbart sich ein einziges Band, das sie unvermischt in gegenseitige Beziehung setzt.<ref> Vgl. Konzil von Chalkedon, Symbolum, Definitio: DS 302. </ref>
81. Wir müssen feststellen, dass eines der gewichtigsten Fakten in unserer derzeitigen Situation in der »Sinnkrise« besteht. Die häufig wissenschaftlich geprägten Ansichten über Leben und Welt haben eine derartige Vermehrung erfahren, dass wir wirklich erleben, wie das Phänomen der Bruchstückhaftigkeit des Wissens um sich greift. Genau das macht die Suche nach einem Sinn schwierig und oft vergeblich. Noch dramatischer ist es, dass sich in diesem wirren Geflecht aus Daten und Fakten, zwischen denen man lebt und die den eigentlichen Gang des Daseins auszumachen scheinen, nicht wenige fragen, ob es überhaupt noch sinnvoll sei, eine Sinnfrage zu stellen. Die Mehrzahl der um eine Antwort streitenden Theorien bzw. die unterschiedlichen Sicht- und Interpretationsweisen in bezug auf die Welt und das Leben des Menschen verschärfen nur diesen radikalen Zweifel, der leicht auf einen Zustand des Skeptizismus und der Gleichgültigkeit oder auf die verschiedenen Äußerungen des Nihilismus hinausläuft.
Als Folge davon wird der menschliche Geist von einem zweideutigen Denken vereinnahmt, das ihn veranlaßt, sich noch mehr in sich selbst, in die Grenzen seiner Immanenz zu verschließen, ohne irgendeinen Bezug zur Transzendenz zu haben. Eine Philosophie, die nicht mehr die Frage nach dem Sinn des Daseins stellt, würde ernsthaft Gefahr laufen, die Vernunft zu rein instrumentalen Funktionen zu degradieren, ohne jegliche echte Leidenschaft für die Suche nach der Wahrheit. Um sich in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes zu befinden, muss die Philosophie vor allem ihre Weisheitsdimension wiederfinden, die in der Suche nach dem letzten und umfassenden Sinn des Lebens besteht. Wenn man es recht betrachtet, stellt diese erste Forderung für die Philosophie einen sehr nützlichen Ansporn dazu dar, ihrem eigentlichen Wesen gerecht zu werden. Denn wenn sie das tut, wird sie nicht nur die entscheidende kritische Instanz sein, die die verschiedenen Seiten des wissenschaftlichen Wissens auf ihre Zuverlässigkeit und ihre Grenzen hinweist, sondern sie wird sich auch als letzte Instanz für die Einigung von menschlichem Wissen und Handeln erweisen, indem sie diese dazu veranlaßt, ein endgültiges Ziel und einen letzten Sinn anzustreben. Diese Weisheitsdimension ist heute um so unerläßlicher, weil die enorme Zunahme der technischen Macht der Menschheit ein erneuertes und geschärftes Bewußtsein für die letzten Werte verlangt. Sollten diese technischen Mittel ohne Hinordnung auf ein Ziel bleiben, das nicht bloß vom Nützlichkeitsstandpunkt her bestimmt wird, könnten sie sich sehr schnell als inhuman herausstellen, ja sich in potentielle Zerstörer des Menschengeschlechts verwandeln.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 15: AAS 71 (1979), 286-289. </ref>
Das Wort Gottes offenbart das letzte Ziel des Menschen und verleiht seinem Handeln in der Welt einen umfassenden Sinn. Deshalb lädt das Wort Gottes die Philosophie ein, sich für die Suche nach der natürlichen Grundlage dieses Sinnes einzusetzen; diese Grundlage besteht in der Religiosität, die jedem Menschen als Person eigen ist. Eine Philosophie, die die Möglichkeit eines letzten und umfassenden Sinnes leugnen wollte, wäre nicht nur unangemessen, sondern irrig.
82. Diese der Weisheit verpflichtete Rolle könnte allerdings nicht von einer Philosophie wahrgenommen werden, die nicht selbst echtes und wahres Wissen wäre; das heißt eine Philosophie, die nicht nur auf einzelne, bedingte — ob funktionale, formale oder utilitaristische — Aspekte des Wirklichen, sondern auf seine vollständige und endgültige Wahrheit, also auf das Sein des Erkenntnisgegenstandes selbst gerichtet ist. Daher gilt eine zweite Forderung: Überprüfung der Fähigkeit des Menschen, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen; eine Erkenntnis übrigens, die zur objektiven Wahrheit gelangt durch jene adaequatio rei et intellectus,<ref> Vgl. z.B. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I, 16, 1; Hl. Bonaventura, Coll. in Hex., 3, 8, 1. </ref> auf die sich die Gelehrten der Scholastik beziehen. Diese Forderung, die dem Glauben eigen ist, wurde vom II. Vatikanischen Konzil ausdrücklich neu bekräftigt: »Die Vernunft ist nämlich nicht auf die bloßen Phänomene eingeengt, sondern vermag geistig tiefere Strukturen der Wirklichkeit mit wahrer Sicherheit zu erreichen, wenn sie auch infolge der Sünde zum Teil verdunkelt und geschwächt ist«.<ref> Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 15. </ref>
Eine radikal phänomenalistische oder relativistische Philosophie würde sich als ungeeignet dafür erweisen, diese Hilfe zu leisten, wenn es um die Vertiefung der im Wort Gottes enthaltenen Fülle geht. Die Heilige Schrift setzt nämlich immer voraus, dass der Mensch, auch wenn er der Doppelzüngigkeit und Lüge schuldig ist, die reine und einfache Wahrheit zu erkennen und zu begreifen vermag. In den Heiligen Büchern und besonders im Neuen Testament finden sich Texte und Aussagen von wirklich ontologischer Tragweite. Die inspirierten Verfasser wollten nämlich wahre Aussagen formulieren, Aussagen also, welche die objektive Wirklichkeit ausdrücken sollten. Man kann nicht behaupten, die katholische Überlieferung habe einen Irrtum begangen, als sie einige Texte des hl. Johannes und des hl. Paulus als Aussagen über das Sein Christi selbst verstanden hat. Die Theologie braucht daher, wenn sie sich dem Verstehen und Erklären dieser Aussagen widmet, den Beitrag einer Philosophie, welche die Möglichkeit einer objektiv wahren, freilich immer vervollkommnungsfähigen Erkenntnis nicht leugnet. Das Gesagte gilt auch für die Urteile des sittlichen Gewissens, von denen die Heilige Schrift annimmt, dass sie objektiv wahr sein können.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), 57-61: AAS 85 (1993), 1179-1182. </ref>
83. Die beiden obengenannten Forderungen ziehen eine dritte nach sich: Erforderlich ist eine Philosophie von wahrhaft metaphysischer Tragweite; sie muss imstande sein, das empirisch Gegebene zu transzendieren, um bei ihrer Suche nach der Wahrheit zu etwas Absolutem, Letztem und Grundlegendem zu gelangen. Das ist eine selbstverständliche Forderung, die sowohl für die auf Grund der Weisheit wie auch für die auf analytischem Wege gewonnenen Erkenntnis Geltung hat; es ist im besonderen eine Forderung an die Erkenntnis des sittlich Guten, dessen letzter Grund das höchste Gut, Gott selber, ist. Ich spreche hier nicht von der Metaphysik als einer bestimmten Schule oder einer besonderen geschichtlichen Strömung. Ich möchte nur bekräftigen, dass die Wirklichkeit und die Wahrheit das Tatsächliche und Empirische übersteigen. Zudem will ich die Fähigkeit des Menschen geltend machen, diese transzendente und metaphysische Dimension wahrhaftig und sicher, wenngleich auf unvollkommene und analoge Weise, zu erkennen. So verstanden, darf die Metaphysik nicht als Alternative zur Anthropologie gesehen werden, gestattet es doch gerade die Metaphysik, dem Begriff von der Würde der Person, die auf ihrer geistigen Verfaßtheit fußt, eine Grundlage zu geben. Besonders die Person stellt einen bevorzugten Bereich dar für die Begegnung mit dem Sein und daher mit dem metaphysischen Denken.
