Dietrich von Hildebrand: Kleinschriften: Unterschied zwischen den Versionen
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Diese Aufforderung des heiligen Paulus, in der die eheliche Liebe mit der Liebe verglichen wird, die Christus, das fleischgewordene Wort, zu der Heiligen Kirche hegt, öffnet unserm Blick mit einem Schlag die ganze Größe und Erhabenheit der Ehe, jener tiefsten und engsten aller menschlichen Gemeinschaften, der Gemeinschaft, die Jesus zum Sakrament erhoben. Kein Gut innerhalb der natürlichen Ordnung hat eine so erhabene Stelle im neuen Bunde erhalten – kein anderes ist gewürdigt worden, in die Zahl der Sakramente aufgenommen zu werden, kein anderes hat die Aufgabe erhalten, direkt an der Errichtung des Gottesreiches mitzuwirken. Darin aber liegt ein Hinweis, welche Möglichkeiten die Ehe schon von Natur aus in sich birgt – welch erhabenes Gut sie schon in der natürlichen Ordnung darstellt. Bevor wir das Wesen, den Sinn und die besondere Schönheit der sakramentalen christlichen Ehe, die der heilige Paulus ein „großes Sakrament“ nennt „in Christus und in der Kirche“, betrachten, müssen wir daher Wesen und Sinn der Ehe in der natürlichen Ordnung zu erkennen suchen, müssen die Eigenart dieser Gemeinschaft vor allen andern begreifen; denn nur dann verstehen wir, was hier in so wunderbarer Weise durch Jesus erhoben wurde; und hier liegt ja auch der Kern des Missverständnisses des Wesens der Ehe überhaupt, dem wir so oft begegnen. | Diese Aufforderung des heiligen Paulus, in der die eheliche Liebe mit der Liebe verglichen wird, die Christus, das fleischgewordene Wort, zu der Heiligen Kirche hegt, öffnet unserm Blick mit einem Schlag die ganze Größe und Erhabenheit der Ehe, jener tiefsten und engsten aller menschlichen Gemeinschaften, der Gemeinschaft, die Jesus zum Sakrament erhoben. Kein Gut innerhalb der natürlichen Ordnung hat eine so erhabene Stelle im neuen Bunde erhalten – kein anderes ist gewürdigt worden, in die Zahl der Sakramente aufgenommen zu werden, kein anderes hat die Aufgabe erhalten, direkt an der Errichtung des Gottesreiches mitzuwirken. Darin aber liegt ein Hinweis, welche Möglichkeiten die Ehe schon von Natur aus in sich birgt – welch erhabenes Gut sie schon in der natürlichen Ordnung darstellt. Bevor wir das Wesen, den Sinn und die besondere Schönheit der sakramentalen christlichen Ehe, die der heilige Paulus ein „großes Sakrament“ nennt „in Christus und in der Kirche“, betrachten, müssen wir daher Wesen und Sinn der Ehe in der natürlichen Ordnung zu erkennen suchen, müssen die Eigenart dieser Gemeinschaft vor allen andern begreifen; denn nur dann verstehen wir, was hier in so wunderbarer Weise durch Jesus erhoben wurde; und hier liegt ja auch der Kern des Missverständnisses des Wesens der Ehe überhaupt, dem wir so oft begegnen. |
Aktuelle Version vom 21. Oktober 2024, 10:15 Uhr
Dietrich von Hildebrand
Inhaltsverzeichnis
- 1 Die Ehe
- 2 Das katholische Berufsethos
- 3 Die sittlichen Grundhaltungen
- 4 Heiligkeit und Tüchtigkeit. Tugend heute
- 4.1 I. Personal und apersonal
- 4.2 II. Berufung zur Heiligkeit
- 4.3 III. Drei Hauptkategorien von Berufsarbeit
- 4.4 IV. Häresie der Tüchtigkeit: Leistung statt Person
- 4.5 V. Tüchtigkeit statt Tugend
- 4.6 VI. Hypertrophie des Vergnügens
- 4.7 VII. Überbewertung des Berufes
- 4.8 VIII. Die drei Kategorien
- 4.9 IX. Kontemplation und Aufopferung
- 4.10 X. Alle sind Glieder des mystischen Leibes Christi
- 4.11 XI. Tugend heute
- 4.12 (verlinkter Absatzeinschub)
- 4.13 Nachwort
- 4.14 Anmerkungen
- 5 Über die Dankbarkeit
- 6 Über den Tod
- 6.1 Der natürliche Aspekt des Todes
- 6.1.1 Der Tod tief geliebter Menschen
- 6.1.2 Der eigene Tod
- 6.1.3 Sokrates' heitere Todeserwartung im Gegensatz zur irrigen Vorstellung vom Versinken ins Nichts
- 6.1.4 Die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele hebt das Grauen vor dem Tod nicht auf
- 6.1.5 Unser Verhältnis zum objektiven Gut des Leibes (Solidarität, Hängen an ihm, Abhängigkeit)
- 6.1.6 Der metaphysische Aspekt des Todes (Schwäche und Überlegenheit menschlicher Existenz; radikaler Bruch mit der realen Umwelt)
- 6.1.7 Verschiedene Motive für die Sehnsucht nach dem Tod
- 6.1.8 Der Tod als "Befreier" und "Bruder" (hl. Franziskus)
- 6.1.9 Der Tod als intimstes und allgemeines Menschenschicksal (seine Größe und Einsamkeit)
- 6.1.10 Das gemeinsame Sterben zweier Liebender
- 6.1.11 Der Zauber des Lebens und das rätselhafte Dunkel des Todes
- 6.2 Der Tod im Licht des christlichen Glaubens
- 6.2.1 Die Stunde des Gerichtes für die einzelne Seele
- 6.2.2 Die persönliche Begegnung mit Jesus Christus und mit der Gemeinschaft der Heilgen
- 6.2.3 Der Unterschied zwischen dem natürlichen und dem christlichen Aspekt des Todes
- 6.2.4 Die ersehnte Liebesvereinigung mit Jesus Christus im Tod
- 6.2.5 Die natürliche Hoffnung
- 6.2.6 Die theologische Tugend der Hoffnung
- 6.2.7 Die Koexistenz des natürlichen und übernatürlichen Aspektes im Leben des Christen
- 6.2.8 Wesenhafte und schuldhafte Vergänglichkeit
- 6.2.9 Der christliche Sinn des Todes als Strafe und als Entscheidung über unser ewiges Schicksal
- 6.2.10 Der Sieg des beseligenden Aspektes des Todes bedarf unserer Kooperation
- 6.2.11 Die natürlichen Stufen sollen durchschritten, nicht übersprungen werden
- 6.2.12 Die Veränderung unserer Einstellung zur Welt durch die übernatürliche Sicht des Todes
- 6.2.13 Unser Weg zum übernatürlichen Aspekt des Todes
- 6.2.14 Die Versuchung zum Selbstmord
- 6.2.15 Die verschiedenen Arten der Liebe zu anderen Menschen im Hinblick auf den Tod
- 6.3 Der Mitvollzug der Zuordnung des geliebten Menschen zu Jesus Christus als letztes Wort der Liebe
- 6.4 Anmerkungen
- 6.1 Der natürliche Aspekt des Todes
Die Ehe
Quelle: Dietrich von Hildebrand: Die Ehe, Verlag Ars Sacra Josef Müller München 1929 (in Fraktur; Imprimatur, München, 29. Sept. 1928, Dunstmair, Generalvikar).
(Die vorliegenden Ausführungen gehen auf Vorträge zurück, die 1923 auf der Tagung des Katholischen Akademiker-Verbandes in Ulm gehalten wurden)
wie auch Christus die Kirche geliebt hat.“
Diese Aufforderung des heiligen Paulus, in der die eheliche Liebe mit der Liebe verglichen wird, die Christus, das fleischgewordene Wort, zu der Heiligen Kirche hegt, öffnet unserm Blick mit einem Schlag die ganze Größe und Erhabenheit der Ehe, jener tiefsten und engsten aller menschlichen Gemeinschaften, der Gemeinschaft, die Jesus zum Sakrament erhoben. Kein Gut innerhalb der natürlichen Ordnung hat eine so erhabene Stelle im neuen Bunde erhalten – kein anderes ist gewürdigt worden, in die Zahl der Sakramente aufgenommen zu werden, kein anderes hat die Aufgabe erhalten, direkt an der Errichtung des Gottesreiches mitzuwirken. Darin aber liegt ein Hinweis, welche Möglichkeiten die Ehe schon von Natur aus in sich birgt – welch erhabenes Gut sie schon in der natürlichen Ordnung darstellt. Bevor wir das Wesen, den Sinn und die besondere Schönheit der sakramentalen christlichen Ehe, die der heilige Paulus ein „großes Sakrament“ nennt „in Christus und in der Kirche“, betrachten, müssen wir daher Wesen und Sinn der Ehe in der natürlichen Ordnung zu erkennen suchen, müssen die Eigenart dieser Gemeinschaft vor allen andern begreifen; denn nur dann verstehen wir, was hier in so wunderbarer Weise durch Jesus erhoben wurde; und hier liegt ja auch der Kern des Missverständnisses des Wesens der Ehe überhaupt, dem wir so oft begegnen.
In vielen Stellen der Heiligen Schrift wird die Ehe gewürdigt, ein Vorbild für die Beziehung zwischen Gott und der Seele zu sein, Vorbild im Sinne des unvollkommenen Gleichnisses für das Vollkommene, wie das Alte Testament Vorbild des Neuen ist. Ja, Jesus heißt der Bräutigam der Seele, und das ganze Hohe Lied fasst das Verhältnis der Seele zu Jesus als ein bräutliches.
Warum wählt die Heilige Schrift gerade diese Beziehung als Vergleich? Weil die Ehe die engste aller irdischen menschlichen Gemeinschaften ist und die Beziehung, in der man sich am restlosesten hingibt, in der wie sonst nirgends die andere Person als Ganzes Gegenstand der Liebe ist, in der vor allem die gegenseitige Liebe selbst in einzigartiger Weise das Thema der Beziehung darstellt.
Auch in der Beziehung der Seele zu Jesus ist die Liebe der tiefste Kern. Gewiss, wir schulden dem König der ewigen Glorie, dem Abglanz des ewigen Lichtes, Anbetung und Gehorsam. Er ist unser Herr, ihm restlos in allem zu dienen ist unsere eigentliche Aufgabe auf Erden. Und doch lautet die dreimal von Jesus wiederholte, eindringliche Frage: „Simon Petrus, liebst du mich?“ und das echte Gebot, an dem das ganze Gesetz und die Propheten hangen, lautet: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben mit deinem ganzen herzen, mit deiner ganzen Seele, mit allen deinen Kräften und mit deinem ganzen Gemüte.
Und eben darum wird die Ehe als Vorbild für die Vorbild für die höchste Form der Beziehung der Seele zu Gott gewählt, weil die Liebe den tiefsten und eigentlichen Kern der Ehe ausmacht.
Bei allen andern irdischen Gemeinschaften bildet die gegenseitige Liebe nicht so ausschließlich die Substanz der Beziehung. Bei der Freundschaft spielt die Gesinnungsgemeinschaft oder die Gemeinschaft geistigen Interessen oder gemeinsam erlebte Schicksale eine wesentliche Rolle; in der Beziehung der Eltern zu den Kindern die Sorge für diese ihnen anvertrauten Wesen, die Pflicht der Erziehung; in der Beziehung der Kinder zu den Eltern das Geborgensein und Geführtwerden, der Gehorsam, die Dankbarkeit. Gewiss auch diese Beziehungen werden verklärt nur durch die Liebe und sollen mit Liebe durchsetzt sein, gewiss, auch sie können ihren Sinn nur entfalten auf dem Boden der Liebe – aber Sinn und Thema derselben ist nicht die gegenseitige Liebe selbst – sie bestehen erstens nicht subjektiv so essentiell aus Liebe, die Liebe drückt nicht so ausschließlich das aus, was die gegenseitige Einstellung ausmacht; und zweitens: ihr objektiver Sinn ist nicht in derselben Weise in der Liebe fundiert, sie sind nicht in demselben Maß um der Liebe willen da.
Bei der Ehe hingegen ist sowohl subjektiv die gegenseitige Liebe der eigentliche Inhalt – als auch objektiv diese Gemeinschaft, in geheimnisvoller Verknüpfung mit dem Entstehen neuer Menschen, um der wunderbaren Vereinigung zweier Personen in der Liebe durch die Liebe willen da. Gewiss in der sakramentalen Ehe erhebt sich diese, wie wir später sehen werden, zur wunderbaren Liebes- und Lebensgemeinschaft in Jesus und für Jesus. Aber dafür ist die einzigartige Liebe zueinander schon Vorraussetzung, denn gerade auch in der gegenseitigen Liebe wird hier Jesus verherrlicht. Die Liebe ist der primäre Schöpfungssinn der Ehe, wie die Entstehung neuer Menschen ihr primärer Schöpfungszweck. Ihre Funktion für die menschliche Gesellschaft, gar nicht zu reden von ihrer Bedeutung für den Staat, sind demgegenüber ganz untergeordnet. Dies wies uns insbesondere deutlich werden, wenn wir uns die Eigenart der ehelichen Liebe ins Bewusstsein rufen – wobei wir zunächst die Ehe noch nicht in ihrer sakramentalen Würde, sondern als rein natürliche Gemeinschaft betrachten.
Es ist völlig irrig zu meinen, die eheliche Liebe unterscheide sich von der Liebe unterscheide sich von der Liebe zwischen Freunden oder von den Eltern- und Kindesliebe nur durch die Verbindung mit der sinnlichen Sphäre - eine Auffassung der wir auch manchmal in katholischen Kreisen begegnen können. Sie stellt vielmehr einen ganz eigenen Typus von Liebe dar noch unabhängig von der Sinnlichkeit. Die eheliche Liebe schließt erstens ein einzigartiges gegenseitiges Sich-Schenken ein. Wohl schenke ich in jeder Liebe mein Herz bis zu einem gewissen Grad dem andern, aber hier geschieht es im buchstäblichen Sinn; und nicht nur mein Herz, sondern meine ganze Person gehört dem anderen. Wenn ein Mann eine Frau oder eine Frau einen Mann in diesem Sinne liebt, so schenkt sich die eine Person der anderen in dem Moment, in dem sie zu lieben beginnt. Sie will ihr gehören und will, dass sie ihm gehöre. Gewiss, jede Liebe gebiert in uns die Sehnsucht nach Gegenliebe – worin an sich keine Spur von Egoismus liegt -, aber hier ersehnt man vom andern nicht nur Gegenliebe überhaupt, sondern jene einzigartige Liebe, durch die er mir und mir in dieser Weise gehört, in der auch ich ihm gehören will. Diese Liebe zielt eben auf eine einzigartige Gemeinschaft ab, j a sie konstituiert sie zum Teil schon, - eine Gemeinschaft, in der zwei Menschen ein Paar sind – sich zu einer in sich geschlossenen Einheit verbinden, die in dieser Weise nur zwischen ihnen besteht. Die eheliche Liebe konstituiert echte Gemeinschaft, in der sich beide Teile ganz einander zugewandt gegenüberstehen.
Die Gemeinschaften zwischen geistigen Personen weisen zwei grundverschiedene Formen auf. Es können zwei Menschen gemeinsam auf ein Drittes blicken, gemeinsam zu diesem Dritten Stellung nehmen, sie können gemeinsam trauern, gemeinsam sich freuen, sie können zusammen etwas behaupten, um etwas bitten, für etwas danken. Dann liegt die Gemeinschaft des ,Wir´ vor, bei der man gleichsam nebeneinander steht, wenn auch unter Umständen Hand in Hand.
Es können zwei Menschen aber auch sich gegenseitig auf einander richten, sie können aufeinander blicken und mit ihren Blicken sich berühren, indem ihre Geister in geheimnisvoller Weise aufeinander strahlen. Sie können, sich gegenseitig zum Ziele ihres Kenntnisnehmens und Stellungnehmens machend, in einander sich versenken. Dann haben wir die Ich-Du Gemeinschaft, bei der man nicht nebeneinander steht, sondern einander gegenüber.
Die eheliche Liebe ist nun von allen irdischen Gemeinschaften die ausgeprägteste Ich-Du-Gemeinschaft. In ihr ist der Geliebte selbst Gegenstand unseres Denkens, Fühlens, Wollens, Sehnens und Hoffens, in ihr wird der andere der Mittelpunkt unseres Lebens, soweit es sich auf geschöpfliche Güter bezieht. Der von dieser ehelichen Liebe Erfüllte lebt nicht nur mit dem andern, sondern für den andern. Gewiss, eine ganz reine Ich – Du Gemeinschaft gibt es nur mit dem Bräutigam der Seele, mit Jesus. Letzten Endes dürfen wir nur für ihn leben und leben auch die Ehegatten gemeinsam nur für ihn. Aber in Bezug auf die Erde und ihre Güter ist die eheliche Liebe ein Füreinanderleben und im Vergleich zu allen andern irdischen Gemeinschaften liegt hier ein ausgeprägtes Sichgegenüberstehen vor.
Die Eigenart dieser ehelichen Liebe im Gegensatz zu Freundschaft und allen übrigen Liebesformen, dieses ausdrückliche Sichschenken, tritt ferner auch in dem aktartigen Charakter des „Ich liebe dich“ hervor. Wahrend es nicht immer leicht sein mag zu bestimmen, ob ein guter Bekannter, den ich sehr gern habe, schon als Freund anzusehen ist, während man auf die Frage, ob man jemand gern habe, unter Umständen nicht ohne weiteres mit ja oder nein antworten kann – so besteht zwischen der Liebe im ehelichen Sinn und allen anderen Liebesarten ein so deutlicher Unterschied, dass auf die Frage, ob man jemand ,liebe´, in diesem Sinn ein eindeutiges Ja oder Nein in ganz anderem Maße vollzogen werden kann. In dieser Liebe liegt eine eindeutige Entscheidung, mit dieser Liebe hat man sich für den andern entschieden. Der Ausdruck ,ich liebe sich´ ist typisch für diesen Entscheidungscharakter. Jeder Zusatz, wie: ich liebe dich sehr, oder: ich liebe dich außerordentlich, ist unangemessen und wirkt nicht wie sonst als Steigerung, sondern als Abschwächung.
Auch die Tatsache, dass diese Liebe so plötzlich sich einstellen kann, dass sie bei der ersten Begegnung schon in voller Klarheit aufblühen kann, beleuchtet den charakteristischen Gegensatz zu anderen natürlichen Liebesformen. In dieser Liebe erschließt sich eben in wunderbarer Weise das ganze Wesen des andern mit einem Schlag als eine Einheit. Unser Blick wir fähig, den anderen in viel tieferer Weise zu erfüllen, als es die gewöhnliche stumpfe Betrachtung vermag, die an tausend Kleinigkeiten haften bleibt und die, durch die graue Atmosphäre des Alltags beschwert,, in einem „Vonaußensehen“ stecken bleibt. Wie in der übernatürlich begründeten Nächstenliebe mit einem Schlag der gottebenbildliche Kern des andern durch all seine Unvollkommenheiten, durch seine Kleinlichkeit, seinen Hochmut, sein triviales Gehaben hindurch in seiner ewigen Schönheit erfasst wird – so bricht in der natürlichen ehelichen Liebe auf einmal in geheimnisvoller Weise das tiefere Wesen des anderen, die eigentliche positive Intention, die in allen seinen Anlagen, Talenten, in dem ganzen Rhythmus seines Wesens liegt, durch alles Unvollkommene hindurch. Man versteht gleichsam den „Schöpfungssinn“ dieser besonderen Individualität, wie man in der Nächstenliebe den Schöpfungssinn der freien, geistigen, gottebenbildlichen Person überhaupt in diesem Individuum versteht. Gewiss, mit jeder Liebe geht in ein tieferes Verstehen des anderen Hand in Hand, ein Erfassen seines eigentlichen Wesens, das nur unvollkommen unter vielen Hemmungen und Schwächen sich durchsetzt; und nichts ist falscher als das Wort“ Liebe macht blind“, da gerade sie allein uns sehend macht und uns selbst die Fehler des andern allein in ihrer ganzen Tragweite offenbart und uns an ihnen leiden lässt. Aber die eheliche Liebe offenbart uns das ganze Wesen des andern in einer geheimnisvollen anschaulichen Einheit, sie enthüllt uns nicht nur einzelne Vorzüge des anderen, sondern den besonderen Zauber dieser Individualität im Ganzen, der alles durchsetzt und das besondere Wesen dieses Menschen charakterisiert – der auch nur von dem betreffenden kongenialen Menschen ganz verstanden werden kann und nur ihm derartiges bedeuten kann.
Die Eigenart der ehelichen Liebe tritt weiterhin besonders klar darin hervor, dass sie nur zwischen Mann und Frau auftreten kann und nicht auch zwischen Personen desselben Geschlechts, wie die Freundschaft, die Eltern- und Kindesliebe. Aber ganz irrig ist es wiederum, wollte man dies nur auf die Sinnlichkeit zurückführen und sagen: das kommt eben daher, weil hier außer der Freundschaft nach eine sinnliche Beziehung vorliegt, die den Geschlechterunterschied voraussetzt. Es ist eine unerhörte Oberflächlichkeit, den tiefen Unterschied von Mann und Frau, der uns wirklich zwei sich ergänzende Aussprechungen der geistigen Person vom Typus Mensch vor Augen stellt, als einen bloß biologischen hinstellen zu wollen. Gewiss, Mann und Frau haben letztlich nur di eine Aufgabe, „in Christo wiedergeboren zu werden“ und durch ihre Heiligung Gott zu verherrlichen – aber doch verkörpern Mann und Frau auch zwei verschiedene Typen des Menschentums, die je ihren besonderen Schöpfungssinn und ihren besonderen Wert noch unabhängig von aller Fortpflanzung haben. Denken wir nur an die männlichen und weiblichen Heiligen, wie verwirklichen sie je in ihrer besonderen Weise das „unum necessarium“, zugleich den Sinn ihrer besonderen Eigenart ideal erfüllend. Selbst wenn wir unsern Blick zur Allerseligsten Jungfrau Maria erheben, sehen wie, dass sie, die von allen Geschöpfen Christus am meisten gleicht, nicht anders denn als Frau gedacht werden kann, dass auch sie, die Königin aller Heiligen, doch im höchsten erhabensten Sinn weiblich ist, auch noch abgesehen von der Muttergottesschaft.
Nein, der Unterschied von Mann und Frau ist ein metaphysischer – wie schon die Phythagoräer richtig ahnten, als sie männlich und weiblich unter die Kategorien aufnahmen, und wie das Mittelalter es empfand, als es die Frage aufwarf, ob auch die Engel in männliche und weibliche zerfallen. Er stellt wenigstens für den Typus Mensch zwei Ausprägungen der geistigen Person dar – wie (man gestatte mir den Vergleich) die verschiedenen Orden bei aller letzten Gemeinsamkeit verschiedene Wege der einen selben Nachfolge Christi darstellen. Und diese beiden Persontypen haben eine einzigartige Ergänzungsmöglichkeit; sie können beide etwas einzigartiges für einander bedeuten, sie sind sich in ganz befangener Weise zugeordnet, sie können, auch rein als geistige Personen, eine letztliche Einheit gegenseitiger Ergänzung bilden. Die eheliche Liebe, in der man sich dem andern in dieser besonderen Weise schenkt, die einen so entscheidungshaften Charakter hat, in der man ein Paar bildet und sich gegenüber steht füreinanderlebend – in der man das ganze Wesen des andern in so geheimnisvoller Weise durch alle äußeren Hindernisse hindurch als Einheit erfasst, besteht wesenhaft nur zwischen den zwei Typen von geistigen Personen, dem männlichen und dem weiblichen, weil nur zwischen diesen beiden diese innere Ergänzung möglich ist.
Die Verliebtheit, von vielen so verächtlich behandelt als „Sinnenrausch“, stellt an sich nur den Höhepunkt dar dieses wachen Erfassens der geliebten Person, - einen Höhepunkt, in dem sich der ganze Zauber des anderen Wesens entfaltet, die volle Seligkeit der Ich-Du Gemeinschaft. Ja, so wenig ist die Verliebtheit an sich verächtlich aber eine Folge des Sündenfalls, dass sie innerhalb der natürlichen Ordnung den einzigen Zustand wirklichen Wachseins darstellt, in dem alle Fesseln der Trägheit, alles stumpfe Dahinleben überwunden wird – wie schon Plato in seinem Phaidros wunderbar ausführte, und dass gerade auch sie als Vorbild für unsere Beziehung zu Jesus angeführt wird – von dem es heißt: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der da weidet unter Lilien.“ Auch sie wird also gewürdigt, ein Gleichnis zu sein für die höchste und erhabenste aller Beziehungen zu dem Gottmenschen. Man entgegne nicht: die Verliebtheit täusche die Menschen, sie sei ein Rausch, der schnell verfliegt und der sich auf ganz äußere Eigenschaften des anderen aufbaue. Denn es gibt oberflächliche Verliebtheiten und diese, wie es eine periphere und eine tiefe Freundschaft gibt. Diese allgemeine Möglichkeit besagt nichts gegen die Verliebtheit als solche, so wenig wie gegen die Freundschaft. Und auch gegen das Sich-erschließen des eigentlichen Lebens der anderen Person in der Verliebtheit besagt die Tatsache nichts, dass man sich im andern täuschen kann. Wer wollte leugnen, dass uns im Gebetsleben vieles über die Beziehung der Seele zu Gott aufgeht und doch kommen auch hier Täuschungen vor. Vor allem aber muss die echte Verliebtheit, selbst wenn sie in peripherer Form auftritt, von allen bloß sinnlichen Begehren ganz trennen. In der Verliebtheit liegt stets eine ehrfürchtige, ritterliche Einstellung, gegen den andern – ja, ein gewisses „Sichverdemütigen“, eine Lösung der Seele, des Ichkrampfes, des Hochmuts und der trägen Begierlichkeit vor. In der echten Verliebtheit wird der Mensch zart und sogar rein. Selbst wenn sie oberflächlich und in äußerlichen Zügen des anderen gründet, so vertreten diese doch die Güte und Schönheit des ganzen Wesens und erheben die Seele des Verliebten in eine Verfassung, in der er über seine ichbezogene Schwere und Stumpfheit hinweggehoben ist. Das bloße „Berauschtsein“ von jemand hat mit der Verliebtheit nichts zu tun, weder das dämonische Fasziniertsein von einem andern noch das sinnliche Gefangensein eines Don Juan. Im Wesender echten Verliebtheit, wie der ehelichen Liebe, liegt vielmehr auch die Intension auf Dauer und strenge Ausschließlichkeit. Wer sagt „jetzt bin ich verliebt in diesen Menschen, aber ob er mir später noch so gefällt, weiß sich nicht“, ist nicht wirklich verliebt. Mag man sich auch in Wirklichkeit täuschen und mag die Verliebtheit als solcher liegt wie in der ehelichen Liebe überhaupt die Intention auf Zeit und Ewigkeit und eine strenge Ausschließlichkeit. Wir werden auf dieses Moment der Dauer und Ausschließlichkeit der ehelichen Liebe gleich noch zurückkommen. Zunächst sei noch betont, dass die Verliebtheit auch zur ehelichen Liebe gehört. Nicht als müsste sie immer in gleicher Lebendigkeit bestehen, solange die eheliche Liebe besteht. Aber die eheliche Liebe muss bei besonderer Aktualisierung in diese münden, sie muss stets diese Möglichkeit latent in sich bergen, sie muss eine solche Färbung aufweisen. Es bedarf keiner Erwähnung, welch´ gewaltiger Unterschied darin liegt, ob die Verliebtheit gleichsam nur die Spitze dieser tiefen ehelichen Liebe bildet oder ob sie isoliert auftritt, und dass ihre normale, ihren Sinn erfüllende Funktion eben darin besteht, die vollste Realisierung und Aktualisierung der ehelichen Liebe darzustellen.
Die eheliche Liebe lässt sich so wenig aus Freundschaft und Sinnlichkeit zusammen setzen, dass vielmehr die bisher geschilderte Eigenart der ehelichen Eigenart der ehelichen Liebe gegenüber anderen Formen der Liebe erst die Brücke zur Sphäre der Sinnlichkeit schlägt, mit dieser erst eine organische Verbindung möglich macht. Eine Verbindung von Freundschaft und Sinnlichkeit ist undenkbar. Sie wäre ein bloßes Nebeneinander von heterogenen Elementen, und die Sinnlichkeit würde durch diese anorganische Verbindung in keiner Weise geheiligt. Nur durch die eheliche Liebe, ist der Mann und Frau zu einer einzigartigen Gemeinschaft sich verbinden, in tiefstem Sinne sich einander schenken und in einem letzten gegenseitigen Ineinanderblick beider Seelen sich gehören, wird diese Beziehung zu der sinnlichen Gemeinschaft verständlich und kann die sinnliche Sphäre die erhabene Mission erfüllen, zwei Menschen zu einer vollen geistig-leiblichen Einheit zu verbinden gemäss der Wort unseres Herrn und Heilands Jesus Christus: „Und sie werden zwei sein in einem Fleische.“
Man begegnet manchmal der Auffassung, die Polygamie sei nur durch ein positives Gesetz Gottes verboten, aus dem Wesen der Sache folge die Monogamie nicht, auch von der natürlichen Sittlichkeit sei sie nicht gefordert. Nichts ist irriger als dies. Schon die eheliche Liebe – nicht nur die wirkliche Ehe – schließt viele Polygamie aus. Es liegt im Wesen der ehelichen Liebe, einem einzigen Menschen zu gelten. Ihr Charakter eines völligen Sich-schenkens – des Sichgegenüberstehens – des ein Paar Bildens schließt wesenhaft aus, dass diese Liebe gleichzeitig zwei Menschen gelten könne. So gut es möglich ist, dass jemand zwei oder mehr Freunde hat, so wenig dies dem Sinn der Freundschaft grundsätzlich widerstreitet oder einen Unwert in sich darstellt, so sinnwidrig und den ganzen Wert der Beziehung zerstörend wäre es, wenn ein Mann zwei Frauen mit ehelicher Liebe liebte. Ja im strengen Sinn des Wortes ist es sogar unmöglich. Nichts wäre irriger, als diese wesenhafte Ausschließlichkeit der ehelichen Liebe aus dem allgemeinen Besitzegoismus des Menschen ableiten zu wollen. Der Haremsbesitzer, für dem seine Frauen „Gegenstände“ sind, die er besitzt, will nicht, dass ein anderer sie besitze. Das ist selbstverständlich reiner Besitzegoismus; aber er hat auch von ehelicher Liebe nicht die leiseste Ahnung. Die Exklusivität der ehelichen Liebe hingegen fließt aus dem Bewusstsein, dass diese einzigartige Liebe, in der sich eine geschlossene Einheit zweier Menschen bildet, wesenhaft nur zwischen zwei Menschen, wenigstens in einem Zeitpunkt, bestehen kann, dass diese wunderbare Einheit zerrissen und zerstört würde, wenn der eine Teil gleichzeitig einen zweiten Menschen mit ehelicher Liebe liebte; und sie richtet sich ebenso gegen eine Untreue der eigenen Person wie gegen eine solche des geliebten andern, ja die Untreue der eigenen Person wird ebenso als Bruch und Zerstörung dieser Einheit empfunden,
Aber die eheliche Liebe ist noch nicht die Ehe, wenn ihr auch Sinn und Bedeutung der Ehe präformiert sind. Die Ehe ist eine Realität objektiver Ordnung, die sich erst mit dem feierlichen Akt konstituiert, in dem die Ehegatten ausdrücklich mit vollster Sanktionierung auch willensmäßig sich einander schenken, sich einander übergeben für das ganze Leben, und sie realisiert sich, wenn beide in Konsequenz dieses Aktes diese Hingabe und Vereinigung auch körperlich vollziehen. Die Ehe ist ein objektiv gültiges Verhältnis, das beide Ehegatten umfasst und, wenn einmal hergestellt, nun unabhängig von dem Fühlen und Stellungnehmen der Personen fortbesteht, wenn es auch an sie besonders Forderungen stellt. Das Vorhandensein der ehelichen Liebe bei beiden schafft dieses objektive Band noch nicht, wenn es auch dasselbe sinnvoll und wünschenswert macht. – Es gibt unter den Haltungen der Personen einer Gruppe die nicht nur innerlich vollzogen wird und damit zu einem andern gleichsam etwas sagt, wie Liebe, Verehrung, Freude u.a., sondern mit deren Vollzug auch ein Objektives, von der Person Unabhängiges entsteht. So entsteht mit dem Versprechen eine Verbindlichkeit gegen einen andern und ein Anspruch seinerseits, mit dem Befehl eine Verbindlichkeit des Untergebenen, das Befohlen zu erfüllen, mit dem Vergehen des Priesters im Namen Gottes eine wirkliche Tilgung der Schuld, mit gewissen Bestimmungen der gottgeweihten Staatsautorität ein Gesetz und so fort. So konstituiert sich mit dem Akt der freien Übergabe der eigenen Person an den andern in der Intention, jene dauernde, innigste Liebesgemeinschaft mit ihm einzugehen, dieses objektive Band, das einmal geschaffenen der Willkür beider Teile entzogen ist. Dieser feierliche Akt des Eheschlusses gewinnt, wie wir später sehen werden, noch eine ungeahnte höhere Bedeutung und Kraft, wenn er bewusst in Christus vollzogen wird und zugleich eine Weihe beider an Christus enthält. Man hat ihn als „Ehevertrag“ nicht allzu glücklich bezeichnet, da er von eigentlichen Verträgen wesentlich unterschieden ist und nur das mit ihnen teilt, was er mit dem Versprechen und den übrigen schöpferischen Akten jener Art auch gemeinsam hat. Durch diesen Akt ist das, was in der ehelichen Liebe intendiert ist, vollste objektive Realität geworden – keine andere irdische Liebesgemeinschaft kennt eine Objektivierung von solchen Rang. Beide gehören nun ganz einander, ein objektives Band verbindet sie – sie sind nicht mehr zwei, sondern eins.
Eine ungeheure Entscheidung liegt in dem Akt des Eheschlusses. Er stellt sich nicht von selbst wie die eheliche Liebe ein, sondern ist frei wie ein Willensakt. Mit ihm beginnt wie mit dem Ordensgelübde ein neuer Stand, eine ungeheure Veränderung hat sich mit einem Schlage vollzogen. Ein erhabenes Gebilde ist geschaffen, das, einmal vorhanden, die höchsten Anforderungen an beide stellt. Dieser entscheidungshafte Charakter des Eheschlusses, Kraft dessen in diesem einen Moment eine nunmehr unserer Willkür entzogene Veränderung sich einstellt, liegt qualitativ auch in der körperlichen Hingabe. Die körperliche Verbindung des Ehegatten stellt eine so letzte Intimität zwischen zwei Menschen dar, dass es in ihrem Sinn liegt, mit ihr eine ein für allemal gültige Hingabe erfolgen zu lassen. Es ist nicht nur eine vorübergehende Intimität, in der sich nichts objektiv konstituiert – es liegt vielmehr auch ein eindeutig Entscheidungshaftes in ihr – sie ist eine wirkliche Übergabe der eigenen Person an den andern, und in ihr liegt wesenhaft die selbe Ausschlie0lichkeit, die wir bei der ehelichen Liebe schon fanden. Sie fordert ihrem Sinn und Wesen nach, nur mit einem Menschen eingegangen zu werden, denn, wie das Wort des Herrn sagt, „sie werden zwei sein in einem Fleische.“ Sie begründet ein Band von letzter Zartheit und tiefster Nähe, das seinem Sinn nach dauernd ist und in dem ein Hingabe so radikaler Art gelegen ist, dass sie nicht mit einem weiteren Menschen eingegangen werden kann, so lange der Mensch lebt, dem man sich so letztlich geschenkt. All dies liegt zwar in dieser tiefsten Vereinigung an sich enthalten. Es wird jedoch erst dann volle Wirklichkeit, wenn diese tiefe Vereinigung als Konsequenz des Eheschlusses erfolgt. Wie furchtbar ist daher jeder Missbrauch dieser letzten intimsten Hingabe! Welche Schändung und Entweihung dieser rührenden, zur letzten Verwirklichung der objektivierten Liebesgemeinschaft bestimmten Verbindung!
Wie die Ehe ihrem Sinn nach in erster Linie Liebesgemeinschaft ist, so hat auch die körperliche Vereinigung nicht etwa nur den Sinn der Fortpflanzung. Gewiss, es gibt kein größeres Mysterium in der natürlichen Ordnung, als dass durch eben diese engste Vereinigung ein neuer Mensch entsteht mit einer unsterblichen Seele – wenngleich die Seele jedes Mal direkt aus Gottes Hand hervorgeht-, dass ein neues Wesen entsteht, bestimmt Gott zu lieben und anzubeten, dass Gott in einem neuen Wesen abgebildet wird. Aber dieser primäre Zweck ist nicht der einzige Sinn dieser körperlichen Gemeinschaft und subjektiv nicht einmal ihr primärer Sinn: ihr Sinn ist in erster Linie die Realisierung dieser erhabnen Liebesgemeinschaft – in der zwei Menschen gemäss dem Wort des Heilands „eins werden in einem Fleisch“. Die Frau, die nach dem Buche der Schöpfung aus dem Fleische gebildet ward, worin schon die enge Zusammengehörigkeit angedeutet wurde, in der sie als unzertrennliche Gefährtin für ihn bestimmt ist, wird durch die Ehe wirklich in dieser Weise mit dem Mann verbunden.
Im Gegensatz zu der puritanisch-protestantischen Einstellung, die ausschließlich in der Fortpflanzung auch den subjektiven Sinn der ehelichen Vereinigung sieht, spricht ein altes katholisches Ehegebet von der Ehe als dem Mysterium der Liebe. Während der Methodist Whitefield sich rühmt, es habe bei der Ehewerbung keine Liebe bei ihm mitgesprochen: „Gott sei gelobt, wenn ich mein eigenes Herz irgend kenne, so bin ich frei von jener törichten Leidenschaft, welche die Welt Liebe nennt“ (Zitiert P. Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrh. Und in der deutschen Romantik. Halle 1922. S. 12.), lautet ein altes katholisches Kirchengebet: Gott, du hast bei der Schöpfung des Menschengeschlechtes, die Frau aus dem Mann schaffend, schon bei der Bildung selbst bestimmt, dass eine Einheit des Fleisches und der süßen Liebe bestehe...“ „Herr unser Gott, du hast den Menschen rein und makellos gebildet und dennoch gewollt, dass in der Fortpflanzung der Geschlechter einer aus dem andern durch das Mysterium der Liebe geschaffen werde“ (Zitiert bei Wintersig „Liturgie und Frauenseele“ aus dem „Sacramentarium Fuldense“).
Gewiss, es gehört zu der ganzen feierlichen Größe dieser intimsten, engsten Gemeinschaft, dass aus ihr der neue Mensch hervorgeht. Die wunderbare von Gott gesetzte Verbindung der engsten Liebesgemeinschaft, die in sich schon ihre volle Bedeutung hat, mit der geheimnisvollen Zeugung eines neuen Menschen beleuchtet die Grö0e und Feierlichkeit dieser Vereinigung, so dass dieser generelle Zusammenhang auch subjektiv stets festgehalten werden muss, aber nur als prinzipielle Möglichkeit, damit die ehrfürchtige Haltung beider Gatten dieser Verbindung gegenüber als einem Mysterium stets gewahrt bleibe. Ja, es lässt sich nicht leicht ein größerer Mangel an Ehrfurcht gegen Gott denken als in dieses Mysterium mit frevlerischer, frecher Hand einzugreifen und diesen Zusammenhang aufheben zu wollen. Ist es nicht furchtbar zu denken, dass ein Mensch die Einheit freventlich zerstören will, die Gott so geheimnisvoll hergestellt hat, indem er die in höchster irdischer Liebesvereinigung Verbundenen würdigte, an seiner Schöpferkraft teilzunehmen? Welche Vermessenheit, durch einen frevlerischen Eingriff Gottes Absichten in den Rücken zu fallen und vielleicht ein Wesen, das Gott zur Existenz bestimmt hatte, in das Nichts zurückzustoßen! Aber wenn aus irgendeinem Grunde, auf den man selbst keinerlei Einfluss hat, feststeht, dass eine Nachkommenschaft nicht in Frage kommt, behält diese Verbindung doch ihre subjektive Bedeutung und ihre innere Schönheit. Ist die eheliche Liebe etwa nicht so erhaben, dass sie für sich allein diese Gemeinschaft zu heiligen und zu rechtfertigen vermöchte? Heißt nicht die erste Gebgründung für die Erschaffung der Frau im Schöpfungsbericht: „Es ist dem Menschen nicht gut, dass er allein sei, lasset uns ihm eine Gefährtin schaffen, die ihm gleich sei“? Darf man die kinderlose Ehe als etwas Verfehltes ansehen, das seinen Sinn nicht erfüllt hat, darf man von einer solchen Ehe behaupten, dass sie besser nie eingegangen worden wäre? Kann sie nicht als höchste Liebesgemeinschaft ihren vollen, gottgewollten Sinn haben und Gott auf diese Weise verherrlichen? Erfüllt sie das Ideal der Ehe nicht sogar in höherem Maß, wenn beide in vollkommenster ehelicher Liebe sich gehören, in unveränderlicher Treue, ein Abbild der Vereinigung der Seele mit Gott – sei es auch ohne Nachkommenschaft – als etwa eine kinderreiche Ehe, in der beide Teile einander betrügen und ohne Liebe und Treue den heiligen Bund schänden? Muss eine Ehe zur Josephsehe werden, weil man weiß, dass keine Kinder mehr zu erwarten sind? Prägt sich nicht gerade darin, dass die Ehe als Symbol der Vereinigung der Seele mit Gott gefasst wird, deutlich aus, dass sie als Gemeinschaft in sich eine erhabene Bedeutung besitzt und schon um ihrer selbst willen da sein soll, nicht erst dank einer Wirkung, die sich aus ihr ergibt?
Genauer besehen ist ja auch jede innerlich erfüllte Ehe in tiefstem Sinne fruchtbar. In der Tatsache, dass aus der engsten Liebesvereinigung zweier Menschen ein neuer Mensch hervorgeht, spiegelt sich in geheimnisvoller Weise die Fruchtbarkeit der Liebe überhaupt. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass jede echte Liebe eine immer geistige Fruchtbarkeit besitzt, und dass gerade der ehelichen Liebe ganz unabhängig von der Fortpflanzung diese geistige Fruchtbarkeit innewohnt. Diese Fruchtbarkeit wirkt sich in dem Aufschwung der Seele aus, den die Liebe in sich schließt, in der neuen Wachheit der Seele, die sie zu lebendigerem geistig sittlichen Wachstum anspornt. Sie wirkt sich in dem unbewussten Einfluss der Liebenden aufeinander aus, in dem gegenseitigen geistigen Sichemportragen, das durch das einzigartige Verstehen und Verstandenwerden ermöglicht wird. Jede Ehe, in der eine solch eheliche Liebe sich ganz erfüllt, bringt darum „geistige Früchte“, sie ist fruchtbar, wenn sie auch kinderlos bleibt. Nur wenn man die Größe und Erhabenheit dieser Verbindung als volle Realisierung der ehelichen Liebesgemeinschaft erfasst hat und – neben dem primären Zweck der Fortpflanzung – ihren primären Sinn darin erblickt, kann man auch die Fruchtbarkeit der Sünde der Unreinheit verstehen. Das, was zur höchsten innigsten Verbindung zweier Personen dienen soll, was sie „eins macht in einem Fleisch“, worin eine so letzte wirkliche Hingabe seiner selbst liegt – wird als Quelle sinnlicher Lust verwandt und in schändlicher Weise entweiht. Und diese Entweihung bleibt gleich groß, wenn auch Kinder einer sündigen Verbindung entspringen. Dass in dem Missbrauch dieser zur engsten gottgewollten Gemeinschaft bestimmten Verbindung die Sünde der Unreinheit wesentlich mitgegründet ist, zeigt schon der heilige Paulus, wenn er sagt: „Oder wisset ihr nicht, dass, wer einer Buhlerin anhängt, ein Leib mit ihr wird? Denn es werden... die zwei in einem Fleische sein“ (1 Kor. 6,16). Wäre die Fortpflanzung nicht nur der Zweck sondern auch der einzige Sinn dieser Gemeinschaft, so bliebe es in letztem Grunde unverständlich, worum diese Verbindung sündig bleibt, wenn aus ihr Kinder hervorgehen – und warum diese Verbindung rein und erhaben, wenn sie in kinderloser Ehe nur der Liebesgemeinschaft dient? Ihre Berechtigung erhält diese körperliche Gemeinschaft jedoch noch nicht als Ausfluss der ehelichen Liebe als solcher, sondern erst in Einheit mit dem feierlichen Akt des Eheschlusses, von dem wir oben sprachen. Denn da in ihr die ausdrückliche feierliche Hingabe an den andern, durch die man mit ihm in eine so letzte, intime Einheit tritt, vollzogen wird, setzt sie voraus, dass nicht nur die eheliche Liebe besteht, sondern dass man sich feierlich dem andern in freiem bewusstem Eheschlussakt zu einer dauernden Gemeinschaft für das ganze Leben geschenkt hat.
Da den tiefsten Sinn der Ehe die Liebesgemeinschaft darstellt, ist die Liebe nicht nur eine Voraussetzung der Ehe, sondern auch etwas, was von beiden gewollt werden muss, was gehegt und gepflegt werden muss: die Liebe ist auch eine Aufgabe und eine Pflicht für beide. Ist die Ehe eine einzigartige Objektivierung der besonderen ehelichen Liebe, so verlangt die Ehe, wenn sie einmal eingegangen, von beiden Seiten Liebe, und zwar nicht nur Nächstenliebe, sondern eheliche Liebe. Jeder Gatte hat ein Recht auf diese Liebe des andern. Die eheliche Liebe in ihrer ganzen Größe und Reinheit, in ihrer Glut und Tiefe und Wachheit nach Möglichkeit zu erhalten, ist eine Aufgabe, die mit dem Eheschluss für beide Teile entseht. Es ist schwer, das Bild des fremden Wesens, das sich wunderbar in der Liebe erschloss, immer in gleicher Klarheit und in seinem Glanze zu sehen, weil unsere Trägheit, unsere Abstumpfung, unser ständiges Fallen in die Peripherie unsern Blick erblöden lässt. Dagegen sollen und müssen wir ankämpfen, wir versündigen uns an dem Tempel, den wir in unserer Ehe erbaut, und brechen dem andern in gewissen Sinne schon die Treue, wenn wir ihn nicht mehr in diesem wahren Lichte, von dem tieferen Sinn seines Wesens aus verstehen, sondern wie andere Menschen von außen sehen. Für diejenigen, denen die spezifisch eheliche Liebe nur ein Sinnenrausch ist, mag es in der Natur der Sache liegen, dass sie mit der Zeit versiegt und nur eine Freundschaft übrig bleibt. Für uns aber, denen diese eheliche Liebe ein tieferes Erfassen des andern enthält und denen sie die gottgewollte Beziehung in der Ehe ist, muss einer Abschwächung dieser Liebe, in einem „Einschlafen“, so entgegengearbeitet werden, wie wir auch ständig in einem unvergleichlich höheren Sinn uns um die unverminderte Wachheit unserer Liebe zu Jesus bemühen müssen. Wie von dem Ordensmann die Erfüllung seiner Ordensregel eine ständige Arbeit verlangt, so verlangt auch die Ehe ein Sichfernhalten von allen peripheren Reizen und Ablenkungen, die der Blick von der geliebten Person abziehen und die Innenkonzentration, die in der Liebe liegt, zerstören würden. Diese Aufgabe umfasst aber je nach der individuellen Art einer Ehe verschiedenes. Wie Gott in der übernatürlichen Ordnung in verschiedenem Ausmaße den Menschen Gnade schenkt und im Verhältnis zu den empfangenen Gnaden mehr von den Betreffenden verlangt – gemäss dem Gleichnis im Evangelium von den Talenten, so verlangt auch die Ehe, je idealer sie an sich ist, je mehr die beiden Ehegatten als Naturen sich harmonisch ergänzen – je größer die Liebe ist, die sie ursprünglich zueinander fühlten oder die im Wesen ihrer Zusammenstellung an sich als Möglichkeit liegt, eine noch größere Liebe von beiden. Besteht in der Zusammenstellung zweier Personen die Möglichkeit zu dieser letzten ehelichen Liebe – so ist durch den Eheschluss eine Arbeit zur Verwirklichung dieses Ideals zur Pflicht für beide geworden. Die Ehegatten müssen diese höchste Liebe unter sich entfalten trachten. Sie müssen alles vermeiden, was sie verdunkeln oder abstumpfen konnte, z.B. ein Versinken des Mannes im Beruf – ein Versinken der Frau in häuslichen Dingen, vor allem aber ein einfaches Sichschwimmenlassen im Strom der trägen Gewohnheiten und des Abstumpfens. Stündlich muss man sich neu des unsagbaren Geschenkes bewusst werden, das Gott einem mit der anderen Seele geschenkt hat. Nie darf man es als Selbstverständlichkeit hinnehmen, dass der andere, den man liebt, einen wiederliebt, dass er für einen lebt, dass man darin etwas besitzt, was turmhoch über allen irdischen Dingen steht.
Besteht hingegen bei der Zusammenstellung zweier Ehegatten nicht die Möglichkeit zu einer solchen ehelichen Liebe, ist eine solche letzte innere Einheit nicht möglich, so ist auch die Aufgabe für beide Teile eine andere. Diese letzte glutvolle eheliche Liebe ist dann nicht gefordert – da sich die Ehegatten diese nicht selbst geben können, wenn dieselbe in ihrer Zusammenstellung nicht von Gott vorgebildet ist -, sondern die Aufgabe lautet dann für die Ehegatten, im Rahmen der Intension ihrer individuellen Ehe das Höchstmögliche daraus zu gestalten. Sie müssen auch für einander leben, alles fern halten und meiden, was sie entzweien und irgendwie trennen konnte, sie müssen versuchen, den andern im tiefsten Licht zu sehen.
Erst recht gilt dies für den Typus der unglücklichen Ehe. Fehlt von einer Seite jede Liebe, oder muss der eine Ehegatte unter dem andern in jeder Hinsicht leiden – denken wir an die Ehe einer heiligen Monika-, so besteht trotzdem die Forderung, das durch den Eheschluss geschaffenen objektive Band möglichst seinem Sinn gemäß zu gestalten – aber die Zusammenstellung der beiden Menschen ermöglicht die ideale eheliche Liebe nicht. Der eine Ehegatte kann nur in einer besonderen Ausgestaltung reiner Nächstenliebe den andern umfassen – ihn liebend, weil es der Mensch ist, mit dem er das Band der Ehe eingegangen, - ihn opfern und leiden. Die hier in der individuellen Ehe gelegene Aufgabe besteht eben in erster Linie im Opfer, Kreuz und Entsagung und in der Sorge für das Heil des andern.
Mit einem Wort, in jeder Ehe stellt Gott den Eheleuten eine bestimmte Aufgabe, abgesehen von dem, was jede Ehe objektiv verlangt – die gegenseitige Liebe und die eheliche Treue. Es gilt also auch jeweils den besonderen Sinn einer individuellen Ehe zu verstehen – zu erlauschen, was Gott den Ehegatten als besondere Aufgabe zugedacht hat – ob die Verwirklichung einer idealen Eh – ob das heroische Tragen des Kreuzes einer unglücklichen Ehe. Je nachdem, was der gegebenen Zusammenstellung der Ehegatten nach als höchste Möglichkeit sich er weist, muss der besondere gottgewollte Sinn einer individuellen Ehe in etwas anderem erblickt werden und wird die Forderung eine andere.
Das darf uns aber nicht darüber täuschen, dass die objektive Form der Ehe an sich auf die subjektive Erfüllung im Sinne der restlosen Liebesgemeinschaft abzielt, dass alle anderen Ehen am Schöpfungssinn der Ehe gemessen ein Verfehltes darstellen. Die Ehe ist an sich nicht da, um ein Kreuz für beide zu sein oder eine Schule der Resignation, sondern um zwei Menschen in restloser Liebe zu einer völligen Einheit zu verschmelzen und damit ein Abglanz von dem zu sein, was in erhabenster Weise die Gemeinschaft zwischen Jesus und der Seele ist.
„Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen und die zwei werden sein ein Fleisch. Dieses Geheimnis ist groß; ich sage aber in Christus und der Kirche.“ Wir haben in der engsten Liebesgemeinschaft zweier Menschen, in der sie wirklich eins werden, ein Herz, eine Seele und ein Fleisch, den primären Schöpfungssinn der Ehe gefunden, der sie allein befähigt, ein Vorbild der Beziehung der Seele zu Gott zu werden. Welche Beziehung besitzt aber diese Gemeinschaft zu Jesus, zu dem Heil der Seelen, zum Gottesreich? Wir wollen zunächst die übernatürliche Bedeutung der sakramentalen Ehe betrachten: welche Umformung der natürlichen Ehe hier stattfindet, was von ihr in das Sakrament aufgenommen wird, - und dann den erhabenen Wert der Ehe betrachten, ihren unvergleichlichen Vorrang vor allen sonstigen irdischen Gemeinschaften. Der, den der heilige Johannes sagen hört: „Siehe, ich machte alles neu“, hat auch die Ehe, diese edelste aller menschlichen Gemeinschaften, zu einer ungeahnten Höhe erhoben und mit einer unerhörten Würde umgeben. War diese dauernde Liebesgemeinschaft schon etwas Erhabenes in sich, so ist die Ehe in Christus und der Kirche ein unvergleichlich Erhabeneres, sowohl subjektiv wie objektiv. Welch eine Welt trennt die feierlich in Jesus und für Jesus eingegangene Ehe, die von tiefster Verantwortung durchsetzte, auf dem Hintergrund der Ewigkeit eingegangene Ehe selbst von der edelsten natürlichen Ehe, in welcher der eine Gatte den andern nur im natürlichen Ehe, in welcher der eine Gatte den andern nur im Rahmen der natürlichen Ordnung sieht.
Zunächst erfährt die eheliche Liebe schon eine tiefe, auch qualitative Umformung in den lebendigen Glied des „mystischen Leibes Christi“. Sie hört zwar keineswegs auf, die Eigentümlichkeiten zu besitzen, die wir kennen lernten – das gegenseitige Sichschenken, das Sichgegenüberstehen, das Füreinanderleben, das Bilden einer geschlossenen Einheit als Paar gegenüber allem andern Irdischen. Sie hört eben keineswegs auf, volle eheliche Liebe zu sein. Wie sollte auch die Übernatur dieses edelste irdische Gut auflösen, statt es zu verklären? Je größer der Mann, umso tiefer seine Liebe, lautet ein erhabenes Wort Leonardo da Vincis. Und Lacordaire sagt: Es gibt nicht zwei „Lieben“. Die himmlische unterscheidet sich von der irdischen dadurch, dass sie unendlich ist. Ein so Letztes und Großes ist die eheliche Liebe, ein so Zentrales, die ganze Person Umfassendes, dass ihre Tiefe zum Gradmesser für die natürliche Größe und Tiefe des ganzen Menschen genommen werden kann. Sie bietet das tiefste und edelste irdische Glück und das, was von allem Irdischen die Seele am meisten erfüllen kann – sie ist die edelste natürliche Macht, die die Welt so bewegt, wie kaum etwas anderes. Diese eheliche Liebe soll denn in der christlichen Ehe im vollsten Maß bestehen bleiben. Aber durch den Blick, der bewusst alles im Angesichte Gottes sieht – für den alles nur in Jesus und durch Jesus wahre Bedeutung besitzt, dem die Heiligung seiner selbst und anderer zur Verherrlichung Gottes die eigentliche Aufgabe ist, erhält auch die eheliche Liebe eine ganz andere Tiefe, einen ganz anderen Ernst, eine andere Reinheit und Selbstlosigkeit. Erstens ruht die eheliche Liebe hier auf dem Grund der erhabenen christlichen Nächstenliebe. Nicht als ob sie nicht auch hier etwas ganz Neues gegenüber dieser darstellte und ihre Eigenart behalten muss und soll – aber man weiß überdies, dass der andere ein Geschöpf Gottes ist, mehr noch, dass er ein Ebenbild Gottes ist, ja, eine in Jesu Blut erlöste unsterbliche Seele, die Jesus mit unendlicher, ewiger Liebe liebt. Der ganze Zauber der Individualität des anderen, die besondere beglückende Welt seines Wesens, die gerade für den Ehegatten so voll sich erschließt, wird in unvergleichlicher Weise geadelt, wenn sie als eine besondere Fassung des ewigen Wertes der geistigen Person erscheint, dir ein Tempel des Heiligen Geistes geworden. Solange die Person nicht als Ebenbild Gottes gefasst wird, solange sie nicht als unsterbliches Wesen, zur ewigen Gemeinschaft mit Gott bestimmt, erkannt wird, solange vor allem nicht erfasst wird, dass sie ein Gefäß der Gnade geworden, solange wird ihre eigentliche Würde – der letzte Ernst, der in ihr liegt und an ihrem Schicksal hängt, ihre Tiefe und die ganze Schönheit, die sie zu entfalten berufen ist, nicht verstanden werden. Welche Steigerung und Vertiefung erfährt erst die Liebe, wenn sie in dem andern einen Teil des mystischen Leibes Christi sieht, wenn sie weiß, dass der andere Christus gehört, wie man ihm selbst gehört! Welche Ehrfurcht und Keuschheit durchzittert die eheliche Liebe, die sich dessen bewusst ist, welch feierlicher Rhythmus durchtönt sie, den selbst die glühendste edelste Liebe des natürlich eingestellten Menschen nicht besitzt. Die eheliche Liebe des Christen umfasst so auch die übernatürliche Nächstenliebe; und zwar färbt dies die ganze eheliche Liebe, ihr einen unerhörten Ernst und eine ungeahnte Tiefe verleihend, denn die Liebe zu dem Ehegatten ist hier dann stets zugleich auch Liebe zu Jesus, im andern wird auch Jesus mitgeliebt.
Dadurch erhält diese Liebe auch eine ganz andere Reinheit und Selbstlosigkeit als selbst die höchste natürliche Liebe. Der ehelichen Liebe wohnt, wie jeder echten Liebe, eine natürliche Tendenz zur Beglückung des Geliebten inne. Sie will das Glück des andern noch vor dem eigenen. Der Liebende lebt in dem Geliebten, beschäftigt sich mit ihm, nicht etwa mit dem Genusse der eigenen Liebe. In der ehelichen Liebe in Jesus aber erhebt sich dieser Tendenz zum glühendsten Interesse für das Heil des andern und zwar nicht nur wie in jeder Nächstenliebe – vielmehr mit der Besonderheit, dass es der für mich bestimmte Mensch ist, dessen Heil mich noch in einer ganz besonderen Weise vor allen anderen Menschen angeht. – Hier wird die Mitarbeit an der Heiligung der geliebten Person zum zentralen Brennpunkt der Liebe. Diese Liebe erhebt sich glorreich über das irdische Leben. Sie umfasst den anderen nicht nur im Rahmen dieses Lebens und für dieses Leben, sondern liebt ihn für die Ewigkeit. Das Heil des andern ist der Höhepunkt alles dessen, was sie bejaht im andern. Das gibt ihr eine rührende Selbstlosigkeit, die auch die höchste natürliche eheliche Liebe nicht besaß.
In der natürlichen ehelichen Liebe liegt ferner die Gefahr, dass der andere Mensch zu dem absoluten Mittelpunkt des Lebens gemacht wird und dass dadurch die Liebe zum Götzendienst wird. Bei der ehelichen Liebe in Jesus ist diese Gefahr ganz gebannt. Sie ordnet bewusst diese Liebe ein in die Liebe zu dem „König und Mittelpunkt aller Herzen“ und das letzte „Wort“ dieser Liebe ist die Teilnahme an der ewigen Liebe, die Jesus der andern Seele zuwendet. Sie wird dadurch nicht etwa weniger glutvoll, weniger dem andern zugewandt, im Gegenteil – sie erreicht eine Glut und Letztlichkeit, von der sich der bloß natürlich Eingestellte nicht einmal eine Vorstellung machen kann. Denn die Hingabe an ein Gut ist dann am tiefsten und stärkten, wenn es an der Stelle gesehen wird, die ihm von Gott an sich verliehen ist. Jede „Vergötzung“ ist nicht ein Zuwachs an Liebe, sondern eine Perversion und damit eine Verminderung der Liebe.
Wir sahen früher, dass wie jeder echten Liebe, auch der ehelichen Liebe eine innere geistige Fruchtbarkeit eigen ist, die zwar in geheimnisvollem Zusammenhang mit der Fortpflanzung steht, aber nicht auf sie beschränkt ist. Das immanente „sursum corda“ („empor die Herzen“), das auch die eheliche Liebe auszeichnet, lässt die Liebenden nicht restlos ineinander versinken, sondern erzeugt in beiden eine geistige Bewegung nach oben, ein sich selbst von der Liebe höher tragen lassen und ein Bejahen der Vervollkommnung des andern. Die echte tiefe Liebe erbaut stets einen Tempel, der beide Liebenden umfängt, der sich aber hoch über beiden wölbt und in den immer mehr hineinzugelangen eine wesensmäßige Richtung der Liebe ist.
Bei der übernatürlich verklärten ehelichen Liebe gewinnt auch diese geistige Fruchtbarkeit eine neue Bedeutung. Hier bildet Jesus selbst den Tempel dieser Liebe und die echte Liebe der Ehegatten in Christus enthält ein gegenseitiges Emportragen des andern zu Jesus hin. Sie ist nicht nur von der unersättlichen Sehnsucht erfüllt, den Geliebten nach oben zu Christus hin wachsen zu sehen, sie schließt sich nicht nur an die göttliche Liebe Jesu zu der Seele des andern an, sondern sie fördert auch das Wachstum des andern zu Jesus hin, wie den Liebenden die Liebe des andern nach oben zieht.
Viel wichtiger aber noch als die Umformung der ehelichen Liebe ist die der Ehe selbst, eine Umformung, die auch eine Rückwirkung auf die eheliche Liebe besitzt, die wir noch später kennen lernen werden. Entstand das natürliche Band durch den feierlichen Eheschluss, durch den Willen, sich in einer dauernden Lebensgemeinschaft ganz anzugehören – so schafft hier der bewusst in Gott vollzogene Eheschluss ein Band von ganz anderer Weihe und Wirklichkeit. Wie der Eid ein ganz anderes Gewicht gegenüber einer bloßen Versicherung besitzt, wie durch die Hereinbeziehung Gottes eine ganz andere Bindung und ein ganz anderer feierlicher Ernst entstehen, so auch hier. Die in Gott geschlossene Ehe erfüllt erst die in jeder Ehe immanent gelegene Objektivität und Gültigkeit ganz. In ihr vollendet sich erst die volle Objektivierung der Einheit und Liebesgemeinschaft, die in ihrem Bestand von allem subjektiven Stellungnehmen und Fühlen der beiden Ehegatten unabhängig ist. Sie erst stellt ganz ein Gut in sich dar, für das beide Ehegatten opfern und arbeiten müssen. Erst hier ist die Ehe etwas, das nicht nur für die Ehegatten da ist, sondern für das auch die Ehegatten da sind.
In der christlichen Ehe liegt aber noch weit mehr. Nicht nur in Gott wird die Ehe vollzogen, sondern das Gelöbnis der Treue wird auch Christus gegenüber vollzogen. Nicht nur dem andern Ehegatten gegenüber wird diese feierliche Gemeinschaft eingegangen, sondern auch Christus gegenüber, dem ja beide Ehegatten als Glieder seines mystischen Leibes gehören. Der Eheschluss wird dadurch eine Weihe an Gott analog wie das Ordensgelübde. Man schenkt sich nicht nur gegenseitig in Gott, sondern man schenkt sich auch Christus in dem andern neu, in Christi Hände ist der Bund gelegt, ihm ist er anvertraut, ihm gehört auch das Band. Diesen Bund in seiner idealen Form zu entfalten, ihn als letzte Liebesgemeinschaft zu pflegen, ihn als heiligen Tempel zu schützen vor jeder Entweihung, ist ein Gottesdienst, und es ist dies nicht nur in dem allgemeinen Sinn, wie alles, was ich ausdrücklich Gott weihe, wie etwa die Gott geweihte Berufsarbeit ein Gottesdienst genannt werden kann, sondern in einem viel eigentlicheren Sinn, analog wie der Ordensstand, wenn auch natürlich in viel geringerem Maß als dieser. Denn es besitzt die Ehe an sich schon eine ganz besondere Beziehung zu Gott, ihn durch die objektivierte einzigartige Liebesgemeinschaft verherrlichend, dann ist sie formal als in Christus feierlich geschlossen ganz anders in Gott verhaftet und endlich hat unser Herr und Heiland Jesus Christus selbst diese Beziehung der Ehe zu ihm hergestellt und damit die Ehe innerlich mit Gott in dieser Weise verbunden. Je höher an Wert ein Gut ist und je direkter es seinem Gehalt nach mit Gott verknüpft ist, um so direkter wird Gott dadurch verherrlicht. Das ist der erste Grund, aus dem alles, was man für die ideale Entfaltung der Ehe tut, ein Gottesdienst im engeren Sinn wird als etwas eine Berufsarbeit, die nicht direkt in ihrem Inhalt auf das Gottesreich bezogen ist. Die Ehe ist aber außerdem, feierlich in Christus geschlossen und als ganzes ihm anvertraut, eine viel tiefere, organischere Verknüpfung als die durch die bloße gute Meinung zustande kommende; und endlich drittens ist sie vor allem nicht nur von uns durch besondere Akte mit Christus verknüpft, sondern von Christus selbst in diese Verknüpfung ausdrücklich hergestellt.
Weil das objektive Band der Ehe also in dreifacher Weise so mit Gott verbunden ist, dass die Ehe nicht nur den Ehegatten sondern auch Christus gehört, so werden auch alle Akte der Liebe, in denen die in der Ehe enthaltene Forderung erfüllt wird, die den Sinn derselben als letzte Liebesgemeinschaft realisieren, zu einem Gottesdienst in einem engeren und wirklicheren Sinn als etwa die durch eine gute Meinung zur Ehre Gottes verrichtete Berufsarbeit, oder als der Art und Weise entspräche, in der alle Lebensäußerungen, auch die in sich geringfügigsten, es sein können – die wir ja gemäß dem Worte des Apostels alle in Gott erreichen sollen: „Ob wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“.
Ist das Band christlicher Ehe so ein heiliges geworden, vergleichbar der religio, die durch das Ordensgelübde entsteht, wenn auch natürlich der Ordensstand der Ehe an Heiligkeit weit überlegen ist, worauf wir am Schlusse noch kommen werden, so hat Jesus die Ehe überdies mit einer Würde ausgestattet, die gegenüber allen, was wir bisher ins Auge fassten, ein völlig neues darstellt: er hat sie zum Sakramente erhoben – er hat dieses heilige Bad zu einem besonderen Quell der Gnade gemacht. Er hat den Eheschluss, der in sich heilig ist, zu etwas Heiligmachendem umgeschaffen. In dieser Richtung geht die Ehe noch über den Ordensstand hinaus, so sehe ihr dieser an innerer Heiligkeit weit überlegen ist, wie wir eben schon betonten. Im Bezug auf den sakramentalen Charakter muss sie der Priesterweihe verglichen werden. Wie die Priesterweihe – abgesehen von der inneren Heiligkeit der in der Idee des Priesters gelegenen Tätigkeit, die wie alles Heilige auch als solche Gnaden meritorisch auf den Priester herabruft – als Sakrament Organ bestimmter Gnaden, ein Gnadenspender ist, so auch die Ehe. Die Priesterweihe zieht nicht nur Gnaden nach sich, sondern vermittelt sie auch – sie ist zum Kanal bestimmter Gnaden geworden. So ist die Ehe gewürdigt worden von Jesus, eine der sieben geheimnisvollen Quellen der Teilnahme am göttlichen Leben zu werden. Sie hat vielleicht in ihrer Eigenart als Sakrament am meisten Ähnlichkeit mit der Priesterweihe, da sich in ihr nicht die Wiedergeburt vollzieht, wie in Taufe und Buße, noch die Vollendung dieser Wiedergeburt und der Gemeinschaft mit Jesus wie in der heiligen Kommunion, da sie weiterhin nur für bestimmte Menschen in Frage kommt, die eine bestimmte Berufung dazu haben.
Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, diese rein theologische Seite der Frage weiter zu verfolgen. Nur auf eines soll hingewiesen werden. Der Sakramentscharakter der Ehe ist in besonderer Weise in das Wesen der Ehe selbst hineinverlegt. Denn nicht durch die Segnung des Priesters kommt das Sakrament zustande – sondern am Entschluss selbst, den beide Ehegatten vollziehen, haftet das Sakrament. Die Ehegatten sind selbst die Spender des Sakraments. Darin, dass im gegenseitigen Zusammenschluss zu der Einheit, die das Abbild des Verhältnisses von Christus zu der Kirche ist, das Sakrament zustande kommt, dass in der Spendung des Sakramentes beide Ehegatten einander zugewandt sind, prägt sich auch in wunderbarer Weise der primäre Sinn der Ehe als Liebesgemeinschaft aus. Es liegt aber auch eine besondere Auszeichnung der Ehe darin, dass das Sakrament so in die Materie der Ehe hineinverlegt ist. Es drückt sich hierin aus, welch hoher Wert in der Ehe als solcher liegt, dass bei diesem Sakrament der Sakramentscharakter so in sie selbst hineingelegt ist und mit ihrer inneren Heiligkeit so eng verknüpft ist.
Wir sahen oben, wie die Dauer und Ausschließlichkeit in der Intention der ehelichen Liebe liegt, wie die Ehe eine Gemeinschaft darstellt, die zwar frei eingegangen wird, aber einmal eingegangen nicht willkürlich gelöst werden kann. Diese der Willkür der Ehegatten entzogene Gültigkeit setzt wesenhaft die Existenz Gottes und die Bestimmung des Menschen für die Ewigkeit voraus, aber nicht den subjektiv auf Gott bezogenen Eheschluss. Fingieren wir, dass die Welt ein Mechanismus ei, über dem kein allmächtiger, Allgütiger Gott thront, in dem unser Sein mit dem Tod sich auflöst, so erscheint ein der Willkür der Ehegatten entrücktes objektives Band als ein Unding. Mit der objektiven Existenz Gottes aber ist das Eheband schon der Willkür der Ehegatten entrückt, nach ohne subjektive Beziehung auf Gott. Darum ist jede wirkliche Ehe auch unter Heiden nicht nach Belieben der Ehegatten löslich. Aber sie ist nicht absolut unlöslich, wie das Paulinische Vorrecht beweist. Erst die sakramentale Ehe, die ein Abbild der Verbindung Christi mit der Kirche ist, hat eine so vollgültige Wirklichkeit, dass sie absolut unlöslich ist. Die Unlöslichkeit der sakramentalen Ehe ist jedoch nicht nur ein positives Gebot Gottes, das mit dem Wesender Ehe nichts zu tun hätte. In ihr vollendet sich vielmehr der erhabene Sinn der Ehe. Das Entscheidungshafte, das in dem Eheschluss als solchem liegt auch in dem einzigartigen Charakter der körperlichen Gemeinschaft eingeschlossen ist, wie wir oben sahen, findet hier seine volle Entfaltung und Realität in dem Band, das in Christus geschlossen, Christus anvertraut ist und das ein Abbild seiner Gemeinschaft mit der Heiligen Kirche darstellt; denn der Heiland stellt mit Beziehung auf den ursprünglichen paradiesischen Zustand die strenge Unauflöslichkeit wieder her mit den erhabenen Worten, „was nun Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen“.
Es gibt wenig in unserer Heiligen Kirche, worüber so viel Konflikte entstehen, woran so viele scheitern, um des willen so viele abfallen, wie gerade das Dogma von der Unlöslichkeit der Ehe. Es fordert unter Umständen die furchtbarsten Opfer, nämlich den Verzicht auf eine glückliche Ehe bei den unglücklich Verheirateten. Wie lächerlich und kläglich anzunehmen, dass etwas, was so einschneidende Wirkungen hat, nur aus irgend einem pädagogischen Grund von Gott geboten sei, nur mit Rücksicht auf die Rolle der Ehe für den Staat, die Gesellschaft, gar nicht zu reden von biologischen Gesichtspunkten, statt diese Unlöslichkeit in der inneren Erhabenheit der christlichen Ehe als Sakrament zu erblicken. Welche Oberflächlichkeit, nicht zu verstehen, dass die Tendenz auf Unauflöslichkeit aus dem Sinn der Ehe als engster Liebesgemeinschaft von selbst hervorgeht, sondern sie aus Nützlichkeitsgründen ableiten zu wollen – wie: sonst würde die Gesellschaft in Unordnung kommen oder die Erziehung der Kinder würde erschwert usw., alles Momente, die doch nur ganz indirekt und lose mit der Unlöslichkeit zusammenhängen.
Es wäre dies ebenso, als wollte man die Unzerstörbarkeit des Charakter indelebilis des Priesters damit motivieren, dass diese notwendig sei, um das Vertrauen der andern zum Priester zu stärken, statt den Grund im Wesen der Priesterweihe und ihrer inneren Erhabenheit zu suchen. Nein, die christliche Ehe ist ihrem Sinn nach als engste geschöpfliche Liebesgemeinschaft so erhaben, so mit Christus verbunden, dass sie, selbst wenn sie subjektiv unglücklich ist, unlöslich fortbesteht. Von besonderer Bedeutung ist aber die Rückwirkung dieser Unlöslichkeit auf die eheliche Liebe. Viele erblicken in der Unlöslichkeit etwas bedrückendes, das der Liebe ihre Flügel nimmt, sie zu einem Zwang gestaltet. Man meint, die Liebe ersterbe, wenn sie nicht mehr ein freies Sichschenken sei, wenn man wisse, dass das Band unbekümmert um unsere Liebe oder Nichtliebe unauflöslich fortbesteht. Nichts weniger als dies ist aber der Fall. Das Bewusstsein mit dem andern unauflöslich in Christus verbunden zu sein, eine objektiv unlösliche Gemeinschaft zu bilden, die all unsern Schwankungen und Gebrechlichkeiten in ihrer Gültigkeit entzogen ist, ist die höchste Befriedigung für den wirklich ehelich Liebenden. Er will ja eins sein mit dem andern und ist dankbar und glücklich, dass diese Gemeinschaft so real zustande kommt und erhaben über alle Schwankungen im Erleben ist. Das Bewusstsein, eine solch erhabene unlösliche Gemeinschaft in Christus einzugehen, steigert nicht nur die eheliche Liebe, ihr einen ganz neuartigen Ernst verleihend, sondern sie schafft erst den Rahmen, in dem die eheliche Liebe in ihrer letzten Größe und Tiefe sich ganz entfalten kann. Gerade das Bewusstsein, dass die Liebe durch das objektive Band der Ehe nunmehr von Christus gefordert wir, dass dieses Band ein für allemal besteht, dass man nichts mehr daran willkürlich ändern kann, dass niemand es lösen könnte, weil es in die Hände Christi gelegt ist, adelt und erhebt die eheliche Liebe und gibt ihr das den ganzen andern Menschen Umfassende, seine Gegenwart und seine Zukunft Einschließende.
