Anselm von Canterbury: Proslogion

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Proslogion - Anrede
Anselm von Canterbury, verfasst zwischen 1077-1078.

Quelle: Anselm Stolz: Anselm von Canterbury (Gestalten des christlichen Abendlandes, Band 1), Verlag Kösel-Pustet München 1937, S. 45-71 (335 Seiten, Imprimatur Monachii, die 29. Aprilis 1937, F. Buchwieser): Die Kapitelüberschriften wurden angegeben, obwohl sie den Gang der "Anrede" unterbrechen und stellenweise auch den gedanklichen Zusammenhang stören.

Das Proslogion ist der literarischen Form nach eine "Betrachtung", die sich unmittelbar zu Gott erhebt, hält mit ihm Zwiesprache und erstrebt Gotteserfahrung. Das Proslogion spricht nur von Gott selbst und übergeht dabei auch die trinitarischen Probleme, die im Monologion ausführlich entwickelt werden (Quelle S. 11).

Inhaltsverzeichnis

Vorrede

Auf dringende Bitten einiger Brüder hatte ich ein kleines Werk als Musterbetrachtung über den Sinn des Glaubens herausgegeben. Es ist darin dargestellt, wie jemand still bei sich überlegend unbekannten Dingen nachforscht. Da ich sah, dass es durch Verkettung vieler Beweise zusammengesetzt sei, begann ich darüber nachzudenken, ob sich vielleicht ein Beweis finden lasse, der, um anerkannt zu werden, keines anderen als seiner selbst bedürfe, und der allein genüge, um darzutun, dass Gott in Wahrheit Sein hat, dass er das höchste Gut ist, das auf kein anderes angewiesen ist, dessen aber alle anderen benötigen, um zu sein und gut zu sein, und was wir sonst vom göttlichen Wesen glauben. Wie ich nun oft und eifrig darüber nachdachte, schien es mir bisweilen, als könne ich schon erfassen, was ich suchte, dann wieder war es dem Blick des Geistes völlig entschwunden. Schließlich wollte ich verzweifelnd davon abstehen, wie vom Suchen nach einer Sache, die unauffindbar ist. Da ich aber jenen Gedanken ganz von mir fernhalten wollte, damit er meinen Geist nicht unnötig beschäftige und von anderen Dingen abhielte, in denen ich vorankommen könnte, begann er sich mehr und mehr trotz Sträubens und Wehrens mit einigem Ungestüm aufzudrängen. Als ich mich also eines Tages gegen sein Ungestüm zur Wehr setzte und ermüdete, bot sich im Widerstreit der Gedanken das, woran ich verzweifelte, so dar, dass ich begierig den Gedanken erfasste, den ich so sorgfältig abgewiesen hatte.

In der Annahme, es könnte mein Fund, über den ich mich freute, wenn er aufgeschrieben würde, einem Leser gefallen, verfasste ich eben hierüber und über einiges andere diese kleine Schrift, in der es jemand unternimmt, seinen Geist zur Betrachtung Gottes zu erheben, und versucht, seinen Glauben zu verstehen. Ich hielt jedoch weder dieses noch das oben erwähnte Werk des Namens eines Buches und der Angabe des Verfassers für wert; andrerseits wollte ich sie doch nicht ohne jede Überschrift fortgeben, damit sie den, in dessen Hände sie kämen, zum Lesen veranlassen könnten. So gab ich denn jedem seine Überschrift und nannte das erste: "Musterbetrachtung über den Sinn des Glaubens", das zweite: "Glaube, der Einsicht sucht". Als aber schon beide von mehreren mit diesen Überschriften abgeschrieben waren, zwangen mich einige, besonders der hochwürdige Erzbischof Hugo von Lyon, der apostolische Gesandte in Gallien (dieser befahl es mir sogar kraft apostolischer Autorität), den Büchern meinen Namen voran zu setzen. Um dies zu erleichtern, nannte ich das erste Monologion, d. h. SeIbstgespräch, das andere Proslogion, d. h. Anrede.

1. Ansporn zur Betrachtung Gottes

Auf denn, Erdenkind, flieh ein wenig deine Arbeit, verbirg dich eine Weile vor deinen lärmenden Gedanken! Wirf jetzt die lastenden Sorgen ab und stelle die mühevollen Zerstreuungen zurück! Mach dich ein Weilchen frei für Gott und ruhe ein wenig in ihm! "Tritt ein in das Kämmerlein" (Mt 6, 6) deines Herzens, lass alles draußen außer Gott und was dir hilft, ihn zu suchen, "verschließe die Türe" (Mt 6, 6) und suche ihn! Sprich nun, mein ganzes "Herz, sprich nun zu Gott": Ich suche dein Antlitz, "dein Antlitz, Herr, suche ich immerdar" (Ps 26, 8).

Auf denn, du mein Herr und Gott, lehre mein Herz, wo und wie es dich suchen, wo und wie es dich finden kann! Herr, wenn du hier nicht bist, wo soll ich dich Abwesenden suchen? Bist du aber überall, warum sehe ich dich nicht gegenwärtig? Freilich, du wohnst "in unzugänglichem Lichte" (1 Tim 6, 16). Doch wo ist das unzugängliche Licht? Oder wie komme ich zu dem unzugänglichen Licht? Wer wird mich führen und in es hineinführen, damit ich dich darin sehe? Und welches sind die Zeichen, wie ist dein Antlitz, dass ich dich suchen kann? Niemals sah ich dich, mein Herr und Gott, ich kenne dein Antlitz nicht. Was soll nun, höchster Herr, was soll der anfangen, der weit von dir verbannt ist? Was soll dein von Liebe geängsteter und weit "von deinem Angesicht verworfener" (Ps 50, 13) Knecht tun? Er schmachtet darnach, dich zu sehen, doch zu fern ist ihm dein Antlitz. Er begehrt dir zu nahen, doch unzugänglich ist deine Stätte. Er verlangt dich zu finden, doch er weiß nicht, wo du bist. Er beginnt dich zu suchen, doch kennt er dein Antlitz nicht. Herr, mein Gott bist du, und mein Herr bist du, und ich habe dich nie gesehen. Du hast mich erschaffen und erlöst, all mein Gut hast du mir gegeben, und noch kenne ich dich nicht. Ja, dich zu schauen, bin ich erschaffen, und noch habe ich nicht erreicht, wozu ich erschaffen bin.