Wo immer der Mensch einen Hinweis auf das Absolute und Transzendente entdeckt, öffnet sich für ihn ein Spalt zur metaphysischen Dimension des Wirklichen: in der Wahrheit, in der Schönheit, in den sittlichen Werten, in der Person des anderen, im Sein selbst, in Gott. Eine große Herausforderung, die uns am Ende dieses Jahrtausends erwartet, besteht darin, dass es uns gelingt, den ebenso notwendigen wie dringenden Übergang vom Phänomen zum Fundament zu vollziehen. Wir können unmöglich bei der bloßen Erfahrung stehenbleiben; auch wenn diese die Innerlichkeit des Menschen und seine Spiritualität ausdrückt und verdeutlicht, muss das spekulative Denken die geistliche Mitte und das sie tragende Fundament erreichen. Ein philosophisches Denken, das jede metaphysische Öffnung ablehnte, wäre daher völlig ungeeignet, im Verständnis der Offenbarung als Vermittlerin wirken zu können.
Das Wort Gottes nimmt ständig auf das Bezug, was die Erfahrung und sogar das Denken des Menschen übersteigt; aber dieses »Geheimnis« könnte weder enthüllt werden noch wäre die Theologie imstande, es auf irgendeine Weise verständlich zu machen,<ref> Vgl. I. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, IV: DS 3016. </ref> wenn die menschliche Erkenntnis streng auf die Welt der sinnlichen Erfahrung beschränkt wäre. Die Metaphysik stellt sich deshalb als bevorzugte Vermittlung in der theologischen Forschung dar. Einer Theologie ohne metaphysischen Horizont würde es nicht gelingen, über die Analyse der religiösen Erfahrung hinauszutreten; außerdem würde sie es dem intellectus fidei unmöglich machen, den universalen und transzendenten Wert der geoffenbarten Wahrheit auf kohärente Weise zum Ausdruck zu bringen.
Wenn ich so sehr auf der metaphysischen Komponente bestehe, dann deshalb, weil ich davon überzeugt bin, dass sie der unumgängliche Weg ist, um die Krisensituation, die heutzutage große Teile der Philosophie durchzieht, zu überwinden und auf diese Weise manche in unserer Gesellschaft verbreiteten abwegigen Verhaltensweisen zu korrigieren.
84. Die Bedeutung des metaphysischen Anspruchs wird noch offenkundiger, wenn man die heutige Entwicklung der hermeneutischen Wissenschaften und der verschiedenen Sprachanalysen unter die Lupe nimmt. Die Ergebnisse, zu welchen diese Forschungen gelangen, können für das Glaubensverständnis sehr nützlich sein, insofern sie die Struktur unseres Denkens und Sprechens und den in der Sprache enthaltenen Sinn deutlich machen. Es gibt jedoch Vertreter dieser Wissenschaften, die dazu neigen, in ihren Forschungen dabei stehenzubleiben, wie die Wirklichkeit zu verstehen und zu benennen ist, während sie davon absehen, die Möglichkeiten zu überprüfen, die der Vernunft eigen sind, um das Wesen der Wirklichkeit zu entdecken. Muß man in einer solchen Haltung nicht eine Bestätigung der Vertrauenskrise hinsichtlich der Fähigkeiten der Vernunft sehen, wie sie unsere Zeit durchmacht? Wenn sich dann auf Grund aprioristischer Annahmen diese Auffassungen dazu anschicken, die Glaubensinhalte zu verwischen oder ihre Allgemeingültigkeit zu leugnen, so unterdrücken sie nicht nur die Vernunft, sondern stellen sich selbst ins Abseits. Denn der Glaube setzt ganz klar voraus, dass die menschliche Sprache fähig ist, die göttliche und transzendente Wirklichkeit auf allgemeingültige Weise auszudrücken. Wenn die Worte auch analog gebraucht werden, so sind sie dennoch nicht weniger bedeutungsträchtig.<ref> Vgl. IV. Laterankonzil, De errore abbatis Ioachim, II: DS 806. </ref> Träfe dies nicht zu, würde das Wort Gottes, das immer göttliches Wort in menschlicher Sprache ist, nicht imstande sein, irgendetwas über Gott auszusagen. Die Auslegung dieses Wortes darf uns nicht nur von einer Interpretation auf die andere verweisen, ohne uns je dahin zu bringen, ihm eine schlichtweg wahre Aussage zu entnehmen; andernfalls gäbe es Offenbarung Gottes nicht, sondern nur die Formulierung menschlicher Auffassungen über Ihn und über das, was Er wahrscheinlich von uns denkt.
85. Ich bin mir wohl bewußt, dass diese vom Wort Gottes an die Philosophie gestellten Forderungen vielen, die die heutige Situation philosophischer Forschung erleben, schwierig erscheinen mögen. Ich greife deshalb auf, was die Päpste seit Generationen unaufhörlich lehren und was auch das II. Vatikanische Konzil bekräftigt hat, und möchte mit aller Deutlichkeit der Überzeugung Ausdruck geben, dass der Mensch imstande ist, zu einer einheitlichen und organischen Wissensschau zu gelangen. Das ist eine der Aufgaben, deren sich das christliche Denken im Laufe des nächsten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung wird annehmen müssen. Da die Bruchstückhaftigkeit des Wissens eine fragmentarische Annäherung an die Wahrheit mit der sich daraus ergebenden Sinnzersplitterung mit sich bringt, verhindert sie die innere Einheit des heutigen Menschen. Sollte sich die Kirche etwa nicht darüber Sorgen machen? Diese der Weisheit geltende Aufgabe erwächst den Bischöfen direkt aus dem Evangelium; sie können sich der Verpflichtung nicht entziehen, dieser Aufgabe nachzukommen. Ich meine, dass alle, die heute als Philosophen den Forderungen entsprechen wollen, die das Wort Gottes an das menschliche Denken stellt, ihre Argumentation auf der Grundlage dieser Postulate und in Kontinuität mit jener großen Tradition erarbeiten sollten, die bei den antiken Philosophen anfängt und über die Kirchenväter sowie die Meister der Scholastik führt, um schließlich die grundlegenden Errungenschaften des modernen und zeitgenössischen Denkens zu erfassen. Wenn der Philosoph aus dieser Tradition zu schöpfen und sich an ihr zu inspirieren vermag, wird er es nicht versäumen, sich als getreuer Anhänger des Autonomieanspruchs des philosophischen Denkens zu erweisen.
In diesem Sinne ist es um so bedeutsamer, dass im Zusammenhang mit unserer gegenwärtigen Situation einige Philosophen zu Initiatoren der Wiederentdeckung der entscheidenden Rolle werden, die der Überlieferung für eine richtige Erkenntnisform zukommt. Der Verweis auf die Tradition ist nämlich nicht bloß eine Erinnerung an die Vergangenheit; er stellt vielmehr die Anerkennung eines Kulturerbes dar, das der ganzen Menschheit gehört. Man könnte sogar sagen, wir gehören zur Tradition und können nicht einfach über sie verfügen, wie wir wollen. Gerade diese Einwurzelung in der Überlieferung erlaubt uns heute, ein originelles, neues und in die Zukunft weisendes Denken zum Ausdruck zu bringen. Dieser Hinweis gilt auch in hohem Maße für die Theologie — nicht nur, weil sie die lebendige Überlieferung der Kirche als Urquelle besitzt,<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 24; Dekret über die Priesterausbildung Optatam totius, 16. </ref> sondern auch weil sie dadurch fähig sein soll, sowohl die tiefe theologische Überlieferung, die die vorangegangenen Epochen geprägt hat, als auch die ununterbrochene philosophische Tradition zurückzugewinnen, die durch ihre wirkliche Weisheit die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden vermocht hat.
86. Das Bestehen auf der Notwendigkeit einer engen kontinuierlichen Beziehung des heutigen zu dem in der christlichen Tradition erarbeiteten philosophischen Denkens will der Gefahr zuvorkommen, die sich in manchen, heute besonders verbreiteten Denkrichtungen verbirgt. Ich halte es für angebracht, wenigstens kurz auf sie einzugehen, um ihre Irrtümer und die sich daraus für die philosophische Tätigkeit ergebenden Gefahren festzustellen.
Die erste dieser Denkrichtungen ist unter dem Namen Eklektizismus bekannt; ein Begriff, mit dem man die Haltung dessen bezeichnet, der in Forschung, Lehre und auch theologischer Argumentation einzelne, aus verschiedenen Philosophien stammende Ideen zu übernehmen pflegt, ohne sich um deren systematischen Zusammenhang und ihre Einbettung in einen geschichtlichen Kontext zu kümmern. Auf diese Weise gerät er in die Lage, den Wahrheitsanteil eines bestimmten Denkens nicht mehr von dem unterscheiden zu können, was an ihm möglicherweise irrtümlich oder unangemessen ist. Eine Extremform des Eklektizismus ist auch im rhetorischen Mißbrauch der philosophischen Begriffe erkennbar, der sich der eine oder andere Theologe bisweilen hingibt. Eine solche Instrumentalisierung dient nicht der Wahrheitssuche und erzieht weder die theologische noch die philosophische Vernunft zu ernsthafter, wissenschaftlicher Argumentation. Das konsequente und gründliche Studium der philosophischen Lehren, ihrer besonderen Sprache und des Umfeldes ihrer Entstehung hilft, die Gefahren des Eklektizismus zu überwinden, und erlaubt eine angemessene Integration dieser Lehren in die theologische Argumentation.