Wenn wir uns die ganze Größe und geheimnisvolle Höhe der christlichen Ehe vergegenwärtigen – eine letzte Liebesgemeinschaft in Jesus und für Jesus, die Jesus gehört und die zur Heiligung beider führen soll, die aus zwei Menschen wirklich eins werden lässt in einem Fleisch – wenn wir bedenken, dass diese Gemeinschaft zum Werden eines neuen Menschen führt – wenn wir vor allem bedenken, dass diese Gemeinschaft zum Sakrament erhoben und ein Abbild der Beziehung Christi zur Kirche ist, so gewinnt die Frage, was das richtige Motiv für einen Eheschluss darstellt beziehungsweise Welche Motive für einen Eheschluss zulässig sind, eine große Bedeutung. Das einzige voll angemessene Motiv für eine Ehe ist das Vorhandensein einer gegenseitigen ehelichen Liebe und der feste Glaube, dass diese Verbindung für beide ein Weg zum ewigen Heil werde. Wie der von Liebe durchtränkte Glaube an die göttliche Wahrheit das einzige letzte, wahre Motiv für das Eintreten in der Gemeinschaft der Heiligen Kirche ist, so ist auch die Überzeugung, dass die andere Person der für mich von Gott Bestimmte ist und ich der für sie Bestimmte, dass Gott beide in jener ehelichen Liebe verbunden hat, das Motiv, das diese Gemeinschaft allein wahrhaft sinnvoll und wünschenswert macht. Nur das Vorhandensein dieser Liebe, das allerdings, wohl geprüft und auf seine Echtheit hin untersucht werden muss, soll an sich den letzten Grund eines Eheschlusses bilden.
Wenn auch die einmal geschlossene Ehe Liebe fordert von beiden Ehegatten, wie wir früher sahen, und die Tatsache, dass der andere der Ehemann ist oder die Ehefrau, auch ein Motiv für die Liebe darstellt, so soll das letzte Motiv der Liebe doch in der andern Person als solcher liegen. Die eheliche Liebe ist nicht nur für die Ehe da, um die Ehe zu erleichtern oder zu ermöglichen, so dass es sinngemäß wäre jemand zu lieben, weil man ihn heiraten will; sondern die Ehe ist da als Erfüllung der ehelichen Liebe, und man soll heiraten, weil man den andern liebt und ihn für den von Gott Bestimmten hält.
Wenn dies nun auch das eigentliche angemessene Motiv für den Eheschluss ist, so sind damit noch nicht alle andern Motive sittlich verwerflich. Es kann auch eine „resignierte“ Liebe zu einem Eheschluss berechtigen – eine Liebe, die zwar nicht von jenem letztem seligen Sichfinden, von jener Überzeugung des ausschließlich füreinander Bestimmtseins getragen ist, die aber von einer tiefen Achtung für den andern erfüllt ist und die eine edle Lebensgemeinschaft mit den andern aufbauen will. Nicht jedem Menschen ist die letzte eheliche Liebe vergönnt, vielleicht ist eine Ehe mit dem in letzter ehelicher Liebe Geliebten unmöglich aus irgend einem Grund – und wenn dann eine Ehe aus dieser „resignierten“ Liebe heraus geschlossen wird, so ist es sittlich nicht unzulässig, wenn es auch gewiss nicht der Fall ist, der den eigentlichen Sinn der Ehe ganz rein zur Entfaltung bringt. Es gibt auch viele Menschen, die zu einer so ehelichen Liebe nicht imstande sind, die zu grob, zu stumpf, zu primitiv sind und die dabei doch eine Ehe eingehen dürfen, wenn sie auch nur eine viel oberflächlichere Liebe fühlen. Als durchaus unzulässiges Motiv hingegen muss ein ausschließlich sinnliches Begehren betrachtet werden ohne wirkliche Liebe. Dieses egoistische, äußerliche, die andere Person zum Gegenstand herabwürdigende Verhältnis steht in direktem Widerspruch zu dem Sinn dieser erhabenen Gemeinschaft, die zwei Menschen zu einer vollen Einheit verbindet, bis dass der Tod sie scheidet. Es liegt fast etwas sakrilegisches darin, diese feierliche Verbindung, deren Sinn die tiefste Liebesgemeinschaft ist, aus einem so äußerlichen, vergänglichen und niederen Motiv einzugehen.
Ganz verwerflich aber sind alle Motive, die sich nicht auf die andere Person als solche beziehen – so vor allem Motive des wirtschaftlichen Vorteils oder des Ehrgeizes, an der äußeren Stellung des andern, an seinem Namen, seinem Einfluss teilzunehmen. Wie es schändlich ist, wenn jemand in einen Orden eintritt, weil er in der Welt nirgends unterkommt und dort versorgt zu sein hofft, ebenso schändlich ist es, wenn jemand den Bund, in dem zwei Menschen in letzter gegenseitiger Liebe in Jesus eins werden sollen, eingeht, um eines äußeren Vorteils willen. Damit soll nicht behauptet werden, dass eine aus ganz unzulässigen Motiven eingegangenen Ehe nicht doch nachträglich eine echte Liebesgemeinschaft und eine Gott wohlgefällige Ehe werden könne, so gut aus verwerflichen Gründen vollzogener Eintritt in einen Orden nicht geradezu ausschließt, dass der Betreffende später ein guter Ordensmann werde. Diese nachträgliche Entwicklung hebt aber keineswegs die Verwerflichkeit der Motive auf.
Leider wird, wie mir scheint, nicht immer unter den Katholiken mit der genügenden Strenge die Verurteilung dieser Motive vollzogen. Man sollte mit unerbittlicher Klarheit alle diese Motive als völlig unwürdig zurückweisen und darauf drängen, dass nur die eheliche Liebe das eigentliche Motiv der Ehe bilden darf. Statt dessen begegnet man auch in katholischen Kreisen vielfach dem unglücklichen Begriff der „Vernunftehe“. Man versteht darunter eine Ehe, die nicht aus „Gefühl“, wie man sagt, sondern aus „gedanklichen Erwägungen“ hervorgeht. Diese Alternative ist aber schon falsch. Denn selbstverständlich muss auch der Eheschluss gedanklich wohl erwogen sein, aber die Erwägungen müssen sich gerade darauf beziehen, ob die eheliche Liebe, die hier als „Gefühl“ mit einer gewissen Verachtung gefasst wird, wirklich auf beiden Seiten gegeben ist, ob der andere wirklich so ist, wie er einem erscheint, ob er der für uns Bestimmte ist, ob die Verbindung Gott wohlgefällig ist, ob keinerlei Gefahren für mein oder sein ewiges Heil mit der Verbindung verknüpft sind. Aber sobald die gedanklichen Erwägungen sich auf die Ehe unwesentliche Punkte beziehen und diese Erwägungen als solche zum Motiv werden, statt nur zur Klärung und Prüfung des schon vorhandenen Motivs zu dienen, liegt ein Eheschluss vor, der in Wirklichkeit als unvernünftig bezeichnet werden muss. Vernünftig ist immer nur, was dem Sinn einer Sache gemäss ist. Vernünftig ist ein Ordenseintritt, wenn er die Antwort auf eine wirkliche Berufung darstellt, das Vorhandensein einer Berufung genau geprüft wird; wenn aber gedankliche Erwägungen noch so nüchterner Art über die Zweckmäßigkeit des Ordenseintritts für egoistische Zwecke die Berufung ersetzen sollen, so widerspricht diese Motivation dem Sinn des Ordensberufes und ist unvernünftig. Die sogenannte „Vernunftehe“, die aus der ruhigen Erwägung geschlossen wird, dass die Vermögensverhältnisse dadurch gebessert werden, dass man dadurch für seinen Beruf Vorteile erlangt, dass man ein friedfertiger Mensch ist, wie auch der andere, dass man sich daher gut vertragen werde, dass man im Alter gut sich daher gut vertragen werde, dass man im Alter gut zusammenpasse – eine Ehe, bei der solche Erwägungen statt der ehelichen Liebe, statt der ehelichen Liebe, statt der Sehnsucht nach engster unlöslicher Gemeinschaft mit dem anderen das Motiv des Eheschlusses bilden, ist nicht nur etwas höchst Unschönes, Armseliges, sondern etwas Unvernünftiges.
Haben wir in großen Zügen die Umformung und Verklärung der natürlichen Ehe kennen gelernt, die die sakramentale Ehe darstellt, so müssen wir noch kurz auf den besonderen Wert hinweisen, den die sakramentale Ehe verwirklicht.
Jede Liebesgemeinschaft ist ein Wertvolles. Nicht nur die Liebesakte der Liebenden sind Träger eines Wertes, sondern auch das Verbundensein von Personen in Liebe selbst. „Siehe wie gut und wie lieblich ist´s, wenn Brüder beisammen wohnen“ (Ps 102, 1). Je tiefer und zentraler diese Verbundenheit in Liebe ist, um so größer ist auch der Wert der Gemeinschaft. Die engste Liebesgemeinschaft unter Geschöpfen ist, wie wir sahen, die Ehe. Sie überragt demnach schon als natürliche Gemeinschaft jede andere, wie Familie, Staat und Nation, sie verherrlicht Gott noch mehr.
Die Ehe steht hoch über allen anderen irdischen Gemeinschaften in ihrem Wert. Eine Gemeinschaft steht um so höher, je größer das Gut ist, das ihren Sinnbereich bildet oder was damit eng zusammenhängt, je tiefer die Stelle in der Person ist, an der der Einheitspunkt liegt, je größer und wesenhafter die Rolle ist, die die Liebe in ihr spielt und endlich je unmittelbarer das einigende Prinzip mit unserer übernatürlichen Bestimmung zu tun hat. Eine gesellige Gemeinschaft etwa steht weniger hoch als die nationale Gemeinschaft. Denn das große Kulturgut, das den Sinnbereich der Nation bildet, ist ein viel höheres Gut als die Pflege einer oberflächlichen Lebensfreude, die den Sinnbereich der geselligen Gemeinschaft bildet. Das Einigende ist ferner an einer ungleich tieferen Stelle in der Person verwurzelt, die gegenseitige Liebe spielt in dieser Gemeinschaft schon eine wichtigere Rolle. Unvergleichlich höher als die Nation aber steht wiederum die Gemeinschaft der Familie. Das, was hier die Menschen eint, ist ein noch viel tiefer in der Person Gelegenes, als das nationale Moment. Ihr einheitsbildender Sinnbereich reicht weit über alles kulturelle hinaus ins Metaphysische. Auch spielt in ihr die gegenseitige Liebe eine zentrale Rolle. Die Liebe gehört in ganz anderem Maß zu der geforderten Erfüllung dieser Gemeinschaft, und was zu der Vollkommenheit dieser Gemeinschaft gehört, steht in viel engerer Beziehung zum Übernatürlichen als bei der Nation und auch etwa beim Staat. Noch höher als die Familiengemeinschaft aber steht die eheliche Gemeinschaft. Was hier die Einheit ausmacht, berührt die tiefste Wurzel beider Individuen, die Liebe macht hier, wie wir gesehen haben, das Wesentliche der Beziehung aus. Zu ihrem Sinnbereich gehört nicht nur das zentralste Glück beider, sondern auch die hingebende Liebe für den andern, das glühende Interesse an seinem geistig-sittlichen Wachstum, das verstehende Bejahen des besonderen Gedankens Gottes, den die Persönlichkeit darstellt. Diese Gemeinschaft umfasst den Menschen als Ganzes wie keine andere geschöpfliche Gemeinschaft. Sie durchdringt alle Lebensgebiete von den peripheren bis zu den tiefsten. Darum ist sie auch so ausschließlich. In der Ehe als der in Christus geschlossenen Liebesgemeinschaft aber vor allem in der Ehe als Sakrament ist die Abbildung der Liebe Christi zur Kirche der Kern des Sinnbereichs. Dadurch hat sie eine unvergleichlich engere Beziehung zu Jesus und zur Frage unserer ewigen Bestimmung als alle anderen geschöpflichen Gemeinschaften. Es gehört zu den ausgesprochen heidnischen Irrtümern unserer Zeit, zu glauben, Staat und Nation stünden höher als die Familie und selbst als die Ehe, und vor allem: in dem Interesse und der Hingabe an die Nation oder den Staat etwas Selbstloseres zu erblicken als in der Hingabe an die Familie oder an die Ehe. Nur weil diese Gemeinschaften zahlenmäßig umfassender sind, hält man sie auch für übergeordnet. In Wahrheit aber stehen sie viel niedriger, ihr vollkommenster Bestand als solches vermag niemals Gott in so unmittelbarer Weise zu verherrlichen wie eine vollkommene Ehe; und das ist – vergessen wie es nie – allein in allem die ausschlaggebende Frage: Wodurch wird Gott mehr verherrlicht? Die Ehe ist auch deshalb viel selbstloser, weil sie in erster Linie nicht Wir-Gemeinschaft, sondern eine Ich-Du-Gemeinschaft ist. Den wahren Gegenpol zum Egoismus bildet nicht das Ganze, von dem ich ein Teil bin, sondern der Nächste, der mir als Du gegenübersteht. Ohne auf diese wichtige Frage weiter eingehen zu können, sehen wir doch, welchen Rang die Ehe unter den Gemeinschaften einnimmt, dass sie ein viel höheres in sich darstellt als alle anderen und in ihrem Bestand als Abbild der Beziehung von Christus und der Kirche Gott verherrlichen würde, auch wenn es alle andern Gemeinschaften nicht gäbe.
Unser Herr und Heiland Jesus Christus hat gesagt: Wo zwei in meinem Namen beisammen sind, bin ich mitten unter ihnen. Welch erhabener Wert haftet dann erst an der christlichen Ehe, wo zwei Menschen sich nicht nur im Aufblick zu Christus verbinden, sondern eine letzte Einheit in Christus bilden, deren Existenz als solche schon Jesus verherrlicht! Welch erhabener Wert haftet an dieser rührenden, leuchtenden, keuschen ehelichen Liebe, die die Ehegatten gleichsam in einem Pulsschlag der Seelen nur noch eine Trauer, einen Schmerz, eine Freude und eine Liebe zu Jesus haben lässt. Welche Schönheit besitzt dieses Band, das von uns jene eheliche Liebe fordert und uns so eine Aufgabe stellt, die ein Abbild von dem ist, was unser ewiges Ziel bildet: die Vereinigung der Seele mit Gott. Denken wir an die Ehe einer heiligen Elisabeth, die, wenn sie die Nächte in Bußübungen verbrachte, ihre eine Hand in der Hand ihres schlafenden Mannes ließ, ein rührender Ausdruck der echt ehelichen glutvollen Liebe und zugleich der feierlichen ehrfürchtigen Verbundenheit vor Gottes Angesicht. Verherrlicht etwas eine solche Liebesgemeinschaft Gott nicht in besonderer, direkter und primärer Weise?
Die christliche Ehe bildet aber auch für beide Ehegatten einen Weg zur immer engeren Vereinigung mit Jesus. Als Band, das in Jesus und Jesus gegenüber geschlossen, bedeutet das Wachstum in der ehelichen Liebe auch ein Wachstum in der Liebe zu Jesus. Die einzigartige Hingabe an den andern, das Leben der Seele, das man führt und führen soll, macht unser Herz stets geöffneter und liebesfähiger. Was bei der ehelichen Liebe außer Jesus eine Wand zwischen der Seele und Gott errichten kann, ist hier zur Quelle des Wachstums der Liebe zu Jesus geworden. Gerade aus diesem Grund ist ja der gottgeweihte jungfräuliche Stand unvergleichlich erhabener als der Ehestand. Nicht weil die eheliche Liebe zu dem andern fehlt, sondern weil an Stelle der bloßen Verbindung der ehelichen Liebe mit Jesus, die Vermählung mit Jesus selbst stattfindet. Für jede Seele ist die Vermählung mit Jesus ja das eigentliche Ziel, und sie kann dies sein unbeschadet der irdischen Vermählung. Der gottgeweihte jungfräuliche Stand aber vollzieht als Stand diese Vermählung mit Christus. Er ist erhabener, weil man das große Opfer des edelsten irdischen Gutes bewusst Jesus darbringt, und dann vor allem, weil man die direkte Verlobung mit Christus als Stand vollzieht. Die bloße Ehelosigkeit, bedeutet keinerlei Vorzug vor der Ehe, viel eher einen Nachteil. Nur die bewusst in ausdrücklichem Gelübde gottgeweihte Jungfräulichkeit in einem Orden oder außerhalb eines solchen stellt den höheren Stand dar, weil sie die förmliche Vermählung mit Christus ist, weil hier ein „Mehr“ an Liebe gefordert ist gegenüber dem Ehestand. Nicht die stoische Abstumpfung des Herzens ist unsere Aufgabe, sondern die intensivste, wachste Erfüllung mit Liebe; und wehe denen, die im höheren Stand, statt an Liebe zuzunehmen, statt glühender, fühlfähiger zu werden, von einer gewissen Herzenshärtigkeit befallen werden, in der sie von Gott weit mehr abrücken, als sie durch den Verzicht näher gekommen ist. Nein, der Ordensstand ist unvergleichlich höher, weil er noch mehr Liebe fordert, weil er, um vollkommen zu sein, nicht ein Grab des Herzens sein darf, sondern die vollste, nur ganz übernatürlich verklärte Herzensfülle verlangt. Und so zeigt uns gerade die katholische Auffassung der Überlegenheit des jungfräulichen Standes, wie das Mehr an Liebe den eigentlichen Vorrang in den Augen Gottes ausmacht – und dass wir auch im Verstehenwollen des tiefsten Sinnes und Wertes der Ehe nie das erhabene Wort Jesu vergessen dürfen: „Ich bin gekommen Feuer zu bringen auf die Erde, was will ich anders, als dass es brenne!“
Das katholische Berufsethos
Quelle: [[Dietrich von Hildebrand: Der katholische Berufsethos, Verlag Haas & Grabherr Augsburg 1931 (25 Seiten; Imprimatur Augustae Vindelicorum die 28. Februarii 1931 Vicarius Generalis Dr. Eberle).
Das Ethos, das alle Berufe durchsetzen soll, und das wir als das katholische Berufsethos bezeichnen können, ist vor allem in dem klaren Bewusstsein vom Sinn des Kosmos und unserer Aufgabe in ihm gegeben oder, wie wir auch sagen können, in dem klaren Bewusstsein, dass vor und über allen Berufen im engeren Sinn des Wortes der eine primäre Beruf steht, der allen Menschen gemeinsam ist und der mit der metaphysischen Situation des Menschen und mit seinem Charakter als geschöpfliche Person gegeben ist. Sinn und Aufgabe alles geschöpflichen Seienden ist es, den Gedanken Gottes, den es verkörpert, voll und ganz zu realisieren und durch die Verwirklichung seines ihm immanenten Ideals Gott zu verherrlichen. Das bedeutet für jedes geschöpfliche Seiende die Realisierung des ihm spezifisch eigentümlichen höchsten Wertes, durch den es Gott lobt und verherrlicht. Das fundamental Neue des personalen Seins gegenüber allem apersonalen Seienden ermöglicht eine Abbildung von Gottes Wesen und ein Loben und Verherrlichen Gottes in einem ganz neuen Sinn. Erstens kommt bei dem Menschen schon als gottebenbildlichem Wesen eine ungleich zentralere und eigentlichere Abbildung Gottes in Frage als bei einem materiellen Ding, einem Lebewesen oder einem sonstigen apersonalen Gebilde. Zweitens wird der objektive Gestus des Lobens und Verherrlichens Gottes bei einer Person auch bewusst vollzogen und erhält damit eine ganz neue Realitätsstufe. Die Person richtet sich bewusst auf Gott, sie kann frei Stellung nehmen Gott gegenüber, ihr Erkennen, Lieben und Anbeten Gottes stellen eine völlig neue Dimension des Lobes und der Verherrlichung dar gegenüber allen apersonalen Gebilden. Nur eine Person kann ja darum auch Gott beleidigen, weil sie durch eine Sünde in ganz anderer und eigentlicherer Weise gegen Gott Stellung nimmt und das Gegenteil des Lobes und der Verherrlichung vollzieht, während ein hässliches Ding, eine verkümmerte Pflanze Gott nicht direkt beleidigen können. Vor allem aber bietet die geistige Person in ganz neuer Weise gegenüber allen personalen Geschöpfen die Möglichkeit der übernatürlichen Erhöhung durch Gott, nämlich der durch ein reines Geschenk Gottes verliehenen Teilnahme am übernatürlichen Leben der Allerheiligsten Dreifaltigkeit. Die Verbindung des Geschöpflichen mit dem Übernatürlichen, die bei einer materia consecrata vorliegt, ist unvergleichlich geringer gegenüber der, die sich durch die Taufe in der geistigen Person Mensch vollzieht und die in der Heiligen Kommunion gegeben ist; die Art, wie ein Heiliger, in dem das übernatürliche in der Taufe eingepflanzte Leben sich ungehemmt voll entfaltet hat, in seiner heiligen Demut, in seiner Sanftmut, in seiner Geduld, in seiner Reinheit, kurz in allen Früchten des Heiligen Geistes, vor allem aber in der sein ganzes Wesen durchsetzenden heiligen Liebe Gott abbildet, der ja die Liebe ist, und Gott verherrlicht dadurch, dass Christus in ihm lebt und er den Gottmenschen nachbildet, ist unvergleichlich erhabener und eigentlicher als alles, was eine geweihte Kirche, ein heiliges Chrisam bedeuten können.
Wir sehen, wie der Mensch gegenüber allen apersonalen geschöpflichen Gebilden zu einer ganz bevorzugten Abbildung Gottes und Verherrlichung Gottes berufen ist, und sowohl die ihm natürlich eigentümliche als auch diese durch die übernatürliche Ordnung verliehene Aufgabe ist der eine primäre Beruf des Menschen - der allen Menschen gleiche Beruf - dem gegenüber alle Verschiedenheit der Einzelaufgaben, der durch die Eigengesetzlichkeiten der verschiedenen Seins- und Lebensgebiete mitbestimmten Berufe verblasst. Es kann heute nicht genug betont werden, dass jeder Mensch davon durchdrungen sein muss, dass er primär nur diesen einen allen gemeinsamen Beruf hat, dem gegenüber alle anderen Berufe im engeren Sinn des Wortes sekundär sind, da drei unserer Zeit spezifisch eigentümliche Irrtümer dieses Bewusstsein von dem primären und eigentlichen Beruf zu verdunkeln drohen.
Der erste dieser Irrtümer ist die Überbetonung der spezifischen Aufgabe, die dem Christen aus seinem Geschlecht, aus seiner besonderen Fähigkeit und Stellung erwächst, gegenüber der allen Menschen eigentümlichen einen Aufgabe.
Wie man gerne die Verschiedenheit der Orden und ihre spezifischen Wege, die Verschiedenheit der Frömmigkeit verschiedener Zeiten, den Frömmigkeitstyp, die Individualität der einzelnen Heiligen überbetont gegenüber dem allen Orden und der wahren Frömmigkeit aller Zeitepochen und vor allem allen Heiligen gemeinsamen Wesentlichen - so neigt man vielfach dazu, die spezifische Verschiedenheit in der Aufgabe von Mann und Frau zu übertreiben gegenüber dem Wesentlichen, für beide Gleichen, oder die spezifische Verschiedenheit der aus dem besonderen Berufe stammenden Aufgabe zu sehr zu urgieren gegenüber dem Gemeinsamen. Man gerät in die Gefahr, die Aufgabe der Einzelperson primär in der Ausfüllung einer spezifischen Stelle im ganzen zu sehen, statt zu erkennen, dass trotz der verschiedenen Funktion der Glieder des Corpus Christi Mysticum im einzelnen - das Wesentliche, Entscheidende in einem Gemeinsamen liegt - eben in der Heiligkeit - der Abbildung Christi und Ausstrahlung Christi, die sich im entscheidenden Punkt nicht aus der spezifischen Eigenart der besonderen Stelle differenziert, die jede Einzelperson im Corpus Christi Mysticum und im Kosmos einnimmt.
Der tiefere Grund dieses verhängnisvollen Irrtums liegt erstens in dem mangelnden Verständnis für das eigentliche Wesen des Menschen als geistige Person und zweitens in der historistischen Verseuchung des Religiösen, das an dem Einmaligen, Einzigartigen, Absoluten der Kirche und ihres heiligen Lebens vorbeigeht und es mit den Kategorien geisteswissenschaftlicher Betrachtung, wenn auch nur unbewusst, fassen will. Ich sage in dem mangelnden Verständnis für das eigentliche Wesen der geistigen Person, weil man die Person nach dem Muster apersonalen Seins zu verstehen sucht, statt in ihrer Gottebenbildlichkeit. Man übersieht die Eigenart des Menschen als eines Mikrokosmos - als eines Gebildes, das nicht in der Ausfüllung einer bloßen Teilfunktion, einer bestimmten Stelle im Kosmos seinen primären Sinn hat, sondern das den Kosmos im ganzen in seiner eigentümlichen Geistigkeit zu erkennen und zu beantworten hat, für das, obgleich es einen ganz bestimmten einmaligen, einzigartigen Gedanken Gottes verkörpert, doch nicht nur eine übernatürliche Wahrheit relevant ist, sondern das ganze „Credo". Der Mensch ist niemals primär einem Glied zu vergleichen, das nur eine bestimmte Funktion hat, sondern er ist jeweils eine Welt im kleinen. Das Geheimnis dieses Wesens, das unter allen uns bekannten Geschöpfen die eigentlichste Substanz ist, in dem alle intentional bezogenen Stellungnahmen und Akte einem eigentümlichen Mittelpunkt, dem Ich, entspringen, besteht gerade darin, dass es eine eigentümliche Welt im kleinen darstellt, trotz aller Endlichkeit, aller Begrenztheit. Das leuchtet uns auf an einer Persönlichkeit, die wir lieben. Es enthüllt sich ganz, wenn wir auf eine Heiligengestalt blicken. Nur weil dieses eigentliche Wesen des Menschen als geistige Person verkannt wird, ist es möglich, dass in der Ausfüllung einer bloßen Stelle im Kosmos seine eigentliche Aufgabe gesehen wird und seine zentrale primäre Aufgabe in eine Teilfunktion umgedeutet wird. Daher die Übertreibung der sogenannten Standesethik, das Sich-Verlieren in eine Facheinstellung auch in Bezug auf die zentralste Aufgabe des Menschen, die letzten Endes auf eine instrumentale Betrachtung der Person, ein Messen der Person an ihrer Leistung statt an ihrem Sein hinausläuft, ein Umdeuten der Heiligkeit in bloße Tüchtigkeit für etwas.
Ein zweiter Irrtum unserer Zeit, der eng damit zusammenhängt, ist der: Die vollkommene Erfüllung des Sonderberufs involviere die Heiligkeit bzw. die Erfüllung des primären Berufs. Man glaubt, aus der Erfüllung des Berufs im engeren Sinn zur Vollkommenheit des Menschen gelangen zu können, in der vollen Ausfüllung seiner spezifischen Stelle im Kosmos sei die Erfüllung der eigentlichen Aufgabe des Menschen mitenthalten. Das Ideal des Künstlers, Wissenschaftlers, Staatsmannes usw. aber involviert noch in keiner Weise die Heiligkeit, besagt uns noch nicht, was Heiligkeit ist. Erst recht wird dieser Irrtum absurd, wenn wir an Berufe wie Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, Unternehmer denken. Wohl ist es richtig, dass die Heiligkeit die Voraussetzung für ein letztes Ideal auch der Berufserfüllung im engeren Sinn darstellt, aber nie können wir aus der sogenannten Eigengesetzlichkeit der Einzelberufe heraus den primären Beruf des Menschen verstehen, sondern dieser muss umgekehrt zunächst vor aller Betrachtung der Sonderberufe in seinem Inhalt für sich klar erfasst werden, da sein Hauptgehalt nicht in der Art der Ausübung des Sonderberufes, sondern in ganz anderen Dingen besteht - nämlich in seiner direkten Beziehung zu Gott und Christus und in seiner Stellung zum Nächsten. Erst wenn dieser primäre Beruf bzw. das, was die Heiligkeit primär konstituiert, klar verstanden wird, finden wir von hier aus einen neuen Schlüssel zum Schöpfungssinn des Berufs im engeren Sinn, der aus der Eigengesetzlichkeit des Berufs heraus nicht gefunden werden kann. Es ist typisch für unsere Zeit, dass im Zusammenhang damit der Beruf im engeren Sinn eine ganz übermäßige Rolle im Leben des einzelnen spielt, dass er die „piece de résistance" ausmacht im Leben, dasjenige, von wo sich der Ernst des Lebens rekrutiert. Alle menschlichen Beziehungen, Ehe, Freundschaft sind bloß Umrahmungen des Lebens im Vergleich zu dem Beruf - ja selbst das religiöse Leben, Gebet, Teilnahme am Messopfer sind sublime Ergänzungen für die eventuelle freie Zeit -. Der Beruf, und zwar in seiner eigengesetzlichen Auswirkung, ist das Surrogat geworden, durch das das Leben des einzelnen Gehalt, Sinn und Ernst bekommt, in dem sich die Sehnsucht zu dienen, an ein objektiv Wertvolles sich hinzugeben primär ausdrückt. Die Tatsache dass gerade die ernsten und tiefen Frauen heute nach einem Beruf im engeren Sinne drängen, ist ein deutliches Zeichen für diese verkehrte Einstellung. Die Überschätzung der Arbeit als solcher, der fälschlich als einzige Antithese das Vergnügen, Genuss, Zeitvertreib, eventuell Erholung entgegengestellt wird, statt in dem Erfassen von Werten und in der richtigen Beantwortung derselben, vor allem in der wertantwortenden Hingabe an Gott und an alle echten Güter einen ganz zentralen und von tiefstem Ernst erfüllten Teil des Lebens zu sehen, der der Berufsarbeit im engeren Sinn entgegengestellt werden muss -, ist ebenfalls ein Symptom dieser Einstellung. Diese beiden Irrtümer hängen aber eng mit einem dritten, noch zentraleren zusammen: in der Verkennung des Primates, den das Sein der Person vor allen objektivierten Leistungen der Person besitzt. Das Sein der Person selbst ist kosmisch wichtiger als alle apersonalen Güter, die sie zu schaffen fähig und berufen ist.
Nicht nach der Tüchtigkeit wird die Person primär gerichtet werden, nicht ihre Tauglichkeit zur Erzeugung irgendwelcher apersonaler Güter ist die Kardinalfrage für sie, sondern ihre Tugenden, ihre Heiligkeit, was sie selbst ist, welche personalen Werte sie realisiert, vor allem in wie weit Christus in ihr nachgebildet wird, wieweit sie sagen kann: ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Nicht was einer für die Wissenschaft, für die Kunst, für die Kultur, für die Politik, für die Technik, für die Wirtschaft, für seine Volksgemeinschaft leistet, ist letztlich ausschlaggebend - nicht diese apersonalen Güter dürfen den Maßstab darstellen, mit dem letzten Endes gemessen wird - sondern das Sein der Person selbst ist es, auf das es primär ankommt.
Und dieses „Sein" zu besitzen, ist auch die volle praktische Realität, nach der man heute so vielfach ruft, nicht das Entstehen apersonaler Güter. Es ist endlich an der Zeit, sich ein für allemal klar zu machen, dass nicht irgendeine noch so ausgedehnte Wirksamkeit, irgendwelche noch so große „Wirkungen", die in die Öffentlichkeit hinausstrahlen, die volle Realität darstellen, auf die es primär ankommt, sondern das Sein der Person selbst – ihr Erkennen und Lieben, die Konformität ihres Wollens mit dem Willen Gottes - das göttliche Leben, das ungehemmt in der Person sich entfalten kann.
Hier gilt es, sich eine eigentümliche Paradoxie ganz klar zu machen: wenn dieses Sein der Person auch den unbedingten Vorzug besitzt vor allen „objektiven Leistungen", so ist es doch gerade diesem personalen Sein eigentümlich, nicht auf sich selbst sich zu richten, sondern auf objektiv Wertvolles zu blicken und auf dieses zu antworten. In der Hingabe auf objektiv Wertvolles konstituieren sich eben jene Werte des Seins der Person selbst. In zwei Worten des Evangeliums kommen diese beiden scheinbar sich widersprechenden Wahrheiten in erhabener Weise zum Ausdruck; das Wort: „Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, an seiner Seele aber Schaden litte" – zeigt uns deutlich den Primat des Seins der Person gegenüber all dem, was sie an objektivierten Wirkungen hervorbringen kann. Das Wort: „Nur wer seine Seele verliert, wird sie gewinnen", weist deutlich darauf hin, dass das wahre Wesen des personalen Seins Hingabe sein muss, allerdings Hingabe an Gott, dass in dem sich Hingeben an das objektiv Wertvolle - letzten Endes an den Inbegriff aller Werte: Gott - der spezifische gottgewollte, tiefste Gestus geschöpflichen personalen Seins liegt.
Gegenüber diesen drei Irrtümern gilt es sich klar auf den primären Beruf des Menschen zu besinnen. „Haec est voluntas Dei, sanctificatio vestra" ruft uns der heilige Paulus zu. Klar und eindeutig muss in jedem dieses Bewusstsein des primären Berufes leben, von hier aus muss er geformt und getragen werden, hier muss die Quelle alles wahren Ernstes für ihn liegen. Von diesem primären Berufsbewusstsein aus, in der ständigen Vergegenwärtigung des Wortes Christi: „Martha, Martha, du machst dir Sorge und bekümmerst dich um sehr viele Dinge. Nur eines ist notwendig" - kann auch allein der Beruf im engeren Sinn das wahre Ethos erhalten. - Worin besteht nun dieses „Sein" der Person aber im einzelnen, wodurch wird es geformt, wie wird es seiner spezifischen Werte teilhaftig, so müssen wir uns jetzt kurz fragen? Dieses „Sein" der Person ist – wie wir schon sahen - wesentlich von allen anderen Seinsarten unterschieden als bewusstes, von innen durchleuchtetes Sein. Wir müssen weiter hinzufügen: es ist ihm als personales Sein die Fähigkeit eigen, anderes Seiendes zu erkennen und auf dasselbe sinnvoll sich zu beziehen. Wir haben so lange das Sein der Person nicht verstanden, als wir den intentionalen Charakter desselben nicht erfasst haben.
Ob wir an irgendein Kenntnisnehmen denken, etwa Sehen einer Farbe oder Erfassen einer Ähnlichkeit, oder an ein Stellungnehmen, etwa eine Freude oder Begeisterung, immer können wir diese sinnvolle Bezogenheit der Person und diese Intention auf ein Objekt wiederfinden. Die geistige Person vom Typus Mensch lässt sich nur verstehen in ihrer Zuordnung zur Welt objektiven Sinnes und objektiver Werte, letzten Endes in ihrer Zuordnung auf das absolute Wesen, den Inbegriff alles Sinnes und aller Werte, auf Gott. Nur wenn wir die Person in ihrer Fähigkeit, Objekte zu erkennen und zu beantworten, verstehen in ihrer Fähigkeit, über sich selbst hinausgreifend an anderen, was sie selbst nicht ist, geistig teilzuhaben – ja nur, wenn wir die Person in ihrer Bestimmung auf diese geistige Berührung mit der Welt objektiven Sinnes und Wertes erfassen, in ihrer Bestimmung zu geistiger Berührung mit fremden Personen und vor allem zur Gemeinschaft mit dem absoluten Wesen - mit anderen Worten, wenn wir die metaphysische „Situation" des Menschen verstehen, können wir dem Einzigartigen des personalen Seins gerecht werden. Darum konstituieren sich auch die eigentlichen, zentralen Personwerte - wie intellektuelle Werte, geistige Tiefe, Genialität, reiche volle Persönlichkeit, erst recht aber sittliche Personalwerte, wie die Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Treue - nur in dem mannigfaltigen Kontakt mit der objektiven Welt der Werte. Die Person ist nicht Träger von Werten, wie ein Stein oder eine Pflanze schön ist, intellektuelle und sittliche Werte erwachsen ihr nicht unabhängig vom bewussten Kontakt mit der Welt der Werte wie die Schönheit ihres Gesichtes. Sie konstituieren sich vielmehr in und aus der geistigen Berührung mit der Welt objektiver Werte. Das herrliche Wort Platos, dass der Seele die Flügel im Anblick des Guten und Schönen wachsen, besteht völlig zu Recht.
Wir müssen hier ein Doppeltes unterscheiden. Erstens gebührt jedem Wertvollen eine angemessene Antwort von Seiten der Person. Es ist Aufgabe und Pflicht des Menschen, jedem Wertvollen, jedem echten Gute die Antwort zu geben, die ihm gebührt und allem voran dem Inbegriff aller Werte, dem allmächtigen, allheiligen Gott die restlose unbedingte Hingabe gegenüber zu vollziehen – die liebende Anbetung -, einfach darum, weil er der ist, der er ist. In dieser gebührenden Antwort auf die Wertewelt wird aber auch die Person zugleich selbst Träger von Werten. Sie wird selbst gut in der bewussten Bejahung und Liebe zum Guten, sie wird das, was sie anbetet." *) Die Person wird selbst geheiligt in der angemessenen Antwort Gott gegenüber. Und sie verherrlicht Gott nicht nur in dem Wort der Anbetung, das sie zu ihm spricht, sondern auch durch das wertvolle Sein, das sich in dieser Anbetung in ihr konstituiert.
- ) Zitat aus dem Vortrag des Hochwürdigsten Herrn Abtes von Maria Laach. P. Ildefons Herwegen. gehalten bei der Eröffnungsfeier der Akademiker-Tagung in Salzburg am 31.August 1930.
In welchem Kontakt mit der Welt der Werte konstituiert sich aber dieses wertvolle Sein der Person, das ihre Mission ausmacht? Erstens in dem Sichöffnen für die Welt der Werte, in dem Sichergreifenlassen von ihnen. Darin liegt nicht nur das Erfassen und Verstehen der Werte, sondern darüber hinaus das sich von ihrem Hauch Erfüllenlassen, von ihrem Glanz Durchstrahlenlassen, das Ins-Herz-getroffen-werden von der Stimme des objektiv Wertvollen, in sich Bedeutsamen, das Trunken-werden von ihnen. Das verstehende Erfassen der Welt des Schönen und Guten, das von ihr Ergriffen- und Durchstrahltwerden, ist nicht eine bloß nützliche Vorstufe für die eventuelle Schaffung apersonaler Güter, sondern ist auch schon in sich wertvoll, und in ihm ist ein wesentlicher Konstitutionsprozess des wertvollen Seins der Person gegeben. Je höher der Wert ist, um den es sich dabei handelt, um so höher ist naturgemäß der Personwert, der dadurch in ihm entsteht, um so wertvoller ist das, was in ihm selbst dabei lebendig wird. Aber nicht nur im Erkennen und Ergriffenwerden, sondern vor allem auch in der Stellungnahme besteht das eigentliche Sein der Person. In der Wertantwort, in der bejahenden Zuwendung zu dem Wertvollen, in der Freude über das Schöne und Gute, in der Begeisterung darüber, in dem Willen sich nach der Wertewelt zu richten, vor allem in der Liebe finden wir den Lebensnerv personalen Seins. Und hier wiederum ist das Sein der Person von um so höherem Adel, von um so sublimerem Wert, je höher der Wert ist, auf den die richtige Wertantwort erfolgt. Endlich ist die Person auch zur Tat und zur Schaffung apersonaler Güter fähig und berufen. Auch hierin liegt ein personales Sein und auch in diesem und durch dieses wird ihr Sein Träger von Werten. Für die Formung des Seins der Person ist jedoch das Ergriffenwerden von der Welt der Werte und die stellungnehmende Antwort auf sie noch ungleich zentraler. Die Tat und die Schaffung apersonaler Güter ist in erster Linie eine Folge dieses Seins, nicht ein sie formendes Prinzip, es ist eine notwendige organische Frucht desselben.
All dies ist aber nur das natürliche Sein der Person. In der natürlichen Vollkommenheit liegt aber nicht der eigentliche „Beruf" des Menschen. Die Verherrlichung Gottes, zu der er berufen ist, ist noch eine ungleich höhere. Sie besteht in der Nachbildung Christi, in der liebenden restlosen Hingabe an Gott durch Christus, mit Christus und in Christus. Sie besteht nicht nur in intellektuellen sittlichen Werten der Person, sondern in der Heiligkeit des Seins. Voraussetzung für dieses personale Sein von völlig neuer Qualität und unvergleichlich höherem Wert und Glanz ist dieses übernatürliche Leben, das der Person durch die Taufe von Gott gespendet wird, ähnlich wie das natürliche geistig vitale Leben bei der Geburt bzw. bei der Empfängnis. Wie dieses stellt es etwas dar, was ein reines Geschenk Gottes ist, das sich keiner selbst zu erringen vermag. Aber allerdings mit einem großen Unterschied: „Qui fecit te sine te, non te iustificat sine te", sagt der heilige Augustinus. „Er hat dich ohne dich gemacht, aber er rechtfertigt dich nicht ohne dich." Weil dieses übernatürliche Leben so unendlich erhaben ist über das natürliche, noch unendlich personaler ist als das natürliche, schließt es die freie Mitwirkung der Person ein, appelliert es an die Freiheit, dieses Zentrum im Wunder des personalen Seins. Und zwar in doppelter Weise. Zunächst: Wenn auch bei den Kindern die Einpflanzung des übernatürlichen Lebens in der Taufe an keine willentliche Mitwirkung gebunden ist, so zeigt doch der Taufritus der Erwachsenen deutlich, dass für den Erwachsenen der Glaube an Christus und der Wille, in seinen Mystischen Leib eingegliedert zu werden, von der Kirche gefordert wird. Ja, so hoch wird die Bedeutung der Stellungnahme der Person dabei gewertet, dass sogar der bloße Wille, getauft zu werden, die Einpflanzung des übernatürlichen Lebens unter Umständen bewirken kann (Begierdetaufe) ebenso wie das Opfer des Lebens für Christus und seine Kirche (Bluttaufe). Weiterhin ist aber vor allem die freie Mitwirkung der Person erforderlich, damit dieses in der Taufe eingepflanzte göttliche Leben sich voll entfalte und Christus nicht nur verborgen in der Person lebe, sondern die Person mit Christus und aus Christus den Vater anbete und liebe, dass an der Person ein Abglanz von Christi Herrlichkeit erstrahle, dass sie heilig werde. Und diese Mitwirkung besteht wiederum im Sichergreifenlassen und im Wertantworten. Nur im Blick auf das Antlitz Christi, in dem Auffangen seines Blickes, im Hören seiner Stimme, im Lauschen auf alle Ausstrahlungen seines göttlichen Wesens, im Erfasst- und Ergriffenwerden von dem gottmenschlichen Glanz seiner Person kann dieses göttliche Leben in uns zur vollen Blüte kommen, können wir heilig werden. Nur in der Freude an Gottes Herrlichkeit, in der gehorsamen Hingabe an seinen Willen, in der Anbetung Gottes und in der Liebe zu Gott und im Lieben des Nächsten in Gott kann dieses göttliche Leben in der Person, durch das sie Gott abbildet und Gott verherrlicht zur vollen personalen Realität sich entfalten. In doppelter Richtung lobt und verherrlicht sie dann Gott. Erstens in dem „Wort" der Anbetung und Liebe, das sie mit Christus zu dem Vater spricht, und zweitens mit der Heiligkeit ihres Seins, das sich in dieser anbetenden Liebe mit Christus konstituiert. Und diese beiden Dimensionen der Verherrlichung stehen in wechselseitigem Zusammenhang. Je heiliger das Sein, um so enger die Verbindung mit Christus und um so mehr verherrlicht das „Wort" der anbetenden Liebe Gott. Auch die Tat gehört mit zur Konstitution dieses heiligen Seins. Aber sie ist auch hier primär Frucht und Wirkung dieses Seins und erst sekundär Konstituens. Erst recht gilt dies von der Schaffung apersonaler Güter. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, dass das primäre Objekt für die Konstitution dieses Seins Gott und der Nächste sind. Alle apersonalen Güter kommen erst in zweiter Linie. An der „Gottes- und Nächstenliebe hängt das ganze Gesetz und die Propheten". Der primäre Beruf jedes Menschen ist seine unmittelbare Richtung auf Gott und den Menschen - als im Blute Christi erlöstes und von ihm unendlich geliebtes Geschöpf. Hier und nicht in der Schaffung geistiger, kultureller und anderer Güter liegt der primäre und für seine Heiligkeit entscheidende Punkt.
Das katholische Berufsethos, das den Beruf im engeren Sinn durchsetzen soll, ist darum erstens dadurch gekennzeichnet, dass jeder Katholik den Primat des alten Menschen gemeinsamen Berufes - des Christenberufes, wie wir sagen können - vor seinem jeweiligen Sonderberuf klar und deutlich erfasst. Darin liegt zugleich, dass er nicht verschlungen wird von dem Beruf im engeren Sinne, dass er nicht in den Strudel jenes Arbeitsrhythmus gerät, für den es keine volle Gegenwart mehr gibt, sondern nur eine Spannung auf die nächste Zukunft. Je mehr der Mensch aus dem primären Beruf heraus lebt, um so weniger kann er durch den Beruf im engeren Sinne versklavt werden, um so mehr bleibt er volle Person, um so mehr ist er fähig, die Welt der Werte in ihrer Hierarchie als solche zu verstehen und zu würdigen, um so mehr gibt es für ihn volle Gegenwart, weil er im Lichte der Ewigkeit und aus der Hoffnung auf die Ewigkeit heraus lebt. Aber der sekundäre Beruf muss nicht nur eindeutig an zweiter Stelle stehen, er muss auch in den primären Beruf organisch eingebaut werden und eine Form der Auswirkung des primären Berufes werden. Hier gilt es nun, verschiedene Formen des Einbaues klar zu unterscheiden. Erstens die bei allen Berufen gleich mögliche, von der Eigengesetzlichkeit der Berufsgebiete völlig unabhängige Aufopferung der Berufsarbeit für Gott. Die Person kann jeden Beruf, ja jede Tätigkeit, die nicht sündig ist, mit der Intention, sie für Gott und zu Gottes Ehre zu verrichten, durchsetzen. Ja, darüber hinaus soll sie sich als Verwalter Gottes fühlen, der besondere Beruf muss als eine gottgewollte Aufgabe aufgefasst werden, die es im Gehorsam gegen Gott und zu Gottes Ehre zu erfüllen gilt. Dieser Einbau ist bei einem Straßenkehrer oder bei einem Kondukteur so gut möglich wie bei einem Gelehrten oder einem Künstler. Die Eigengesetzlichkeit der Berufe bleibt bei dieser Art des Einbaues eben völlig unberührt. - Diese Konsekration des Berufes ist viel mehr als die bloße gute Intention. Man muss während der ganzen Berufstätigkeit in diesem Bewusstsein - nicht sich selbst, sondern Christus zu gehören - überaktuell mit ihm verbunden sein. Zweitens kann man alle Berufe, soweit sie einen Kontakt mit anderen Menschen irgendwie einschließen oder mit sich bringen, als Gelegenheit für ein persönliches Apostolat auffassen. Fast jeder Beruf gewährt viele Situationen, in denen man Christus ausstrahlen kann durch sein Sein und apostolisch tätig sein kann. Auch hier ist es noch nicht der Sinngehalt des jeweiligen Berufes als solcher, sondern die Gelegenheit des Kontaktes mit anderen Menschen, die er in sich birgt, die als ein Medium für den primären Beruf gefasst wird. Der Beruf ist hier als Gelegenheit zum Apostolat und zur Ausbreitung des Gottesreiches gefasst. Auch diese Möglichkeit besteht bei einem Beruf mit geringem Eigengehalt - etwa dem eines Fabrikarbeiters, ebenso wie bei einem Beruf mit tiefem Sinngehalt, etwa dem eines Künstlers. Er besteht in dem Maße mehr als der Beruf einen größeren Kontakt mit anderen Menschen einschließt. Bei diesen Formen des Einbaues ist nicht die Vollkommenheit der Berufsausübung vom eigengesetzlichen Standpunkt des Berufes der eigentliche Wertmaßstab, sondern die Gesinnung, die ihn durchsetzt, und die Ausnutzung der Gelegenheit zum Apostolat. Endlich drittens kann und soll der sekundäre Beruf in den primären derart eingebaut werden, dass er auf Grund der immanenten Beziehung seines Sinngehaltes zu dem Gottesreich als Gottesdienst gefasst wird. Durch den inneren Zusammenhang, den ein Beruf, etwa der des Erziehers oder der des Forschers, mit dem Gottesreich besitzt, wird das im eigengesetzlichen Sinn Vollkommene als spezifische Verherrlichung Gottes gefasst. Hier bleibt also der spezifische Sinngehalt des Berufs von dem Einbau nicht unberührt, sondern gerade durch ihn hindurch vollzieht sich der Einbau. Dies ist aber naturgemäß bei den verschiedenen Berufen in ganz ungleichem Maße der Fall, da der Sinngehalt der verschiedenen Berufe in sehr unterschiedlichem Verhältnis objektiv zu dem Gottesreich steht. Die reine Erkenntnis metaphysischer Wahrheiten hat einen ganz anderen direkten Zusammenhang mit dem Gottesreich als der Beruf eines Mechanikers oder Schusters.
Wie das bei den einzelnen akademischen Berufstypen möglich ist, werden die Vorträge dieser Tagung ja im einzelnen zeigen. Hier aber sei ausdrücklich betont, dass es ein völlig unsinniges Unterfangen ist, diese Art des Einbaus bei jedem Beruf in gleicher Weise durchführen zu wollen. Hier darf man nicht nivellieren und so tun, als ob etwa der Kaufmann ebenso gut sagen könne, dass in der eigengesetzlichen Vollendung seines Berufs ein Gottesdienst liege, wie der Gelehrte, der Künstler und der Erzieher. Man soll demütig die Hierarchie der Berufe anerkennen und nicht etwa aus dem Beruf etwas herauspressen wollen, was nicht in ihm liegt.
Es ist eine logische Folge der Überbetonung des sekundären Berufs und der Tatsache, dass nicht das Bewusstsein des primären Berufs zur Heiligkeit und zum Apostel Christi voll lebendig ist, dass man einen Ausgleich innerhalb der sekundären Berufe aus ihrem Eigengehalt heraus versucht, dass man die Kompensation aus der besonderen Art des Berufes herbeiführen will, statt sie darin zu sehen, dass Arbeiter wie Könige, Handwerker wie Künstler, Forscher wie Kaufleute primär nicht Arbeiter, Könige usw. sind, sondern Glieder am Mystischen Leibe Christi, Personen, die Christus empfangen haben und die zur Heiligkeit und zur Ausstrahlung Christi berufen sind. In dem Maße, als ein Beruf in seinem Eigengehalt geringfügig ist, in dem Maß muss diese dritte Form des Einbaus in den Hintergrund treten zugunsten der beiden ersten, und um so weniger darf dieser Beruf innerlich den Menschen ausfüllen. Ein Straßenkehrer kann doch nicht von dem Kehren innerlich so erfüllt und geformt sein wie ein Künstler oder Forscher von seiner Arbeit! Aber gerade, weil der Beruf die Person hier weniger ausfüllt, gibt er ihr die Möglichkeit, während des Berufs in der direkten, nicht durch den Sinngehalt des Berufs hindurchgehenden Beziehung zu Gott zu verbleiben. Wir müssen hier generell sagen: diese dritte Form des Einbaus ist erstens bei allen Gebieten, die einen Eigenwert besitzen und in ihrer Realisierung als solche Gott loben und verherrlichen, in ganz anderem Maße möglich als bei solchen, die keinen Eigenwert haben. Die Sphäre der Erkenntnis, der Kunst, des Rechtes, der Gemeinschaft besitzt einen Eigenwert, d. h. sie sind nicht nur bedeutsam durch das, was sie für ein anderes Gebiet, insbesondere für die Vervollkommnung des Menschen, leisten, sondern auch in sich - sie loben und verherrlichen Gott direkt.
Die Sphäre der Wirtschaft, der Politik und viele andere besitzen keinen Eigenwert, sie sind ihrem Wesen und Sinn nach bloße Mittel für etwas anderes. Eine blühende Wirtschaft ist nicht etwas in sich Eigenwertiges - wie eine blühende Kultur -, sondern sie hat einen Wert, nur insoweit dadurch einzelnen Personen Glück gespendet wird, bzw. insoweit kulturelle Güter dadurch realisiert werden. Überall da, wo ein Lebensgebiet einen Eigenwert besitzt, so dass in der Entfaltung seines spezifischen Sinngehaltes Güter entstehen, durch die Gott verherrlicht wird, ist diese dritte Form des Einbaus des sekundären Berufes erst wirklich möglich. Und zweitens ist sie dies um so mehr, je mehr der spezifische Sinngehalt eines Berufes unmittelbar mit dem Gottesreich zusammenhängt, bis hin zu den Berufen, die direkt von der Errichtung des Gottesreiches handeln - wie Priester und Seelenführer -, Fälle, in denen der sekundäre Beruf mit dem primären fast zusammenfällt, und die darum über den Rahmen des sekundären Berufes als solchen prinzipiell hinausgehen und mit anderen Berufen unvergleichbar sind. Endlich kann der sekundäre Beruf noch in den primären eingebaut werden, indem man ihn als Dienst an der Gemeinschaft ausübt. In jedem Beruf steckt eine Beziehung zur Gemeinschaft, und so ist es möglich, ihn auch als Ausfluss der Nächstenliebe aufzufassen. Von dieser Seite her erhält auch ein an sich haltloser Beruf einen gewissen Gehalt. Auch diese Einstellung gehört zum katholischen Berufsethos.
Wir haben in großen Zügen gesehen, welche Arten des Einbaus des sekundären Berufes in den primären in Frage kommen. Grundvoraussetzung für ein katholisches Berufsethos - für eine Konsekration des Berufes - ist das Leben aus dem primären Beruf heraus, ist das völlige Dominieren desselben im Leben des einzelnen. Nur wo dieser Primat des allgemeinen Berufes klar ausgebildet ist, atmet das Leben eines Menschen Freiheit, ist es erfüllt von souveräner Größe - mag auch der Eigengehalt eines Berufes noch so kümmerlich sein. Darin liegt die äußerste Antithese zu allem Bourgeoistum, zu aller beengenden Kleinheit, zu aller Versklavung im Beruf. Dieses Leben ist königlich, - wie auch der sekundäre Beruf sei -, weil man in ihm sprechen kann : „was kann mich trennen von der Liebe Christi ?"
Das Prävalieren des primären Berufes bedingt aber nicht etwa ein ungenügendes Eingehen auf den Eigengehalt der spezifischen Berufsgebiete. Nichts wäre irriger als die sogenannte kulturelle Inferiorität des Katholiken, von der so oft gesprochen wird, aus der Prävalenz des allgemeinen primären Berufes in ihm ableiten zu wollen. Diese findet sich vielmehr gerade überall da, wo der Katholik nicht aus dem primären Beruf heraus lebt und den sekundären Beruf nicht aus diesem Bewusstsein formt, sondern in unsicherer Nachahmung der Nichtkatholiken an den Wertmaßstäben dieser sich zu orientieren versucht. Zeiten, in denen die Kultur ganz aus dem katholischen Geist ungebrochen herauswuchs, sind Zeiten höchster Kultur und von aller Inferiorität weit entfernt.
Je mehr jemand den Blick auf Gott geheftet hat, je mehr jemand in conspectu Dei alles sieht, um so tiefer vermag er - wenn alle übrigen natürlichen Voraussetzungen gegeben sind - das jeweilige Gebiet in seinem tiefsten Schöpfungssinn und Eigenwert zu verstehen. Denn die tiefste Hingabe an ein Gut ist nicht da gegeben, wo man dasselbe fälschlich verabsolutiert und zu einem Idol macht, sondern wo man es an seiner gottgewollten Stelle, in dem ihm objektiv zukommenden Wertrang erfasst und beantwortet. Das Leben aus Christus und in Christus - in dem das Mitopfern mit Christus, das Beten mit Christus, das Lieben mit Christus, zunächst die Liebe zu Gott, dann die Liebe zu Menschen die erste Rolle spielt gegenüber dem Beruf im engeren Sinne, gegenüber der Erzeugung und Schaffung apersonaler Güter - ermöglicht allein das tiefste Verständnis und die tiefste Antwort auf alle echten Güter, und nur wenn alle übrigen Voraussetzungen gegeben sind, die vollkommenste Erfüllung des Sonderberufes. Denn nur denen, die „das Reich Gottes zuerst suchen und seine Gerechtigkeit, wird alles andere dazu gegeben werden".
Die sittlichen Grundhaltungen
Quelle: Dietrich von Hildebrand: Die sittlichen Grundhaltungen, Verlag Josef Habbel 1969 (4. Auflage, 80 Seiten).
I. Ehrfurcht
Die sittlichen Werte sind unter allen natürlichen Werten die höchsten. Höher als Genialität, Gescheitheit, blühendes Leben, als die Schönheit der Natur und Kunst, als die Wohlgeordnetheit und Kraft eines Staates stehen Güte, Reinheit, Wahrhaftigkeit und Demut des Menschen. Was in einem Akt echten Verzeihens, in einem großmütigen Verzicht, in einer glühenden- selbstlosen Liebe wirklich wird und uns aufleuchtet, das ist bedeutsamer und größer" wichtiger und ewiger als alle Kulturwerte. Die sittlichen Werte sind der Brennpunkt der Welt, sittliche Unwerte das größte Übel, schlimmer als Leiden, Krankheit, Tod, als das Zugrundegehen blühender Kulturen. Dies erkannten alle großen Geister, so schon ein Sokrates und Plato, die immer wiederholen, dass es besser ist, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun. Diese Vorzugstellung des Sittlichen ist vor allem eine Grundauffassung des Christentums.
Sittliche Werte sind stets Personwerte. Sie können allein am Menschen haften, von Menschen realisiert werden. Ein materielles Ding, etwa ein Stein, ein Haus kann nicht sittIich gut oder schlecht sein, ebenso wenig ein bloßes Lebewesen, etwa ein Baum oder ein Hund. Auch Werke des menschlichen Geistes, Erfindungen, wissenschaftliche Bücher, Kunstwerke, können nicht wirkliche Träger sittlicher Werte sein, sie können nicht treu, demütig, liebevoll sein. Sie können höchstens als Niederschläge des menschlichen Geistes diese Werte indirekt widerspiegeln. Nur der Mensch als freies Wesen, verantwortlich in seinem Tun und Handeln, in seinem Wollen und Streben, in seinem Lieben und Hassen, in seiner Freude und Trauer und in seinen dauernden Grundhaltungen, kann sittlich gut oder schlecht sein. Wichtiger als alle Schaffung von Kulturgütern ist darum das Sein des Menschen selbst, ist die von sittlichen Werten durchleuchtete Persönlichkeit, ist der demütige, reine, wahrhaftige, treue, gerechte, liebende Mensch.
Wie aber wird der Mensch dieser sittlichen Werte teilhaftig? Wachsen sie von selbst wie die Schönheit seines Antlitzes, wie der Verstand, der ihm geschenkt ist, wie ein lebhaftes Temperament? Nein, sie erstehen nur aus bewussten freien Haltungen; er selbst muss wesentlich dabei mitwirken. Sie erstehen nur durch die bewusste freie Hingabe an echte Werte. So groß in einem Menschen seine Wertsichtigkeit ist, so offen und ungetrübt sein geistiges Auge die ganze Wertfülle der Welt erfasst, so rein und unbedingt seine Hingabe an diese Werte ist, - so reich ist er selbst an sittlichen Werten.
Solange jemand blind an den sittlichen Werten anderer Personen vorbeigeht, solange jemand den Wert, der an der Wahrheit haftet, und den Unwert, der am Irrtum haftet, nicht unterscheidet, solange jemand nicht versteht, welcher Wert an einem Menschenleben haftet oder welcher Unwert an einer Ungerechtigkeit, solange ist er unfähig, sittlich gut zu sein. Solange jemand sich nur dafür interessiert, ob etwas ihn befriedigt oder nicht, ob es ihm angenehm ist, statt danach zu fragen, ob es in sich bedeutsam ist, ob es schön, gut, ob es um seiner selbst willen sein soll, mit einem Wort, ob es wertvoll ist, solange kann er nicht sittlich gut sein. Die Seele alles sittlich guten Verhaltens ist die Hingabe an das objektiv Wertvolle, ist das Interesse an einer Sache, sofern sie wertvoll ist. Zwei Menschen sind etwa Zeugen einer Ungerechtigkeit; die einem Dritten widerfährt. Der eine, der bei allem nur fragt, ob es für ihn befriedigend ist oder nicht, kümmert sich nicht darum, weil er sich sagt, mir erwächst ja kein Schaden daraus. Der andere hingegen nimmt lieber Leiden auf sich, als zuzulassen, dass diese Ungerechtigkeit dem Dritten widerfahre. Für ihn ist die maßgebende Frage nicht, ob es ihm angenehm, sondern ob es in sich wertvoll ist. Dieser verhält sich sittlich gut - jener unsittlich, weil er an der Wertfrage gleichgültig vorbeigeht. Ob man etwas tut oder unterlässt, was angenehm, vom Wertstandpunkt aus aber gleichgültig ist, liegt im Belieben jedes einzelnen. Ob jemand eine wohlschmeckende Speise isst oder nicht, steht bei ihm. Das Wertvolle aber fordert Bejahung, das Unwertige Ablehnung von uns. Hier ist es nicht in das Belieben des einzelnen gestellt, wie er sich dazu verhält, sondern er soll sich darum kümmern, er soll die richtige Antwort geben, denn den Werten gebührt ein Interesse, eine angemessene Antwort von unserer Seite. Ob jemand einem anderen, der sich in Not befindet, hilft oder nicht, liegt nicht in seinem Belieben, sondern er wird schuldig, wenn er diesen objektiven Wert ignoriert.
Nur der Mensch, der versteht, dass es ein in sich Bedeutsames gibt, dass es Dinge gibt, die in sich schön und gut sind, nur der Mensch, der die erhabene Forderung der Werte vernimmt, ihren Ruf, sich nach ihnen zu richten und sich von ihrem Gesetz bestimmen zu lassen, ist fähig, sittliche Werte an und in seiner Person zu verwirklichen. Nur der Mensch, der über seinen subjektiven Gesichtskreis hinauswachsen kann, der nicht, von Hochmut und Begierlichkeit gefesselt, stets nur fragt, was ist für mich befriedigend, sondern der aus seiner Enge heraus kann; indem er sich an das in sich Bedeutsame, das Schöne und Gute hingibt, sich ihm unterordnet, kann selbst Träger sittlicher Werte werden.
Wertsichtigkeit und Wertbejahung, Wertbeantwortung, sind die Grundlage aller sittlichen Werte des Menschen.
Beides ist aber nur vorhanden in dem ehrfürchtigen Menschen. Die Ehrfurcht ist diejenige Grundhaltung, die gleichsam als Mutter alles sittlichen Lebens bezeichnet werden kann, weil in ihr der Mensch erst die Stellung der Welt gegenüber einnimmt, die ihn öffnet, die ihn wertsehend macht. Von ihr müssen wir daher in diesen Kapiteln über sittliche Grundhaltungen, d. h, Haltungen, die das ganze sittliche Leben begründen und von ihm vorausgesetzt werden, an erster Stelle sprechen.
Der ehrfurchtslose, freche Mensch ist der Mensch, der jeder Hingabe und Unterordnung unfähig ist. Er ist entweder der Sklave des Hochmuts, jenes Ichkrampfes, der den Menschen in sich abschließt und wertblind macht, der ihn stets nur fragen lässt: "Wird meine Geltung gesteigert, meine Selbstherrlichkeit vermehrt?" oder er ist ein Sklave der Begierlichkeit, durch die die ganze Welt nur zu einer Gelegenheit, ihm Lust zu bereiten, wird. Der Ehrfurchtslose kann darum nie innerlich schweigen, nie eine Situation, eine Sache, einen Menschen in ihrer Eigenart und ihrem Wert sich entfalten lassen. Er rückt allem in so aufdringlicher, taktloser Weise auf den Leib, dass er nur sich selbst bemerkt, nur sich selbst hört, nicht aber das übrige Seiende. Er kann keine Distanz halten zu der Welt.
Die Ehrfurchtslosigkeit kann in zwei Spielarten auftreten, je nachdem, ob sie im Hochmut oder in der Begierlichkeit begründet ist. Der erste Typus ist der Ehrfurchtslose aus Hochmut, der Freche. Er ist der Menschentyp, der in dünkelhafter Scheinüberlegenheit an alles herantritt und sich gar nicht die Mühe nimmt, irgend eine Sache von innen her zu verstehen, Es ist der schulmeisterliche Besserwisser, der glaubt, alles ohne weiteres zu durchschauen und von vornherein zu kennen. Es ist der Mensch, für den es nichts geben kann, was größer ist als er selbst, was über seinen Horizont hinausragt, für den die Welt des Seienden keine Geheimnisse birgt. Der Mensch, dem Shakespeare in seinem Hamlet zuruft: "Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich eure Schulweisheit nichts träumen lässt." Es ist der ahnungslose, sehnsuchtslose Mensch von der Art des Famulus Wagner im Faust, der ganz davon erfüllt ist, "wie herrlich weit er es gebracht". Dieser Mensch ahnt nichts von der Breite und Tiefe der Welt, von dem geheimnisvollen Sinn und der unermesslichen Fülle der Werte, von der jeder Sonnenstrahl und jede Pflanze künden, die in dem unschuldigen Lächeln eines Kindes und in den Reuetränen des Sünders sich offenbaren. Die Welt ist plattgewalzt vor seinem frechen, blöden Blick, sie ist eindimensional geworden, schal, Nichts sagend. Dass dieser Mensch wertblind ist, liegt auf der Hand. Er geht an der Welt der Werte ahnungslos vorüber.
Die andere Spielart der Ehrfurchtslosen, der stumpf Begierliche, ist ebenfalls wertblind. Ihn interessiert nur, ob etwas angenehm ist oder nicht, ob es ihm Lust spendet, ob es ihm nützt, ob er es brauchen kann. Er sieht von allem nur den Ausschnitt, der auf sein zufälliges, nächstes Interesse bezogen ist. Alles Seiende ist für ihn nur ein Mittel für seine egoistischen Zwecke. Er dreht sich ewig im Kreis seiner Enge und kommt nie aus sich heraus. Er kennt darum auch das wahre und tiefe Glück nicht, das allein aus der Hingabe an echte Werte, aus der Berührung mit dem in sich Schönen und Guten fließt. Er tritt nicht wie der erste Typ frech an das Seiende heran, aber ebenso ungeöffnet und distanzlos; denn er sieht über alles gleichsam hinweg, da er nur nach dem sucht, was für ihn gerade momentan nützlich und brauchbar ist. Auch er kann nie innerlich schweigen, sich öffnen, sich beschenken lassen. Auch er lebt in einem Ichkrampf. Sein Blick fällt "von außen blöde auf alles", ohne Verständnis für den wahren Sinn und Wert einer Sache. Auch er ist "kurzsichtig" und geht an alles so "nahe" heran, dass er das wahre Wesen der Dinge nicht erkennt, dass er keinem Seienden den "Raum" lässt, sich in seiner Eigenart und Fülle zu entfalten. Auch dieser Mensch ist wertblind, auch ihm verschließt die Welt ihre Breite, Tiefe und Höhe.
Der Ehrfürchtige tritt der Welt ganz anders gegenüber. Er ist frei vom Ichkrampf, von Hochmut und Begierlichkeit. Er füllt nicht die Welt mit seinem Ich aus, sondern lässt dem Seienden "Platz", sich in seiner Eigenart zu entfalten. Er versteht die Würde und den Adel des Seienden als solchen, den Wert, den es schon als ein Seiendes gegenüber dem Nichts besitzt; den Wert, den jeder Stein, jedes Wasser, jeder Grashalm als ein Seiendes, als ein Gebilde, das sein eigenes Sein besitzt, das so und nicht anders ist, das im Gegensatz zu einem bloßen Hirngespinst oder einem bloßen Schein ein von der Person des Betrachtenden unabhängiges, seiner Willkür entzogenes Etwas ist. Darum ist das Seiende nicht bloß ein Mittel für ihn und seine zufälligen egoistischen Zwecke und Ziele, um es hierfür verwenden und benützen zu können, sondern etwas, das er in sich ernst nimmt, dem er "Platz" lässt, sich in seiner Eigenart zu zeigen, so dass er schweigt, um das Seiende zu Wort kommen zu lassen. Der Ehrfürchtige weiß, dass die Welt des Seienden größer ist als er, dass er nicht der Herr ist, der mit ihr nach Belieben schalten und walten kann, dass er von dem Seienden lernen muss.
Diese, den Wert des Seienden als solche beantwortende Haltung, die von der Bereitschaft durchsetzt ist, etwas Höheres über seiner Willkür und seinem Belieben anzuerkennen, sich unterordnend hinzugeben, macht das geistige Auge sehend für die tiefere Eigenart alles Seienden, lässt dem Seienden die Möglichkeit, sein Wesen zu offenbaren, macht den Menschen wertsichtig. Wem wird die erhabene Schönheit eines Sonnenunterganges oder einer Neunten Symphonie von Beethoven aufgehen, als dem, der ehrfürchtig vor sie hintritt und sich diesem Seienden innerlich erschließt? Wem wird das Wunder aufleuchten, das im Leben liegt und in jeder Pflanze sich offenbart, als dem, der sie ehrfurchtsvoll betrachtet? Wer in ihr aber nur ein Nahrungsmittel oder ein Mittel zum Gelderwerb sieht, also nur etwas, das er benützen und verwerten kann, dem wird sich diese sinn- und zweckvoll gegliederte Welt in ihrer Schönheit und verborgenen Würde nie erschließen.
Die Ehrfurcht ist die unerlässliche Voraussetzung für alle tiefe Erkenntnis, vor allem für alle Wertsichtigkeit, für alles Sich-Beschenken und Erheben-lassen von den Werten, für alle bejahende Hingabe an die Werte, für alle Unterordnung unter ihre Majestät. In ihr trägt die Person der Erhabenheit der Wertewelt Rechnung, in ihr liegt dieser Aufblick zu ihr, dieser Respekt vor den objektiv gültigen Forderungen der Werte, die unabhängig von der Willkür und den Wünschen des Menschen eine angemessene Antwort verlangen.
Die Ehrfurcht ist Voraussetzung jeder Wertantwort, jeder Hingabe an ein in sich Bedeutsames und sie ist zugleich ein wesentlicher Bestandteil derselben, In jedem Sich-Hingeben an das Gute und Schöne, in jedem Sich-Richten nach dem Gesetz der Werte steckt die Grundhaltung der Ehrfurcht. Dies kann uns das sittliche Verhalten auf den verschiedensten Lebensgebieten bestätigen.
Die ehrfürchtige Grundhaltung ist die Grundlage aller sittlichen Verhaltungsweisen gegen die Mitmenschen und gegen sich selbst. Nur dem Ehrfürchtigen kann sich die ganze Größe und Tiefe des Wertes erschließen, der an jedem Menschen als geistiger Person haftet, als bewusstem freien Wesen, als einem Wesen, das allein unter den uns bekannten Wesen fähig ist, das übrige Seiende erkennend zu erfassen und zu berühren und zu ihm sinnvoll Stellung zu nehmen, das fähig und bestimmt dazu ist, eine reiche Welt von Werten in sich zu verwirklichen, ein Gefäß der Güte, Reinheit, Treue, Demut zu werden. Wie soll jemand einen anderen wirklich lieben können, wie soll er für ihn Opfer bringen, wenn er von der Kostbarkeit und Fülle nichts ahnt, die in einer Menschenseele als Möglichkeit enthalten sind, wenn er keine Ehrfurcht vor diesem Gebilde hat?
Die ehrfürchtige Grundhaltung ist die Voraussetzung jeder wahren Liebe, vor allem jeder Nächstenliebe, weil sie allein den Blick für den Wert des Menschen als geistiger Person erschließt, und weil ohne dieses Werterfassen keine Liebe möglich ist. Ehrfurcht vor dem geliebten Wesen steckt aber auch als wesentlicher Bestandteil in jeder Liebe. Das Lauschenkönnen auf die Eigenart des anderen, auf den besonderen Sinn und Wert seiner Individualität, das Rücksichtnehmen auf ihn, statt diese Eigenart nach den eigenen Wünschen zu vergewaltigen, das dem Wesen des Geliebten Raumlassen, all diese Wesensbestandteile jeder echten Liebe fließen aus der Ehrfurcht. Was wäre Mutterliebe ohne Ehrfurcht vor dem heranwachsenden Gebilde, vor all den in ihm schlummernden Wertmöglichkeiten, vor den Kostbarkeiten seiner Seele! Und ebenso ruht alle Gerechtigkeit gegen andere auf der ehrfürchtigen Grundhaltung, alle Achtung vor der Rechtssphäre des anderen, vor der Freiheit seiner Entschlüsse, alle Einschränkung seiner eigenen Machtgelüste, alles Verständnis für fremde Ansprüche! Die Ehrfurcht vor dem Nebenmenschen ist die Grundlage für alles wahre Gemeinschaftsleben, für die richtige Eingliederung in Ehe, Familie, Nation, Staat, Menschheit, für die Achtung legitimer Autorität, für die Erfüllung der sittlichen- Pflichten gegen die Gemeinschaft im ganzen und die einzelnen Gemeinschaftsglieder. Der Unehrfürchtige sprengt und zersetzt die Gemeinschaft.
