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Version vom 30. Juni 2015, 12:32 Uhr
Katholische Gesellschaftslehre oder auch Christliche Gesellschaftslehre oder Christliche Soziallehre sind die von der Römisch katholischen Kirche gegebenen Prinzipien des Zusammenlebens des Menschen in Gesellschaft und Staat.
Die kirchliche Soziallehre gilt theologisch als ein Fach der pastoralen Wissenschaften, greift aber in ihrem Anspruch über die eigentlich theologisch-kirchlichen Fragestellungen hinaus.
Die Patronin aller christlichen sozialen Werke ist die heilige Witwe Louise de Marillac [1].
Inhaltsverzeichnis
Begriff
Die dem Gemeinwohl der Menschen (als cives utriusque civitatis, GS Nr. 43) verpflichtete moderne Soziallehre der Kirche für Staat und Gesellschaft hat seit der ersten Sozial-Enzyklika Rerum novarum des Papstes Leo XIII. (1891) eine stetig weitere Ausgestaltung gefunden. Das kirchliche Lehramt schlägt die Positionen seiner Soziallehre der Öffentlichkeit zur Annahme vor, trifft in diesem Bereich aber keine Entscheidungen mit verpflichtendem Definitionscharakter.Die Kirche vertrat schon immer den Anspruch, auch in den öffentlichen Fragen des Zusammenlebens der Menschen und ihrer bürgerlichen Beziehungen "mitzureden" (vgl. Gaudium et spes). Jedoch erst durch die großen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts (industrielle Revolution, "Verstädterung", technischer Fortschritt) wurde es erforderlich, die neuen Fragestellungen im Licht des Evangeliums zu beantworten. Bahnbrechend wurde hierfür die Enzyklika Rerum novarum. Seither argumentiert die christliche Gesellschaftslehre auf der Grundlage des vernunftgemäßen Ordnungsdenkens und des allgemeinen Rechtsgedankens ("Naturrecht"). Sie ist also bemüht, ihre Vorschläge auch ohne direkten Rückgriff auf theologische Voraussetzungen zu kommunizieren.
Die aus der Perspektive christlicher Gesellschaftslehre entwickelte kirchliche Soziallehre beansprucht keine alleinige Kompetenz zur Lösung sämtlicher gesellschaftlicher und kultureller Problemstellungen (so bekräftigt u.a. von Papst Paul VI. in Octogesima adveniens, 1971). Sie geht aber von den tatsächlichen Sachfragen aus -- und gelangt so, unter selbstkritischer Weiterentwicklung ihrer Prinzipien (insb. Personalität, Subsidiarität, Solidarität) zu Konzepten, die auch außerhalb des konfessionellen Kontextes zunehmend Beachtung finden. Das gilt insbesondere für die jüngste Zeit, angesichts der deutlich abnehmenden Überzeugungskraft politischer Ideologien, einschließlich der "Ideologie des Marktes".
Der immer wichtiger werdende Gedanke eines Weltgemeinwohls findet sich vorgezeichnet in der Enzyklika Mater et magistra (1961), im Konzil ausgedrückt z.B. in GS Nr. 26 (bonum commune totius familiae humanae) und ausführlich konzipiert in Populorum progressio (1967).
Grundprinzipien
In der klassischen Soziallehre gibt es drei Grundprinzipien, die maßgebliche Richtschnur für gesellschaftliches Handeln sind.
- Die Solidarität fordert ein gemeinschaftliches Handeln aller. Sie besagt, dass eine gerechte Gesellschaftsordnung jedem Menschen eine Erfüllung der Grundbedürfnisse gewährleisten muss. So hat die Gesellschaft beispielsweise die Verpflichtung, für das Auskommen von Arbeitsunfähigen zu sorgen. Solidarität fordert aber auch, dass dem Privateigentum eine Funktion der Ordnung zum Gemeinwohl hin zukommt.
- Die Subsidiarität besagt, dass Aufgaben, die von kleineren Einheiten übernommen werden können, auch von diesen übernommen werden sollen. So soll die Erziehung der Kinder von den Eltern übernommen werden, und staatliche Organe sich aus dieser soweit wie möglich heraushalten. Die Subsidiarität begründet aber auch eine Eintrittspflicht des Staates bei Gefahren für das Gemeinwohl.
- Die Personalität besagt, dass jeder Mensch die Freiheit hat, sein eigenes Leben ohne unnötige staatliche Einwirkung verantwortlich zu gestalten. So darf der Staat den Menschen z.B. nicht an der Eheschließung oder an der unternehmerischen Betätigung hindern. Das Gemeinwohl existiert nur dann, wenn es den Personen zugute kommt und zwar möglichst allen.