O elendes Menschenlos! Verloren hat der Mensch, wozu er erschaffen ward. O harter und grausamer Fall! Wehe! Was hat er verloren, und was hat er gefunden; was schwand dahin, und was ist geblieben! Verloren hat er die Seligkeit, für die er erschaffen; gefunden hat er das Elend, für das er nicht erschaffen. Entschwunden ist, ohne das kein Glück; geblieben ist, was in sich nur Elend ist. Damals aß der Mensch vom Brot der Engel (Vgl. Ps 77, 25), darnach er jetzt hungert. Jetzt isst er vom Brot der Schmerzen, das er früher nicht kannte. Wehe! Offen ist der Menschen Trauer, allgemein der Adamssöhne Klage! Adam war übersatt, wir seufzen vor Hunger. Er hatte im Überfluss, wir betteln. Er war in glücklichem Besitz und gab ihn elend auf, wir darben kläglich, verlangen voll Jammer, und ach, leer gehen wir aus. Warum hat er uns nicht bewahrt, was wir so schwer entbehren? Leicht hätte er das vermocht. Warum sperrte er uns so das Licht ab und bedeckte uns mit Finsternis? Warum nahm er uns das Leben und schlug er uns mit Tod? Wir Unglückliche, von wo sind wir vertrieben, wohinein sind wir getrieben! Von wo abgestürzt, wohinein versenkt! Von der Heimat in die Fremde, von der Gottesschau in unsere Blindheit, von der frohen Unsterblichkeit in bitteren und schrecklichen Tod! Unseliger Tausch! Dort welch ein Gut, hier welch ein Übel! Schwer ist der Verlust, schwer der Schmerz, schwer ist alles.

Doch wehe mir Armen! Auch ich bin einer von Evas unglücklichen gottfernen Kindern. Was hab' ich begonnen, was hab' ich erreicht? Wohin hab' ich mich gewandt, wohin bin ich geraten? Was ersehnte ich, worin seufze ich? Ich suchte Gutes, "und siehe, Verwirrung ist mir geworden" (Jer 14, 19). Ich strebte nach Gott und stolperte über mich selbst. Ruhe suchte ich in meinem Inneren, aber "Betrübnis und Schmerz fand ich" (Ps 114, 3) in meiner Seele. Ich wollte lachen ob der Freude meines Herzens, aber "stöhnen muss ich nun im Schmerz meiner Seele" (Ps 37, 9). Freude hatte ich erhofft, doch siehe, wie sich Seufzer an Seufzer fügt!

"Du aber, Herr, wie lange säumst du noch" (Ps 6, 4) ? "Wie lange noch, o Herr, vergisst du" unser, "wie lange noch wendest du dein Antlitz" von uns (Ps 12, 1) ? Wann blickst du uns erhörend an? Wann wirst du unsre Augen erleuchten "und dein Angesicht uns zeigen" (Ps 79, 4) ? 'Wann schenkst du dich uns wieder? Herr, blicke her, erhöre und erleuchte uns, zeige dich uns! Schenke dich uns wieder, dann wird es gut um uns stehen; ohne dich geht es uns gar schlecht! Erbarme dich unserer Mühen und unseres Ringens nach dir, ohne dich vermögen wir nichts! Du heißest uns kommen, hilf uns! Ich flehe, Herr, lass im Leid mich nicht verzweifeln; gib, dass ich hoffend wieder Atem schöpfe! Ich beschwöre dich, Herr, verbittert ist mein Herz in seiner öde; gib ihm Süßigkeit mit deinem Trost! Ich flehe dich an, Herr, hungernd begann ich dich zu suchen; lass mich nicht leer von dir gehen! Hungrig nahte ich mich; lass mich nicht ungespeist umkehren! Arm kam ich zum Reichen, elend zum Barmherzigen; lass mich nicht leer und verachtet heimgehen! Und wenn "ich seufze, bevor ich esse" (Job 3, 24), so speise mich dann nach dem Seufzen! Herr, gebeugt bin ich, kann nur erdwärts schauen; richte mich auf, dass ich aufwärts blicke! "Meine Sünden sind bis über mein Haupt gehäuft", sie hüllen mich ein, "wie eine schwere Last" drücken sie mich (Ps 37, 5)! Befrei mich, entlaste mich, dass ihr "Abgrund seinen Schlund über mir nicht schließe" (Ps 68, 16)! Lass mich zu deinem Lichte aufschauen, wenigstens von Ferne, aus der Tiefe! Lehre mich dich suchen und zeige dich dem Suchenden; denn weder suchen kann ich dich, wenn du es nicht lehrst, noch finden dich, wenn du dich nicht zeigst! Lass mich dich verlangend suchen, suchend dich verlangen; lass mich dich liebend finden und findend dich lieben!

Ich bekenne, Herr, und sage Dank: Du hast in mir dein Bild geschaffen, dass ich dein gedenke, dich erkenne, dich liebe! Aber so sehr ist es durch die Laster verwischt, so geschwärzt vom Rauch der Sünden, dass es nicht erfüllen kann, wozu es bestimmt ist, wenn du es nicht erneuerst und umgestaltest. Ich suche nicht, Herr, in deine Höhe einzudringen, wie könnte ich meinen Verstand mit ihr messen! Doch ein wenig will ich deine Wahrheit kennen, die mein Herz in Glaube und Liebe umfängt. Ich suche nicht Einsicht, um zum Glauben, sondern ich glaube, um zur Einsicht zu kommen. Denn auch das glaube ich: Wenn ich nicht glaubte, würde ich nicht erkennen.

2. Gott hat wahrhaft Sein

Also, Herr, der du dem Glauben Einsicht schenkest, lass mich, so weit du es für gut hältst, einsehen, dass du Sein hast, so wie wir es glauben, und dass du das bist, was wir glauben! Wir glauben aber, du bist "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist"!

Oder hat vielleicht ein solches Wesen kein Sein, da "der Tor in seinem Herzen spricht: Gott ist nicht" (Ps 13, 1)? Aber wenn eben dieser Tor hört, was ich sage: "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist", so versteht er, was er hört; und was er versteht, das hat Sein in seinem Geiste, auch wenn er nicht einsieht, dass es ist. Denn es ist etwas anderes, wenn eine Sache im Geiste Sein hat, und etwas anderes, erkennen, dass sie ist. Wenn ein Maler vorher überlegt, was er malen wird, so trägt er es zwar in seinem Geiste; aber er erkennt noch nicht, dass es ist, weil er es noch nicht gemalt hat. Hat er das Bild gemalt, so hat er es im Geiste und er erkennt auch, dass sein Werk ist. Also wird auch der Tor überführt, dass "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist", im Geiste Sein hat, weil er versteht, was er hört, und was man versteht, hat Sein im Geiste. Nun kann aber "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist", nicht nur im Geiste Sein haben. Denn, wenn es nur im Geiste Sein hat, kann es als noch größer gedacht werden: dass es nämlich auch in der Wirklichkeit ist. Wenn also "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist", nur im Geiste Sein hat, ist "das, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist", selbst "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres denkbar ist". Das aber kann sicher nicht sein. Also hat "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist" im Geiste Sein und auch in der Wirklichkeit.

3. Das Nichtsein Gottes ist undenkbar

Dieses Sein kommt ihm so wahrhaft zu, dass sein Nichtsein undenkbar ist. Man kann sich gewiss ein Ding, dessen Nichtsein undenkbar ist, vorstellen. Das ist größer als ein Ding, dessen Nichtsein denkbar ist. Wenn also das Nichtsein dessen, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist, denkbar ist, dann ist dieses "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist", nicht "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist". Das ist unmöglich. "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist", hat demnach so wahrhaft Sein, dass sein Nichtsein nicht einmal denkbar ist.