87. Der Eklektizismus ist ein methodischer Irrtum, könnte aber auch Auffassungen in sich bergen, die für den Historizismus typisch sind. Um eine Lehre aus der Vergangenheit richtig zu verstehen, muss man sie in ihren geschichtlichen und kulturellen Zusammenhang einordnen. Die Grundthese des Historizismus besteht hingegen darin, dass die Wahrheit einer Philosophie auf der Grundlage ihrer Angemessenheit für eine bestimmte Periode und eine bestimmte historische Aufgabe festgestellt wird. Auf diese Weise wird, wenigstens implizit, die ewige Gültigkeit des Wahren geleugnet. Was in einer Epoche wahr gewesen ist, so behauptet der Historist, braucht es in einer anderen Zeit nicht mehr zu sein. Die Geschichte des Denkens wird für ihn somit kaum mehr als ein archäologischer Fund, aus dem man schöpft, um Positionen der Vergangenheit herauszustellen, die nunmehr großenteils überholt und für die Gegenwart ohne Bedeutung sind. Dagegen gilt es zu bedenken, dass man in der Formulierung, auch wenn sie in gewisser Weise an die Zeit und die Kultur gebunden ist, die in ihr ausgedrückte Wahrheit oder den Irrtum trotz der räumlichen und zeitlichen Distanz auf jeden Fall erkennen und als solche bewerten kann.
Im theologischen Denken präsentiert sich der Historizismus meistens in einer Form des »Modernismus«. Mit der berechtigten Sorge, die theologische Argumentation zeitgemäß und für den heutigen Menschen annehmbar zu machen, bedient man sich nur jüngster Aussagen und des gängigen philosophischen Jargons; dabei werden die kritischen Ansprüche vernachlässigt, die im Lichte der Überlieferung eventuell erhoben werden müßten. Weil diese Form des Modernismus Aktualität mit Wahrheit verwechselt, erweist sie sich als unfähig, die Wahrheitsansprüche zu befriedigen, auf welche die Theologie Antwort zu geben berufen ist.
88. Eine weitere Gefahr, auf die es zu achten gilt, ist der Szientismus. Diese philosophische Auffassung weigert sich, neben den Erkenntnisformen der positiven Wissenschaften andere Weisen der Erkenntnis als gültig zuzulassen, indem sie sowohl die religiöse und theologische Erkenntnis als auch das ethische und ästhetische Wissen in den Bereich der reinen Phantasie verbannt. In der Vergangenheit äußerte sich diese Vorstellung im Positivismus und Neopositivismus, die Aussagen metaphysischen Charakters für sinnlos hielten. Die epistemologische Kritik hat diese Einstellung in Mißkredit gebracht; so ist sie jetzt dabei, im Gewand des Szientismus wiederzuerstehen. In dieser Sicht werden die Werte in einfache Produkte des Gefühls verbannt; die Erkenntnis des Seins wird zurückgestellt, um der reinen Tatsächlichkeit Platz zu machen. Die Wissenschaft bereitet sich also darauf vor, sämtliche Aspekte des menschlichen Daseins durch den technologischen Fortschritt zu beherrschen. Die unbestreitbaren Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung und der modernen Technologie haben zur Verbreitung der szientistischen Gesinnung beigetragen. Diese scheint grenzenlos zu sein in Anbetracht dessen, wie sie in die verschiedenen Kulturen eingedrungen ist und welche radikalen Umwälzungen sie dort herbeigeführt hat.
Man muss leider feststellen, dass alles, was die Frage nach dem Sinn des Lebens betrifft, vom Szientismus in den Bereich des Irrationalen oder Imaginären verwiesen wird. Nicht minder enttäuschend ist die Art, in der diese Denkströmung an die anderen großen Probleme der Philosophie herangeht. Sofern sie nicht ignoriert werden, begegnet man ihnen mit Analysen, die sich auf oberflächliche Analogien stützen, die einer rationalen Grundlage entbehren. Das führt zur Verarmung des menschlichen Denkens, dem jene Grundprobleme entzogen werden, die sich das animal rationale von Anbeginn seines Erdendaseins an ständig gestellt hat. Nachdem aus dieser Perspektive die aus der sittlichen Bewertung stammende Kritik zurückgestellt worden war, gelang es der szientistischen Denkart, viele zur Annahme der Vorstellung zu bringen, wonach das, was technisch machbar ist, eben dadurch auch moralisch annehmbar wird.
89. Von nicht geringeren Gefahren kündet der Pragmatismus, eine für diejenigen typische Denkhaltung, die es in ihren Entscheidungsprozessen ausschließen, auf theoretische Überlegungen zurückzugreifen oder auf ethischen Prinzipien gestützte Bewertungen vorzunehmen. Die praktischen Folgen aus dieser Denkrichtung sind beträchtlich. Insbesondere hat sich ein Demokratieverständnis durchgesetzt, das den Bezug zu wertorientierten und deshalb unwandelbaren Grundlagen unberücksichtigt läßt: Die Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit eines bestimmten Verhaltens entscheidet sich auf Grund des Votums der parlamentarischen Mehrheit.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Evangelium vitae (25. März 1998), 69: AAS 87 (1995), 481. </ref> Welche Konsequenzen ein solcher Ansatz hat, liegt auf der Hand: Die großen moralischen Entscheidungen des Menschen werden in Wirklichkeit den Beschlüssen untergeordnet, die nach und nach von den institutionellen Organen an sich gezogen werden. Mehr noch: Die Anthropologie selbst gerät in massive Abhängigkeit durch das Angebot einer eindimensionalen Sicht vom Menschen, der die großen sittlichen Nöte und die existentiellen Analysen über den Sinn von Leiden und Opfer, von Leben und Tod fern sind.
90. Die bis jetzt untersuchten Anschauungen führen ihrerseits zu einer allgemeineren Auffassung, die heute für viele Philosophien, die sich vom Sinn des Seins verabschiedet haben, den gemeinsamen Horizont zu bilden scheint. Ich meine die nihilistische Deutung, die zugleich die Ablehnung jeder Grundlage und die Leugnung jeder objektiven Wahrheit ist. Der Nihilismus ist, ehe er noch im Gegensatz zu den Ansprüchen und Inhalten des Wortes Gottes steht, Verneinung der Humanität des Menschen und seiner Identität. Denn man darf nicht übersehen, dass die Seinsvergessenheit unvermeidlich den Kontaktverlust mit der objektiven Wahrheit und daher mit dem Grund zur Folge hat, auf dem die Würde des Menschen fußt. So wird der Möglichkeit Platz geschaffen, vom Angesicht des Menschen die Züge zu löschen, die seine Gottähnlichkeit offenbaren, um ihn fortschreitend entweder zu einem zerstörerischen Machtwillen oder in die Verzweiflung der Einsamkeit zu treiben. Wenn man dem Menschen einmal die Wahrheit genommen hat, ist die Behauptung, ihn befreien zu wollen, reine Illusion. Wahrheit und Freiheit verbinden sich entweder miteinander oder sie gehen gemeinsam elend zugrunde.<ref> Im selben Sinn schrieb ich in meiner ersten Enzyklika zur Erläuterung des Wortes aus dem Johannesevangelium: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (8, 32): »Diese Worte schließen eine wesentliche Forderung und zugleich eine Ermahnung ein: die Forderung eines ehrlichen Verhältnisses zur Wahrheit als Bedingung einer authentischen Freiheit; und auch die Ermahnung, dass jede nur scheinbare Freiheit, jede oberflächliche und einseitige Freiheit und jede Freiheit, die nicht von der ganzen Wahrheit über den Menschen und die Welt geprägt ist, vermieden werde. Auch heute, nach zweitausend Jahren, erscheint uns Christus als der, der dem Menschen die Freiheit bringt, die auf der Wahrheit begründet ist, als der, der den Menschen befreit von allem, was diese Freiheit in der Seele des Menschen, in seinem Herzen und in seinem Gewissen beschränkt, schmälert und gleichsam von den Ursprüngen selbst trennt«: Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 12: AAS 71 (1979), 280-281. </ref>
91. Wenn ich auf die eben erwähnten Denkrichtungen einging, war es nicht meine Absicht, ein vollständiges Bild von der aktuellen Situation der Philosophie zu bieten: Sie ließe sich im übrigen schwerlich auf eine einheitliche Sicht reduzieren. Ich möchte unterstreichen, dass das Erbe an Wissen und Weisheit tatsächlich auf verschiedenen Gebieten eine Bereicherung erfahren hat. Es seien genannt: die Logik, die Sprachphilosophie, die Epistemologie, die Naturphilosophie, die Anthropologie, die eingehende Analyse der affektiven Erkenntniswege, die existentielle Annäherung an die Analyse der Freiheit. Andererseits hat die Bejahung des Immanenzprinzips, die im Mittelpunkt des rationalistischen Anspruchs steht, seit dem vorigen Jahrhundert Reaktionen ausgelöst, die in bezug auf Postulate, die für unbestreitbar gehalten wurden, zu einem radikalen Verlust geführt haben. Auf diese Weise sind irrationale Strömungen entstanden, während die Kritik die Vergeblichkeit des absoluten Selbstbegründungsanspruchs der Vernunft hervorhob.