Die Ehrfurcht ist aber auch die Seele des sittlich richtigen Verhaltens auf anderen Gebieten, so auf dem der Reinheit. Ehrfurcht vor dem Geheimnis der ehelichen Vereinigung, von der Tiefe und Zartheit und dem entscheidungsvollen Endgiltigen dieser intimsten Hingabe sind die Voraussetzung für die Reinheit; sie begründet erst das Verständnis dafür, wie furchtbar jedes unbefugte Betreten dieses geheimnisvollen Landes ist für die Entweihung und Entwürdigung seiner selbst und des anderen. Ehrfurcht vor dem Wunder der Entstehung des neuen Lebens aus der engsten Liebesvereinigung zweier Menschen ist die Grundlage des Abscheus vor jedem frevelhaften, künstlichen, frechen Zerstören dieses geheimnisvollen Zusammenhanges von Liebe und Werden des neuen Menschen.
Wohin wir auch blicken, wo immer sittliches Leben, sittliche Werte im Menschen erblühen sollen, Ehrfurcht ist die Grundlage und zugleich ein wesentliches Element dieses Lebens. Ohne ehrfürchtige GrundhaItung keine wahre Liebe, keine Gerechtigkeit, keine Rücksicht, keine Selbsterziehung, keine Reinheit, keine Wahrhaftigkeit; ohne Ehrfurcht vor allem aber auch keine Tiefe. Der Ehrfurchtslose ist selbst platt und seicht, weil er die Tiefe des Seienden nicht versteht, weil es für ihn keine Welt gibt hinter und über der sichtbar greifbaren. Nur dem Ehrfürchtigen erschließt sich die Welt der Religion. Nur für ihn kann die Welt im ganzen ihren Sinn und Wert erschließen. So steht die Ehrfurcht als sittliche Grundhaltung am Anfang aller Erkenntnis, alles sittlichen Lebens, aller Religion. Sie ist die Grundlage für das richtige Verhalten des Menschen zu sich selbst. zum Nächsten, zu allen Gebieten des Seienden und vor allem zu Gott.
II. Treue
Zu den Haltungen des Menschen, die für sein ganze.s sittliches Leben grundlegend sind, gehört neben der Ehrfurcht auch die Treue.
Man kann von Treue in einem weiteren und einem engeren Sinne sprechen. Den engeren Sinn haben wir im Auge, wenn wir von Treue zu Menschen sprechen, etwa Freundestreue, eheliche Treue, Treue gegen das eigene Volk oder Treue gegen sich selbst.
Diese Treue setzt aber schon die Treue im weiteren Sinn voraus. Ich meine die Beharrlichkeit, die dem Leben des Menschen erst seinen inneren Zusammenhang, seine innere Einheit gibt. Nur dieses FesthaIten an den Wahrheiten und Werten, die uns einmal aufgegangen sind, ermöglicht einen Aufbau der Persönlichkeit. Der Lebenslauf eines Menschen schließt ein ständiges Sich-Ablösen verschiedener Eindrücke, Stellungnahmen, Akte in sich. Wir können nicht lange Zeit hintereinander nur einen Gedanken denken, mit unserer Aufmerksamkeit auf einen Punkt gerichtet bleiben. Wie im biologischen Ablauf Hunger, Sättigung, Müdigkeit, Frische sich folgen, so ist auch ein gewisser Wechsel dem Ablauf unseres geistigen Lebens eigen. Wie die auf uns wirkenden Eindrücke sich ablösen, wie der Strom der Ereignisse Verschiedenartiges an unseren Geist heranträgt, so kann unsere Aufmerksamkeit nicht in gleicher Weise auf eines. gerichtet bleiben, so ist unserem Denken eine Bewegung von einem Inhalt zum anderen eigen, und ebenso unserem Fühlen und Wollen. Selbst bei einem tief beglückenden Ereignis, etwa dem langer sehnten Wiedersehen mit dem geliebtesten Menschen, können wir nicht dauernd verweilen; der Strom unseres Erlebens drängt von der vollen Gegenwart tiefer Freude wieder zu anderen Blickrichtungen unserer Aufmerksamkeit und unserer Erlebnisse. Aber der Mensch hat verschiedene Tiefenschichten. Das Innenleben des Menschen ist nicht auf die Schicht beschränkt, in der dieser ständige Wechsel sich abspielt, auf die Schicht der ausdrücklichen Aufmerksamkeit unseres "aktuellen" Bewusstseins. Während wir zu einem anderen Eindruck und Inhalt weitereilen, versinkt das vorige nicht ohne weiteres, sondern wird, je nach seiner Bedeutung, in der tieferen Schicht festgehalten und lebt dort fort. Ein Ausdruck dessen ist ja auch das Gedächtnis, die Fähigkeit der Erinnerung, die Vergangenes und Gegenwärtiges verbindet, aber darüber hinaus auch das In-der-Tiefe-Fortleben unserer Hinwendungen und Stellungnahmen zur Welt, zu grundlegenden Wahrheiten, Werten, während wir unsere aktuelle Aufmerksamkeit auf ganz andere Fragen richten. So etwa lebt unsere Freude über ein tieibeglückendes Ereignis in der Tiefe fort, färbt all das, was wir im Augenblick tun, womit wir uns ausdrücklich beschäftigen. So bleibt die Liebe zu einem geliebten Menschen in der Tiefe lebendig bestehen, wenn wir auch mit Arbeiten beschäftigt sind, wie ein Hintergrund, auf dem sich das übrige abspielt. Ohne diese Fähigkeit hätte ja der Mensch keine innere Einheit; er wäre nur ein Bündel aneinandergereihter Eindrücke und Erlebnisse. Wenn stets nur ein Eindruck den anderen ablöste, wenn das Vergangene unterschiedslos versänke, wäre das innere Leben des Menschen sinn- und gehaltlos; es gäbe keinen Aufbau, keine Entwicklung, es gäbe vor allem auch keine "Persönlichkeit".
Wenn sich nun auch bei jedem Menschen diese Fähigkeit des Festhaltens findet, ohne die ein eigentliches Leben einer geistigen Person nicht möglich ist, so ist doch der Grad, in dem bei den einzelnen dieser innere, fortlaufende Zusammenhang ihres Lebens ausgebildet ist, sehr verschieden. Wir sagen von vielen Menschen, sie gehen ganz im Augenblick auf; der gegenwärtige Augenblick hat eine solche Macht über sie, dass alles Vorherige, auch wenn es seinem Gehalt nach gewichtiger und tiefer war, vor der lauter tönenden Sprache der Gegenwart versinkt. Die Menschen unterscheiden sich in tiefgehender Weise dadurch voneinander, dass die einen nur in der äußerlichsten Schicht des aktuellen Bewusstseins leben und sich darum bei ihnen ein Erlebnis an das andere zusammenhanglos anreiht - man könnte sie Eintagsfliegen nennen -, die anderen aber auch aus tieferen Personenschichten heraus leben, dass nichts Bedeutsames versinkt, nur weil es nicht mehr gegenwärtig ist, sondern dass es je nach dem Grad seiner Bedeutung unverlierbarer Besitz des Menschen wird, auf den sich Neues sinnvoll aufbaut. Die letzteren verdienen allein den Namen "Persönlichkeiten". Nur in ihnen kann sich ein innerer Reichtum bilden. Wie viele gibt es, die große Kunstwerke kennen lernen, herrliche Länder sehen, mit bedeutenden Menschen in Berührung kommen bei denen aber alles ohne dauernde Wirkung bleibt. Im Moment beeindruckt es sie vielleicht stark, aber es schlägt keine tiefere Wurzel in ihnen, es wird nicht "festgehalten", sondern versinkt, sobald neue Eindrücke kommen. Diese Menschen sind wie ein Sieb, durch das alles hindurchläuft. Es können gute, warme, ehrliche Menschen sein, aber sie sind in einem kindisch unbewussten Zustand stecken geblieben, sie haben keine Tiefe, sie entgleiten einem, sie sind unfähig zu wirklichen Beziehungen mit anderen Menschen, weil sie überhaupt zu nichts ein dauerndes, tiefes Verhältnis. besitzen.
Es sind verantwortungslose Menschen, weil sie dauernde Bindungen nicht kennen, weil nichts von dem einen Tag in den anderen hinüberreicht. Wenn ihre Eindrücke auch lebhaft sind, so dringen sie doch nicht bis in die Tiefenschicht ein, in der sich die über den Wechsel des Augenblicks erhabenen Richtungen und Stellungnahmen befinden. Sie versprechen ehrlich in diesem Augenblick etwas, aber im nächsten ist es völlig versunken; sie fassen Vorsätze unter einem starken Eindruck, aber der nächste starke Eindruck verweht sie. Sie sind so beeindruckbar, dass die äußerliche Personschicht des aktuellen Bewusstseins in ihrem Leben allein das Wort hat. Bei diesen Menschen sind nicht der Wert und das Gewicht einer Sache für ihre Zuwendung und ihr Interesse maßgebend, sondern nur die Frische und Lebhaftigkeit der "Gegenwart". Was auf sie wirkt, ist dieser allgemeine Vorzug an Lebhaftigkeit, den der gegenwärtige Eindruck oder die gegenwärtige Situation vor dem Vergangenen voraus haben.
Es gibt zwei Spielarten dieses unbeharrlichen Menschentypus. Bei dem einen dringt überhaupt nichts bis in die tiefere Personschicht vor. Diese tiefere Schicht bleibt gleichsam leer in ihnen, sie kennen nur die Schicht des aktuellen Bewusstseins. Dies sind, zugleich immer oberflächliche Menschen, ohne Tiefenleben und ohne jegliche innere Festigkeit; sie sind wie ein Sandboden, der ohne weiteres nachgibt; wenn man bei ihnen einen dauernden Kern sucht, auf den man bauen, sich verlassen kann, den man voraussetzen kann, so greift man ins Leere. Natürlich ist dies bei einem gesunden Menschen nie ganz und gar der Fall; ein Mensch, der im buchstäblichen Sinn reiner Augenblicksmensch ist, wäre ein Psychopath. Aber Menschen, deren Leben weitgehend so abläuft, gibt es oft, ohne dass wir sie als seelisch krank bezeichnen könnten.
Bei der zweiten Spielart haben wir es mit Menschen zu tun, die wohl tiefe Eindrücke haben, bei denen vieles in der Tiefe Wurzel fasst, die also in der Tiefenschicht nicht leer sind, die einen dauernden festen Kern in ihrer Person aufweisen, die aber von den Augenblickseindrücken so befangen sind, dass das in der Tiefe Befindliche den Augenblick nicht sieghaft färbt, dass es sich nicht durchsetzen kann gegen den Augenblickseindruck. Erst wenn dieser verflogen, kommt das in der Tiefe Befindliche gelegentlich wieder ans Tageslicht. Solche Menschen können z. B. wohl eine tiefe dauernde Liebe zu anderen haben, aber eine starke, lebendige, sprechende Situation nimmt sie im Augenblick so gefangen, dass sie den geliebten Menschen alsdann "vergessen", dass sie Dinge tun und Worte reden, die zu ihrer in der Tiefe fortlebenden Liebe durchaus nicht passen. Solche Menschen sind stets in Gefahr, zu "Verrätern" zu werden. Bei solchen Menschen hat stets der Gegenwärtige einen Vorsprung vor dem Abwesenden in Bezug auf ihr augenblickliches Interesse, auf die Rolle, die er in ihrem Denken, Fühlen und Wollen spielt auch wenn der Abwesende im Grund ihnen viel lieber ist und auf die Dauer eine ganz andere Rolle spielt. Oder sie haben z. B. einen tiefen Eindruck von einem Kunstwerk empfangen. Ein dauerndes Verhältnis zu diesem Kunstwerk hat sich in der Tiefe gebildet. Neue starke Eindrücke nehmen sie jedoch so gefangen, dass sie den früheren Eindruck in der neuen Situation nicht "festhalten", dass man, solange der neue Eindruck währt, nichts mehr von dem früheren merkt. Später, wenn dieses übertönende Wirken des neuen aufgehört hat, kommt der alte, an sich tiefere, wieder zu seinem Recht.
Im Gegensatz zu beiden Typen hält der beharrliche Mensch alles fest, was ihm als Wahrheit und echter Wert aufgegangen. Der Lebhaftigkeitsvorzug des Gegenwärtigen hat keine Macht über sein Leben im Vergleich zu dem inneren Gewicht der Wahrheiten, die er einmal erkannt und des Wertes, der ihm einmal aufgegangen. Die Größe der Rolle, die etwas bei ihm auch im aktuellen Bewusstsein spielt, ist allein von der Höhe seines Wertes abhängig und nicht von seiner "Aktualität". Diese Menschen sind darum gefeit gegen die Tyrannei bloßer Moden; es macht ihnen etwas nicht schon deshalb Eindruck, weil es modern ist, weil es augenblicklich in der Luft liegt, sondern nur, weil es in sich wertvoll ist, weil es schön, gut, wahr ist. Für diese Menschen ist das Wertvollere, Wichtigere stets auch das "Aktuellere". Das Wertvolle veraltet nie für sie, mag es auch lange zurückliegen. Das Leben dieser Menschen ist sinnvoll zusammenhängend, es spiegelt in seinem Ablauf die objektive Rangordnung der Werte wider, während das der Unbeharrlichen eine Beute der zufällig an sie herantretenden Situationen und Eindrücke ist. Diese Menschen allein verstehen das Erhabensein des Wertvollen über alle Zeit, das Nicht-Altern, Nicht-Verblühen des Wertvollen und Wahren. Sie verstehen, dass eine bedeutsame Wahrheit nicht weniger interessant ist und uns nicht weniger beschäftigen soll, wenn sie uns auch noch so lange bekannt ist. Sie verstehen vor allem, dass alles Wertvolle nicht nur eine Zuwendung und ein Interesse von uns fordert, solange es gegenwärtig unseren Geist berührt. Nur der Beständige begreift die Forderung der Welt der Werte wirklich und nur er ist der Wertantwort fähig, die dem Wertvollen objektiv gebührt, nämlich der dauernden, von dem Reiz des Neuen und der Gegenwartslebhaftigkeit unabhängigen Wertantwort. Nur er, für den kein Wert untergeht, der ihm einmal aufgeleuchtet, und für den keine Wahrheit vergessen wird, die er einmal eingesehen, wird der Eigenart der Welt der Wahrheit und der Werte wirklich gerecht, da nur er allein Wertvollem die Treue zu halten vermag.
Diese Beharrlichkeit oder Treue im wahren Sinn des Wortes ist, wie wir sehen, eine sittliche Grundhaltung des Menschen, d. h. sie ist eine notwendige Folge alles wahren Wertverständnisses und ein Element jeder wahren Wertantwort und damit allen sittlichen Lebens überhaupt. Nur die beharrliche Wertantwort, die an dem Wertvollen dauernd festhält, ist eine ausgewachsene, sittlich reife, vollbewusste Wertantwort. Nur dieser Mensch ist wirklich sittlich wach, nur er ist zuverlässig, nur er fühlt sich verantwortlich für alles, was er in anderen Situationen getan hat, nur er bereut früher begangenes Unrecht wirklich, nur für ihn reichen alle echten Bindungen, die von den Werten ausgehen, in alle Situationen seines Lebens hinein, nur er wird sich in Prüfungen bewähren. Denn für ihn leuchtet das Licht der Werte weiter in die stumpfen Alltagsmomente, ja in die Nacht der Versuchungen hinein, weil er aus der Tiefe heraus lebt und den Augenblick aus der Tiefe heraus meistert. Je beharrlicher, je treuer der Mensch, umso reicher und gehaltvoller ist er, umso fähiger, ein wirkliches Gefäß sittlicher Werte zu werden, ein Wesen, in dem Reinheit, Gerechtigkeit, Demut, Liebe und Güte dauernd lebendig wohnen und nach außen hin ausstrahlen. Betrachten wir die verschiedenen Lebensgebiete, und wir werden die grundlegende Bedeutung der Treue in diesem weiteren Sinn überall wieder finden. Die Grundhaltung der Treue ist die Voraussetzung für alles geistige Wachstum der Person überhaupt und vor allem für alle sittliche Entwicklung und allen sittlichen Fortschritt. Wie kann der sittlich wachsen, der nicht alle Werte, die ihm aufgegangen, festhält, dem sie nicht dauernder Besitz werden? Wie soll bei dem nur von kurzlebigen Augenblickseindrücken Beherrschten ein fortschreitender Aufbau stattfinden? Entweder, wenn es der erste Typus radikaler Unbeharrlichkeit ist, den wir kennenlernten, dringt überhaupt nichts in die tiefere Schicht, der Betreffende ist innerlich tot, der dauernde Kern in seiner Person fehlt; oder beim zweiten Typus fehlt zum mindesten die Möglichkeit einer wirklichen Formung des Lebensablaufes durch das einmal Begriffene, durch die Werte, die auch in der Tiefe zum Besitz geworden. Was nützt die beste Erziehung ohne diese Beständigkeit, was die eindringlichsten Mahnungen, das lebendige Werterschließen, wenn es entweder nicht dauernde Wurzel in der Tiefe fasst, oder wenn es in der Tiefe immer nur schlummert? So Überraschend es klingen mag, unbeharrliche Menschen ändern sich nie. Sie behalten die Fehler und Vorzüge, die sie von Natur besitzen, aber sie erringen keine neuen sittlichen Werte. Wenn sie im Moment auch alles einsehen, wenn sie die besten Vorsätze fassen, ihre Unbeharrlichkeit verhindert jeden dauernden sittlichen Fortschritt. Auch wenn ihr Wille gut ist, alle Erziehung wird an ihnen abgleiten. Nicht, weil sie, wie der Hochmutsverkrampfte, sich sperren, gleichsam undurchlässig machen, sondern weil sie jedem Eindruck sich zu sehr preisgeben und auch das ehrlich von ihnen Aufgenommene sich nicht "halten" kann in ihrem Lebensstrom. Erst recht setzt jede Selbsterziehung diese Grundhaltung der Treue voraus. Nur der treue Mensch wird einander widersprechende Eindrücke innerlich so verarbeiten, dass er aus jedem das Gute herauslöst, er wird aus den verschiedensten Lebenssituationen lernen und an ihnen wachsen, weil in ihm der Maßstab der echten Werte ständig lebendig bleibt, während der Wankelmütige bald dem einen, bald dem anderen Eindruck nachgibt und restlos "verfällt", so dass im Grund alles mehr oder weniger spurlos an ihm vorübergeht, ja sogar sein Wertverständnis und seine Wertempfänglichkeit mehr und mehr abstumpft. Nur der Treue wird auch das Wichtigere dem weniger Wichtigen vorziehen, das Wertvollere dem weniger Wertvollen, während der Wankelmütige bestenfalls jedem Wertvollen unterschiedslos Folge leistet, auch wenn dadurch ein höherer Wert zugrunde geht. Nichts ist aber für das sittliche Wachstum, ja für das sittliche Leben der Person überhaupt wichtiger als die Berücksichtigung der objektiven Wertrangordnung, als die Fähigkeit, dem Höherwertigen stets den Vorzug zu geben.
Die Grundhaltung der Treue ist auch die Voraussetzung für alle Zuverlässigkeit, für jedes Sich-Bewähren. Wie soll jemand ein Versprechen halten können oder im Ideenkampf sich bewähren, der nur im Augenblick lebt, bei dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht eine sinnvolle Einheit bilden? Wie soll man auf einen Menschen bauen, dem diese Treue fehlt? Nur der Treue ermöglicht jenes Vertrauen, das die Grundlage aller Gemeinschaft bildet, nur er besitzt jenen hohen sittlichen Wert der Festigkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit.
Aber auch für das Vertrauen-können selbst, für das heroische Glauben ist die Treue Voraussetzung. Der Wankelmütige verdient nicht nur kein Vertrauen, sondern er wird auch nie jenen festen, unerschütterlichen Glauben aufbringen, sei es anderen Menschen, sei es Wahrheiten, sei es Gott gegenüber. Denn ihm fehlt die Kraft, von dem einmal erschauten Wert zu zehren, wenn Nacht und Dunkel ihn umgeben, oder wenn andere starke Eindrücke auf ihn einstürmen. Es ist kein Zufall, dass im Lateinischen der Ausdruck "fides" gleichzeitig Treue und Glauben bedeutet. Denn die Treue ist ein wesentlicher Bestandteil aller Glaubenskraft und damit aller Religion.
Ganz besonders deutlich wird die überragende Bedeutung der Treue auf dem Gebiet menschlicher Beziehungen und zwar hier auch als Treue im engeren Sinn. Was ist eine Liebe ohne Treue? Im Grunde eine Lüge. Denn der tiefste Sinn jeder Liebe, das innere "Wort", das in der Liebe gesprochen wird, ist eine innere Zuwendung und Hingabe seiner selbst, die unbefristet fortdauert, durch keinen Wechsel des Lebensstromes erschüttert werden kann, sondern nur durch eine tiefgreifende Veränderung im geliebten Menschen angetastet werden könnte. Ein Mensch, der etwa sagte, ich liebe dich jetzt, aber wie lange noch, weiß ich nicht, kann noch nie wirklich geliebt haben und ahnt nichts vom Wesen der Liebe. Es ist die Treue der Liebe so wesenhaft eigen, dass jeder, wenigstens solange er liebt, seine Zuwendung als eine dauernde meinen muss. Dies gilt für jede Liebe, für Eltern- und Kindesliebe, Freundes- und Gattenliebe. Je tiefer die Liebe, je mehr ist sie von Treue durchsetzt. Und gerade in dieser Treue liegt ein besonderer sittlicher Glanz, eine keusche Schönheit der Liebe. Das spezifisch Rührende der Liebe, wie sie uns in Beethovens Fidelio so einzigartig entgegentritt, ist gerade mit diesem Treuemoment wesentlich verknüpft. Die unbeirrbare Treue der Mutterliebe, die sieghafte Treue eines Freundes, besitzen eine besondere sittliche Schönheit, die dem Wertgeöffneten ans Herz greift; so ist die Treue ein Kernstück jeder großen und tiefen Liebe.
Was ist andererseits sittlich niedriger und hässlicher als die ausgesprochene Treulosigkeit, das radikale Gegenteil der Treue, die ja noch über die Unbeständigkeit weit hinausgeht. Welcher sittliche Makel kommt dem des Verräters gleich, der gleichsam in das Herz, das ihm der andere vertrauensvoll geöffnet und ungeschützt darbietet, hineinsticht? Der in seiner Grundhaltung Treulose ist ein Judas der ganzen Welt der Werte gegenüber.
Es gibt Menschen, denen die Treue im Lichte einer mehr bürgerlichen Tugend erscheint, im Lichte einer Korrektheit, Biederkeit. Der große, geniale, freie Mensch, so glauben diese, bedarf der Treue nicht. Das ist ein ahnungsloses Missverständnis. Mag ein zu starkes Hervorkehren der eigenen Treue peinlich wirken, mag es eine gewisse harmlose, gutmütige Abart der Treue geben, wir haben gesehen, dass die echte Treue ein unerlässlicher Bestandteil aller sittlichen Größe, aller wahrhaften Tiefe und Kraft einer Persönlichkeit ist. Sie ist das Gegenteil bloßer bourgeoiser Biederkeit oder eines bloßen Festhaltens an Gewohnheiten. Es ist nicht an dem, dass sie die anlagemäßige Folge eines trägen Temperamentes darstellt, während der Unbeharrliche ein sprunghaft lebhaftes Temperament besitzt. Sie ist eine freie sinnvolle Antwort auf die Welt der Wahrheit und der Werte, auf deren unwandelbare, in sich ruhende Bedeutung, auf deren eigentliche Forderung. Ohne die Grundhaltung der Treue keine Kultur, kein Erkenntnisfortschrilt, keine Gemeinschaft, vor allem aber keine sittliche Persönlichkeit, kein sittliches Wachstum, kein gehaltvolles, innerlich einheitliches Innenleben und keine wahre Liebe. Dieser grundlegenden Bedeutung der Treue im weiteren Sinne muss alle Erziehung Rechnung tragen, will sie nicht von vornherein zum Misserfolg verurteilt sein.
III. Verantwortungsbewusstsein
Wenn wir jemand als sittlich bewussten Menschen bezeichnen, einen anderen als sittlich unbewussten Menschen, so haben wir damit einen in ethischer Hinsicht grundlegenden Unterschied im Auge. Der Unbewusste lebt dahin, er erfasst wohl gewisse Werte, er beantwortet sie auch, aber alles geschieht ohne eine letzte Wachheit und Ausdrücklichkeit. Es bleibt mehr oder weniger zufällig. Vor allem ist sein Leben im ganzen nicht bewusst und ausdrücklich unter das Richtschwert von Gut und Böse gestellt. Wenn er auch etwas Schlechtes im gegebenen Augenblick ablehnt und etwas Gutes bejaht, so liegt doch auch darin im Grunde mehr eine Bejahung seiner eigenen Natur als wirkliches, verstehendes Eingehen und Sich-Richten nach der unerbittlichen Forderung der Werte. Der unbewusste Mensch verhält sich so, wie seine Natur es ihm eingibt; er hat die Fähigkeit, sich frei nach der objektiven Forderung der Wertewelt zu richten, unabhängig von dem, was seiner Natur nahe- oder fernliegt, noch gar nicht entdeckt - diese Fähigkeit, Regungen, die der eigenen Natur naheliegen, frei gutzuheißen oder zu verwerfen, je nachdem sie der Forderung der Werte angemessen sind oder nicht. Die unbewussten Menschen sind zu der sittlich so entscheidenden Fähigkeit der geistigen Person, frei zu sanktionieren und zu verwerfen, nicht erwacht; sie machen keinen Gebrauch von ihr. Darum kennen sie auch keine bewusste Arbeit an ihrer sittlichen Entwicklung und Veränderung. In ihrem Leben gibt es keine sittliche Selbsterziehung. Dieser sittliche Halbschlaf schließt das Werden der sittlichen Persönlichkeit aus. Sittliche Bewusstheit, sittliche Wachheit, sind eine unerlässliche Voraussetzung wirklicher Wertsichtigkeit, wirklichen Wertantwortens und damit des Besitzes sittlicher Werte. Der sittlich Unbewusste kann gut, treu, gerecht, wahrheitsliebend sein, aber doch nur im Sinne eines schwachen Abglanzes dieser Tugenden. Seiner Güte, Treue, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit fehlt der eigentliche sittliche Glanz, das volle, freie Eingehen auf die Werte, auf ihre in sich ruhende Majestät, die wirkliche Unterordnung unter ihr ewiges Gesetz. Der Charakter des Zufälligen, Blinden, nimmt ihnen den tiefsten sittlichen Kern. Es sind sittliche Tugenden, die ihrer Seele, ihres letzten, freien, sinnvollen Lebens beraubt sind.
Ehrfurcht und Treue im wahren Sinn, Beständigkeit, wie wir es nannten, sind eng mit dieser sittlichen Wachheit verknüpft. Auch sie können sich nur in dem sittlich Bewussten voll entfalten. Diese sittliche Wachheit ist auch die Seele der sittlichen Grundhaltung, die wir Verantwortungsbewusstsein nennen.
Der Verantwortungsbewusste wird allein dem letzten Ernst gerecht, der in den Forderungen der Wertewelt liegt. Er erfasst nicht nur den Glanz, die innere Schönheit und Majestät der Wertewelt, sondern auch die Herrschaft über uns, die dieser Welt objektiv zukommt, den unerbittlichen Ernst ihrer Forderung, das ganz persönliche Angesprochenwerden von den Werten. Er vernimmt das "Du sollst" und "Du sollst nicht", das von den Werten ausgeht. Er besitzt jene Wachheit der Welt der Werte gegenüber, die sein ganzes Leben unter das Richtschwert der Wertewelt stellt, die ihn in jedem Augenblick seiner eigenen Stellung und Aufgabe im Kosmos bewusst sein lässt, die ihn deutlich fühlen lässt, dass er nicht sein eigener Herr ist, der nach Belieben schalten und walten kann, dass er nicht sein eigener Richter ist, sondern dass er einem Höheren über sich Rede und Antwort stehen muss.
Das Gegenteil des verantwortungsbewussten Menschen ist der spielerische, leichtsinnige, unernste Mensch. Der radikalste Typus dieser Art ist der Mensch, der sich überhaupt nicht um die Wertewelt kümmert, sondern nur um das, was ihn subjektiv befriedigt. Es ist der stumpf Begierliche, der an allen Werten blind vorübergeht, für den die ganze Welt nur eine Gelegenheit darstellt, Lust zu gewinnen, den wir als einen Typus der Ehrfurchtslosigkeit schon früher kennen gelernt haben. Er lebt ahnungslos, fast tierisch dahin und lässt die Welt der Werte völlig unbeachtet. Ihn kümmert kein Gut und Böse, und er merkt nichts von dem Ernst der Forderung der Wertewelt, von dem Richtschwert, das über seinem Kopf hängt. Er ist von einem letzten, furchtbaren Leichtsinn, mag er noch so klug und bedächtig bei seiner Jagd nach Annehmlichkeiten und Genüssen verfahren. Es ist selbstverständlich, dass dieser Mensch, der kein Ergriffenwerden von Werten und keine Hingabe an sie kennt, völlig verantwortungslos ist. Ganz verschieden von diesem sittlich ganz unwertigen Typus, in dem überhaupt keine sittlichen Werte erblühen können, ist der sittlich Unbewusste, von dem wir oben sprachen, der wohl Werte erfasst, von Werten angesprochen wird, der auch zuweilen auf sie eingeht, aber ohne ein volles Verstehen derselben, ohne jede bewusste Ausdrücklichkeit und Wachheit. Er ist auch von einem tiefen Leichtsinn erfüllt, von einer Ahnungslosigkeit gegenüber dem letzten Ernst der Wertewelt und ihrer Forderung. Er kann gutartig, liebenswürdig, freigebig, hilfsbereit sein, aber alles ohne den letzten sittlichen Adel. Auch dieser Mensch besitzt kein Verantwortungsbewusstsein. Er sucht in den verschiedenen Lebenssituationen nicht nach einer wirklich eindeutigen Klarheit über die Wertfrage; er begnügt sich für sein Ja und Nein, für seine Entscheidung mit einem ungefähren Eindruck von Gut und Böse, Schön und Hässlich. Dies ist verständlich; geht es ihm ja doch nicht um die eigentliche objektive Wertnatur und ihre Forderung, sondern nur darum, ob ihm das betreffende Verhalten liegt oder nicht, ob es seiner Natur innerlich entspricht oder nicht. So werden seine Antworten leichtsinnig gegeben, ohne eindeutige Klarheit über die Wertsituation.
Endlich gibt es drittens eine Art von leichtsinnigen Menschen, die wohl ein bewusstes sittliches Streben besitzen, sich aber aus einer gewissen Oberflächlichkeit und Verspieltheit ihres Wesens mit einem sehr unklaren Wertfundament begnügen für ihre Stellungnahmen. Sie nehmen sich nicht die Mühe, sich bis zu einer Evidenz der Wertfrage im jeweiligen Fall durchzuarbeiten. Auf den bloßen Anschein des Guten oder Schönen hin entscheiden sie sich in schwerwiegenden Fällen. Was die öffentliche Meinung sagt, wozu ein Bekannter rät, was durch Gewohnheit ihnen als richtig erscheint, genügt, um sie zu einer Stellungnahme in einer Sache zu veranlassen. Sie verstehen nicht, dass der Ernst, der in der Frage liegt, ob wir den Werten die angemessene Antwort geben oder nicht, gebieterisch fordert, über die wahre Forderung der Werte sich wirklich klar zu werden, bevor die Entscheidung erfolgt. Ihr Leichtsinn besteht darin, dass sie die Wertfrage nicht ernst genug nehmen, dass sie, trotz eines guten Willens, bejahen und ablehnen, ohne der Stimme der Werte erst wirklich gelauscht zu haben, ohne sich die Mühe einer wirklichen Prüfung der Wertfrage gemacht zu haben. Durch diese Verantwortungslosigkeit wird das Leben des Menschen ausgesprochen spielerisch, oberflächlich. Solange sie herrscht, bleibt der Mensch unausgereift, kindisch. Sie ist auch dem typisch Unbeständigen eigen, von dem wir schon früher gesprochen haben, der nur im Augenblick lebt, oder zum mindesten das in der Tiefe Besessene unter dem Eindruck der augenblicklichen Ereignisse nicht festhalten kann. Auch er antwortet ja gleichsam zu schnell, ohne das Neue auf dem Hintergrund der schon erkannten Wahrheiten und Werte zu prüfen. Diese Verantwortungslosigkeit tritt in ihrem sittlichen Unwert besonders hervor, wenn nicht nur eine innere Stellungnahme, sondern eine ausgesprochene Handlung vorliegt. Gewiss, auch jedes innere Ja oder Nein, das den Werten gegenüber gesprochen wird, ist ein Stück Wirklichkeit, und an ihm haftet die ganze entscheidungshafte Tragweite des Wirklichen gegenüber allem nur Möglichen, das unserer Phantasie sich darbietet. Auch hier liegt eine Kluft zwischen dem Augenblick, da etwas nur als Regung in uns aufkeimt, und dem inneren Ja und Nein einer ausdrücklichen Stellungnahme. Mit jeder, auch rein inneren Entscheidung, mit jeder sanktionierten Begeisterung oder Empörung tritt etwas in die Wirklichkeit, steht etwas da, das wir nicht ungeschehen machen können. Aber noch unwiderruflicher kann die Tat sein, die verändernd in die Umwelt eingreift, wenn es sich um Tatbestände handelt, die wir nicht wieder rückgängig machen können. Denn beiden inneren Stellungnahmen kann durch ein inneres Zurücknehmen, durch eine echte Reue, wenigstens ein wesentliches Element des wirklich Gewordenen wieder getilgt werden. Wer aber eine einzigartige Gelegenheit versäumt, wer einen anderen in Gefahr nicht gerettet hat, kann ihn von den Toten nicht mehr auferwecken.
In der Verantwortungslosigkeit, im Leichtsinn liegt nun auch der fehlende Respekt vor der Wirklichkeit, vor der Tragweite des "real Gesetzten", die Ahnungslosigkeit gegenüber dessen unwiderruflichem Ernst und dem "Fluch der bösen Tat, die fortzeugend Böses muss gebären". Erschrocken steht der Leichtsinnige da, wenn er merkt, was er angerichtet. Nicht böse Absicht, sondern seine generelle Ahnungslosigkeit gegenüber dem Ernst und der Tragweite der Wirklichkeit lassen ihn schuldig werden. Die Verkennung des Ernstes der Wertforderung, die Nichtbeantwortung dieser Seite der Wertewelt, führt bei ihm zu der Verkennung der Tragweite der "Wirklichkeit". Letzteres ist eine Folge des ersteren. Es wird verständlich, dass bei diesem spielerischen Verhältnis zur Wirklichkeit die Entscheidungen ohne wirkliche Klarheit über die Wertforderung erfolgen. Dazu kommt die Nichtbeachtung der Folgen einer Handlung, das Nicht-weiter-denken über den gegenwärtigen Augenblick hinaus. Gewiss, bestimmte Folgen sind oft nicht abzusehen und gewisse Wertforderungen sind so, dass sie die Verantwortung, auf etwaige Auswirkungen zu achten, gleichsam selbst übernehmen. Aber meistens müssen die voraussichtlichen, oder gar unvermeidlichen Folgen ebenfalls vor der Entscheidung ihrem Wert oder Unwert nach geprüft werden. Sonst fehlt das wahre objektive Interesse an der Wertfrage.
Der Verantwortungsbewusste hingegen versteht den vollen Ernst der Wertewelt und ihrer Forderung und trägt ihr Rechnung. Er versteht den ganzen Ernst und das Unwiderrufliche der Wirklichkeit und darum jeder Entscheidung. Er entscheidet erst, er nimmt erst Stellung, wenn die Wertfrage so eindeutig geklärt ist, wie es je nach der gegenwärtigen Situation eben möglich ist. Sein Leben trägt den Stempel der Wachheit, des Ernstes, statt der Verspieltheit, des Männlichen, statt des Kindischen. Das bedeutet aber nicht, dass der Verantwortungsbewusste ein bedächtiger Mensch sein müsste, der zögernd lange überlegt, ehe er Stellung nimmt und sich entscheidet. Er kann sich auch sofort, ohne jede prüfende Überlegung entscheiden, wenn sich ihm in einer bestimmten Situation die Wertfrage auf den ersten Blick hin in eindeutiger Klarheit erschließt. Nicht die Frage, intuitive Gegebenheit oder prüfende Überlegung, ist für die Unterlage der Entscheidung des Verantwortungsbewussten maßgebend, sondern nur, ob der Wert klar und eindeutig vor ihm steht, ob eine relative Wertevidenz gegeben ist, oder nicht. Nicht der Unterschied von bedächtigem, zögerndem, langsamem Temperament, oder energisch schnellem Zugriff ist für die Eigenart des Verantwortungsbewussten wesentlich. Er wird vielmehr bedächtig oder schnell entscheiden, je nachdem er ohne weiteres, gleichsam auf den ersten Blick, eindeutige Klarheit über die Wertfrage besitzt, oder nicht. Nicht sein subjektives Temperament, sondern der Grad der objektiven Durchsichtigkeit der Situation in Bezug auf die Werte und Unwerte oder ihre Wertforderungen, wird im einen Fall ihn zu sofortiger, impulsiv scheinender Stellungnahme veranlassen, im anderen zu sorgfältiger, bedächtig scheinender Prüfung. Ausschlaggebend ist für ihn die dank seiner Wachheit und Ehrfurcht vor der Wertewelt und der Tragweite der Wirklichkeit erfasste Forderung nach einer größtmöglichen Wertevidenz vor der Entscheidung.
Der wahrhaft Verantwortungsbewusste ist aber weit davon entfernt, sich stets nur auf die eigene Einsicht verlassen zu wollen. Er hat nichts mit dem sogenannten stolzen, aufrechten Mann zu tun, der glaubt, es sich selber schuldig zu sein, nur seine eigene Einsicht allen seinen Entscheidungen zugrunde legen zu müssen. Der wahrhaft Verantwortungsbewusste hat nichts von diesem Ichkrampf und Sittenstolz, er ist vielmehr allein darum besorgt, der objektiven Forderung der Wertewelt zu genügen. Er ist sich deshalb auch der Grenzen seiner Wertsichtigkeit bewusst, der Grenzen seiner Kompetenz, und richtet sich lieber nach der klaren Einsicht eines Menschen, den er als sittlich überlegen und als wertsichtiger kennt, als nach dem unklaren Eindruck, den seine eigene Einsicht von der Sachlage gewonnen hat. Erst recht wird er sich nach dem Gebot einer echten Autorität richten. Was er in diesen Fällen selbst eindeutig sehen muss, ist die überlegene sittliche Wertsichtigkeit des Beraters und die legitime Natur der Autorität. Keinen Einfluss auf seine Entscheidungen wird er bloßer Suggestion einräumen. Er wird sich nicht durch andere überreden oder verblüffen lassen; er wird sich vor allem nicht "imponieren" lassen durch Ansichten und Ratschläge von Persönlichkeiten, die nur durch ihr überlegenes Temperament oder außersittliche Überlegenheit ihn einschüchtern und unsicher machen.
Verantwortungsbewusstsein ist eine unerlässliche Grundlage eines wahrhaften, sittlichen Lebens. Durch diese Grundhaltung der Wachheit bekommt alles erst seinen vollen Ernst, seine wahre Tiefe. Aber man darf dieses Verantwortungsbewusstsein nicht verwechseln mit einem moralischen Sich-wichtig-Nehmen und einer Überschätzung seiner Aufgabe in der Welt. Es muss sich ganz und gar an der Wertewelt und ihrer Forderung entzünden, in dem ehrfürchtigen Lauschen auf das objektiv Richtige, Gute und Schöne, in der gelösten Bereitschaft, immer und überall dem Ruf der Werte zu folgen. Ebensowenig hat dieses Verantwortungsbewusstsein mit jener inneren Verängstigung zu tun, die dem Skrupulanten eigen ist. Der Skrupulant kann nie fertig werden mit der Prüfung der Wertfrage, aber nicht, weil seine wertantworlende Grundhaltung so lebendig ist, sondern weil er sich zu wichtig nimmt. Und ferner ist der Skrupulant unfähig, sich von der eindeutigen Wertgegebenheit einfach tragen zu lassen. Er will immer noch eine andere Sicherung außer der Werteinsicht. Der wahrhaft Verantwortungsbewusste hält sich hingegen nur solange auf, bis er zu einer eindeutigen Wertgegebenheit gelangt. Findet er diese, so fühlt er sich geborgen und frei.
Das Verantwortungsbewusstsein ist eine Grundhaltung, die auf ein religiöses Weltbild hindrängt. In ihr ahnt der Mensch, dass nicht nur eine unpersönliche Wertewelt, sondern ein persönlicher Richter, der zugleich Inbegriff aller Werte ist, über uns steht, vor dem er sich einmal verantworten muss. Sie ist darum, wie die Ehrfurcht, eine Grundlage aller Religion. Ihre Bedeutung ist, wie die der Ehrfurcht und Beständigkeit, oder Treue, für alle Gebiete des Lebens grundlegend, so für jede wahre Erkenntnis, für jedes Gemeinschaftsleben, für jedes künstlerische Schaffen, vor allem aber für das sittliche Leben, für die echte sittliche Persönlichkeit, für das Verhältnis des Geschöpfes zum Schöpfer. Verantwortungsbewusstsein muss daher auch eines der Hauptziele aller wahren Erziehung und Persönlichkeitsbildung sein.
IV. Wahrhaftigkeit
Zu den grundlegenden Voraussetzungen wirklichen sittlichen Lebens der Person gehört auch die Wahrhaftigkeit. Ein unwahrhaftiger, verlogener Mensch ist nicht nur Träger eines großen sittlichen Unwertes, wie der Geizige oder der Unmäßige, sondern er ist in seiner ganzen Persönlichkeit angekränkelt; das gesamte sittliche Leben, alles sittlich Positive ist bei ihm dadurch bedroht und in Frage gestellt. Seine Stellung zur Welt der Werte im ganzen ist in ihrem Lebensnerv getroffen. Der Verlogene ist unehrfürchtig dem Wert gegenüber. Er maßt sich eine Herrscherstellung an, er schaltet und waltet mit dem objektiv Seienden, als ob es ein Hirngespinst wäre, ein Spielball seiner Willkür. Er verweigert dem Wert, der an dem Seienden als solchen haftet, der Würde, die das Seiende gegenüber dem Nichts besitzt, die Anerkennung und Antwort. Die Urforderung alles dessen, was ist, in seinem Bestand anzuerkennen, schwarz nicht als weiß hinzustellen, eine Tatsache nicht zu verleugnen, erfüllt der Verlogene nicht. Er benimmt sich dem Seienden gegenüber so, als ob es nicht existierte. Es liegt auf der Hand, welche speziell unehrfürchtige, anmaßende, freche Haltung hierin liegt. Wenn man einen Menschen wie Luft behandelt, wenn man so tut, als ob er nicht existiere, so liegt darin vielleicht die größte Frechheit und Verachtung. Diese Haltung besitzt der Unwahrhaftige der Welt gegenüber. Der Verrückte erfasst das Seiende nicht als Seiendes und darum setzt er sich darüber hinweg. Der Verlogene erfasst es wohl als solches, er verweigert aber die Antwort auf die Würde und den Wert des Seienden, wenn es ihm gerade passt oder bequem ist. Seine Ignorierung des Seienden ist eine bewusst schuldhafte.
Für den Lügner ist gewissermaßen die ganze Welt nur ein Instrument für seine Zwecke; alles, was existiert, ist nur für ihn da; wenn er es nicht brauchen kann, so wird es wie ein Nichtseiendes behandelt, oder zu einem Nichtseienden gestempelt.
Drei Arten von Unwahrhaftigkeit muss man unterscheiden. Erstens den schlauen Lügner, dem nichts daran liegt, das Gegenteil von dem zu behaupten, was wahr ist, wenn es seinen Zwecken nützlich ist. Hier handelt es sich um einen Menschen, der zielbewusst und klar ist, die anderen aber belügt und betrügt, um sein Ziel zu erreichen, wie etwa Jago im Othello von Shakespeare, Franz Moor in den Räubern von Schiller, wenn auch bei diesen noch eine besondere Bosheit ihrer Ziele hinzukommt, die für den Lügner als solchen nicht wesentlich ist. Es gibt auch Lügner mit harmloseren Zielen. Die zweite Art liegt bei dem vor, der sich selbst belügt und darum auch andere. Es ist der Mensch, der alles Schwere, Unangenehme im Leben einfach wegleugnet, der nicht nur, wie der Vogel Strauß, wegschaut, sondern sich ausdrücklich einredet, es wäre anders, der sich einredet, er werde etwas tun, obgleich er wissen müsste, dass er dazu nicht die Kraft hat, der seine eigenen Fehler nicht wahrhaben will, der alle Situationen, die für ihn demütigend oder sonstwie peinlich sind, sofort umdeutet in eine Richtung, wo sie ihren Stachel verlieren. Der Unterschied dieser Art des Unwahrhaftigseins gegenüber dem Heuchler und Lügner liegt auf der Hand. Sein Betrug richtet sich vor allem gegen sich selbst und erst indirekt gegen die anderen. Er macht sich selbst etwas vor und betrügt die anderen gleichsam in ehrlichem Glauben. Er hat nicht das Zielbewusste, Klare des typischen Lügners, auch meist nicht das Döse, Verschlagene, Gemeine desselben. Er erweckt oft mehr unser Mitleid. Aber auch er ist nicht schuldlos, denn er verweigert die Antwort auf den Wert und die Würde des Seienden, auch er maßt sich eine Herrscherstelle an, die ihm nicht zukommt. Gewiss, das speziell Freche hat er nicht, und ein letzter Respekt vor der Wahrheit macht es ihm unmöglich, eine bewusste, offene Ignorierung und Verdrehung der Wahrheit vorzunehmen. Er fürchtet diese Verantwortung, er hat nicht den Mut des Heuchlers, er umgeht diesen Konflikt von Annehmlichkeit und Respekt vor der Wahrheit durch die Selbsttäuschung. Er hat etwas ausgesprochen Feiges und Schwächliches. Anstelle der Verschlagenheit und bewussten Schlauheit des Lügners steht bei ihm eine mehr instinktive Schlauheit.
Der Lügner leugnet die Tatsache, dass er lügt, nicht. Seine Ignorierung des Seienden erkennt er in ihrem Bestand an. Der Unwahrhaftige, der in Selbsttäuschung lebt, leugnet gerade seine Ignorierung der Wahrheit selbst. Indem er diese Tatsache verdreht und umdeutet, wird er sich bei seinen Lügen des Konfliktes mit der Wahrheit nicht bewusst.
Wenn nun auch dieser Typus meist weniger böse ist, - es gibt allerdings auch eine Form dieses Unwahrhaftigen, den Pharisäer, der den Balken im eigenen Auge nicht sieht, die auch im tiefsten Sinne böse ist - wenn er im allgemeinen weniger schuldhaft ist, so sind die Folgen dieser Unwahrhaftigkeit für das ganze sittliche Leben doch unabsehbar. Man kann diese Menschen nicht mehr ernst nehmen. Mögen sie in einzelnen Fällen, in denen die Wertantwort keinen Konflikt mit ihrem Hochmut und ihrer Begehrlichkeit, einschließt, sich sittlich richtig verhalten, sobald. von ihnen etwas Unangenehmes gefordert wird, so trotzen sie zwar dieser Wertforderung nicht bewusst, aber sie weichen ihr aus, indem sie sich vormachen, aus irgend einem Grund wäre diese Forderung für sie nicht einschlägig, oder die Wertforderung bestünde nur scheinbar, oder sie wären ihr bereits gefolgt. Das Seelenleben dieser Menschen gleicht dem Sandboden; man kann sie nie fassen, immer entgleiten sie einem. Wenn der bewusste Lügner auch sittlich noch viel negativer ist, eine Bekehrung kann leichter bei ihm stattfinden, als bei diesem Betrüger seiner selbst. Denn der letztere ist in seinem Seelenleben noch kränker, das Übel sitzt in einer psychologisch tieferen Schicht. Sie leben in einer Welt der Illusionen. Immerhin ist auch diese Unwahrhaftigkeit verschuldet und durch eine letzte freie innere Umstellung, durch den Durchbruch einer opferbereiten, unbedingten Hingabe an die Welt der Werte aufhebbar. Bei dem dritten Typus von Unwahrhaftigkeit ist der Bruch mit der Wahrheit noch weniger schuldhaft, aber vielleicht noch tiefer, noch mehr im Sein des Menschen sich abspielend. Es ist der Typus des unechten Menschen, dessen ganzes Wesen eine Täuschung ist, der unfähig ist, wahre Freude zu fühlen, echte Begeisterung, echte Liebe, bei dem sein ganzes Stellungnehmen den Charakter des Scheins, des bloßen "als ob" trägt; diese Menschen wollen nicht andere täuschen und überlisten, sie belügen auch nicht sich selbst, sondern sie bringen es zu keinem realen und wirklichen Kontakt mit der Welt, weil sie so in sich verhaftet sind, immer auf sich schielen und damit den Gehalt ihres Stellungnehmens aushöhlen. Ihr Fehler beruht nicht mehr in der Verdrehung des Seienden, in der Nichtbeantwortung der Würde desselben, sondern in einem generellen Egozentrismus, der ihrer Stellungnahme das innere Leben nimmt und ihr ganzes Sein zu einem Schein macht.
Es sind jene schattenhaften Menschen, deren ehrlich gemeintes Verhalten objektiv "unecht" ist, deren Freude und Trauer künstlich ist. Die Unwahrhaftigkeit liegt hier darin, dass all ihr Verhalten nicht wirklich vom Objekt motiviert ist, nicht an ihm sich entzündet, sondern künstlich gemacht ist, dass es mit der Prätention auftritt, wirklich dem Objekt zu gelten, in Wahrheit aber ein ausgehöhltes Scheingebilde ist. Diese Unechtheit kann in vielen Spielarten auftreten, sie kann vor allem von sehr verschieden großem Umfang sein. Sie ist dem affektierten Menschen eigen, dessen äußeres Gebaren zwar nicht geheuchelt, wohl aber unnatürlich, künstlich, unwahr ist. Sie ist dem suggestiblen Menschen eigen, dessen Ansichten und Überzeugungen ihm nur von anderen aufgenötigt sind, der nur nachredet, nachbehauptet, ohne wirklich von der Sache aus zu irgend etwas bestimmt zu werden. Sie ist dem Übertriebenen eigen, der sich in alles hineinsteigert, in seine Trauer, in seine Freude, in seine Liebe, in seinen Hass, in seine Begeisterung, der sie künstlich aufbauscht, weil er sich in diesen Haltungen genießt. Dieser Typus ist noch weniger böse als der sich selbst belügende, aber ein sittliches Leben kann auf dieser Grundlage nicht entstehen. Alles ist ja ungültig in ihm, das Gute wie das Böse, alles ist unwirklich, alles eine Phrase, ein Schein, ein Nichts. Auch diese substantielle Unwahrhaftigkeit ist zutiefst verschuldet, weil sie aus einer letzten Verweigerung der Hingabe an die Werte stammt, aus einer Hochmutsgrundhaltung. Der wirklich Wahrhaftige ist jedem der drei Typen von Unwahrhaftigkeit entgegengesetzt. Er ist echt, er belügt sich selbst nicht, und er belügt die anderen Menschen nicht. Aus der tiefen Ehrfurcht vor der Majestät des Seienden versteht er die Grundforderung des Wertes, der an allem Seienden haftet, es in seinem Bestand anzuerkennen, in seiner Aussage der Wahrheit zu entsprechen und nicht eine Welt des Scheins und der Nichtigkeit aufzubauen. Er trägt der metaphysischen Situation des Menschen Rechnung, die ihm keine Allmacht einräumt, so dass das Seiende seinen Wünschen nachgeben würde, wie ein bloßes Hirngespinst, d. h.: er trägt eben der Wahrheit Rechnung, nicht nur in Bezug auf die einzelnen Dinge und Tatbestände, die seinem Geist sich als Objekt darbieten, sondern auch in Bezug auf seine Stellung als Mensch innerhalb der Welt. Er versteht den Wert, der an der Wahrheit haftet, den Unwert der Lüge, des Falschen, die innere Auflehnung gegen die Welt der Werte, letzten Endes gegen Gott, den absolut Seienden, den Herrn alles Seienden, die in jeder Unwahrheit steckt. Er versteht die Verantwortung, die der Mensch als geistige Person gegenüber der Wahrheit trägt und die in der Möglichkeit, das Seiende in der Aussage abzubilden, liegt, die Feierlichkeit, die an jeder Behauptung haftet, weil man in ihr zum Zeugen für die Wahrheit aufgerufen wird. Der Wahrhaftige stellt die Forderung der Werte über alle subjektiven Wünsche, die ihm sein Egoismus, seine Bequemlichkeit eingeben. Er verabscheut daher alle Selbsttäuschung, er sieht den ganzen Unwert der feigen Flucht vor der objektiven Forderung der Wertewelt, ja er will sogar lieber die bitterste Wahrheit, als ein eingebildetes Glück. Die ganze Sinnlosigkeit aller Flucht in eine WeIt des Scheins liegt klar vor ihm, die ganze Nutzlosigkeit des Selbstbetrugs, die Ohnmacht dieses ganzen Tuns, die Gehaltlosigkeit und Nichtigkeit alles Unwahren. Und endlich ist der wahrhaftige, der mit dem Seienden klassisch verbundene Mensch, der Mensch, in dem alles Stellungnehmen und Verhalten echt und wirklich ist, der nicht ScheinsteIlungnahmen vollzieht, der das in ihm Vorhandene nicht aufputzt und aufbauscht, der nicht auf sich selbst und von der Sache weg schielt, die von ihm eine Antwort fordert. Es ist der schlichte, gerade, der sachliche Mensch im höchsten Sinn des Wortes; es ist der Mensch, der die echte Hingabe an die Werte in seiner Grundhaltung besitzt, der sich darum jenes Freisein von sich selbst und dem eigenen Hochmut bewahrt, das ihn nie dazu drängt, sich eine andere Stelle in der Welt anzumaßen, als sie ihm objektiv zusteht, und der seinen Erlebnissen keine andere Stelle in seiner Person einräumt oder ihnen einen anderen Charakter aufprägt, als sie in Wahrheit besitzen. Der Wahrhaftige kompensiert keine Minderwertigkeitsgefühle. Der Zusammenhang der Wahrhaftigkeit mit der Demut, der in dem Wort: "Demut ist Wahrheit" zum Ausdruck kommt, ist auch in umgekehrter Reihenfolge vorhanden. Wirklich wahrhaftig ist nur der Demütige. In jedem hochmütigen Etwas-anderes-sein-Wollen - natürlich nicht in dem Etwas-anderes-werden-Wollen innerhalb der prinzipiellen Grenzen des Menschen - liegt die Quelle aller Unechtheit und aller Unwahrhaftigkeit. Das letzte tiefste Ja zu der Wahrheit, zu dem Seienden, ist die Grundlage aller Echtheit und Wahrhaftigkeit. Das wird oft in der Richtung missverstanden, dass man den Pessimisten, den Skeptiker, den Menschen, der keine höhere Wirklichkeit anerkennt als die greifbare, den Fatalisten, der auf jedes veränderte Eingreifen in die Welt verzichtet, den an jedem Fortschritt und jeder Entwicklung Verzweifelnden als den speziell Wahrhaftigen ansieht. Das wäre ein volles Missverständnis. All diese Typen sind vielmehr auch in irgend einem Punkte unwahrhaftig. Sie sagen nur zu einem Teilausschnitt des Seienden Ja, nicht zu dem Seienden in seiner ganzen Fülle. Sie erkennen nicht die WeIt der Werte und ihre Forderungen, nicht die Verheißung auf Entwicklung, auf Veränderung, auf Erhöhung des eigenen Seins, die in dieser Forderung liegt, sie verkennen den Sinn des Menschen und der WeIt, der doch ebenso zum Seienden gehört wie der Stein, den wir liegen sehen, oder die Luft, die wir atmen. Sie sind darum zum mindesten nicht ganz wahrhaftig, weil sie das Ja nur zu der Oberfläche des Seienden und nicht zu der tieferen, eigentlichen Schicht desselben sagen. Nur muss die erstrebte Veränderung und Entwicklung eine im Sinne der eigenen Person und der Welt vorgegebene sein, d. h., sie muss eben auch wahr sein und nicht ein Sich-Aufblähen in Illusionen, oder ein Sich-Flüchten in Träumereien.
In dem besonderen Unwert der Lüge, dieser klassischen Vertretung der Unwahrheit, liegt ein Vielfaches. Erstens die Auflehnung gegen die Würde des Seienden als solchem, die ehrfurchtswidrige Anmaßung, die Ignorierung der elementaren Forderung, mit der Aussage dem Seienden zu entsprechen, der Missbrauch der Zeugenschaft für das Seiende, die uns in der Rede, im Wort anvertraut ist. Zweitens die Täuschung des anderen Menschen, die mit der Lüge verknüpft ist. Es liegt eine letzte Nichtachtung, ein Nichternstnehmen des Nebenmenschen darin, wenn man ihn täuscht. Es ist eine Ignorierung des Wertes, der, an jedem Menschen als geistiger Person haftet, ein Sich-hinweg-Setzen über die Würde des Menschen, über den Uranspruch, den jeder Mensch auf Wahrheit hat. Es ist vor allem eine tiefe Lieblosigkeit und ein Missbrauch des Vertrauens, das einem entgegengebracht wird. Das liegt in jeder absichtlichen Täuschung eines Menschen als solcher und in sich genommen; aber in ganz besonderem Maß in der Täuschung durch eine falsche Aussage, durch eine Lüge. Denn die Mitteilung erfolgt ihrer Form nach so ausdrücklich von Person zu Person, in ihr steht man dem anderen so ausdrücklich als "Du" gegenüber, sie appelliert so ausdrücklich an das Vertrauen des Menschen zum Menschen, dass die Lieblosigkeit und der Verrat an dem anderen hier noch viel greller und offenkundiger sind als bei der Täuschung durch eine missverständliche Rede, durch ein irreführendes Benehmen.
Nun gibt es Fälle, in denen die Täuschung als solche erlaubt, ja geboten sein kann. Erlaubt ist sie, wenn z. B. ein Verbrecher uns verfolgt und wir täuschen ihn irgendwie über unseren Aufenthaltsort. Geboten ist sie etwa, wenn wir jemand durch die Mitteilung der Wahrheit schwer körperlich oder seelisch schädigen würden. Sie ist dann keine Lieblosigkeit, im Gegenteil, eine liebevolle Rücksicht. Darum dürfen wir in gewissen Fällen den anderen täuschen, in anderen sollen wir ihn sogar täuschen. Aber auch dann nur durch Schweigen, durch missverständliche Ausdrücke, durch unser Benehmen, durch die Gestaltung einer ganzen Situation; aber nie durch eine Lüge. Denn der Unwert, den die Lüge aus dem ersten Grund besitzt, als Missbrauch der Zeugenschaft für die Wahrheit, als ehrfurchtswidrige Nichtachtung des Seienden in seiner Würde, ist so groß, dass keine Situation der Welt uns erlauben könnte, uns darüber hinwegzusetzen. Auch wenn die Rücksicht auf einen anderen Menschen eine Täuschung fordert, so muss man von der Täuschung absehen, falls sie sich nur durch eine Lüge durchführen ließe.
Die Wahrhaftigkeit ist wie Ehrfurcht, Beständigkeit oder Treue und Verantwortungsbewusstsein eine Grundlage des ganzen sittlichen Lebens. Sie trägt wie diese Tugenden einen hohen Wert in sich, ist aber wie diese auch unentbehrlich als Grundvoraussetzung der Persönlichkeit, in der die Fülle echter sittlicher Werte erblühen soll. Auf allen Lebensgebieten bestätigt sich dies. Die Wahrhaftigkeit ist die Grundlage alles echten Gemeinschaftslebens, jeder Beziehung von Mensch zu Mensch, jeder wahren Liebe, jeder Berufsarbeit, der echten Erkenntnis, der Selbsterziehung und der Beziehung des Menschen zu Gott. Ja, ein Grundelement der Wahrhaftigkeit ist in besonderer Weise auf den Urgrund alles Seins, auf Gott bezogen. Denn die Unwahrhaftigkeit bedeutet in ihrem letzten Kern ein Leugnen Gottes, ein Fliehen vor Gott. Eine Erziehung, die auf Wahrhaftigkeit und Echtheit nicht das höchste Gewicht legt, verurteilt sich von selbst.
V. Güte
Die Güte ist gleichsam das Herz des ganzen Reiches sittlicher Werte. Es ist kein Zufall, dass derselbe Ausdruck "gut", der sittlich wertvoll schlechtweg bedeutet, auch für die besondere sittliche Eigenschaft der Güte verwandt wird. Die Güte ist von allen sittlichen Werten die charakteristischste; in ihr kommt der allgemeine Charakter des Sittlichen am reinsten und typischsten zum Ausdruck. Sie ist das Kernstück aller Sittlichkeit und zugleich deren eigentliche Blüte. Ihre zentrale Bedeutung für die sittliche Sphäre ist darum ganz anderer Art wie die der bisher behandelten Grundhaltungen: Ehrfurcht, Treue, Verantwortungsbewusstsein und Wahrhaftigkeit. Denn diese waren, abgesehen von ihrem hohen sittlichen Eigenwert, ausgesprochene Voraussetzungen, Grundlagen des sittlichen Lebens. Die Güte ist nicht Voraussetzung, sondern Frucht des sittlichen Lebens. Aber nicht eine Frucht unter anderen, wie Sanftmut, Geduld, Freigebigkeit, sondern die Frucht der Früchte, dasjenige, worin die ganze Sittlichkeit in besonderer Weise "gipfelt", die Königin unter den Tugenden.
Was ist Güte? Wann sagen wir von einem Menschen, er strahle Güte aus? Wir sagen es, wenn jemand hilfsbereit, rücksichtsvoll, gerecht ist, wenn er bereit ist, Opfer für andere zu bringen, wenn er erlittenes Unrecht verzeiht, wenn er großmütig ist, wenn er mitleidsvoll ist. Alle diese Eigenschaften sind aber nur besondere Formen und Ausgestaltungen der Liebe. Dies weist uns auf den engen Zusammenhang von Güte und Liebe hin. Liebe ist gleichsam fließende Güte, und Güte ist der Hauch und Atem der Liebe. Wir haben am Anfang gesehen, dass das ganze sittliche Leben im Wertantworten besteht, in den sinnvollen Antworten auf den erfassten Wert, wie Begeisterung, Verehrung, Freude, Gehorsam, Liebe. Die Liebe ist nun von allen Wertantworten die vollständigste und tiefste. Zunächst muss man sich ganz klar machen, dass sie immer ausgesprochene Wertantwort ist. Wenn wir jemand lieben, sei es mit Freundesliebe, Eltern- oder Kindesliebe, sei es mit bräutlicher Liebe oder Nächstenliebe, immer muss der andere als ein in sich kostbares Gebilde vor einem stehen. Solange er nur als für uns angenehm, nützlich, vor uns steht, als gut brauchbar für unsere Zwecke, können wir ihn nicht lieben. Das bedeutet nicht, dass der Geliebte nicht Fehler haben könnte, die man deutlich sieht. Aber die Person im ganzen muss als eine werterfüllte, voll innerer Kostbarkeiten, vor uns stehen; ja die besondere Individualität, der einzigartige Gedanke Gottes, den, jeder Mensch darstellt, muss in seinem Zauber und seiner Schönheit vor uns sich entfalten, sollen wir ihn lieben könnenn. Liebe ist stets Wertantwort. In ihr antwortet der Mensch nicht nur mit irgend einem Gehalt, sondern mit der Hingabe seines Herzens, seiner selbst. In ihr geht der Mensch auf das Wertvolle mehr und mehr und tiefer ein als in irgend einer anderen Wertantwort, wie Verehrung oder Gehorsam. Er verweilt in der Liebe ganz anders bei dem Wertvollen. Die Liebe gilt im vollen und eigentlichen Sinn stets Personen, oder zum mindesten gleichsam als Person gefassten Gebilden. Es gibt Wertantworten, die sich auf Dinge, Sachverhalte, Ereignisse richten können, so gut wie auf Personen, z. B. Freude und Trauer, Begeisterung. Andere Wertantworten können wesenhaft nur Personen gelten, wie Verehrung, Dankbarkeit, Vertrauen, Gehorsam und Liebe. Es sind fremdpersonale Stellungnahmen. Der Gehalt, mit dem die Liebe auf die fremde Person antwortet, weist zwei Grundelemente auf. Die Bejahung des Geliebten, die hingebende Antwort auf seine innere Schönheit, besteht einerseits in der Sehnsucht nach Teilnahme an ihm, an seinem Wesen, nach einer Vereinigung mit ihm und andererseits in dem Beschenken und Beglücken-Wollen des anderen.
In der Liebe eilt man geistig dem anderen entgegen, um bei ihm zu weilen und an ihm teilzuhaben, andererseits bedeckt man ihn mit einem "Mantel" der Güte, umhegt und pflegt man ihn geistig. Jede Liebe, wenn sie den Namen Liebe verdienen soll, enthält diese beiden Elemente, wenn auch je nach der Art der Liebe in ungleicher Betonung.
Das zweite Element, dieses letzte Interesse an dem Wachstum und der Blüte des Geliebten, an seiner Vervollkommnung und seinem Glück, letzten Endes an seinem Heil, jenes "Einhüllen" in Liebe, ist geradezu, wie wir schon sagten, "fließende Güte". Hier finden wir das, was Güte ist, in seiner reinsten Ausgestaltung. In der Güte liegt nun immer eine besondere Wert-Antwort-Einstellung zu fremden Personen, allenfalls zu niederen Analogien von Personen und Subjekten, wie Tieren, im Unterschied von der Wahrhaftigkeit, die auf das Seiende als solches antwortet. Wir sagen Wertantwort-Einstellung zu den Personen überhaupt, denn die Güte eines Menschen beschränkt sich nicht auf die gütige Einstellung zu einem besonderen Menschen, den man liebt. Wenn wir jemand als gütig bezeichnen, so meinen wir, dass er dauernd in dieser liebevollen Geöffnetheit sich befindet, dass seine Einstellung zu jedem Menschen apriori jene liebende, beschenkende ist. Denn die Güte ist ja wie alle Tugenden nicht auf ein einzelnes aktuelles Verhalten beschränkt, sondern sie ist eine Eigenschaft des Menschen, ein Bestandteil seines dauernden Seins, eine Grundeinstellung oder Grundhaltung. Es gibt drei Menschtypen, die einen spezifischen Gegensatz zu dem Gütigen bilden: der Gleichgültige oder Kühle, der Hartherzige, der Böse. Der Böse ist der wertfeindliche Mensch. Der Mensch, in dem die hochmütige Grundhaltung herrschend ist, der in ohnmächtiger Auflehnung gegen die Wertewelt lebt. Er geht nicht nur stumpf an ihr vorbei, wie der Begierliche, sondern er rennt gegen sie an, er möchte gleichsam Gott entthronen, er hasst die Welt des Guten und Schönen, die Welt des Lichtes wie Alberich im Nibelungenring von Richard Wagner. Er ist voller Neid und Ressentiment gegen die Welt der Werte und gegen jeden guten und glücklichen Menschen. Es ist der Mensch, der von Hass sich nährt, wie Kain. Sein Verhalten zu anderen Menschen ist nicht nur rücksichtslos, sondern ausdrücklich feindlich; es will den Nebenmenschen treffen, ihn mit dem Gift seines Hasses verwunden. Dabei denke ich nicht an den Typus des Menschenfeindes, der aus Enttäuschungen heraus mit der Menschheit und jedem einzelnen zerfallen ist, der sich mehr abwendet von den Menschen als gegen sie - ein mehr Tragischer als Böser -, sondern an den Boshaften, der sein Gift überallhin verspritzen möchte wie Jago in Shakespeares Othello, oder Pizzarro in Beethovens Fidelio. Eine besondere Spielart dieses Typus ist auch der spezifisch Grausame, der die Leiden anderer genießt. Anstelle der harmonischen Helle des Gütigen steht hier finstere Zerrissenheit, anstelle des warmen, Glück und Leben spendenden Strahles der Liebe ätzender, zerstörenwollender Hass, anstelle der klaren, freien Bejahung verneinendes Suchen des Nichts, ein Sich-hinein-Bohren in die verneinende Verkrampfung.
Ein Gegenbild des Gütigen ist auch der Hartherzige. Es ist der harte, kalte Mensch, den kein Mitleid rührt, dessen Ohren taub sind für alle Bitten, der rücksichtslos über Leichen geht, für den die Menschen nur Figuren auf dem Schachbrett seiner Pläne darstellen. Er ist nicht ausdrücklich gegen die anderen Menschen, aber völlig hart und lieblos, er trägt in keiner Weise dem Wesen anderer Menschen als geistigen Personen Rechnung, als fühlenden, verwundbaren Gebilden; er ignoriert ihre Rechte und Ansprüche als Subjekte, er behandelt sie wie Sachen, Er stellt eine klassische Art des reinen Egoisten dar. Denken wir an gewisse Sklavenhändler oder an den Landvogt Geßler in Schillers Wilhelm Tell, oder an Sulla. Anstelle der inneren gelösten Freiheit des Gütigen steht hier die innere Verkrampfung und Verhärtung, anstelle der Geöffnetheit und Erschlossenheit gegenüber dem Nebenmenschen die undurchdringliche Zugeschlossenheit, anstelle der Antwort auf den Wert seines Glückes, den Unwert seines Leidens, die Verweigerung, dieser Antwort, anstelle der Solidarität mit anderen - der Fähigkeit, aus sich herauszutreten, mit anderen sich zu freuen und zu leiden - das völlige Verfangensein in sich selbst, der eisige, brutale Blick, der über andere hinwegsieht. Anstelle der sieghaften selbstlosen Überlegenheit dessen, der allen dienstbar ist, der nie das Seinige sucht, steht die Inferiorität des brutalen Herrenmenschen und anstelle der großmütigen Verzeihung erlittenen Unrechts unerbittliche Rache.
Zu dem Gütigen bildet endlich der Kühle, Gleichgültige, einen Gegensatz. Es ist der Mensch, der ahnungslos an den Nebenmenschen vorbeigeht, der bequeme, in seinen Genüssen aufgehende Mensch, ebenfalls ein typischer Egoist, nur all derer Färbung als der Hartherzige. Er ist nicht feindlich gegen andere, auch nicht von brutaler, unerbittlicher Härte, sondern von neutraler Gleichgültigkeit gegen den Nebenmenschen erfüllt. Er ist vielleicht empfindlich gegen schreckliche Anblicke, er empfindet Ekel und Grauen vor Krankheiten, er kann kein Blut fließen sehen, aber das ist nur eine Nervenreaktion gegen das ästhetisch Abstoßende. Denn er flieht den furchtbaren Anblick und sucht angenehme Bilder auf, während der Gütige helfend beispringt. Andererseits ist dieser Typus noch viel kühler als der Hartherzige. Der Hartherzige ist zwar von eisiger Kälte, er kennt keine Stimme des Herzens, er ist "herzlos", aber er kennt das Feuer der Härte, den kalten Brand der Rachsucht, des Zornes. Er ist nicht indifferent. Er ist nicht unverletzlich. Er kennt das harte Gereizt-werden durch Beleidigungen, durch Demütigungen, aber keine Verwundung des Herzens durch Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit, vor allem nicht durch fremdes Leid oder objektive Unwerte. Der Gleichgültige hingegen hat nicht die Härte und Brutalität des Hartherzigen, aber er ist nicht einmal durch Beleidigungen zu treffen; nur das Unangenehme und Unbequeme ist ihm lästig. Er ist kein Herrenmensch wie der Hartherzige, er kann sogar Ästhet sein. Aber er kommt gar nicht dazu, sich in fremde Menschen einzufühlen, weil er zu viel beschäftigt ist mit seinen Angelegenheiten. Er ist nicht nur egoistisch, er ist vor allem auch egozentrisch, d. h. mit seinen eigenen Gefühlen und Stimmungen beschäftigt, mit seinem Blick auf sich selbst konzentriert. Die ganze Welt ist nur für seine Befriedigung da. Er ist darum tiefer innerer Bewegung nicht fähig, alles lässt ihn im Grunde und in der Tiefe gleichgültig. Anstelle der Wärme und Glut des Gütigen herrscht hier öde Neutralität, kühle Gleichgültigkeit, anstelle inneren Reichtums und innerer Fruchtbarkeit stehen hier sterile Dürftigkeit, unfruchtbare Leere; anstelle der Wachheit und Erschlossenheit des Gütigen stumpfe Beschränktheit und WertbIindheit; anstelle der weltumspannenden Weite des Gütigen bornierte Enge.
So sehen wir, welche Wesenszüge die Güte aufweist. Harmonische Helle, innere Freiheit und Gelöstheit, sieghafte Überlegenheit der Liebe, die das Geheimnis der freiwilligen Dienstbarkeit ist, Geöffnetheit für das Leben anderer Menschen, Wärme, Glut, Sanftheit und Milde, weItumspannende Weite, Wachheit und Wertsichtigkeit. Es gilt vor allem zu sehen, wie die Güte in ihrer Weichheit und Milde zugleich die höchste Kraft darstellt. Im Vergleich zu ihrer sieghaften Kraft, zu dieser überlegenen Sicherheit und Freiheit, ist alle Kraft des Herrenmenschen jämmerliche Schwäche und kindisches Getue. Man verwechsle die Güte ja nicht mit schwacher, Widerstandsloser Nachgiebigkeit. Der wahrhaft Gütige kann unerbittlich sein, wenn man versucht, ihn von dem rechten Weg abzubringen und wenn das Heil des Nächsten gebieterisch Strenge verlangt. Er ist von unerschütterlicher Widerstandskraft gegen alle Verlockungen und Versuchungen. Ebenso wenig darf man die Güte mit Gutmütigkeit verwechseln. Der Gutmütige ist harmlos, friedfertig aus einer gewissen Trägheit und Verschlafenheit heraus, er lässt sich missbrauchen, ohne es zu merken. Sein liebenswürdiges Verhalten entspringt einer ganz unbewussten Naturrichtung. Die Güte fließt hingegen aus der bewussten Wertantwort der Liebe; sie ist glutvolle Wachheit und nicht harmlose Trägheit. Sie ist intensivstes sittliches Leben, nicht verschlafene Ahnungslosigkeit, sie ist Kraft und nicht Schwäche. Der Gütige lässt sich nicht missbrauchen zum Dienst aus Mangel an Widerstandskraft, sondern er dient freiwillig, demütigt sich freiwillig.