Fortschrittsglaube
Papst Pius XII. macht in der Weihnachtsrundfunkansprache 1955 darauf aufmerksam, dass es ein irriger Glaube sei, das Heil in den ständig wachsenden Fortschritt der Sozialproduktion zu verlegen. Es sei ein Aberglaube, vielleicht der einzige unserer rationalistischen industriellen Zeit, aber auch der gefährlichste, weil er anscheinend Wirtschaftskrisen für unmöglich hält, die immer die Gefahr einer Rückkehr zur Diktatur in sich bergen. <ref> vgl. am 24. Dezember 1955 über das soziale und menschliche Leben in Christus.</ref>
Literatur der Päpstlichen Schreiben
- Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Originaltext mit Übersetzung, herausgegeben von Professor Dr. Arthur Utz OP und Dr. Birgitta Gräfin von Galen, 4 Bände, Scientia humana Institut Aachen 1976, Imprimatur Friburgi Helv., die 2. decembris 1975 Th. Perroud, V.G.
- Arthur Fridolin Utz OP / Joseph-Fulko Groner OP Hrsg.: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII. (1939-1958), Übersetzerkollegium: Herausgeber und Franz Schmal u. H. Schäufele, Paulus Verlag Freiburg/Schweiz. Imprimatur Friburgi Helv., die 5. Maii 1954 N. Luyten O.P. Imprimatur Friburgi Helv., die 29. Junii 1954 R. Pittet, v.g. Band II: 1954, Band III: 1961 (1. Ausgabe).
- Emil Marmy unter Mitwirkung von Josef Schäfer und Anton Rohrbasser: Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Dokumente, Paulusdruckerei Freiburg/Schweiz 1945, Ausführliches Stichwortregister (Imprimatur Friburgi Helv., die 22. Augusti 1945 L. Weber, Vic. Cap.).
- Herder-Korrespondenz, ab 1. Jahrgang Oktober 1946-September 1947-1966 (je 12 Monatshefte gebunden).
Päpstliche Verlautbarungen
- 15. August 1832 Enzyklika Mirari vos über die Äußerungen zu den Verwirrungen in Kirche und Staat.
- 21. April 1878, Antrittsenzyklika Inscrutabili dei consilio über die katholische Religion als Fundament der Religion (ASS X [1877-1878] 585-592)
- 29. Juni 1881, Enzyklika Diuturnum illud über die höchste Würde im Bereich des Staatswesens (ASS XX [1887] 593-613)
- 1. November 1885, Enzyklika Immortale dei über die christliche Staatsordnung (ASS XVIII [1885] 161-180).
- 20. Juni 1888 Enzyklika Libertas praestantissimum über die Freiheit und den Irrtum des Liberalismus.
- 25. Dezember 1888, Enzyklika Exeunte iam anno vom christlichen Leben (anlässlich seines 50. Priesterjubiläums (ASS XXI [1888] 323-334).
- 10. Januar 1890, Enzyklika Sapientiae christianae über die wichtigsten Pflichten der christlichen Staatsbürger (ASS XXII [1889-1890] 385-404).
- 15. Mai 1891, Enzyklika Rerum novarum über die Arbeiterfrage, ("Magna Charta" einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung) (ASS XXIII [1890-1891] 641-670).
- 18. Januar 1901 Enzyklika Graves de communi re über die Katholische Aktion und die christliche Demokratie.
- 18. Dezember 1903 Motu proprio Fin dalla prima nostra über die Grundordnung der katholischen Volksaktion (Sozialsyllabus); (ASS XXXVI [1903-1904] 339-345).
- 5. Juni 1929 Konzilskongregation Schreiben über die Streitfrage zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern der Gegend.
- 15. Mai 1931 Enzyklika Quadragesimo anno, anlässlich der 40-Jahrfeier der Enzyklika "Rerum novarum" über die christliche Gesellschaftsordnung, den Sozialismus und den gerechten Lohn (AAS XXIII [1931] 177-228).
- 28. März 1937 Enzyklika Firmissimam constantiam an die Erzbischöfe und Bischöfe und die anderen Oberhirten der Vereinigten Staaten von Mexiko über die katholische Lehre als Schule der Elite im sozialen und politischen Leben.
- 1. Juni 1941 Pfingstbotschaft (Ansprache) La solennità della Pentecoste, anlässlich der 50-Jahrfeier der Enzyklika "Rerum novarum".
- 24. Dezember 1942 Weihnachtsrundfunkbotschaft (ital.) Di anno in anno über die innere Ordnung der Völker (AAS XXXV [1943] 9-24).
- 12. März 1950 Enzyklika Anni sacri Der Passionssonntag 1950 wird zum Gebetstag für die Erneuerung der sittlichen Ordnung und die Eintracht der Völker erklärt.