Unsere Zeit ist von einigen Denkern als die Epoche der »Post-Moderne« eingestuft worden. Dieser Begriff, der nicht selten in voneinander sehr weit entfernten Zusammenhängen verwendet wird, bezeichnet das Auftauchen einer Gesamtheit neuer Faktoren, die im Hinblick auf ihre Verbreitung und Wirksamkeit erkennen ließen, dass sie bedeutsame und dauerhafte Veränderungen zu verursachen vermögen. So ist der Begriff anfangs auf ästhetische, soziale und technologische Phänomene angewandt worden. Später wurde er in den philosophischen Bereich übertragen, wobei er jedoch eine gewisse Zweideutigkeit aufwies — sowohl deshalb, weil das Urteil über das, was als »postmodern« eingestuft wird, manchmal positiv und manchmal negativ ist, als auch daher, weil es kein Einvernehmen über das heikle Problem der Abgrenzung der verschiedenen Geschichtsepochen gibt. Eines steht jedoch außer Zweifel: Die Denkrichtungen, die sich auf die Post-Moderne berufen, verdienen entsprechende Aufmerksamkeit. Denn nach Ansicht einiger von ihnen wäre die Zeit der Gewißheiten hoffnungslos vorbei; nunmehr müßte der Mensch lernen, vor einem Horizont völliger Sinnferne im Zeichen des Vorläufigen und Vergänglichen zu leben. In ihrer zerstörerischen Kritik an jeder Gewibheit ignorieren zahlreiche Autoren die notwendigen Unterscheidungen und leugnen auch die Glaubensgewißheiten.
Dieser Nihilismus findet eine Art Bestätigung in der schrecklichen Erfahrung des Bösen, die unser Zeitalter gezeichnet hat. Der Dramatik dieser Erfahrung gegenüber vermochte der rationalistische Optimismus, der in der Geschichte den fortschreitenden Sieg der Vernunft als Quelle von Glück und Freiheit sah, nicht standzuhalten, so dass eine der ärgsten Bedrohungen am Ende dieses Jahrhunderts die Versuchung der Verzweiflung ist.
Es trifft jedoch zu, dass eine bestimmte positivistische Geisteshaltung weiterhin die Illusion glaubhaft macht, dass dank der naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Mensch als Weltenschöpfer von sich allein aus dahin gelangen könne, sich der völligen Herrschaft über sein Schicksal zu versichern.
Aktuelle Aufgaben für die Theologie (92-99)
92. Was das Verständnis der Offenbarung betrifft, so musste die Theologie in den unterschiedlichen Geschichtsepochen stets die Ansprüche der verschiedenen Kulturen aufnehmen, um dann in ihnen mit einer in sich stimmigen Begrifflichkeit den Glaubensinhalt zu vermitteln. Auch heute hat sie eine doppelte Aufgabe. Denn sie muss einerseits der Verpflichtung nachkommen, die ihr das II. Vatikanische Konzil seinerzeit übertragen hat: Erneuerung ihrer Methoden im Hinblick auf einen wirkungsvolleren Dienst an der Evangelisierung. Sollte man aus dieser Sicht etwa nicht an die Worte denken, die von Papst Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Konzils gesprochen worden sind? Er sagte damals: »Es ist notwendig, dass der lebendigen Erwartung derer, die wahrhaft die christliche, katholische und apostolische Religion lieben, entsprochen wird und dass diese Lehre in einer breiteren und tieferen Weise bekannt wird; es ist notwendig, dass die einzelnen besser gebildet und geformt werden; es ist notwendig, dass diese sichere und unveränderliche Lehre, die getreu eingehalten werden soll, in einer Weise vertieft und dargelegt wird, die den Erfordernissen unserer Zeit entspricht«.<ref> Ansprache zur Eröffnung des Konzils (11. Oktober 1962): AAS 54 (1962), 792. </ref> Andererseits muss die Theologie die Augen auf die letzte Wahrheit richten, die ihr mit der Offenbarung anvertraut wird, ohne sich mit einem Verweilen in Zwischenstadien zufrieden zu geben. Der Theologe tut gut daran sich zu erinnern, dass seine Arbeit »der Dynamik entspricht, die dem Glauben selber innewohnt«, und dass das eigentliche Objekt seines Forschens »die Wahrheit, nämlich der lebendige Gott und sein in Jesus Christus geoffenbarter Heilsplan« ist.<ref> Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen Donum veritatis (24. Mai 1990), 7-8: AAS 82 (1990), 1552-1553. </ref> Diese Aufgabe, die in erster Linie die Theologie angeht, fordert zugleich die Philosophie heraus. Das Ausmaß der Probleme, die sich heute aufdrängen, erfordert in der Tat eine gemeinsame, wenn auch mit verschiedenen Methoden durchgeführte Arbeit, damit die Wahrheit wieder erkannt und zum Ausdruck gebracht wird. Die Wahrheit, die Christus ist, erscheint nötig als universale Autorität, die sowohl die Theologie als auch die Philosophie leitet, anregt und wachsen läßt (vgl. Eph 4, 15). An die Möglichkeit des Erkennens einer allgemeingültigen Wahrheit zu glauben, ist keineswegs eine Quelle der Intoleranz; im Gegenteil, es ist die notwendige Voraussetzung für einen ehrlichen und glaubwürdigen Dialog der Menschen untereinander. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, die trennenden Uneinigkeiten zu überwinden und gemeinsam den Weg zur ganzen, ungeteilten Wahrheit einzuschlagen, indem wir jenen Pfaden folgen, die allein der Geist des auferstandenen Herrn kennt.<ref> Indem ich Joh 16, 12-13 kommentierte, habe ich in der Enzyklika Dominum et vivificantem geschrieben: »Jesus stellt den Beistand, den Geist der Wahrheit, als denjenigen dar, der "lehren" und "erinnern" wird, der für ihn "Zeugnis ablegen" wird; jetzt sagt er: "Er wird euch in die ganze Wahrheit führen". Dieses "Einführen in die Wahrheit" im Hinblick auf das, was die Apostel jetzt noch nicht tragen können, hängt notwendigerweise mit der Entäußerung Christi durch Leiden und Tod am Kreuz zusammen, die damals, als diese Worte gesprochen wurden, kurz bevorstand. Dann wird jedoch deutlich, dass dieses "Einführen in die ganze Wahrheit" sich nicht nur auf das "scandalum crucis" bezieht, sondern auch auf alles, was Christus "getan und gelehrt hat" (Apg 1, 1). Denn das gesamte Mysterium Christi erfordert den Glauben, weil dieser es ist, der den Menschen auf angemessene Weise in die Wirklichkeit des geoffenbarten Geheimnisses einführt. Die "Einführung in die ganze Wahrheit" verwirklicht sich also im Glauben und mit Hilfe des Glaubens: Sie ist das Werk des Geistes der Wahrheit und die Frucht seines Wirkens im Menschen. Der Heilige Geist muss hierbei der oberste Führer des Menschen, das Licht des menschlichen Geistes sein«: Nr. 6: AAS 78 (1986), 815-816. </ref>
Wie sich die Forderung nach Einheit heute im Hinblick auf die aktuellen Aufgaben der Theologie konkret gestaltet, möchte ich jetzt aufzeigen.