Und dieses (nämlich: "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist." Vgl. Beginn von Kap. 2) bist du, Herr unser Gott! Du hast also, mein Herr und Gott, so wahrhaft Sein, dass dein Nichtsein nicht einmal denkbar ist.

Mit Recht; könnte der Geist ein Größeres als dich ersinnen, dann stiege das Geschöpf über seinen Schöpfer hinaus und rechtete über ihn. Das ist ganz sinnlos. Was immer außer dir ist, dessen Nichtsein ist denkbar. Du allein hast also unter allem im wahrsten Sinn und deshalb in höchster Fülle Sein, weil alles, was sonst ist, das Sein nicht so wahrhaft und darum in geringerer Weise besitzt. Warum also "sprach der Tor in seinem Herzen: Gott ist nicht" (Ps 13, 1), da es dem vernünftigen Geiste so klar ist, dass du in höchster Fülle Sein besitzest? Warum, wenn nicht, da er ein Tor ist und ein Narr?

4. Wie der Tor das Undenkbare in seinem Herzen sprach

Aber wie sprach er in seinem Herzen, was zu denken ihm unmöglich war, oder wie konnte er das nicht denken, was er in seinem Herzen sprach, da doch "im Herzen sprechen" und "denken" das gleiche ist? Wenn er es wirklich oder vielmehr weil er es wirklich dachte, da er es in seinem Herzen sprach und es doch nicht im Herzen sprach, da er es nicht denken konnte: deshalb denkt man und spricht man im Herzen nicht nur auf eine Weise. Anders denkt man eine Sache, wenn man nur das Wort denkt, das sie bezeichnet; anders, wenn man die Sache selbst erkennt. Auf die erste Weise kann man also denken, Gott habe kein Sein, auf die zweite aber nicht. Denn keiner, der versteht, was Gott ist, kann denken, er habe kein Sein. Er kann diese Worte zwar in seinem Herzen sprechen, doch haben sie dann gar keinen oder einen ganz anderen Sinn. Denn Gott ist "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist". Wer das recht begreift, der sieht wohl ein, dass dieses das Sein so besitzt, dass sein Nichtsein undenkbar ist. Wer also einsieht, dass Gottes Sein so ist, für den ist Gottes Nichtsein undenkbar.

Dank dir, guter Herr, Dank dir! Denn was ich zuvor durch deine Gnade glaubte, sehe ich kraft deiner Erleuchtung jetzt so ein, dass, selbst wenn ich nicht glauben wollte, dass du das Sein besitzest, ich es doch einsehen müsste.

5. Gott ist alles, was zu sein besser ist, als es nicht zu sein; er allein hat Sein aus sich und schafft alles andere aus nichts

Was bist du also, Herr und Gott, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist? Was anderes als das Höchste aller Dinge, das aus sich selbst Sein hat und alles andere aus nichts erschaffen hat? Denn alles, was dieses nicht ist, ist nicht das denkbar Höchste. dass du nicht das denkbar Höchste bist, darf man aber von dir nicht denken. Welches Gut sollte also dem höchsten Gute fehlen, durch das jedes Gut Sein hat? Du bist also gerecht, wahrhaftig, selig und was immer besser ist zu sein, als nicht zu sein. Denn es ist besser, gerecht zu sein, als es nicht zu sein, besser, selig zu sein, als nicht selig zu sein.

6. Gott empfindet und ist doch kein Körper

Da empfindend sein, allmächtig, voll Mitleid und leidlos sein besser ist, als es nicht sein: wie empfindest du, ohne körperlich zu sein, wie bist du allmächtig, der du nicht alles vermagst, oder wie bist du voll Mitleid und doch leidlos ? Denn wenn nur Körper empfinden, weil die Sinne auf Körperliches gehen und im Körper sind, wie empfindest du, wenn du nicht körperlich bist, sondern höchster Geist, der höher steht als der Körper?

Da aber Empfinden nichts anderes ist als Erkennen oder nur dem Erkennen dient - wer empfindet, erkennt gemäß der Natur der Sinne, etwa Farben durch das Gesicht, Geschmack durch den Gaumen -, so sagt man nicht ungeschickt, dass jeder, der irgendwie erkennt, auch irgendwie empfindet.

Also, Herr, du bist nicht körperlich, doch empfindest du in höchster Weise, insofern du alles vollkommen erkennst, nicht wie ein Lebewesen, das mit körperlichem Sinne erkennt!

7. Gott ist allmächtig, obwohl er vieles nicht vermag

Allein, wie bist du allmächtig, wenn du nicht alles vermagst? Wenn du weder vergehen, noch lügen kannst, wenn du das Wahre nicht falsch, wie auch das Geschehene nicht ungeschehen machen kannst und Ähnliches mehr? Wie kannst du da alles?

Doch ist es nicht eher Ohnmacht als Macht, wenn man dergleichen vermag? Denn wer solches vermag, der kann, was ihm nicht frommt und was er nicht soll. Je mehr er das kann, um so mehr vermögen Feindliches und Böses wider ihn, und um so weniger vermag er gegen sie. Wer also in diesem Sinn etwas kann, der kann nicht aus Macht, sondern aus Ohnmacht. Denn nicht deswegen sagt man, er könne etwas, weil er selbst Macht hat, sondern weil er in seiner Ohnmacht Fremdem über sich Gewalt gibt. Es ist dies eine besondere Ausdrucksweise, wie wir auch vieles andere uneigentlich bezeichnen. So setzen wir "Sein" für "Nichtsein" und "Tun" für "Nichttun" oder "Nichts-tun". Oft sagen wir ja dem, der etwas leugnet: "Es ist, wie du sagst"; während man eigentlich sagen will: "Es ist nicht, wie du sagst, es sei nicht." Wir sagen auch: "Dieser sitzt, wie jener tut", oder: "Dieser ruht, wie jener tut". Und doch ist Sitzen ein Nichttun und Ruhen ein Nichts-tun. So bezeichnet man auch Ohnmacht als Können, wenn man sagt, jemand könne etwas tun oder leiden, was ihm nicht frommt oder was er nicht soll. Je mehr er das kann, um so mehr haben Feindliches und Böses Gewalt über ihn, und um so schwächer ist er gegen sie.

Also, Herr und Gott, nur um so wahrer bist du allmächtig, weil du nichts aus Ohnmacht kannst und nichts etwas gegen dich vermag!

8. Wie Gott voll Mitleid und doch leidlos ist

Wie aber bist du zugleich voll Mitleid und leidlos ?

Wenn du leidlos bist, hast du kein Mitgefühl; wenn du kein Mitgefühl hast, dann hast du kein "leidvolles Herz aus Mitgefühl mit dem Elenden", das heißt, du hast kein Mitleid. Wenn du aber kein Mitleid kennst, woher kommt dann den Elenden so viel Trost? Du bist also voll Mitleid, Herr, und bist es nicht, weil du voll Mitleid bist für uns, nicht aber in dir. Du bist es, insofern wir es erfahren, nicht aber, insofern du es empfindest. Denn wenn du uns Elende gnädig anschaust, verspüren wir das Wirken des Mitleidvollen, aber du verspürst kein Leid.