- Arthur Fridolin Utz OP/ Joseph-Fulko Groner OP Hrsg.: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII. (1939-1958), Übersetzerkollegium: Herausgeber und Franz Schmal u. H. Schäufele, Paulus-Verlag, Freiburg/Schweiz. Imprimatur Friburgi Helv., die 5. Maii 1954 N. Luyten O.P. Imprimatur Friburgi Helv., die 29. Junii 1954 R. Pittet, v.g. Band II: 1954, Band III: 1961 (1. Ausgabe).
- 15. Mai 1961, Enzyklika Mater et magistra anlässlich der 70-Jahrfeier der Enzyklika "Rerum novarum" über die Soziallehre der Kirche und die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens (AAS LIII [1961] 201-464).
- 11. April 1963, Enzyklika Pacem in terris über den Frieden unter den Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit (Charta der Menschenrechte) (AAS LV [1963] 257-304).
- 26. März 1967 Enzyklika Populorum progressio über den Fortschritt der Völker (AAS LXII [1971] 401-441).
- 14. Mai 1971 Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens anlässlich der 80-Jahrfeier der Enzyklika "Rerum novarum" (AAS LXIII [1971] 401-441).
- 14. September 1981 Enzyklika Laborem exercens über die christliche Würde der menschliche Arbeit.
- 30. Dezember 1987 Enzyklika Sollicitudo rei socialis Zwanzig Jahre nach der Enzyklika Populorum progressio.
- 15. Mai 1991 Enzyklika Centesimus annus anlässlich der 100-Jahrfeier der Enzyklika "Rerum novarum" (AAS LXXXIII [1991]).
- 4. Oktober 1996 Päpstlicher Rat Cor Unum: Schreiben Der Hunger in der Welt - Eine Herausforderung für alle - Solidarische Entwicklung.
- 24. November 2002 Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (AAS LXXXXV 2004 359-370)
- 2004 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden Iustitia et Pax (Hg.): Kompendium der Soziallehre der Kirche, Libreria Editrice Vaticana Rom 2004 (dt.: Herder Verlag 2006 [543 Seiten; ISBN 3-451-29078-2; ISBN 978-3-451-29078-2).
- 30. November 2007: Enzyklika Spe salvi über die christliche Hoffnung.
- 29. Juni 2009: Enzyklika Caritas in veritate zum Abschluss des Paulusjahres.
- 28. Oktober 2014: Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Treffens der Volksbewegungen
- 24. Mai 2015 Enzyklika Laudato si über die Sorge für das gemeinsame Haus.
Literatur
- Heinrich Schneider: Europas Krise und die katholische Soziallehre - Herausforderungen und Perspektiven. Be&Be Verlag: Heiligenkreuz 2014 (230 Seiten; ISBN 978-3-902694-68-3.
- Hrsg. von Anton Rauscher SJ: Handbuch der Katholischen Soziallehre, im Auftrag der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (81 Beiträge vor allem mit Grundsatzfragen und Problemen der Wertorientierung in den gesellschaftlichen Lebensbereichen) Berlin 2008 (1129 Seiten; ISBN 978-3-428-12473-2).
- Reinhard Marx, Das Kapital, München 2008.
- Sozialer Katechismus, Aufriß der kathoischen Gesellschaftslehre, Saarbrücker Druckerei 1934.
- Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre. Studienausgabe, 4. Aufl. Kevelaer 1983.
- Johannes Schwarte, Gustav Gundlach (1892-1963), maßgeblicher Repräsentant der katholischen Soziallehre während der Pontifikate Pius XI. und Pius XII., München 1975.
- Eberhard Welty: Herders Sozialkatechismus, Ein Werkbuch der katholischen Sozialethik in Frage und Antwort, 3 Bände, Freiburg 1951-58.
- Die Soziale Frage im Lichte des Christenthums. Wochenblatt für das deutsche Volk Josef Habbel Verlag 1877 (208 Seiten).
- Wolfgang Vogt: Der Staat in der Soziallehre der Kirche. (Bibliothek Ekklesia - Band 24) Pattloch Verlag Aschaffenburg 1965 (1. Auflage, 160 Seiten).
siehe auch: Katholische Aktion, Demokratie, Laizismus.
Weblinks
- Sammlung von Texten aus der katholischen Soziallehre vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden
- Deutschsprachiges Archiv zur Katholischen Soziallehre auf der Seite von Iustitia et Pax Österreich
- Soziale Einrichtungen in katholischer Trägerschaft Arbeitshilfen Nr. 182.
- Kurs Katholische Soziallehre - Träger: Bildungswerk der Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Diözese Limburg
Anmerkungen
<references />