93. Das Hauptziel, das die Theologie anstrebt, besteht darin, das Verständnis der Offenbarung und den Glaubensinhalt darzulegen. Der tatsächliche Mittelpunkt ihrer Reflexion wird darum die Betrachtung des Geheimnisses vom dreieinigen Gott sein. Zu diesem hat man Zugang, wenn man über das Mysterium der Inkarnation des Gottessohnes nachdenkt: über seine Menschwerdung und sein konsequentes Aufsichnehmen von Leiden und Tod, ein Mysterium, das einmünden wird in seine glorreiche Auferstehung und Erhöhung zur Rechten des Vaters; von dort wird er den Geist der Wahrheit aussenden, um seine Kirche zu stiften und zu beseelen. Vorrangige Aufgabe der Theologie wird vor diesem Horizont das Verständnis der kenosis Gottes sein, ein wahrhaft großes Geheimnis für den menschlichen Geist, dem es unhaltbar erscheint, dass Leiden und Tod die Liebe auszudrücken vermögen, die sich hingibt, ohne etwas dafür einzufordern. Aus dieser Perspektive ist eine sorgfältige Analyse der Texte grundlegend und dringend geboten: zuerst der Schrifttexte, dann jener Texte, in denen die lebendige Überlieferung der Kirche Ausdruck findet. In diesem Zusammenhang stellen sich heute manche, nur zum Teil neue Probleme, für die man keine entsprechende Lösung wird finden können, wenn man auf den Beitrag der Philosophie verzichtet.
94. Ein erster problematischer Aspekt betrifft das Verhältnis von Bedeutung und Wahrheit. Wie jeder andere Text, so übermitteln auch die Quellen, die der Theologe auslegt, zunächst eine Bedeutung, die erhoben und dargelegt werden muss. Nun erscheint diese Bedeutung als die Wahrheit über Gott, die von Gott selber durch den heiligen Text mitgeteilt wird. Die Sprache Gottes, der durch den wunderbaren, die Logik der Menschwerdung widerspiegelnden »Mitabstieg« seine Wahrheit mitteilt, nimmt also in der menschlichen Sprache Gestalt an.<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 13. </ref> Der Theologe muss sich bei der Auslegung der Offenbarungsquellen daher fragen, welches die tiefe und unverfälschte Wahrheit ist, die die Texte, freilich in den Grenzen der Sprache, mitteilen wollen.
Was die biblischen Texte und besonders die Evangelien betrifft, so reduziert sich ihre Wahrheit sicher nicht auf die Erzählung einfacher historischer Geschehnisse oder auf die Enthüllung neutraler Fakten, wie es der historizistische Positivismus gern hätte.<ref> Vgl. Päpstliche Bibelkommission (21. April 1994): Instruktion über die historische Wahrheit der Evangelien: AAS 56 (1964), 713. </ref> Im Gegenteil, diese Texte berichten von Ereignissen, deren Wahrheit jenseits des gewöhnlichen geschichtlichen Geschehens liegt: sie liegt in ihrer Bedeutung in der und für die Heilsgeschichte. Ihre vollständige Darstellung findet diese Wahrheit in der fortwährenden Lesung und Deutung, welche die Kirche im Laufe der Jahrhunderte von diesen Texten vornimmt, wobei sie deren ursprüngliche Bedeutung unverändert bewahrt. Es ist daher dringend geboten, dass man sich auch philosophisch nach dem Verhältnis fragt, das zwischen dem Faktum und seiner Bedeutung besteht; ein Verhältnis, das den besonderen Sinn der Geschichte begründet.
95. Das Wort Gottes wendet sich nicht an ein einziges Volk oder an eine bestimmte Epoche. In gleicher Weise formulieren die dogmatischen Aussagen, auch wenn sie bisweilen unter dem Einfluß der Kultur der Zeit stehen, in der sie definiert werden, eine feststehende und endgültige Wahrheit. Es erhebt sich also die Frage, wie sich die Absolutheit und Universalität der Wahrheit mit der unvermeidlichen Abhängigkeit der sie wiedergebenden Formeln von Geschichte und Kultur versöhnen läßt. Wie ich vorhin sagte, sind die Ansichten des Historizismus unvertretbar. Hingegen ist die Anwendung einer Hermeneutik, die für den metaphysischen Anspruch offen ist, in der Lage zu zeigen, wie sich von den historischen Umständen und Zufällen her, unter denen die Texte herangereift sind, der Übergang zu der von ihnen zum Ausdruck gebrachten Wahrheit vollzieht, die diese Abhängigkeiten hinter sich läßt. Der Mensch vermag mit Hilfe seiner begrenzten geschichtlichen Sprache Wahrheiten auszudrücken, die das Sprachereignis transzendieren. Denn die Wahrheit kann niemals auf die Zeit und die Kultur beschränkt werden; sie ist in der Geschichte zu erkennen, übersteigt aber diese Geschichte.
96. Diese Überlegung läßt uns die Lösung eines anderen Problems erahnen: nämlich das Problem der immerwährenden Gültigkeit der in den Konzilsdefinitionen verwendeten Begriffssprache. Schon mein ehrwürdiger Vorgänger Pius XII. hat sich in seiner Enzyklika Humani generis mit dieser Frage auseinandergesetzt.<ref> »Es ist klar, dass sich die Kirche nicht an ein beliebiges kurzlebiges philosophisches System binden kann; aber was von den katholischen Theologen übereinstimmend in jahrhundertelanger Arbeit aufgestellt worden ist, um einigermaßen zu einem Verständnis und einer Erfassung des Dogmas zu kommen, ruht nicht auf einem so hinfälligen Fundament. Denn es ruht auf Prinzipien und Begriffen, die der wahren und richtigen Erkenntnis der geschaffenen Dinge entstammen: bei Gewinnung und Formung dieser Erkenntnisse war die göttliche Offenbarung, wie ein Stern, dem menschlichen Geist mittels der Kirche eine Leuchte. Daher ist es nicht zu verwundern, dass einige derartige Begriffe von Ökumenischen Konzilien nicht nur verwendet, sondern selbst festgelegt wurden, so dass es nicht erlaubt ist, davon abzugehen«: Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 566-567; vgl. Internationale Theologenkommission, Dokument Interpretationis problema (Oktober 1989): Ench. Vat. 11, Nr. 2717-2811. </ref> Die Reflexion über dieses Thema fällt nicht leicht, weil man ernsthaft dem Sinn Rechnung tragen muss, den die Worte in den verschiedenen Kulturen und in verschiedenen Epochen erhalten. Die Geschichte des Denkens zeigt allerdings, dass bestimmte Grundbegriffe durch die Entwicklung und die Vielfalt der Kulturen hindurch ihren universalen Erkenntniswert und somit die Wahrheit der Sätze, die sie ausdrücken, bewahren.<ref> »Was den Sinn der dogmatischen Formeln betrifft, so bleibt er in der Kirche immer und in sich stimmig, auch wenn er mehr erhellt und vollständiger erkannt wird. Die Christgläubigen müssen sich also von der Meinung abwenden, nach der erstens die dogmatischen Formeln (oder bestimmte Arten von ihnen) die Wahrheit nicht in bestimmter Weise bezeichnen könnten, sondern nur ihre veränderlichen Annäherung, die sie gewissermaßen deformierten bzw. veränderten«: Hl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung zur Verteidigung der katholischen Lehre über die Kirche Mysterium Ecclesiae (24. Juni 1973), 5: AAS 65 (1973), 403. </ref> Andernfalls könnten die Philosophie und die Naturwissenschaften sich nicht untereinander austauschen, noch könnten sie von Kulturen übernommen werden, die verschieden von jenen sind, in denen sie erdacht und erarbeitet wurden. Das hermeneutische Problem besteht also, ist aber lösbar. Der realistische Wert vieler Begriffe schließt im übrigen nicht aus, dass ihre Bedeutung oft unvollständig ist. Das philosophische Denken könnte auf diesem Gebiet sehr hilfreich sein. Sein besonderer Einsatz bei der Vertiefung des Verhältnisses von Begriffssprache und Wahrheit und beim Angebot geeigneter Wege für ein richtiges Verständnis dieses Verhältnisses ist daher wünschenswert.