Du bist also voll Mitleid, sofern du Elende rettest und deiner Sünder schonst; du bist es nicht, weil kein Elend dich in Leid versetzt.

9. Der ganz und höchst Gerechte schont der Bösen und erbarmt sich ihrer in Gerechtigkeit

Wie kannst du aber der Bösen schonen, wenn du ganz und höchst gerecht bist? Denn wie kann der ganz und höchst Gerechte Unrecht tun? Was ist das aber für eine Gerechtigkeit, wenn jener, der ewigen Tod verdient, ewiges Leben erhält? Wie kommt es also, guter Gott, der du gut bist Guten und Bösen, dass du die Bösen rettest, wenn das nicht recht ist und du kein Unrecht tust? Liegt das nicht im "unzugänglichen Licht" verborgen, "in dem du wohnst" (1 Tim 6, 16), da deine Güte unbegreiflich ist? Wahrlich im geheimnisvollen Abgrund deiner Güte liegt die Quelle verborgen, daraus die Flut deines Erbarmens strömt. Bist du auch ganz und höchst gerecht, so bist du doch auch gütig gegen die Bösen, weil du ganz höchste Güte bist. Du wärest ja nicht ganz gut, wenn du dich nicht auch einem Bösen gütig erwiesest. Größer ist ja die Güte dessen, der Guten und Bösen gütig ist, als wer nur Guten gnädig sich erweist. Und größer ist die Güte dessen, der sich den Bösen im Strafen und Verzeihen gut erweist, als wer dies nur durch Strafen tut. Deshalb bist du also barmherzig, weil du ganz höchste Güte bist. Warum du Guten Gutes und Bösen Böses vergiltst, können wir vielleicht begreifen; das ist jedoch sehr verwunderlich, dass du, der ganz Gerechte, der keines anderen bedarf, den Bösen und deinen Schuldnern Gutes erweisest. O Abgrund deiner Güte, Gott! Wir sehen, woher deine Barmherzigkeit stammt, und ergründen sie nicht. Wir sehen, woher der Strom sich ergießt, aber sehen die Quelle nicht, aus der er fließt. Denn aus der Fülle deiner Güte bist du deinen Sündern gnädig, und in der Tiefe deiner Güte liegt der Grund dafür verborgen. Auch wenn du aus Güte Guten Gutes und Bösen Böses vergiltst, scheint es doch der Lauf der Gerechtigkeit so zu fordern. Doch wenn du Bösen Gutes erweisest, wissen wir, dass die höchste Güte es tun wollte, und wundern uns, warum die höchste Gerechtigkeit es wollen konnte.

O Erbarmen, aus wie reicher Süßigkeit und wie süßer Fülle strömst du uns zu! O unermessliche Güte Gottes, mit welcher Inbrunst müssen dich die Sünder lieben! Du rettest die Gerechten, wenn die Gerechtigkeit mit ihnen ist; du befreist die Sünder, wenn die Gerechtigkeit gegen sie steht; jene rettest du auf Grund ihrer Werke, diese trotz ihrer Werke; jene, weil du das Gute erkennst, das du gabst; diese, weil du das Böse verzeihst, das du hassest. O unbegrenzte Güte, die du so alles Verstehen übersteigst, es komme über mich das Erbarmen, das aus solcher Fülle deines Reichtums hervorquillt! Hineinströmen soll es in mich, wie es aus dir ausströmt! Schone meiner in Milde, übe nicht Rache in Gerechtigkeit! Nenn es auch schwer zu verstehen ist, wie dein Erbarmen sich nicht von deiner Gerechtigkeit trennt, müssen wir doch glauben, dass, was der Güte entstammt, deiner Gerechtigkeit nicht entgegensteht, weil sie ohne Gerechtigkeit nicht sein kann, ja der Gerechtigkeit wirklich entspricht. Wenn du barmherzig bist, weil du höchste Güte bist und höchste Güte nicht sein kannst, es sei denn, du seiest höchste Gerechtigkeit, dann bist du wirklich deshalb barmherzig, weil du höchste Gerechtigkeit bist. Hilf mir, gerechter und erbarmungsvoller Gott, dessen Licht ich suche; hilf mir, dass ich verstehe, was ich ausspreche! Wahrhaft bist du also deswegen barmherzig, weil du gerecht bist.

Aus deiner Gerechtigkeit entspringt also dein Erbarmen? Du schonst also der Bösen aus Gerechtigkeit? Wenn es so ist, Herr, wenn es so ist, lehre mich, wie das ist! Ist es nicht so, weil es gerecht ist, dass du von einer Güte bist, deren Mehrung undenkbar ist, und dass du mit einer solchen Macht wirkest, deren Steigerung undenkbar ist? Muss es nicht nach Recht so sein? Und es wäre nicht so, wenn du nur im Belohnen, nicht im Verzeihen gut wärest und nur aus Nichtguten, nicht aber auch aus Bösen Gute machtest. So ist es also gerecht, dass du der Bösen schonest und Gute aus Bösen machest. Kurz: Was nicht gerecht geschieht, darf nicht geschehen; und was nicht geschehen darf, geschieht zu Unrecht. Ist es also nicht recht, dass du dich der Bösen erbarmst, so darfst du dich ihrer nicht erbarmen; und wenn du dich nicht erbarmen darfst, erbarmst du dich zu Unrecht. Das zu sagen, ist Frevel; also ist es Pflicht, zu glauben, dass du dich in Gerechtigkeit der Bösen erbarmst.

10. In Gerechtigkeit straft Gott die Bösen, und in Gerechtigkeit schont er ihrer

Aber es ist auch gerecht, dass du die Bösen strafst.

Denn was ist gerechter, als dass Gute Gutes und Böse Böses erhalten? Wie ist es also gerecht, wenn du Böse strafst, und auch gerecht, wenn du der Bösen schonst? Aber ist es nicht in einem anderen Sinn gerecht, wenn du die Bösen strafst, und in einem anderen, wenn du ihrer schonst? Wenn du die Bösen strafst, ist es gerecht, weil ihre \Verke es verdienen; wenn du aber der Bösen schonst, ist es gerecht, nicht weil es ihren Verdiensten, sondern weil es deiner Güte entspricht. Wenn du der Bösen schonst, bist du gerecht in dir und nicht nach uns, wie du voll Mitleid bist für uns und nicht in dir. Wenn du uns rettest, die du zu Recht verderben könntest, bist du voll Mitleid, nicht weil dich ein Leid trifft, sondern weil wir das Helfen verspüren; so bist du auch gerecht, nicht weil du uns gibst, was wir verdienen, sondern weil du tust, was deiner höchsten Güte entspricht. So strafst und schonst du demnach ohne Widerspruch in Gerechtigkeit.