In der Güte steckt ein Licht, das dem Gütigen auch eine spezifische intellektuelle Würde verleiht. Der wahrhaft Gütige ist nie dumm und beschränkt, mag er geistig noch so ungelenk sein und für intellektuelle Tätigkeiten unbegabt. Der Ungütige - in welcher Spielart er auch auftreten mag - ist in einem letzten Grunde stets beschränkt, ja dumm, und wenn er auch geniale Leistungen aufzuweisen hat auf intellektuellem Gebiet. Die Güte, dieser Atem und Hauch der Liebe, ist die Seele alles wahrhaft sittlichen Lebens, ja alles wahren Lebens der Seele. Wenn die anderen sittlichen Grundhaltungen, wie Ehrfurcht, Treue, Verantwortungsbewusstsein und Wahrhaftigkeit auf die Welt der Werte im ganzen antworten, so ist die Güte in besonderer Weise der Abglanz der ganzen Wertewelt in der Person, ein Sprechen mit ihrer Stimme und in ihrem Namen.
Von der Güte gilt auch, was von der Liebe gesagt wurde: "Wer nicht liebt, der bleibt im Tod." Sie hebt in ihrer geheimnisvollen Kraft die Welt aus den Angeln; sie trägt das Zeichen des Sieges über alle Bosheit und Unordnung, über allen Hass und alle Stumpfheit auf der Stirne.
Heiligkeit und Tüchtigkeit. Tugend heute
Quelle: Dietrich von Hildebrand: Heiligkeit und Tüchtigkeit. Tugend heute, Die Übertragung von Heiligkeit und Tüchtigkeit (Efficiency and holiness) aus dem Amerikanischen besorgte Karla Mertens. Verlag Josef Habbel Regensburg 1969 (105 Seiten, Kirchliche Druckgenehmigung Nr. Exp. 2665 W. Hofmann Generalvikar). Die meist nur nummerierten Überschriften, wurden bei der Digitalisierung bearbeitet.
I. Personal und apersonal
Der moderne Anti-personalismus stempelt den Menschen zum Instrument und misst Bedeutung und Wert der einzelnen Person an ihrer Nützlichkeit hinsichtlich apersonaler Güter. Er bekundet sich nicht nur in der Idolisierung des Staates, der Nation, der Rasse, der Klasse, sondern ebenso in der Überbewertung der Berufsarbeit und aller Arten von Tüchtigkeit. Heute tritt uns eine Häresie der Tüchtigkeit entgegen, die im Widerspruch zu der Berufung und Bestimmung des Menschen steht und sogar die natürliche Fülle eines vollmenschlichen Lebens zu zersetzen droht.
Drei verschiedene Formen dieser Häresie lassen sich feststellen. Sie alle kommen in unserer Zeit vor.
Die erste macht aus dem Menschen ein bloßes Mittel zur Erzeugung apersonaler Güter. Sie zeigt sich in jeder erbarmungslosen kapitalistischen Ausbeutung, für die der Mensch keine Bedeutung als Person, sondern nur als Werkzeug zur Herstellung anderer Güter hat. Diese Häresie erreicht ihren Höhepunkt in der kommunistischen Einstellung zum Menschen. Sobald er nicht mehr nützlich und in diesem Sinn tüchtig ist, wird er wie ein unbrauchbares Werkzeug abgetan.
Der zweite Typ besteht in einer Idolisierung der großen Errungenschaften auf künstlerischem, wissenschaftlichem, technischem Gebiet oder sogar in Film und Sport. In diesem etwas höheren Sinne wird Tüchtigkeit hier als der größte Wert des Menschen, als seine primäre Berufung angesehen. Sein Schwergewicht hat sich von seinem sittlichen Zentrum, von dem, was er als Person ist, auf das, was er leistet, verlagert.
Der dritte Typ zeigt sich in einer Idolisierung der Arbeit und besonders der Berufsarbeit (1). Hier wirkt das kalvinistische und puritanische Erbe fort, das den ernsten Teil des Lebens mit Arbeit gleichsetzt und eine ausschließliche Alternative zwischen Arbeit oder Vergnügen, Entspannung oder Erholung aufstellt (2). Arbeit und Tüchtigkeit im Beruf sind zu einer Art causa exemplaris für alles geworden, das nicht reine Erholung, Unterhaltung oder Sport ist. Der Rhythmus der Berufsarbeit wird zum Grundmuster alles Ernstzunehmenden.
Wir können in diesem Rahmen keine eingehende Widerlegung des ersten Irrtums geben. In seiner Verkennung der unvergleichlichen ontologischen Überlegenheit des Menschen über die apersonalen Geschöpfe, ist er der innerste Kern des modernen Antipersonalismus in dessen verschiedensten Formen. Er ist das Ergebnis der fortschreitenden Erblindung für das Wesen der Person und folgt notwendig aus dem Versuch, den Menschen von Gott zu trennen.
Sobald wir ohne Vorurteil des ungeheuren Unterschiedes zwischen einem personalen und einem apersonalen Seienden innewerden, können wir gar nicht umhin, den unvergleichbaren ontologischen Wert des Menschen als Person zu erfassen. Der Mensch allein ist Gottes Ebenbild, alles apersonale Seiende ist nur eine Spur Gottes. Es gilt, die neue Dimension des Personseins zu verstehen: eines Seienden, das sich selbst besitzt, begabt mit der Fähigkeit des Erkennens und des freien Willens, ein erwachtes Seiendes, mit dem verglichen jedes apersonale Wirkliche "schläft". Dann begreifen wir auch, dass sein ontologischer Wert höher steht als der jedes nichtpersonalen Seienden. Niemals darf man im Menschen ein Mittel zur Gewinnung apersonaler Güter sehen. Immer ist seine Seele unvergleichlich bedeutungsvoller als irgend etwas Nichtpersonales. Diese Würde des Menschen gegenüber dem Antipersonalismus zu verteidigen ist das große Thema in dem Kampf, der unsere Gegenwartswelt in zwei Lager spaltet.
Eingehender müssen wir uns mit dem zweiten Irrtum befassen: dem Kult der großen Leistung und dem Vorrang der Leistung vor der Persönlichkeit. Der fortschreitende Prozess der Säkularisierung, der mit der Renaissance begann, hat in vielen Menschen den Sinn für das wahre Ziel und die Bestimmung der menschlichen Person zerstört. Bei ihnen hat sich das Schwergewicht vom Sein des Menschen auf seine Leistungen verschoben. Diesen Maßstab legt man nicht nur an andere, sondern auch an sich selbst an. Man hält sich für soviel wert, als man imstande ist, große Dinge in seinem Beruf zu tun. Für diesen Typus des modernen Menschen ist das Zielbild " Tüchtigkeit" an die Stelle des Ideals der Heiligkeit getreten.
Die Geisteshaltung einer Epoche ist durch die Gestalten charakterisiert, die in ihr Gegenstand der allgemeinen öffentlichen Bewunderung sind. Im Mittelalter waren die Namen der Heiligen in aller Munde; in der Renaissance war es der eines Genies. Seither wurden beide allmählich durch Namen von Technikern und Erfindern abgelöst. Im achtzehnten Jahrhundert wurde das Pantheon in Paris aus einer zu Ehren der hl. Genoveva erbauten Kirche in eine Gedenkstätte für große Männer verwandelt, d. h. solcher, die ihrer Leistung wegen berühmt wurden: Sozialreformer, Staatsmänner, Wissenschaftler, Künstler, Erfinder. Sie erschienen jener Epoche größer als die Heiligen, denen frühere Zeiten diese Kirche weihten, verehrungswürdiger als Christus, für dessen göttliche Opferfeier diese Kirche errichtet wurde. Heute droht die Bewunderung bedeutender Taten zu einer Glorifizierung erfolgreicher Geschäftsleute, Athleten, Sportler und Filmschauspieler zu entarten. Hier zeigt sich das allgemeine Schicksal eines jeden Idols. Sobald ein geschaffenes Gut absolut gesetzt und vergottet wird, geht der Sinn für seinen wahren Wert fortschreitend verloren; er verfällt unweigerlich mehr und mehr.
Das Unterfangen, den Menschen zum Mittelpunkt der Welt zu machen, hat zu einer zunehmenden Erblindung für das eigentliche Wesen seiner Würde geführt. Man wollte ihn zu einem Gott machen und schließlich wurde aus ihm ein hochentwickelter Primate. Die Idolisierung der großen Leistungen erleidet dasselbe Schicksal.
II. Berufung zur Heiligkeit
Angesichts des Kultes der großen Taten ist es dringend geboten, sich auf die primäre Berufung des Menschen zu besinnen. So weit auch der Bereich der Werte ist, die der Mensch zu verwirklichen vermag, die sittlichen Werte nehmen dennoch eine einzigartige Stellung in seinem Leben ein. Sie allein sind unerlässlich für jedes menschliche Wesen, welcher Art auch seine besonderen Gaben und Talente seien (3). Sie allein gehören zum unum necessarium, zum "einen, das not tut" (Lk 10, 42).
Der Mensch ist vor allem gerufen, Gott durch seine Gerechtigkeit, seine Reinheit, seine Wahrhaftigkeit und Güte zu verherrlichen. "Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." (Mt 5, 28) Sittliche Unwerte sind ein mit nichts vergleichbares Übel, nur sie beleidigen Gott. Sittliche Gutheit spiegelt Gott wieder und verherrlicht Ihn mehr als irgendeine Leistung.
Doch der Mensch soll nicht nur natürliche sittliche Werte verkörpern. Seine wahre Berufung ist die Heiligkeit, die Gottähnlichkeit, die volle Entfaltung des in der Taufe empfangenen göttlichen Lebens. Seine höchste Bestimmung ist die Umgestaltung in Christus. Darin ist nicht nur eingeschlossen, dass er dem natürlichen Sittengesetz entspreche, sondern unvergleichlich höhere, übernatürliche Tugenden verkörpere, d. h. heilig werde.
Verglichen mit dieser Berufung sind die edelsten Begabungen, das Schaffen der höchsten apersonalen Güter nur zweitrangig. Fortschreitende Beherrschung der Natur, Erfindungen, große wissenschaftliche Leistungen, kulturelle Betätigungen, selbst künstlerische Meisterwerke, so bedeutend sie alle in sich sind, so sehr sie die Größe des Menschen bezeugen, sie machen nicht seine Erstberufung aus. Kein Vorzug in diesen Bereichen lässt sich überhaupt mit dem Wert vergleichen, den ein Heiliger verkörpert. Die Grundfrage für den Menschen ist nicht, ob er geeignet sei, apersonale Güter hervorzubringen, sondern was er ist, welche persönlichen Werte er verwirklicht, also seine Tugend, seine Heiligkeit. Vor allem aber ist zu fragen, wie weit Christus in ihm aufleuchtet, wie weit er sagen kann: "Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir" (GaI 2, 20). Letzthin zählt, was ein Mensch als Persönlichkeit ist, und nicht, was er für Wissenschaft, Kunst, Kultur, Politik, Technik, Wirtschaft oder für sein Land geleistet hat. Die Persönlichkeit als solche ist in den Augen Gottes wichtiger als alle apersonalen Güter, die zu schaffen sie fähig und gerufen ist.
In der Ewigkeit wird der Mensch nicht nach seiner Tüchtigkeit gerichtet werden. Es ist hohe Zeit, sich klarzumachen, dass die letztlich entscheidende Wirklichkeit nicht in irgendeinem weitreichenden Aktionsradius, nicht in noch so großen Leistungen besteht, die in eine breite Öffentlichkeit dringen. Diese, die volle Wirklichkeit liegt in den Person-Werten, über allem im Übereinstimmen des menschlichen Willens mit dem göttlichen Willen, in der freien, ungehemmten Entfaltung des göttlichen Lebens, in der Umgestaltung in Christus.
Doch hier gilt es, ein merkwürdiges Paradoxon zu erfassen: Obgleich die menschliche Person eine unbestreitbare Überlegenheit gegenüber allen "objektiven Leistungen" besitzt, gehört es anderseits zu ihrem Wesen, nicht auf sich selbst, sondern auf objektive Werte gerichtet zu sein und auf sie zu antworten. Gerade in dieser Hingabe an objektive Werte konstituieren sich die qualitativen Grundwerte des Personseins. Diese bei den, sich scheinbar widersprechenden Wahrheiten finden ihren sublimen Ausdruck in bestimmten Stellen des Evangeliums. Der Satz: "Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber dabei seine Seele verliert" (Mt 26, 26), offenbart deutlich den Primat der in der Person verkörperten Werte vor allen objektiven Leistungen, die sie in der apersonalen Welt hervorbringen kann. Die Worte Christi: "Wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden" (Mt 16, 25), zeigen klar, dass es zum Wesen der Person gehört, sich hinzugeben, sich Gott hinzugeben.
Aber diese Selbsthingabe bedeutet nicht in erster Linie eine volle Zuwendung zu unserer Berufsarbeit oder zur Erzeugung apersonaler Güter. Die sittlichen Werte der Person entstehen vielmehr in der freien Antwort auf Gott und auf die sittlich bedeutsamen Güter. Nur wenn der Mensch Christi Geboten gehorcht, wenn er Gott und den Nächsten liebt, Christus liebend nachfolgt, kann er in Christus umgestaltet werden und seine erste Berufung erfüllen. Diese Hingabe ist der einzige Weg zur Heiligkeit.
III. Drei Hauptkategorien von Berufsarbeit
Bevor wir weitergehen, müssen wir drei Hauptkategorien von Berufsarbeit unterscheiden: Die erste enthält alle Berufe, die auf ein notwendiges oder nützliches Gut gerichtet sind, z. B. den des Zimmermanns, Schuhmachers oder Fabrikarbeiters. Hierher gehören auch die Berufe, die sich mit den für Kinder so wichtigen Spielsachen, oder vorwiegend subjektiv befriedigenden Gütern wie Süßwaren, Spirituosen beschäftigen. Die meisten Berufe: Arbeiter, Handwerker, Angestellte aller Art gehören zu dieser Gruppe.
Die zweite Kategorie umfasst Berufe, die sich Gütern von hohem Wert widmen. Hier hat die Arbeit des Künstlers, Dichters, Musikers, Philosophen, des Wissenschaftlers, Staatsmannes, Arztes, Lehrers und Erziehers ihren Platz.
Während die erste Kategorie ihre Würde und ihren Ernst besitzt, sofern sie Arbeit ist, wächst Würde und Ernst der zweiten vorwiegend aus den hohen Werten, um die es in ihr geht.
Die dritte Kategorie ist im Grunde kein bloßer Beruf, sondern eine besondere Berufung.
Wir meinen die Tätigkeit des Priesters, des Missionars, des Bischofs, die im Weinberg des Herrn wirken.
Nun hat jeder Beruf zugleich ein spezifisch menschliches Element: z. B. die Haltung des Geschäftsmannes zu seinen Kunden und Angestellten, die des Journalisten zur Wahrheitsvermittlung, des Arbeiters zu seinem Kollegen und zu seinem Arbeitgeber. Dieses Element ist, weil es unsere Beziehung zu anderen Personen betrifft, offensichtlich für unsere Heiligung bedeutungsvoll. Jeder Beruf hat freilich zugleich ein ausschließlich von seinem besonderen Zweck bestimmtes Element. Die vollendete Ausübung beruflicher Tätigkeit wird an den immanenten Gesetzen ihres Zieles gemessen. Wir nennen einen Geschäftsmann erfolgreich, wenn sein Unternehmen blüht, d. h. wenn er versteht, Geld zu verdienen. Wir sagen, ein Arzt sei gut, wenn sich seine Diagnose als richtig herausstellt und er eine Krankheit zu heilen weiß. Gewiss ist es wünschenswert, dass jemand ein Meister in seinem Fach sei. Doch gilt es einzusehen: Mag er auch ein großer Dichter, ein hervorragender Erfinder, ein ausgezeichneter Ingenieur, ein glänzender Naturwissenschaftler sein, so erfüllt er damit noch keineswegs die Berufung Christi, der zu ihm spricht: Folge mir nach!
Noch abgesehen von dem menschlichen Element in der Berufsarbeit verlangt sie zu ihrer Vollendung nicht nur Geschicklichkeit, Talent und Intelligenz, sondern auch gewisse sittliche Qualitäten. Ausdauer, Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein sind unentbehrliche Erfordernisse für jeden Grad von Tüchtigkeit. Dieser hängt eindeutig von dem Maß ab, in dem diese Qualitäten gegeben sind. Ihr völliges Fehlen würde jede berufliche Tätigkeit verhindern.
Diese sittlichen Voraussetzungen sind allen Arten von Arbeit gemeinsam und gehören zum Wesen der Tüchtigkeit überhaupt. Berufe der zweiten Kategorie erfordern zu ihrem Vollzug hingegen noch andere und höhere sittliche Qualitäten. So bedarf ein bedeutender Philosoph besonderer sittlicher Eigenschaften.
Ein großer Künstler muss ein künstlerisches Gewissen haben. Weder das Verlangen, mehr Geld zu verdienen, noch der Ehrgeiz, berühmter zu werden, noch irgendein anderes Motiv sollte ihn verleiten, das innere Gebot echter künstlerischer Schönheit zu verraten. Er muss einer unbestechlichen Hingabe an die künstlerische Schönheit fähig sein. Ebenso sollte er sich bewusst bleiben, dass er für die Entfaltung der ihm anvertrauten Begabung verantwortlich ist. Ein wahrer Philosoph bedarf eines unerschütterlichen Verlangens nach der Wahrheit, der Demut, seine eigenen Grenzen anzuerkennen, der Bereitschaft, seine gedanklichen Konstruktionen in demselben Augenblick aufzugeben, in dem die Wirklichkeit es erheischt, und jener Ehrfurcht, die ihn befähigt, der Stimme des Seienden zu lauschen. Hier sind also hohe sittliche Werte erforderlich, damit die Berufsarbeit vollendet getan werde.
Es gibt jedoch noch eine andere Verbindung zwischen beiden, nämlich überall da, wo die Berufsaufgaben einen direkten Dienst an anderen Menschen darstellen. Unterricht und Krankenpflege haben z. B. einen spezifisch menschlich und sittlich bedeutsamen Charakter. Liebe und Geduld des Lehrers gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen einer erfolgreichen und guten Erziehung (4). Abgesehen von der Intelligenz und dem Verständnis für die Seele des Kindes sind Liebe und Geduld ebenso wie Festigkeit und Gerechtigkeit unerlässlich für einen vorzüglichen Erzieher.
Eine gute Krankenpflegerin bedarf ausser ihrer medizinischen Schulung, Klugheit, Geschicklichkeit und Fachkenntnis notwendig des beständigen Bemühens um Liebe und Geduld, eines unbesieglichen Opfergeistes und immer bereiter Sanftmut und Festigkeit (5). In ähnlicher Weise, doch nicht im gleichen Ausmaß, gehören bestimmte sittliche Qualitäten zu einem vortrefflichen Arzt.
Die dritte Kategorie, d. h. die Arbeit im Weinberg des Herrn, kann nur in Heiligkeit vollkommen getan werden. Im Bereich dieser sakralen Tätigkeiten ist kein Raum für bloße Tüchtigkeit, auch nicht im höchsten Sinn dieses Wortes.
Offenbar schließt die perfekte Berufsausübung in der ersten Kategorie und die größte Tüchtigkeit im Berufsleben keineswegs die Erfüllung der primären menschlichen Berufung ein. Einmal gewährleisten die sittlichen Voraussetzungen jeglicher Tüchtigkeit Fleiß, Genauigkeit, Verantwortungsbewusstsein durchaus nicht das Vorhandensein höherer sittlicher Werte, wie Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und vor allem nicht die Früchte des heiligen Geistes, wie Demut und Liebe. Anderseits garantieren diese sittlichen Erfordernisse allein noch keine berufliche Vollkommenheit. Darum kann man heilig werden und doch völlig untüchtig im Beruf sein. Der Jünger des hl. Franziskus, Bruder Juniperus, war ein Heiliger, obwohl er ein miserabler Koch blieb.
Selbst in der zweiten Kategorie von Berufen, deren Ziel hohe Werte sind - etwa bei Künstlern, Philosophen oder Staatsmännern - schließt die berufliche Vollkommenheit noch keineswegs eine Erfüllung der ersten Berufung des Menschen ein. Obgleich hier ausser den allgemeinen sittlichen Erfordernissen für die Tüchtigkeit, wie gesagt, noch andere sittliche Qualitäten vorausgesetzt werden, sind auch diese noch weit entfernt von der Heiligkeit. Auch in der zweiten Kategorie werden die Menschen nicht wegen ihrer beruflichen Vortrefflichkeit zu Heiligen. War ein Heiliger zugleich auch in seinem Beruf bedeutend, so wird er nicht aus diesem Grunde heilig, sondern weil er, abgesehen von seiner beruflichen Vollendung, Gott über alles liebte und seinen Nächsten wie sich selbst. Nicht weil sie große Philosophen waren, wurden Augustinus, Thomas von Aquin, Bonaventura Heilige, sondern weil sie heroische Tugenden besaßen. Die hl. Jeanne d' Arc wurde nicht wegen ihrer großen Erfolge als Heerführerin kanonisiert, sondern weil sie in Christus umgestaltet war.
Selbst die vortreffliche Ausübung jener sakralen Berufe, die man besser Berufungen nennen sollte, ist nicht gleichbedeutend mit der Erfüllung unserer Erstberufung. Obschon man sagen darf, dass die Heiligkeit zum vollkommenen Vollzug der besonderen Berufung unerlässlich vorausgesetzt wird, also ein idealer Papst notwendig ein Heiliger ist, kann es doch geschehen, dass Heiligkeit die vollendete Erfüllung dieser besonderen Berufungen nicht verbürgt. So war der hl. Petrus Coelestinus kein fähiger Papst und dankte freiwillig ab. Bekanntlich versetzte ihn Dante in seiner Divina Commedia in die Hölle, doch die Kirche sprach ihn heilig.
IV. Häresie der Tüchtigkeit: Leistung statt Person
Die Überbewertung der Berufsarbeit lässt sich auf einen anderen Irrtum allgemeiner Art zurückführen: nämlich die Überbetonung der mehr oder weniger spezialisierten Aufgabe, die jeder Mensch durch seine besondere Begabung, seine Stellung in der Welt zu erfüllen hat. Es besteht heute eine Tendenz, Unterschiede zu stark hervorzuheben. Wir stellen z. B. die Verschiedenheiten der religiösen Orden und die charakteristischen Formen eines jeden heraus. Wir vergleichen die Frömmigkeit eines Zeitalters mit der eines anderen, wir betonen die individuelle Ausprägung jedes Heiligen. Und dabei verlieren wir sehr leicht aus dem Auge, was allen religiösen Orden, was der wahren Frömmigkeit jedes Zeitalters, und vor allem allen Heiligen wesenhaft gemeinsam ist. Ebenso übertreiben wir die Verschiedenheit der Aufgaben, die uns die unterschiedlichen Begabungen stellen. Wir geraten in Gefahr, zu meinen, jeder einzelne sei zuerst verpflichtet, eine bestimmte Funktion im Ganzen auszufüllen. Wir grenzen die spezifisch männlichen Tätigkeiten von den spezifisch weiblichen ab. Und beständig neigen wir dazu, die eine große Aufgabe zu übersehen, die jeder Spezialisierung vorausgeht und sich hoch über sie erhebt, die der erste primäre Ruf an jeden Menschen als Mensch ist: Seine persönliche Heiligung, seine Umgestaltung in Christus, sein Ausstrahlen Christi. Dieses wird in seinem zentralen Punkt nicht von der besonderen Stellung geprägt, die der einzelne in der Welt einnimmt.
Der bedeutende französische Philosoph Gabriel Marcel hat die Gefahr der Instrumentalisierung und Entpersonalisierung des Menschen in der folgenden düsteren Stelle beschrieben.
"Wenn ich mit der Untergrundbahn fahre, frage ich mich oft, fast furchtsam, welches die innere Wirklichkeit des Lebens dieses oder jenes Bahnangestellten sein kann - des Mannes, der die Türen öffnet z. B., oder der die Fahrkarten locht. Sicherlich kommt alles innerlich und äußerlich - zusammen, um diesen Mann mit seinen Funktionen als Arbeiter, als Gewerkschaftsmitglied oder als Wähler zu identifizieren - aber ebenso auch mit seinen Lebensfunktionen. Der eigentlich schreckliche Ausdruck" time table" beschreibt sein Leben vollkommen. So und so viele Stunden für jede Funktion. Auch der Schlaf ist eine Funktion, die erledigt werden muss, damit die anderen Tätigkeiten ihrerseits ausgeübt werden können. Dasselbe gilt von Vergnügen und Erholung. Es ist logisch, dass die wöchentliche Freizeit eine psycho-organische Funktion hat, die nicht weniger vernachlässigt werden darf als die Funktion des Sexuellen. Wir brauchen nicht weiter zu gehen; diese Skizze genügt, um das Emporkommen einer Art von Lebensfahrplan anzudeuten; die Details werden je nach Land, Klima, Bedarf etc. verschieden sein - wichtig ist, dass es hier einen Fahrplan gibt.
Es ist wahr, dass gewisse ungeordnete Faktoren Krankheit, Unfälle jeder Art - den glatten Gang des Systems hemmen. Deshalb ist es natürlich, dass das Individium in regelmäßigen Abständen wie eine Uhr überprüft wird (was in Amerika oft getan wird). Das Krankenhaus spielt dabei die Rolle des Prüfstandes oder der Reparaturwerkstatt. Und von diesem selben Standpunkt der Funktion aus werden so wesentliche Probleme wie Geburtenkontrolle untersucht.
Was den Tod betrifft, so wird er - objektiv und funktionsgemäß - zum Forträumen von etwas, das aufgehört hat von Nutzen zu sein und als totaler Verlust abgeschrieben werden muss (6).
Aus dieser Häresie der Tüchtigkeit, die den Blick für die primäre Berufung des Menschen verliert, entstehen verhängnisvolle soziale Konsequenzen. Wenn ein Mensch sich selbst nur für soviel wert hält, als er leistet, dann werden soziale Ungleichheiten notwendig zu unüberbrückbaren Abgründen (7). Der Unterschied etwa zwischen einem Staatsmann oder einem Künstler und einem Fabrikarbeiter, der den ganzen Tag die gleichen Handgriffe ausführt, ist offenbar ungeheuer. Würde der Arbeiter sich daher nach dem Wert seines Berufes einschätzen, müsste er sich als ein vom ungerechten Schicksal verurteilter Paria fühlen.
Das gilt auch dann, wenn man dem Arbeiter versichert, seine Tätigkeit sei unentbehrlich und bekomme ihre Bedeutung und Dringlichkeit durch den Dienst, den sie der Gesellschaft leistet. Sicherlich erhält jedes Tun hierdurch über seine unmittelbare Wirksamkeit hinaus eine indirekte Bedeutung. Aber diese allein reicht nicht aus, um den Abgrund zu überbrücken, der die Arbeit eines Wissenschaftlers von der eines Schuhputzers trennt.
Weiterhin lässt sich einwenden, jedes Werk könne besser oder schlechter verrichtet werden. Denn unabhängig von dessen besonderem Gehalt kann es den Arbeitenden befriedigen, wenn er es vorzüglich tut. So findet auch der Mensch, dessen Berufsarbeit ihm, verglichen mit der anderer, ein Unterlegenheitsgefühl geben muss, eine gewisse Selbstbestätigung in der formalen Vortrefflichkeit seines Tuns. Aber diese genügt nicht, um die unüberbrückbaren Unterschiede zwischen den einzelnen Berufskategorien auszugleichen. Wenn der einzelne sich dagegen soviel wert weiß, als er Person ist, seinem Verhältnis zu Gott und seinem Nächsten, seiner Antwort auf alle echten Werte entsprechend; wenn er die gemeinsame Berufung aller Menschen und die für alle gleichen Hauptquellen des Glückes erfasst, dann treten die Verschiedenheiten der Berufe zurück und können keine unübersteigbaren Schranken zwischen den einzelnen Klassen mehr aufrichten.
V. Tüchtigkeit statt Tugend
Mit der oben beschriebenen Schwergewichtsverlagerung von der Persönlichkeit auf die Leistung hängt die dritte Form der Tüchtigkeitshäresie eng zusammen. In ihr erscheint die Arbeit als Prototyp des Seriösen. Sie drückt sich in der verhängnisvollen Alternative aus: entweder Arbeit oder Vergnügen. Sie lässt keinen Raum mehr für die direkte Beziehung des Menschen zu Gott im Gebet, in der religiösen Kontemplation, in der Ich-Du-Liebesverbindung mit Christus. Diese Alternative zerstört zudem die ganze natürliche Fülle und Tiefe eines vollen menschlichen Lebens. Vergnügen ist sicherlich legitim, soweit es sittlich einwandfrei bleibt. Nur finsterer Jansenismus könnte es für ein Übel in sich halten. Sobald wir uns jedoch gegenüber Gütern mit hohen Werten verhalten, als gehörten sie in die Kategorie des Amüsements, wird das Verständnis für ihre Tiefe und Würde und ebenso die gebührende Antwort auf sie unmöglich gemacht.
Entspannung und Erholung sind nicht nur als Unterhaltung legitim, sie sind sogar ein unentbehrliches Element des menschlichen Lebens. Nur gnostische Verstiegenheit könnte die Notwendigkeit der Erholung bestreiten. Selbst in den strengsten Klöstern ist sie vorgeschrieben. So notwendig also Zeiten der Erholung und Entspannung sind, so verhängnisvoll ist es für die Tiefe des Lebens, wenn sie der "Titel" für alles andere ausser der Berufsarbeit werden. Sobald man etwas nur als Erholung oder Erquickung oder gar als bloßes Vergnügen betrachtet, wird ein Register gezogen, das jedes tiefere Erlebnis abschneidet. Denn dieses zur Auflockerung gerade unerlässliche Register, das für Spiele, manche Filme und Sportarten passt, schließt eben eine gewisse "Peripherie" und vor allem das Fehlen eines inneren Aufschwunges ein. Wir wollen mit "Peripherie" nicht sagen, wir sollten im Entspannen von unserer Tiefe abgeschnitten sein, unser "habitare secum" (bei sich weilen) aufgeben und aus der Grundhaltung der "religio" (Bindung an Gott) herausfallen. Solches Sich-Gehenlassen ist niemals legitim. Vielmehr gehört es zur Entspannung, dass wir zwar überaktuell mit unserer Tiefenschicht in Berührung bleiben, aber unseren geistigen Elan und unsere bewusste Sammlung ruhen lassen. Es ist wie beim Schlaf; um einschlafen zu können, müssen wir diese innere Lockerung vollziehen. Wenn uns das Einschlafen schwer fällt, versuchen wir, uns in diesen Zustand inneren Loslassens zu versetzen. Bei der Erholung und Entspannung kehren wir uns der Peripherie zu, wir lassen uns zerstreuen und die Organe in der Tiefe unserer Seele ruhen, deren wesentliche Aufgabe eben das "Zusammenklingen" mit den großen und bedeutungsvollen Dingen ist. Darum ist es in Spielstimmung unmöglich, Gütern mit hohen Werten gerecht zu werden. Mit ihnen umzugehen, als seien sie nur für die Erholungszeit oder gar für bloßes Vergnügen bestimmt, bedeutet jede echte Verbindung mit ihnen im Keim zu ersticken.
Diese verhängnisvolle Alternative, welche die Arbeit als den ernsten Teil, Vergnügen und Entspannung als den nicht seriösen Teil des Lebens einander gegenüberstellt, geht völlig an einer anderen Alternative zur Arbeit vorbei: dem Emportauchen aus der spezifischen Spannung und Konzentration der Arbeit zur Sammlung, d.h. zu einem kontemplativen Sich-öffnen für Gott und die hohen Werte. Wir dürfen die Auflockerung, die uns zur Peripherie führt, nicht mit jener wesenhaft verschiedenen "Entspannung" verwechseln, in der wir eine der Arbeit überlegene Tiefe erreichen. Im "Gottesstaat" beschreibt der hl. Augustinus das "vacare" als ein Element der Glückseligkeit. Dieses "vacabimus et videbimus" (feiern und schauen) ist völlig frei von jener Spannung und Präokkupation, die für die Berufsarbeit so charakteristisch sind. Noch weiter ist es zweifellos von der peripheren Auflockerung der Erholung entfernt.
Die Einsicht in eine metaphysische Wahrheit, das Verkosten einer erhabenen Schönheit und die Anbetung Gottes sind spezifisch kontemplative Haltungen. Offenbar ist ihnen eine besondere Tiefe eigen, denn in ihnen wird die tiefste Schicht unserer Seele aktualisiert. Die kontemplativen Haltungen erfordern als Gegenstand ein Gut mit hohem Wert. Auch darin bekundet sich ihre Überlegenheit. Neutrale und indifferente Dinge, wie eine Maschine oder ein mechanischer Vorgang, können als solche nicht zum Gegenstand unserer Kontemplation werden. Dies kann nur geschehen, soweit ein Gegenstand etwas Tiefes und Wesentliches zu vermitteln hat. Dann spiegelt er Gott so wieder, dass er uns vor Sein Angesicht zu führen vermag. Die Tugenden eines Menschen, eine bedeutende, tiefe Wahrheit, eine Schönheit in Natur oder Kunst sind Objekte der Kontemplation und kontemplativer Zuwendung wert.
Und weiter: je edler der Gegenstand, je erhabener sein Wert, um so direkter spiegelt er Gott wieder, um so gebieterischer erheischt er eine kontemplative Antwort. Nur wenn wir unsere Seele der Ausstrahlung Christi öffnen, Ihn liebend anbeten, gelangen wir zu der höchsten kontemplativen Haltung, die unsere letzte Tiefe aktualisiert. In dem Maße als die heutige Welt glaubenslos wurde, hat das Arbeits- und Leistungsideal die Religion ersetzt.
Die Sittlichkeit, die tatsächlich die ganze lichte Welt natürlicher und übernatürlicher Tugenden umschließt, hat sich für den modernen Geist weitgehend auf die für Tüchtigkeit und Berufsarbeit erforderlichen sittlichen Werte verengt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen nicht mehr Demut, Reinheit, Liebe, heilige Geduld, Sanftmut und Gerechtigkeit. Statt dessen geht es um Zuverlässigkeit, Redlichkeit, Fleiß, Selbstbeherrschung und Höflichkeit. Die Tüchtigkeit ist an die Stelle der Tugend getreten. Die Sittlichkeit wird verrechtlicht und im Licht der Tüchtigkeit gesehen. Mehr und mehr wird sie ihrer sieghaften Qualität, der inneren Schönheit des sittlich Guten beraubt und erhält folglich den Aspekt bloßer Korrektheit. So wird auch der fundamentale Unterschied zwischen einem positiven Staatsgesetz und einem sittlichen Gebot kaum noch gesehen.
Wie weitgehend Tugend durch Tüchtigkeit ersetzt wird, zeigt sich besonders darin, dass die Sittlichkeit nicht mehr überwiegend als moralische Verpflichtung innerhalb des menschlichen Teils unseres Berufslebens verstanden, sondern statt dessen auf die Qualitäten beschränkt wird, die zur Erfüllung des Berufszweckes als solchen vorausgesetzt sind. Wie wir sahen, enthält jeder Beruf gewisse menschliche Elemente; z. B. die Beziehung des Arbeiters zu seinen Mitarbeitern und seinen Vorgesetzten, den Kontakt des Arztes mit seinen Patienten und Kollegen. Gerade diese menschlichen Elemente schließen eine Reihe von sittlichen Verpflichtungen ein. Sie bieten zahlreiche Gelegenheiten, in denen sich sittlich gute oder schlechte Haltungen entwickeln können: Geduld, Liebe, Wahrhaftigkeit und ihre Gegenteile. Doch ein Atheist würde die Sittlichkeit im Berufsleben wohl kaum mit diesen Tugenden im Berufsleben gleichsetzen, sondern viel eher mit nicht ausschließlich sittlichen Haltungen wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Genauigkeit, Ausdauer in der Arbeit und ferner mit Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Die Sittlichkeit wird neutralisiert und die Pflicht hat an moralischem Gewicht verloren.
VI. Hypertrophie des Vergnügens
In unserer Zeit gibt es nicht nur eine Idolisierung der Arbeit und Tüchtigkeit, sondern ebenso eine Hypertrophie des Vergnügens. Die derzeitige Vergötzung der Arbeit besagt nicht, das ganze Leben sei nun mit ihr ausgefüllt oder die Menschen arbeiteten jetzt mehr als in früheren Zeiten. Im Gegenteil, es besteht eine starke Tendenz die Arbeitszeit zu verkürzen. Vergnügen und Unterhaltung spielen eine ungeheure Rolle und werden als ein wesentlicher Teil des Lebens angesehen. Einen Menschen, dem Vergnügen unerreichbar sind, erachtet man als schwer benachteiligt.
Wie erwähnt, sieht man heute oft das ganze menschliche Element des Lebens in dem Schema: Vergnügen oder Entspannung. Alle großen und tiefen menschlichen Dinge werden durch diese Einstellung jedoch nicht nur verfälscht und ihrer Substanz beraubt, sondern zugleich mehr und mehr von Vergnügen im buchstäblichen Sinne verdrängt. Filme, Fernsehen, Fußball, Comics, sie alle füllen zunehmend die Zeit aus, die für tiefe, vertraute Gespräche mit geliebten Menschen, für die Betrachtung der Schönheit in Natur und Kunst oder zum Lesen eines guten Buches bestimmt wäre (9). Familie und Eheleben werden zwangsläufig seelenlos, wenn man sie in die Kategorie der Unterhaltung oder der Entspannung einreiht. Gewiss kommen viele Berufstätige erschöpft, zermürbt von der Arbeit nach Hause und wollen nichts anderes als sich entspannen. Aber die Übermüdung durch die Arbeit ist nicht die Hauptursache für die falsche Einstellung zu Ehe und Familie. Solange die oben charakterisierte Grundhaltung bestehen bleibt, schafft auch eine noch so legitime Arbeitszeitbeschränkung keinen tiefgreifenden Wandel. Die Freizeit wird mit Kino und Barbesuchen verbracht werden. Wie soll das Eheleben seine innere Würde bewahren, wenn es nicht mehr als etwas Tiefes und Ernstes, als gesammelte Muße, sondern als Zeit des Sich-Leichtmachens und der Erholung gesehen wird (10) Es ist charakteristisch für diese Umkehrung der Maßstäbe in der jetzigen Welt, dass der geheiligte Sonntag, der für Sammlung und Kontemplation bestimmt ist, der erste und wichtigste Tag der Woche, der ihr insgesamt Form und Sinn geben sollte, der gleichsam die Antiphon der ganzen Woche ist, durch das Wochenende ersetzt wird, das nur für Unterhaltung und Entspannung gedacht ist.
VII. Überbewertung des Berufes
Diese unheilvolle Alternative blieb selbst auf die noch Gläubigen nicht ohne Einfluss. Gewiss ersetzen die Religion nicht durch Tätigkeit, aber sie sehen das religiöse Leben zu oft im Licht der Arbeit. Weil der Beruf der Prototyp des Ernstes wurde, kam die Tendenz auf, die religiösen Pflichten in einem ähnlichen Geist zu erfüllen wie die Arbeit. Man lässt der kontemplativen Haltung keinen Raum; das Gebet, sogar das innere Gebet wird zur "Arbeit", die in pflichtgemäßer Tüchtigkeit erledigt wird. Loyalität, Ordnung, Regelmäßigkeit, Genauigkeit, die alle aus dem Bereich der Berufsarbeit oder des Funktionärsethos stammen, treten an die Stelle echter religiöser Denkweise. Diese ist immer vom Geist der Kontemplation durchweht. In ihr vollzieht sich stets ein Aufstieg zu der völlig neuen übernatürlichen Wirklichkeit, zu einem Verweilen vor dem unaussprechlich heiligen Gott. Das religiöse Leben wird notwendig säkularisiert, seines heiligen Atems und seines "sursum corda" (erhebt die Herzen) beraubt, wenn die Berufsarbeit, weil sie nützlich und nüchternes Tun ist, weil sie sich auf die immanente Logik des betreffenden Seienden konzentriert, zum Grundmuster alles Ernst-zu-Nehmenden wird. Die Gefahr der Überbewertung des Berufes ist so groß, dass manchmal sogar die Seelsorgsarbeit unter dem Aspekt eines "Job" gesehen wird. Folglich gleitet man nur zu leicht in den Irrtum hinein, Ausdauer, Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit seien die wichtigsten Erfordernisse für diese Berufung.
Statt zu begreifen, dass diese direkt auf das Gottesreich bezogenen Tätigkeiten etwas unvergleichlich Höheres als alle Berufe und von diesen vollständig verschieden sind, neigen viele Menschen dazu, sie insofern zu säkularisieren, als sie in ihnen nichts als berufliches Tun erblicken. Manchmal wird die Ansicht geäußert, es gäbe hier keine wesenhafte Verschiedenheit. Jeder Beruf, welcher auch immer, sei ein Dienst für Gott, wenn er nur in richtigem Geist und richtiger Intention ausgeübt werde. Gewiss kann jede Tätigkeit durch die gute Absicht geheiligt werden, wenn die gesamte Berufsarbeit von der primären Berufung aller Menschen zur Heiligung durchformt wird. Keineswegs aber darf man den direkten Dienst für Gott als Job betrachten. Sonst gerät man in einen ähnlichen Irrtum, wie der, der fragt, warum man soviel Zeit im Gebet verbringen solle, wenn auch die Arbeit, in der richtigen Absicht getan, Gebet ist.
Zugegeben, jede Arbeit kann tatsächlich ein Gebet im analogen Sinne werden. Doch dies ist nur möglich, solange wir Gebet im Vollsinn - Lob, Dank, Bitte, inneres Gebet - deutlich von allen Arten der Arbeit abgrenzen. Nur wenn dieses eigentliche Gebet, in dem wir uns direkt an Gott wenden, in einem kontemplativen Rhythmus ganz auf Ihn gesammelt sind, einen bedeutenden Platz in unserem Leben einnimmt, wird es imstande sein, unser ganzes Tun mit seiner Formkraft und seinem Ethos zu prägen (11)
Viele Christen meinen, der spezifisch menschliche Bereich des Lebens teile sich in sittliche Pflichten einerseits und Unterhaltung, Erholung und Entspannung anderseits. Die sittliche Seite der Ehe und der Freundschaft werden als etwas Ernstes betrachtet, aber in der Freude an einem tiefen Gespräch mit geliebten Menschen, dem gemeinsamen Erleben hoher geistiger Werte, sieht man einen Teil jenes zum bloßen Ausruhen, Entspannen und Vergnügen bestimmten Lebensgebietes. Das tiefe Erlebnis der Schönheit in Natur und Kunst wird "ernst genommen", sobald es für Berufsaufgaben, z. B. für die Pflichten eines Lehrers oder für das Studium nötig ist. Aber in sich wird die edle Befruchtung unserer Seele durch die Schönheit, diese Botschaft von Gottes Herrlichkeit und von einer höheren Welt über uns eingeschätzt, als gehöre sie zum Bereich auflockernder Erholung und sei nur unter diesem Titel erlaubt, manchen gilt sie sogar nur als Vergnügen.
Doch alle die bedeutungsvollen menschlichen Bereiche des Lebens - unsere Beziehungen zu geliebten Personen, ein tiefes religiöses Gespräch, die erhabene Botschaft Gottes in der Schönheit der Natur, die Betrachtung einer großen Wahrheit - sie alle werden ihrer Tiefe und Sinnfülle beraubt, sofern man sich zu ihnen wie zu Zeitvertreib und Belustigung verhält. Wenn wir, statt ein geistiges Festgewand anzulegen, sobald wir uns dem eigentlich menschlichen Teil unseres Lebens zuwenden, uns nicht einmal mehr beherrschen, wie in unserem Beruf, sondern uns einfach gehen lassen, schneiden wir uns von dem wirklichen Sinn und Gehalt dieser hohen Güter ab und ersticken unser wahrhaft menschliches Leben.
VIII. Die drei Kategorien
Die Berufsarbeit selbst muss gänzlich unserer Erstberufung einverleibt und ein Weg werden, diese zu bezeugen. Damit die Einverleibung organisch geschehe, müssen wir uns zuerst des Primates unserer Berufung zur Umgestaltung in Christus vor jedem Beruf voll und ganz bewusst werden. Daraus ergibt sich vor allem, dass wir uns hüten, von der immanenten Logik einer Tätigkeit verschlungen zu werden. Obwohl wir versuchen sollten, in jeder Berufsarbeit unser Bestes zu tun und obwohl dies nur im Mitgehen mit ihrer inneren Logik möglich ist, sollten wir nie völlig in ihr aufgehen. Wir dürfen uns nicht in den Strudel der Aktivität, d. h. in den Automatismus der Arbeit als solcher hineinziehen lassen. Niemals sollten wir die Worte unseres Herrn vergessen: "Martha, Martha, du machst Dir Sorge und Unrast um vieles. Nur eines tut not; Maria hat den besten Teil erwählt" (Lk 10, 41-42).
Von Zeit zu Zeit müssen wir aus der Tätigkeit emportauchen, uns einen Augenblick Christus zuwenden, vor Gott verweilen, uns sammeln. Nur so kann unsere Berufsarbeit von unserer primären Berufung künden und apostolischen Charakter erlangen. Nur wenn die Kontemplation ihren Platz im Leben des Menschen erhält, vermag er gegen die Gefahr des Verschlungenwerdens von der immanenten Logik des Berufes immun zu werden (12).
Niemals dürfte Berufsarbeit der ersten Kategorie (Herstellung notwendiger und nützlicher Güter) den selben Rang im Leben des einzelnen beanspruchen, wie ihn Tätigkeiten der zweiten (die hohen Werten gelten) und erst recht der dritten Kategorie (die eigentlichen Berufungen) einnehmen sollen.
Es wäre ferner ein typisches Symptom der Häresie der Tüchtigkeit, wollte man mit Berufen der zweiten Kategorie nach dem Muster der ersten verfahren. Berufsarbeit der ersten Kategorie ist vorwiegend ein Mittel, Geld für die lebensnotwendigen und werttragenden Güter zu verdienen. Es ist völlig legitim für den Arbeitenden, seine Tätigkeit in erster Linie als Mittel zum Erwerb des Lebensunterhaltes für sich und die Seinen anzusehen. Dagegen darf das Geldverdienen bei der zweiten Kategorie niemals das Hauptmottiv sein. Ein Künstler, der sein Werk vor allem als Erwerbsquelle auffasst, entweiht seine Mission. Er ist in großer Gefahr, gegen sein künstlerisches Gewissen zu handeln, indem er billige, abgeschmackte Effekte benützt. In ähnlicher Weise ist es für einen Philosophen oder Wissenschaftler entschieden illegitim, sein Wirken als Weg zu einem bequemeren Leben zu betrachten. Wie der Künstler sollte er ein Diener seines Werkes sein. Ein Arzt, der zu allererst Geld verdienen will, handelt unsittlich und widerspricht der Würde der ihm anvertrauten Aufgabe. Hier zeigt sich klar, wie verschieden die Zuwendung zu diesen beiden Berufskategorien sein muss.
Soll die Arbeit der ersten Kategorie unserer primären Berufung einverleibt werden, so hat sie eindeutig eine zweitrangige Rolle gegenüber dem eigentlich menschlichen Bereich unseres Lebens zu spielen. Auch vom rein natürlichen Standpunkt aus darf sie nicht den Wert und Sinn unseres Lebens bestimmen, noch die Hauptquelle unseres Glückes sein.
Wollen wir der Häresie der Tüchtigkeit entgehen, dann müssen wir einen gewissen Abstand von dieser Arbeit wahren und dürfen niemals ihren Zweckcharakter vergessen. Das besagt jedoch nicht, die ideale Einstellung zu ihr sei, sie als bloßes unvermeidliches Mittel anzusehen, das uns, ausser dem mit ihr verdienten Geld, nichts zu bieten hätte. Im Gegenteil, das erfolgreiche Erfüllen einer Aufgabe und das Bewusstsein, etwas Nützliches oder sogar Unentbehrliches zu tun, bewirken beide eine legitime Befriedigung (13).
In dieser Hinsicht bestehen innerhalb der ersten Kategorie noch große Unterschiede. Die Tätigkeit eines Handwerkers bietet Freuden, die sich von denen des Fabrikarbeiters unterscheiden (14). Der technische Fortschritt und die beherrschende Funktion der Maschine haben einerseits die Mühen erleichtert, und die gewünschten Ergebnisse werden schneller und manchmal genauer erzielt. Anderseits bedrohen sie die Beseelung und den organischen Charakter der menschlichen Betätigung. Ein Vergleich zwischen der handwerklichen und der maschinellen Herstellung desselben Gegenstandes zeigt dies deutlich. Der noch in etwa schöpferische, organische Arbeitsvorgang und die direkte Beziehung zu seinem Erzeugnis geben dem Tun des Handwerkers eine menschliche Prägung. Manche Fabrikarbeiter, die einige isolierte Handgriffe ständig wiederholen müssen und oft keinen direkten Kontakt mit dem Endprodukt mehr haben, werden zu Bedienern der Maschine, zu einem Mittel in der Fertigung dieser Güter. Dagegen ist der Handwerker nicht Diener, sondern Meister im Vorgang der Herstellung.
In der Tätigkeit mancher Handwerker liegt auch ein Element schöpferischen Formens und Gestaltens, das eine Art Präludium zum künstlerischen Schaffen ist. Besonders gilt dies für alle mit dem Kunstgewerbe zusammenhängenden Handwerke. Ihre Erzeugnisse haben entschieden einen Reiz und ästhetischen Wert und die Arbeit selbst trägt ausgesprochen menschlichen Charakter. Sie ist grundverschieden von dem mechanischen Bedienen einer Fabrikationsmaschine. Die Tätigkeit des Handwerkers hat etwas Klassisches und eine ihr eigene Würde. Abgesehen von der Nützlichkeit des Hergestellten vermag dieser immanente Werkauftrag den Handwerker zu interessieren, ihm Rätsel aufzugeben, ihn zu neuen Lösungen anzuregen, seine Talente und seine Geschicklichkeit auf die Probe zu stellen. Der Handwerker sollte seine Waren nicht nur aus Pflichtgefühl so vorzüglich wie möglich anfertigen, sondern sich auch um ihrer selbst willen für sie interessieren und seine Freude daran haben, wenn sie ihm gut gelingen (15). Er kann also seine Arbeit um ihrer selbst willen lieben, mit ihr verwachsen sein, unabhängig von ihrer Nützlichkeit für ihn.
In einer anderen Weise hat die Arbeit des Bauern (besonders die nicht mechanisierte) ihre Würde und einen klassisch menschlichen Charakter. Das Zusammenwirken mit der Freigebigkeit der Natur, das Mitgehen mit dem Leben stellt diese Beschäftigung in Gegensatz zu allem mechanisierten Tun, das den Menschen zum Instrument macht. Ein Bauer kann echte Freude an seiner Arbeit haben.
Dieselbe Freude kann ein Fabrikarbeiter an mechanischen und monotonen Hantierungen nicht finden. Aber auch hier kann das Gefühl, an der Herstellung nützlicher oder sogar unentbehrlicher Güter mitzuwirken, der Arbeit, abgesehen von Geldverdienen, einen Sinn geben.
Doch obwohl alle diese Tätigkeiten einen eigenen Sinn haben, sollten sie gegenüber dem menschlichen Bereich des Lebens immer an zweiter Stelle stehen. Wenn sie der menschlichen Sphäre untergeordnet bleiben, wenn in der Berufsausübung das menschliche Element mehr zur Geltung kommt als die bloße immanente Perfektion der Leistung, können auch sie der Erstberufung des Menschen einverleibt werden.
Aber dies ist wiederum nur in dem Maße möglich, als Kontemplation und kontemplative Haltungen ihren Platz in unserem Leben einnehmen. Weil die Berufsarbeit der ersten Kategorie niemals jene Tiefe des "engagement" erfordert, die für die zweite Kategorie unerlässlich bleibt, ist es in dieser Hinsicht leichter, bei ihrer Ausübung überaktuell mit Christus vereinigt zu bleiben (16). Sogar die immanente Vollkommenheit dieser Tätigkeiten nimmt durch die Kontemplation zu. Nur in der Sammlung wird der Mensch fähig, alle Kräfte in einem vollen "engagement" einzusetzen. Wir meinen hier nicht ein umfassendes Einbeziehen auch der tieferen Seelenschichten, wie es nur bei den Berufen der zweiten und dritten Kategorie geschehen muss, vielmehr haben wir die ungeteilte, bewusste Zuwendung im Auge, die für die vollendete Ausführung der jeweiligen Arbeit erforderlich ist; den vollen Einsatz unserer Energie, Wachheit und Aufmerksamkeit, im Gegensatz zu jedem nachlässigen, bloßen Erledigen.
IX. Kontemplation und Aufopferung
Außer all diesen Faktoren: Talent, Anlage, Geschicklichkeit, Erfahrung und Übung, welche die Qualität der Berufsarbeit in der ersten Kategorie bestimmen, spielt noch das Maß, in dem sich der einzelne persönlich einsetzt, eine wichtige Rolle. Die Bereitschaft hierzu ist eine sittliche Frage. Dieses moralische "engagement" und die Beharrlichkeit in ihm können wir nur verwirklichen, wenn unser Leben von einem kontemplativen Rhythmus getragen wird. Dieses "engagement", das wir im Leben der Heiligen sogar in der bescheidensten Berufsarbeit beobachten können, ist nicht nur klar von dem bloßen Verschlungenwerden von der Tätigkeit zu unterscheiden, es ist darüber hinaus unvereinbar mit einem Ausgeliefertsein an deren immanente Logik.
Diese Einsicht ist von weittragender Bedeutung, denn die Art von "engagement", auf die es uns ankommt, ist jedem Absorbiertwerden diametral entgegengesetzt, mag mit diesem und der Häresie der Überschätzung der Arbeit auch große Tüchtigkeit verbunden sein. Vor allem erfordert das christliche Ethos eines solchen Berufes beides: einerseits die innere Freiheit, die Bereitschaft ihn aufzugeben, sobald ein höheres Gut dies erfordert; anderseits eben dieses volle "engagement". Beide stammen aus der vollen Hingabe an Christus, aus dem Bewusstsein, dass wir "Christus gehören".
In der zweiten Kategorie erhält die Kontemplation eine neue Bedeutung. Die vollkommene Ausübung dieser Berufe setzt einen bestimmten Geist der Kontemplation voraus, noch abgesehen von der oben gezeigten allgemeinen Unerlässlichkeit des kontemplativen Elementes, damit jeder Beruf in unsere Erstberufung eingegliedert werde. Tatsächlich wächst die Bedeutung der Kontemplation für die immanente Vollkommenheit der Berufsarbeit in dem Maß, als sich der Rang der Güter erhöht, mit denen sich dieser Beruf beschäftigt (17). Jede Betätigung, in der es um höhere Güter geht, wie die eines Künstlers, eines Philosophen, eines Erziehers, setzt unerlässlich eine kontemplative Grundlage voraus, soll sie sich in ihrer Tiefe und inneren Fülle entfalten. Wir haben zu empfangen, damit wir geben können. Unsere Seele muss befruchtet werden, will sie Großes und Bedeutendes gebären.
Nun schafft gerade die kontemplative Haltung, die frei ist von der Gespanntheit der Aktivität und diese entpragmatisierte Geöffnetheit besitzt, die Vorbedingungen für die Befruchtung unserer Seele. In ihr erhalten wir den inneren Reichtum, der für jede schöpferische Tätigkeit unentbehrlich ist. Bekanntlich höhlt uns der Strudel der Aktivität, in dem wir von einem Nahziel zum anderen rennen und nie zu uns selbst kommen, nur aus und raubt jeder tieferen Tätigkeit ihre innere Fülle. Wenn wir nicht immer wieder Zeiten der Kontemplation und Sammlung haben, fühlen wir uns leer und stumpf. Gerade für die vollkommene Ausübung jener Berufe, die wegen ihres Inhaltes und Ranges eine größere Rolle in unserem Leben spielen sollen als die der ersten Kategorie, hat also die Kontemplation eine spezifische Bedeutung. Im allgemeinen bieten uns diese Berufe nicht dieselben Gelegenheiten, uns direkt mit ihrem rein menschlichen Element und dem Apostolat zu befassen, abgesehen von der Arbeit. Nichts desto weniger enthalten sie andere Möglichkeiten, weil sie in sich auf unsere höchste Berufung bezogen sind. Auch hierin zeigt sich, wie unentbehrlich die Kontemplation für eine hohe Qualität dieser Tätigkeiten ist.
Doch ist die Bedeutung der Kontemplation in der dritten Kategorie noch unvergleichlich größer. Für die Arbeit im Weinberg des Herrn wird sie so notwendig, dass ohne sie die äußerste Aktivität mit glänzendsten natürlichen Gaben ein tönendes Erz und eine klingende Schelle (1 Kor 13, 1) bliebe.
Hier gelten die Worte des hl. Bernhard: die Seele dürfe nicht einem Kanal gleichen, durch den das Wasser hindurchfließt, sondern einem Brunnen, der überquillt. Soll diese Tätigkeit Frucht bringen, so muss sie Christi Werk durch uns sein. Das wird nur möglich, wenn wir unsere Seele wieder und wieder von Christus befruchten lassen, sie in Schweigen und Sammlung Seiner Erleuchtung aussetzen, wenn wir in kontemplativer Haltung vor Ihm verweilen, wie Maria, die Schwester des Lazarus.
Ferner kann jeder Beruf in dem Maß als Gelegenheit zu persönlichem Apostolat aufgefasst werden, als er Kontakte mit anderen Personen enthält oder herbeiführt. Beinahe jeder Beruf bringt viele Situationen mit sich, in denen der einzelne Christus durch sein Sein ausstrahlen und apostolisch wirken kann. Hier wird nicht der spezifische Gehalt des betreffenden Berufes als Medium für die Entfaltung der Erstberufung betrachtet. Es geht vielmehr um die Anlässe zum Kontakt mit anderen Menschen und damit zum Apostolat und zur Ausbreitung des Gottesreiches. Diese Möglichkeiten ergeben sich sowohl in einer sinnarmen, vorwiegend mechanischen Tätigkeit, wie in einem inhaltsrreichen Beruf, z. B. dem eines Künstlers. Sie wachsen in dem Maß, als ein Beruf breiteren Kontakt mit anderen Menschen einschließt und das menschliche Moment in ihm eine wichtige Rolle spielt.
Gewiss kann auch die immanente Vortrefflichkeit der Berufsarbeit zum Apostolat beitragen. Bei einem bedeutenden Wissenschaftler, Philosophen oder Künstler liegt dies auf der Hand. Die große Leistung eines wahren Christen auf diesen Gebieten könnte ein Weg sein, die Seele eines Ungläubigen zu erreichen, könnte dem Apostolat dienen. Selbst in den Berufen der ersten Kategorie kann ihre vorzügliche Ausübung für das Apostolat des Wortes und des Seins ein kostbarer Wegbereiter sein, Vorurteile auflösen und Trennungsmauern niederlegen. Aber diese Tatsachen dürfen uns nie glauben machen, die immanente Vortrefflichkeit des Tuns sei der wichtigste Teil unseres Apostolates, oder gar, sie genüge um unseren Beruf in unsere primäre Berufung einzugliedern. Es wäre ein fundamentaler Irrtum, zu meinen, ein besserer Künstler, Philosoph, Wissenschaftler, Schuhmacher, Fabrikarbeiter zu werden, sei alles, was wir in dieser Hinsicht zu tun brauchten. Alles übrige würde dann von selbst kommen.
Unser erstes Anliegen muss unser Wirken für das Gottesreich sein und bleiben. Die perfekte Ausübung unseres Berufes ist für das Apostolat, zu dem wir als Christen gerufen sind, nur ein Erfordernis unter anderen. Hier haben wir wiederum zu sprechen: "Sucht zuerst das Reich Gottes ... " (Mt 6. 33).
Die dritte Form der Einverleibung beruflicher Tätigkeit in die erste Berufung des Menschen ist die Aufopferung dieser Arbeit für Gott. Sie ist für alle Berufe gleicherweise möglich und völlig unabhängig von deren jeweiliger immanenter Logik. Der Mensch kann jede Arbeit, ja jedes nicht sündige Tun mit der Intention ausführen, sie für Gott und seine Verherrlichung aufzuopfern. Darüber hinaus sollte er sich als Diener Gottes fühlen. Jeder einzelne Beruf muss als gottgewollte Aufgabe gesehen werden, die im Gehorsam gegen Ihn und zu Seiner Verherrlichung zu erfüllen ist (18).
X. Alle sind Glieder des mystischen Leibes Christi
Hier gilt es, noch einige wichtige Unterscheidungen zu machen. Es kann verschiedene Gründe geben, die uns berechtigen - und sogar verpflichten - uns als Diener Gottes zu betrachten.
Erstens können Berufe auf Grund einer besonderen Begabung gewählt werden. Dann haben sie den Charakter einer Mission. Dies trifft nur für Tätigkeiten der zweiten Kategorie zu; z. B. für den Künstler, den Arzt, den Wissenschaftler, den Philosophen. Die hohen Werte, um die es hier geht, erfordern das Verantwortungsbewusstsein eines getreuen Verwalters und geben seinem Wirken den Aspekt einer Mission.
Zweitens berechtigen auch alle für die notwendigen Güter der Gemeinschaft sorgenden Berufe dazu, sich als Verwalter Gottes zu fühlen. Der Schuhmacher, der Zimmermann, der Straßenkehrer, der Fabrikarbeiter, die unentbehrliche und nützliche Tätigkeiten ausüben, können und sollen überzeugt sein, dass sie eine Aufgabe als Verwalter Gottes erfüllen.
Drittens kann auch jeder Angestellte, der sein Brot verdient, sich auf seinem Platz als Diener Gottes betrachten. Das gilt für alle Arbeitnehmer, unabhängig von der Art der Güter, an deren Herstellung sie mitarbeiten, vorausgesetzt, diese sind sittlich einwandfrei. Sobald jemand in dem Wunsch, für das Lebensnotwendige zu sorgen, eine Beschäftigung bejahend annimmt, ist er berechtigt, diese als ihm von der Vorsehung bestimmten Auftrag zu betrachten. So kann und soll auch er sich als Diener Gottes fühlen, wenn er diese Arbeit gut verrichtet.
Dies gilt jedoch nicht für Arbeitgeber, die weder unentbehrliche, noch wirklich nützliche Güter produzieren oder verkaufen, noch für solche, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, aber nur Geld verdienen wollen um des Geldes willen oder damit sie sich jeden Wunsch erfüllen können, der sich mit Geld befriedigen lässt. Obwohl es sicher nicht unsittlich ist, ein Vermögen aufzuhäufen, um reich zu sein, so ist es doch unmöglich, sich bei dieser Art von Beschäftigung als Diener Gottes zu fühlen. Trägt man das Geld zusammen in der Absicht, es für Güter mit hohen Werten zu verwenden, etwa für religiöse, kulturelle, soziale Zwecke oder um in Not geratenen, einzelnen Menschen zu helfen, oder ihr Leben leichter und froher zu machen, so gewinnt dieses Tun wiederum eine innere Bedeutung, derentwegen der so Handelnde sich als Gottes Verwalter empfinden darf.
Eine solche Heiligung des Berufes ist viel mehr als eine bloße gute Meinung. Denn während unserer gesamten beruflichen Tätigkeit müssten wir uns bewusst bleiben, dass wir nicht uns selbst, sondern Christus gehören, daher überaktuell mit Ihm vereint bleiben sollten.
Viertens können manche Berufe auf Grund der immanenten Beziehung zwischen ihrem Inhalt und dem Reich Gottes in unsere christliche Berufung einverleibt werden. In der ersten Kategorie ist dies nicht möglich. In der zweiten kann man die immanente Vortrefflichkeit der Berufsausübung zu Recht als besonderen Dienst für Gott betrachten, weil das Berufsziel eine wesenhafte Beziehung zum Gottesreich hat.
In der dritten Kategorie aber ist die immanente Vollkommenheit der Tätigkeit unlösbar an diese Intention und Zuwendung gebunden.
Hier ist ausdrücklich zu betonen, dass es ein sinnloses Unterfangen wäre, diesen vierten Typ der Einverleibung in jedem Beruf auf gleiche Weise erreichen zu wollen. Man sollte demütig die objektive Hierarchie der Berufe anerkennen, und nicht versuchen, aus einer Tätigkeit etwas zu machen, was einfach nicht in ihr liegt.
Das Unterfangen, alle Berufe auf dieselbe Ebene zu stellen, ist eine logische Folge der Überbewertung der Berufsarbeit und ein Zeichen, dass das Bewusstsein von unserer Berufung zur Heiligkeit und zum Apostolat nicht voll erwacht ist. Man möchte innerhalb des beruflichen Rahmens einen Ausgleich schaffen, anstatt zu sehen, dass Arbeiter ebenso gut wie Könige, Handwerker wie Künstler, Forscher wie Kaufleute nicht in erster Linie Arbeiter, Könige, Kaufleute usw. sind, sondern Glieder des mystischen Leibes Christi, Personen, die Christi Gnade empfangen haben, die berufen sind, heilig zu werden und Christus auszustrahlen.
Je geringer der Eigengehalt eines Berufes ist, um so mehr muss diese vierte Form der Einverleibung zugunsten der drei anderen Formen in den Hintergrund treten. Ein Straßenkehrer kann gewiss nicht behaupten, von seiner Tätigkeit so durchformt und erfüllt zu werden, wie ein Künstler oder Wissenschaftler von der seinen. Aber gerade die Tatsache, dass eine bescheidene Aufgabe den Arbeitenden nicht derartig ausfüllt und durchformt, ermöglicht ihm, sich direkt an Gott zu wenden. So entsteht eine Beziehung, die nicht durch den Inhalt des Tuns allein erreicht werden kann.
Schließlich und nicht zuletzt kann der Beruf in unsere Berufung integriert werden, indem man ihn als einen Dienst an der Gemeinschaft vollzieht. Jeder Beruf enthält eine Verbindung zur Gemeinschaft und man kann ihn darum als einen Ausfluss der Nächstenliebe sehen.
Wird irgendeine Arbeit im Geist der Worte verrichtet: "Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25, 40), dann wird sie, so inhaltsarm sie auch sei, einen Sinn erhalten und in die Erstberufung des Menschen einverleibt werden.
Erst wenn dieser absolute Primat der Berufung zum Christsein im Vordergrund steht, erst wenn die Häresie der Tüchtigkeit überwunden ist, kann das menschliche Leben Freiheit atmen, kann es souverän und groß sein.
Dieser Primat ist die äußerste Antithese zu jeder Bürgerlichkeit, jeder beengenden Kleinlichkeit, jeder nur möglichen Versklavung an den Beruf. Ein solches Leben ist königlich, denn der es lebt, vermag zu sprechen, welch�en Beruf er auch hat: "Was kann mich trennen von der Liebe Christi ?" (vgl. Röm 8, 35).
XI. Tugend heute
Es liegt im Wesen der Geschichte, dass sich die Einstellung der Menschen zum Leben in gewissen Punkten wandelt, gewisse Werte in einer Epoche klarer gesehen werden als in einer anderen, und andere Werte dafür leichter verkannt werden als in einer früheren. Zu einem Zeitpunkt machen sich bestimmte Gefahren geltend, die in einem vorhergehenden kaum eine Rolle spielten.
Aber so wichtig es ist, diesen zum Wesen der Geschichte und des Menschen gehörigen Rhythmus zu erkennen, so falsch ist es, der Verschiedenheit der Zeitepochen in Bezug auf die Grundprobleme des Menschen eine zu große Bedeutung beizumessen. In Vergleich zu dem, was immer gleich bleibt, ist das, was wechselt, sekundär. Es ist eine besondere Form naiven Hochmuts, zu glauben, die Zeit, in der man lebe, sei gänzlich anders als alle früheren Zeiten und die voraufgegangenen Probleme bestünden heute nicht mehr. Viele Menschen berauschen sich an dieser Vorstellung, und man muss sich nur wundern, wie sie dabei übersehen können, dass, hätten sie recht, in kurzer Zeit auch all das, auf dessen "Neuheit" und "Nie-Da-Gewesen-Sein" sie stolz sind, veraltet und nicht mehr aktuell sein würde. Sie vergessen, dass, wäre das immer Wechselnde wirklich das "Eigentliche", sie einen teuren Preis dafür zu zahlen hätten, sich im Glanz des Nie-da-Gewesenen sonnen zu können und auf vergangene Epochen hochmütig herabzuschauen: den Preis, dass alles, was sie bewegt und erfüllt, kurzlebig wäre und bald zum alten Eisen geworfen würde.
Mit der Übertreibung der Verschiedenheit der Epochen und dem naiven Hochmut, der damit zusammenhängt, geht meist auch die irrige Vorstellung Hand in Hand, das gegenwärtige Zeitalter sei nicht nur völlig anders als alle früheren Zeiten, es sei ihnen auch überlegen. Ohne sich voll darüber klar zu werden, ist man von vorne herein geneigt, ohne weiteres zu glauben, im Wandel läge doch irgendwie ein Fortschritt.
Viel gefährlicher als dieser naive Fortschrittsglaube, der immerhin noch an in sich gültigen Maßstäben festhält und an eine objektive Wahrheit glaubt, von der man annimmt, sie werde mit dem Fortschreiten der Zeit mehr und mehr erkannt, ist die viel weiter gehende Gleichsetzung der historisch-soziologischen Realität einer Idee mit ihrer Gültigkeit und Wahrheit. Viel gefährlicher ist diese Position, weil sie das Wesen der Wahrheit und Werte als solcher aushöhlt.
Mit allem Nachdruck muss betont werden: die Tatsache, dass eine "Idee" in einer Zeit gleichsam in der Luft liegt, oder in einer Zeitepoche gewisse Einstellungen und Tendenzen vorherrschen, besagt weder über die Wahrheit und Falschheit dieser Idee noch über den Wert und die Legitimität einer Zeitströmung das Geringste.
Wenn die Geschichte uns etwas zu lehren hat, so ist es sicher die Erfahrung, wie leicht die Menschen von falschen Zeitströmungen angesteckt werden. Diese Gefahr ist ganz besonders groß, wenn man irrtümlicherweise glaubt, dass Ideen, Tendenzen, Einstellungen, weil sie in einer Zeitepoche dominieren, gleichsam in der Luft liegen - als ein Ausdruck des "objektiven Weltgeistes" im Sinne Hegels angesehen werden dürften oder gar müssten. Diese Idee ist selber etwas, was gerade heute "in der Luft liegt". Diese soziologisch-historische Realität einer Idee oder Strömung ist weder etwas Unaufhaltsames, das man als Fatum hinnehmen müsste, noch verleiht sie dem Inhalt irgendeine Würde; sie macht einen Irrtum nicht weniger irrig noch eine falsche Haltung weniger falsch - sie macht das objektiv Ungültige nicht gültiger.
Von Zeitströmungen sich bedingen zu lassen, bedeutet, sich seiner geistigen Freiheit begeben - es ist ein Mitrollen mit dem Zug der Zeit, ein Sich- Treiben-Lassen von den Strömungen der Epoche, eine Depersonalisierung. Ihr steht entgegen die Haltung dessen, der aus der Zeit immer wieder emportaucht zur Welt der Wahrheit und der wahren sittlichen Werte, um das zu verstehen, was diese besondere Zeit und Stunde als Aufgabe enthält, was sie, im Licht der ewigen unwandelbaren Wahrheiten und Werte, als" Thema" in sich birgt.
Noch konkreter gesprochen - für uns Christen bedeutet diese Bewegung die immer erneute "conversio ad Deum" (Bekehrung zu Gott).
Soweit die Zeitströmung etwas objektiv Gültiges enthält, soll sie bejaht und in den Dienst Gottes gestellt werden, aber nicht, weil dieses Gültige die historisch-soziologische Realität einer Zeitströmung besitzt, sondern weil es inhaltlich gut und wahr ist, weil es gottgewollt ist. Die objektiven Probleme, die eine Zeitepoche darbietet - im Unterschied zu ideologischen Strömungen -, sind allerdings eine Realität, die einen objektiven Ruf enthält. Aber der Geist, in dem wir ihnen begegnen und sie meistern sollen, ist nicht den Zeitströmungen selber zu entnehmen, sondern muss aus der ewigen Wahrheit stammen, zu der wir immer wieder erneut emportauchen, aus dem Lumen Christi, das alle Probleme erhellt und die richtige Antwort auf sie zeigt.
Es kommt also vor allem darauf an, die zwei grundverschiedenen Bewegungen zu unterscheiden: die Haltung dessen, der die Zeitströmungen für eine Stimme des objektiven Weltgeistes hält und sich von ihnen ergreifen und fortschwemmen lässt - ein soziologisch bedingtes, unfreies Getrieben-Werden in die Breite -, und die Haltung dessen, der sich nicht von der Zeitströmung ergreifen lässt, sondern ein freies, immer erneutes Aufsteigen zu der ewigen Wahrheit, zu Christus vollzieht - eine Bewegung in die Höhe -, und von dort aus zu allen Zeitströmungen frei Stellung nimmt. Das Wort des hl. Paulus: "Prüfet alles; was gut ist, behaltet", muss auch allen Zeit-Tendenzen gegenüber angewendet werden. Es liegt darin auch die Aufforderung, die Zeitirrtümer zu demaskieren und durch die Konfrontation mit den ewigen, nie wechselnden überzeitlichen Maßstäben in ihrer Falschheit zu entlarven.
Dieser Hinweis musste der Behandlung unseres besonderen Themas: "Tugend heute" vorangeschickt werden, einmal weil heute diese Grundwahrheiten so sehr verkannt werden, dass gewisse Philosophen die Aufgabe der Philosophie darauf reduzieren wollen, "die Anliegen einer Zeit begrifflich zu formulieren", statt zu sehen, dass die Anliegen einer Zeit der Philosophie gegenüber die Rolle haben, ein Ansporn zu sein, um tiefer in das Reich der unveränderlichen Wahrheit einzudringen und auf neue Fragestellungen die wahre Antwort zu finden; dann aber auch, weil das Problem, das sich im Titel dieser Abhandlung "Tugend heute" ausprägt, spezifische Zeitgefahren betrifft.
Wir wollen für die Betrachtung dieser Zeitgefahren das Buch von Bollnow, "Wesen und Wandel der Tugenden" (Frankfurt/M. 1958) als Ausgangspunkt nehmen, weil es immer besonders interessant ist, den Zeit-Tendenzen so zu begegnen, wie sie sich im Werk eines Philosophen von Rang geltend machen, und weil es besonders fruchtbar ist, sie in der Form, in der sie dort erscheinen, zu analysieren.