97. Wenngleich die Auslegung der Quellen eine wichtige Aufgabe der Theologie ist, so gilt ein weiteres, noch schwierigeres und anspruchsvolleres Bemühen dem Verständnis der geoffenbarten Wahrheit bzw. dem Prozeß des intellectus fidei. Der intellectus fidei verlangt, wie ich schon angedeutet habe, den Beitrag einer Philosophie des Seins, die es vor allem der dogmatischen Theologie erlaubt, ihre Funktionen auf angemessene Weise auszuüben. Der dogmatische Pragmatismus vom Anfang dieses Jahrhunderts, wonach die Glaubenswahrheiten nichts anderes als Verhaltensregeln wären, ist bereits abgelehnt und zurückgewiesen worden;<ref> Vgl. Kongregation des Hl. Offiziums, Dekret Lamentabili (3. Juli 1907), 26: AAS 40 (1907), 473. </ref> trotzdem bleibt immer die Versuchung bestehen, diese Wahrheiten rein funktional zu verstehen. In diesem Fall würde man in ein unangemessenes und verkürztes Schema verfallen, dem die spekulative Klarheit fehlt. Eine Christologie zum Beispiel, die einseitig »von unten« vorginge, wie man heute zu sagen pflegt, oder eine Ekklesiologie, die ausschließlich nach dem Vorbild bürgerlicher Gesellschaften aufgebaut ist, könnten die Gefahr einer derartigen Verkürzung kaum vermeiden. Wenn der intellectus fidei den ganzen Reichtum der theologischen Überlieferung integrieren soll, muss er sich der Philosophie des Seins bedienen. Diese Philosophie des Seins wird fähig sein müssen, das Problem des Seins je nach den Ansprüchen und Beiträgen der ganzen philosophischen Tradition — auch der aus jüngster Zeit — wieder aufzugreifen; dabei muss sie aber vermeiden, in blutleere Wiederholungen veralteter Schemata zu verfallen. Die Philosophie des Seins ist im Rahmen der christlichen metaphysischen Überlieferung eine dynamische Philosophie, welche die Wirklichkeit in ihren ontologischen, kausalen und kommunikativen Strukturen sieht. Sie findet ihre Kraft und Beständigkeit darin, dass sie sich auf den Seinsakt selber stützt, der die volle und globale Öffnung gegenüber der ganzen Wirklichkeit gestattet. Dabei überschreitet sie jede Grenze, bis sie Den erreicht, der allem Vollendung schenkt.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Päpstliche Hochschule »Angelicum« (17. November 1979), 6: Insegnamenti, II, 2 (1979), 1183-1185. </ref> In der Theologie, die ihre Prinzipien von der Offenbarung als neuer Erkenntnisquelle erhält, wird diese Sicht entsprechend dem engen Verhältnis zwischen Glaube und metaphysischer Vernünftigkeit bestätigt.
98. Ähnliche Überlegungen lassen sich auch in bezug auf die Moraltheologie anstellen. Die Wiedergewinnung der Philosophie ist auch für das Glaubensverständnis, das sich auf das Handeln der Gläubigen bezieht, dringend nötig. Angesichts der heutigen Herausforderungen auf sozialem, wirtschaftlichem, politischem und wissenschaftlichem Gebiet ist das sittliche Gewissen des Menschen desorientiert. In der Enzyklika Veritatis splendor habe ich hervorgehoben, dass viele der in der heutigen Welt vorhandenen Probleme einer »Krise um die Wahrheit« entstammen. »Nachdem die Idee von einer für die menschliche Vernunft erkennbaren universalen Wahrheit über das Gute verloren gegangen war, hat sich unvermeidlich auch der Begriff des Gewissens gewandelt; das Gewissen wird nicht mehr in seiner ursprünglichen Wirklichkeit gesehen, das heißt als ein Akt der Einsicht der Person, der es obliegt, die allgemeine Erkenntnis des Guten auf eine bestimmte Situation anzuwenden und so ein Urteil über das richtige zu wählende Verhalten zu fällen; man stellte sich darauf ein, dem Gewissen des Einzelnen das Vorrecht zuzugestehen, die Kriterien für Gut und Böse autonom festzulegen und dementsprechend zu handeln. Diese Sicht ist nichts anderes als eine individualistische Ethik, aufgrund welcher sich jeder mit seiner Wahrheit, die von der Wahrheit der anderen verschieden ist, konfrontiert sieht«.<ref> Nr. 32: AAS 85 (1993), 1159-1160. </ref> In der gesamten Enzyklika habe ich die fundamentale Rolle, die der Wahrheit im Bereich der Moral zukommt, klar und deutlich unterstrichen. Was den Großteil der dringendsten ethischen Probleme betrifft, verlangt diese Wahrheit von seiten der Moraltheologie ein aufmerksames Nachdenken, das fähig ist, auf seine Wurzeln im Wort Gottes hinzuweisen. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, muss sich die Moraltheologie einer der Wahrheit des Guten zugewandten philosophischen Ethik bedienen; einer Ethik also, die weder subjektivistisch noch utilitaristisch ist. Die erforderliche Ethik impliziert und setzt eine philosophische Anthropologie und eine Metaphysik des Guten voraus. Wenn die Moraltheologie diese einheitliche Auffassung anwendet, die notwendigerweise mit der christlichen Heiligkeit und mit der Übung der menschlichen und übernatürlichen Tugenden verbunden ist, wird sie imstande sein, in höchst angemessener und wirksamer Weise die verschiedenen Probleme anzugehen, für die sie zuständig ist: der Friede, die soziale Gerechtigkeit, die Familie, die Verteidigung des Lebens und der Umwelt.
99. Die theologische Arbeit in der Kirche steht zuallererst im Dienst der Glaubensverkündigung und der Katechese.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostol. Schreiben Catechesi tradendae (16. Oktober 1979), 30: AAS 71 (1979), 1302-1303; Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen Donum veritatis (24. Mai 1990), 7: AAS 82 (1990), 1552-1553. </ref> Die Verkündigung oder das Kerygma ruft zur Umkehr, indem die Wahrheit Christi dargelegt wird, die im Ostergeheimnis ihren Höhepunkt erreicht: denn allein in Christus ist es möglich, die Fülle der rettenden Wahrheit zu erkennen (vgl. Apg 4, 12; 1 Tim 2, 4-6). In diesem Zusammenhang versteht man gut, warum außer der Theologie auch dem Bezug zur Katechese eine beträchtliche Bedeutung zukommt: sie besitzt nämlich philosophische Implikationen, die im Lichte des Glaubens vertieft werden müssen. Die in der Katechese vermittelte Lehre hat für die Person eine bildende Wirkung. Die Katechese, die auch sprachliche Mitteilung ist, muss die Lehre der Kirche in ihrer Vollständigkeit vorlegen,<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostol. Schreiben Catechesi tradendae (16. Oktober 1979), 30: AAS 71 (1979), 1302-1303. </ref> indem sie deren Ansatzpunkt mit dem Leben der Gläubigen aufzeigt.<ref> Vgl. ebd., 22, aaO., 1295-1296. </ref> So verwirklicht sich eine einzigartige Verbindung zwischen Lehre und Leben, die andernfalls unmöglich zu erreichen ist. Denn was in der Katechese mitgeteilt wird, ist nicht eine Sammlung begrifflicher Wahrheiten, sondern das Geheimnis des lebendigen Gottes.<ref> Vgl. ebd., 7, aaO., 1282. </ref> Die philosophische Reflexion kann viel beitragen zur Klärung des Verhältnisses von Wahrheit und Leben, von Ereignis und lehrmäßiger Wahrheit. Besonders kann sie zur Klärung der Beziehung zwischen transzendenter Wahrheit und menschlich verständlicher Sprache beitragen.<ref> Vgl. ebd., 59, aaO., 1325. </ref> Die Wechselbeziehung, die zwischen den theologischen Fächern und den von den verschiedenen philosophischen Strömungen erreichten Ergebnissen entsteht, vermag also eine wirkliche Fruchtbarkeit zum Ausdruck zu bringen, was die Vermittlung des Glaubens und sein tieferes Verständnis anbelangt.