11. "Erbarmen und Treue sind alle Wege des Herrn" und doch "ist der Herr gerecht auf allen seinen Wegen"

Aber ist es nicht auch nach dir gerecht, Herr, die Bösen zu strafen? Es ist ja recht, dich so gerecht zu denken, dass man dich nicht gerechter denken kann. Das wärest du nicht, wenn du nur Guten Gutes und nicht auch Bösen Böses vergelten würdest. Gerechter ist ja, wer Guten und Bösen, als wer nur Guten nach Verdienst vergilt. Es ist also auch nach dir gerecht, gerechter und gütiger Gott, zu strafen und zu schonen. In Wahrheit sind also "alle Wege des Herrn Erbarmen und Treue" (Ps 24, 10), und dennoch "ist der Herr gerecht auf allen seinen Wegen" (Ps 144, 17). Und das ohne Widerspruch, denn die du strafen willst, dürfen nicht gerettet werden, und deren du schonen willst, dürfen nicht verdammt werden. Nur das ist ja recht, was du willst, und unrecht, was du nicht willst. So entspringt also aus deiner Gerechtigkeit dein Erbarmen, weil es recht ist, wenn du so gut bist, dass deine Güte sich auch im Schonen zeigt. Und das ist vielleicht der Grund, warum der Allgerechte Bösen Gutes wollen kann. Aber wenn man es auch verstehen kann, warum es möglich ist, dass du Böse retten willst, das kann man gewiss nie ergründen, warum du aus gleich Bösen eher diese aus höchster Güte rettest als jene, und eher diese in höchster Gerechtigkeit verdammst als jene.

So empfindest du also wahrhaft, bist allmächtig, voll Mitleid und leidlos, wie du lebst, weise, gut, selig und ewig bist und was sonst besser ist, zu sein, als nicht zu sein.

12. Gott ist das Leben selbst, aus dem er lebt. Gleiches gilt von den übrigen Eigenschaften

Gewiss, was immer du bist, bist du nicht durch etwas anderes, sondern durch dich selbst. Du bist also das Leben selbst, aus dem du lebst, die Weisheit, in der du erkennst, die Güte, mit der du Guten wie Bösen Gutes erweisest. Ein Gleiches gilt von den Übrigen Eigenschaften.

13. Wie Gott allein unbegrenzt und ewig ist, obschon auch andere Geister unbegrenzt und ewig sind

Alles aber, was Raum oder Zeit irgendwie umschließen, ist geringer als das, was kein Gesetz des Raumes oder der Zeit beengt. Weil es also im Vergleich zu dir kein Größeres gibt, engt kein Ort und keine Zeit dich ein. Du bist überall und immer. Weil man das nur von dir sagen kann, bist du allein unbegrenzt und ewig.

Wie aber heißen dann auch andere Geister unbegrenzt und ewig?

Du bist allein ewig, weil du allein zu sein weder aufhörst noch angefangen hast.

Und wie bist du allein unbegrenzt? Ist nicht der geschaffene Geist, mit dir verglichen, begrenzt, mit dem Körper verglichen, unbegrenzt? Wahrlich ganz begrenzt ist, was nicht zugleich irgendwo anders sein kann, wenn es irgendwo ganz ist. Das trifft nur bei Körpern zu. Unbegrenzt ist, was zugleich überall ganz ist. Das sehen wir nur an dir. Begrenzt und zugleich unbegrenzt ist, was zugleich ganz irgendwo anders, aber nicht überall sein kann, wenn es irgendwo ganz ist. Das sehen wir an den geschaffenen Geistern. Wenn die Seele nicht ganz in jedem einzelnen Glied ihres Leibes wäre, würde sie nicht ganz in den einzelnen empfinden.

Du also, Herr, bist einzigartig unbegrenzt und ewig, und dennoch sind auch andere Geister unbegrenzt und ewig.

14. Der Gottsucher sieht Gott und sieht ihn doch nicht

Hast du nun gefunden, meine Seele, was du suchtest? Du suchtest Gott und fandest, dass er das Höchste von allem sei, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist, dass dieses das Leben selbst, Licht, Weisheit, Güte, ewige Seligkeit und selige Ewigkeit ist, und dass es überall und immer ist. Wenn du nun deinen Gott nicht gefunden hast, wie ist er dann das, was du gefunden und als das du ihn in sicherer Wahrheit und wahrer Sicherheit erkannt hast? Hast du ihn aber gefunden, warum fühlst du nicht, was du gefunden hast?

Warum, Herr und Gott, fühlt dich meine Seele nicht, wenn sie dich gefunden hat? Hat sie den etwa nicht gefunden, von dem sie fand, er sei Licht und Wahrheit? Wie konnte sie das sonst einsehen, wenn sie nicht Licht und Wahrheit sah? Oder hätte sie überhaupt etwas von dir einsehen können, wenn nicht durch "dein Licht und deine Wahrheit" (Ps 42, 3)? Wenn sie also Licht und Wahrheit sah, sah sie dich. Wenn sie dich nicht sah, sah sie weder Licht noch Wahrheit.

Oder hat sie etwa Wahrheit und Licht gesehen, hat aber dich nicht gesehen, weil sie dich in etwa sah, aber nicht sah, "wie du bist" (1 Joh 3, 2)? Herr, mein Gott, mein Schöpfer und Erlöser, sag meiner verlangenden Seele, was du noch anderes bist, als sie bisher sah, auf dass sie klar sehe, was sie verlangt. Sie strengt sich an, mehr zu sehen, und über das hinaus, was sie sah, sieht sie nur Finsternis. Vielmehr Finsternis sieht sie nicht, denn Finsternis ist nicht in dir (Vgl. 1 Joh 1, 5); aber sie sieht, dass sie ihrer eigenen Finsternis wegen nicht mehr sehen kann. Warum, Herr, warum dieses? Verfinstert sich ihr Auge ob seiner Schwachheit, oder wird es zurückgeschleudert von deinem Glanze? Gewiss, verfinstert wird es in sich, zurückgeschleudert wird es von dir. Verdunkelt wird es ob seiner Schwäche, überschüttet wird es von deinem Übermaß. Wahrlich, aus eigener Enge schrumpft es zusammen, und übermannt wird es von deiner Fülle. Wie hell ist doch jenes Licht, von dem alles Wahre erstrahlt, das den vernünftigen Geist erleuchtet! Wie weit ist jene Wahrheit, die alles Wahre in sich schließt, außer der es nur Nichts und Falschheit gibt! Wie unermesslich ist sie, die mit einem Blick alles Geschaffene schaut, von wem, durch wen und wie es aus dem Nichts erschaffen ward! Welche Reinheit, welche Einfachheit, welche Sicherheit und weIcher Glanz ist dort! Gewiss mehr, als das Geschöpf zu erkennen vermag.