So finden wir in dem hochinteressanten Buch von Bollnow, das so viele anregende Gedanken in historischer Hinsicht und teilweise so wertvolle phänomenologische Analysen enthält, die folgenden für unsere Zeit charakteristischen Gefahren:
Da ist vor allem die Gefahr, das Sittliche in einem zeitbedingten Licht zu sehen. Der Wandel der Tugenden wird als notwendig für die Entfaltung der Fülle der Tugenden angesehen; ja es wird in dieser Tatsache eine Bestätigung dafür erblickt, dass innerhalb der Tugenden Gegensätze bestehen, die es unmöglich machen, sie alle auf einmal zu sehen, bzw. dafür, dass das Sittliche keinen einheitlichen Nenner besitzt. Der Wert einer Tugend wird dabei irgendwie von ihrer Beziehung zu einer bestimmten Epoche abhängig gemacht.
Mit diesem Irrtum hängt ein Weiteres zusammen: der Mangel an klarem Verständnis für das "Eidos" des spezifisch Sittlichen; die klare Unterscheidung von sittlichen und aussersittlichen Personwerten fehlt.
Drittens wird das Wesen der spezifisch christlichen Sittlichkeit, ihr absolut Neues und Einzigartiges, verkannt und die Tatsache nicht gesehen, dass die christliche Sittlichkeit dabei zugleich die Erfüllung aller natürlichen Sittlichkeit ist.
Wir wenden uns zunächst der ersten dieser drei Gefahren zu. Um dies besser zu verstehen, müssen wir zuerst auf eine allgemeine Tatsache hinweisen.
Manche aussersittlichen Personwerte fungieren zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Gemeinschaften und bei vielen Individuen als Substitute für die eigentliche Welt des Sittlichen. Ich habe in meinem Buch "Graven Images" (19) das Wesen und die verschiedenen Typen dieser Substitute für die Sittlichkeit ausführlich behandelt. Es sind meist aussersittliche personale Werte, wie Mut, Energie, Kraft, Tüchtigkeit, Ehre, die in illegitimer Weise formal den Platz der Norm für unser Verhalten einnehmen. Es können auch sittliche Werte sein, die die Rolle eines Substitutes für die gesamte sittliche Sphäre einnehmen, z. B. Altruismus, Edelmut, wobei sie aber dadurch, dass sie den Thron einnehmen, der objektiv nur dem Grundwert "Sittlich gut" gebührt, ihren eigentlich sittlichen Charakter einbüßen. Die spezifisch sittliche Sphäre ist so geartet, dass sie keinerlei Selektion zulässt, dass es unmöglich ist, einen Sektor willkürlich aus ihr herauszugreifen, den man allein ernst nimmt, und den Rest für unverbindlich zu erklären. Wer etwa sagt: "Ich werde vielleicht oft Unrecht tun, aber etwas Gemeines werde ich nie tun", verrät, dass es für ihn die spezifische Qualität des Gemeinen ist, die er sittlich wirklich ernst nimmt, und dass er für sein praktisches Verhalten an Stelle der Alternative von gut und böse die von edel und gemein stellt. Aber in dem Moment, wo ein sittlicher Wert ein Substitut für die ganze sittliche Sphäre wird, wird er seines rein sittlichen Charakters entkleidet - es mischen sich aussermoralische Aspekte ein, die ihm diese sachlich ungebührliche Rolle verschaffen.
Die Tatsache, dass es diese Substitute gibt, spielt gerade bei dem "Wandel der Tugenden", bei dem "Wandel" der Moralen, eine entscheidende Rolle. Es ist niemals das genuin Sittliche, das sich wandelt, sondern es sind diese Substitute für Sittlichkeit, die je nach Epochen und je nach politischen und kulturellen Gemeinschaften wechseln.
Ebenso kann man von sittlichen Tugenden nicht sagen, sie seien so verschiedenartig, dass sie sich nicht in ein System bringen lassen, ja dass es unzählige "Moralen" gäbe. Dies kann sich sinnvollerweise nur auf "Tugenden" beziehen, die einen aussersittlichen Charakter haben; Bollnow behandelt denn auch meist aussersittliche "Tugenden", ohne aber die aussersittlichen Werte von den sittlichen klar zu trennen. Er weist dabei auf Nikolai Hartmanns Ethik hin. Hartmann hat - irrigerweise - aus der Tatsache einer Exklusivität von Werten in ein und demselben Träger eine Antithese der Werte gemacht. Es ist wahr, dass ein majestätischer Berg nicht zugleich die Zartheit und Lieblichkeit eines Veilchens haben kann. Aber diese Exklusivität, die durch die Begrenztheit des Trägers bedingt ist, impliziert in keiner Weise eine echte Antithese der Werte "majestätisch" und "lieblich" in dem Sinne, in dem der Unwert "grob" und der Wert "lieblich" Antithesen sind. Alle Werte, auch bei größter qualitativer Verschiedenheit, künden als Werte in harmonischem Einklang von einer und derselben, alle Werte per eminentiam verkörpernden absoluten Wirklichkeit - Gott.
Doch selbst diese Exklusivität, die nicht auf einer wirklichen qualitativen Antithese beruht, gibt es nur bei aussersittlichen Werten. Es ist wahr, ein und derselbe Mensch kann nicht eine übersprudelnde, kraftvolle Vitalität haben und gleichzeitig eine immaterielle, ätherische Zartheit besitzen, obgleich, wie wir sahen, diese Art von Exklusivität in keiner Weise eine Antithese darstellt. Aber es ist gerade eine Grundeigentümlichkeit der sittlichen Werte, dass der Mensch alle besitzen sollte. Es ist offenbar unmöglich, dass jemand sinnvollerweise sagt: "Meine Spezialität ist Gerechtigkeit, die Reinheit überlasse ich anderen." Gewiss: Obgleich es im Wesen der sittlichen Werte gegründet ist, dass sie alle gefordert sind, besteht auf der Ebene der rein natürlichen Sittlichkeit eine Schwierigkeit, gewisse Tugenden, wie etwa Sanftmut und den glutvollen Eifer für die Herrschaft des Guten und Wahren zu vereinen; aber wie wir noch sehen werden, finden wir auf der übernatürlichen Ebene, d. h. im Heiligen, ein solches Ineinandergreifen und Umfassen dessen, was auf der rein natürlichen Ebene schwer zu vereinen ist. Im Heiligen ist die Sanftmut und das eifervolle "Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit" vereint. Auch in dieser Hinsicht findet alle natürliche Sittlichkeit erst in der übernatürlichen ihre Erfüllung.
Aber, bevor wir auf das völlig Neue und zugleich alle natürliche Sittlichkeit Erfüllende der übernatürlichen Sittlichkeit eingehen, kommt es uns zunächst darauf an, die spezifisch sittlichen Werte von anderen Person-Werten abzugrenzen. Dabei wird sich dann auch ergeben, in welchem Sinn allein man von einem "Wandel der Tugenden" und von "Tugend heute" sprechen kann.
Wenn wir von sittlichen Werten und ihrem Gegenteil, den sittlichen Unwerten, sprechen, so haben wir solche im Auge, die in ihrer eigenen Qualität Differenzierungen von "Gut" und "Böse" sind, die darum die ganze einzigartige Tragweite und Transzendenz des Sittlichen besitzen, die Kierkegaard im Auge hat, wenn er das Sittliche den "Atem des Ewigen" nennt.
Demgegenüber gibt es viele personale Werte, die, obgleich nicht als solche sittlich, doch indirekt eine Bedeutung für das sittliche Leben besitzen; formale Personwerte wie Energie, Selbstbeherrschung, auch das, was Bollnow Wahrhaftigkeit nennt, u. a., sind wesentliche Voraussetzungen für das sittliche Leben, ohne selbst schon spezifisch sittlich gut zu sein. Andere Personwerte können Folgen eines sittlichen Verhaltens sein; oder sie können in einer bestimmten Situation sittlich relevant werden, wie z. B. Ordnung, Fleiß, usw. Wieder andere können pädagogisch einen Einfluss auf das sittliche Leben haben; so können Reinlichkeit und Ordnung beim Kind den Weg für ein sittliches Verhalten ebnen; aber sie selbst sind nicht im eigentlichen Sinne sittliche Werte.
Wir beschränken uns hier auf die spezifisch sittlichen Werte - Werte, die in ihrer Qualität das ganze Pathos und den letzten Ernst des sittlich Guten besitzen.
Zunächst müssen wir sittliche Werte, wie gerecht, rein, treu, freigebig, gütig, von all denjenigen Werten unterscheiden, die auf der Objektseite uns entgegentreten. Auf sie einzugehen, sie zu bejahen, ihrem Ruf zu folgen, ist sittlich gut, und in diesem Sinne sind diese Werte sittlich bedeutsam. So sind der Wert eines Menschenlebens, der Wert des Friedens der Völker, der Wert der Wahrheit, der Wert eines legitimen und geordneten Staates, sittlich bedeutsame Werte, aber nicht sittliche Werte. Der Unwert, der in der Tatsache gelegen ist, dass ein Mensch leidet, ist sittlich bedeutsam; ihn zu beachten, ist eine sittliche Forderung; so ist es z. B. unsittlich, wenn ich einem Menschen, ohne dass eine zwingende Notwendigkeit vorliegt, Leiden verursache, und es ist sittlich gefordert, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten sein Leiden zu lindern suche oder, wenn dies unmöglich ist, auf jeden Fall mit echtem Mitleid darauf eingehe. Aber der Unwert, der in der Tatsache liegt, dass ein Mensch leidet, ist sicherlich als solcher kein sittlicher Unwert.
Alle sittlichen Werte sind offenbar auch sittlich bedeutsam, aber nicht alle sittlich bedeutsamen sind sittliche Werte.
Diese in sich selber grundlegende Unterscheidung der sittlichen von den sittlich bedeutsamen Werten ist nun auch von spezieller Wichtigkeit in der Behandlung unseres Problems, der Beziehung des Sittlichen zum Zeitwandel. Es ergibt sich nämlich bei näherem Zusehen, dass die oft bis zum Widerspruch gehende Verschiedenheit in der sittlichen Beurteilung gewisser Handlungsweisen zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern in erster Linie sittlich bedeutsame und nicht sittliche Werte betriffi (20).
Nachdem wir die sittlichen Werte von dem viel umfassenderen Bereich der sittlich bedeutsamen getrennt haben, wollen wir kurz auf die Merkmale hinweisen, durch die sich die sittlichen Werte (die immer Personwerte sind), von anderen Personwerten abgrenzen. Sittliche Werte und Unwerte, alle Unterarten von sittlich gut und sittlich schlecht oder böse, setzen nicht nur eine Person voraus, sondern auch in spezifischer Weise den freien Willen der Person. Dies kommt deutlich zum Ausdruck in der Art unserer Beurteilung personaler Unwerte. Wir stehen nicht an, einem Menschen seinen Geiz, seine Unreinheit vorzuwerfen, während wir niemanden für die Langeweile verantwortlich machen, die er ausströmt, oder für seinen Mangel an Begabung. Sittlichkeit und Verantwortlichkeit hängen unlöslich zusammen und, mit der Verantwortlichkeit, wieder die Rolle, die der freie Wille bei allem Sittlichen spielt.
Die einzigartige Beziehung zum freien Willen ist ein entscheidendes Merkmal der Welt des Sittlichen, und in dieser Beziehung zum freien Willen ist es auch gegründet, dass sittliche Tugenden etwas sind, das erworben werden kann. Darin sind die sittlichen Werte deutlich von intellektuellen und vitalen Werten geschieden, so sehr auch bei diesen Personwerten der freie Wille eine Rolle zu spielen vermag, wie es in der bewussten Entwicklung vorgegebener Anlagen intellektueller oder vitaler Natur zum Ausdruck kommt.
Aber diese beiden Momente, die Rolle des freien Willens und die Erwerbbarkeit, genügen noch nicht, um die sittlichen Werte von allen sonstigen Personwerten abzugrenzen, denn es gibt viele andere Personwerte, die erworben werden können und die deshalb noch keineswegs sittliche Werte sind. Dahin gehören äußere Werte, wie Reinlichkeit und Ordnung, aber auch solche wie Selbstbeherrschung oder Fleiß. Diese Personwerte sind unserer Freiheit zugänglich, aber wir wissen noch nichts über den moralischen Status eines Menschen, wenn wir feststellen können, dass er große Selbstbeherrschung besitzt oder dass er sehr fleißig ist. Denn einem Verbrecher können diese Züge ebenso zu eigen sein wie einem moralisch guten Menschen.
Es wurde oben von der Verantwortlichkeit gesprochen, die das Sittliche auszeichnet. In ihr liegt mehr beschlossen als nur die formale Tatsache, dass das Sittliche die Freiheit voraussetzt und dass sittliche Werte erwerbbar sind. Es kommt darin der einzigartige Ernst zum Ausdruck, der dem Sittlichen und nur dem Sittlichen zu eigen ist, der nur dort in Erscheinung tritt, wo die sittliche Frage sich erhebt.
Darin also liegt ein zweites entscheidendes Merkmal: dem sittlich Guten und dem sittlich Bösen haftet gegenüber allen anderen Personwerten eine unvergleichliche Tiefe an. Ein neuer, unverkennbarer Klang ertönt, sobald es sich um die sittliche Frage handelt; wir werden in eine ganz neue Welt einbezogen, wenn ein sittlicher Wert oder Unwert vor uns steht! Was sind alle glänzenden Talente eines Macbeth gegenüber seiner furchtbaren Schuld! Wir rühren an die Achse der Welt - an die Urfrage, der gegenüber alle anderen Werte und Unwerte unwesentlich erscheinen. Dieser unvergleichliche Ernst des Sittlichen leuchtet in dem sublimen Wort des Sokrates auf: "Alles Unrecht gegen mich und das, was mein ist, ist ein größeres Übel und weit schlimmer für den, der es tut, als für mich, der ich es leide" (Plato, Gorgias, 508 E).
Diese einzigartige Stellung des Sittlichen tritt noch deutlicher hervor, wenn wir bedenken, dass nur ein moralisches Unrecht unser Gewissen trifft. Diese geheimnisvolle innere Stimme, das Gewissen, erhebt sich nur, wenn wir glauben, etwas sittlich Unrechtes getan zu haben. Sie ist wesensverschieden von aller bloßen Bedrücktheit, die wir empfinden, wenn wir etwas Dummes getan, wenn wir uns eine Blöße gegeben haben. Sie gehört einer ganz anderen Schicht an; sie spricht aus einer anderen Tiefe und dringt in eine andere Tiefe. Nichts kann der Disharmonie verglichen werden, die durch das beunruhigte Gewissen ausgelöst wird.
Die Majestät und einzigartige Bedeutsamkeit des Sittlichen prägt sich auch in dem wesenhaften Zusammenhang von sittlicher Schuld und Strafe aus. Derjenige, der sich eines sittlichen Unrechtes bewusst ist, der klar erkennt, dass er sittlich schuldig ist, erfasst auch klar, dass er eine Strafe verdient. Es würde zu weit führen, auf das Wesen der Strafe hier einzugehen, auf ihre Wesensverschiedenheit von aller Rache, sowie auf die Tatsache, dass die in der Strafe gelegene Antwort auf die durch die sittliche Schuld erzeugte metaphysische Disharmonie letztlich nur von Gott gegeben werden kann (21).
Diese Beziehung des Sittlichen zu Lohn und Strafe ist ein Zeichen der einzigartigen Transzendenz des Sittlichen. Die Bedeutsamkeit und das Gewicht des Sittlichen sprengen den Rahmen unserer irdischen Existenz. Die sittliche Frage weist - rein schon in ihrer Qualität - über das bloß Irdische hinaus. Es ist in ihr etwas überweltliches berührt und diese Überweltlichkeit, die den wahren sittlichen Werten eigen ist, macht alle Versuche einer "Soziologisierung" des Sittlichen unmöglich. In der Welt der menschlichen Gemeinschaften findet das Sittliche ein wichtiges Feld der Entfaltung, aber es stammt nicht von dieser Welt und findet nicht durch sie seine Rechtfertigung. Und wenn schon die Vorstellung irrig ist, das Sittliche ließe sich auf die Bedeutung, die es für das Gemeinschaftsleben hat, zurückführen, so ist die Auffassung, sittliches Bewusstsein und sittliche Werte seien nichts anderes als soziologische Phänomene und das Sittliche sei als solches ein Epiphänomen individueller Gemeinschaften, völlig abwegig.
Die kurze Herausarbeitung der Eigenart des Sittlichen lässt klar hervortreten, dass es gänzlich irrig ist, zu behaupten, es gäbe keinen einheitlichen Nenner für das Sittliche und es könne deswegen mehrere gültige Moralen geben.
Bollnow betont, es sei unmöglich, ein System der Tugenden aufzustellen. So wichtig es ist, davor zu warnen, Systeme zu konstruieren, weil sie die Gefahr mit sich führen, das Wirkliche um der Einheit des Systems willen zu vergewaltigen, vor allem, wenn es darum geht, die eine Tugend aus der anderen "ableiten" zu wollen, so falsch ist es, ein "System der Tugenden" deswegen abzulehnen und für unmöglich zu halten, weil es verschiedene gültige Moralen gäbe. Diese Auffassung rührt eben daher, dass man Substitute für die Sittlichkeit nicht von den wahren sittlichen Werten trennt, oder überhaupt aussersittliche Werte nicht von den spezifischen sittlichen Werten unterscheidet.
Nicht die Moralen variieren, sondern die "Wertblindheiten" variieren in den verschiedenen Zeitepochen. Nicht etwas Verschiedenes ist gut zu verschiedenen Zeiten, sondern das, was von dem Gesamtbereich des objektiv Geforderten sich für den Blick der Menschen verdunkelt, ist verschieden zu verschiedenen Zeiten. Blindheit und Stumpfheit für gewisse sittliche Werte oder auch gewisse sittlich bedeutsame Werte sind typische Zeitphänomene. So krankt die heutige Zeit z. B. an anti-affektiver Nüchternheit, die im Zusammenhang steht mit dem Zug zu einer Mechanisierung des menschlichen Lebens, und die eine Tendenz zur Ehrfurchtslosigkeit zur Folge hat. Damit verdunkelt sich aber auch gleichzeitig der Blick für gewisse Werte oder Unwerte. Auf der anderen Seite ist der Wert der Wahrhaftigkeit heute oft deutlicher gesehen als zu anderen Zeiten, die oft blind waren für das Unmoralische, das darin gelegen ist, andere Menschen im moralischen und religiösen Bereich unter Zwang zu setzen.
Es muss nun aber auch betont werden, dass heute nicht nur partielle Wertblindheit zu finden ist, - die sich auf bestimmte sittliche Werte (und entsprechend auch auf Unwerte) bezieht - sondern, dass eine gewisse Diskreditierung der Moral als solcher um sich greift. Dass selbstgerechte Pseudomoral - das, was Nietzsche "moralin-sauer" genannt hat - der Diskreditierung der Moral selber zum Vorwand gedient hat, dass die Antipathie gegen sittliche Gebote aus der legalistischen Verzerrung des Sittlichen Nahrung gezogen und zum Protest der Situations-Ethik geführt hat, ist zwar nicht unbegreiflich, aber es ändert nichts daran, dass das Erblinden für die innere Schönheit, die Majestät der sittlichen Wertewelt eine furchtbare und sehr akute Gefahr ist, die es zu erkennen und gegen die es zu kämpfen gilt.
Die Tatsache, dass heute gewisse aussersittliche Werte (und wenn man den Begriff Tugend soweit ausdehnen will, was mir nicht glücklich erscheint, aussersittliche Tugenden) mehr im Vordergrund stehen als die eigentlich sittlichen und erst recht die übernatürlich sittlichen, legt deutlich Zeugnis ab für die Realität dieser Gefahr.
Eine gewisse Verschleierung des Blickes für die wahre Größe und den letzten Ernst der sittlichen Wertewelt kann sogar in gewissen katholischen Kreisen gefunden werden, die aus Reaktion gegen eine Moralisierung der Religion das Religiöse gegen das Moralische ausspielen. Sie verstehen nicht, dass es ein Wesensmerkmal des Christentums ist, dass die Moral nicht eine bloße Vorbedingung für den Aufstieg zum religiösen Leben ist (wie bei den östlichen Religionen), sondern dass in der Heiligkeit, zu der wir berufen sind, Sittlichkeit und das Leben der "neuen Kreatur" ganz ineinanderverwoben sind, ja dass Gott selbst der Inbegriff aller Gerechtigkeit, aller Barmherzigkeit, aller Liebe ist.
Wo wir diese Blindheit für das eigentliche Wesen und die letzte Würde der sittlichen Wertewelt antreffen, sollte es uns ein Mahnruf sein, uns von jeglichem Angestecktwerden von dieser Zeitkrankheit ganz frei zu halten, und uns zum Ansporn werden, gegen diesen Irrtum anzukämpfen und das Sittliche in seinem wahren, unverminderten Wesen immer wieder neu herauszustellen.
(verlinkter Absatzeinschub)
Das Wichtigste, in diesem Zusammenhang, ist aber natürlich, den Sinn für die christliche Sittlichkeit zu wecken, die einerseits etwas völlig Neues darstellt gegenüber jeder natürlichen Sittlichkeit, andererseits die Erfüllung jeder wahren natürlichen Sittlichkeit ist. Beides ist gleich wichtig. Es ist ebenso wesentlich, den ganz neuen, verklärten Glanz zu erkennen, den die Demut eines Heiligen, seine Sanftmut, seine Reinheit, seine Liebe gegenüber der Sittlichkeit eines Sokrates besitzen - wie zu verstehen, dass alle natürliche Sittlichkeit in der christlichen Sittlichkeit ihre Erfüllung und letzte Krönung findet. Wenn jemand die christliche Sittlichkeit als eine unter vielen anderen Moralen auffasst und versucht, ihre Eigenart aus der Abkehr von der Welt abzuleiten, statt in ihr die Erfüllung der wahren natürlichen Moral zu erkennen und in ihr die Ursubstanz alles Sittlichen gegenüber allen Substituten zu entdecken, beweist er damit, dass ihm das Phänomen der Heiligkeit nie aufgegangen ist.
Es ist eines der großen Anliegen meines gesamten Lebenswerkes, das ganz Neue der Sittlichkeit der Bergpredigt herauszuarbeiten. Hier kann ich darauf nur kurz hinweisen.
Während Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Treue und Freigebigkeit auch in Sokrates, also auch ohne die christliche Offenbarung, Gestalt gewinnen und diese Tugenden als Antworten auf die uns ohne die Offenbarung bekannte Welt erstehen können, gibt es viele Tugenden, die als ihren Gegenstand den in Christus enthüllten Gottesbegriff, die heilige Menschheit Christi, die christliche Schau des Menschen voraussetzen.
Gerade in diesen Tugenden begegnen wir jedoch einer vollkommen neuen, unvergleichlichen Gutheit, einer verklärten heiligen Güte, die ein Widerschein der heiligsten Menschheit Christi ist. Diese Tugenden sind das Herz der christlichen Sittlichkeit. Aber abgesehen von ihrer absolut neuen Qualität, sind sie zugleich die Erfüllung jeder natürlichen sittlichen Gutheit. Während sie vollkommen über die natürlichen sittlichen Werte hinausgehen, enthalten sie doch "per eminentiam" (durch Überhöhung) jeden in der nur natürlichen Sittlichkeit bestehenden sittlichen Wert. Denn jeglicher sittliche Wert ist eine besondere Abbildung Gottes und findet in der "similitudo Dei" (Gottähnlichkeit) eines Heiligen seine Krönung.
Auf dem Hintergrund der Offenbarung erhalten alle sittlich bedeutsamen Werte eine ganz und gar neue Bedeutung. Ein neuer Ernst, ein neuer realistischer Charakter, ein Atem der Ewigkeit durchweht die sittliche Ordnung, in der sich das große Drama der menschlichen Existenz in Konfrontation mit Gott abspielt. Die Stimme Gottes ertönt im Dekalog, der das Gebot Gottes, des Lebendigen ist und nicht ein bloßes abstraktes Gesetz. Es spricht der unendlich heilige Herr, den Unsittlichkeit beleidigt und sittliche Gutheit verherrlicht. So besitzt die Ehrfurcht, der Gehorsam eines Abraham, das Verzeihen eines Joseph in Ägypten, die Reinheit einer Susanna eine ganz neue Tiefendimension, ein ganz neues Gewicht. Aber vor allem enthüllt uns die Sittlichkeit der Heiligen des Neuen Bundes, der hl. Maria Magdalena, des hl. Paulus, des hl. Johannes, des hl. Franziskus von Assisi, der hl. Katharina von Siena, des hl. Ignatius, des hl. Don Bosco, ein vollkommen neues Ethos.
Das erste entscheidende Merkmal des christlichen Ethos ist die unerlässliche und alles bestimmende Rolle der Demut. Man kann sich keine größere Revolution in der Sittlichkeit vorstellen als die Parabel vom Pharisäer und vom Zöllner. Auch Sokrates hat die lächerliche Hässlichkeit der Eitelkeit gesehen. Aber die geheimnisvolle Schönheit des Menschen, "der sich selbst erniedrigt", der sich selbst auf eine tiefere Stufe stellt, als er tatsächlich innehat, der danach verlangt, alle Ehren von sich zu werfen und freudig jede Verdemütigung anzunehmen, war nicht verständlich für Sokrates; sie ist ein Ärgernis und eine Torheit für die natürliche Sittlichkeit. Die Bedeutung der Demut ist solcherart, dass sie die gesamte Sittlichkeit verwandelt. Sie durchdringt alle anderen Tugenden und verleiht jeder einen neuen Wert ohnegleichen. Nur auf der Grundlage der Demut entfalten alle anderen Tugenden ihre volle Schönheit. Sie ist es, die dem gesamten Ethos eines Menschen eine völlig neue Note mitteilt. Sie erhöht ihn geheimnisvoll, beschenkt ihn mit einer sublimen, inneren Freiheit und legt die Mauern nieder, in denen er sich selbst eingekerkert hatte.
Auch Barmherzigkeit ist eine der zentralen christlichen Tugenden. Ja, sie ist sogar geradezu das Maß, nach dem wir bei Gott Erbarmen finden werden. Der völlig neue Rhythmus dieser von dem Hauch des göttlichen Erbarmens durchwalteten Sittlichkeit offenbart sich auch in der beherrschenden Rolle, die hier der Reue zufällt. Die Reue ist der Durchbruch zur wahren Freiheit; die Reue lässt uns "wahr werden"; in der Reue gelangen wir zu jener glorreichen Auferstehung, da wir als nackte Bettler in die liebenden Arme Gottes fallen.
In der Ethik des Sokrates spielt die Reue keinerlei beherrschende Rolle, auch nicht bei Plato und Aristoteles. Das Bewusstsein unserer Sündhaftigkeit, dieses geheimnisvollen Bruches in unserer Natur, der, wie uns die Offenbarung lehrt, die Folge der Erbsünde ist, der sich aber als solcher auch unserem Empfinden und unserer Vernunft kundtut - die Tatsache ferner, dass wir auf Gottes Erbarmen hoffen müssen und nicht auf seine Gerechtigkeit, gibt der Reue eine ganz neue Rolle in dem Bereich des Sittlichen. Reue ist das innerste Herz jeder Bekehrung, jeden Anfangs eines wahrhaft sittlichen Lebens.
Reue öffnet dem Sünder nicht nur durch Gottes Erbarmen den Weg zur Heiligkeit. Reue verleiht einem Sünder, und selbst dem größten Sünder, nicht nur eine entwaffnende, unwiderstehliche Schönheit. Von ihr gelten nicht nur die Worte unseres Herrn: "Es wird im Himmel mehr Freude sein über einen reuigen Sünder als über neunundneunzig Gerechte, die der Reue nicht bedürfen." Sie ist auch ein unerlässliches Grundelement im sittlichen und religiösen Leben aller Heiligen - des hl. Apostels Johannes wie des hl. Petrus, der hl. Rosa von Lima wie des hl. Augustinus. Das Erwachen zur letzten Wirklichkeit, die Übergabe der Festung des Hochmuts, alle diese Elemente der Reue sind in der Seele des Heiligen stets lebendig. Er findet immer Grund zur Reue, weil seine Augen dort Makel gewahren, wo sie für uns nicht mehr sichtbar wären, und weil er Verantwortlichkeit und Schuld nach den von Gott empfangenen Gnaden misst und nach dem Abgrund, der ihn von Gottes unendlicher Heiligkeit trennt.
Die christliche Sittlichkeit ist durch eine heilige innere Freiheit charakterisiert, ein Erhobensein über uns selbst, ein Stehen im vollen Licht der Wahrheit. Ihr ist eine Unbegrenztheit eigen, die sich in jener schrankenlosen, unwiderstehlichen Liebe manifestiert, bei deren Anblick sich die Menschen durch Jahrhunderte hindurch seit der Ankunft Christi fragten: "Qui sunt illi et isti?" ("Wer sind diese?") Sie war die fundamentale Gegebenheit, über die Henri Bergson "staunte" und die nach seiner Ansicht die Quelle der höheren Sittlichkeit ist.
Es ist ein drittes Kennzeichen der christlichen Sittlichkeit, dass ihr Herzstück diese spezifische Gutheit der Liebe ist, während Richtigkeit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit das Zentrum der natürlichen Sittlichkeit bilden. Von Sokrates' Persönlichkeit z. B. geht ein Geist der Wahrhaftigkeit, edlen Nüchternheit, Geradheit und Gerechtigkeit aus. Doch das Gebet des hl. Stephanus für seine Mörder atmet die überfließende Gutheit der Liebe. Und aus dem hl. Franziskus, der den Aussätzigen umarmt, leuchtet dieselbe unwiderstehliche, strahlende Liebe hervor. Vor allem aber verkörpert sich diese heilige Gutheit der Liebe in den Worten unseres Herrn: "Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen".
Endlich zeigt sich der radikal neue Charakter christlicher Sittlichkeit darin, dass alle Tugenden und sittlichen Haltungen, welches auch ihr Gegenstand sei, aus einer Antwort auf Gott entspringen. Das Rückgrat aller dieser Tugenden ist die Gottesliebe, durch Christus, mit Christus und in Christus. Die erhabenste Wertantwort ist hier die Grundlage aller anderen. Jede Antwort auf ein sittlich bedeutsames Gut wurzelt in dieser Liebe und wächst organisch aus ihr hervor.
Es ist leicht, der Erhabenheit einer Sittlichkeit innezuwerden, deren letzte Grundantwort sich nicht nur auf sittlich bedeutsame Werte richtet, sondern auf die absolute Person, die die unendliche Güte selbst ist. In dieser Sittlichkeit durchdringt und durchformt die Liebe zu Gott und Gottes Liebe in uns jeden Willensakt und ist das erste und letzte Wort im Menschen.
Wir müssen uns in diesem Rahmen mit diesem kurzen Hinweis auf die Eigenart der übernatürlichen Sittlichkeit begnügen. Es muss aber noch mit allem Nachdruck betont werden, dass diese christliche Sittlichkeit, wenn sie wirklich gelebt wird, ebenso sieghaft und unwiderstehlich auf die Seele des heutigen Menschen wirkt, wie sie es in früheren Zeiten getan hat. Dafür ließen sich unzählige Beispiele anführen. Jede Diskreditierung der Moral, alle Antipathie gegen die sittlichen Gebote zerstieben, wenn die wahre übernatürliche Sittlichkeit sich lebendig manifestiert.
"Tugend heute" - dieser Begriff hat einen Sinn, wenn man feststellen will, welche Substitute für die wahre Moral heute vorherrschen, welche sittlichen Werte mehr verstanden werden heute als in früheren Zeiten, und für welche man heute erblindet ist. Aber der Begriff "Tugend heute" wird unsinnig, sobald man in der heutigen Zeit einen Richter erblicken wollte, vor dem sich die Tugend auszuweisen und der darüber zu entscheiden hätte, ob die christliche Moral "uns noch etwas zu sagen hat". In diesem Sinne sagte Karl Adam, als er im Jahre 1928 in Konstanz über das Thema "Christus und die heutige Welt" sprach, der Sinn dieses Themas könne nur sein, dass die jetzige Zeit sich vor Christus ausweise und nicht umgekehrt.
So kann auch der Titel "Tugend heute" nur eine Konfrontation unserer Zeit mit der ewig gleichbleibenden Welt der natürlichen und übernatürlichen sittlichen Werte, letzten Endes mit Christus, bedeuten.
- Christus heri, hodie, et in saecula.
Nachwort
der lässt allen Dingen ihre Ordnung.
Die Frage nach dem Verhältnis des menschlichen Seins zum Tun hat Hildebrand schon in den dreißiger Jahren beschäftigt (1). In seinen beiden, hier zusammengefassten Abhandlungen wird nun die Unabänderlichkeit des Sittengesetzes ("Tugend heute") und der Primat der sittlichen und religiösen Personwerte vor jeder Leistung herausgearbeitet ("Heiligkeit und Tüchtigkeit"). Die letztgenannte Schrift legt die Unterzeichnete erstmals in deutscher Übersetzung vor (2).
Allen relativistischen und aktivistischen Strömungen unserer Zeit entgegen, betont Hildebrand den Vorrang der sittlichen und religiösen Werte vor jeglichem beruflichen, ja überhaupt innermenschlichem, vorsittlichen Engagement. Jeder Mensch, vorab der Christ, ist zuallererst zur Gottesverherrlichung gerufen. Niemals liegt sein Schwergewicht in seiner Tätigkeit. Nie darf auch der Wert der Gottesverehrung und der Nachfolge Christi von ihrer Unentbehrlichkeit für eine fruchtbare Arbeit abgeleitet werden.
Zweifellos gibt es große und geniale Leistungen, die nicht vom Gebet durchformt sind. Ihnen eignet oft ein Element natürlicher Kontemplation. Doch die Geschichte und besonders unsere Zeit ist voll von Beispielen für den sterilen oder zerstörerischen Charakter, den eine völlig autonome, aus der "religio" herausgerissene Arbeit sehr schnell annimmt (3). Hildebrands Anliegen hier ist aber nächst dem Primat des Seins vor dem Tun das christliche Verhältnis zur Arbeit. Daran möchten wir einige Überlegungen knüpfen, die seine Gedanken auf verschiedene, heute besonders dringliche Fragen anwenden:
Wir können nicht von der Würde und Unerlässlichkeit der sachgerechten Arbeit gerade des Christen sprechen, ohne auch die in ihr verborgenen Verstrickungen und Anfechtungen zu sehen. Diese werden sofort übermächtig, wenn der Primat der Gottesverehrung vor jedem Dienst am Nächsten und an der Welt nicht gewahrt bleibt. Dann nämlich wird dieser Dienst trotz unablässiger Anstrengung bald weniger wirksam, er wird fehlgeleitet, prometheisch, sinnwidrig.
Wir bedürfen der beständigen Erinnerung daran, dass eine Rede, eine Tat, die aus der Sammlung erwuchs, hundertmal reichere und beständigere Früchte trägt, als pausenlose, ungesammelte, leerlaufende Aktivität. Weil sie ungeordnet ist, bringt sie auch Unordnung und Unfriede hervor. Je dramatischer die Probleme um uns herum werden, um so lebensnotwendiger also die Kontemplation, um so unentbehrlicher die aus der Tiefe, aus dem Befragen Gottes reifende Ordnung. Einerseits zwingen uns die ungezählten prinzipiellen Fragen der Jetztzeit, eine Beantwortung angesichts der ewigen Botschaft des Schöpfers und Erlösers zu suchen ("Tugend heute"). Anderseits ist die tägliche Begegnung mit der Welt - im weitesten Sinne - zu vollziehen und zu bestehen. Dies geschieht höchst konkret zumal in der Arbeit. In ihr stellt sich für jeden sittlich wachen Menschen, erst recht recht für jeden Christen die Aufgabe, voll auf die Eigenstruktur eines Sachgebietes einzugehen ohne aber seiner Eigendynamik zu verfallen. Die - anscheinende - Doppelgesichtigkeit der gesamten irdischen Situation: in der Tiefenschicht Gott zugewandt zu verharren und zugleich mit vollem Einsatz den gestellten Auftrag in der Welt zu erfüllen, zeigt sich hier besonders deutlich.
Diese Zuwendung zum Welthaften muss so sinngerecht, so zuchtvoll geschehen, dass wir den tatsächlichen inneren Gestus der Güter, ihre über sie hinausführende Sinnlinie ganz und hingegeben mitvollziehen können und doch nicht unserem Besitzen-Wollen und einer immanenten Dynamik erliegen.
Die Weltbereiche tragen diese Gott-entfremdende Dynamik ja nicht ursprünglich als Schöpfung in sich. Aber sie liegen seit der Erbsünde des Menschen "mit in Wehen" (Röm 8, 22). Mit diesen Worten deutet der Apostel die verheißene Verklärung der ganzen Schöpfung in der Endzeit an, betont aber insbesondere ihre jetzige Hinfälligkeit, ihre "Knechtschaft". Sie untersteht nämlich nicht mehr ausschließlich der heilen göttlichen Ordnung des Schöpfungsmorgens. Der Fluch Gottes (Gen 3, 17) ist auch auf sie gefallen. Zwar wurde sein Verhängnis durch Christi Erlösung aufgehoben, jedoch nicht in allen seinen Folgen getilgt. Todverfallenheit, Bruch und Störung der ursprünglichen Harmonie sind geblieben. Sie ermöglichen Satan eine Beeinflussung, u. U. sogar eine Beherrschung auch der äußeren Natur (4). Wenn auch entthront, ist er noch der "Fürst dieser Welt". Diese schauererregende Realität hat Augustinus in seiner Konzeption der "civitas diaboli" (Stadt des Durcheinanderwerfers) mit gemeint. Wir vermögen sie nicht genauer zu bestimmen, aber dem unverbildeten Menschen und erst recht dem Auge des Glaubens wird sie zuweilen unabweislich erfahrbar. Auf diesem Hintergrund gilt es die Begegnung des Menschen mit seiner eigenen Natur wie mit den Mitgeschöpfen zu sehen. Wir können die in den Weltdingen enthaltenen Unordnungen sehr schwer näher umschreiben. Doch wissen wir zuverlässig, dass das erbsündig geprägte, ungezügelte Verlangen des Menschen auf eine in ihnen verborgene Potenz auftrifft, sie steigert, sich in ihr verfängt. Es ist schlechthin unmöglich, ohne die uralte Einsicht in die geschöpfliche Gefallenheit - sie klingt schon in Plutarchs Moralia an - diese Spannungsverhältnisse realistisch zu sehen. Denken wir an die Faszination, die von Macht, Reichtum und Sex ausgeht!
Diese Aufgabe des Eingehens und doch nicht Untergehens stellt sich in der Arbeit für jeden Christen und in besonderer Weise für den Laien (6). Gewöhnlich nimmt sie in seinem Leben einen breiteren Raum ein als bei den zu den evangelischen Räten Berufenen. Er ist nicht den "höheren", "heroischen" Weg gewiesen, die natürlichen Bereiche in Gott zu lieben: sie überspringend, sich direkt und ausschließlich nach Gott selbst auszustrecken. Unser ist der "kleinere" Weg: durch die natürlichen Bereiche hindurch - seien sie Spur (vestigia) oder Abbild (imago) - Gott zu finden und uns mit ihnen Gott darzubringen. "Für uns Menschen im Pilgerstand ist nämlich die Gesamtheit der Dinge eine Leiter, die zu Gott empor führt." "Darum beginnen wir unten mit der ersten Stufe und halten uns die gesamte sinnenfällige Welt als einen Spiegel vor, durch den wir zu Gott, dem höchsten Werkmeister, gelangen (6). Dabei bleiben wir in der beständigen Gefahr, die Weltdinge von ihrem Schöpfungs- und Höhengeheimnis: "non sumus; quaere super nos" (wir sind es nicht; suche über uns hinaus) (7) loszureißen, sie mit uns in die Gottferne hinab zu zerren. Nur ein Kind oder ein Tor bewegt sich mit ahnungsloser Sicherheit auf dem irdischen Gelände.
Dieser doppelgesichtige Auftrag: unsere stetige Hingabe an Gott mit dem täglichen Tun zu nähren, kann nur aus dem Gebet annähernd erfüllt werden. Dann aber erleben wir, dass die Fähigkeit der vollen tätigen Zuwendung zum Irdischen wächst mit der Tiefe der Verankerung in Gott.
Der Laie in der Welt bedarf also einer besonderen Form des Gebetes, das ihn zuerst für die gebührende Antwort auf den jeweils thematischen Schöpfungsbereich zubereitet und darauf das gottgewollte Wirken in ihm anregt und durchformt. Auch Laienspiritualität ist also in sehr ausdrücklicher Weise "geordnete Liebe" (8). Dazu gibt uns Hildebrand wesentliche Richtlinien.
Aus einem weiteren Grund verweist uns die Erfahrung auf diesen Weg. Bei aller getreuen Bewahrung des unwandelbaren Offenbarungsgutes stehen wir insofern in einer neuen Phase christlicher Lebensgestaltung, als uns offensichtlich die Entwicklung einer ausgesprochenen Laienspiritualität aufgetragen ist, in Abhebung und Ergänzung zu der stark monastisch geprägten, die noch im vorigen Jahrhundert vorherrschte. Die Bedeutung der natürlichen Gemeinschaften und Werte, der gesamten, von Gott kündenden Schöpfungsordnung gerade für das geistliche Leben ist uns neu und eindringlich bewusst geworden.
Ferner zwingt uns der zunehmende Glaubensschwund geradezu, die Verbindung mit unseren Mitmenschen zuerst im Rahmen des natürlich Notwendigen, Guten und Schönen zu suchen. Schon Pius XII. hatte mit seiner Förderung und Anerkennung der Säkularinstitute diese Richtung eingeschlagen. Vorausschauend erkannte er in den Laienbewegungen eine Kraft, die eine geistliche Erneuerung und Verjüngung der Kirche heraufführen könnte. In seinem Motu proprio vom 12. März 1948 stehen die Grundworte dieser neuen und doch schon im Urchristentum gelebten Laienspiritualität: "Dieses Lebenszeugnis ... soll getreulich nicht nur in der Welt, sondern gleichsam aus dem Inneren der Welt hervor geübt werden, somit in Berufsformen, in Arbeitsweisen, Gestalten, Orten, Umständen, die der welthaften Daseinsweise angemessen sind." (Non ta nt um in saeculo, sed veluti e saeculo) (9). Das Konzil hat sie im Dekret über das Apostolat der Laien, im 4. und 5. Kapitel der dogmatischen Konstitution über die Kirche und in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute bekräftigt und ausgebaut (10).
Die Gedanken Hildebrands bieten einmal konkrete Hinweise für dieses christliche Tätigwerden in der Welt von heute und helfen zugleich, die Impulse des Konzils in reales Verhalten umzusetzen. Zum anderen können sie im Einklang mit Geist und Wort des Konzils deutlich machen, dass angesichts des faktischen Atheismus rings um uns herum von jedem nicht mehr und nicht weniger gefordert ist, als die ungeteilte und unbegrenzte Bereitschaft, Christus zu folgen. Nichts anderes bedeutet der Aufruf zur Heiligkeit, den das Evangelium selbst an uns richtet. (Mt 5, 8; vergl. 1 Joh 2,5; Röm 6, 19; 1 Thess 3, 12; Eph 4,24, und viele andere)
Dem Christen ist aufgetragen, alle Geschöpfe zu lieben, aber er wird auch mit tiefem Ernst gewarnt, sich nicht an die faktisch in der Gottferne stehenden oder zu ihr ziehenden Geschöpfe zu verlieren: "Macht euch nicht dieser Welt gleichförmig, sondern wandelt euch um durch die Erneuerung eures Sinnes, um zu prüfen, was Gottes Wille ist, was gut, wohlgefällig und vollkommen ist." (Röm 12,2; vergl. Tit 2, 12, 11)
Auch in unserer glaubensschwachen, verzichtfeindlichen Zeit ist dies keineswegs unmöglich, weil wir nicht auf unser eigenes Vermögen allein angewiesen sind. Es geht nicht zuerst und vor allem um unser unzulängliches Wollen. Ermutigend sagt der Apostel:
"Das ist der Wille Gottes: eure Heiligung" (1 Thess 4,3). Karla Mertens
(Die Übersetzerin)
Anmerkungen
Die Anmerkungen erhalten eine neue Nummerierung, da die Übersetzerin einige anbrachte. Diese Anmerkungen enden mit den Worten: "Die Übersetzerin."
1) Wenn wir hier die Gefahr einer "Arbeitshäresie" hervorheben, wollen wir damit in keiner Weise den hohen sittlichen Wert der Arbeit im menschlichen Leben herabsetzen. Welcher Art sie auch sei und zu welchem Zweck sie geschehe, sie hat eine wichtige sittliche Funktion für die gefallene Natur des Menschen. Wir haben diesen Aspekt der Arbeit in: Umgestaltung in Christus, 4. Aufl. Einsiedeln 1956, Kap. 9: "Die Arbeit an uns selbst" behandelt. Die Gefahr des Müßiggangs ist stets gesehen worden.
2) Diese Mentalität verrät sich in Carlyles Worten: "Arbeiten und nicht verzweifeln«.
3) Vergl. D. von Hildebrand: Christliche Ethik, Düsseldorf 1959, 15. Kap.
4) Man könnte einwenden, in jedem Beruf erhöhe Opferwilligkeit und selbstloses Dienen die immanente Vollkommenheit der Arbeit. Eine außerordentlich eifrige Sekretärin, die immer bereit ist, Überstunden zu machen, ein Angestellter, der so in seiner Tätigkeit aufgeht, dass er keine Belastung, kein mit ihr verbundenes Opfer scheut, sind zweifellos vom Standpunkt der immanenten Vortrefflichkeit der Arbeit aus tüchtiger. Aber diese sitlichen Eigenschaften steigern hier mehr die Nützlichkeit des Arbeitenden als die Qualität der Arbeit selbst. Außerdem haben die Opferbereitschaft der Sekretärin und des Angestellten nur dann einen sittlichen Wert, wenn der hohe Wert des Gutes, um das es bei der Arbeit geht, dies rechtfertigt, oder wenn der Arbeitgeber in solcher Notlage ist, dass die gemachten Anstrengungen ein Ausfluss der Nächstenliebe sind. Ist dieser Opfergeist dagegen eine bloße Temperamentserscheinung, oder ein» Verschlungenwerden" von der immanenten Dynamik der Tätigkeit oder ein Übertreiben ihrer Wichtigkeit" oder gar eine Flucht in die Arbeit, so haben diese Opferbereitschaft und Hingabe keinen echten sittlichen Wert mehr. Überflüssig zu erwähnen, dass alle Anstrengungen in selbstsüchtiger Absicht überhaupt keinen sittlichen Wert haben. Ein Kapitalist, der sich keine Arbeitspause gönnt und ein asketisches Leben führt, um sein Unternehmen weiter auszubauen, legt alles andere als sittliche Tugend an den Tag. Fassen wir zusammen: solange es sich nicht um Güter mit hohen Werten handelt, enthält die Tüchtigkeit nur die mehr formalen sittlichen Tugenden, wie Ausdauer, Genauigkeit usw.
5) Unglücklicherweise werden heute diese für eine gute Krankenpflegerin wesentlichen sittlichen Werte zu oft übersehen. Daher meint man irrtümlich, ein bloßes Wissen und wissenschaftliche Schulung genüge. Tatsächlich aber ist jemand mit bestmöglicher Ausbildung und größtem Geschick ohne diese sittlichen Werte keine gute Krankenpflegerin, selbst nicht vom Standpunkt rein immanenter, vollendeter Berufsausübung.
6) Position et Approches Concreètes au Mystére Ontologique, P. 256-258.
7) Gewiss kann jeder Erwerbstätige hoffen, sich heraufzuarbeiten und eine einflussreiche, wichtige Stellung zu erringen. Aber dies bleibt eine vage, nur selten erfüllte Aussicht. Außerdem bringt eine solche Verbesserung der Position, abgesehen von dem Übergang von körperlicher zu organisatorischer Arbeit, zwar finanzielle Vorteile, macht die Arbeit selbst aber nicht in jedem Fall befriedigender und interessanter.
8) z. B. die Pflicht gegenüber den Kollegen und Vorgesetzten, sich nicht von der eigenen Arbeit zu drücken und damit die anderen über Gebühr zu belasten (Die Übersetzerin).
9) Diese moderne Alternative zwischen Arbeit und Vergnügen ist in gewisser Hinsicht ein Zeichen von Infantilismus. Für ein Kind ist es normal, die Schule als den ernsten Teil des Lebens anzusehen und das Ernste mit unangenehmen, lästigen Aufgaben gleichzusetzen. Das Kind darf nur spielen, wenn die Schularbeiten gemacht sind. So wird das Spielen mehr oder weniger zum Erfreulichen überhaupt.
10) Dieselbe unselige Alternative hat manchmal ernste Folgen in der Erziehung. Viele Schuldkomplexe stammen daher, dass die Arbeit für den einzig ernsten Teil des Lebens gehalten wird. Manche Leute fühlen sich schuldig, sobald sie nicht arbeiten; u. U. sogar dann, wenn sie ihre Zeit statt der Berufstätigkeit, einer wichtigen menschlichen Angelegenheit widmen, obwohl sie sich gerade so sittlich richtig verhalten.
11) Vergl. Josef Pieper, Muße und Kult, München 1949 u. f.
12) Allerdings gibt es Situationen und Tätigkeiten, in denen das hektische Getriebe des heutigen Berufslebens es nahezu unmöglich macht, sich gesammelt zu halten. Dann kann man nur die physisch-psychische Überforderung und die eigene Schwäche als Kreuz auf sich nehmen und sich Gottes Barmherzigkeit anheimgeben. Es bleibt aber entscheidend wichtig, an dem objektiven Primat der Kontemplation festzuhalten und trotz des eigenen Unvermögens, das Streben, ihn im Leben zu verwirklichen, nicht resignierend aufzugeben. Die Übersetzerin.
13) Gewiss erlebt man auch eine Befriedigung, wenn man ein Spiel meisterhaft beherrscht. Handelt es sich aber um einen Beruf, so hat die Genugtuung, ihn perfekt auszuüben, eine andere Qualität und größeren Ernst.
14) Allerdings sind heute die Grenzen zwischen handwerklicher und maschineller Arbeit nicht mehr scharf zu ziehen, da der Handwerker in zunehmendem Maße Maschinen verwendet und sich anderseits innerhalb der fabrikatorischen Produktion immer noch echte handwerkliche Teilfunktionen erhalten haben. Die zunehmende Automation führt den geschulten Arbeiter zudem an eine differenzierte Überwachungstätigkeit heran, die sich den Aufgaben eines Ingenieurs annähert. Doch bewahren die hier gemachten prinzipiellen Unterscheidungen ihre volle Bedeutung, wenn sie nur sinngemäß angewandt werden. Das Wissen um die Wichtigkeit seiner Teilfunktion innerhalb des gesamten Produktionsprozesses und ein kollegiales Zusammenwirken mit den anderen können die Monotonie des Arbeitsablaufes erheblich erleichtern. Ähnliches gilt für untergeordnete Angestellte. Die Übersetzerin.
15) Vergl. Adolf von Hildebrand: Arbeiter und Arbeit, gesammelte Aufsätze, Straßburg 1916.
16) Allerdings werden wir diese Vereinigung stützen und aufrechterhalten müssen durch kurze Gebete und bewusstes Sich.Wieder-Sammeln während unseres Tuns. Die Übersetzerin.
17) Hier ist zu betonen, dass die primäre Bedeutung der Kontemplation in ihr selbst liegt und nicht in ihrem Einfluss auf die Qualität beruflicher Betätigung. Wenn wir sagten, dieses die Tüchtigkeit steigernde "engagement" sei nur auf der Grundlage der Konfrontation mit Christus möglich, so sollte diese nicht als ein Mittel zu größerer Tüchtigkeit umgedeutet werden. Unser Thema ist die Einverleibung der Berufsarbeit in unsere höchste Berufung. Für sie gilt der Grad der Tüchtigkeit durchaus nicht als Norm. Aber es ist wichtig zu sehen, dass diese Einverleibung allein - weit davon entfernt, berufliche Vortrefflichkeit auszuschließen unsere Arbeit mit jenem "engagement" beseelen kann, ohne dass wir der Eigengesetzlichkeit des Tuns verfallen. Hier wie überall bestätigt sich das Wort unseres Herrn: "Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit" (Mt 6, 33).
18) Das gilt in besonderer Weise auch dann, wenn der Beruf ein großes Kreuz für den Betreffenden ist. Die Übersetzerin.
19) New York, David McKay, 1957. Demnächst deutsche Ausgabe bei Habbel, Regensburg.
20) Zum Unterschied von sittlichen und sittlich bedeutsamen Werten vgl. vom. Verf.: Christliche Ethik (Düsseldorf, Patmos-Verlag, 1959) (vor allem Zweiter Teil, I, Wert und Sittlichkeit, S. 205 ff.).
21) Vgl. vom Vf.: "Zum Wesen der Strafe" in: Menschheit am Scheideweg, Regensburg, Habbel, 1955, S. 107-126.
Nachwort-Anmerkungen
1) Seine zahlreichen Vorträge hierüber fanden ihren Niederschlag u. a. in "Das katholische Berufsethos" , Augsburg (Haas & Grabherr) 1931.
2) Urtext: "Efficiency and Holiness" in: "The New Tower of Babel", New York, (Kenedy & Sons) 1953; "Tugend heute" erschien zuerst in "Geist und Leben" 35. Jahrg. Heft 2.
3) Vergl. z. B. Alexander Solschenizyns künstlerisch bedeutende, zugleich unerbittlich exakte Schilderung eines Konzentrationslagers für Wissenschaftler in der Stalin-Ära: "Der erste Kreis der Hölle", übers. von Elisabeth Mahler und Nonne Niels-Stokkeby, Frankfurt (5. Fischer) 1968.
4) "Zugleich ist jedoch in jenen Ausdrücken (2 Kor 4, 4) angedeutet, und die von der Kirche in den über die verschiedensten materiellen Dinge ausgesprochenen Segnungen und Exorzismen bekundete Anschauung macht es zweifellos, dass die Herrschaft des Teufels sich auch über die ganze sichtbare Welt erstreckt, namentlich insoweit dieselbe mit dem Menschen in unmittelbare Berührung kommt oder im Dienst desselben steht ... Nach der Sünde aber, durch welche das Haupt der sichtbaren Schöpfung unter die Herrschaft des Teufels geraten ist, erstreckt sich die letztere naturgemäß auch auf das dem Menschen angehörige Gebiet ... " Matthias Josef Scheeben: Handbuch der katholischen Dogmatik 3. u. 4. Buch. 3. Aufl. Freiburg 1961, S. 744.
5) im Sinn der Texte des zweiten Vatikanum.
6) Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum. 1,2 u. 1,9. übers. von P. Dr. Julian Kaup u. P. Philotheus Böhner, Werl 1932, S. 10 u. S. 15.
7) "Ich fragte die Erde, sie sagte mir: ich bin es nicht. Und alles, was in ihr ist, sagte mir das Gleiche. Ich fragte das Meer und seine Tiefen und alle Tiere, die in ihm leben. Sie sagten mir: wir sind nicht dein Gott, suche über uns hinaus ... Ich fragte den Himmel, Sonne, Mond und Sterne. Auch wir sind nicht Gott, den du suchst, sprachen sie. Und alle Dinge fragte ich, die draußen vor den Toren meines Fleisches stehen: Ihr sagtet mir von meinem Gott, dass ihr's nicht seid; so sagt mir etwas von ihm. Und sie riefen mit lauter Stimme: Er hat uns geschaffen!" Augustinus, Conf. X,6.
8) Cant. Cant. II, 4. Augustinus: Virtus est ordo amoris. Civ. Dei XV, 22. Vergl. Teresa von Avila: "Ein törichter Seelenführer wird einer verheirateten Frau, die ihren Hausgeschäften nachzugehen hat, einreden, es sei besser, dem inneren Gebet zu obliegen, auch wenn sie damit ihren Mann verärgert. Ein solcher Seelenführer weiß eben nichts davon, dass man auch seine Zeit einteilen und seine Geschäfte ordnen muss, um mit der ewigen Wahrheit in Einklang zu kommen."
9) Jean Beyer S.J.: Kirchliche Urkunden für die Weltgemeinschaften. Einsiedeln (Johannesvrelag) 1963, S. 46-47.
10) "Dieses Leben innigster Vereinigung mit Christus in der Kirche wird durch geistliche Hilfen genährt, die allen Gläubigen gemeinsam sind, vor allem durch die tätige Teilnahme an der heiligen Liturgie; diese Hilfen müssen von den Laien so gebraucht werden, dass sie bei der rechten Erfüllung ihrer weltlichen Pflichten in den gewöhnlichen Lebensverhältnissen die Vereinigung mit Christus nicht von ihrem Leben trennen, dass sie vielmehr in dieser Vereinigung wachsen, wenn sie ihre Arbeit dem Willen Gottes gemäß tun ... Weder die Sorgen in der Familie noch andere weltliche Beschäftigungen dürfen ausserhalb der Sphäre des geistlichen Lebens stehen ... Ein solches Leben erfordert einen ständigen Vollzug des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Nur durch das Licht des Glaubens und das Bedenken des Wortes Gottes vermag man immer und überall Gott zu erkennen, in dem "wir leben, uns bewegen und sind" (Apg 17, 28), in allem Geschehen seinen Willen zu suchen, Christus in allen Menschen zu sehen, seien sie nahe- oder fernstehend, und die wahre Bedeutung und den Wert der zeitlichen Dinge richtiger zu beurteilen, den sie in sich selbst und in der Hinordnung auf das Ziel des Menschen haben." Dekret über das Apostolat der Laien, I, 4. Deutscher Text: Recklinghausen, (Paulusverl.) 1966, S. 121-22.
11) Vergl. zum Gesamtthema auch: D. von Hildebrand: Die Umgestaltung in Christus, 4. Aufl. Einsiedeln (Benziger) 1956. Neuauflage bei Habbel, Regensburg, geplant.
Über die Dankbarkeit
Quelle: Dietrich von Hildebrand: Über die Dankbarkeit (Nachgelassene Schrift), EOS Verlag St. Ottilien 1980, Herausgegeben von der Dietrich von Hildebrand Gesellschaft).
Vorspann
»Als Jesus in ein Dorf kam, begegneten Ihm zehn aussätzige Männer. Sie blieben von ferne stehen, erhoben ihre Stimme und riefen: ,Jesus, Meister, erbarme Dich unser!' Als Er sie sah, sprach Er zu ihnen: ,Geht hin und zeigt euch den Priestern!' Und es geschah, während sie hingingen, wurden sie rein. Einer aber von ihnen kehrte zurück, als er sah, dass er geheilt worden war, pries Gott mit lauter Stimme, warf sich aufs Angesicht zu Seinen Füßen und dankte Ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: ,Sind nicht die Zehn rein geworden? Wo sind denn die Neun? Hat sich keiner gefunden, der umkehrte und Gott die Ehre gäbe, als nur dieser Fremdling?' Und Er sprach zu ihm: ,Steh auf und geh. Dein Glaube hat dir Heilung gebracht!'« Lk 17,12-19
Die Dankbarkeit gegen Gott
Die Dankbarkeit gegen Gott ist eine der fundamentalsten Grundhaltungen des religiösen Lebens. Im Gebet des heiligen Franziskus: »Wer bist Du und wer bin ich?« kommt die Konfrontation des Geschöpfes, das Staub und Asche ist (Gen 18,27), mit der unnahbaren absoluten Majestät Gottes zum Ausdruck. Zu dieser Urhaltung tritt die anbetende Liebe zu dem unendlich heiligen und gütigen Gott, der sich in der heiligen Menschheit Jesu offenbart: ».. .per incarnati Verbi mysterium nova mentis nostrae oculis lux tuae claritatis infulsit: ut dum visibiliter Deum cognoscimus, per hunc in invisibilium amorem rapiamur.« (»... die geheimnisvolle Menschwerdung des Wortes zeigt dem Auge unseres Geistes das neue Licht Deiner Herrlichkeit; indem wir Gott so mit leiblichem Auge schauen, entflammt Er in uns die Liebe zu unsichtbaren Gütern«) (1) .Zu diesen Urhaltungen gehört auch die Dankbarkeit für unsere Existenz als Person, für alle natürlichen Güter und vor allem für alle Gnaden, für die magnalia Dei (die Großtaten Gottes), für die unendliche Barmherzigkeit Gottes. Innerhalb der Gebete nehmen die Dankgebete eine zentrale Stelle ein.
Balduin Schwarz hat über die Dankbarkeit gegen Gott tiefe Erkenntnisse niedergelegt (2). Insbesondere arbeitete er heraus, wie das Danken als Antwort auf den glücklichen Ausgang von Ereignissen, für das Glück, das einem nicht durch andere Menschen zuteil wird, sich nur auf Gott beziehen kann, also Sinnvollerweise die Existenz eines gütigen Gottes und einer Vorsehung implizite voraussetzt. Mit der Dankbarkeit ist wie mit der Hoffnung - auch bei dem, der Gott nicht gefunden hat - ein stillschweigendes Rechnen mit der Existenz eines allmächtigen, gütigen Gottes verbunden. Dieses äußerst wichtige und tiefe Problem soll uns aber hier nicht beschäftigen. Wir weisen darum ausdrücklich auf die Ausführungen von Schwarz hin.
Dankbarkeit ist eine Urantwort auf Gott, die tief mit der letzten Unterordnung unter Ihn, den absoluten Herrn, und der anbetenden Liebe zu Ihm, dem unendlich Heiligen, dem Inbegriff aller Schönheit und Herrlichkeit, zusammenhängt. Sie selbst stellt jedoch etwas Eigenes, auf nichts anderes Zurückführbares dar, ein letztes, unersetzliches Wort im Verhältnis des Menschen zu Gott.
In diesem Urwort des Menschen an Gott ist das Erfassen und Verstehen der Werte enthalten, die an den objektiven Gütern für uns haften, mit denen Gottes Liebe uns ständig überhäuft. Wir wiesen in vielen Publikationen auf die fundamentale Bedeutung des Werterfassens und Wertverstehens hin. Der geistige Reichtum eines Menschen hängt davon ab, wie groß, reich und tief sein Werterfassen ist. Die letzte ontologische Bedeutung der Werte, des Seienden, das Träger eines Wertes ist, des Wertseins gegenüber dem Indifferenten leuchtet auf, wenn wir das Werterfassen im Unterschied zur Wertblindheit betrachten. Wir ahnen, was das »brennende« Sein der Werte - diese höchste Dimension des Seienden - bedeutet; wir spüren, dass wir hier an ein Urmysterium rühren.
Der Abgrund der Nichtigkeit erweckt den horror vacui (den Abscheu vor der totalen Leere) in uns, sobald wir fingieren, das objektive Sein sei gänzlich »indifferent« und jeder Wert nur eine subjektive Illusion. Die unfassbare Öde, die uns anstarrt, die Sinnlosigkeit und Nichtigkeit einer Welt, in der es keinen objektiven Wert und Unwert gäbe, kann kaum gedacht werden. Wir wagen zu behaupten, dass die Legion derer, die in den verschiedensten Formen die Existenz objektiver Werte zu leugnen versuchen, die Relativisten, Immanentisten, Subjektivisten, sich dennoch nie eine gänzlich indifferente Welt konsequent, existentiell vorstellen können, eine Welt, die vom eisigen Hauch der absoluten Indifferenz und Neutralität erfüllt ist – ebenso wenig wie die Leugner einer absoluten Wahrheit konsequent eine Welt ohne objektiv Seiendes, ohne absolute Wahrheit aufzubauen vermögen.
Das Wertvollsein ist die wahre Dynamik des Seins, die keinerlei Widerspruch zu der in sich ruhenden Größe des Seins bildet. All das Schwärmen für das Dynamische, das wir bei Hegel und Heidegger finden, die Idolisierung der Bewegung gegenüber dem ruhenden Sein geht an der wahren Dynamik vorbei, die im Wertsein gegenüber dem nackten und indifferenten Sein vorliegt.
Was wäre die Welt, gäbe es nur den Unterschied von Mittel und Zweck, der sie niemals aus ihrer grauen Neutralität herausheben könnte. Die Antwort auf den letzten Sinn und die raison d'etre (Daseinsgrund) wäre nur möglich, wenn die ganze Welt als ein Netzwerk finaler Kausalität aufgewiesen werden könnte. Denn die Bedeutsamkeit, die der Zweck gegenüber dem Mittel besitzt, gibt keine Antwort auf die eigentliche raison d'etre des Zweckes. Die raison d'etre eines Seienden als Mittel für einen Zweck hat überdies bloß den Charakter eines Unentbehrlichen, Unerlässlichen für den Zweck, aber sie lebt doch von der Bedeutung des Zweckes - und wenn die wahre raison d'etre des Zweckes uns nicht einsichtig ist, bleibt auch all das nur durch eine finale Unentbehrlichkeit Begründete ohne wahre raison d'etre.
Auf dem Hintergrund der Erkenntnis, dass das Wertvollsein das Herzstück des Seins ist, erschließt sich die Urbedeutung der Fähigkeit des Werterfassens für die Person. Eine Person, die nicht fähig wäre, Werte zu erfassen und sie als Werte zu verstehen, wäre keine wirkliche Person. Ohne Werterfassen würde das Herzstück des Dialogs von Subjekt und Objekt unmöglich, würde die volle Transzendenz der Erkenntnis inexistent.
Würde dem Menschen die Fähigkeit genommen, objektive Werte zu erfassen, so wäre er vom innersten Leben des Kosmos und vor allem von Gott abgeschnitten. Das »Fecisti nos ad te« (»Du hast uns zu Dir hin erschaffen«) (3) hätte keine Gültigkeit mehr.
Aber die Dankbarkeit gegen Gott setzt nicht nur das Erfassen und Verstehen der Werte aller Geschenke Gottes voraus, sondern auch das des Charakters des objektiven Gutes für die Person. Über dieses sprachen wir ausführlich an anderer Stelle (4). Hier genügt es zu sagen, dass die Dankbarkeit eine spezifische Antwort auf ein objektives Gut für die Person ist (5).
In der Dankbarkeit, z. B. für die Gabe der Erkenntnis, erfasse ich nicht nur den Wert der Erkenntnis, sondern auch das Geschenk, das sie für mich bedeutet, und mit diesem Geschenk das pro, den für mich freundlichen, bejahenden Gestus des Geschenkes qua Geschenk. Das Begreifen dieses pro ist unlöslich mit dem personalen Gott verbunden, mit Seiner an mich persönlich gerichteten Güte und Liebe.
Wir rühren damit an ein beseligendes Intimum des religiösen Lebens, das die Aktualisierung des Urquells alles Glückes darstellt: das Geliebtwerden von Gott. Die Dankbarkeit ist eine spezifische Antwort auf diese Liebe Gottes, die sich uns in den beglückenden Geschenken Gottes manifestiert. Sie enthält das Erfassen erstens des Wertes dieses Gutes; zweitens des objektiven Gutes für mich, das dieses Geschenk darstellt; drittens der Güte Gottes in ihrer unfassbaren heiligen Schönheit, und zwar der mir persönlich geltenden Güte, der mich persönlich treffenden Liebe. Wir können ahnen, welch zentraler Faktor die Dankbarkeit in unserem Verhältnis zu Gott ist und welch hohen Wert sie trägt als Antwort auf all diese großen Geschenke.
In der echten Dankbarkeit gegen Gott wird der Mensch schön. Er tritt aus der Immanenz, aus der Enge der Ichbezogenheit heraus und geht in der beseligenden Hingabe an Gott, den Inbegriff aller Herrlichkeit, in das Reich der Güte ein. Er wird groß und weit; er wird frei. Die selige, sieghafte Freiheit erblüht in seiner Seele.
Diese Dankbarkeit ist auch zutiefst mit der Demut verknüpft. Der Dankbare ist sich der Tatsache bewusst, dass er ein Bettler vor Gott ist und kein Recht besitzt, auf dem er Gott gegenüber bestehen kann, dass alles Geschenk der Güte Gottes ist und er Gott gegenüber keine Forderung stellen kann.
In wunderbarer Weise spricht Kierkegaard über die Dankbarkeit in seiner intimen Beziehung zu Gott: »Jetzt, da ich von meinem Gottesverhältnis reden soll; von dem, was jeden Tag wiederkehrt in meinem Gebet, welches für das Unbeschreibliche dankt, das er für mich getan, so unendlich viel mehr, als jemals ich erwartet; von dem, was mich gelehrt hat, mich zu verwundern, mich zu verwundern über Gott, seine Liebe, über das, was mich gelehrt hat, dorthin mich zu sehnen und nicht zu fürchten, die Ewigkeit könne langweilig sein, da sie eben die Lage ist, die ich nötig habe um nichts andres bestellen zu müssen als danken« (6).
Der von Dankbarkeit gegen Gott Erfüllte, dessen Leben durchzogen ist von diesem Urgestus der Dankbarkeit, ist auch allein der wahrhaft wache Mensch. Er ist das Gegenteil des Stumpfen, der in jener Halbwachheit verbleibt, die für das praktische Leben und die Erfüllung der Lebensnotwendigkeiten gerade genügt. Er ist das Gegenteil dessen, der in der Peripherie verbleibt und alles als selbstverständlich hinnimmt. Hier besteht eine ausgeprägte Analogie zur Sphäre der Erkenntnis. Der homo sapiens unterscheidet sich vom homo faber nicht nur dadurch, dass er die ihn umgebende Wirklichkeit nicht für selbstverständlich hält und sie nicht nur unter einem pragmatischen Gesichtspunkt erforscht, sondern bei ihm findet sich ein Wundern, ein Erwachen zur Frage nach dem Wesen und Sinn der Dinge, ein Erfassen der Werte. Sowohl Platon wie Aristoteles bezeichnen das ταυμαζειν, das Staunen, als den Beginn aller Philosophie.
Etwas Analoges zu diesem Erwachen, zu diesem Heraustreten aus einer nur pragmatischen Einstellung liegt bei jenem Menschen vor, dessen Leben von der wahren Dankbarkeit gegen Gott durchzogen ist. Auch er ist aus der Stumpfheit und Oberflächlichkeit des Als-selbstverständlich-Hinnehmens erwacht zu dem Wundern über die Geschenke Gottes und über das unerschöpflich beseligende Mysterium der unendlichen Liebe und Barmherzigkeit Gottes.
Diese Dankbarkeit drängt nach einer Äußerung in einem Akt des Dankens. Im Menschen lebt eine allgemeine Tendenz, dem Ausdruck zu verleihen, was sein Herz erfüllt. „Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund« (Mt 22,34), sagt Christus. Diese allgemeine Tendenz aktualisiert sich in sehr verschiedener Weise. Wir sprachen in unserer Metaphysik der Gemeinschaft (7) ausführlich vom Unterschied zwischen dem reinen überfließenden Ausdruck dessen, was unser Herz erfüllt, und der sinnvoll intentionalen Verlautbarung der Liebe.
Einen weiteren Typus stellen die sozialen Akte wie Versprechen, Mitteilen, Fragen, Urteilen dar. Die Tendenz, die zu einer Äußerung dessen drängt, was uns intensiv erfüllt zeigt sich am deutlichsten in den sozialen Akten, bei denen die Äußerung wesentlich zum Vollzug des inneren Aktes, zu seinem interpersonalen Charakter gehört.
Wenn es sich nicht um soziale Akte handelt, tritt der Drang nach einem Ausdruck klar hervor. Der Ausdruck hat mehr einen dynamischen als intentionalen Charakter, aber er gehört wesenhaft zum Menschen. In ihm manifestiert sich auch die geheimnisvolle Verbundenheit von Leib und Seele. Im Ausdruck, sei es in Worten wie: »Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein« (8), sei es im Singen: »Cantare amantis est« (»Singen ist Sache des Liebenden«)9, sei es in Lachen und Weinen, sei es in Knien und Stehen, ist der Leib in typischer Weise einbezogen. Dieser reine Ausdruck hebt sich deutlich von dem sinnvollen intentionalen Verlautbaren, z. B. der Liebe, ab; denn dieses hat nicht nur eine interpersonale Funktion, sondern es ist eine einzigartige, sinnvolle Intension, den Strahl der Liebe in das Bewusstsein des Geliebten gelangen zu lassen, eine bedeutsame Stufe im Prozess der Vereinigung mit ihm, eine Erfüllung der intentio unio (Vereinigungsintention) der Liebe.
Die Verlautbarung kann aber gleichzeitig ein Ausdruck sein, ohne dass dadurch die Wesensverschiedenheit beiderirgendwie angetastet wird. Einerseits ist das Danken zunächst und vor allem eine Verlautbarung der Dankbarkeit. Sie kann wie die der Liebe nur dem gegenüber vollzogen werden, dem sie gilt, dem gegenüber man die Dankbarkeit fühlt. Andererseits hat das Danken auch den Charakter eines sozialen Aktes, insofern es nicht nur die Verlautbarung der Stellungnahme der Dankbarkeit ist, d. h., nicht nur die fremde Person, sondern auch das »Geschenk«, für das ich danke, Objekt meiner Stellungnahme ist. Darin ähnelt das Danken dem Versprechen oder dem Mitteilen. Nicht nur eine andere Person bildet das Thema, insofern sie der Partner ist, an den ich mich wende, sondern auch das Geschenk, für das ich danke, gehört zum Thema.
Endlich liegt im Danken auch der Ausdruck einer überfließenden Affektivität, auf die der heilige Augustinus mit den Worten »cantare amantis est« hinweist. Die neue Feierlichkeit, die das gesungene Wort gegenüber dem gesprochenen besitzt, die sublime, entpragmatisierte Note ist aus der Ausdruckstendenz geboren, allerdings nicht nur aus dem oben betonten dynamischen Charakter, sondern auch aus der sinnvoll ergänzenden, eigenartigen Vollständigkeit, die das bis ins Körperliche reichende, in die äußere Erscheinung Tretende eines tief Innerlichen darstellt, gegenüber dem nicht zum Ausdruck gelangenden tief inneren Stellungnehmen und den Wertantworten. Auch der Unterschied der spezifischen Objektivierung, die das in Worte Gefasste darstellt - gegenüber dem nicht in Worte gefassten Gestus unserer Seele, unseres Herzens - spielt hier eine Rolle.