SCHLUSS
100. Mehr als hundert Jahre seit der Veröffentlichung der Enzyklika Æterni Patris Leos XIII., auf die ich auf diesen Seiten wiederholt Bezug genommen habe, schien es mir geboten, die Auseinandersetzung mit dem Thema des Verhältnisses von Glaube und Vernunft auf eher systematische Weise wiederaufzunehmen. Welche Bedeutung dem philosophischen Denken bei der Entfaltung der Kulturen und bei der Orientierung des persönlichen und sozialen Verhaltens zukommt, ist offenkundig. Auch auf die Theologie und ihre verschiedenen Disziplinen übt das philosophische Denken einen starken Einfluß aus, auch wenn dieser nicht immer explizit wahrgenommen wird. Ich habe es aus vielen Gründen für richtig und notwendig gehalten, den Wert der Philosophie für das Glaubensverständnis ebenso zu unterstreichen wie die Grenzen, an die sie stößt, wenn sie die Offenbarungswahrheiten vergißt oder zurückweist. Denn die Kirche hält zutiefst an ihrer Überzeugung fest, dass sich Glaube und Vernunft »wechselseitig Hilfe leisten können«,<ref> I. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, IV: DS 3019. </ref> indem sie füreinander eine Funktion sowohl kritisch-reinigender Prüfung als auch im Sinne eines Ansporns ausüben, auf dem Weg der Suche und Vertiefung voranzuschreiten.
101. Wenn wir unseren Blick auf die Geschichte vor allem des abendländischen Denkens richten, läßt sich leicht erkennen, welcher Reichtum für den Fortschritt der Menschheit aus der Begegnung zwischen Philosophie und Theologie und aus dem Austausch ihrer jeweiligen Errungenschaften hervorgegangen ist. Die Theologie, die eine Offenheit und Originalität geschenkt bekommen hat, denen sie ihre Existenzberechtigung als Wissenschaft vom Glauben verdankt, hat mit Sicherheit die Vernunft dazu veranlaßt, gegenüber der radikalen Neuheit offen zu bleiben, wie sie die Offenbarung Gottes darstellt. Das war zweifellos von Vorteil für die Philosophie, die erlebt hat, dass sich auf diese Weise neue Horizonte über weitere Bedeutungen erschließen, die zu vertiefen die Vernunft berufen ist. Im Lichte dieser Feststellung halte ich es — wie ich die Aufgabe der Theologie, ihr wahres Verhältnis zur Philosophie wiederherzustellen, betont habe — für meine Pflicht, die Notwendigkeit zu unterstreichen, dass um des Wohles und Fortschrittes des Denkens willen auch die Philosophie ihre Beziehung zur Theologie zurückgewinnen soll. Die Philosophie wird in der Theologie nicht die Überlegung des einzelnen Individuums finden, die, so tief und reich sie sein mag, immer auch die dem Denken eines Einzelnen eigenen perspektivischen Grenzen aufweist, sondern den Reichtum eines gemeinsamen Nachdenkens. Denn die Theologie stützt sich von ihrem Wesen her bei der Erforschung der Wahrheit auf das Merkmal der Kirchlichkeit<ref> »Niemand darf aus der Theologie so etwas machen wie eine einfache Sammlung von eigenen persönlichen Auffassungen; sondern jeder muss darauf bedacht sein, in enger Verbindung zu bleiben mit dem Sendungsauftrag, die Wahrheit zu lehren, für die die Kirche verantwortlich ist«. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 19: AAS 71 (1979), 308. </ref> und auf die Tradition des Gottesvolkes mit ihrer Vielfalt an Wissen und Kulturen in der Einheit des Glaubens.
102. Während die Kirche so immer wieder auf die Bedeutung und die wahren Dimensionen des philosophischen Denkens zurückkommt, fördert sie zugleich sowohl die Verteidigung der Menschenwürde wie auch die Verkündigung der Botschaft, die das Evangelium enthält. Denn die dringend notwendige Vorbereitung auf diese Aufgaben besteht heute darin, die Menschen zur Entdeckung ihrer Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis<ref> Vgl. II. Vat. Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 1-3. </ref> und ihrer Sehnsucht nach einem letzten, endgültigen Sinn des Daseins zu führen. In der Sicht dieser tiefen, der menschlichen Natur von Gott eingeschriebenen Bedürfnisse gewinnt auch die Bedeutung des Wortes Gottes deutlicher sichtbare Konturen: sie ist menschlich und macht menschlicher. Dank der Vermittlung einer zu echter Weisheit gewordenen Philosophie wird der heutige Mensch allmählich erkennen können, dass er um so mehr Mensch sein wird, je mehr er sich, im Vertrauen auf das Evangelium, Christus öffnet.
103. Zudem ist die Philosophie gleichsam der Spiegel, in dem sich die Kultur der Völker niederschlägt. Eine Philosophie, die sich unter der Herausforderung der theologischen Ansprüche in Übereinstimmung mit dem Glauben entfaltet, gehört zu jener »Evangelisierung der Kultur«, die Paul VI. zu einem der Hauptziele der Evangelisierung erklärt hat.<ref> Vgl. Apostol. Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 20: AAS 68 (1976), 18-19. </ref> Während ich nicht müde werde, auf die Dringlichkeit einer Neuevangelisierung hinzuweisen, rufe ich die Philosophen auf, die Dimensionen des Wahren, Guten und Schönen, zu denen das Wort Gottes hinführt, zu vertiefen. Das wird um so dringender, wenn man die Herausforderungen berücksichtigt, die das neue Jahrtausend mitzubringen scheint: sie betreffen in besonderer Weise die Regionen und Kulturen alter christlicher Tradition. Darauf zu achten, darf als ein grundlegender und origineller Beitrag auf dem Weg der Neuevangelisierung angesehen werden.
104. Das philosophische Denken ist oft das einzige Terrain für Verständigung und Dialog mit denen, die unseren Glauben nicht teilen. Die philosophische Bewegung der heutigen Zeit verlangt den aufmerksamen und kompetenten Einsatz gläubiger Philosophen, die fähig sind, die Erwartungen, Öffnungen und Problemstellungen dieses geschichtlichen Augenblicks zu erfassen. Während der christliche Philosoph im Lichte der Vernunft und nach ihren Regeln argumentiert, sich dabei aber immer von dem weitergehenden Verständnis leiten läßt, das ihm das Wort Gottes schenkt, kann er eine Überlegung entwickeln, die auch für den verständlich und wahrnehmbar sein wird, der die volle Wahrheit, die die göttliche Offenbarung kundtut, noch nicht begreift. Dieses Terrain von Verständigung und Dialog ist heute um so wichtiger, da die Probleme, die sich der Menschheit immer dringender stellen — man denke an die Probleme der Umwelt, des Friedens oder des Zusammenlebens von Rassen und Kulturen —, eine mögliche Lösung finden im Licht einer klaren, ehrlichen Zusammenarbeit der Christen mit den Gläubigen anderer Religionen und mit allen, denen die Erneuerung der Menschheit am Herzen liegt, selbst wenn sie keinen religiösen Glauben teilen. Das hat das II. Vatikanische Konzil ausgesprochen: »Der Wunsch nach einem solchen Dialog, geführt einzig aus Liebe zur Wahrheit und unter Wahrung angemessener Diskretion, schließt unsererseits niemanden aus, weder jene, die hohe Güter der Humanität pflegen, deren Urheber aber noch nicht anerkennen, noch jene, die Gegner der Kirche sind und sie auf verschiedene Weise verfolgen«.<ref> Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 92. </ref> Eine Philosophie, in der etwas von der Wahrheit Christi, der einzigen endgültigen Antwort auf die Probleme des Menschen,<ref> Vgl. ebd., 10. </ref> zum Leuchten kommt, wird eine wirksame Stütze für jene wahre und zugleich weltweite Ethik sein, die die Menschheit heute braucht.