15. Gott ist größer, als wir uns vorstellen können

Du bist also, Herr, nicht nur "Etwas, im Vergleich zu dem ein Größeres undenkbar ist", sondern größer, als wir uns vorstellen können. Man kann ja denken, dass es so etwas gibt; und wenn du dieses nicht bist, wäre ein Größeres als du denkbar? Das ist unmöglich.

16. Das ist das "unzugängliche Licht" (1 Tim 6, 16), in dem er wohnt

Wahrlich, Herr, das ist das unzugängliche Licht, in dem du wohnst. Nichts könnte darin eindringen, um dich offen darin zu schauen. Wahrlich, deswegen sehe ich es nicht, weil es zu stark für mich ist, und doch sehe ich, was ich sehe, durch dieses. Auch ein krankes Auge sieht, was es sieht, durch das Licht der Sonne, das es in der Sonne selbst nicht zu schauen vermag. Mein Verstand ist zu schwach für dieses Licht. Zu hell strahlt es; er fasst es nicht, und das Auge meiner Seele kann sich nicht lange darauf richten. Zurückgeschleudert wird es vom Glanz, überwältigt von der Fülle, überschüttet vom Übermaß, verwirrt in seiner Fassungskraft. O höchstes und unzugängliches Licht, o ganze und selige Wahrheit, wie weit bist du von mir, der ich dir so nahe bin! Wie weit bist du von meinem Blick, der ich vor deinem Auge stehe! Ganz bist du überall gegenwärtig, und ich sehe dich nicht. In dir bewege ich mich, und in dir bin ich (Vgl. Apg 17, 28), und ich kann mich dir nicht nahen. Du bist in mir und um mich, und ich fühle dich nicht.

17. Wohlklang, Duft, Geschmack, Sanftheit, Schönheit sind in Gott auf unaussprechliche Weise

Noch bist du, Herr, meiner Seele verborgen in deinem Lichte und in deiner Seligkeit, und deshalb liegt sie noch in ihrer Finsternis und in ihrem Elend. Sie schaut sich um, sieht aber deine Schönheit nicht. Sie horcht auf, hört aber deinen Wohlklang nicht. Sie riecht, nimmt aber deinen Duft nicht wahr. Sie kostet, erkennt aber deinen Geschmack nicht. Sie fühlt, empfindet aber deine Sanftheit nicht. Das alles hast du ja in dir, Herr und Gott, auf deine unaussprechliche Weise, denn du hast es deinen Geschöpfen in ihrer sinnhaften Weise gegeben. Aber erstarrt, aber abgestumpft und verschlossen sind die Sinne meiner Seele in langem Siechtum der Sünde.

18. Weder in Gott sind Teile, noch in seiner Ewigkeit, die er selbst ist

Und siehe, wieder Verwirrung! Wieder stößt auf Trauer und Klage, der nach Freude und Lust sucht. Schon hoffte meine Seele auf Sättigung, und siehe, Leere befällt sie wieder. Ich glaubte schon essen zu können, und siehe, noch mehr muss ich hungern. Ich wollte mich aufrichten zum Lichte Gottes, in meine Finsternis fiel ich zurück. Nicht nur zurückgefallen bin ich in sie, sondern ganz umhüllt fühle ich mich von ihr. Bevor mich meine Mutter empfing, fiel ich schon. Ja, in Finsternis bin ich empfangen (Vgl. Ps 50, 7), und in sie gehüllt ward ich geboren. Einst sind wir ja alle in dem gefallen, "in dem wir alle gesündigt haben" (Röm 5, 12). In ihm, der mühelos besaß und elend für sich und für uns verlor, haben wir alle verloren, was wir nicht mehr kennen, wenn wir uns zu suchen anschicken, was wir nicht finden, wenn wir suchen. Finden wir aber, dann ist es nicht das, was wir suchen. Hilf mir, Herr, um deiner Güte willen! Dein Angesicht "habe ich gesucht, dein Angesicht, Herr, will ich suchen immerdar; wende dein Angesicht nicht weg von mir (Ps 26, 8 f) !" Hebe mich von mir zu dir empor! Reinige, heile, schärfe, erleuchte das Auge meines Geistes, dass es dich schauen kann!

Meine Seele sammle ihre Kräfte neu und richte sich mit ihrem ganzen Sinn wieder auf dich, Herr! Was bist du, Herr, was bist du, als was wird dich mein Herz erkennen? Gewiss, Leben bist du, Weisheit, Wahrheit, Güte, Seligkeit, Ewigkeit, alles wahrhaft Gute bist du. Viel ist das, mein enger Sinn kann so viel nicht in einem fassen, um an allem zugleich sich zu erfreuen. Wie bist du also, Herr, alles dieses? Sind Teile in dir, oder ist jedes von diesen ganz, was du bist? Was aus Teilen gefügt ist, ist nicht ganz eins, sondern in etwa vieles und von sich selbst verschieden und kann wirklich oder doch im Geiste geteilt werden. Das alles ist dir fremd, im Vergleich zu dem ein Besseres undenkbar ist. In dir sind also keine Teile, Herr, noch bist du Vieles, sondern so bist du eins und dir selbst gleich, dass du in nichts von dir selbst verschieden bist. Ja, du selbst bist die Einheit, und kein Denken kann Teilung in dich tragen.

Leben und Weisheit und alles andere sind also nicht deine Teile, sondern alle sind eins, und jedes von ihnen ist ganz, was du bist und was die Übrigen sind. Da also weder du Teile hast noch deine Ewigkeit, die du selbst bist, ist nirgends und nie ein Teil von dir oder deiner Ewigkeit, sondern überall bist du ganz, und deine Ewigkeit ist immer ganz.

19. Gott ist weder im Raum noch in der Zeit, vielmehr ist alles in ihm

Du warst, bist und wirst sein durch deine Ewigkeit. Aber "gewesen sein" ist nicht "sein werden" und "sein" nicht "gewesen sein" noch "sein werden". Wie ist da deine Ewigkeit immer ganz? Nicht deshalb, weil von deiner Ewigkeit nichts vorüber ist, so dass es nicht mehr wäre, oder weil nichts von ihr künftig ist, so dass es noch nicht wäre? Du warst also nicht gestern, noch wirst du morgen sein, sondern gestern und heute und morgen bist du. Ja, du bist auch nicht gestern und heute und morgen, sondern du stehst gänzlich außer aller Zeit. Gestern, heute und morgen sind ja in der Zeit, du aber bist weder im Raum, noch bist du in der Zeit, obschon nichts ohne dich ist. Alles ist vielmehr in dir. Nichts umschließt dich, aber du umschließest alles.

20. Gott ist vor und nach allen Dingen, auch den ewigen

Du erfüllst und umfassest also alles; du bist vor und nach allem.

Du bist vor allem, weil du bist, bevor es wurde (Vgl. Ps 89, 2).