Es ist kein Zufall, dass die Dankgebete eine solch wichtige Stellung in der Liturgie einnehmen. Denken wir nur an die drei einzigartigen Hymnen: das Benedictus, das Magnificat und das Nunc dimittis, in denen sich der Übergang vom Alten zum Neuen Testament vollzieht. Die ahnungsvoll erwartende, hoffende Haltung des Alten Testamentes geht über in die überfließend dankende des Neuen, ja beide Haltungen verbinden sich in einzigartiger Weise. Wenn der heilige Augustinus am Ende seines Buches De civitate Dei (10) sagt: »Ibi vacabimus, et videbimus: videbimus, et amabimus: amabimus, et laudabimus« (»Da werden wir feiern und schauen, schauen und lieben, lieben und preisen«), so weist er mit dem laudabimus auf die Dimension des Ausdrucks hin, die zu der Vollendung gehört, zu dem »quod erit in fine sine fine« (»was am Ende ohne Ende sein wird«).
Selbst in der Ewigkeit, in der es nur noch eine verklärte Wirklichkeit gibt, behält das laudare und mit ihm und in ihm auch das gratias agere, das ausdrückliche Danken, seine volle Bedeutung.
Können wir uns einen Menschen vorstellen, dessen Herz von Dankbarkeit gegen Gott überfließt und der sich niemals gedrängt fühlte, ihr in einem eigenen Dankgebet Ausdruck zu verleihen? Sicherlich nicht! Das Fehlen des inneren Dranges, Gott in einem ausgesprochenen Gebet für den Empfang seiner Geschenke und Gnaden zu danken, wäre ein eindeutiges Symptom dafür, dass die Dankbarkeit gegen Gott in seinem Herzen noch nicht den Platz einnimmt, der ihr gebührt.
Die drei oben erwähnten Hymnen drücken die überfließende Dankbarkeit für den Empfang eines großen, entscheidenden Geschenkes aus: Zacharias dankt für das Wunder der Geburt Johannes' des Täufers; die Allerseligste Jungfrau für die unfassbare, einzigartige Gnade, zur jungfräulichen Mutter des Erlösers auserkoren zu sein; Simeon für die Gnade, den verheißenen Erlöser vor seinem Tode sehen und in seinen Armen halten zu dürfen. Wie wesentlich, wie entscheidend für die wahre Dankbarkeit ist dieser ausdrückliche Akt des Dankens, dieses in Worte gefasste Dankgebet! Wir werden auf diesen Zusammenhang zwischen der echten Dankbarkeit und dem spezifischen Akt des Dankes noch ausführlich zurückkommen, wenn wir uns der Dankbarkeit Menschen gegenüber zuwenden.
Vorher müssen noch einige entscheidende Aspekte der Dankbarkeit gegen Gott hervorgehoben werden: zunächst die tiefe Verbundenheit von wahrem Glück und Dankbarkeit. Schon die von der Dankbarkeit vorausgesetzte Werterkenntnis ist eine Grundquelle des Glückes. Vor allem ist das Bewusstsein der Liebe und Barmherzigkeit Gottes uns gegenüber, das ja im Verstehen eines Geschenkes Gottes, seines Charakters als eines objektiven Gutes für uns, enthalten ist, geradezu der Urquell alles wahren, unzerstörbaren Glückes. Wir möchten aber auch auf das Glück hinweisen, das dem Dankbarsein und dem aus ihm fließenden Akt des Dankes innewohnt. Es ist das Glück der inneren Freiheit und der allein mit ihr verbundenen Demut des Dankbaren.
Wir brauchen uns nur den Unterschied klarzumachen zwischen einem Menschen, der sein Existieren als Person, die Begabungen, die ihm Gott verliehen hat, die Liebe und Freundschaft anderer Menschen, die ihm zuteil werden, für selbstverständlich hält, und einem anderen, der nichts als selbstverständlich hinnimmt, sondern alles als unverdientes Geschenk erfasst. Wie steht dieser in der Wahrheit und wie ist jener blind in seiner Stumpfheit eingesperrt! Wie öde ist das Leben dessen, der weder die Fülle und Werte der Geschenke versteht, die er empfangen hat, noch erkennt, dass sie unverdiente Geschenke sind, noch, dass in ihnen die Güte, Barmherzigkeit und Liebe Gottes aufstrahlt! Bei diesen Vergleich leuchtet das tiefe Glück auf, das nur der Dankbare kennt.
Es gibt eine vielstufige Hierarchie innerhalb der objektiven Güter für uns, sowohl in Bezug auf ihren Wert als auf die Rolle, die sie in unserem Leben spielen. So haben Geschenke Gottes, wie eine außergewöhnliche Begabung, sei es eine intellektuelle oder künstlerische, eine künstlerisch produktive oder reproduktive, eine durchgängige, unser ganzes Leben füllende und durchziehende Bedeutung, im Unterschied zu dem Geschenk einer einmaligen schönen Reise. Noch grundlegendere Geschenke Gottes sind unsere Fähigkeit der Werterkenntnis, unser Liebespotential oder gar unser freier Wille, im Vergleich zu dem kostbaren Geschenk einer großen Freundschaft. Merkwürdigerweise werden wir uns des Geschenkcharakters eines objektiven Gutes für uns um so weniger bewusst, je fundamentaler und formaler es ist. Wir sind leichter von Dankbarkeit gegen Gott erfüllt für die Liebeseinheit mit einem Menschen als für unsere Existenz als Person, obgleich die letztere die Urvoraussetzung für alles übrige ist, für alles Glück und für die ewige Seligkeit.
Wie viele Menschen werden sich des Daseins als eines unerhörten Geschenkes bewusst? Wie viele nehmen dieses Urgeschenk als selbstverständlich hin? Mit der Umgestaltung in Christus geht ein ständiges Wachsen der Wachheit in Bezug auf die Geschenke Gottes Hand in Hand, sowohl hinsichtlich der Würdigung ihres Wertes als der formalen Gewichtigkeit des Gutes. Der Besitz aller objektiven Güter für die Person wird immer weniger selbstverständlich; alles wird mehr und mehr als unverdiente Gabe entdeckt, alles als Grund für die unbegrenzte Dankbarkeit gegen Gott empfunden; das innere Drängen, Gott in einem ausdrücklichen Akt dafür zu danken, wird immer stärker. »Und siehe, sie bieten sich dar, die Gedanken, bezaubernd wie jene Früchte im Märchengarten, reich und warm und innerlich, die Ausdrücke, so lindernd für der Dankbarkeit Drängen in mir, so kühlend hingehend über das heiße Sehnen« (11).
Aber das Leben jedes Menschen ist nicht nur angefüllt mit Geschenken von Gott, sondern enthält auch objektive Übel für die Person, Kreuze aller Art. Erstens gibt es in dieser Hinsicht große Unterschiede im Leben vieler Menschen. Neben einem reich gesegneten leben steht oft ein »verpfuschtes« oder ein mit Leiden aller Art belastetes, z. B. mit Verkrüppelungen oder Krankheiten.
Wenn wir davon handeln, ob etwas ein positives Geschenk Gottes oder ein Kreuz ist, wollen wir uns auf die Fügungen Gottes beschränken und von allen Leiden absehen, die unserer Schuld und Sündigkeit entstammen.
Zweitens gibt es nicht nur den Unterschied zwischen einem glücklichen und einem leidensvollen Leben. Vielmehr stehen im Leben jedes Menschen neben großen Geschenken aller Art auch viele unvermeidliche Leiden und Kreuze.
Dem positiven, unergründlichen Geschenk der personalen Existenz und auch des Lebens auf Erden steht das furchtbare Kreuz des Todes gegenüber. Mit dem großen Geschenk der Einheit mit einem geliebten Menschen geht Hand in Hand die Sorge um sein Leben, die Angst vor der Trennung durch den Tod, ja selbst die Möglichkeit, dass er aufhören könnte, diese Liebe zu erwidern. Das Leben des Menschen ist trotz aller Geschenke Gottes, obwohl wir singen: „Pleni sunt coeli et terra gloria tua« (»Erfüllt sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit«) (12), eine vallis lacrimarum (ein Tal der Tränen).
Nun erhebt sich die Frage: Welcher Art ist die gottgewollte Antwort auf die Kreuze und Leiden? Soll unsere Antwort ebenfalls die der Dankbarkeit sein, weil wir Wissen, dass auch die Kreuze und Leiden von der unendlichen Liebe Gottes auferlegt oder zugelassen sind?
Es wurde öfter behauptet: Wer Christus wahrhaft liebt und in Ihn umgestaltet ist, dankt auch für alle Leiden und Kreuze, weil sie eine besondere Gemeinschaft mit Christus darstellen - das Tragen des Kreuzes mit Ihm. Ja, manche sagen, es dürfe in unserer Antwort der Dankbarkeit keinen Unterschied machen, ob uns Gott Freuden schenkt oder Leiden über uns verhängt.
Hierzu ist zu sagen: So wahr und tief die Auffassung ist, in dem über uns von Gott verhängten Leiden in dankbarer Ergebenheit und hingebender Liebe das Geschenk, das Kreuz Christi mittragen zu dürfen, zu erblicken, so darf doch nicht geleugnet werden, dass ein tiefgehender - Unterschied besteht zwischen der Dankbarkeit für ein großes Gut und dem ergebenen Empfangen eines großen Übels für uns. Das Magnificat der Allerseligsten Jungfrau ist offenbar eine andere Antwort als die Haltung der Mutter Gottes unter dem Kreuz:
»Stabat Mater dolorosa,
Juxta crucem lacrimosa,
Dum pependit filius.«
»Christi Mutter stand mit Schmerzen
Bei dem Kreuz und weint' von Herzen,
Als ihr lieber Sohn da hing« (13).
Die Dankbarkeit schließt wesenhaft eine Freude ein. Das ergebene Auf-sich-Nehmen des Kreuzes enthält an sich keine Freude. Wenn es zu einer heroischen Freude kommt im Sinne der Dankbarkeit, das Kreuz Christi mittragen zu dürfen, so ändert dies doch nichts daran, dass die der Dankbarkeit innewohnende Freude eine unmittelbare Bezogenheit auf den positiven Charakter eines Geschenkes besitzt.
Um zu verstehen, dass die Antworten auf ein positives Geschenk und auf ein Kreuz verschieden sein sollen, müssen wir uns des Primates des Glückes gegenüber allem Leiden bewusst sein. Das Mysterium, dass die Erlösung des Menschen durch die Passion und den Kreuzestod Christi erfolgte, darf uns nicht vergessen lassen, dass, wie Pater Heribert Holzapfel OFM sagte, alle Leiden nur um der Freude willen da sind. Das Mysterium des unergründlichen Leidens Christi, das eine geheimnisvolle Entfaltung der unendlichen Liebe des Gottmenschen Jesus Christus zu Gott dem Vater und zu den Menschen darstellt, darf uns nicht die Tatsache verdecken, dass die Erlösung nicht nur den Weg zur Heiligung des einzelnen Menschen und der dadurch erfolgenden Verherrlichung Gottes darstellt, sondern auch die Tür zu unserer ewigen Seligkeit öffnet. Die anbetungswürdige Größe und Tiefe der Passion Christi, die uns beten lassen:
»Fac me plagis vulnerari,
Fac me cruce inebriari
Et cruore Filii«
»Lass mein Herz von Christi Wunden,
Seinem Kreuz und Blute trunken
Und durchbohret sein« (14).
dürfen uns nicht das Wissen verdunkeln, dass die Passion Christi den Weg zur ewigen Seligkeit der Erlösten und in Christus Umgestalteten darstellt. Die uns bis ins innerste Mark erschütternden Leiden Christi und Seine Liebe, in der Er Sein Blut für uns verströmt, die unser Herz trunken macht und uns beten lässt: »Sanguis Christi inebria me« (»Blut Christi mache trunken mich«) (15), dürfen uns nicht vergessen lassen, dass das ewige Ziel nicht die Teilhabe am Kreuz, sondern der selige Ineinanderblick mit dem in der Ewigkeit in verklärtem Glanze thronenden Gottmenschen Jesus Christus ist. Um diesen Ineinanderblick beten wir mit den Worten:
»Ut, te revelata cernens facie,
Visu sim beatus tuae gloriae. «
»Lass Dein unverhülltes Antlitz
Selig mich in Glorie schauen.« (16)
Es gibt eine allgemeine Gefahr für den tief religiösen Menschen, in einen gewissen Nihilismus zu verfallen, der zunächst als die Frucht eines besonderen religiösen Eifers erscheint, in Wahrheit jedoch, wie jede Verwischung objektiver Unterschiede, verhängnisvolle Folgen hat. Statt Nihilismus könnte man auch Uniformismus sagen.
Einerseits liegt diesem Nihilismus oder Uniformismus ein ungeordneter Wunsch nach Einheit zugrunde, ein Bedürfnis, wesentliche, ausgesprochene Unterschiede zu ignorieren, um gewissermaßen alles auf einen Nenner zu bringen. Dieser Drang hat in der Philosophie zu unzähligen Irrtümern geführt, sei es, dass man nach der Entdeckung eines bedeutsamen Faktums den Stein der Weisen gefunden zu haben glaubt, mit dem man alles erklären könne, sei es, dass man die Analogien auf verschiedenen Gebieten so forciert, dass dabei das Wesentliche eines Bereiches in einem falschen Licht gesehen oder gerade in seiner entscheidenden Eigenart völlig verkannt wird. Von dieser allgemeinen Tendenz, die sich besonders beim Aufbau eines »Systems« geltend macht, müssen wir jene Versuchung trennen, die besonders auf religiösem Gebiet besteht.
So glaubt Occam die absolute Größe und Herrlichkeit Gottes noch zu steigern, wenn er den entscheidenden Unterschied zwischen dem positiven und dem sittlichen Gebot Gottes aufhebt. In Wahrheit wird durch die Leugnung des Urunterschiedes von gut und indifferent oder gar von gut und böse die Vorstellung vom Wesen Gottes unterhöhlt und aus dem unendlich gütigen, heiligen Gott ein willkürlicher, absoluter Herr gemacht, ja es wird der zentralste Wesenszug Gottes geleugnet. Darum sprechen wir bei diesen Versuchen von Nihilismus.
Dieser Nihilismus zeigt sich auch in dem als höchster Heroismus empfundenen Versuch, die Antwort auf ein uns auferlegtes Kreuz und die auf ein großes beglückendes Geschenk Gottes gleichzusetzen. Man sagt: »Alles ist ein Ausfluss der unendlichen Liebe Gottes, deren Beantwortung doch die Hauptsache ist; darum müssen wir Gott ebenso danken für ein uns auferlegtes Kreuz wie für ein tief beglückendes objektives Gut für uns. Wir sollen über die Frage des uns Beglückenden oder tief Schmerzenden hinausgehen und zur Liebe Gottes vordringen. Manifestiert sich Seine Liebe nicht in beiden? Ist nicht in allem über uns von Gott Verhängten das Wichtigste die Liebe Gottes zu uns, Sein barmherziger Wille, uns an Sich zu ziehen und uns für die ewige Vereinigung mit Ihm vorzubereiten?«
Gewiss! Aber gerade in dieser barmherzigen Liebe, die uns zur ewigen Seligkeit berufen hat, kommt der Primat der Seligkeit gegenüber allem Leiden voll zu Wort. Dieses Vordringen zur barmherzigen Liebe Gottes schließt eben die Realität und den absoluten Unterschied von Seligkeit und Leid klar ein. Dazu kommt, dass es zum Sinn der Fügungen Gottes gehört, ein beglückendes Geschenk deutlich von einem Kreuz zu unterscheiden. Denn obgleich alles ein Ausfluss der unendlichen Liebe Gottes ist - auch die Zulassung unbegreiflicher, furchtbarer Kreuze, wie der Tod eines geliebten Menschen -, wird der Unterschied von einem beglückenden Geschenk und einem Kreuz nicht aufgehoben. Diese radikale Verschiedenheit in erster Instanz gehört wesentlich zu dem Sinn und der Funktion der Fügungen Gottes. Darum ist die Dankbarkeit die Antwort auf alle positiven Geschenke Gottes und das ergebene, liebende Hinnehmen die Antwort auf die Kreuze.
Wir sollen nicht die verschiedenen »Gesichter« der Fügungen Gottes ignorieren, gleichsam überspringen und auf sie antworten, als bestünde im Grunde kein Unterschied zwischen ihnen. Vergessen wir nicht, dass in den positiven Geschenken und besonders in der Gnade ein ferner Abglanz der Ewigkeit aufleuchtet, der auf die ewige Seligkeit hinweist und eine Art Versprechen der ewigen Seligkeit enthält, während alle Leiden und Kreuze auf die vallis lacrimarum, den status viae (Zustand der irdischen Pilgerschaft) hindeuten (17). Das ergebene Hinnehmen derselben soll uns reinigen, mit dem leidenden Christus vereinigen. Doch dies ist nur möglich, wenn die Kreuze voll erlitten werden, wenn wir nicht eine freudige Antwort auf sie forcieren.
Die Verschiedenheit der Dankbarkeit von dem ergebenen Hinnehmen tritt in ihrem tiefen Sinn klar hervor, wenn wir daran denken, dass wir für positive Geschenke Gottes ebenso bitten dürfen wie für die Abwendung von Leiden und Kreuzen, während wir um die letzteren nur bitten dürfen, wenn eine besondere Berufung vorliegt. Damit berühren wir eine andere große Gefahr, die das religiöse Leben bedroht: Verstiegenheit und Unechtheit. Dinge, die echt, ergreifend und schön sind, wenn eine besondere Berufung vorliegt, sind ohne eine solche verstiegen und unecht.
Für die Umgestaltung in Christus, zu der alle berufen sind, gilt aber, dass wir um Geschenke und Gnaden bitten dürfen sowie um die Abwendung von Kreuzen und Leiden. »A peste, fame et bello libera nos Domine« (»Von Pest, Hunger und Krieg erlöse uns, o Herr«) betet die heilige Kirche in der Allerheiligenlitanei. Das Gebet Jesu in Gethsemane ist das große Vorbild für die Umgestaltung in Christus: erst die Bitte um die Abwendung des Kelches des tiefsten Leides, dann in dem letzten Wort: „doch nicht Mein Wille geschehe, sondern der Deine!« (Lk 22,42) die letzte Hingabe an den Willen Gottes, die unbedingte Ergebenheit. „Erst im Lichte dieser letzten Hingabe an Gott in den Abschlussworten: ,Aber nicht wie ich will, sondern wie Du willst', erhält die vorhergehende Bitte: ,Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an Mir vorüber' (Mt 26, 39) ihre volle Bedeutung, ihr wahres Gesicht. Nur durch die vorhergehende Bitte erhalten die abschließenden Worte ihre blutvolle Wirklichkeit, ihre glorreiche Wahrheit« (18).
Darum muss die Dankbarkeit als Antwort auf alle positiven Geschenke ebenso wie das ergebene Hinnehmen aller Leiden und Kreuze in der Bereitschaft der unbedingten Hinnahme dessen, was Gott über uns verhängt, fundiert sein. Aber dieses letzte Wort: »Fiat voluntas tua« (»Dein Wille geschehe«) hebt den Unterschied zwischen Dankbarkeit, liebendem Aufnehmen und vollem Erleiden des Kreuzes, das selbst zu dem »Eli, Eli, lamma sabacthani« (»Mein Gott, mein Gott, warum hast Du Mich verlassen?« Mt 27,46) führen kann, nicht auf.
Es ist von größter Bedeutung für das wahre gottgewollte Verhältnis des Menschen zu Gott, in all den Leiden und Prüfungen die positiven Geschenke nicht zu vergessen. Neben dem ergebenen, liebenden Annehmen der Kreuze im Licht der Passion Christi muss die Dankbarkeit und das Danken für alle positiven Geschenke fortleben.
Ein besonderer Fall liegt vor, wenn Fügungen, die schmerzlich sind, sich später in ihren Konsequenzen als Glück herausstellen. Dieser Wechsel des Aspektes, bei der ein Übel als solches sich später in seinen Konsequenzen als ein Glück erweist, ist ein besonderes Mysterium im Gesamtverlauf unseres Lebens.
Für diesen Wechsel im Charakter des objektiven Gutes bzw. Übels, der durch die Konsequenzen entsteht, gibt es den meisten Menschenleben unzählige Beispiele.
Hierzu muss noch folgendes gesagt werden: Erstens bedeutet dieser Wechsel nicht, dass die positiven Konsequenzen jener Prüfung ihren Charakter als objektives Übel für uns aufheben. Der Unterschied im Aspekt eines Ereignisses stammt ja aus Konsequenzen, die nicht notwendig mit dem Übel verknüpft sind. Diese sind nicht etwas, was unbedingt aus der Prüfung als solcher fließt. Sie sind vielmehr ein Teil jener geheimnisvollen Kausalkette, die unser Leben durchzieht.
Darum ist es völlig richtig, wenn unsere unmittelbare Antwort auf die Prüfung nicht Dankbarkeit ist, sondern ein ergebenes »fiat voluntas tua« und der Glaube, dass sich diese Prüfung als besondere Manifestation der Liebe Gottes herausstellen wird. Wenn sich später die beglückenden Konsequenzen einstellen, können wir für die Prüfungen danken.
Zweitens muss betont werden, dass es Prüfungen, Leiden, Kreuze gibt, die so furchtbar, so tief sind, dass sie nie wegen ihrer Konsequenzen als positiv erscheinen können, z. B. der Tod des allergeliebtesten Menschen, eines über alles geliebten Ehegatten. Selbst wenn dadurch später eine sehr glücklicher Ehe mit einem anderen Menschen möglich wird, wäre es furchtbar, für den Tod des über alles geliebten ersten Ehegatten zu danken. Ganz abgesehen davon, dass das Übel in diesem Fall nicht nur den Überlebenden, sondern auch den geliebtesten Menschen betrifft, ist das Kreuz so schwer, dass es nie im Licht glücklicher Konsequenzen betrachtet werden darf (19).
Die Untersuchung der Dankbarkeit gegen Gott im Leben des in Christus Umgestalteten können wir nicht abschließen, ohne auf die Dankbarkeit für die magnalia Dei (im besonderen Sinn dieses Wortes), die übernatürlichen Geschenke Gottes, hinzuweisen. Wir sprachen schon von dem Urgeschenk des natürlichen Daseins, des Existierens als menschliche Person. Jetzt müssen wir uns auf das noch sublimere Geschenk der heiligmachenden Gnade, des Wiedergeborenwerdens in Christus besinnen, von dem ein Gebet der »tridentinischen« Messe bei der Opferung sagt: »Deus qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti et mirabilius reformasti« (»Gott, Du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert«).
Beim Dank für die magnalia Dei, die von der Offenbarung des Alten Testamentes bis zur Selbstoffenbarung Gottes in der heiligen Menschheit Jesu Christi reichen, die das zentralste Mysterium der Inkarnation und die Erlösung des Menschen durch den Kreuzestod Christi, das Geschenk der Einpflanzung des übernatürlichen Lebens in die Seele des Menschen im Sakrament der Taufe, die Eucharistie und alle Sakramente umfassen, gelangen wir zu einer ganz neuen Art der Dankbarkeit. Der Dank für die magnalia Dei steht im Mittelpunkt des offiziellen Dankens der Heiligen Kirche. Dieses findet seinen besonderen Ausdruck in den Präfationen der Heiligen Messe.
Die Dankbarkeit für die magnalia Dei soll aber auch im privaten Leben des in Christus Umgestalteten an erster Stelle stehen. Die Danksagung für sie soll sein Leben durchziehen. Vergessen wir nicht, dass durch die magnalia Dei auch das natürliche Leben sowie alle natürlichen hohen Güter eine neue Bedeutung, einen neuen Glanz erhalten und ein verklärtes Licht auf sie fällt. Durch das »instaurare omnia in Christo« (»alles in Christus Erneuern« Eph 1,10) entstehen ganz neue Möglichkeiten für den Menschen, nicht nur die alles durchdringende Hoffnung, sondern auch das amare in Deo, amare in Jesu (Lieben in Gott, in Jesus), das auch aller geschöpflichen Liebe erst die Möglichkeit gibt, ihren tiefst Genius, ihre letzte intentio unionis und intentio benevolentiae (Intention des Wohl-Wollens) zu verwirklichen. Die Worte Jesu in der Geheimen Offenbarung: »Siehe, Ich mache alles neu« (Off 21,5) gelten für das gesamte menschliche Leben und die Verklärung all der hohen natürlichen Güter in Christus.
Die Dankbarkeit gegenüber anderen Menschen
Nachdem wir auf die fundamentale Bedeutung der Dankbarkeit gegen Gott hingewiesen und gezeigt haben, dass der in Christus Umgestaltete ein Dankender ist, dass sein Herz von dieser Urhaltung der Dankbarkeit gegen Gott und gegen den Gottmenschen Jesus Christus erfüllt sein muss, wenden wir uns nun der Frage zu, welche Rolle die Dankbarkeit des in Christus Umgestalteten gegenüber jenen Menschen spielen soll, denen er in verschiedenster Hinsicht viel verdankt.
Der in Christus Umgestaltete muss auch all den Menschen gegenüber, in deren Schuld er steht, dankbar sein. Er darf keine Hemmungen haben, für Wohltaten aller Art ausdrücklich zu danken. Die Dankbarkeit gegen Menschen, denen gegenüber ein objektiver Grund zur Dankbarkeit vorliegt, ist Träger eines hohen sittlichen Wertes. Sie ist eine Auswirkung von Demut, Güte und wahrer Freiheit. Diese Tugend ist für den in Christus Umgestalteten unerlässlich, nicht nur als Träger eines hohen sittlichen Wertes, sondern sie gehört notwendig zur Heiligkeit.
Ein Mensch, der sich scheut, anderen dankbar zu sein und dies als belastende Abhängigkeit empfindet, ist noch ein Sklave seines Hochmuts. Wer so in sich selbst verhaftet ist, dass er alle Wohltaten als selbstverständlich hinnimmt, dem fehlt die wahre Wachheit und Freiheit. Sein Übersehen der Forderung, danken zu sollen, seine Unempfindlichkeit für die in jedem Geschenk enthaltene Güte zeigt auch, dass er selbst noch nicht voll in das Reich der Güte eingegangen ist.
Um all dies klar zu sehen, müssen wir von vornherein ganz verschiedene Fälle unterscheiden. Der erste betrifft die Dankbarkeit einer Person gegenüber, mit der mich keine besondere Freundschaft oder gegenseitige Liebe verbindet, die mir jedoch große, greifbare Wohltaten erweist, sei es Hilfe in finanzieller Not oder Unterstützung in der Erreichung mir wichtiger Ziele, z.B. einer bestimmten beruflichen Position, sei es moralischer Beistand in einer schweren inneren Not oder eine Verteidigung gegen ungerechte Anschuldigungen und Verleumdungen. Es ist interessant, dass innerhalb dieses ersten Falles auch die Natur der Wohltat mit hineinspielt. Es fällt schwerer, für gewisse Wohltaten dankbar zu sein als für andere. Jemand mag Dankbarkeit für eine finanzielle Hilfe fühlen, aber es kann ihm schwer fallen, die Schuld, in der er anderen gegenüber in geistiger Hinsicht steht, anzuerkennen oder gar echte Dankbarkeit dafür zu empfinden.
Der zweite Fall betrifft die Dankbarkeit gegenüber Menschen, mit denen uns eine tiefe Beziehung verbindet. Zunächst ist die erste entscheidende Frage, wieweit wir für die Liebe, die uns der andere schenkt, dankbar sind, wie weit wir die Kostbarkeit dieses großen, tiefen, unvergleichlichen Geschenkes würdigen, von dem John Stuart Mill gesagt haben soll, man könne einem anderen kein größeres Geschenk machen als das seines Herzens.
Die zweite Frage ist: Wie steht es um die Dankbarkeit für Geschenke aller Art innerhalb einer solchen gegenseitigen tiefen Beziehung, welcher Kategorie diese Liebe auch angehören mag? Wieweit würdigen die beiden Partner die Geschenke und Hilfen des andern? Hier erfordert die Dankbarkeit eine andere Wachheit. Die Gefahr des Als-selbstverständlich-Hinnehmens, das Unverständnis für die Forderung, in einem ausdrücklichen Akt für ein Geschenk zu danken, ist größer. Besonders in der Ehe, aber auch im Zusammenleben von Freunden oder Geschwistern bzw. Kindern mit ihren Eltern, kurz überall, wo Menschen nicht nur durch eine tiefe gegenseitige Liebe vereint sind, sondern auch zusammen leben, den Alltag teilen, wird diese Wachheit für das Danken schwerer. Wiederum variieren die Widerstände gegen die Dankbarkeit und das ausdrückliche Danken je nach der Natur der Wohltaten.
Endlich gibt es Beziehungen, bei denen in der Liebe des einen die Dankbarkeit gegen den anderen ein konstitutives Element ist. Der dankbare Aufblick des einen zu dem anderen formt von Anfang an diese Beziehung.
Wir wollen uns nun der Analyse des ersten Falles zuwenden, der Dankbarkeit einem Menschen gegenüber, mit dem uns keine intime Beziehung verbindet. Als Beispiel wählen wir eine finanzielle Hilfe oder eine in äußerer Gefahr oder eine Verteidigung gegen Verleumdungen. Will jemand eine solche Dankesschuld nicht anerkennen und fällt es ihm schwer, diese Abhängigkeit von einem anderen einzugestehen, so liegt ein bedenklicher Hochmut vor. Wenn ihn die Güte des anderen nicht rührt und beglückend trifft, ist sein Herz noch ganz von Hochmut verhärtet und verschlossen. Der Hochmut sträubt sich gegen die Bindung, die darin liegt, in der Schuld des anderen zu stehen. Die Vorstellung, man schulde dem anderen etwas, man müsse ihm gar einen entsprechenden Dienst erweisen, falls er in eine ähnliche Lage käme, wird als Einschränkung der Freiheit und Unabhängigkeit empfunden. Die Situation des Helfers gegenüber dem, dem er hilft, schließt offensichtlich eine Überlegenheit auf seiten des Helfers ein. Aber es ist tief charakteristisch den Hochmut, die Schönheit der Güte des Helfenden zu ignorieren und nur ein Ressentiment gegen seine formale Überlegenheit zu fühlen. Wir haben noch verschiedene Variationen zu unterscheiden.
Die schlimmste Art von Undankbarkeit liegt vor, wenn bereits die Güte des Helfenden ein Ressentiment erweckt. Man nimmt zwar die Hilfe an, weil es sonst keinen Weg aus der schwierigen Situation gibt, aber man nimmt schon Ärgernis an der Überlegenheit, die sich aus dem sittlichen Willen des Wohltäters ergibt. Man sucht sie zu leugnen, umzuinterpretieren, zu verdrängen.
Ein anderer empfindet zwar kein Ressentiment gegen Güte des Wohltäters, aber es ist ihm unerträglich, in seiner Schuld zu stehen. Solange sich die Güte eines Menschen einer Wohltat anderen gegenüber manifestiert, wird er kein Ärgernis daran nehmen und ihn vielleicht sogar rühmen. Aber sobald die formale Überlegenheit des Wohltäters der eigenen Person gegenübersteht, wehrt sich sein Hochmut gegen sie.
Ein dritter, weniger Hochmütiger würde diese formale Überlegenheit »schlucken«, wenn er damit nicht in die Schuld des anderen geriete. Dieser dritte ist nicht so undankbar, dass er unfähig wäre, die aus der Annahme der Wohltat sich ergebende Dankesschuld zu erfassen. Er fühlt die Realität dieser Bindung. Primär empfindet er in seinem pervertierten Freiheitsdrang, seinem Bedürfnis nach unbedingter Unabhängigkeit die Dankesschuld als bedrückend. Ein indisches Sprichwort bringt diesen Widerstand gegen die Dankbarkeit drastisch zum Ausdruck: Warum verfolgst du mich - ich habe dir doch nie eine Wohltat erwiesen (20).
Viertens kann jemand die Konsequenzen der Dankesschuld aus Trägheit scheuen. Er stellt sich vor, er müsse sich in einem entsprechenden Fall des Wohltäters annehmen. Dieser könne, wenn er in Not geriete, mit Recht etwas von ihm verlangen. Die Bindung wird nicht so sehr als demütigend oder freiheitsraubend empfunden, sondern vor allem als mühsam.
Dieser letzte Typus wird vorziehen, ohne fremde Hilfe auf irgendeinem anderen Weg aus der Not herauszukommen. Er ist nicht so amoralisch wie die oben erwähnten Sklaven des Hochmutes. Er versteht sogar, dass aus dem Empfangen der Wohltat eine Dankesschuld erwächst, und versucht nicht, sie zu verdrängen. Aber es bedrückt ihn, die Hilfe eines Wohltäters annehmen zu müssen, weil er der lästigen, mühsamen Bindung entgehen will.
Im Gegensatz zu all diesen in Hochmut, in einem Unabhängigkeitsidol und in einer egoistischen Trägheit Befangenen nimmt der in Christus Umgestaltete die Hilfe des Wohltäters dankbar an. Er sieht erstens die Schönheit der Güte der anderen Person und freut sich darüber. Diese Güte ist für ihn schon in sich, unabhängig von dem Befreitwerden aus der Not, ein Quell der Freude und des Glückes. In der Schuld des anderen zu stehen, empfindet er nicht als Belastung. Ganz im Gegenteil, die formale Überlegenheit des anderen ist ihm eine Freude, und er hält sein Leben für bereichert durch diese Bindung der Dankbarkeit. Er erlebt das tiefe Glück und die beglückende Freiheit, die im Dankbarsein und in der durch die Güte des anderen entstandenen Bindung liegt.
Der in Christus Umgestaltete wird ein objektives Gut lieber durch die Güte eines anderen empfangen als ein Anrecht auf ein solches geltend machen. Solange er etwas erhält, wozu fordern sein gutes Recht ist, fehlt der beglückende Faktor der Großmut und Güte des Wohltäters. Der Empfang eines reinen Geschenkes, das zu fordern wir kein Recht haben, ähnelt dem der bereits erwähnten Geschenke Gottes; denn vor Gott können wir nie auf einem Recht bestehen. Alles was wir von Ihm erhalten, ist reines Geschenk.
Auch der in Christus Umgestaltete hat eine berechtigte Scheu, in die Bindung einer Dankesschuld einem anderen gegenüber zu geraten, falls der »Wohltäter« ihm nur hilft, um ihn in seine Gewalt zu bekommen. Manche Menschen wollen andere durch Wohltaten von sich abhängig machen. Dabei fehlt der Faktor der Güte vollständig. Die Wohltat wird nur erwiesen, um den anderen durch die Abhängigkeit der Dankbarkeit zu zwingen, den Wünschen des »Wohltäters« zu willfahren. Wenn der sogenannte Wohltäter solcher Art ist, sind wir verpflichtet, diese Abhängigkeit zu vermeiden. Ist dies unmöglich, so können wir die Wohltat annehmen, aber wir dürfen dem »Wohltäter« keinerlei Macht einräumen, uns zu etwas zu veranlassen, was uns unser Gewissen verbietet. Auch das Aufgeben der uns von Gott verliehenen Rechte gehört zu den Dingen, die wir nie als Preis für eine empfangene Wohltat zahlen dürfen. Einem solchen »Wohltäter« können wir nicht wirklich dankbar sein, weil statt der Güte ein Dolus (eine Arglist) vorliegt. Wir dürfen keinerlei Bindung akzeptieren, selbst wenn wir die Wohltat annehmen müssen. Diese Hilfe, die eine Frucht einer bösen Gesinnung und nicht der Güte ist, gebiert objektiv keine wahre Verpflichtung zur Dankbarkeit.
Für den sittlich-religiösen Stand eines Menschen ist es sehr charakteristisch, ob er begreift, dass er einem anderen Dank schuldet, und ob er sich freut, in dessen Dankesschuld zu stehen. Es ist ein Zeichen der so zentral wichtigen Wachheit, wenn er das Verhalten des anderen ihm gegenüber als Geschenk erfasst, die Schönheit der darin sich manifestierenden Güte und die aus der Wohltat erwachsende Forderung zur Dankbarkeit erkennt. In dem Augenblick, in dem er die Wohltat nicht mehr als etwas Selbstverständliches hinnimmt und die darin liegende Güte bewusst erfasst, vollzieht er einen wichtigen Schritt in seiner sittlich-religiösen Entwicklung.
In der Dankbarkeit liegt eine Hingabe sui generis (eigener Art) und eine spezifische Großmut. Das Ungern-Dankenwollen, die Scheu vor dieser Hingabe enthält auch eine gewisse Analogie zum Geiz.
Für den zweiten Fall der Geschenke im Rahmen einer dauernden, auf gegenseitiger Freundschaft oder Liebe gegründeten Beziehung ist eine noch größere Wachheit erforderlich, um die Verpflichtung zur Dankbarkeit zu erfassen und sich zu ausdrücklichem Danken gedrängt zu fühlen. Das grundlegende Geschenk, in dem die ganze Beziehung fundiert ist: die Liebe, die der andere uns entgegenbringt, ist ein mit den größten Wohltaten unvergleichbares Geschenk. Diese Liebe ist eine andere Art von Geschenk. Sie ist nicht ein Ausfluss des Mitleids wie die einem Fremden erwiesene spezifische Hilfe in der Not, nicht eine Manifestation besonderer Güte, nicht etwas, was eine Verpflichtung zur Dankbarkeit, eine Dankesschuld fundiert. Diese Liebe ist in einer Hinsicht weit mehr als eine Wohltat, andererseits ist sie noch mehr eine Gabe Gottes als ein Geschenk des anderen. Für seine Liebe, unabhängig von der Kategorie, der sie angehört, danken wir primär Gott, der sie in sein Herz gelegt hat, und nicht so sehr ihm, schon weil diese Liebe nicht seinem freien Willen entströmt wie die Wohltat des Fremden oder wie jene Liebe, die aus der Nächstenliebe erwächst.
Hier begegnen wir wieder der eigenartigen coincidentia oppositorum (Zusammenfallen von Gegensätzen). Es gehört zu allen Arten menschlicher, auf gegenseitiger Liebe aufgebauter Beziehungen, dass wir die gütige Gesinnung des anderen uns gegenüber kennen und an sie glauben. Von einem fremden Menschen erwarten wir eine solche Gesinnung nicht. Aber in jeder Art einer auf gegenseitiger Liebe aufgebauten Beziehung rechnen wir mit der Bereitschaft, uns beizustehen, wenn wir es brauchen. Ja, es ist ein wesentlicher Teil unserer liebevollen Zuwendung zu der anderen Person, dass wir an ihre Hilfsbereitschaft glauben. Dieses Element gehört notwendig zur Liebe zu dem Partner. Wir empfinden es als schmerzlich, wenn der Freund, die Schwester, das Kind nicht damit rechnet.
Wie vereinigt sich dieses selbstverständliche Bauen auf die Hilfsbereitschaft des geliebten Menschen mit der ausdrücklichen Dankbarkeit für jede geleistete Hilfe?
Der Widerspruch zwischen diesem Als-selbstverständlich-Erwarten von Wohltaten und der Dankbarkeit dafür, die doch gerade das Als-selbstverständlich-Hinnehmen ausschließt, ist nur ein scheinbarer. Wir sahen, dass die Dankbarkeit in all diesen Beziehungen sich primär auf die liebevolle Gesinnung des anderen mir gegenüber bezieht. Ich bin dankbar dafür, dass jemand mein Freund ist und ich sein Freund sein darf. Ich bin ihm für seine Liebe dankbar; ebenso bin ich den Eltern, dem Bruder, der Schwester dankbar, dass sie mich lieben.
Daher bin ich schon dankbar dafür, dass ich von ihnen, im Unterschied zu Fremden, Hilfe in der Not erwarten, mich auf ihre Hilfsbereitschaft verlassen darf. Aus den empfangenen Wohltaten, in denen sich dieses beglückende Rechnenkönnen auf ihre Hilfe bestätigt, fließt ganz organisch eine echte Dankbarkeit für jede Hilfe, jede Wohltat.
Aber dieses Für-selbstverständlich-Halten der Wohltat ist keineswegs das der Dankbarkeit widersprechende Nichtwürdigen, auch kein Beanspruchen als Recht. Zwischen dem, der erklärt: »Was ist dabei schon Besonderes? Er hat mir geholfen, das ist doch seine Pflicht!«, und dem, der sagt: »Ich habe nie daran gezweifelt, dass er mir helfen werde; er ist ja so gut und liebt mich«, besteht offenbar ein radikaler Unterschied. Dieses selbstverständliche Rechnen mit der Hilfe ist gleich dem ohne Zweifel mit ihr Rechnen, gleich dem vollen Glauben an den anderen, das Gegenteil alles neutralen, selbstverständlichen Hinnehmens, wie es unwesentlichen, wertlosen Dingen gegenüber am Platz ist. Das Bauen auf die Hilfsbereitschaft des anderen enthält eine Wertantwort auf seine Person und auf seine Liebe zu uns. Es ist das Gegenteil einer neutralen Kalkulation, ein besonderes Zeichen dafür, wie hoch wir diese Beziehung einschätzen.
Darum erzeugt diese Liebe zwar eine anders geartete, aber noch tiefere Verpflichtung. Wir stehen in einem anderen Sinn noch viel tiefer in seiner Schuld. Wir können jemandem, der uns aus einer Lebensgefahr gerettet hat, nicht genug danken und ihm auch nicht dasselbe erweisen, was er für uns tat, außer Gott versetzte uns in eine außergewöhnliche Lage, in der wir Gleiches mit Gleichem vergelten könnten. Diese Wohltat, die sich scharf als solche abhebt, schafft eine typische Dankesschuld, die ganz verschieden ist von der aus der persönlichen Liebe erwachsenden Verpflichtung. Doch soll auch für das einzigartige Geschenk der Liebe eine tiefe Dankbarkeit in uns leben. Es ist ein besonderer Prüfstein für den sittlich-religiösen Stand des Menschen, ob er auf die ihm entgegengebrachte Liebe und Treue mit Dankbarkeit antwortet. Gewiss, er liebt den anderen ebenso. Er vollzieht dieselbe außergewöhnliche Hingabe des Herzens an ihn; wir denken ja an eine gegenseitige Liebe, sei es Freundschaft, Geschwisterliebe oder bräutliche Liebe. Obgleich wir dem anderen ebenso unser Herz »geben« wie er uns, soll doch als Antwort auf seine Liebe eine tiefe Form der Dankbarkeit unser Herz erfüllen.
Einerseits liegt in meiner Hingabe an den anderen in einer schon konstituierten gegenseitigen Liebesbeziehung eine Art Anrecht auf die Liebe des anderen. Die Tatsache, dass ich selbst den gleichen inneren Gestus ihm gegenüber vollziehe, und zwar den im logos der Beziehung fundierten, ja geforderten Gestus, legt es nahe, dass ich gleichsam ein Anrecht auf seine Liebe habe. Ich erwarte sie, ich baue auf sie, sie wird ein Fundament meines Lebens. Sie ist die sinnvolle Antwort auf meine Liebe. Andrerseits soll jeder der beiden Liebenden die Liebe des anderen als Geschenk betrachten, für das er nie genug danken kann.
Im idealen Fall fühlen beide diese Dankbarkeit, und jeder weiß um die einzigartige Form der Dankbarkeit in der Seele des anderen - wegen der Liebe, mit der sie einander umfangen. Diese gegenseitige Dankbarkeit mündet aber in die vorherrschende gemeinsame Dankbarkeit gegen Gott für die gegenseitige Liebe, für die Beziehung, die Sein Geschenk ist. Die Liebe, die der andere uns zuwendet, müssen wir einerseits als beglückendes Geschenk empfinden, als ein Aufgefangen- und Verstandenwerden, als ein tiefes Verstehen unseres eigentlichen Selbst. Wir empfinden, dass er unser wahres Selbst erfasst hat und nicht in Illusionen lebt. Andererseits sollen wir das Gefühl haben, dass wir diese Liebe nicht verdienen, dass sie ein unverdientes Geschenk ist. Wie so oft im Reich des in Christus Umgestalteten begegnen wir auch hier einer Paradoxie, einer coincidentia oppositorum.
Der Demütige, Gütige, innerlich Freie wird diese besondere, tiefe Dankbarkeit für die Liebe des anderen fühlen. Die in dieser Liebe liegende »Forderung« ist jedoch die Erwiderung der Liebe; er ist sich bewusst, dass keinerlei Wohltat je dieser Forderung als Antwort genügen würde, vielmehr nur seine analoge Liebe bzw. die Erwiderung der Liebe des anderen.
Welches ist die gottgewollte Antwort der Dankbarkeit für die unzähligen einzelnen Geschenke, die der eine dem anderen aus dieser Liebe heraus erweist? Wiederum ist es äußerst charakteristisch für den sittlich-religiösen Stand eines Menschen, wieweit sich seine Liebe manifestiert, wie sich die intentio benevolentiae auswirkt in einer Unzahl von Geschenken, Rücksichten, in einem wachen Auge für die Bedürfnisse des geliebten Menschen, für den Grad seiner Empfänglichkeit. Wird er sich enthalten, den anderen zu überfordern? Es gibt die Gefahr, dem anderen aus dem liebenden Wunsch, ihm besondere Freuden zu bereiten - ihm etwas Schönes zu erschließen, ihm eine herrliche Landschaft oder Architektur zu zeigen -, mehr zuzumuten, als er, seinen körperlichen oder psychischen Kräften entsprechend, in diesem Augenblick aufnehmen kann. Der wach Liebende wird dies vermeiden.
All dies - sowohl besondere Hilfen, Geschenke und Rücksichten als auch der Wunsch, dem geliebten Menschen objektive Güter für ihn zuteil werden zu lassen, von den gewichtigeren bis zu den kleinsten Aufmerksamkeiten in Richtung der Bequemlichkeit und guter Speisen - ist ein Zeichen dafür, wieweit diese unsere Liebe zum andern von der caritas (21) durchflutet ist. Wie gesagt ist es sehr charakteristisch für einen Menschen, wieweit seine Liebe zum andern sich in diesen Beweisen der intentio benevolentiae auswirkt.
Nicht nur in der Bereitschaft, kein Opfer zu scheuen, um dem anderen eine Wohltat zu erweisen, sondern auch im Verzicht auf das Erweisen einer Wohltat, weil der andere im Augenblick vor allem Ruhe braucht, äußert sich dieses Durchflutetsein der Liebe von der caritas.
Für unser besonderes Problem ist es vor allem von Interesse, zu verstehen, dass man auch für all diese einzelnen Wohltaten dankbar sein soll. Wie schon erwähnt, ist es viel schwerer, die vielen Gaben und Hilfen des Liebenden zu würdigen als außerordentliche Wohltaten von seiten Fremder. Man neigt viel mehr dazu, jene zu übersehen. Erstens wird man sich an sie gewöhnen und sie aus Gewohnheit als selbstverständlich hinnehmen. Die Gewohnheit ist die eine große Gefahr (22) in unserem sittlich-religiösen Leben: die Gefahr abzustumpfen, ein Geschenk nach einiger Zeit nicht mehr zu würdigen. Wie würdigt man etwas, was man lange nicht besaß, oder etwas Heißersehntes, bevor man es besitzt! Zweitens besteht die Gefahr, es als selbstverständlich hinzunehmen und sich zu keinem besonderen Dank verpflichtet zu fühlen, weil man sich sagt: »Natürlich, er liebt mich ja, er hängt so an mir; darum ist es doch selbstverständlich, dass er mir jede Art von Gefallen tun will.« Weil man die Liebe des andern nicht mehr als ein außerordentliches Geschenk erfasst und sie gleichsam in die alltäglichen, normalen Bestandteile des eigenen Lebens eingebaut hat, erwartet man von diesem Menschen vieles als eine Selbstverständlichkeit. Im konkreten Fall sagt man: »Das ist doch nichts Besonderes wie bei einem Fremden, sondern die selbstverständliche Folge seiner Liebe. Ihm selbst macht es Freude, dafür kann ich doch nicht besonders dankbar sein.«
Man sieht alle Wohltaten in diesem Licht und fühlt deshalb keine Verpflichtung zur Dankbarkeit. Ja, am Ende übersieht man diese Beweise der Liebe, man erlebt sie nicht einmal mehr als solche.
Diese Undankbarkeit erwächst somit aus anderen Gründen als den oben besprochenen. Ursache ist weder ein aus dem Hochmut geborenes Ressentiment gegen den sittlichen Wert des Wohltäters, das schon in sich die Wertantwort auf die Schönheit seiner Güte unterbindet, noch jener Hochmut, der sich gegen das Stehen in der Schuld des anderen richtet, noch der Widerspruch gegen die dem anderen dabei eingeräumte Überlegenheit. Ursache ist auch nicht der pervertierte Freiheitsdrang, der sich gegen die Dankesschuld dem anderen gegenüber richtet, ja nicht einmal die Scheu, durch diese Abhängigkeit von einer anderen Person in Zukunft vielleicht in seiner Ruhe gestört zu werden, also der Ausfluss einer Trägheit bzw. einer bestimmten Form des Egoismus. Nein, die Undankbarkeit für die einzelnen Beweise der Liebe des Freundes, des Bruders, des Vaters, der Mutter oder des Ehegatten ist erstens in der allgemeinen Gefahr der Abstumpfung begründet. Sie ist dann vor allem ein Mangel an Wachheit, der dazu führt, diese Beweise der Güte und Liebe des Partners als selbstverständlich hinzunehmen und sogar zu übersehen. Sie ist ferner ein Mangel an Liebe unsrerseits - nicht nur eine generelle Unwachheit, sondern auch ein »Einschlafen« unserer Liebe.
Weil wir nicht mehr wach in unserer Liebe sind, steht das Gesamtbild der anderen Person nicht mehr so leuchtend vor uns. Wir würdigen das Geschenk ihrer Liebe zu uns nicht mehr voll.
In diesem Als-selbstverständlich-Hinnehmen all der schönen und kostbaren Erweise der Liebe des anderen zu uns liegt auch eine Verhärtung unseres Herzens, ein Verstoß gegen die fundamentale Tugend der Güte. Wir würdigen die Schönheit der Güte des Partners in all den einzelnen Wohltaten nicht mehr. Wir nehmen sie als selbstverständlich hin, fast als hätten wir ein Recht darauf.
Dies tritt besonders drastisch hervor, wenn ein Mensch gleichzeitig mit der Abstumpfung für die Wohltaten des Partners in einer Beziehung gegenseitiger Liebe und Freundschaft jene Wohltaten, die ihm von fremden Personen zuteil werden, voll würdigt. Wiederholt konnte ich beobachten, dass ein Mensch für die Wohltaten von seiten ihm sehr nahestehender Menschen abstumpfte, während er viel unbedeutendere Freundlichkeiten oder Wohltaten von Fremden ganz erfasste und mit Dankbarkeit beantwortete.
Wir sehen also, dass die volle Dankbarkeit in einer tiefen gegenseitigen Herzenseinheit noch mehr voraussetzt als die Dankbarkeit für Wohltaten seitens fremder Personen. Es ist ein höherer sittlich-religiöser Stand erforderlich, eine größere Wachheit und Güte, ein tiefer aufgeschmolzenes Herz.
Diese Wachheit und Güte sind nur möglich in einem Leben in conspectu Dei (im Angesicht Gottes), das vom lumen Christi (Licht Christi) durchleuchtet ist.
Wir können deutlich sehen, wie sehr die Dankbarkeit gegenüber Menschen zur Umgestaltung in Christus gehört. Zwar ist die Dankbarkeit für die Wohltaten Fremder, die der Hochmut unterbinden kann, auch als natürliche Tugend möglich. Aber Heiligkeit schließt jede Undankbarkeit ebenso aus wie jedes andere sittlich negative Verhalten. Wie alle durch Christus umgestalteten natürlichen Tugenden erhält die übernatürliche Dankbarkeit einen ganz neuen Glanz und Charakter gegenüber der rein natürlichen.
Die volle Dankbarkeit in tieferen menschlichen Beziehungen ist nur in Christus und durch Christus möglich. Sie setzt das durch die Dankbarkeit gegen Gott geformte und aufgeschmolzene Herz voraus. Sie ist eine Frucht der Umgestaltung in Christus.
Offensichtlich schulden wir für große Gaben, die wir von einem Freund, einem bräutlich geliebten Menschen, von Vater oder Mutter empfangen, besonderen Dank. Je höher das objektive Gut ist, das wir dem Partner verdanken, um so mehr ist eine Antwort der Dankbarkeit sittlich gefordert. Ferner gebührt einer entscheidenden moralischen Hilfe oder tiefgehenden intellektuellen Förderung mehr Dank als einer Lebensrettung.
Wie groß, wie unerschöpflich ist das, was wir anderen Menschen verdanken können! Welche Wahrheiten, welche Werte können sie uns erschließen! Hierher gehört zunächst all das, was wir durch Werke und Bücher von denen empfangen, die wir nicht persönlich kennen und die lange vor uns gelebt haben können. Was verdanken wir Platon und dem heiligen Augustinus, was Shakespeare, Cervantes, was Bach und Beethoven! Wie herrlich sind die Worte Kierkegaards (23) über Mozart und über alles, was er ihm verdankt! All das, was wir von großen Gestalten und Genies empfingen, ist ein eigenes Kapitel. Dazu gehört auf einer viel höheren Stufe auch das, was Heilige den Menschen ihrer Umgebung und gar ihren Jüngern gegeben und vermittelt haben.
Diese Dankbarkeit bringt uns zu dem dritten Typus, d. h. zu Beziehungen, in denen der dankbare Aufblick der einen Person zu der anderen ein die Beziehung konstituierendes Element darstellt. Gewiss, in jeder Beziehung liegt ein gegenseitiges Empfangen vor; es gibt keine, in der nicht auch der primär Empfangende und zum Gebenden Aufblickende diesem etwas spendet. Schon das vertrauensvolle Aufnehmen ist für den Gebenden ein unfassbares Geschenk. Welches Geschenk ist das Aufblühen der Seele eines geliebten Menschen, das Früchtetragen von all dem, was der Gebende durch Gottes Gnade ihm erschließen und vermitteln kann! Wahrhaft, dieses Geben, wobei das Gegebene voll empfangen wird und herrliche Früchte trägt, ist auch ein Empfangen, ein Beschenktwerden einziger Art.
Dazu kommt all das, was der Empfangende aus seiner Persönlichkeit spendet, die Schönheit seiner einmaligen Individualität und vor allem seiner Liebe.
Diese Beziehungen, in denen der eine zum andern aufblickt, enthalten doch eine volle Gegenseitigkeit, ein volles Sich-Begegnen und vor allem eine gegenseitige Liebe, die sich allerdings bei den zwei Partnern in der Richtung unterscheidet. Diese Verschiedenheit der Richtung hindert das volle Ineinandergreifen und Ineinanderklingen der Liebe nicht; sie hat den Charakter einer Ergänzung. Beim Aufblickenden ist die Dankbarkeit ein Wesensbestandteil seiner Liebe. Er muss und soll sich all dessen bewusst sein, was er dem anderen verdankt. Ein von seinem Hochmut behinderter Mensch ist eines solchen Aufblicks nicht fähig. Wohl kann auch jemand, der nicht in Christus umgestaltet ist, am Anfang der Beziehung eines solchen Aufblickens fähig sein. Häufig entsteht jedoch mit der Zeit ein Widerstand gegen dieses Aufblicken und dankbare Empfangen, unter Umständen sogar eine Rivalität. Wer nicht die wahre Demut besitzt, kann in eine gewisse Rebellion geraten und dadurch der wahren Dankbarkeit verlustig gehen.
Der Mensch ist ein rezeptives Wesen. Nicht nur empfing er alle Gaben von Gott, von seiner Existenz bis zu seinem freien Willen und seiner Fähigkeit, zu erkennen und zu lieben. Er ist noch in einem neuen Sinn rezeptiv in Bezug auf alles, was er erkennen kann, was Gott ihm erschließt und Menschen ihm geben können.
Wir sagten schon oft: Der Mensch ist so reich, wie sein Werterfassen vollständig ist. Hier aber wollen wir darauf hinweisen, dass nicht nur das Empfangen uns bereichert, sondern auch das Geben. In jeder vollen Wertantwort werden wir reicher, obwohl unser ganzer Gestus ein Geben ist. Dieses geheimnisvolle Gesetz findet seinen höchsten Ausdruck in den Worten Christi: „Wer seine Seele um meinetwillen verliert, wird sie gewinnen.« (Mt 10,39) Dies ist auch das Urgeheimnis der Liebe: Je mehr jemand liebt, je mehr er sich hingibt, desto reicher, desto weiter wird er, desto mehr lebt er sein volles personales Sein.
Dies gilt auch für die Dankbarkeit, die ein volles Sich-Hingeben, Sich-Schenken ist, die in gewisser Weise die Antithese zum Empfangen darstellt. In ihr wird der Mensch reicher, in ihr wächst er. „Sein Reichtum nimmt ja zu mit jedem Male, da er bittet und dankt«, sagt Kierkegaard, und kurz vorher: „Wie arm, nicht bitten zu können; wie arm, nicht danken zu können, wie arm, alles gleichsam hinnehmen zu müssen in Unerkenntlichkeit« (24).
Wie recht hat Kierkegaard, wenn er betont, es sei entscheidend für den Menschen, an der richtigen Stelle im Kosmos zu stehen. Das tut er, wenn er ein Dankender ist. In der Dankbarkeit lebt Wahrheit, Freiheit, Demut, Güte und Großmut. Sie bildet schon in ihrer natürlichen Form ein Kernstück der natürlichen Sittlichkeit. Ihre verklärte christliche Form in der Seele des in Christus Umgestalteten ist eine der zentralen Tugenden und eine der Säulen im Verhältnis des Menschen zu Gott. Bereits in ihrer natürlichen Form vollzieht sich ein gewisses Eingehen in das Reich der Güte.
Solange das Herz eines Menschen aktuell in Dankbarkeit überfließt, ist in seiner Seele kein Platz für böse Haltungen wie Neid, Rachsucht, Hass. Aber in ganz neuer Weise gilt dies für die Dankbarkeit des in Christus Umgestalteten Gott und den Menschen gegenüber. In der wahren Dankbarkeit erstrahlt die Seele in einzigartiger Schönheit. Danken gehört wie Lieben, Loben und Preisen zu dem, »quod erit in fine sine fine« .
Anmerkungen
1 Präfation von Weihnachten. 2 »Über die Dankbarkeit« in: Wirklichkeit der Mitte, Beiträge zu einer Strukturanthropologie, Festgabe für August Vetter; Kar! Alber, Freiburg/München 1968, S. 679-704.
3 Augustinus, Confessiones, I, 1, 1.
4 Ethik, deutsche Ausgabe besorgt von Karla Mertens; 2. Auflage in den Gesammelten Werken. Bd. ll, Kohlhammer, Stuttgart 1973, 5. und 7. Kapitel; Das Wesen der Liebe, Bd. III der Gesammelten Werke, Habbel, Regensburg 1971, Kap. III und IV.
5 Vgl. Moralia, Bd. IX der Gesammelten Werke, Habbel, Regensburg 1980; 5. Kapitel.
6 Gesammelte Werke. 33. Abteilung: Die Schriften über sich selbst. ,Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller', 2. Abschnitt Kap. III, S. 67f.; übersetzt von Emanuel Hirsch; Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1951. Vgl. auch Sören Kierkegaard, Die Tagebücher 1834-1855, Auswahl und Übertragung von Theodor Haecker; 2. Auflage: Hegner, Leipzig 1941; 24. April 1848, S.283 ff.
7 4. Auflage in den Gesammelten Werken. Bd. IV, Habbel, Regensburg 1975. Vgl. zu dem Folgenden: 2. Kapitel.
8 Die schöne Müllerin. op.25. von Franz Schubert. Nr.7: .Ungeduld' des Liederzyklus von Wilhelm Müller.
9 Augustinus. Sermo XXXVI. 1 (,ln dedicatione Ecclesiae. I').
10 XXII. 30.
11 Kierkegaard, 33. Abteilung, a.a.O., 5.68.
12 Sanctus der Heiligen Messe.
13 Sequenz am Fest der Sieben Schmerzen der Allerseligsten Jungfrau Maria von Jacopone da Todi.
14 Ebenda.
15 Aus dem mittelalterlichen Gebet Anima Christi.
16 Heiliger Thomas von Aquin: Schluss des Adoro te.
17 Wenn wir sagen, dass die Leiden auf den status viae beschränkt sind, so mag das als grobes Ignorieren des Fegfeuers und der Hölle erscheinen. Aber wir sprachen von den Leiden und den Kreuzen, die eine Prüfung für den Menschen darstellen, eine Gelegenheit zur Aktualisierung einer letzten Hingabe an Gott und zur Loslösung von aller ungeordneten Anhänglichkeit. Diesen Leiden haftet der Charakter des Vorläufigen an, der Vorbereitung auf die ewige Seligkeit. Dies gilt auch für das Fegfeuer. Der Sinn des Fegfeuers ist die Sühne der Schuld und eine Läuterung für die ewige Seligkeit. Die Relativität der Leiden tritt in ihrer wesentlichen Beziehung zur ewigen Seligkeit klar hervor. Was aber die ewige Höllenstrafe betrifft, so ist dieses Leiden gewiss nicht mehr vorläufig und nicht ein »Weg« zur ewigen Seligkeit. Der Sinn dieses Leidens ist Strafe, die göttliche Antwort auf die furchtbare Disharmonie der Sünde, der endgültig Abwendung von Gott und der Auflehnung gegen Ihn. Das Wesel und der Sinn dieses Leidens ist radikal von all den Kreuzen verschieden, die Gott uns auf Erden auferlegt und von denen wir wissen, dass sie ein Ausfluss seiner barmherzigen Liebe sind. Die Leiden der Hölle sind ein Ausfluss der unendlichen Gerechtigkeit Gottes, wenn Dante auch in der Divina Commedia zu der Gerechtigkeit die Liebe hinzufügt in den Worten, die im Canto III des ,Inferno' als Überschrift über der Hölle stehen:
»Giustizia mosse il mio alto fattore;
fecemi la divina potestate.
la somma sapienza el primo amore. «
»Gerechtigkeit bewegte meinen hohen Schöpfer;
Die Allmacht Gottes mich erschuf,
Die höchste Weisheit und der Liebe Ursprung.«
18 D. v. Hildebrand, aber das Herz, Habbel. Regensburg 1967, S. 173f.
19 Es kann Fälle geben, in denen sich Kreuze, die nicht diesen absoluten Charakter haben, später als Manifestation der Liebe Gottes erweisen, so dass der Betreffende sogar für diese Kreuze Gott dankt. Aber auch diese Dankbarkeit ist von der eigentlichen, freudigen Dankbarkeit, die eine Antwort auf beglückende Geschenke Gottes ist, typisch verschieden. Sie antwortet auf die in der Vorsehung Gottes sich manifestierende Liebe Gottes, nicht auf das Kreuz bzw. die Prüfung als solche.
20 Vgl. dazu Tacitus, Annalen, IV, 18: “Beneficia eo usque laeta sunt dum videntur exsolvi posse; ubi multum antevenere, pro gratia odium redditur« („Wohltaten sind so lange angenehm, als man hofft, sie entgelten zu können. Gehen sie weit darüber hinaus, wandelt sich die Dankbarkeit in Hass«) und Seneca, Epistulae morales, 81,32: "Nam quia putat turpe non reddere, non vult esse cui reddat. ...Nullum est odium perniciosius quam a beneficii violati pudore.« (»Weil er glaubt, es sei schändlich, nicht zurückzugeben, möchte er nicht, dass jemand da ist, dem er zurückgeben soll. ... Es gibt keinen gefährlicheren Hass als den eines Menschen, der wegen einer beschämenden Wohltat verletzt ist.«
21 Vgl.: Das Wesen der Liebe. Kap. XI.
22 Sehr treffend sagt Kierkegaard: »Lass den Donner Hunderter von Kanonen dich dreimal täglich... mahnen, der Macht der Gewohnheit zu widerstehen; ...aber nimm dich in acht, dass nicht auch dies eine Gewohnheit wird! Denn du kannst dich daran gewöhnen, den Donner Hunderter von Kanonen zu hören, so dass du bei Tische sitzen und die geringste Bedeutungslosigkeit weit deutlicher hören kannst als den Donner der Hunderte von Kanonen, den zu hören - du dich gewöhnt hast.« Gesammelte Werke, 19. Abteilung: Der Liebe Tun, !, S.43: übersetzt von Hayo Gerdes; Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1966.
23 Gesammelte Werke, 1. Abteilung, Entweder/Oder, übersetzt von Emanuel Hirsch; Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1956: erster Teil, ,Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische', »Nichtssagende Einleitung«, 5.49ff., 5.53f., 5.78, "Nichtssagendes Nachspiel.., 5.145; 15. Abteilung, Stadien auf des Lebens Weg. dto., 1958: »ln vino veritas«, S .28.
24 Gesammelte Werke. 20. Abteilung: Christliche Reden 1848. A. ,Die Sorgen der Heiden', I., S.14; übersetzt von Emanuel Hirsch; Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1959.
Über den Tod
Quelle: Dietrich von Hildebrand: Über den Tod (Nachgelassene Schrift), herausgegeben von der Dietrich Hildebrand Gesellschaft, EOS Verlag St. Ottilien 1989 (2. Auflage, 123 Seiten, ISBN 3-88096-082-8). Der Text enthält lateinische Wörter und Sätze. Bei der Digitalisierung leicht bearbeitet. Die biblischen Abkürzungen folgen der Einheitsübersetzung bzw. den Loccumer Richtlinien.
In verschiedenen Publikationen (1) wiesen wir auf die fundamentale Bedeutung der Wachheit hin. Wenn wir bedenken, dass das Erwachtsein ein Wesensmerkmal des personalen Seins ist (2), tritt die grundlegende Bedeutung der Wachheit deutlich hervor, da sie gleichsam eine Erfüllung des Personseins darstellt. Wir können sagen: Je wacher jemand ist, um so mehr ist sein Personsein aktualisiert. Je wacher ein Mensch ist, desto mehr ist sein Selbst im kierkegaardschen Sinn aktualisiert, desto mehr ist er ein Individuum, das allem Herdengeist entgegengesetzt ist, desto mehr ist er zur wahren Gemeinschaft fähig, desto mehr lebt er als Person, anstatt gleichsam durch das Leben hindurchzutrotten. Je wacher ein Mensch ist, desto tiefer ist sein Werterfassen, seine Wertantwort, desto lebendiger erhebt das Gewissen seine Stimme, sobald es sich um moralische Entscheidungen handelt. Je wacher er ist, um so freier ist er von Selbsttäuschungen, um so freier von Wertblindheit.
In dieser Arbeit ist nicht die Wachheit in ihren verschiedenen Dimensionen das Thema, sondern die Wachheit in Bezug auf den Tod. Welcher Art sind die verschiedenen Aspekte des Todes? Welcher ist der gültige, wahre? Worin besteht die objektiv geforderte Wachheit gegenüber dem Tod? In der folgenden Abhandlung ist das Thema der Tod und die wahre gültige Einstellung zu diesem entscheidenden geheimnisvollen Ereignis, das für jeden Menschen eintreten wird.
Von Anfang an sei darauf hingewiesen, dass diese kurze Abhandlung über ein so umfassendes Thema in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Wir wollen weder die verschiedenen natürlichen noch alle übernatürlichen christlichen Aspekte des Todes untersuchen. Nur die zentrale klassische Schau des Todes auf der natürlichen Ebene und zwei Hauptaspekte auf der übernatürlichen christlichen Ebene sollen aufgewiesen werden. Diese ganze Schrift hat einen persönlichen und existentiellen Charakter. Sie ist das Wort eines Hochbetagten, der schon einige Male unmittelbar vor dem Tod stand. Wir hoffen natürlich, keine bloß subjektiven, sondern objektiv gültige, wahre Aspekte des Todes zu zeigen. Unsere Themen sind erstens der radikale Unterschied zwischen der natürlichen und übernatürlichen Schau des Todes; zweitens die Voraussetzungen, welche vom natürlichen Aspekt des Todes sieghaft zum übernatürlichen führen können.
Der natürliche Aspekt des Todes
Wir wenden uns darum zunächst dem natürlichen Aspekt zu: der ganzen Furchtbarkeit, dem Grauen des Todes - mit einem Wort: dem Phänomen des Todes auf der rein natürlichen Ebene. Auf dieser ist der Tod für den Menschen nicht nur ein furchtbares Übel, sondern auch ein paradoxer, rätselhafter Abbruch des Lebens, der in gewisser Hinsicht alles sinnlos macht. Wird dieser Aspekt konsequent festgehalten, dann kommen wir zu einem Pessimismus wie dem des großen italienischen Dichters Leopardi, für den der Tod die Wahrheit ist und für den sich in ihm "l'infinita vanità deI tutto" (3) ("die unendliche Eitelkeit des Ganzen") erschließt. Dieser metaphysische Irrtum ist eine Folge davon, dass Leopardi die christliche Sicht des Todes nicht kennt. Doch enthält dieser Aspekt auch eine tiefe Wahrheit: die der Unzulänglichkeit des Diesseits.
Die Frage erhebt sich: Warum müssen wir sterben, warum muss unser Leben so grausam abgebrochen werden? Eine Mutter erzählte mir, dass sie ihr sechsjähriges Kind einmal in Tränen aufgelöst fand und auf die Frage: "Warum weinst du?" die Antwort erhielt: "Weil man einmal sterben muss!" Das Kind war sich natürlich nicht des Charakters des Todes als Strafe bewusst, den wir im Alten und Neuen Testament finden.
Andererseits wäre jedoch ein unbegrenztes Weiterleben in dieser unserer irdischen Existenzform auch etwas Unvorstellbares. Obgleich der Tod für unsere natürliche Einstellung ein grauenvolles Übel ist, das selbst von so vielen gefürchtet wird, die nichts mehr vom Leben haben, wäre doch auch die Vorstellung eines nicht endenden Lebens furchtbar. Mit Recht hob der verstorbene Kardinal Danielou 1951 in einem Vortrag an der Münchner Universität hervor, dass der Mensch, obgleich er mehr und mehr die Natur beherrscht, doch nie dem Käfig des Todes entrinnen kann. Aber wenn es ihm gelänge, das irdische Leben unbegrenzt zu verlängern, gleichsam den Tod abzuschaffen, wäre dies statt der beseligenden Ewigkeit eine Art von Hölle.
Das Phänomen des Todes erschließt sich uns in zweifacher Form: einmal im Tod eines tief geliebten Menschen, zum anderen im Gedanken an den eigenen Tod, dem wir in jedem Moment unentrinnbar näherrücken. Vieles ist beiden Fällen gemeinsam, wie das Erfassen der paradoxen Furchtbarkeit. Doch gibt es auch Elemente, die in beiden Formen stark variieren.
Der Tod tief geliebter Menschen
Wir beginnen mit der Betrachtung des Todes eines tief geliebten Menschen. Es sei gleich gesagt, warum wir beim Tod eines "Du", einer anderen Person, gerade vom Tod eines tief geliebten Menschen ausgehen. Man könnte einwenden, das Phänomen des Todes sei uns immer gegeben, wenn ein Mensch stirbt, den wir einigermaßen gekannt haben. Darauf antworten wir: Gewiss, doch bleibt es dann so distant, dass der Alltag mit seiner Eigengesetzlichkeit über die entscheidende Bedeutung für den Gestorbenen und die ihn tief Liebenden hinweggeht. Dieser Tod wird zwar von uns registriert, aber er berührt unsere Seele nicht direkt mit seinem furchtbaren Hauch. Er entfaltet seine geheimnisvolle Bedeutung nicht in unserem Leben; wir sind nicht persönlich mit ihm konfrontiert.
Gewiss kann uns die Realität des Todes mit seinem Grauen auch entgegentreten, wenn wir Zeugen eines Unglücks werden und ein Mensch in seinem Blut vor uns liegt oder wenn wir große Katastrophen miterleben. Allerdings erschüttert uns dann mehr das Grauen des Todes als vitales Phänomen und nicht das Mysterium der plötzlichen radikalen Trennung von einer menschlichen Person. Die Vielgestalt des Grauens entfaltet sich nicht voll vor unserem Geist. Doch im Tod des tief Geliebten und eigentlich nur in dem des letztlich und über alle anderen Menschen Geliebten begegnen wir diesem Phänomen in voller existentieller Weise.
Wir müssen von der ganzen beseligenden Fülle der Existenz eines über alles geliebten Menschen ausgehen, uns in das unerhörte Geschenk einer unser Herz zutiefst treffenden Persönlichkeit versenken, die uns liebt, unsere Liebe erwidert. Wir müssen an die ganze Realität denken, die diese Persönlichkeit besitzt - wie sie "da" ist, wie ihre Existenz in voller Wirklichkeit vor uns steht. Und nun stirbt dieser Mensch. Sein Auge bricht, er verstummt. Plötzlich ist der Kontakt mit ihm völlig unmöglich. Weder hört er unsere Stimme, noch können wir ihm in die Augen blicken und seine Stimme hören. Sein Körper ist kalt und regungslos. Dieselben Hände, die unseren Druck erwiderten, liegen leblos vor uns. Sein Körper wird der Erde übergeben. Eine furchtbare öde Leere umgibt uns. Der Widerspruch zwischen der Tragödie des Abschieds von ihm, der die Wonne unseres Herzens war, und dem öden Alltag, der weitergeht, als sei nichts geschehen, steht in seiner grauenvollen Realität vor uns: auf der einen Seite das Ende des irdischen Lebens einer kostbaren Persönlichkeit, die der Quell unseres tiefsten irdischen Glückes war, und das hohe Gut der Einheit unserer Herzen, auf der anderen Seite das Fortbestehen von im Vergleich dazu ganz wertlosen Dingen, wie dem leeren Bett, den Kleidern, die er getragen, bis zu dem Verkehr auf der Straße, dem Wetter, den alltäglichen praktischen Dingen. Welcher Widerspruch zur Hierarchie der Werte, welche Sinnlosigkeit! Was für ein entsetzliches Ereignis ist der Tod, durch den die Stelle, die der von uns geliebteste Mensch in der Welt ausfüllte, plötzlich leer wird! Wie furchtbar, wenn man sagen muss: "Er war" statt: "Er ist"!
Wie schön ist Gabriel Marcels Wort, dass wir zu dem Menschen, den wir letztlich lieben, sprechen: "Tu ne mourras pas! (4) Er bringt darin alles zum Ausdruck, was auf die Unsterblichkeit der Seele hinweist, auf die Unmöglichkeit, dass diese Person vergeht, wenn auch ihr Körper aufhört zu leben. Gewiss, es gibt sehr vieles, was auf die Unsterblichkeit der Seele hinweist und sie, sobald wir die Existenz Gottes erkannt haben, sogar beweist. Dieser Hinweis ist nirgends so stark wie in der letzten Liebe zu einem Menschen. Ja, unsere Liebe sagt: "Du wirst nicht sterben."