105. Es drängt mich, diese Enzyklika mit einem letzten Gedanken abzurunden, mit dem ich mich vor allem an die Theologen wende, damit sie den philosophischen Implikationen des Wortes Gottes besondere Aufmerksamkeit schenken und eine Überlegung anstellen, aus der sich die spekulative und praktische Substanz der theologischen Wissenschaft ergibt. Ich möchte ihnen für ihren kirchlichen Dienst danken. Die engen Bande zwischen der theologischen Weisheit und dem philosophischen Wissen ist einer der ursprünglichsten Schätze christlicher Tradition bei der Vertiefung der geoffenbarten Wahrheit. Darum fordere ich sie auf, die metaphysische Dimension der Wahrheit wiederzugewinnen und besser herauszustellen, um so in einen kritischen und anspruchsvollen Dialog einzutreten sowohl mit dem philosophischen Denken unserer Zeit wie auch mit der gesamten philosophischen Tradition, ob sie nun im Einklang mit dem Wort Gottes oder aber im Gegensatz zu ihm steht. Sie sollen sich stets die Anleitung eines großen Meisters des Denkens und der Spiritualität vor Augen halten, des hl. Bonaventura, der den Leser, den er in sein Itinerarium mentis in Deum einführte, darum bat, sich im klaren zu sein, dass »Lesung ohne Reue, Erkenntnis ohne Frömmigkeit, Suchen ohne den Überschwang des Staunens, Klugheit ohne die Fähigkeit zur Hingabe an die Freude, Tätigkeit losgelöst von der Religiosität, Wissen getrennt von der Liebe, Intelligenz ohne Demut, Studium ohne den Halt der göttlichen Gnade, Nachdenken ohne die von Gott inspirierte Weisheit — dass all das nicht ausreicht«.<ref> Prologus, 4: Opera omnia, Florenz 1891, Bd. V, 296. </ref>
Mein Gedanke gilt auch allen, denen die Verantwortung für die Priesterausbildung sowohl in akademischer als auch in pastoraler Hinsicht obliegt: Sie mögen sich mit besonderer Aufmerksamkeit um die philosophische Ausbildung derer kümmern, die künftig dem Menschen von heute das Evangelium verkünden sollen, und noch mehr derer, die sich später der Forschung und Lehre der Theologie widmen werden. Sie mögen sich bemühen, ihre Arbeit nach den Vorschriften des II. Vatikanischen Konzils<ref> Dekret über die Priesterausbildung Optatam totius, 15. </ref> und der nachfolgenden Verfügungen zu vollziehen, aus denen die unabdingbare und dringende Aufgabe hervorgeht, zu der wir alle berufen sind: beizutragen zu einer unverfälschten und gründlichen Vermittlung der Glaubenswahrheit. Nicht zu vergessen ist die hohe Verantwortung für eine angemessene Vorbereitung des Lehrkörpers, dem der Philosophieunterricht an den Priesterseminarien und kirchlichen Fakultäten anvertraut werden soll.<ref> Vgl. Johannes Paul II., Apostolische Konstitution Sapientia christiana (15. April 1979), Art. 67-68: AAS 71 (1979), 491-492. </ref> Eine solche Lehrtätigkeit setzt natürlich eine entsprechende wissenschaftliche Ausbildung voraus; sie muss systematisch erfolgen, wenn sie das große Erbe der christlichen Tradition vorlegt, und sie muss angesichts der aktuellen Bedürfnisse von Kirche und Welt mit gebührendem Unterscheidungsvermögen wahrgenommen werden.
106. Mein Appell richtet sich außerdem an die Philosophen und an alle, die Philosophie lehren: Sie mögen in Anbetracht einer ewig gültigen philosophischen Tradition den Mut haben, die Dimensionen echter Weisheit und auch metaphysischer Wahrheit des philosophischen Denkens zurückzugewinnen. Sie mögen Anfragen, die von aus dem Wort Gottes entspringenden Forderungen erhoben werden, an sich herankommen lassen und die Kraft haben, ihre rationale Argumentation in Beantwortung dieser Anfragen vorzunehmen. Sie mögen sich immer nach der Wahrheit ausstrecken und auf das Gute achten, das das Wahre enthält. Auf diese Weise werden sie jene unverfälschte Ethik formulieren können, welche die Menschheit besonders in der heutigen Zeit so dringend braucht. Die Kirche verfolgt die Forschungen der Philosophen mit Aufmerksamkeit und Sympathie; sie können daher sicher sein, dass die Kirche die berechtigte Selbständigkeit ihrer Wissenschaft stets achten wird. Besonders ermutigen möchte ich die Gläubigen, die auf dem Gebiet der Philosophie tätig sind: sie sollen die verschiedenen Bereiche menschlicher Tätigkeit erleuchten, indem sie eine Vernunft gebrauchen, die, vom Glauben unterstützt, noch sicherer und scharfsinniger wird. Schließlich muss ich auch noch ein Wort an die Naturwissenschaftler richten, die uns durch ihre Forschungen wachsende Kenntnis vermitteln vom gesamten Universum und von der unglaublich reichen Vielfalt seiner belebten und unbelebten Bestandteile mit ihren komplexen atomaren und molekularen Strukturen. Der Weg, den sie zurückgelegt haben, ist besonders in diesem Jahrhundert an Ziele gestoben, die uns noch immer in Erstaunen versetzen. Wenn ich diesen mutigen Pionieren der wissenschaftlichen Forschung, denen die Menschheit in hohem Maße ihre derzeitige Entwicklung zu verdanken hat, meine Bewunderung und Ermutigung ausspreche, fühle ich mich gleichzeitig verpflichtet, sie aufzufordern, in ihren Bemühungen fortzufahren und dabei stets in jenem Weisheitshorizont zu bleiben, in dem die naturwissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften von den philosophischen und sittlichen Werten flankiert sind. Diese Werte sind der charakteristische und unverzichtbare Ausdruck der menschlichen Person. Der Wissenschaftler ist sich wohl bewußt, dass »die Suche nach der Wahrheit, auch wenn sie eine begrenzte Wirklichkeit der Welt oder des Menschen betrifft, nie ans Ende kommt, sondern immer zu etwas hinführt, das über dem unmittelbaren Forschungsgegenstand liegt; sie führt zu Fragen, die den Zugang zum Geheimnis ermöglichen«.<ref> Johannes Paul II., Ansprache an der Universität von Krakau zum 600-Jahr-Jubiläum der Alma Mater Jagellonica (8. Juni 1997), 4 L'Osservatore Romano, 9.-10. Juni 1997, S. 12. </ref>
107. Alle bitte ich, sich intensiv um den Menschen, den Christus im Geheimnis seiner Liebe gerettet hat, und um sein ständiges Suchen nach Wahrheit und Sinn zu kümmern. Verschiedene philosophische Systeme haben ihn durch Täuschung überzeugt, dass er sein absolut eigener Herr sei, der autonom über sein Schicksal und seine Zukunft entscheiden könne, wenn er ausschließlich auf sich selbst und seine Kräfte vertraut. Das wird niemals die Größe des Menschen ausmachen können. Bestimmend für seine Verwirklichung wird nur die Entscheidung sein, sich dadurch in die Wahrheit einzufügen, dass er im Schatten der Weisheit seine Wohnung errichtet und in ihr wohnen bleibt. Erst in diesem Wahrheitshorizont wird er begreifen, wie sich seine Freiheit im Vollsinn entfaltet und dass er zur Liebe und zur Erkenntnis Gottes berufen ist. Darin liegt seine höchste Selbstverwirklichung.
108. Mein letzter Gedanke gilt derjenigen, die das Gebet der Kirche als Sitz der Weisheit anruft. Ihr Leben ist ein wahres Gleichnis, das den zurückgelegten Weg meiner Überlegung zu erleuchten vermag. Denn es läßt sich ein tiefer Einklang erahnen zwischen der Berufung der seligen Jungfrau Maria und der Berufung echter Philosophie. Wie die Jungfrau berufen wurde, ihr ganzes Sein als Mensch und Frau darzubringen, damit das Wort Gottes Fleisch und einer von uns werden konnte, so ist die Philosophie berufen, ihre kritische Vernunftarbeit zu leisten, damit die Theologie als Verständnis des Glaubens fruchtbar und wirksam sei. Wie Maria durch ihre Zustimmung zu der von Gabriel verkündeten Botschaft nichts von ihrem wahren Menschsein und ihrer Freiheit eingebüßt hat, so verliert das philosophische Denken nichts von seiner Autonomie, wenn es sich der Anfrage stellt, die von der Wahrheit des Evangeliums kommt. Das philosophische Denken erlebt vielmehr, dass sein ganzes Forschen zur höchsten Verwirklichung angespornt wird. Diese Wahrheit haben die heiligen Mönche des christlichen Altertums sehr gut verstanden, wenn sie Maria »den geistigen Tisch des Glaubens«<ref> »he noerà tes pìsteos tràpeza«: Homilie zu Ehren der heiligen Maria, der Mutter Gottes, Pseudo-Epiphanios: PG 43, 493. </ref> nannten. In ihr erblickten sie das stimmige Abbild der Philosophie und waren überzeugt, sie müßten in Maria philosophieren [philosophari in Maria].
Möge der Sitz der Weisheit der sichere Hafen für alle sein, die ihr Leben zur Suche nach der Weisheit machen. Möge der Weg zur Weisheit, dem letzten und glaubwürdigen Ziel jedes wahren Wissens, von jedem Hindernis befreit werden. Dafür rufen wir die Fürsprache derjenigen an, die der ganzen Menschheit für immer die Wahrheit dadurch mitgeteilt hat, dass sie sie hervorgebracht und in ihrem Herzen bewahrt hat.
des Jahres 1998, dem zwanzigsten meines Pontifikates.
Anmerkungen
<references />