Wie bist du nach allem? Wie bist du nach denen, die ohne Ende sind? Nicht deshalb, weil jene ohne dich nicht sein können, du aber nichts verlierst, auch wenn jene ins Nichts zurückkehren? So bist du in gewissem Sinn nach allem. Bist du es nicht auch deshalb, weil deren Ende denkbar ist, das deine aber nicht? So haben jene in gewissem Sinn ein Ende, du aber keineswegs. Und gewiss ist das, was gar kein Ende hat, nach dem, was irgendwie endlich ist. Und bist du nicht auch so über alles, selbst das Ewige, weil dir deine und jener Ewigkeit ganz gegenwärtig ist, während jene von ihrer Ewigkeit noch nicht haben, was noch kommen soll, und nicht mehr haben, was vorüber ist? So bist du immer noch nach diesen, weil du immer dort gegenwärtig bist, oder weil dir das immer gegenwärtig ist, was jene noch nicht erreicht haben.

21. Ist dies die "Ewigkeitsewigkeit" oder "alle Ewigkeit"?

Ist das nicht die "Ewigkeitsewigkeit" oder "alle Ewigkeit" (An ergo hoc est saeculum saeculi sive saecula saeculorum?)? Wie die Zeitewigkeit (Saeculum temporum) alles Zeitliche enthält, so umschließt deine Ewigkeit auch noch die Zeitewigkeiten. Sie ist Ewigkeit wegen ihrer unteilbaren Einheit, alle Ewigkeit wegen ihrer endlosen Unermesslichkeit.

Obschon du so groß bist, Herr, dass alles von dir erfüllt und in dir ist, so bist du doch ohne Ausdehnung, so dass weder Mitte noch Hälfte noch sonst ein Teil in dir ist!

22. Gott allein ist das, was er ist und der da ist

Du allein, Herr, bist das, was du bist und der du bist (Vgl. Ex 3, 14)!

Was als Teil anders ist denn als Ganzes, und was etwas Veränderliches in sich schließt, ist nicht das, was es ist. Was vom Nichtsein seinen Ausgang nahm und dessen Nichtsein denkbar ist, was ins Nichtsein zurückkehrt, wenn ein Anderes es nicht hält, was Vergangenheit hat, die nicht mehr ist, und Zukunft, die noch nicht ist, das hat nicht eigentlich und unbedingt Sein. Du aber bist, was du bist; denn was immer du einmal oder irgendwie bist, das bist du ganz und immerdar.

Du bist auch, der eigentlich und unbedingt Sein hat, denn du kennst weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur Gegenwart, und dein Nichtsein ist undenkbar.

Und Leben bist du und Licht und Weisheit, Seligkeit und Ewigkeit und vieles mehr, und doch bist du nur ein höchstes Gut, du, der, du allein dir vollauf genügst, keines bedarfst, dessen alles andere bedarf, um zu sein und um gut zu sein.

23. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind dieses Gut; es ist das eine Notwendige, das umfassende, ganze, einzige Gut

Dieses Gut bist du, Gott Vater; dieses Gut ist dein Wort, das heißt dein Sohn.

Nichts anderes, als was du bist, oder mehr oder weniger, als du bist, kann ja in dem Worte sein, in dem du dich selbst sprichst. Denn dein Wort ist so wahr, wie auch du wahrhaftig bist; darum ist es die Wahrheit selbst wie du, und keine andere als du. Und du wieder bist so einfach, dass aus dir nichts anderes geboren werden kann, als was du selbst bist.

Dieses Gut ist die eine dir und deinem Sohne gemeinsame Liebe, der Heilige von bei den ausgehende Geist. Diese Liebe ist dir oder deinem Sohne nicht ungleich, denn die Liebe, mit der du dich und jenen liebst, und jener dich und sich, ist so groß wie du und jener; noch kann von dir und jenem verschieden sein, was dir und jenem nicht ungleich ist, und von der höchsten Einfachheit kann nur ausgehen, was von seinem Prinzip nicht verschieden ist.

Was aber jeder einzelne ist, das ist die ganze Dreifaltigkeit zugleich, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Jeder einzelne ist ja nichts anderes als die höchste, einfache Einheit und die höchste, eine Einfachheit, die nicht vielfach und nicht verschieden sein kann. Nun gibt es nur "ein Notwendiges" (Lk 10, 42). Also ist dies das eine Notwendige, das jedes Gut enthält; ja es ist das allumfassende, eine, ganze und alleinige Gut.

24. Wie Art und Größe dieses Gutes sein mögen

Meine Seele, rüttle dich auf, richte dein ganzes Sinnen aufwärts und bedenke, so viel du kannst, die Art und Größe jenes Gutes!

Wenn schon ein einzelnes Gut lustvoll ist, bedenke achtsam, wie lustvoll jenes Gut sein muss, das die Lust aller Güter in sich trägt. Diese Lust ist der nicht gleich, die wir in den Geschöpfen erfahren, sondern so von ihr verschieden, wie der Schöpfer vom Geschöpf verschieden ist. Ist geschaffenes Leben gut, wie gut wird dann das schaffende Leben sein? Ist geworden es Heil ergötzlich, wie ergötzlich wird das Heil sein, aus dem uns jedes Heil wird? Ist jene Weisheit liebreich, die aus der Betrachtung der Geschöpfe fließt, wie liebreich wird die Weisheit sein, die alles aus dem Nichts erschuf? Wenn köstliche Dinge viele und große Lust bringen, wie stark und wie groß wird die Lust in dem sein, der die köstlichen Dinge erschuf?

25. Art und Größe des Glückes derer, die dieses Gut genießen

Was wird der haben, der dieses Gut genießt, und was wird ihm fehlen? Gewiss, was immer er will, wird er besitzen, und was er nicht will, wird ihm fehlen. Dort werden Güter für Leib und Seele sein, die "kein Auge gesehen, die kein Ohr gehört, die keines Menschen Herz" (1 Kor 2, 9) ersonnen.

Warum denn, Erdenkind, bist du unstät in Vielem und suchst nach Gut für deine Seele und deinen Leib? Liebe das eine Gut, das jedes Gut enthält, und es ist genug. Verlange nach dem einfachen Gut, das alles umfasst, und es ist genug. Was liebst du, mein Fleisch, was verlangst du, meine Seele? Was ihr liebt, was ihr verlangt, dort ist es, dort ist es! Erfreut euch Schönheit? "Wie die Sonne werden die Gerechten leuchten (Mt 13, 43)."

Ein behender, starker, freier Leib, dem nichts zu widerstehen vermag? Sie werden sein wie die Engel Gottes (Vgl. Mt 22, 30) denn "ein irdischer Leib wird gesät, ein geistiger Leib wird auferstehen" (1 Kor 15, 44) geistig der Kraft nach, nicht der Natur.

Langes und gesundes Leben? Dort ist gesunde Ewigkeit und ewige Gesundheit, "denn in Ewigkeit werden leben die Gerechten" (Weish 5, 16), und "vom Herrn kommt den Gerechten Heil" (Ps 36, 39).

Sättigung? Gesättigt werden sie, "wenn offenbar sein wird des Herrn Herrlichkeit" (Ps 16, 15).

Trunkenheit? "Sie werden trunken sein von der Fülle des Hauses des Herrn (Ps 35, 9)."