Aber dieses Bewusstsein hebt das Grauen des Todes nicht auf. Die Furchtbarkeit der Trennung bleibt, die öde Einsamkeit gähnt uns entgegen. Die Verbindung von Leib und Seele in dem geliebten Menschen war uns ja lebendig gegeben. Denn jeder Kontakt der Seelen schließt auch den Leib insofern mit ein, als wir, wenn wir ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und mit ihm sprechen, sein Gesicht sehen, seine Stimme hören. Wir erkennen seine Gegenwart im Anblick seiner Gestalt, sein Gesicht drückt Freude und Liebe aus, mit einem Wort: Er ist ein Gebilde, das aus Leib und Seele besteht. Obwohl die physiologischen Vorgänge, die sich in seinem Leib abspielen, ihrem Wesen nach von denen in seiner Seele völlig verschieden sind, können wir uns doch die vom Leib unabhängig existierende Seele nicht vorstellen. Zwar überzeugen uns auf der einen Seite die vielen eindeutigen Hinweise auf die Unsterblichkeit der Seele von der Fortexistenz dieser Person, doch bleibt der brutale Vorgang der Auflösung des Körpers und der abgrundtiefe Unterschied zwischen der Leiche und dem lebendigen Körper dieses Menschen. Schon auf der natürlichen Ebene sind wir überzeugt, dass die Seele des Geliebten nicht aufhört zu existieren. "Aber wo ist er?" fragen wir. Vorher stand er sichtbar vor mir, ich sah sein geliebtes Gesicht, seine geliebte Gestalt, ich sprach mit ihm, er antwortete auf meine Fragen, auf die Worte meiner Liebe, er überraschte mich durch das, was er mir sagte, und es übertraf alles, was ich an Liebe erwarten konnte. Nun ist alles still, ich erreiche ihn nicht mehr, eine furchtbare Leere umgibt mich. Alles andere, was mir begegnet, bedrückt mich durch den Kontrast zwischen dieser sichtbaren irdischen Realität und der rätselhaften Abwesenheit des Geliebten. Das menschlich unvergleichlich Wichtigste ist mir entzogen. Das "taedium vitae", der Ekel vor dem Rhythmus des unerbittlich weitergehenden täglichen Lebens, erfasst mich.
Was sind alle sonstigen Leiden im Vergleich zum Tod des geliebtesten Menschen! Gewiss, es gibt eine ungeheure Zahl und Skala der Leiden in diesem Tal der Tränen, von eigenen schweren körperlichen Schmerzen, vom Verlust des Augenlichtes bis zu dem Eingesperrtsein in einem kommunistischen Konzentrationslager und den damit verbundenen furchtbaren Quälereien. Aber der Verlust des geliebtesten Menschen geht in eine andere Richtung, weil es sich nicht um rein körperliche Leiden, nicht um den Entzug der selbstverständlichen Güter des Lebens, sondern um den Verlust eines unerhört beglückenden, rein positiven Gutes, der tiefsten natürlichen Glücksquelle handelt. Damit rühren wir an das unheimliche Schicksal aller Menschen: den Tod, der als Damoklesschwert über dem ganzen menschlichen Leben schwebt. Jeder Mensch lebt im Schatten des Todes, in "umbra mortis". Im Vergleich zum Tod des geliebtesten Menschen sind alle anderen Leiden akzidentell. Der Tod bedroht alle, niemand ist davon ausgenommen. Wir wissen, dass der geliebteste Mensch jeden Tag seinem Tod näher kommt, und obendrein, dass dieser ihn vielleicht schon am nächsten Tag hinwegraffen kann.
Wer niemals in seinem Leben letztlich geliebt, wer niemals sein Herz einem anderen Menschen ganz geschenkt hat und von diesem ebenso wiedergeliebt wurde, der weiß auch nichts von dem abgründigen Grauen des Todes, das sich vor uns im Tod des geliebtesten Menschen auftut. Sein Körper, den wir in unserer Liebe mit umfangen - auch in der nichtbräutlichen, in der die "intentio unionis" (die Vereinigungsintention) nicht auf die körperliche Einheit abzielt -, ist nun ein lebloses Gebilde. Was vorher vom Adel der Persönlichkeit erfüllt war, ist jetzt einer entsetzlichen Zersetzung und Verwesung preisgegeben. Die Seele des Geliebten ist in unerreichbare Ferne entschwunden, radikal von uns abgeschnitten. Trotz der Überzeugung, dass die Seele fortbestehen muss, bleibt das unfassbare, rätselhafte Grauen vor dem Tod im natürlichen Aspekt bestehen.
In einzigartiger Weise spricht der heilige Augustinus in seinen Confessiones von der Nacht des Leidens, in die er durch den Tod seines Freundes getaucht wurde: "Da wurde mein Herz von Leid verfinstert, und Tod atmete mir alles, was ich erblickte. Die Heimat wurde mir zur Marter, das Vaterhaus zu unsagbarer Pein; was immer ich mit dem Freunde geteilt hatte, verwandelte sich ohne ihn in heftige Qual. Überall suchten ihn meine Augen, aber sie fanden ihn nicht. Ich hasste alle Dinge, weil sie ihn mir nicht zurückgeben und mir nicht sagen konnten: Siehe, er kommt wieder, wie früher, wenn er abwesend war und zurückkehren sollte. Ich selbst wurde mir zu einem großen Rätsel, und ich fragte meine Seele, warum sie traurig sei und mich so sehr betrübe, aber sie wusste keine Antwort zu geben" (5).
Die Auffassung des Todes als beglückende Befreiung vom Kerker des Leibes, die Sokrates in Platons Phaidon (6) vertritt, ist nur möglich hinsichtlich des eigenen Todes, aber nicht beim Tod des geliebtesten Menschen. Die Liebe, die bei diesem das Grauen des Todes und die Furchtbarkeit der Trennung unerbittlich vor Augen führt, tritt beim eigenen Tod ganz zurück. Vor allem aber fällt das Erlebnis der rätselhaften Leere, des Kontrastes zwischen dem Weitergehen neutraler Dinge und dem Erlöschen des beglückenden Lichtes, das uns vorher leuchtete, weg - wir wissen nur darum, wenn wir an den eigenen Tod denken, und zwar "ante mortem" (vor dem Tod), während das Erfahren beim Tod des Geliebten "post mortem" (nach seinem Tod) über uns hereinbricht.
Es ist unverständlich, wie jemand, der tief liebt, einen einzigen Tag glücklich sein kann, wenn er nur den natürlichen Aspekt des Todes kennt, wenn diesem furchtbaren Aspekt nur die rationale Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele gegenübersteht. Einzig der Glaube an Gott, an Christus und an die christliche Offenbarung kann dieser natürlichen Schau siegreich entgegenwirken, wie es die Totenpräfation ausdrückt: "Ut, quos contristat certa moriendi condicio, eosdem consoletur futurae immortalitatis promissio." ("Wohl drückt das unabänderliche Todeslos uns nieder, allein die Verheißung künftiger Unsterblichkeit richtet uns empor").
Selbst dieser Glaube ist zwar eine "consolatio" (ein Trost), aber kein Aufheben der Furchtbarkeit des Todes. Gewiss, dem Tod ist der Stachel genommen, doch ist er damit nicht des Charakters der Strafe entkleidet. Er bleibt beim Verlust des geliebtesten Menschen und in weniger dramatischer Weise bei dem aller geliebten Menschen ein großes Übel für uns.
Wie recht hat Novalis (7), der in einem Gedicht von Christus sagt:
"Was wär ich ohne dich gewesen?
Was würd ich ohne dich nicht sein?
Zu Furcht und Ängsten auserlesen,
Ständ ich in weiter Welt allein.
Nichts wüsst ich sicher, was ich liebte,
Die Zukunft wär ein dunkler Schlund;
Und wenn mein Herz sich tief betrübte,
Wem tät ich meine Sorge kund?"
Wir werden auf den Aspekt des Todes des geliebtesten Menschen zurückkommen, wenn wir vom übernatürlichen Aspekt des Todes sprechen, den die Worte ausdrücken: "Ecce, sponsus venit, exite obviam ei", ("Seht, der Bräutigam kommt; geht heraus, ihm entgegen!" Mt 25,6).
Der eigene Tod
Wir wissen zwar alle, dass wir einmal sterben müssen, aber für wenige ist dies ein täglich waches Bewusstsein. Die meisten Menschen sind nicht todesbewusst, solange sie nicht krank oder von Angst erfüllt sind, weil gewisse Symptome auf eine tödliche Krankheit hinweisen könnten. Natürlich werden sie todesbewusst, wenn sie sich in einer großen Lebensgefahr befinden, sei es im Krieg als Soldaten oder bei Luftangriffen, sei es in einem brennenden Haus, auf einem sinkenden Schiff oder bei irgendeinem Unglücksfall. Aber dieses Bewusstsein ist mehr das einer Todesgefahr. Das vorherrschende Erlebnis ist die instinktive Todesangst und das instinktive angespannteste Bemühen, sich zu retten, das oft einen geradezu animalischen Charakter annimmt. Es ist kein voll bewusstes Erfassen des Phänomens des Todes, keine kontemplative Konfrontation mit ihm.
Natürlich gibt es Menschen, deren Leben vom Bewusstsein, dass sie einmal sterben müssen, durchsetzt ist. Zudem blicken viele Menschen in Momenten großer Lebensgefahr, besonders wenn sie ihr aus eigenen Kräften nicht entrinnen können, in tiefer Sammlung dem Tod entgegen und schauen ihm voll ins Auge.
Da wir jetzt vom authentischen natürlichen Aspekt des Todes handeln, interessiert uns vor allem seine Bedeutung im Leben dessen, der wahrhaft todesbewusst ist. Wieder müssen wir das Bewusstsein, dass wir mit jedem Tag unerbittlich dem Tod entgegengehen, vom Aspekt des Todes in Momenten größter Lebensgefahr unterscheiden. Die generelle Todesbewusstheit, die mit der Erkenntnis unserer metaphysischen Situation Hand in Hand geht, schließt sowohl das Bewusstsein ein, dass wir einmal sterben müssen und normalerweise in einem gewissen Alter sterben werden, wie das Bewusstsein, dass uns jeden Moment der Tod hinwegraffen kann, also das "media in vita mortis sumus". ("Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen") (8).In dem "sedere in umbra mortis" ("Sitzen im Schatten des Todes" Lk 1, 79) steht das ganze Grauen des Todes vor uns. Er ist das Ende von allem uns Vertrauten und Bekannten, von jedem Besitz der großen Güter des Lebens. All das Schöne, das wir sehen und hören, werden wir nicht mehr sehen und hören. Vor allem bricht jeder Kontakt mit geliebten Menschen ab; absolute Einsamkeit tritt ein, ja das Ende der schönen, freundlichen Gewohnheit des Lebens, wie Goethe im Egmont (9) sagt. Der Tod steht als ein Versinken in das Nichts vor uns. Die Hände, mit denen wir greifen und so vieles tun können, werden leblos; alle Wärme schwindet; unser Leib, in dem wir uns so "zuhause" fühlen, wird steif, leblos, kalt - nein, er wird verwesen, sich stinkend zersetzen!
Gewiss, dem stehen all jene Aspekte gegenüber, die unsere Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele stützen. Alle wahren Werte enthalten das Versprechen eines "Jenseits", einer Erfüllung. Wir erfahren die Zuordnung auf die Ewigkeit in jedem tiefen, zentralen Erlebnis. Das bereits zitierte schöne Wort von Gabriel Marcel, das wir zu dem Geliebten sprechen: "Tu ne mourras pas", gilt analog auch für unsere eigene Person. In unserer Liebe leuchtet ein Hinweis auf die Ewigkeit auf. Wir erleben etwas, was in seinem tiefsten Sinn über das Sterben hinaus auf eine unbegrenzte Fortdauer weist. Wenn der Tod ein Versinken ins Nichts wäre, ein Aufhören der Existenz der Seele, dann wäre die Welt eine einzige furchtbare Sinnlosigkeit, dann wäre das tiefe Versprechen, das in den Werten enthalten ist, eine Lüge (10). Diese Sinnlosigkeit und die Täuschung, die alle Güter von hohem Wert erwecken würden, sind unverträglich mit der Existenz eines allgütigen Gottes, die wir schon auf natürlicher Ebene mit absoluter Sicherheit erkennen können (11).
Dennoch bleibt der Tod auf natürlicher Ebene ein grauenvolles dunkles Tor. Die Unvorstellbarkeit des Wie und Wo der fortlebenden Seele, das totale, radikale Wegfallen der ganzen uns bekannten irdischen Wirklichkeit, das absolute Dunkel in allem, was die fortlebende Seele betrifft, verhindern, dass die natürliche Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele dem Tod sein Grauen nimmt. Denn alles, was wir vom Tod anderer Menschen sehen, ist und bleibt furchtbar.
Sokrates' heitere Todeserwartung im Gegensatz zur irrigen Vorstellung vom Versinken ins Nichts
Wie war es möglich, dass Sokrates - nach der Darstellung Platons im Phaidon und vor allem in der ApologieI (12) - dem Tod mit solcher Ruhe und "serenitas animae" (Heiterkeit der Seele) entgegenging? Gewann bei ihm die Überzeugung vom Fortleben der Seele eine solche Kraft, dass der furchtbare Aspekt des Todes ganz zurücktrat? Ja, ihm stellte sich der Tod als Beginn eines höheren, glücklicheren Lebens dar, weil dieser die Seele aus dem Kerker des Körpers befreit.
Das Argument, der Tod sei nicht zu fürchten, weil wir nicht mehr leiden würden, wenn wir ins Nichts versinken, ist ein trügerisches, ein Schein-Argument. Es geht davon aus, dass nur ein bewusst erlebtes Leiden ein Übel sei. In Wahrheit ist die Existenz als personales Sein ein so unerhörtes, fundamentales, selbstverständliches Gut, dass wir uns seines Wertes gewöhnlich nicht voll bewusst werden. Es ist ausserdem die Grundlage für alles andere: für alles Glück, für alles Leiden, für die Seligkeit. Der Verlust dieses fundamentalen Gutes, das Versinken ins Nichts, wäre ein furchtbares Übel, ein entsetzlicher Verlust, der durch die Tatsache, dass wir nicht mehr darunter leiden würden, wenn wir aufhörten zu existieren, nicht weniger furchtbar wird (13).
Mit dem Aspekt des Todes als Vergehen unseres personalen Seins, des Seins dieser unserer individuellen Person, geht auch ein Zusammenbruch des Sinnes und Wertes der Welt Hand in Hand. Wäre unser personales Sein, das so eindeutig einer höheren Erfüllung im Jenseits zugeordnet ist, zu einem Vergehen in nichts bestimmt, so wäre unser Leben eine Illusion. Wäre das Versprechen aller hohen Güter trügerisch, so wäre die Welt ein Hort von Sinnlosigkeit. Vor allem schließt die Existenz eines personalen, unendlich gütigen Gottes die Möglichkeit eines solchen Schicksals aus. Wenn wir annehmen, der Tod des Menschen sei das Ende seiner Existenz als Person, so geraten wir in Widerspruch mit der Überzeugung von der Existenz eines personalen Gottes und werden gleichsam Atheisten. Dann brauchen wir wahrhaft nicht mehr über das Grauen sprechen, das dieser sinnberaubte, trügerische Aspekt der Welt hervorruft.
Wir sehen jetzt klar, dass das Argument: "Wenn ich im Tod aufhöre zu sein, dann kann er kein Übel darstellen und ich brauche ihn nicht zu fürchten", nur ein Spiel mit Worten ist, ein typischer Fall eines auf den ersten Blick scheinbar einleuchtenden Schlusses, der aber in Wahrheit ein Trugschluss ist.
Die häufig anzutreffende Auffassung vom Tod als Ende der Existenz einer individuellen Person und vom Fortleben als Teil eines Allgemeinbewusstseins kommt in Wirklichkeit dem Versinken der individuellen Person ins Nichts gleich. Personsein und Individuumsein sind so unzertrennlich, dass ein Allgemeinbewusstsein eine "contradictio in adjecto" (einen Widerspruch im Beiwort) darstellt.
Auch die Auffassung vom Tod in jeder Form des Pantheismus läuft auf ein radikales Vergehen der individuellen Person hinaus. Denn das Aufhören der bewussten Existenz der Person als dieses Individuums ist notwendig ein Versinken der Person ins Nichts (14).
Das Dasein als Person ist ein unerhörtes Gut und die Voraussetzung für alles Glück. Es zu verlieren ist der größte Verlust, selbst wenn wir nicht imstande sind, darunter zu leiden, weil wir eben nicht mehr als bewusste Wesen, als Personen existieren. Es ist falsch zu glauben, nur das Leiden sei ein Übel. Der objektive Verlust des Seins ist ein furchtbares Übel. Wenn der Tod in Wahrheit dieser Verlust wäre, gäben wir die einzig richtige Antwort, uns vor ihm zu fürchten.
Man merkt deutlich, dass für Sokrates dieses Argument der Tod könne kein Übel für uns darstellen, wenn er ein Versinken der Seele ins Nichts wäre, weil wir dann nicht mehr leiden können - einen mehr rhetorischen Charakter hat. Er ist fest vom Fortleben der individuellen Seele überzeugt. Der ganze Tenor seiner herrlichen Rede (15) legt davon Zeugnis ab.
Die Haltung des Sokrates, der im Tod eine Befreiung sieht, ist um so überraschender, wenn man bedenkt, wie stark die Furchtbarkeit des Todes im Bewusstsein der Griechen lebendig war: Besser ein Bettler auf Erden als ein König in der Unterwelt. Chesterton weist am Ende seines Buches Orthodoxie (16) mit Recht darauf hin, dass die Heiterkeit und Freudigkeit von Hellas, die sich auf das irdische Leben beziehen, einer wachsenden bangen Angst Platz machen, wenn es um das ewige Schicksal des Menschen geht - ganz im Gegensatz zur christlichen Weltanschauung.
Den größten Gegensatz zur Haltung des Sokrates, der den Tod als ein Positivwertiges ansieht, finden wir in Dostojewskis (17) Schilderung seines Erlebnisses, als er mit vielen anderen zum Tod verurteilt wurde. Er beschreibt die schrecklichen Stunden, bis das Todesurteil in die Strafe der Verbannung nach Sibirien umgewandelt wurde. Der Tod steht in seiner ganzen Furchtbarkeit vor ihm, und er findet ergreifende Worte für dieses Geheimnis, das mit einem Schlag sein jugendliches Leben zu zerstören drohte.
Die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele hebt das Grauen vor dem Tod nicht auf
Aber ist das Grauen vor dem Tod nicht aufgehoben, da wir mit absoluter Gewissheit einsehen können, dass ein personaler, unendlich gütiger Gott existiert und dass darum all die "Versprechen" der auf ein Jenseits hinweisenden Güter keine Lüge sein können und der Tod nicht das Ende unseres personalen Seins sein kann? Wie stehen die zwei Aspekte existentiell zueinander: auf der einen Seite der Tod wie ein furchtbares Ende von allem und auf der anderen Seite die in unserer Gotteserkenntnis sowie in den mannigfaltigen Hinweisen auf ein Jenseits gegründete Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele?
Rational müsste diese unsere Überzeugung den grauenvollen Aspekt des Todes weitgehend modifizieren. Stehen sich ein bloßer Eindruck und eine in absolut gewisser Erkenntnis fundierte Überzeugung gegenüber, so müsste doch diese den Ausschlag geben. Es stehen sich nicht nur eine abstrakte Einsicht und ein anschaulich gegebener Eindruck gegenüber, sondern auch das existentielle Erleben des Hinweises auf ein Jenseits, das das Leben in allen tiefen und großen Augenblicken durchzieht. Um so mehr müsste die Gewissheit der Unsterblichkeit dem Tod sein Grauen nehmen.
Aber dem ist nicht so, weil der Hinweis auf ein Jenseits sich auf etwas gänzlich Unbekanntes, Unvorstellbares richtet, während der Aspekt des Todes als des Lebensendes sehr bestimmt und anschaulich ist. Wir erleben die plötzliche Abwesenheit eines geliebten Menschen, eine unbegreifliche Trennung von ihm, eine entsetzliche Leere. Ein lebloser Körper liegt vor uns, der in Kürze verwest. Obwohl wir wissen, dass die Seele fortlebt, ist sie in undurchdringliches Dunkel entrückt. Wir können sie nicht erreichen, und sie kann uns nicht erreichen. Wir wissen nichts von dem Wie und Wo ihrer Existenzform, alles ist rätselhaft, unvorstellbar.
Die ganze intime Verbindung von Leib und Seele, die einerseits so eindeutig verschieden sind, andererseits eine einzigartige "Ehe" in unserer irdischen Existenz eingehen, erschließt sich uns im Phänomen des Todes.
Solange der Mensch lebt, bedeutet die Bewusstlosigkeit keinerlei Erlöschen der Seele. Im Schock infolge einer Kreislaufstörung, in der Narkose während einer Operation, ja so gar in einem monatelangen Koma fehlt zwar das Bewusstsein, doch bleibt die Seele mit dem Leib verbunden. Sobald der Mensch aus einer solchen Bewusstlosigkeit aufwacht wird er wieder ein bewusstes Wesen - nach einem Komi vielleicht in langsamen Etappen. Trotz dieser Unterbrechung seines Bewusstseins hat er, sobald er zu sich gekommen ist, sein volles Identitätsbewusstsein, das für die Person von elementarer Bedeutung ist.
Vergleichen wir diese Bewusstlosigkeit eines lebendigen Menschen, bei der gleichsam seine Seele für uns unerreichbar ist und wir für ihn, mit der Abwesenheit der Seele nach seinem Tod, dann steht uns wieder die große Rätselhaftigkeit des Todes vor Augen. Erleben wir selbst eine solche Bewusstlosigkeit, ein völliges Schweigen der Bewusstheit, die eine spezifische Existenzform des Personalen ist, so könne wir uns noch schwerer die Form des Fortbestehens der Seele vorstellen. Wie existiert unsere Seele in dieser völligen Bewusstlosigkeit? Der mit ihr verbundene, noch lebende individuelle Leib bildet eine Unterlage für das Fortbestehen der Identität der Person, gleichsam die Brücke für die Identität. Das Identitätsbewusstsein ist ein rein Personales, bewusst Vollzogenes. Sobald die Bewusstlosigkeit aufhört, erfassen wir auch in unserem Bewusstsein die rein personale Identität.
Da wir vom Fortleben der Seele schon auf natürlicher Ebene überzeugt sind, müssen wir annehmen, dass dieses vom Leib her bedingte Schwinden des Bewusstseins bei der endgültigen Trennung von Leib und Seele im Tod nicht geschieht. Trotz der positiven Rolle, die der Leib in der Kontinuität des personalen Lebens spielt, solange beide verbunden sind, und obwohl er andererseits eine Bewusstlosigkeit hervorrufen kann, nehmen wir an, dass die Seele bei der endgültigen Trennung vom Leib nicht in die Nacht des Unbewussten versinkt.
Unser Verhältnis zum objektiven Gut des Leibes (Solidarität, Hängen an ihm, Abhängigkeit)
Man hat in der scholastischen Philosophie viel von der Liebe zu unserem Leib gesprochen. Der heilige Thomas (18) geht so weit, die Forderung, der Mann solle seine Frau mehr als alle anderen Menschen lieben, damit zu begründen, dass die Frau durch den ehelichen Akt ein Teil seines Leibes geworden sei, gemäß dem Wort des Herrn: "Sie werden zwei in einem Fleisch sein" (Mt 19, 5 f).
Wie wir in unserem Buch "Das Wesen der Liebe" zeigten (19), ist die Solidarität, die jeder mit sich selbst hat, keine Frucht der Liebe, sondern ein in der Natur des Menschen Begründetes, etwas Unvermeidliches und nicht in die sittliche Sphäre Gehörendes. Dasselbe gilt auch für unseren Leib. Dass wir den Schmerz in unserm Fuß fühlen und er uns sehr unangenehm ist, ist keine Frucht der Liebe. Wie steht es aber mit der bewussten Stellungnahme zu unserem Leib? Geht sie nicht über diese Solidarität hinaus?
Es ist ein einzigartiges Verhältnis, das wir zu unseren Körper haben. Gabriel Marcel behauptet sogar, dass wir unseren Körper nicht haben, nicht besitzen, sondern dass er zu unserem Sein gehört (20). Dies geht sicher zu weit, denn wir sind nicht der Körper - wie wir unsere Seele, unser Ich sind. Das Verhältnis von Leib und Seele hat Josef Seifert in seinem gleichnamigen Buch viel tiefer erfasst. Aber uns kommt es hier auf das "Hängen" an unserem Leib an, das über diese eben erwähnte selbstverständliche Solidarität hinausgeht und doch keine Liebe im echten Sinn des Wortes ist.
Wir meinen die Kostbarkeit unserer eigenen Hand, unseres Beines, unseres ganzen Leibes, die besonders hervortritt wenn wir eine Hand verlieren oder ein Bein amputiert werden muss. Auch ein so großer Asket wie der heilige Franziskus, der seinen "Bruder Esel" (wie er seinen Leib nannte) geißelte, "hing" an seinem Leib. In diesem Zusammenhang müssen wir auch den natürlichen Aspekt des Todes und das Grauen sehen, das die völlige Trennung vom Leib, sein radikaler Verlust hervorruft. Dieses Hängen am eigenen Leib, dem Höhepunkt eines "Mein", nimmt noch eine besondere Form an, wenn es sich um unsere Sinne, vor allem das Sehen und Hören, handelt. Was für eine Bedeutung hat das Sehvermögen für uns! Welch einzigartigen Kontakt mit der Umwelt verdanken wir unseren Augen, vor allem den mit anderen Personen und mit einer unerschöpflichen Welt der Schönheit! Und das Gehör! Welche Geschenke Gottes sind die Sinne, ja der ganze Leib! Erfassen wir dies, so tritt die Tatsache klar hervor, dass der Leib, seine einzelnen Teile und in besonderer Weise die Sinne ein objektives Gut für uns darstellen. In unserem Verhältnis zu unserem Leib ist darum auch die Antwort auf dieses objektive Gut und seinen Wert sehr wichtig. Sie geht über die selbstverständliche Solidarität hinaus als eine überaktuelle, sinnvolle Stellungnahme, die gewisse Analogien zur Liebe besitzt.
In unserer Beziehung zu einem anderen Menschen spielt sein Leib ebenfalls eine ganz große, aber von unserem Verhältnis zum eigenen Leib radikal verschiedene Rolle. Wohl ist uns wie die eigene so auch die andere Person in ihrer geistig seelischen Eigenart als etwas vom Leib ganz Verschiedenes gegeben. Aber der Leib der fremden Person gehört doch so zu ihr, dass er in mannigfaltigster Hinsicht für unseren Kontakt mit ihr entscheidend ist. Was bedeutet uns die Gegenwart des anderen Menschen, das Hören seiner Stimme, das Sehen seiner Gestalt und seines Gesichtes mit dem Ausdruck seiner Seele in beiden!
Lieben wir Menschen in besonderer Weise, so lieben wir auch ihren Körper, vor allem ihr Gesicht. Die Kostbarkeit der Persönlichkeit des Freundes macht auch seinen Leib zu einem kostbaren Gebilde. Bei der bräutlichen Liebe erreicht der Körper des Geliebten eine ganz neue Bedeutung. Seinen Körper lieben wir im vollen Sinn echter Liebe. Hier leuchtet das Geheimnis auf, dass in diesem "Gefäß" die über alles geliebte Person gleichsam "wohnt".
In unserem Zusammenhang ist es nicht möglich, auf die Bedeutung der verschiedenen Teile des Körpers einzugehen, wie z. B. der Augen, des Mundes oder des unbekleideten Körpers und des ganzen Reiches des Intimum. Uns kommt es vor allem darauf an, erstens die Rolle des eigenen Körpers von der des fremden Körpers scharf abzugrenzen; zweitens zu zeigen, wie unterschiedlich sich die Trennung der Seele vom eigenen Leib und dieselbe Trennung bei anderen Menschen, je nach dem Maß und der Art unseres Verhältnisses zu ihnen, für uns auswirkt.
Jetzt aber handeln wir von der Stellung zum eigenen Tod. In ihm bedeutet die Trennung vom Leib ein großes Übel. Doch müssen wir auch dem gerecht werden, was Platon so wunderbar hervorhob: dass der Körper auch ein Kerker der Seele ist. Denn im Verhältnis zu unserem Körper spielt ein großes Mysterium herein: Obgleich die Seele, das personale bewusste Sein, all die Fülle sinnvoller Akte - vom Erkennen bis zum freien Willen - einer ontologisch unvergleichlich höheren Sphäre angehören, ist doch dieses ganze personale Leben in dem Sinn vom Körper abhängig, dass die normale Funktion des Gehirnes zwar in keiner Weise die Ursache, aber eine unerlässliche Voraussetzung ist. Wir sind von unserem Körper weitgehend abhängig; körperliche Schmerzen und Übelkeit beschweren uns derart, dass wir den Körper dabei nicht als objektives Gut für uns erleben, sondern als ein Übel. Ja schon Müdigkeit und Erschöpfung hemmen die volle Entfaltung unseres personalen Lebens. Dieser ganz andere Aspekt des Leibes macht den Ausdruck "Kerker der Seele" für den Körper verständlich.
Um das grauenvolle, angsterregende Antlitz des Todes zu erfassen, müssen wir uns klarmachen, dass er uns von allem, was wir kennen, von der ganzen uns umgebenden Welt abschneidet. Nach dem Tod sind wir nicht mehr in diesem uns umgebenden Universum. Gewiss, unsere natürliche Unkenntnis des Schicksals unserer Seele geht so weit, dass uns verborgen ist, welches Wissen um die uns bekannte Umwelt in der Seele des Verstorbenen lebt.
Der metaphysische Aspekt des Todes (Schwäche und Überlegenheit menschlicher Existenz; radikaler Bruch mit der realen Umwelt)
Aber mit dieser Feststellung setzen wir das Fortleben der Seele voraus und kommen damit zu dem zweiten natürlichen Aspekt - wir könnten sagen: dem metaphysischen Aspekt des Todes. Solange wir uns an den ersten natürlichen Aspekt, den naiven, existentiellen, halten, präsentiert sich der Tod als die Trennung von der ganzen uns umgebenden Umwelt. Es kommt uns darauf an, einen Augenblick die ganze Fülle der uns bekannten Umwelt, in der wir leben, aufleuchten zu lassen, um die Tragweite der Trennung von dieser Fülle im Tod hervortreten zu lassen, die zu dem jammervollen Schicksal des Körpers hinzukommt.
Dem Menschen in "statu viae" (auf seiner irdischen Pilgerschaft) ist etwas Großartiges vergönnt: der Ausblick auf das Universum, der nur dem Menschen als personalem Wesen gegeben ist. Nur er vermag die Natur, die ihn umgibt, verstehend wahrzunehmen; nur er vermag das Wahrgenommene kennend festzuhalten; nur er vermag zu denken, zu sprechen; nur er kann mit anderen Menschen in Gemeinschaft treten. Er kann sie wahrnehmen, als geistige Personen erkennen, zu ihnen sprechen, sie fragen und ihre Antwort verstehen. Er kann sie bitten, sich sinnvoll an sie wenden, sie tief kennenlernen, sie lieben - er kann zu einem Ineinanderblick der Liebe gelangen, zu einer tiefen, beglückenden Einheit. Denken wir an die herrliche Stelle in der Antigone von Sophokles über den Menschen (21).
Gewiss, das höchste von all dem ist, "capax Dei" (aufnahmefähig für Gott) zu sein. Dazu kommt, dass der Mensch einen freien Willen besitzt und Träger sittlicher Werte sein kann. Beim natürlichen, naiven Aspekt des Todes kommt es uns vor allem darauf an, die Größe des Menschen ins Auge zu fassen, die er im Kontakt mit dem Universum besitzt: das Wissen um etwas quantitativ unvergleichlich Größeres, verbunden mit dem Ahnen, wie viel es gibt, was er nicht kennt und weiß. Der Geist eines einzigen Menschen auf der einen Seite und das unerhört reiche und differenzierte Universum auf der anderen Seite - und der Tod als ein Versinken dieses Universums vor unserem Blick! Pascal betont die Schwäche des Menschen - ein Wassertropfen kann ihn töten und zugleich seine Überlegenheit als personales Wesen, weil er weiß, dass er stirbt, während das Universum nicht weiß, dass es ihn tötet (22). Damit deutet er in einzigartiger Weise auf die Zwiespältigkeit der metaphysischen Situation des Menschen hin: einerseits die Anfälligkeit seines Lebens, andererseits die ungeheure Überlegenheit als Person. Wir wollen auf etwas Analoges hinweisen: die Spannweite der Umwelt des Menschen, die er wahrnimmt, erfasst, von der er weiß, mit der er, soweit es sich um andere Personen handelt, in vielfache gegenseitige tiefe Verbindung treten kann - und der Abbruch dieses Kontaktes mit der gesamten Umwelt im Tod. So groß des Menschen Los auf dieser Erde ist, so grauenvoll scheint das Versinken all dessen, was sein Los groß macht, im Tod.
Der doppelte Aspekt findet sich in anderer Weise, wenn wir bedenken, wie herrlich das Angebot ist, das dem Menschen im Leben gemacht wird, und wie die Erde zugleich eine "vallis lacrimarum" (ein Tal der Tränen) ist. In der Umwelt begegnen wir noch einem Gegensatz anderer Art. Im Universum gibt es viele Dinge, die unser Herz erheben und tief beglücken, ja eine Botschaft: ein Versprechen der Ewigkeit, in sich enthalten. Andere sind so gewaltig, dass sie uns eher angstvoll bedrücken. Daran denkt Pascal, wenn er sagt, der Gedanke an den Weltenraum, an all die Systeme von Gestirnen, habe etwas Beängstigendes für ihn (23).
Diese Zwiespältigkeit ist von der der Vergänglichkeit einerseits und allem auf eine Ewigkeit schon auf natürlicher Ebene Hinweisenden andrerseits ganz verschieden. Die Vergänglichkeit tritt uns im Reich des Lebendigen in der Unbeständigkeit des Menschen entgegen und auch im Rhythmus der Zeit, in der Tatsache, dass das schönste, seligste Gegenwärtige unerbittlich in die Vergangenheit übergeht. Beim Gedanken an die Unermesslichkeit des Raumes, an die Unzahl der Sterne begegnet uns dagegen der brutale Kontrast des Materiellen, der leblosen Materie in ihrer quasi unendlichen Ausdehnung zu allem Personalen, zu allem Geistigen. Das Bedrückende dieses einen Aspektes des Universums rührt von der quantitativen erschreckenden Größe und dem Schweigen jener Dinge her, die vom geistigen Standpunkt aus relativ gehaltlos sind und sich dem Menschen als gigantisch überlegen präsentieren. "Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern" (24).
Das Beglückende des anderen Aspektes, den alle hohen Güter des Lebens - sittliche Werte anderer Personen, Schönheit in Natur und Kunst, metaphysische Wahrheiten, Lieben und Geliebtwerden - ausstrahlen, hat nicht nur nichts von der Bedrücktheit des materiellen Universums, sondern erhebt unsere Seele in Hoffnung. Diese Güter wenden sich nicht nur an uns, sie sprechen nicht nur von der Überlegenheit des Geistigen und Personalen über die quantitative Unermesslichkeit der materiellen Welt, sie enthalten, wie schon öfter erwähnt, geradezu ein Versprechen, dass es eine Ewigkeit für den Menschen gibt, eine Erfüllung dessen, was im Diesseits so bedeutungsvoll und beglückend zu uns spricht. Sie enthalten ein Versprechen, dass das an Wert so Überlegene auch ontologisch, auch in seiner Existenz über das quantitativ Überlegene triumphieren wird. Diesen zwei Aspekten der Welt entsprechen auch zwei Aspekte des Todes auf natürlicher Ebene: das grauenerregende Versinken ins Nichts und der auf der natürlichen Unsterblichkeitsüberzeugung aufgebaute Übergang zu einer höheren Form der Existenz der Person.
Uns kommt es aber darauf an, das Übel des Todes als Abbruch der so vielgestaltigen Verbindung mit der unerschöpflichen Realität des Diesseits hervorzuheben. Wie sich dieser Abbruch auswirkt, wissen wir nicht. Einerseits zeigt sich uns der Tod als ein radikaler Bruch mit der ganzen realen Umwelt, andererseits weisen viele Güter auf ein Fortleben der Seele hin. Aber auch in diesem lichtvollen Aspekt bleiben uns das Land, in das wir versetzt werden, und unsere dortige Existenzform völlig unbekannt, unser Verhältnis zum Diesseits nach dem Tod völlig undurchsichtig und unvorstellbar. Das "Versprechen" der hohen Güter weist nur auf die Fortdauer der Existenz der Seele und auf den Wert dieser Existenz hin.
Verschiedene Motive für die Sehnsucht nach dem Tod
Wir sprachen bisher immer vom Grauen des Todes, solange wir auf der natürlichen Ebene verbleiben: von dem alle bedrohenden unentrinnbaren Übel des Todes. Gibt es aber nicht auch bei vielen Menschen eine Sehnsucht nach dem Tod? Gab es nicht immer schon Selbstmorde und nehmen sie heute nicht in erschreckendem Maß zu? Das kann nicht geleugnet werden. Wir werden dies verstehen, wenn wir verschiedene Motive betrachten, die dieser Sehnsucht und auch dem Selbstmord zugrunde liegen können.
Dem Tod können wir nicht gerecht werden, ohne hervorzuheben, dass wir in Gottes Hand stehen, dass Er allein zu bestimmen hat, wann wir sterben, dass wir im Tod in einzigartiger Weise von Gott berührt werden, dass der Tod nicht, wie so vieles andere, unsere freie Kooperation einschließt bzw. von ihr abhängt. Wir erleiden den Tod. Gott allein ist der Herr über Leben und Tod. Diese Tatsache gehört unerlässlich zu jener, dass der Tod über uns steht als ein auf rein natürlicher Ebene Endgültiges, das, wenn einmal geschehen, nicht rückgängig gemacht werden kann.
Aber liegt es denn nicht in unserer Macht, jemandem das Leben zu nehmen? Kann unsere Freiheit nicht eingreifen und den Tod verursachen? Gewiss! Aber das besagt nichts dagegen, dass Gott an sich allein das Recht hat, über den Tod eines Menschen zu verfügen, und dass ein furchtbares Unrecht, eine sehr schwere Sünde geschieht, wenn wir einem anderen Menschen oder auch uns selbst das Leben auf Grund unserer freien Entscheidung nehmen, Mord und Selbstmord sind zwar möglich, unserer Freiheit zugänglich, doch nur in der gleichen Weise wie jede andere Sünde. Diese Möglichkeit ändert nichts daran, dass das Recht, über Leben und Tod zu verfügen, allein Gott zusteht und Mord und Selbstmord nicht nur Sünden sind, weil sie das Gegenteil der Wertantwort auf den hohen Wert des menschlichen Lebens sind und Mord die äußerste Ehrfurchtslosigkeit und Lieblosigkeit ist, sondern weil man sich die Rechte Gottes anmaßt (25).
Dem Verlangen nach dem Tod können ganz verschiedene Motive zugrunde liegen, die ihm einen ganz verschiedenen Charakter verleihen. Auch der jeweils zugrunde liegende Aspekt variiert in entscheidender Weise je nach dem Motiv.
Da gibt es erstens die Sehnsucht nach dem Tod, die durch Leiden verschiedener Art motiviert ist. Für viele Menschen ist das Leben ein fortwährendes furchtbares Leiden physischer oder psychischer Art, In den kommunistischen Konzentrationslagern (26) mit den ununterbrochenen körperlichen und geistigen Qualen, denen die Gefangenen ausgesetzt sind, kann der Tod als Ende dieser Leiden sich als eine Art Erlösung darstellen. Auch bei unerträglichen Schmerzen infolge einer unheilbaren Krankheit kann er als etwas Freundliches erscheinen.
Zweitens kann die Sehnsucht nach ihm motiviert sein durch schwere, demütigende Situationen, in die man unentrinnbar verstrickt ist und in denen man keinerlei Lösung durch eigenes Verhalten für möglich hält.
Drittens kann Angst vor großen Gefahren und Panik die Sehnsucht nach dem Tod hervorrufen.
Schon im Rahmen dieser verschiedenen Motive nimmt die Sehnsucht nach dem Tod einen jeweils anderen Charakter an. Bei den furchtbaren körperlichen und psychischen Schmerzen kann man viel mehr von einer Sehnsucht nach dem Tod sprechen als in den beiden anderen Fällen. Gemeinsam ist ihnen aber, dass der Tod primär als Befreiung gesucht wird. Dieser Aspekt des Todes bezieht sich nur auf das Aufhören gewisser irdischer Leiden bzw, auswegloser Situationen und schließt noch keineswegs notwendig eine Stellung ein zu dem, was nach dem Tod geschieht. Der Tod ist erwünscht, gleichviel ob der Betreffende ihn als ein Versinken ins Nichts (27) sieht oder als eine höhere Form des Fortlebens der Seele. Die Befreiung ist der dominierende Aspekt (28).
Ein ganz anderes Motiv für die Sehnsucht nach dem Tod bzw. beim Selbstmord ist das einer geistigen Verzweiflung an der Welt und dem Leben als Ganzem. So beschloss Maritain als junger Mann, sich mit seiner Frau Raissa das Leben zu nehmen, nachdem er von den Positivisten der Sorbonne die Lehre von der Relativität aller Wahrheit angenommen hatte. Ein Leben, in dem es keine absolute Wahrheit gibt, schien ihm nicht lebenswert. Schon hatte er Tag und Stunde für den gemeinsamen Selbstmord angesetzt, als ihn Bergsons Philosophie von der Existenz einer objektiven Wahrheit überzeugte. Bei dieser Absicht, dem Leben ein Ende zu machen, war der Aspekt des Todes das Aufhören des Lebens und wahrscheinlich ein Versinken ins Nichts.
Auch dem Selbstmord Kleists lag offenbar eine Verzweiflung über den Gesamtaspekt der "vallis lacrimarum" als Motiv zugrunde. Sicher spielte die ungeheure Enttäuschung durch Kants transzendentalen Subjektivismus mit. Ob der Tod für ihn ein Versinken ins Nichts bedeutete, ist uns unbekannt. Jedenfalls war er für Kleist primär das ersehnte Verlassen eines nicht lebenswerten Lebens.
Einen ganz anderen Charakter erhält das Verlangen nach dem Tod, wenn der geliebteste Mensch gestorben ist. Auch der Aspekt des Todes selbst wird ein anderer. Das Motiv dieser Todessehnsucht ist der tiefste und größte Verlust, das wahre, furchtbarste natürliche Übel, das uns treffen kann. Weil aus der Liebe geboren, hat diese Sehnsucht einen besonders edlen Charakter, während das durch einen falschen Aspekt des Lebens, durch den radikalen Irrtum der Relativität aller Wahrheit bedingte Todesverlangen in Wirklichkeit eine unbegründete Antwort ist. Der Schmerz über den Tod des geliebtesten Menschen ist dagegen eine adäquate Antwort; dieses größte natürliche Leid besteht ja tatsächlich.
Diese Sehnsucht nach dem Tod ist auch implicite mit der Überzeugung vom Fortleben der Seelen im Jenseits verknüpft. Sie setzt sogar den Glauben voraus, dass es eine Vereinigung mit dem geliebten Menschen in der Ewigkeit gibt. Darum führt sie logischerweise nicht zum Selbstmord. Denn der Glaube an Gott und die selige Vereinigung mit dem geliebten Menschen in der Ewigkeit lässt sich vom Bewusstsein der furchtbaren Sünde des Selbstmordes nicht trennen. Die Hoffnung, mit dem geliebten Menschen in der Ewigkeit vereint zu sein, setzt ja den Glauben an die ewige Seligkeit, das Zu-Gott-Gelangen, voraus und erfasst die einzigartige Sünde des Selbstmordes als Hindernis für das Wiederfinden des geliebten Menschen.
Das besagt jedoch nicht, dass Selbstmorde nicht auch wegen des Todes des geliebtesten Menschen verübt werden, denn sehr häufig liegt dann auch eine gewisse Geistesverwirrung vor. Der Selbstmörder kann sogar wahrhaft gläubig und sich dessen bewusst sein, dass der Selbstmord eine schwere Sünde ist (29). Dennoch erliegt er dem Drang, sich das Leben zu nehmen. Der Selbstmord bleibt immer ein grauenvolles Übel, auch wenn der Tod nicht als solcher, sondern als Öffnung des Tores für die Wiedervereinigung mit dem Geliebten ersehnt wird (30).
Außer infolge der meistens eingetretenen geistigen Verwirrung kommen Selbstmorde auch auf Grund der Tatsache vor, dass neben den tiefen Wesensbeziehungen innerhalb der Seele, neben den wesenhaft, sinngemäß sich ausschließenden Haltungen eine psychologische Möglichkeit der Koexistenz irrationaler Vorstellungen besteht. Der Unterschied zwischen den anthropologischen Wesensgesetzen und den psychologischen Möglichkeiten ist ein allgemeines, großes Problem, eine mysteriöse Tatsache. Auf dieses Thema können wir in unserem Zusammenhang nicht eingehen (31).
Der Tod als "Befreier" und "Bruder" (hl. Franziskus)
Wie schon eingangs erwähnt, wollen wir nicht alle möglichen Aspekte des Todes in ihrer jeweiligen Eigenart herausarbeiten. Einer ist z. B. der in dem ergreifenden Lied von Schubert "Der Tod und das Mädchen" dargestellte. Hier erscheint der Tod nicht als etwas Grauenvolles, Furchterregendes, was man unter allen Umständen vermeiden möchte, nicht als das Urübel, dem sich alle gegen ihren Willen täglich mehr und mehr nähern, sondern als Spender sanfter Ruhe, als Befreier von allen irdischen Leiden, aller Unruhe und Unsicherheit. Dieser Aspekt ist aber offenbar ein ganz einseitiger und mit dem christlichen, übernatürlichen unvereinbarer. Er ist gleichsam ein poetischer Aspekt, der wohl ein "fundamentum in re" (eine sachliche Grundlage) besitzt, aber in keiner Weise der Strafe, die der Tod darstellt, gerecht wird. Sicher ist er nicht jener, zu dem wir nach Gottes Willen gelangen sollen und der in den Worten des heiligen Paulus aufleuchtet: "Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?" (1 Kor 15, 55).
Ein ganz eigener Aspekt des Todes liegt im "Sonnengesang" des heiligen Franziskus vor, in dem er am Schluss vom "Bruder Tod" spricht. So schön dieser Aspekt ist, der sich selbstverständlich zutiefst mit dem übernatürlichen christlichen vereinbaren lässt, so enthält er doch eine besondere Note, die sich aus der Gesamtschau aller Geschöpfe beim heiligen Franziskus erklärt. Darüber sprachen wir in unseren Schriften über den heiligen Franziskus (32) und wiesen besonders darauf hin, dass in seiner Schau der "brüderlichen" Liebe zu den impersonalen Geschöpfen keinerlei Pantheismus liegt, wie Scheler irrtümlich behauptete. Diese Schau des Todes gehört jedoch sicher nicht notwendig zum übernatürlichen, christlichen Aspekt des Todes, nicht zum klassischen des "Ecce, sponsus venit" (Seht der Bräutigam kommt), der die natürliche Schau des Todes für den Christen ablösen soll, und darum nicht zu unserem unmittelbaren Thema.
Der Tod als intimstes und allgemeines Menschenschicksal (seine Größe und Einsamkeit)
Der Tod ist etwas ausserordentlich Intimes. Wohl müssen ihn alle Menschen einmal erleiden. Dennoch ist er in einzigartiger Weise die individuellste Angelegenheit jedes Menschen. Jeder stirbt seinen Tod. Er kommt auf jeden einzelnen als sein ganz intimes, persönliches Geschick zu. Auch hierin ist er ein mysteriöses Phänomen. Wie nichts anderes ist er etwas, was alle einmal ereilt. Er ist ein Grundelement des Schicksals aller Menschen. So verschieden ihr Leben in vielen anderen Hinsichten sein mag - sterben müssen sie alle. Zugleich ist der Tod etwas Urintimes, das jeden ganz als diese einzigartige, individuelle Person angeht. Jeder muss sich auf seinen Tod vorbereiten; jeder fühlt die Angst vor seinem Tod. Denken wir an den König Ezechias im Alten Testament (2 Kön 20,1 ff.), der sich auf die Botschaft des Propheten Isaias hin, die Stunde seines Todes sei gekommen, in seinem Bett zur Wand kehrte und laut weinte, so stehen uns die beiden Tatsachen: der Tod als furchtbares Übel für den Menschen und als die intimste Angelegenheit jedes einzelnen, klar vor Augen.
Der Tod enthält ferner einen Gegensatz zu allem Unechten, Unnötigen. Er hat eine einsame Größe und Echtheit. Im Menschen bestehen, wenn auch in sehr ungleicher Weise, viele unnötige Gefühle und Selbsttäuschungen, viel Ungültiges, ganz abgesehen von Irrtümern, eingebildeten Gefahren, angeblich empfangenen "Wunden" und vorübergehenden unwesentlichen Tätigkeiten. Zu all dem bildet der Tod in seiner Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, entscheidenden Bedeutung und letzten Realität einen tiefen Gegensatz. Im Sterben leuchtet, unabhängig vom jeweiligen Verhalten des einzelnen, der Adel des Menschen in besonderer Weise auf. Der Tod hat etwas Grandioses, Echtes, Tiefes. In diesem Augenblick rührt jeder Mensch objektiv an etwas Geheimnisvolles, Großes, letztlich Ernstes, Edles, trotz alles erwähnten Grauens. Dieser Aspekt setzt implicite das Fortleben der Seele und sogar indirekt die übernatürliche Sicht des Todes voraus. Aber er erschließt sich uns weniger im Gedanken an unseren eigenen Tod als im Sterben eines anderen Menschen. Er unterscheidet sich vom Aspekt der seligen Begegnung mit Jesus. Er setzt diese Wirklichkeiten voraus, aber er spricht nicht direkt von ihnen. Die Echtheit ist eine Eigenschaft des Todes als solchen, die sich uns erschließt, wenn wir den Tod eines Menschen erfahren oder ihm gar beiwohnen, vor allem, wenn dieser Mensch eine große Bedeutung für unser Leben hatte.
In Vertonungen des Requiems, wie der Verdis oder des Gregorianischen Chorals, prägt sich die Majestät des Todes und seine feierliche Echtheit deutlich aus. Dieser Aspekt ist das Gegenteil von dem der Königin in Shakespeares Hamlet: "Du weißt, es ist gemein: was lebt, muss sterben" (33).
Neben diesen "positiven" Aspekten des Todes steht die äußerst negative furchtbare Einsamkeit. Jeder muss nicht nur seinen Tod allein sterben, sondern es gehört zum Sterben, dass es uns in absolute Einsamkeit in Bezug auf alle Gemeinschaft mit Menschen versetzt. Wir können den geliebtesten Menschen nicht in unseren Akt des Sterbens einbeziehen. Gewiss, wir können in seinen Armen sterben und ihm noch im letzten Hauch unsere Liebe zuströmen lassen. Trotzdem ist das Sterben vom menschlichen Standpunkt aus ein Einsamwerden. In der übernatürlichen Sicht hingegen ist es der Beginn der ganz neuen Gemeinschaft mit Gott. In dem "Ecce, Sponsus venit" liegt, wie wir noch sehen werden, die Erfüllung der Urgemeinschaft mit Dem, für Den wir geschaffen sind, der Beginn der letzten Liebesgemeinschaft mit Gott von Angesicht zu Angesicht. Doch jetzt sprechen wir noch vom rein natürlichen Aspekt des Todes, zu dessen tiefer Tragik auch die absolute Einsamkeit gehört.
Das gemeinsame Sterben zweier Liebender
An dieser Stelle müssen wir auf eine geheimnisvolle "coincidentia oppositorum" (Zusammenfallen der Gegensätze) eingehen. Trotz der Einsamkeit des Todes besitzt das gemeinsame Sterben zweier Liebender eine einzigartige Form der Erfüllung der Gemeinschaft.
Wir werden das erfassen, nachdem wir neben der Einsamkeit einen positiven Aspekt des Todes betrachtet haben: seine große Feierlichkeit. Dem Sterben als dem letzten, gültigen Wort eignet eine einzigartige Bedeutung gegenüber all den Akten, die wir vorher in unserem Leben vollzogen haben. Seine Endgültigkeit, seine absolute Einmaligkeit lässt sich mit nichts anderem im Leben vergleichen. Diese Sicht des Todes erreicht, wie wir sehen werden, im Rahmen des christlichen, übernatürlichen Aspektes eine ganz neue Bedeutung.
Sie wirkt sich darin aus, dass es ein klassischer Wunsch der liebenden ist, gemeinsam zu sterben. Dabei ist nicht nur der Wunsch, von dem andern nicht durch den Tod getrennt zu werden, das Motiv, sondern auch der, diesen so persönlichen, an sich einsamen, diesen endgültigen, wichtigsten Akt des Sterbens gemeinsam zu vollziehen, dieses letzte, gültige Wort gemeinsam zu sprechen. In unzähligen Liedern, auch Volksliedern, begegnen wir diesem Wunsch nach dem gemeinsamen Tod. Er wird gleichsam seines Grauens entkleidet durch die letzte Liebesvereinigung mit dem Geliebten im gemeinsamen Sterben. Das Interessante für uns ist der ganz neue Aspekt des Todes auf Grund seiner Einmaligkeit, seines Abschlusscharakters wegen der einzigartigen Erfüllung der "intentio unionis" (der Vereinigungsintention), die darin besteht, diesen wichtigsten Augenblick, diesen entscheidenden Akt gemeinsam zu vollziehen. Dabei erscheint der gemeinsame Tod als ein Positives. Er wird aus einem zutiefst einsamen Akt zu einer besonderen Erfüllung der höchsten intimsten Gemeinschaft.
In der Schlussszene von Verdis Oper Aida findet das Glück des gemeinsamen Todes einen besonders schönen Ausdruck. Der wegen seines Einsatzes für Aidas Vater zum Tod verurteilte Radames entdeckt plötzlich, dass Aida sich mit ihm hat einmauern lassen, und der Schrecken des Todes, der furchtbare Schmerz der Trennung von Aida, wird durch das gemeinsame Sterben verklärt.
Etwas ganz Neues finden wir in Wagners Meisterwerk Tristan und Isolde, in dem das Thema die gegenseitige bräutliche Liebe zweier Menschen ist, welche die Liebe und die "intentio unionis" der liebe so letztlich ernst nehmen, dass sie die irdische Situation des Menschen als unverträglich mit der vollen Entfaltung der Liebe empfinden.
Die Mystiker kennen einen analogen Antagonismus des irdischen Alltags und der ewigen, ununterbrochenen, letzten Liebesgemeinschaft mit Jesus. Bei Tristan und Isolde geht es jedoch nicht um das Letzte, nicht um die "raison d'être" (den Daseinssinn) des Menschen: die Liebesvereinigung mit dem Gottmenschen, der allein uns die ewige Seligkeit spenden kann. Vielmehr handelt es sich um die der ekstatischen Einheit mit dem Geliebten entgegenstehende irdische Situation des Menschen, der immer wieder in die Peripherie zurückkehren, sich in der Zeit statt in einer ewigen Gegenwart entfalten muss. Schon am Charakter der irdischen Situation tritt die Unverträglichkeit einer analogen menschlichen Einheit mit der ewigen Einheit mit Jesus zutage. Gewiss, diese menschliche Beziehung ist durch eine Welt getrennt von der letzten Liebeseinheit mit Jesus, aber sie hat tief analoge Momente; denn die Liebesekstase hat eine alle übrigen menschlichen Beziehungen unvergleichlich überragende Glut, Unbedingtheit und Tiefe. Mit Recht fühlen Tristan und Isolde, dass diese letztgespannte Liebe, die auf eine volle ekstatische Einheit mit dem Gelieblen abzielt, sich in der irdischen Situation unseres Lebens nicht voll entfalten kann. Mit Recht fühlen sie den Antagonismus des "Tages" zu ihrer Liebe und sehnen sich nach der Situation der Ewigkeit, in der sie "der Liebe nur zu leben" vermögen.
Wir sagen: mit Recht, insofern die Unverträglichkeit dieser Liebe mit der irdischen Situation wahrhaft besteht; aber natürlich nicht mit Recht, insofern verkannt wird, dass nicht die Einheit mit einem noch so geliebten Menschen, sondern mit Jesus und in Ihm und durch Ihn mit Gott Vater das letzte Thema des Menschen ist.
Dieser Aspekt des Todes als eines seligen Erhobenwerdens in die ungestörte Entfaltung einer ekstatischen Liebe ist für uns sehr bedeutsam, denn in ihm ist der Tod nicht ein grauenvolles Erstarren, ein Versinken ins Nichts, nicht der rätselhafte, schmerzliche Abschied von allen Geliebten, die absolute Einsamkeit. Vielmehr ist ein Fortleben der Seele eindeutig vorausgesetzt. Der Tod wird zur Erfüllung. Dieser Aspekt des Todes in Tristan und Isolde ist dem, den wir als naiven, natürlichen, grauenvollen Aspekt des Versinkens ins Nichts ausführlich charakterisierten, radikal entgegengesetzt. Er ist auch ganz verschieden von jener Schau des Todes, die ihn nur als Erlösung von aktuellen, unerträglichen Leiden ersehnt, ohne eine Vorstellung von ihm als einer Erfüllung, einer Form der Seligkeit. Was nach dem Tod geschieht, ob die Seele fortlebt oder nicht, bleibt gleichsam verschlossen.
Ferner unterscheidet sich der Aspekt des Todes in Tristan und Isolde vollständig von der Überzeugung des Sokrates, der des Fortlebens der Seele gewiss war und die Loslösung vom Leib als Befreiung sah, als Beginn einer höheren geistigen Existenz, des Schauens der Ideen - wir könnten fast sagen: des Schauens Gottes.
Der Aspekt des Todes im Tristan ähnelt in einer Hinsicht mehr dem des Mystikers, erstens wegen der Bedeutung der Liebe bei beiden, zweitens wegen der Sicht der Ewigkeit als Ekstase. Aber in anderer Hinsicht ist die Auffassung des Sokrates der des christlichen Mystikers ähnlicher, insofern sie letztlich auf Gott abzielt.
Man wende nicht ein, der Aspekt des Todes im Tristan setze kein Fortleben der Seele voraus, sondern die Seele versinke nach dem Tod in ein Nirvana. Man motiviert das mit der Tatsache, dass Wagner, als er den Tristan schuf, ein Anhänger Schopenhauers war; heißt es doch am Ende des Liebestodes: "Unbewusst - höchste Lust!"
Demgegenüber muss festgehalten werden, dass diesem Schluss die viel ausführlichere Beschreibung des ersehnten Todes im zweiten Aufzug, zweiter Auftritt, radikal widerspricht. Dort heißt es: "So stürben wir, um ungetrennt, ewig einig, ohne End', ohn' Erwachen, ohne Bangen, namenlos in Lieb' umfangen, ganz uns selbst gegeben der Liebe nur zu leben." Offenbar setzt "der Liebe nur zu leben" das Bewusstsein, die volle, bewusste Existenz beider Personen voraus. Dieser Widerspruch klärt sich, wenn man bedenkt, dass eine Weltanschauung, die sich auf dem Einfluss eines Philosophen aufbaut, und der künstlerische Genius zwei sehr verschiedene Dinge im Geist des Künstlers sind. Sehr oft trägt der Genius den Künstler im Kunstwerk über seine theoretische Weltanschauung hinaus, indem er ihn zwingt, seine Weltanschauung zu vergessen und sein Werk in die Welt der Wahrheit hineinzustellen. So ist es z. B. in Goethes Faust, erster Teil. Auf die Frage Gretchens, ob Faust ein Christ sei, antwortet er mit einem pantheistischen Bekenntnis, das der Weltanschauung Goethes entspricht (34). Am Schluss aber, bei Gretchens Tod, ertönt die Stimme des Engels von oben: "Sie ist gerettet!" Alle pantheistischen Ideen versinken. Goethe stellt die Welt der Wahrheit, die wahre christliche Welt vor unseren Geist; in seinem Werk siegt diese objektive Wahrheit über seine theoretische Weltanschauung. Der künstlerische Genius zwingt ihn, in seinem Werk der objektiven Wahrheit in ihrer vollen Klassizität das letzte Wort einzuräumen. Analog ist es im Tristan, dessen Aspekt des Todes notwendig ein volles Fortleben der Seele voraussetzt, sobald die bräutliche Liebe in ihren tiefsten metaphysischen Konsequenzen das absolute Thema ist. Wenn der Tod die letzte Erfüllung der "intentio unionis" bringt - "der Liebe nur zu leben" -, ist das Fortleben der individuellen Seele notwendig vorausgesetzt.
Der Zauber des Lebens und das rätselhafte Dunkel des Todes
Wir müssen, um das Grauen des natürlichen Aspektes des Todes, unser "sedere in umbra mortis" (sitzen im Schatten des Todes) klar vor uns erstehen zu lassen, noch einmal den ganzen Zauber des irdischen Lebens hervorheben.
Wir denken jetzt nicht nur an die hohen Güter, die Träger hoher Werte, sondern an die von Hoffnung auf Glück erfüllte Seele des Menschen und an all das, was das Leben an Charme und Zauber besitzt, an die überreiche Skala von Gütern, die das Leben anziehend, interessant, berauschend machen. Die meisten Menschen werden in der Jugend etwas von diesem Aspekt des Lebens fühlen, den Hans Sachs in Wagners Meistersingern (35) zum Ausdruck bringt:
- "Mein Freund! in holder Jugendzeit,
- wenn uns von mächt'gen Trieben
- zum sel'gen ersten Lieben
- die Brust sich schwellet hoch und weit,
- ein schönes Lied zu singen
- mocht' vielen da gelingen."
Diesen Aspekt des Lebens voll zu erleben und zu erfassen ist nicht allen gegeben. Die meisten Menschen sind zu stumpf, um seinen Zauber, dieses Versprechen von Glück, all die Arten von Sehnsucht zu fühlen. Andere, besonders auserwählte Menschen sind schon von Jugend an auf Gott gerichtet: Jesus hat ihr Herz so getroffen, dass der Reiz des Lebens dagegen verblasst und die Sehnsucht nach irdischem Glück ganz von der brennenden Sehnsucht, Jesus nachzufolgen und in Ihn umgestaltet zu werden, überholt ist.
Für viele wiederum mag dieser Aspekt des Lebens wohl bis zu einem gewissen Grad bestehen, aber ihr Schicksal ist ein sehr schweres; ein besonderes Leid stellt sich zwischen sie und diesen Aspekt des Lebens. Sie sind etwa durch ein schweres körperliches Leiden von jedem "Genuss" des Lebens abgehalten oder als Gefangene in einem Konzentrationslager von allen Gütern des Lebens abgeschnitten. Wohl können sie in Sehnsucht an all das denken, was das Leben verspricht, aber für sie ist der Alltag in eine Hölle verwandelt.
Wenn wir von den Angeboten des Lebens sprechen, von seinem unerschöpflichen Reiz, schließen wir alle Versuchungen aus, die hohen Güter des Lebens zu entweihen, wodurch sie missverstanden und missbraucht werden und ihre Fähigkeit, wahrhaft zu beglücken, zerstört wird. Wir meinen auch nicht den trügerischen Reiz des Lebens, den es für die Leichtsinnigen und Oberflächlichen und vor allem für den Don-Giovanni-Typ besitzt.
Nein, wir denken an den schwer fassbaren Zauber, den die Fülle der Güter des Lebens, sein Rhythmus, seine Überraschungen bieten. Wir denken an den Zauber des Lebens, der in Shakespeares Wie es Euch gefällt künstlerisch gegeben ist, der das Gedicht von Goethe: "Wie herrlich leuchtet mir die Natur!" (36) oder der viele Szenen des großen Romans Don Quijote von Cervantes erfüllt. Zu diesem Aspekt des Lebens gehört, dass man die "Welten", die "Atmosphären" fühlt, die eine Situation ausstrahlt: all das Freudige, Festliche, all das von echter Komik Durchsetzte, all das Geheimnisvolle, von hohen menschlichen Beziehungen bis zum Wechsel von Morgen, Mittag und Abend und dem Wechsel der Jahreszeiten. Um all dies zu erfassen, bedarf der Mensch eines besonderen Organs, einer besonderen Wachheit. Es gibt diesen legitimen Aspekt der Schönheit und Süßigkeit des Lebens. Trotz der Realität der "vallis lacrimarum" können wir ausrufen: Wie schön bist du, Welt! Wie süß ist das Leben!
Wenn wir diesen Aspekt des Lebens ins Auge fassen, der trotz der vielen trügerischen Illusionen sein "fundamentum in re" besitzt, und dann an den Tod denken, in dem all dies plötzlich versinkt, in dem der leuchtende Ausblick auf die Erde und all das süße Erwarten aufhört, dann erschließt sich vielleicht sein unheimlicher, angsterregender Aspekt in besonderer Weise. Anstelle des Lichtes des Lebens tritt das Dunkel des Todes.
Gewiss, das Phänomen des Todes wechselt je nach der Situation, in der unser Leben bedroht wird. Bei dem ohne Schuld zum Tod Verurteilten liegt ein besonderer Fall vor, ganz anders als in der Lebensgefahr bei einem Brand oder auf einem sinkenden Schiff und erst recht in einer schweren Krankheit. Aber der wichtigste Unterschied ist der, ob wir in voller Lebenskraft von einer ganz von außen kommenden großen Gefahr bedroht werden oder ob wir durch eine schwere Krankheit dahinsiechen und uns jeden Augenblick dem Tod nähern. In dem einen Fall erleben wir den Kontrast des vollen Lebens zu einem plötzlichen Aufhören alles dessen, was uns umgibt und was wir selber in unserer leibseelischen Form sind; im anderen Fall einen fortschreitenden Niedergang, ein Mehr-und-Mehr-Erlöschen.
Vor allem müssen wir das Todesbewusstsein, das sich uns in einer besonderen Situation aufdrängt, von dem unser ganzes Leben durchziehenden Wissen um unseren unvermeidlichen, täglich näher rückenden Tod trennen. Bei diesem geht es weder um den Kontrast zwischen der Lebensfülle und dem plötzlichen, unerwarteten Ende des Lebens noch um den Prozess einer den Tod herbeiführenden Krankheit, in der wir eine Abnahme der Lebenskraft und der normalen Auswirkungen des Lebens erfahren, sondern um das klare Bewusstsein, dass wir einmal sterben müssen. Der Tod, dem wir nicht entrinnen können, ist die irdische Zukunft für jeden. Dazu kommt die Unsicherheit, wann er uns hinwegraffen wird, das Bewusstsein der Anfälligkeit für ihn in jedem Augenblick des Lebens. "Media in vita mortis sumus", Einerseits besteht die absolute Gewissheit, dass wir einmal sterben müssen, andrerseits die völlige Unsicherheit, wann uns der Tod ereilen wird.
Vor allem dieses Todesbewusstsein haben wir im Auge, wenn wir vom natürlichen Aspekt des Todes sprechen. Die darin enthaltene Tragik gehört zur metaphysischen Situation des Menschen. Sie ist ein wesentlicher Teil des rätselhaften Kontrastes, der das irdische Leben des Menschen kennzeichnet. Einerseits ist die uns umgebende Welt mit hohen Gütern erfüllt, so dass wir in den Hymnus der Engel einstimmen: "Pleni sunt coeli et terra gloria tua" ("Erfüllt sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit") - andererseits können wir nicht übersehen, dass wir in der "vallis lacrimarum" leben. Inmitten dieser Grundeigenart der Welt und unseres Lebens mit seiner leuchtenden Fülle des Schönen, Wahren, Guten, Tiefbeglückenden, mit der unerschöpflichen Zahl der wunderbaren Erfindungen Gottes - vor allem mit dem Erbe des Paradieses: der menschlichen Liebe in allen ihren natürlichen Kategorien - steht die Tragik, Mitten im Rhythmus der Zeit, des notwendigen Versinkens der Gegenwart in die Vergangenheit, in der Unfähigkeit des Verharrens in einer beseligenden Gegenwart, in der Fülle der entsetzlichen Sünden, die täglich begangen werden, des Triumphes falscher Lehren, ja teuflischer Irrtümer, in der Unzahl der Leiden und der unschuldig Leidenden, steht der Tod, das Sterbenmüssen.
Der Tod ist für den Menschen kein normaler Ablauf, kein selbstverständlicher Rhythmus wie das Heranwachsen vom Kind zum Erwachsenen, vom Jüngling zum Mann. Obgleich sich im Prozess des sich in der Zeit entfaltenden Lebens: "infans, vir, senex" (Kind, Mann, Greis) ein Aufstieg und ein physisches Abnehmen vollzieht, bleibt doch das Sterben in dem Aspekt, den uns die natürliche Erfahrung bietet, ein unbegreiflicher, rätselhafter, abrupter Vorgang: der Übergang vom Leben zum Tod, von der Verbundenheit mit anderen Menschen, mit vielerlei Gütern, mit verschiedensten Erkenntnissen, mit der konkreten Umwelt - zu einem absoluten Abgeschnittensein, zu einem radikalen Entschwinden von allem. Dieser Abbruch ist ebenso rätselhaft wie der Gegensatz zwischen der Erde in ihrer Herrlichkeit und als Tal der Tränen.
Wir erwähnten schon den Widerspruch, auf den Pascal hinweist: "Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste in der Natur. Aber er ist ein Schilfrohr, das denkt." Es geht um den Widerspruch, dass die Träger hoher Werte weitaus gebrechlicher sind als viel niedrigere Dinge; um den Widerspruch von Wert und Macht; um den Bruch, den Platon im Phaidros (37) so deutlich mit seinem Gleichnis von dem weißen und dem schwarzen Ross wiedergibt; um die rätselhafte Disharmonie, die den Kosmos durchzieht und die in der Heiligen Schrift als Folge des Sündenfalles geoffenbart wurde. Im Tod verdichtet sich in gewissem Sinn der Widerspruch, der den ganzen Kosmos und das Leben des Menschen durchzieht. Die berauschende Schönheit des Lebens, all die Geschenke Gottes, die unzähligen Quellen des Glückes, all die Angebote des Lebens einerseits und die "vallis lacrimarum" andererseits treffen beide im Tod zusammen. Denn er ist der Abschied von allen höchsten natürlichen Gütern und besonders von allen Menschen, die wir lieben. Im Tod leuchtet alles Schöne, Beglückende auf, von dem wir uns auf immer trennen müssen; zugleich trifft uns der Schmerz des unerbittlichen Abschieds sowie der Widerspruch, der zwischen dem dunklen, rätselhaften Hinwegmüssen und dem inneren Anspruch auf Dauer, ja dem Versprechen auf Ewigkeit besteht, den alles Schöne, Große, von Gott Kündende besitzt.
Der Abschied von den tief Geliebten und, in besonderer Weise, von dem geliebtesten Menschen in unserem Tod ist in doppelter Hinsicht furchtbar: erstens, weil uns das Herz bricht, den Menschen, der der Quell unserer Freude und unseres Glückes ist, auf Erden nicht mehr wieder zu sehen. Er entschwindet unserem Blick, da wir in ein unbekanntes, dunkles "Land" hinweggenommen werden, in dem wir ihn nicht mehr finden, und die beglückende Gemeinschaft mit ihm aufgehoben wird,
Der Tod ist zweitens auch furchtbar wegen des Schmerzes, den wir dem geliebten Menschen zufügen und der in gewisser Hinsicht das größte Übel für den ist, den zu beglücken unser heißester Wunsch war. Wir sagen: in gewisser Hinsicht, weil wir in anderer Hinsicht ihm ein noch größeres Übel antun würden, wenn wir aufhörten, ihn zu lieben, unser Herz von ihm abwendeten.
Aber das für ihn furchtbare Übel unseres Todes ist nicht unsere Schuld. Wir müssen ihn verlassen gegen unseren Willen; doch wissen wir, was wir ihm damit antun.
Die uns umgebende Welt ist von ungeheurer Realität; sie ist untrennbar mit dem Raum verknüpft und unser Leben mit der Zeit. Im Tod verlässt unsere Seele diese Welt - den Raum und die Zeit -, nur der Leib bleibt in dieser räumlichen Welt; er löst sich auf im Grab oder wird verbrannt. Das "Land", in das die fortlebende Seele eingeht, ist unserer Vorstellung unzugänglich. Wo befindet sich der Himmel, wo das Fegfeuer, wo die Hölle? Hier stößt unser Geist auf ein undurchdringliches Mysterium. Eine vom Leib getrennte Seele kann man sich leichter vorstellen als die volle, ja überlegene Realität der Ewigkeit - im Gegensatz zu der diesseitigen, uns umgebenden Außenwelt, die gleichsam der "Inbegriff" der Realität für uns ist. Die Unvorstellbarkeit der Realität des Jenseits wird dadurch noch größer, dass die ganze irdische Realität weiterexistiert, weiterschreitet; und zwar nicht nur die äußeren gehaltlosen Dinge, sondern all die bedeutenden, wertvollen, all die geliebten Menschen, die ganze Kultur, die "Geschichte" der Menschheit mit ihren Fort- und Rückschritten, ja sogar die heilige Kirche - sowohl die Hierarchie wie das Gnadenleben in der Seele und alle Bekehrungen. All dies geht weiter - und derjenige, der stirbt, wird in ein völlig unbekanntes "Land" versetzt, in eine unvorstellbare Existenzform. Die "Ewigkeit" ist dabei der "status finalis", das Ziel, um dessentwillen die irdische Wirklichkeit existiert. Die heilige Kirche spricht zwar von der Ewigkeit. Ihre "raison d'être" steht und fällt mit der Existenz der Ewigkeit, mit dem Fortleben der Seele, mit der Glorie des "regnum coelorum" (Himmelreiches). Aber ihre Form als die streitende Kirche, ihre Tätigkeit, selbst der Gnadenstrom, den sie ständig in die Seelen der Gläubigen leitet, entfaltet sich in dieser irdischen Wirklichkeitssphäre. Die Kirche ist zwar nicht von dieser Welt, aber sie ist in dieser Welt des "status viae", sie wirkt in diesem irdischen Bereich.