Wohlklang? Der Engel Chöre singen dort dem Herrn ohne Ende.

Jede keusche und reine Lust? Der Herr wird "sie trinken lassen vom Strome seiner Lust" (Ps 35, 9).

Weisheit? Gottes Weisheit selbst wird sich ihnen zeigen.

Freundschaft? Sie werden Gott lieben, mehr als sich selbst, und einander wie sich selbst, und Gott wird sie mehr lieben als sie sich selbst, denn sie werden ihn und sich und einander durch ihn lieben und er sich und sie durch sich selbst.

Eintracht? Alle werden nur einen Willen kennen, denn sie werden keinen anderen Willen haben als den Willen Gottes allein.

Macht? Sie werden in ihrem eigenen Willen allmächtig sein, wie Gott in seinem. Denn wie Gott, was er will, durch sich selbst kann, so können sie es durch Gott. Sie werden nichts anderes wollen als das, was Gott will; darum wird er wollen, was sie wollen, und was Gott will, kann nicht unerfüllt bleiben.

Ehre und Reichtum? Gott wird seine guten und getreuen Knechte über vieles setzen (Vgl. Mt 25, 21 und 23), ja, "Söhne Gottes" und "Götter werden sie genannt werden und sein" (Mt 5, 9 und Ps 81, 6); und wo sein Sohn sein wird, da werden auch sie sein als "Erben Gottes und Miterben Christi" (Röm 8, 17).

Wahre Sicherheit? Wahrlich, so sicher werden sie sein, nie und nimmer diese Güter - vielmehr dieses Gut zu missen, wie sie sicher sind, dass sie es willentlich nie verlieren werden. Sie werden sicher sein, dass der liebende Gott es seinen Liebenden nie gegen ihr Wollen nehmen wird, und dass kein Stärkerer als Gott sie wider Willen von Gott trennen wird.

WeIch große Freude wird dort herrschen, wo ein solches Gut sich findet!

Menschenherz, armes, leid geprüftes, ja von Leid überschüttetes Herz, wie würdest du dich freuen, wenn du dies alles in Fülle besäßest? Erforsche dein Innerstes, ob es seine Freude über solche Seligkeit fassen kann. Deine Freude wäre doppelt groß, wenn ein anderer, den du wie dich selbst liebst, die gleiche Seligkeit hätte. Seinetwegen würdest du dich nicht minder freuen als um deiner selbst willen. Wenn nun zwei oder drei oder noch mehr das gleiche hätten, dann würdest du dich für die einzelnen ebenso sehr freuen wie für dich, vorausgesetzt, dass du sie alle liebst wie dich selbst. So wird auch dort im Reich der vollen Liebe ungezählter seliger Engel und Menschen, wo keiner den anderen weniger liebt als sich selbst, jeder einzelne für die anderen sich freuen wie für sich selbst. Wenn also das Menschenherz seine Freude über das eigene große Gut kaum fassen kann, wie wird es die vielfache und übergroße Freude fassen? Gewiss, die Liebe zum anderen ist das Maß der Freude über sein Glück. Wie aber in jener vollen Seligkeit ein jeder Gott ohnegleichen mehr liebt als sich samt allen anderen, so wird er sich ohne Zweifel über die Seligkeit Gottes weit mehr freuen als über das eigene und aller Genossen Glück. Und wenn sie Gott so aus ganzem Herzen, aus ganzem Gemüte, aus ganzer Seele (Vgl. Mt 22, 37) lieben, dass doch ihr ganzes Herz, ihr ganzes Gemüt, ihre ganze Seele nicht ausreicht für die Größe dieser Liebe, dann freuen sie sich auch ohne Zweifel so "aus ganzem Herzen, aus ganzem Gemüt und aus ganzer Seele" (Vgl. Mt 22, 37), dass ihr ganzes Herz, ihr ganzes Gemüt, ihre ganze Seele nicht ausreicht für die Fülle dieser Freude.

26. Ist das die Fülle der Freude, die der Herr verheißen hat?

Mein Gott und mein Herr, mein Hoffen und meines Herzens Lust, sag' meiner Seele, ob dies die Freude sei, von der du uns durch deinen Sohn gesagt hast: "Bittet, und ihr werdet empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei (Joh 16, 24)." Ich hab' eine Freude gefunden, die voll, ja übervoll ist. Sind Herz, Geist, Seele, ja ist der ganze Mensch von dieser Freude voll, dann ist doch noch über alles Maß Freude da. Diese Freude kann darum nicht ganz in die Fröhlichen eingehen, vielmehr gehen die Fröhlichen ganz in diese Freude ein. Sag' an, Herr, sag' deinem Knechte im Innersten seines Herzens, ist das die Freude, in die deine Knechte eingehen, die da eingehen "in die Freude ihres Herrn" (Mt 25, 21)? Aber ja, die Freude, an der sich deine Erwählten freuen, ist jene, die "kein Auge gesehen, die kein Ohr gehört, die in keines Menschen Herz aufgegangen ist (1 Kor 2, 9)". Ich habe also noch nicht gesagt oder ausgedacht, Herr, wie sehr sich deine Seligen freuen werden. Gewiss, sie werden sich freuen nach dem Maß ihrer Liebe, sie werden lieben nach dem Maß des Erkennens. Und wie weit werden sie dich, o Herr, erkennen, wie sehr werden sie dich lieben? Wahrlich in diesem Leben hat kein Auge gesehen, kein Ohr hat es gehört, in keines Menschen Herz ist es gedrungen, wie sehr sie dich erkennen und lieben werden in jenem Leben. Ich bitte, mein Gott, dass ich dich kenne und liebe, damit ich deiner froh werde. Und kann ich in diesem Leben nicht zur Vollendung kommen, so lass mich täglich voranschreiten bis zur Vollendung! Hier soll sich in mir mein Wissen um dich mehren, und dort soll es vollendet werden. Hier wachse meine Liebe zu dir, dass sie dort sich vollende. Meine Freude sei hier in der Hoffnung groß und dort im Besitz vollkommen. Herr, durch deinen Sohn forderst du uns auf, du gibst uns den Rat zu bitten und versprichst zugleich uns zu geben, dass unsere Freude vollkommen sei. Ich bitte, Herr, was du uns rätst durch unseren wunderbaren Ratgeber (Vgl. Is 9, 6), auf dass ich erhalte, was deine Wahrheit uns verheißt, dass meine Freude vollkommen sei. Getreuer Gott, ich erbitte die Gnade, dass meine Freude vollkommen sei. Inzwischen soll mein Geist ihr nachsinnen, soll meine Zunge von ihr reden, mein Herz soll sie lieben, mein Mund soll von ihr sprechen. Meine Seele soll nach ihr hungern, mein Fleisch nach ihr dürsten, mein ganzes Sein nach ihr verlangen bis ich "eintrete in die Freude meines Herrn (Mt 25, 21)", des dreieinigen Gottes, "hochgelobt in Ewigkeit! Amen" (Röm 1, 25).

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