Realisieren wir dies alles, so tritt das Geheimnis und das Grauen des Todes in rein natürlich existentieller Schau in besonderer Weise hervor.
Wir sind uns all dessen bewusst, was wir verlassen, Wir sind uns bewusst, dass alles weitergeht, fortbesteht. Dem rein natürlichen Aspekt erscheint diese irdische Wirklichkeit als das voll Reale und der Tod als ein Herausgerissenwerden unserer Person aus dieser Wirklichkeit.
So zentral die auf rationaler Ebene erreichte Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele unser Leben verändert, so sehr durch sie all das Grauen vor der Sinnlosigkeit der Welt und des Lebens aufgehoben wird, der Tod bleibt dennoch ein dunkles, rätselerfülltes Übel. Wir bleiben noch in "umbra mortis", und die Trennung von allen Gütern, die uns tief beglücken und erheben, besonders von allen geliebten Menschen und vor allem von dem Menschen, den wir über alles lieben, bleibt unbegreiflich und ein reines Übel.
Unsere Betrachtung des nur natürlichen Aspektes des Todes schließen wir mit den schon zitierten Worten der Totenpräfation: "Quos contristat certa moriendi condicio, eosdem consoletur futurae immortalitatis promissio." Mit dem Beginn des ewigen Lebens wird die Nacht des Grauens, die eisige Kälte des Todes, die drohende Gefahr eines Versinkens ins Nichts durch ein sieghaftes Licht erhellt, durch das "lumen Christi".
Der Tod im Licht des christlichen Glaubens
Für den Christen ist das irdische Leben ein "status viae". Alles Große und Bedeutsame, dem wir auf Erden begegnen, enthält nicht nur einen Hinweis auf eine unbekannte Ewigkeit, sondern unser ganzes Leben hinieden ist eine Pilgerschaft, eine Vorbereitung für das eigentliche wahre Leben in der Ewigkeit. Wir sind hier auf Erden "exspectantes beatam spem" ("die selige Hoffnung erwartend" Tit 2,13).
Unvergleichlich wichtiger als alles irdische Glück ist die ewige Seligkeit. Die "raison d'être" unserer Existenz ist, in Christus umgestaltet zu werden und Gott zu verherrlichen. Unser Leben auf Erden ist von größter Bedeutung, weil sich diese Umgestaltung hier vollziehen muss. Es ist ein "status viae", der uns sein wahres Antlitz nur zeigt, wenn wir ihn als solchen in seiner Zuordnung auf den "status finalis" erkennen, auf die ewige Vereinigung mit Gott, auf die "visio beatifica" (die beseligende Anschauung), die nie endende Seligkeit. Wieder begegnen wir der "coincidentia oppositorum", d.h. den zwei auf den ersten Blick widerstreitenden Aspekten, die sich aber in Wahrheit zutiefst ergänzen. Einerseits ist das Leben auf Erden von entscheidender Bedeutung, denn hier muss die Umgestaltung erfolgen, die der Sinn unserer Existenz ist; andrerseits hätte dieses Leben keinen Sinn, wenn es keine Ewigkeit gäbe, wenn dem "status viae" nicht der "status finalis" folgte. Das Schwergewicht ist in den "status finalis" verlegt, aber nicht, um dem "status viae" seine entscheidende Bedeutung zu nehmen. Vielmehr erhöht die Ewigkeit dessen Bedeutung, ja macht ihn erst sinnvoll.
"In lumine tuo videbimus lumen. " ("In Deinem Licht schauen wir das Licht." Ps 35,10) Das "lumen Christi" erhellt alles, in ihm erschließt sich auch der wahre Sinn, die wahre Schönheit aller natürlichen Güter. Das Wort aus der Apokalypse: "Siehe, Ich mache alles neu!" (Off 21,5) gilt schon für den Aspekt aller hohen Güter. Sie sind durch Christus, durch die Inkarnation, das Kreuzesopfer und die Auferstehung anders geworden. Ihr wahrer natürlicher Wert, ihr Höhengeheimnis leuchtet auf. Das Entsprechende gilt für die Furchtbarkeit der Sünde, der Beleidigung Gottes, für das abgründige Übel der Ungerechtigkeit, der Unreinheit, des Hochmuts, der Gleichgültigkeit und des Gotteshasses. Im "lumen Christi" erschließt sich die wahre Zukunft, die große, furchtbare Alternative von Himmel und Hölle.
Die Stunde des Gerichtes für die einzelne Seele
Der Tod erhält ein neues Antlitz, einen zweifachen neuen Aspekt. Er ist einerseits die Stunde des Gerichtes, des Hintretens vor Gott, den Richter, andrerseits die Begegnung mit Jesus von Angesicht zu Angesicht. Wir sprechen im "Dies irae" einerseits die Worte:
- "Quid sum miser tune dicturus?
- Quem patron um rogaturus,
- Cum vix justus sit securus?"
- "Weh! was werd ich Armer sagen?
- Welchen Fürsprecher erfragen,
- Wenn Gerechte fast verzagen?"
und heilige Furcht erfüllt unser Herz. Andrerseits beten wir mit einem Herzen voller Hoffnung:
- "Rex tremendae majestatis,
- Qui salvandos salvas gratis,
- Salva me, fons pietatis. "
- "König schrecklicher Gewalten,
- Frei ist Deiner Gnade Schalten:
- Gnadenquell, laß Gnade walten!"
Diese zwei so entgegengesetzten Haltungen der Furcht und der Hoffnung sind ineinander verwoben. Die beiden Aspekte des Todes sind jedoch so verschieden, dass wir sie zunächst getrennt behandeln wollen.
Wir beginnen mit dem Aspekt des Todes als der Stunde des Gerichtes. Gemeint ist nicht das Weltgericht - das Jüngste Gericht, von dem das Dies irae in so ergreifender Weise spricht -, sondern das individuelle Gericht über die einzelne Seele, das nicht mit der Auferstehung des Fleisches verbunden ist, in dem sich aber das ewige Schicksal des einzelnen entscheidet.
Nicht mehr das Grauen des Todes auf rein natürlicher Ebene tritt uns entgegen, nicht mehr der rätselhafte, dunkle, unbestimmte Aspekt, das plötzliche sinnlose Abbrechen, hinter dem die Angst vor dem Versinken ins Nichts lauert, sondern der ungeheure Ernst des Todes als der Stunde, in der uns Gott, der uns erschaffen hat, abberuft und wir Ihm Rede und Antwort stehen müssen. Anstatt des Sitzens "in umbra mortis" leben wir angesichts der großen Entscheidung, der Alternative zwischen der Furchtbarkeit der Hölle und der ewigen Seligkeit. Der Tod ist nicht mehr ein rätselhaftes unheimliches Dunkel, sondern ein sinnerfüllter Übergang - in gewissem Sinn das entscheidende Ereignis unseres Lebens. An die Stelle des entsetzlichen Dunkels, des Unvorstellbaren, der Unbestimmtheit tritt der letzte Ernst der Stunde des Gerichtes. Eine Welt trennt die natürliche Todesangst, die Furcht vor dem Erlöschen des Seins oder zumindest vor dem Versinken in ein völlig Unbekanntes von der heiligen Furcht vor dem Gericht, die nicht von der Hoffnung auf die ewige Seligkeit loszulösen ist.
Die Art, wie sich Furcht und Hoffnung durchdringen, ist ein Mysterium. Gewiss, diese Furcht ist nicht identisch mit der Gottesfurcht, die weder zur Liebe zu Gott noch zur Hoffnung auf Seine Barmherzigkeit eine Antithese bildet. Die Gottesfurcht, von der der Psalmist sagt: "Initium sapientiae timor Domini" ("Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn" Ps 111,10), ist eine Antwort auf Gott, auf Seine unendliche Majestät, auf das "mysterium tremendum" (das furchterregende Geheimnis), das in der visio beatifica fortbesteht. Wir denken vielmehr an eine Antwort auf Gott als den absoluten Richter, von dem die Heilige Schrift sagt: "Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen" (Hebr 10, 31). Darin klingt die Antwort auf das Gericht an: in der Furcht vor der Stunde des Gerichtes liegt zugleich die Furcht vor der Strafe der Hölle und vor allem vor der ewigen Trennung von Gott. Diese Furcht ist eine Wertantwort. Aber sie wäre eine falsche oder genauer eine Antwort auf ein falsches Gottesbild, wäre sie nicht gepaart mit der Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit. Der Tod im übernatürlichen Aspekt ist als Stunde des Gerichtes etwas zu Fürchtendes; aber als Begegnung mit Gottes unendlicher Barmherzigkeit, mit dem Erlöser Jesus Christus, der die Pforten des Himmels für uns eröffnet hat, erfüllt er uns mit tiefster Hoffnung. Die Hoffnung muss sogar einen gewissen Vorsprung vor der Furcht haben. "Auf Dich, 0 Herr, habe ich gehofft und werde ewig nicht zuschanden werden" (39).
Die persönliche Begegnung mit Jesus Christus und mit der Gemeinschaft der Heilgen
Dies leitet schon zum zweiten übernatürlichen Aspekt des Todes über, der im Hymnus Adoro te devote des heiligen Thomas von Aquin seinen Ausdruck findet:
- "Jesu, quem vela turn nunc aspicio,
- Oro, fiat illud, quod tarn sitio:
- Ut, te revelata cemens facie,
- Visu sim beatus tuae gloriae. "
- "Den ich jetzt verhüllt erblicke,
- Jesus, gib, wonach ich dürste:
- Lass Dein unverhülltes Antlitz
- Selig mich in Glorie schauen."
Wenn wir im übernatürlichen Aspekt des Todes die letzte Vereinigung mit Jesus, dem Gottmenschen, betonen, darf dies in keiner Weise so verstanden werden, als meinten wir, die visio beatifica bestehe nicht vor allem in der Anschauung Gottes, des Vaters, ja der heiligsten Dreifaltigkeit.
Die Epiphanie Gottes in der heiligen Menschheit Jesu wird in der visio beatifica weit überholt durch die unmittelbare Anschauung Gottes. Gemäß dem Wort Christi: "Philippus, wer Mich sieht, sieht auch den Vater" (Joh 14, 9), gelangen wir in Christus und durch Ihn zur visio beatifica des Vaters, ja zur visio beatifica der heiligsten Dreifaltigkeit. Diese direkte Anschauung Gottes muss klar von der Offenbarung auf Erden durch die heilige Menschheit Jesu unterschieden werden. Die Erschließung Gottes, die Einheit mit Ihm durch Seine Epiphanie in der heiligen Menschheit Jesu wird deutlich in der Weihnachtspräfation: "Denn die geheimnisvolle Menschwerdung des Wortes zeigt dem Auge unseres Geistes das neue Licht Deiner Herrlichkeit; indem wir Gott so mit leiblichem Auge schauen, entflammt Er in uns die Liebe zu unsichtbaren Gütern."
Es würde weit über den Rahmen dieser Schrift hinausgehen, wollten wir auf die visio beatifica im ganzen eingehen. Wir beschränken uns aus besonderen Gründen auf die einzigartige Vereinigung mit dem Gottmenschen Jesus, auf die die Liturgie oftmals hinweist, so im Ubi caritas:
- "Simul quoque cum Beatis videamus.
- Glorianter vultum tuum, Christe Deus:
- Gaudium, quod est immensum atque probum,
- Saecula per infinita saeculorum. "
"Christus Gott, Dein glorreich Antlitz
- Lass uns mit den Seligen schauen
- In grenzenloser lautrer Freude
- Von Ewigkeit zu endeloser Ewigkeit" (40).
Aus dieser tiefsten Vereinigung mit Gott erwächst zugleich eine verklärte Vereinigung mit allen Bewohnern des Himmels. Der Beerdigungsritus enthält die Antiphon: "Die Engel mögen dich ins Paradies geleiten, bei deiner Ankunft die Martyrer dich empfangen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem."
In den Proprien mehrerer Heiligenfeste ist auf diese selige Gemeinschaft hingewiesen, so im Graduale am Fest des heiligen Martinus: "den die Engel und Erzengel aufnahmen" und des heiligen Franziskus: "Franziskus, arm und demütig, geht reich zum Himmel ein, geehrt von himmlischen Gesängen."
Dass die ewige Seligkeit auch die communio sanctorum (Gemeinschaft der Heiligen) umfasst, ist selbstverständlich. Die all unser Begreifen übersteigende Erfüllung in der visio beatifica Gottes schließt zugleich die höchste Erfüllung aller Wir-Gemeinschaften mit den zur ewigen Seligkeit gelangten anderen Seelen ein und besonders die letzte Erfüllung der Beziehung mit den auf Erden am meisten geliebten Menschen.
Wohl gehen wir in dieser christlichen Schau durch den Tod in eine einzigartige Gemeinschaft mit allen Bewohnern des Himmels ein und vor allem mit allen tief geliebten Menschen, die vor uns gestorben sind. Dennoch hebt der Aspekt des Todes als Tor zur ewigen Seligkeit die Einsamkeit des Sterbens nicht auf. Diese bezieht sich ja auf die irdische Situation.
Aber es gibt Einschränkungen der Einsamkeit. Nicht nur die Liebe zu dem Verstorbenen bleibt lebendig bei dem ihn Liebenden, sondern er denkt an dessen Fortleben in der Ewigkeit. Hört auch jeder direkte Kontakt mit ihm auf, so besteht doch die tiefe innere Gemeinschaft weiter. Wir können den Verstorbenen anrufen. Im Glauben dürfen wir annehmen, dass auch er in der Ewigkeit um uns weiß und trotz seiner ganz neuen, uns unbekannten Existenzform von uns erreicht werden kann. So sagt der heilige Bernhard in der Predigt über das Hohelied Nr. 26, in der er über den Tod seines Bruders klagt: "Du wirst mich nie vergessen" (Ps 12,1).
Außerdem ist für den Christen der furchtbare Abschied in die Hoffnung auf das selige Wiedersehen in der Ewigkeit eingetaucht. Aber der Tod selbst bleibt in einzigartiger Weise einsam.
Der Unterschied zwischen dem natürlichen und dem christlichen Aspekt des Todes
Bevor wir nun auf den glorreichen, übernatürlichen Aspekt des Todes eingehen, sei noch einmal auf den radikalen Unterschied zwischen dem bloß natürlichen Aspekt des Todes ohne die Einsicht in die Unsterblichkeit der Seele und dem übernatürlichen als Stunde des Gerichtes hingewiesen: auf der einen Seite der Tod als Rätselhaftes, Dunkles, Sinnloses, auf der anderen Seite im Glauben: die Größe des Schicksals des Menschen, seine ewige Bestimmung, die tiefe Sinnfülle, der letzte Ernst des Sittlichen, die Erfüllung des auf Erden Gesäten, der "status finalis", die Furcht vor der Hölle und die Hoffnung auf die ewige Seligkeit. Beim natürlichen wie beim übernatürlichen Aspekt bleibt die Art der Existenz nach dem Tod ein unvorstellbares Geheimnis. Aber im Licht der christlichen Offenbarung erwartet uns nach dem Tod das Entscheidende: das Gericht, die große Alternative, die sich in der rationalen Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele nicht in derselben Weise findet.
Gewiss enthält die rationale Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele auch eine Vorstellung von einem Gericht Gottes in Bezug auf unser irdisches Leben. Dies klingt z.B. bei Platon in dem Mythos im Gorgias (41) und noch klarer im Staat (42) an. Aber offenbar besteht ein entscheidender Unterschied zwischen dem Gericht Gottes im Rahmen der christlichen Offenbarung und der auf einer natürlichen Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele aufgebauten Erwartung eines Gerichtes Gottes nach dem Tod. In den herrlichen Ausführungen von Sokrates über die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon sowie in der Apologie tritt das zu erwartende Gericht selten in den Vordergrund.
Vor allem aber gibt es, wie Soeren Kierkegaard (43) zeigte, im Rahmen der rational erkannten Unsterblichkeit kein Bewusstsein von der Sünde als Beleidigung des personalen Gottes, Gott wird zwar als Richter über das sittliche Unrecht erkannt, doch fehlt die ganz neue Beziehung zur Person Gottes, der durch die Sünde beleidigt wird. Der Gottesbegriff ist unvergleichlich vager als der des Deus vivens et videns (des lebendigen und sehenden Gottes) des Alten und vor allem des Neuen Bundes.
Das natürliche Unsterblichkeitsbewusstsein ist weit entfernt von der existentiellen, machtvollen, sinnerfüllten Gestalt des Todes, die das Dies irae erfüllt. In dieser Schau erhält auch das "media in vita mortis sumus" einen ganz neuen Charakter durch das Bewusstsein, dass wir nicht wissen, wann die Stunde der Abberufung durch Gott und die des Gerichtes schlägt. Hand in Hand damit geht das Bewusstsein, dass Christus gesagt hat: "Seid auch ihr bereit; denn der Menschensohn wird zu einer Stunde kommen, da ihr es nicht vermutet" (Lk 12, 40).
Dieses Todesbewusstsein ist nicht die angsterfüllte Unsicherheit: "Sollte morgen meine Stunde kommen?", sondern das Streben, vorbereitet zu sein für das Hintreten vor Gott. Es ist erfüllt von der Wachheit, die sich weder in die Illusion verstricken lässt, der Tod komme noch lange nicht, da wir uns ja gesund und frisch fühlen, noch in die lähmende Angst, er könne uns jeden Moment hinwegraffen, da es keine Sicherheit des Lebens gibt.
Diese Wachheit gilt unserer wahren Situation. Unser Blick ist auf Gott gerichtet, wir leben in der Gegenwart Gottes. Heilige Furcht verbindet sich organisch mit dem Streben, die Zeit für unsere Heiligung auszunützen nach dem Wort des heiligen Paulus: "Nützt die Zeit aus" (Eph 5,16).
Die ersehnte Liebesvereinigung mit Jesus Christus im Tod
Ein ganz neues Gesicht gewinnt der Tod für den, in dem eine tiefe, letzte Liebe zu Jesus lebt und der darum von der Sehnsucht nach der Vereinigung mit Ihm von Angesicht zu Angesicht und in Ihm und durch Ihn mit Gott Vater verzehrt wird. Diesen Aspekt des Todes bringt der in vielen Klöstern übliche Ruf zum Ausdruck, wenn für ein Mitglied der Klostergemeinde die Stunde des Todes schlägt: "Ecce, sponsus venit, exite obviam ei. " (Siehe, der Bräutigam kommt, geht Ihm entgegen).
Der Aspekt des Todes als Stunde des Gerichtes ist nicht verschwunden, doch steht die Vereinigung mit Jesus im Vordergrund. Es besteht keine falsche Sicherheit. Der Ernst des großen Gerichtes ist nicht durch einen religiösen Optimismus verdrängt. Aber das sehnsüchtige Verlangen nach Jesus, die stürmische, ungeduldige Sehnsucht nach dem Geliebten und die Hoffnung herrschen vor. Dieser Aspekt des Todes als Erfüllung der ersehnten Liebesvereinigung hat nichts von Verstiegenheit. Die heilige Nüchternheit der vom "lumen Christi" erfüllten Seele vereinigt sich mit der sieghaften Trunkenheit der Liebe.
Im Leben der Heiligen können wir verschiedene Perioden erkennen: Zeiten großer Trockenheit wechseln mit Zeiten mystischer Begnadung ab. Ebenso gibt es Phasen, in denen der Tod als Stunde des Gerichtes ihr Herz erzittern lässt, und Zeiten glühender Sehnsucht nach der ewigen Liebesvereinigung mit Jesus. Sie können auch gleichzeitig in der Seele leben, wobei der beseligende Aspekt, der mit der Hoffnung zutiefst verbunden ist, vorherrscht.
Die natürliche Hoffnung
Hierbei leuchtet auch die fundamentale Rolle der Hoffnung im Leben des Gläubigen auf. Ehe wir von der Bedeutung der Hoffnung im Verhältnis des Christen zur Ewigkeit sprechen, müssen wir kurz auf das Wesen der Hoffnung im allgemeinen hinweisen.
Zunächst wollen wir sie von anderen Akten wie Erwarten, Wünschen u.a. abgrenzen. Ferner haben wir die Hoffnung des Ungläubigen von der des Christen und endlich die natürliche von der übernatürlichen Hoffnung zu unterscheiden, die eine der drei theologischen Tugenden ist.
Die Hoffnung ist eine der Urhaltungen, ohne die der Mensch nicht leben könnte. Wir meinen jene Haltung in Situationen, in denen wir vor dem unbestimmten Ausgang eines Unternehmens stehen und über die Erwartung hinaus, die sich auf rationale Gründe stützt, auf einen günstigen Ausgang hoffen, vor allem, wenn uns ein großes Übel bedroht oder uns die schwere Krankheit eines geliebten Menschen mit tiefer Sorge erfüllt und wir trotz der geringen Chancen auf Genesung hoffen. Die Hoffnung rechnet immer mit dem möglichen Eingreifen einer Vorsehung. Selbst ein Atheist - zumindest jemand, der sich dafür hält - rechnet, sobald er hofft, doch mit der Existenz und dem Eingreifen eines allgütigen, allmächtigen Wesens, auch wenn jeder natürlichen Kausalität gemäß ein Übel unabwendbar erscheint.
Diese Hoffnung ist eine jener Grundhaltungen des Menschen, in denen sich seine Ur-Zuordnung auf Gott, die unleugbare Realität seiner metaphysischen Situation, über alle Theorien und Meinungen hinaus sieghaft durchsetzt. Ohne diese Hoffnung wäre das Leben unerträglich, es sei denn, sie würde durch einen trügerischen Optimismus ersetzt.
Es gibt Menschen mit rein vitalem Optimismus, die wie gewisse Puppen immer wieder auf ihre Füße fallen. Dieser vitale Optimismus unterscheidet sich radikal von der Hoffnung, in der der Mensch gleichsam Flügel bekommt, "wacher" wird, die Schranken und Grenzen, in die er sich selbst einsperrte, durchbricht, in der ein mildes Licht auf alle Ereignisse fällt. Sie ist eine spezifisch geistige Haltung des Menschen. Der vitale Optimismus, der den Menschen durch alle Prüfungen hindurchträgt, ist auf einer großen Illusion aufgebaut. Er macht uns blind für die metaphysische Situation des Menschen und ist keine geistige, sondern eine vitale Haltung. Ein von Hoffnung erfüllter Mensch wird schöner in seiner Hoffnung. Sein Anblick ergreift uns. Ein Mensch voller natürlichem vitalem Optimismus ergreift uns in keiner Weise; er wird durchaus nicht schöner, eher ruft er ein gewisses Lächeln unsrerseits hervor. In der Hoffnung auch der natürlichen - wird der Mensch objektiver; er ragt über seine subjektive Umwelt hinaus. Im vitalen Optimismus wird er subjektiv, er missdeutet die Wirklichkeit und wird eine Beute seiner vitalen Tendenzen und Wünsche.
Aber die edle natürliche Hoffnung gewinnt bei einem Christen offenbar noch einen anderen Charakter. Sie setzt nicht nur objektiv, gleichsam stillschweigend, die Vorsehung Gottes voraus, sondern stellt eine bewusste ausdrückliche Antwort auf den barmherzigen Gott dar, der sich uns in Jesus geoffenbart hat. Sie ist zutiefst dem Bittgebet verwandt, in dem wir uns an Gott, den Allmächtigen und unendlich Gütigen, wenden, den günstigen Ausgang eines für uns bedeutsamen Geschehens oder die Abwendung eines furchtbaren Übels erflehend.
Wir können nicht im einzelnen auf den Unterschied zwischen der Hoffnung, die im bewussten Glauben an den Gott der christlichen Offenbarung fundiert ist, und jener eingehen, die Gott nur stillschweigend voraussetzt. Auf diesen offenkundigen Unterschied wiesen wir in mehreren Publikationen hin, in denen wir die übernatürliche oder christliche Sittlichkeit von der bloß natürlichen trennten.
Es mag verwirrend sein, dass wir diese Hoffnung als natürliche bezeichnen und sie der übernatürlichen Tugend der Hoffnung entgegenstellen. Warum wir dies tun, wird bald verständlich werden.
Die Hoffnung hat vieles mit der Erwartung gemeinsam, aber sie unterscheidet sich dadurch deutlich von ihr, dass sie immer Gott und die Vorsehung voraussetzt, während sich die Erwartung auf rein natürliche Chancen stützt und die Vorsehung nicht voraussetzt. Außerdem gilt die Hoffnung immer einem objektiven Gut für uns, während sich die Erwartung ausserdem auf neutrale Dinge und auf Übel beziehen kann.
Darin ähnelt die Hoffnung dem Wünschen. Aber von diesem unterscheidet sie sich gerade durch das, was sie mit dem Erwarten gemeinsam hat: das Thema des Eintreffens von etwas Zukünftigem. Wie wir sahen, rechnet die Hoffnung notwendig mit einem allmächtigen und allgütigen Gott. Diese objektive Voraussetzung alles Hoffens liegt beim Ungläubigen und Atheisten nur implicite vor. Er ist sich dessen nicht bewusst, aber er setzt sie in der Tiefe "ungewusst" voraus.
Die Hoffnung enthält ihrem Wesen nach eine Antwort auf ein objektives Gut für mich. Sie ist erstens keine ausschließliche Wertantwort wie Bewunderung, Begeisterung, Verehrung, Liebe und Anbetung. Sie antwortet immer auf ein objektives Gut für mich bzw. auf den Wegfall eines objektiven Übels für mich. Sie ist zweitens immer auf ein Zukünftiges gerichtet, das ich noch nicht besitze. Auch dies unterscheidet sie von der Liebe und Verehrung. Darin ähnelt sie dem Willen, der sich in der Handlung auf das Realwerden eines Sachverhaltes richtet. Sie stellt aber insofern das Gegenteil des Willens dar, als es für die Hoffnung wesentlich ist, dass das Realwerden des erhofften Sachverhaltes nicht in meiner Macht liegt. Das Wort des Willens in der Handlung: "Du sollst real werden, und zwar durch mich" ist in der Hoffnung nicht vorhanden. Wohl aber wünsche ich immer das Erhoffte - wie in vielen Fällen auch das Gewollte.
Der Unterschied zwischen Wollen und Hoffen wird dadurch nicht aufgehoben, dass der Christ auch die Realisierung des Gewollten erhofft, insofern er sich bewusst ist, dass er in allem von Gott abhängt und dass der glückliche Ausgang auch dessen, was er mit seinen eigenen Kräften verwirklichen soll und kann, von Gottes Hilfe abhängt (44). Die Hoffnung begleitet darum auch alle Handlungen. Aber der Unterschied des inneren Wortes im Wollen und im Hoffen wird dadurch nicht aufgehoben. Der günstige Ausgang meiner Handlungen, auf den sich die Hoffnung bezieht, steht eben nicht in meiner Macht - er bezieht sich gerade auf das, was nur Gott gewähren kann, auch wenn ich meine eigenen Kräfte zur Realisierung eines Sachverhaltes einsetze.
Die Hoffnung enthält, wie gesagt, als weiteres Merkmal auch ein Element der Erwartung. Sie nimmt zur Frage des wirklichen Eintretens des gewünschten Sachverhaltes Stellung und rechnet damit, dass er real werde. In dieser Hinsicht ist sie mehr eine theoretische als eine affektive Antwort. Sie besitzt ein Element der Überzeugung. Hierin hebt sie sich deutlich vom Wünschen ab. Am wichtigsten ist aber, zu verstehen, dass sie, obgleich ihr Formalobjekt das objektive Gut für mich ist, doch auch eine Wertantwort enthält - nämlich das Bauen auf Gottes unendliche Güte. Darin besteht gerade der entscheidende Unterschied der Hoffnung zu allem Wünschen und Erwarten. In der Überzeugung, dass etwas eintreten wird, liegt keinerlei Wertantwort, da sie eine rein theoretische Stellungnahme ist. Auch das Wünschen als im Gegensatz dazu rein affektive Stellungnahme ist nicht notwendig eine Wertantwort.
Die Wertantwort im Hoffen kann sich zwar, wie der Wunsch, auch auf das Formalobjekt richten, wenn das Erhoffte nicht nur ein objektives Gut für mich, sondern auch ein Träger hoher Werte ist. Aber die für uns wesentliche Wertantwort gilt nicht dem Formalobjekt, sondern der Güte Gottes, wie bei jedem echten Bittgebet. Im Hoffen liegt eine Wertantwort eigener Art, insofern sie nicht dem Wert des Formalobjektes gilt, sondern dem Wert dessen, was die Hoffnung sinnvoll macht, sie ermöglicht und begründet:
Gottes Allmacht und Güte. Dies ist offenbar eine ganz andere Beziehung zum Wert als in der Verehrung, Liebe, Anbetung. Es ist eine Beziehung des Rechnens mit der unendlichen Güte und Allmacht, ein Vertrauen auf sie, ein Glauben an sie. Damit rühren wir an die tiefe Verbundenheit von Hoffnung und Glauben. Auf diese werden wir später noch ausführlich zurückkommen.
Wir erwähnten bereits den großen Unterschied in der Qualität der Hoffnung, die nur stillschweigend, gleichsam unbewusst Gottes Güte voraussetzt, und jener des gläubigen Christen. Nun ist noch auf einen anderen Unterschied hinzuweisen, der von der Art des Formalobjektes herrührt. Es gibt schon eine große Abstufung innerhalb der natürlichen objektiven Güter, auf die sich unsere Hoffnung richten kann. Aber ein neuer, ganz entscheidender Unterschied besteht darin, ob das Formalobjekt der Hoffnung ein irdisches Gut oder die ewige Seligkeit ist. Die eigentliche theologische Tugend der übernatürlichen Hoffnung richtet sich auf die ewige Vereinigung mit Jesus und in Ihm und durch Ihn mit Gott Vater in der visio beatifica.
Im Unterschied zu dieser Hoffnung bezeichnen wir jede Hoffnung, die sich auf natürliche objektive Güter für uns richtet, als natürliche.
Bevor wir auf die übernatürliche Hoffnung eingehen, die wie Glaube und Liebe eine theologische Tugend ist, müssen wir noch kurz einiges über die natürliche Hoffnung sagen, die sich auf natürliche objektive Güter für die Person richtet.
Erstens kann diese Hoffnung nicht nur objektiven Gütern für uns selbst gelten, sondern auch solchen für andere Personen. Genesung erhoffen wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für einen anderen Menschen. Gewiss ist dessen Gesundung primär ein objektives Gut für ihn. Aber wenn wir ihn lieben und in dem Maß, in dem wir ihn lieben, wird sie auch ein objektives Gut für uns. Wie wir in unserem Buch Das Wesen der Liebe zeigten, gehört es zu jeder Liebe, dass wir uns nicht nur vom Standpunkt des Wertes in sich für alles interessieren, was dem anderen begegnet, was er tut und nicht tut, sondern auch "seinetwegen". Sein Glück ist auch für uns beglückend, sein Leid auch für uns ein Übel. Das ist ja gerade ein Merkmal der Liebe. Aber auch abgesehen davon sind in der persönlichen Beziehung der Liebe zu einem anderen Menschen, die nicht nur Nächstenliebe ist, viele objektive Übel für ihn auch direkte objektive Übel für uns, z. B. die Gefährdung seiner Gesundheit oder gar seines Lebens. Die Krankheit eines geliebten Menschen ist nicht nur ein großes Übel für uns, weil sie für ihn ein Übel ist, sondern wir zittern auch um ihn, weil sein Leben eine große Quelle des Glückes für uns ist (45).
So bleibt es wahr, dass das Formalobjekt unserer Hoffnung ein objektives Gut für uns ist, selbst wenn es sich um ein Gut für einen anderen Menschen handelt, den wir lieben, oder um ein Übel, das ihn bedroht.
Aber können wir nicht auch auf den Triumph der Gerechtigkeit hoffen? Kann das Formalobjekt unserer Hoffnung nicht auch der Träger hoher Werte sein und kein objektives Gut für uns? Können wir nicht z.B. auf den Zusammenbruch des Kommunismus hoffen, selbst wenn wir ihn nicht mehr erleben werden? Darauf ist zu antworten: Ein solches Ereignis wäre sowohl Träger eines hohen Wertes wie ein großes objektives Gut für die Menschheit. Auch in der Hoffnung, dass sich die ganze Welt zu Christus und seiner heiligen Kirche bekehre, ist das Objekt gewiss in erster Linie ein objektiver Wert in sich: die Verherrlichung Gottes. Aber es ist zugleich das höchste objektive Gut für alle, die sich bekehren.
So bleibt es richtig zu sagen: das Formalobjekt der Hoffnung stellt immer direkt ein objektives Gut für mich oder für andere und dadurch indirekt für mich dar.
Innerhalb der Formalobjekte der Hoffnung gibt es auch unter den Gütern hier auf Erden einen Unterschied darin, wieweit die Realisierung eines objektiv Wertvollen oder eines objektiven Gutes für die Person im Vordergrund steht.
Die theologische Tugend der Hoffnung
Wir wenden uns jetzt der Hoffnung als theologischer Tugend zu. Ihr Objekt ist unsere ewige selige Vereinigung mit Jesus und in Ihm und durch Ihn mit Gott Vater. Diese übernatürliche Hoffnung modifiziert für den gläubigen Christen tiefgehend den Aspekt des Todes.
Die ewige Seligkeit ist das höchste objektive Gut für den Menschen. Dieses Gut setzt die letzte glühende Liebe zu Christus voraus. Da die ewige, unzerstörbare Liebesvereinigung mit Jesus die visio beatifica ist, wäre sie nicht beatifica, wenn wir nicht Gott Vater über alles liebten.
Die Hoffnung auf die ewige Seligkeit setzt darum die Wertantwort der Liebe zu Gott voraus. Dazu kommt noch, dass Gott selbst dieses höchste Gut für den Menschen will und uns dazu bestimmt hat. Verscherzen wir es durch unsere Schuld, so ist dies auch in den Augen Gottes ein Übel.
Solange es sich um ein irdisches Gut oder Übel handelt und sei es das höchste Gut oder die Abwendung des furchtbarsten Übels -, sollen wir, wenn wir darum bitten, als letztes Wort hinzufügen: "Aber nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine." Der Hoffnung, dass Gott uns ein Gut gewähre oder ein Übel von uns abwende, soll dieser Akt gleichfalls zugrunde liegen, mit dem wir uns restlos dem Willen Gottes ergeben. Wenn es sich jedoch um unser ewiges Heil handelt, gibt es keinen Sinn, zu beten: "Herr, gib mir die ewige Seligkeit - aber nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine." Gewiss, wir können nie mit Sicherheit wissen, ob wir im Gericht vor Gottes Antlitz bestehen oder durch unsere Sünden die ewige Vereinigung mit Gott verscherzt haben. Doch ist diese Unsicherheit offenbar ganz verschieden von dem Gebet: "Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine!" (Lk 22,42).
Ohne Frage will Gott, dass wir die ewige Seligkeit von ganzem Herzen ersehnen. Sie nicht zu ersehnen wäre eine furchtbare Sünde. Wir können die ewige Seligkeit nur durch Beleidigungen Gottes verscherzen. Darum führt der Gedanke, man könne auf sein ewiges Heil zugunsten eines anderen Menschen verzichten, notwendig zu Absurditäten. Wenn der heilige Paulus ausruft, er sei bereit, auf seine ewige Seligkeit zu verzichten zugunsten der Bekehrung seiner Brüder dem Blute nach, den Juden, so ist dies ein ergreifender Ausdruck seiner Liebe zu ihnen; aber es ist ein in sich unmöglicher Verzicht. Denn im Gegensatz zu allen natürlichen Gütern kann man die ewige Seligkeit nur durch eine oder viele Beleidigungen Gottes verlieren. Die fast bis zu einem Exzess reichende Großmut eines solchen Verzichtes könnte Gott nie mit der Höllenstrafe für diesen so Großmütigen, heroisch Selbstlosen beantworten.
Nein, die Hoffnung auf das ewige Heil setzt nicht nur die reine Wertantwort der Liebe zu Gott voraus, sondern auch das Bewusstsein des unendlichen, objektiven Wertes der ewigen Seligkeit, die Gott will und die die Verherrlichung Gottes durch uns voraussetzt und einschließt. Wir sehen also, wie sich die Hoffnung auf die ewige Seligkeit qualitativ von der Hoffnung auf alle anderen objektiven Güter für die Person abhebt und welch unvergleichlichen Wert sie durch die zweifache Einbettung in die höchste, fundamentalste Wertantwort besitzt: in die Liebe zu Gott und in den Gehorsam gegen Ihn.
Diese übernatürliche Hoffnung verleiht dem Tod ein völlig anderes Gesicht, da er die Stunde der Begegnung mit dem Heiligen der Heiligen wird, in dessen Herz die ganze Fülle der Gottheit wohnt, mit dem Gottmenschen, für den wir geschaffen sind, mit dem Geliebten unserer Seele.
Diese Hoffnung setzt, wie gesagt, die letzte Liebe zu Jesus und in Ihm und durch Ihn zu Gott Vater voraus. Nicht nur die übernatürliche Hoffnung, auch die Liebe verleiht also dem Tod das ganz andere Gesicht. Nur durch die Liebe zu Jesus wird der Tod die Krönung des Lebens, der Anfang des wahren ewigen Lebens. Sie ist die Voraussetzung für die Sehnsucht nach der visio beatifica als der ewigen Seligkeit. Sie macht aus dem grauenvollen, unheimlichen, uns bedrohenden Tod, aus der "umbra mortis" (Schatten des Todes) den seligen Augenblick, in dem wir ins ewige Licht berufen werden.
Wir müssen uns klarmachen, dass im Licht der Offenbarung Christi der Tod ein völlig neues Antlitz gewinnt. In Christus, in Seiner Lehre, in Seiner Verheißung leuchtet der Sinn unserer Existenz klar auf: unser Leben auf Erden ist "status viae", Pilgerschaft, und das Leben nach dem Tod ist die Erfüllung.
Das "lumen Christi" (Licht Christi) erhellt das Dunkel des Todes. Ohne die Offenbarung Christi könnten wir den Tod nie in diesem Lichte sehen, könnten wir nicht auf die ewige Liebesvereinigung mit Gott hoffen. Ohne die Inkarnation, die Epiphanie Gottes in der heiligen Menschheit Jesu könnte diese letzte Liebe zu Gott nie in uns erblühen, ja ohne das Sakrament der Taufe und die Eingießung der heiligmachenden Gnade in unsere Seelen könnte sich diese übernatürliche Liebe nie in unserer Seele entfalten. Nur durch das "lumen Christi" kann der Tod seinen Schrecken verlieren und zur Stunde der Hochzeit der Seele mit Jesus werden. Aber dazu bedarf es von unserer Seite vor allem der Antwort des Glaubens an Christus und an das, was Er uns geoffenbart hat.
Darum wird der natürliche Aspekt des Todes mit seiner Nacht des Grauens dem Aspekt des Todes als der seligen Vereinigung mit Christus in dem Maß weichen, als unser Glaube, unsere Hoffnung und unsere Liebe wachsen.
Wir werden darauf noch ausführlich zurückkommen, wenn wir von der großen Aufgabe für jeden gläubigen Christen sprechen, den natürlichen Aspekt des Todes durch den übernatürlichen zu ersetzen.
Wie wir sahen, finden sich die beiden übernatürlichen Aspekte des Todes: Stunde des Gerichtes und Stunde der seligen Begegnung mit dem Bräutigam, im Leben der Heiligen teils in einer Koexistenz, teils steht abwechselnd einer von beiden im Vordergrund. Aber niemals darf einer ganz fehlen. Es hängt vor allem von Gott ab, welcher Aspekt im Vordergrund steht, ob Er eine Seele durch eine Nacht der heiligen Furcht prüfen will oder die beseligende Hoffnung in ihr erblühen lässt. Wunderbar sind die Worte des heiligen Hugo von St. Viktor, der bei seinem Tode gesagt haben soll, er danke Gott für die unendliche Gnade eines von tiefster Freude und liebender Sehnsucht erfüllten Todes. Ein solcher Tod ist eine besondere Gnade Gottes.
Dieser sieghafte Aspekt des Todes kann auch in anderer Weise hervortreten. So berichten die Zeugen des Sterbens des großen französischen Oratorianers Alphonse Gratry, bei seinem Tod hätten sie das deutliche Gefühl gehabt, eine Sonne gehe am Horizont unter. Der Zugang zur Seele des Menschen wird uns entzogen, nicht weil sie vergehen würde, sondern weil wir sie nach dem Eingehen in das Reich Gottes nicht mehr im verlassenen Körper wahrnehmen können.
Ganz anders als das Verhältnis der beiden übernatürlichen Aspekte zueinander ist ihr Verhältnis zum natürlichen Aspekt des Todes. Die auf der rationalen Ebene erreichte Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele und die daraus folgende Sicht des Todes verhält sich zur christlichen wie ein "praeambulum fidei" (eine Voraussetzung des Glaubens): Die rationale natürliche Überzeugung oder in vieler Hinsicht die bange Frage ist im christlichen Glauben eine existentielle Realität, die uns ständig vor Augen steht.
Nie werde ich vergessen, wie mir Adolf Reinach, noch bevor er Christ wurde, sagte: Der Tod ist der wichtigste Augenblick des Lebens, der Akt des Sterbens der wichtigste Akt. Reinach war ein glühender Verehrer Platons und diese seine Aussage war zweifellos von Platons Phaidon beeinflusst. Andrerseits war Reinach ein so auf die Wahrheit gerichteter Denker, dass ihn die "verba magistri" (die Worte des Meisters) nie dazu veranlasst hätten, so etwas zu behaupten, wenn es ihm nicht selbst als leuchtende Wahrheit aufgegangen wäre. Offenbar betrachtete er den Tod als Beginn des eigentlichen Lebens, als Übergang in den "status finalis". Aber der Tod war damals für ihn weder die Stunde des Gerichtes noch die der ewigen Vereinigung mit Jesus (46).
Hier treten die unterschiedlichen Aspekte des Todes: die rationale Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele und der Tod im "lumen Christi", deutlich hervor. Es ist der gewaltige Unterschied zwischen dem Licht der Metaphysik, der edlen Klarheit, die diese verbreitet, dem natürlichen "sursum corda" (Empor die Herzen!), das uns diese Sicht ermöglicht, und dem "lumen Christi", dem "sol justitiae" (der Sonne der Gerechtigkeit), dem erlösenden Emporgezogenwerden von Ihm, "der euch aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht berufen hat" (1 Petr 2, 9).
Der Unterschied, der uns jetzt beschäftigt, bezieht sich jedoch nicht auf den in der rationalen Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele begründeten natürlichen Aspekt des Todes, sondern auf den anschaulichen natürlichen Aspekt, den wir den naiven nennen könnten. Es geht um das Verhältnis dieses naiven Aspektes mit all seinem Grauen einerseits und die übernatürliche Sicht des Todes andrerseits.
Die Koexistenz des natürlichen und übernatürlichen Aspektes im Leben des Christen
An dieser Stelle erheben sich folgende Fragen für uns: Wie weit soll der Tod im Licht des christlichen Glaubens diesen grauenvollen, erfahrungsgemäßen Aspekt ersetzen? Soll er ihn völlig aufheben oder soll der furchtbare Aspekt bis zu einem gewissen Grad als untergeordneter Teilaspekt bestehen bleiben, den die christliche Schau des Todes sieghaft überschreitet? Das Wort, das die Kirche am Aschermittwoch den Gläubigen durch den Priester zuruft, der ihnen das Aschenkreuz auf die Stirne zeichnet: "Gedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst", weist eindeutig darauf hin, dass der natürliche Aspekt des Todes mit all seinem Grauen nicht ganz aus dem Bewusstsein des Menschen schwinden darf, obschon der christliche Aspekt, der ja allein der wahre ist, der eigentliche und endgültige für ihn werden soll.
Es ist geradezu ein Merkmal für die Größe, Wahrhaftigkeit und Klassizität der Liturgie der heiligen Kirche, dass sie den verschiedenen Aspekten des Todes gerecht wird. Das Gebet: "Herr, gib ihm die ewige Ruhe" betont das Aufhören aller Leiden, denen der Mensch im "status viae", in der "vallis lacrimarum" ausgesetzt ist, und ebenso die Bewahrung vor der ewigen Verdammnis. Wäre dies das einzige Wort, das die heilige Kirche zu dem Verstorbenen spricht, so wäre es ganz unbefriedigend, ja verwirrend. Aber das zweite Wort: "und das ewige Licht leuchte ihm" schließt nicht nur das von höchster, unvorstellbarer Wachheit und Bewusstheit erfüllte Sein der menschlichen Person in der Ewigkeit ein, sondern es lässt auch den wahren Sinn der "requies aeterna" (ewige Ruhe) aufleuchten. Dank des "lux perpetua luceat ei" (ewige Licht leuchte ohm) ist jedes Missverstehen des Todes als eines bloßen Wegfalls aller Leiden, aller Sorgen, alles tiefen Unfriedens beseitigt. So sehr das "requies" und "requiescat" diesen Aspekt des Todes und die Analogie von Tod und Schlaf betont, er bleibt doch nur ein negativer Aspekt. Denn der Wegfall der Leiden ist noch keine Seligkeit. Schon hier auf Erden ist das Aufhören eines Leidens, z.B. einer schweren Krankheit, von einem rein positiven Geschenk Gottes wie einer großen menschlichen gegenseitigen Liebe oder gar einer von Gott empfangenen Gnade zutiefst verschieden. Das Wort "lux perpetua luceat ei" weist dagegen auf die positive ewige Seligkeit hin.
Beides muss ausgesprochen werden. In ihrem wunderbaren Realismus wird die Kirche allen Aspekten gerecht. Zur ewigen Seligkeit gehört notwendig der Wegfall aller Leiden; denn Gott wird alle Tränen abwischen. Gerade hierin leuchtet ein wesentlicher Unterschied zur "vallis lacrimarum" auf.
Das Hineinklingen des natürlichen Aspektes des Todes als "Erlösung" ist auch in dem Wort "somnum pacis" (Schlaf des Friedens) enthalten, aber es ist ein "somnum pacis". Wir dürfen nicht vergessen, dass das Wort "pax" (Friede) im religiösen Zusammenhang durchaus nicht nur die Bedeutung von Abwesenheit aller Unruhe und Zerrissenheit, aller Qual und alles Leidens hat. Nein, die "pax Christi" hat einen ganz positiven Sinn. Sie strahlt auf in den Worten Christi an die Apostel "pax vobis" ("Friede sei mit euch"). Wir bitten in jeder heiligen Messe "dona nobis pacem" ("gib uns den Frieden"). Sie lebt in dem franziskanischen Gruß "Pax et bonum" ("Friede und Heil"). Die pax Christi enthält die Süßigkeit der Einheit mit Gott. Sie ist ein Element der ewigen Seligkeit.
Im Wesen der Erlösung liegt sowohl der Wegfall des Negativen wie die Erlangung des rein Positiven. Die Erlösung ist zunächst das Befreitwerden von der furchtbaren Trennung von Gott. Sie enthält die "reconciliatio" (Versöhnung) mit Gott. Ohne den Sündenfall und ohne die zahllosen, auf Erden begangenen Sünden wäre eine Erlösung nicht notwendig. Die Erlösung vollbringt die Reinigung von den Sünden, die Befreiung von deren Ketten, die Wiedergeburt in Christus als neue Kreatur. Aber vor allem errettet sie uns von der ewigen Verdammnis, schenkt uns die "salvatio" (Rettung) und öffnet uns, unlöslich damit verbunden, das Tor zur ewigen Seligkeit. Gewiss, das Geheimnis der Erlösung ist unausschöpfbar. In diesem einen Wort liegt eine Welt von Seligkeit. Sie ist ein Ausfluss der göttlichen Barmherzigkeit und zutiefst mit dem Mysterium der Inkarnation und mit dem Kreuzesopfer Christi verbunden. In der Erlösung liegt die Befreiung von allen Übeln, die Tilgung jeder Schuld und vor allem das Aufleuchten der ewigen Seligkeit.
In einem gewissen Sinn ist für die übernatürliche Sicht des Todes die irdische Existenz ein Schlafen und der Tod der Beginn einer über alle Vorstellung hinausreichenden Wachheit und Intensität des personalen Seins, der unfassbaren Seligkeit der ewigen Liebesvereinigung mit Jesus, die in den schon zitierten Worten angedeutet ist:
- "Jesu, quem velaturn nunc aspicio,
- Oro, fiat illud, quod tarn sitio:
- Ut, te revelata cernens facie,
- Visu sim beatus tuae gloriae."
In wunderbarer Weise spricht auch die heilige Theresia von Avila über eine späte mystische Erfahrung. Sie vergleicht diese ausserordentliche Ekstase, die sie ein Erhobenwerden in den Himmel nennt, mit dem Tod bzw. mit der Seligkeit, die wir nach dem Tod erhoffen.
Wesenhafte und schuldhafte Vergänglichkeit
Wir sahen früher, wie uns bereits innerhalb des natürlichen Aspektes der Welt ein geheimnisvoller Widerspruch entgegentritt. Auf ihn müssen wir bei der Frage nach dem Verhältnis des natürlichen grauenvollen Aspektes des Todes zu dem übernatürlichen zurückkommen.
Zwei Grundaspekte durchziehen erfahrungsgemäß die Welt und das Leben schon auf der natürlichen Ebene. Der eine ist die furchtbare Vergänglichkeit des Lebens und der Dinge, selbst vieler schöner Dinge. Er kommt in dem bitteren französischen Sprichwort zum Ausdruck: "Tout lasse, tout casse, tout passe, il n'y a que le souvenir qui reste." ("Alles schwindet, alles zerbricht, alles geht vorbei, nur die Erinnerung bleibt").
Auf der anderen Seite steht die Unvergänglichkeit der großen Werte vor uns: aller sublimen Schönheit, aller tiefen Liebe, besonders der transzendenten Größe wahrer Sittlichkeit. Sie enthalten ein Versprechen von Unvergänglichkeit. Wie richtig sagt Goethe von dem seligen Ineinanderblick der Liebe: Er muss ewig sein - sonst wäre er nichts! (47).
In der Seele des Menschen leben zwei Tendenzen, die eine ist auf den Wechsel gerichtet und verlangt sogar nach ihm. Das Verharren bei ein und derselben Sache lässt uns abstumpfen für ihren Wert; wir fühlen das Verlangen nach Wechsel, den Anreiz des Neuen, Unbekannten. Auf der anderen Seite erleben wir die Tragödie der Unbeständigkeit. Der Wechsel wird als etwas tief Schmerzliches empfunden. Er ist nicht mehr wie für den Oberflächlichen etwas Reizvolles, Begehrenswertes; nein, er ist die Tragödie des Lebens, wie es das bittere, oben zitierte Wort ausdrückt. Wie groß ist die Zahl der Liebenden, denen der Geliebte nicht die Treue hält! Wie oft wird ein tiefes Versprechen nicht gehalten! Wie oft verlieren Dinge für uns ihre große Bedeutung, sobald unsere Umgebung wechselt! Wie viel gute Vorsätze versinken, wie viel Hoffnungen auf Konversionen erfüllen sich nicht!
Es gibt vieles, was seinem Wesen nach unveränderlich ist, wie die Werte als solche: die Güte, die Gerechtigkeit, die Schönheit der Reinheit, die ergreifende Größe der Großmut und Treue. Sie sind unvergänglich und tragen ein Versprechen für eine Ewigkeit in sich, die uns und unsere Existenz erwartet. Nicht nur die sittlichen Werte enthalten diese Unveränderlichkeit und dieses Versprechen, sondern auch die Schönheit der Natur und der Kunst, die metaphysische Wahrheit und vor allem jede tiefe Liebe.
Die Träger vieler Werte sind jedoch dem Rhythmus der Vergänglichkeit ausgesetzt. Ein Mensch kann sittlich herunterkommen und seiner Tugenden verlustig gehen, eine herrliche Landschaft durch Naturgewalten oder durch Industrialisierung vernichtet werden. Ein herrlicher Palast, eine einzigartige Kirche, eine wunderbare Skulptur kann zerstört werden, ein Bild von größter Schönheit verbrennen.
Der Rhythmus des Vergehens, der die ganze bekannte Welt durchzieht, besonders der unerbittliche Rhythmus von Leben und Tod in der ganzen belebten Natur, dringt oft auch in jene Haltungen des Menschen ein, die ihrem Sinn und Wesen nach nie vergehen sollten. Aber während der Vergänglichkeitsrhythmus von Leben und Tod unvermeidlich ist, gibt es bei den Haltungen, die ihrem Sinn und Wesen nach auf Ewigkeit abzielen, tatsächlich solche, die ein Leben lang bestehen: Versprechen, die nie gebrochen werden; eine Liebe, die bis zum letzten Hauch eines Menschen dauert; ergreifende absolute Treue.
Zwei entgegengesetzte Melodien tönen in diesem Leben an unser Ohr: das Lied der Vergänglichkeit und das Lied des ewigen Bestehens. Sie widersprechen sich nur, wenn eine von ihnen alles zu umfassen beansprucht. In Wirklichkeit gibt es sowohl Dinge, die ihrem Wesen nach vergänglich, wie solche, die ihrem Wesen nach unvergänglich sind, und solche, die vergehen können, aber bestehen sollten.
Dass vieles vergeht in unserem Leben, steht ausser Zweifel und ist in sich nicht tragisch, wenn auch das Vergangensein noch so viele metaphysische Rätsel enthält.
Dagegen rührt das, was vergehen kann, aber bestehen könnte und sollte, an den tiefsten Punkt unseres personalen Seins; dieses Vergehen wird tragisch. Denn in unserer Seele lebt zutiefst die Sehnsucht nach dem Unvergänglichen, Ewigen, vor allem die Sehnsucht nach dem ewigen Leben, dem Fortbestehen der Seele. Das unermessliche Gut der personalen Existenz, das wir selten zum ausdrücklichen Objekt unserer Betrachtung machen, steht eindringlich vor unserem Geist, es durchzieht wie ein Orgelton unser ganzes Leben.
All unsere Untreue Gott und jenen Menschen gegenüber, zu denen uns Gott eine tiefe Liebe ins Herz gelegt hat, gehört zu diesem tragischen Aspekt der Welt. Er zeigt sich uns auch in der Untreue anderer Menschen, wenn wir erfahren, dass Haltungen in ihnen aufhören, die ihrem Wesen nach unbegrenzt dauern sollten.
Aber jene Dinge, die, wie die Werte als solche und die metaphysische Wahrheit, ewig sind und das Versprechen enthalten, dass es eine Ewigkeit gibt, verkünden etwas, was dem naiven Aspekt unseres sowie des Todes aller andern Menschen und in einzigartiger Weise des Todes der von uns tief geliebten Menschen widerspricht.
Der christliche Sinn des Todes als Strafe und als Entscheidung über unser ewiges Schicksal
Blicken wir jetzt auf die radikale Veränderung, die der Tod und das Gesamtbild unseres irdischen Lebens - mit den zwei Melodien, den zwei Aspekten der Vergänglichkeit und des Unvergänglichen - durch das "lumen Christi" erfährt.
Der oft mit schweren körperlichen Leiden verbundene Tod ist im Lichte der göttlichen Offenbarung eine Strafe für die Erbsünde (48). Im Paradies sollte es nach christlicher Lehre den Tod mit all seinem Grauen nicht geben, sondern nur einen seligen Übergang vom "status viae" in den "status finalis".
Durch seinen Charakter als Strafe verliert der Tod seine Sinnlosigkeit, die darin liegt, dass das Niedere das Höhere zerstört. Ein Leiden, das eine Strafe Gottes ist, hat einen tiefen Sinn und wird dadurch in das urbedeutsame Verhalten Gottes zu der Schuld des Menschen einbezogen. Der Tod wird aus der Öde eines unabwendbaren Rhythmus, der sich jenseits und unabhängig von all dem, was einen Wert hat, unbegreiflich vollzieht, in das helle Licht der großen Urantithese von Gut und Böse gerückt.
Der natürliche Aspekt des Todes erfährt durch den Glauben zwei Veränderungen: Erstens erhält der Tod einen Sinn als Strafe für die Erbsünde. Ungleich tiefer ist jedoch die zweite Veränderung: nach dem Tod fällt die große Entscheidung über unser ewiges Schicksal.
Ist das Sterbenmüssen als allgemeines Schicksal des Menschen eine Strafe für die Schuld Adams, so bezieht sich das Gericht, das jeden einzelnen nach dem Tod erwartet, darauf, ob dieser bestimmte Mensch mit dem Festgewand bekleidet ist oder nicht, d.h., ob er im Stand der Gnade, in der Gott suchenden und Gott liebenden Grundhaltung starb. Dieses Gericht führt zur ewigen Verdammnis oder zur ewigen Seligkeit. Wir sehen ihm mit Furcht und Hoffnung entgegen.
In diesem Aspekt ist der Tod keinesfalls das, was er im naiven natürlichen zu sein scheint. Er ist alles andere als der Augenblick, in dem alles versinkt, was uns in unserem Leben tief bewegte, was wir getan oder unterlassen haben. Gerade in diesem Moment ist es von höchster Bedeutung, wie wir gelebt haben. Gewiss verblassen die Dinge, die wertlos waren und uns nur als angenehm anzogen, besonders all die weltlichen Interessen, die uns beschäftigten, in Bedeutungslosigkeit. Aber ob wir auf Gottes Gebote die Antwort gaben, die wir geben sollten, ob wir Jesu Ruf folgten oder nicht, ob wir uns sehnten, in Christus umgestaltet zu werden und unser ganzes Leben unter diesem Gesichtspunkt lebten, gewinnt eine ausserordentliche, die wahre, die wahrhaft gültige Bedeutung.
Viele Menschen verstehen nicht, welches Gewicht unser Verhalten in diesem Leben in den Augen Gottes hat. Der Mensch nimmt sich ihrer Ansicht nach zu wichtig. Sie erblicken in der Bedeutung, die unser Leben vom sittlichen und religiösen Standpunkt aus vor Gott besitzt, eine Art Anthropozentrismus, ja etwas mit der absoluten Majestät Gottes Unverträgliches. Sie haben noch nicht erfasst, dass es zur unendlichen Majestät Gottes gehört, der, wie der heilige Augustinus sagt, ein "Deus vivens et videns" (49) ist, der unendlich heilig und nach dem heiligen Johannes (1 Joh 4,8) die Liebe ist, den Menschen letztlich ernst zu nehmen, indem Er der Frage von Gut und Böse die höchste Bedeutung einräumt. Gott, der Allwissende, kennt uns durch und durch, wir können nichts vor Ihm verbergen, sagt doch der Psalmist: "Stieg ich hinauf zum Himmel. Du bist dort; stieg ich hinab zur Hölle, Du bist da" (Ps 139, 8) Christus selbst hat uns gelehrt: "Sogar die Haare eures Hauptes sind alle gezählt" (Lk 12, 7). Diese unfassbare Größe Gottes prägt sich im Ernstnehmen des nach Seinem Bild geschaffenen Menschen aus. Sie gipfelt gleichsam in der ewigen, absoluten Bedeutung, die Er dem Verhalten des mit freiem Willen beschenkten Menschen und damit der Antithese von Gut und Böse beimisst, die die Achse des geistigen Universums darstellt. Gewiss, wir müssen zittern vor dem Gericht Gottes. Aber wie entsetzlich wäre es, wenn es kein Gericht Gottes gäbe, wenn Er der Frage, wie wir mit unserem freien Willen antworteten, gleichgültig gegenüberstünde! Drückt sich im Gericht, in diesem letzten Ernstnehmen des Tiefsten unserer Seele nicht die unendliche Liebe Gottes aus?
Bedenken wir all dies, so tritt die vom naiven, natürlichen Aspekt radikal verschiedene Schau des Todes im Licht der Offenbarung klar hervor. Das Sterben, das uns das Tor zum "status finalis", zu der Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht öffnet, ist das Gegenteil des grauenvollen, mysteriösen Versinkens ins Nichts. Da uns in Jesus die Barmherzigkeit Gottes aufgeleuchtet ist, "dessen Allmacht sich vor allem im Schonen und Erbarmen offenbart", wie das Gebet der Kirche sagt (50), sollte der Aspekt des Todes als Tor zur ewigen Seligkeit alles andere überstrahlen.
Dass sich dieser sieghaft durchsetze und den natürlichen Aspekt der "certa moriendi condicio" ("des unabänderlichen Todesloses") überstrahle, ist eine große Aufgabe für jeden Christen, etwas, was er erstreben soll. Am Anfang des Weges vom natürlichen Aspekt des Vergehens, des "drohenden" Todes zum glorreichen Aspekt der Hochzeit der Seele mit dem Bräutigam steht das immer erneute Gebet zu Gott, Er möge uns diese Gnade gewähren.
Der Sieg des beseligenden Aspektes des Todes bedarf unserer Kooperation
Wie schon erwähnt, hängt es von der Stärke unseres Glaubens ab, wie weit sich dieser glorreiche Aspekt des Todes durchsetzt. Hier gibt es viele Stufen: von einem mehr konventionellen Glauben, der von der Umgebung und von bloßer Tradition getragen ist, bis zu einem persönlichen, lebendigen Glauben und von diesem bis zu dem unerschütterlichen Glauben, den wir bei Heiligen finden. Dieser sieghafte, Berge versetzende Glaube schließt den totalen Einsatz unseres Geistes, die absolute Sicherheit unserer Überzeugung ein.
Der Glaube ist eine von Gott verliehene Gnade; dennoch verlangt er eine große Kooperation unsrerseits. Unsere Seele muss für die Offenbarung empfangsbereit sein und frei auf sie antworten. Wenn Jesus zum Apostel Thomas sagt: "Selig, die nicht sehen und doch glauben" (Joh 20, 29), so bedeutet "Sehen" eben das natürliche Feststellen einer Tatsache. Damit ist keineswegs das Erfassen der Epiphanie Gottes in der heiligen Menschheit Jesu gemeint, die den heiligen Petrus in die Knie zwang und die Worte sprechen ließ: "Herr, geh weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch" (Lk 5, 8). Die, deren Glaube gepriesen wird, sind gerade jene, die die wahre Antwort auf die heilige Menschheit geben, von der die Weihnachtspräfation sagt: "Quia per incarnati Verbi mysterium nova mentis nostrae oculis lux tuae claritatis infulsit: ut, dum visibiliter Deum cognoscimus, per hunc in invisibilium amorem rapiamur."
In der Antwort auf die Epiphanie Gottes liegt eine freie Stellungnahme. Viele Menschen fliehen vor dem Glauben, verschließen ihre Seele, wenn die Gnade Gottes anklopft. Andere geben sich frei hin, öffnen ihre Seele für das Geschenk Gottes und beten um das Wachstum ihres Glaubens. Dass auch eine volle Kooperation unsrerseits im Glauben enthalten ist, dass auch für den Glauben das Wort des heiligen Augustinus gilt: "Der dich geschaffen ohne dich, rechtfertigt dich nicht ohne dich" (51), geht deutlich aus dem Worte Christi hervor: "Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden" (Mk 16,16). Da wir für unseren Unglauben verantwortlich sind und durch eine Nichtantwort auf die Epiphanie Gottes in Jesus und auf die christliche Offenbarung eine furchtbare Schuld auf uns laden, kann der Glaube nicht nur ein reines Geschenk Gottes sein wie eine charismatische Gnade. Schon darin, dass wir für das Wachstum unseres Glaubens beten sollen, zeigt sich die Bedeutung unseres freien Willens für den Glauben.
Der wahre, gültige, beseligende Aspekt des Todes als der seligen Vereinigung mit Jesus wird sich in dem Maß in unserem Leben durchsetzen, als unser Glaube wach, stark, lebendig, unerschütterlich ist.
Die Art unserer Kooperation im Glauben ist ein großes Geheimnis. Wieder rühren wir an die schon oft erwähnte "coincidentia oppositorum": Einerseits ist der Glaube reine Gnade - wir könnten ihn uns nie selbst geben -, andrerseits ist er eine freie Antwort unsrerseits. Diese beiden Tatsachen sind geheimnisvoll ineinander verwoben. Außer allem Zweifel ist der Glaube beides. Wie sich diese beiden auf den ersten Blick widersprechenden Elemente des Glaubens im einzelnen vereinen, bleibt ein großes Geheimnis. In unserem Zusammenhang genügt es zu sehen: Der Weg zur Vorherrschaft jenes Aspektes des Todes, der sich in dem Ruf: "Ecce, sponsus venit" ausdrückt, ist das Gebet um einen immer wachsenden Glauben und die Aktualisierung jeder möglichen Kooperation unsrerseits, um zu einem unerschütterlichen Glauben zu gelangen.
Über diese Aktualisierung im einzelnen zu sprechen, würde weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. Hier seien nur einige fundamentale Punkte erwähnt.
Vor allem müssen wir unseren Glauben vor allen Anfechtungen des Zweifels schützen. Gewiss erfahren wir aus dem Leben der Heiligen, dass Gott manchmal schwere Glaubensprüfungen über sie verhängte. Aber wir denken jetzt an jene Anfechtungen, die wir selbst verschulden, wenn wir in einer Überschätzung unserer Stärke glaubensfeindliche Bücher lesen, uns geistigen Inhalten zuwenden, die uns von Christus und vom wahren Glauben abziehen. Wir müssen den Glauben als kostbares Geschenk Gottes hüten, bewahren und uns unserer Schwäche in Demut bewusst sein.
Weiterhin gilt es, dem inneren Gebet einen entsprechenden Platz in unserem Leben einzuräumen, d.h., uns in kontemplativer Weise auf Jesus zu richten, indem wir uns in die Tiefe unserer Seele begeben und Jesus anbetend lieben. Wir sollten versuchen, gleichsam leer zu werden, von der uns umgebenden Wirklichkeit abzurücken und uns auf die absolute Realität Gottes zu konzentrieren. Wenn wir schweigen und Gott zu Worte kommen lassen, stärken wir unseren Glauben, öffnen wir uns mehr und mehr für das "Gezogenwerden" (Joh 6, 44).
Ferner ist die geistliche Lesung eine hilfreiche Nahrung für unsere Seele und für das Wachstum unseres Glaubens. Wie sehr kann uns ein Wort Christi, aber auch ein Wort der Apostel, eines Kirchenvaters, das Leben eines Heiligen mit Licht erfüllen und unseren Glauben vermehren!
Schließlich ist es von großer Bedeutung, die Botschaft Gottes in allen natürlichen hohen Gütern zu erfassen, uns von der Schönheit der Natur und Kunst in "conspectum Dei" (vor Gottes Angesicht) führen zu lassen, gleichsam innerlich die Linie auszuziehen, die von allen sittlichen Werten zu Gott führt. Wir sollen auch in dem tiefen Glück des Liebens und Geliebtwerdens - der gegenseitigen tiefen Liebe - das Wort erlauschen, das Gott darin zu uns spricht. "Amare in Deo" (Lieben in Gott) und "instaurare omnia in Christo" ("alles in Christus Erneuern" (Eph 1,10) sind unserer Freiheit anvertraut. Auch sie sind ein Weg für das Wachstum im Glauben.
Der Hinweis, dass der glorreiche Aspekt des Todes über den grauenvollen, angsterregenden Aspekt in dem Maß in unserem Leben vorherrschen wird, als unser Glaube stark, lebendig, zutiefst persönlich und die Achse unseres Lebens wird, darf nicht so verstanden werden, als sei dies der Grund, warum unser Glaube lebendig und unerschütterlich sein soll. Er ist in sich Träger eines unerhörten Wertes und erhält seinen Wert nicht dadurch, dass er den Aspekt des Todes zutiefst verändert. Das wäre ein radikales Missverständnis. Sicher ist es Gottes Wille, dass wir den Tod im übernatürlichen Licht sehen lernen. Aber der Glaube als solcher ist etwas noch ungleich Wichtigeres, unvergleichlich Wertvolleres. Er ist die zentrale Antwort auf Gott, auf die göttliche Offenbarung, auf Jesus, die Epiphanie Gottes, auf die ewige, absolute Wahrheit. Die übernatürliche Sicht des Todes ist nur eine Frucht des Glaubens. Wir sollen glauben, weil im Glauben an Gott die Antwort gegeben wird, die Ihm gebührt. Wir sollen an die göttliche Offenbarung glauben, weil sie die absolute Wahrheit darstellt. Die übernatürliche Sicht des Todes soll den natürlichen Aspekt sieghaft ersetzen, weil sie wahr ist, weil in ihr die absolute, übernatürliche Wahrheit aufleuchtet.
Nichts wäre unsinniger, als die subjektive Beglückung durch die übernatürliche Sicht des Todes als Ziel anzusehen und den Glauben als ein Mittel, sie zu erlangen. Das hieße sowohl diese Sicht als auch den Glauben von der Wahrheit loslösen. Eine pragmatische Auffassung des Glaubens kommt seiner völligen Verkennung gleich. Die übernatürliche Sicht des Todes als erstrebenswert anzusehen, selbst wenn sie eine Illusion wäre, zeigt eine völlige Blindheit für den Wert dieser Sicht, der nicht davon loszulösen ist, dass er der wahre, gültige Aspekt und nicht das Ergebnis einer Illusion ist.
Die Vorherrschaft des übernatürlichen Aspektes des Todes in unserer Seele hängt aber nicht nur vom Grad unseres Glaubens ab, sondern auch vom Grad der Liebe zu Jesus und durch Ihn und in Ihm zu Gott Vater. Auch hier gibt es eine große Stufenleiter, vom ehrfürchtigen Aufblick bis zu einer glühenden, sehnsüchtigen Liebe. Erst wenn die Liebe zu Jesus einen hohen Grad erreicht, wenn Jesus der Mittelpunkt unseres Lebens ist, wenn die Sehnsucht nach der Vereinigung mit Ihm alles andere Verlangen, Wünschen, Sehnen, Hoffen übertönt, kann der schmerzliche Abschied von all den hohen Gütern, die uns auf Erden beglücken, besonders von den vielen geliebten Menschen und vor allem von dem geliebtesten Menschen, sieghaft von der Seligkeit, Jesus von Angesicht zu Angesicht zu sehen, überstrahlt werden. Je größer, je tiefer, je unbedingter die Liebe zu Jesus, je stärker, ungestümer, ungeduldiger die Sehnsucht nach einer vollen Vereinigung mit Ihm ist, um so mehr verändert sich der Aspekt des Todes.
Alles Entsetzliche im natürlichen Aspekt des Todes, die furchtbare Zersetzung des Leibes, der Übergang in ein völlig Unbekanntes, das Versinken der ganzen uns umgebenden Realität für unseren Geist, tritt in den Hintergrund gegenüber der erhofften seligen Vereinigung mit dem unendlich Heiligen, dem Quell unserer Seligkeit, dem über alles Geliebten. Das Grauenvolle tritt in dem Maß in den Hintergrund, als unsere Liebe unbedingt, grenzenlos, ungeduldig ist - aber es verschwindet nicht ganz.
Die natürlichen Stufen sollen durchschritten, nicht übersprungen werden
Damit berühren wir ein allgemeines Gesetz. Der natürliche Aspekt darf - in allem - nie übersprungen werden, sondern muss von dem übernatürlichen überstrahlt werden. So soll das Leiden auf Erden nicht deshalb wie ein beglückendes Geschenk behandelt werden, weil man das Kreuz freudig für und mit Christus trägt. Es darf nicht die Stelle des natürlich Beglückenden einnehmen, auch nicht die der beglückenden übernatürlichen Geschenke, wie charismatischer Gnaden. Der Charakter des Kreuzes soll nicht verlorengehen. Auch ein freudig für Christus aufgeopfertes körperliches Leiden hört nicht auf zu schmerzen und verwandelt sich nicht in ein körperliches Wohlgefühl.
Dies ist ein durchgängiges Problem. Wir sind Menschen und sollen nicht aufhören, Menschen zu sein, indem wir in Christus umgestaltet werden. Wir müssen die rein menschlichen, natürlichen Aspekte kennen und gleichsam durch sie hindurchgehen und über sie hinauswachsen. Wenn man sich beim Tod eines geliebten Menschen - selbst wenn dieser heiligmäßig war und man zuversichtlich hoffen darf, dass er in die ewige Seligkeit eingegangen ist - nur freut, gibt man eine unvollständige Antwort. Erstens überspringt man gleichsam die Realität der furchtbaren Trennung von dem geliebten Menschen, die uns seiner Gegenwart in diesem Leben beraubt, und ausserdem das Übel, das der Tod für den Verstorbenen selbst darstellt. Dasselbe gilt, wenn einer bei der Nachricht, dass er in Kürze an einer Krankheit sterben wird, nur frohlockt. Dann wäre die Gefahr einer gewissen Verstiegenheit gegeben. Er tut so, als wäre der Tod keine Strafe, als stellte dieser auf der natürlichen Ebene kein großes Übel dar. Er ist dann sogar in Gefahr, die Furcht vor dem Gericht zu überspringen. Darum kommt die in sich sublime Antwort der liebenden Sehnsucht, das "Ecce, sponsus venit", nicht voll und echt zustande. Sie wird gleichsam "dünn" und verliert ihren vollen, gewichtigen Klang.
In manchen pietistischen Gedichten drückt sich ein Hang aus, den natürlichen Aspekt des Todes zu überspringen. Dadurch haftet an der an sich schönen Freude auf die Ewigkeit eine gewisse Dünne und ein Mangel an voller Realität. "O schlage doch, geliebte Stunde" und: "Mich ekelt, noch zu leben" sind Beispiele dafür. Dieses Überspringen der irdischen Realität gilt in keiner Weise von der Musik, die Bach auf diese Gedichte komponierte. Sie hat einen viel echteren und existentielleren Klang. Aber welcher Gegensatz zum Stabat Mater (52):
- "Quando corpus morietur,
- Fac, ut animae donetur
- Paradisi gloria"
- "Jesus, wann mein Leib wird sterben,
- Laß dann meine Seele erben
- Deines Himmels Seligkeit"
oder zu den bereits zitierten Worten aus dem Adoro te devote:
:"Jesu, quem velatum nunc aspicio,
- Oro, fiat illud, quod tam sitio:
- Ut te revelata cernens facie,
- Visu sim beatus tuae gloriae."
Dieses wahre Verhältnis zur vollen Realität und all ihren Aspekten ist von großer Bedeutung für die existentielle Fülle unserer Antwort. Es ist etwas Analoges wie das unerlässliche Durchschreiten gewisser Stadien in unserer Beziehung zu anderen Menschen, das wir in Liturgie und Persönlichkeit (53) als "discretio" bezeichneten.
Die echte gottgewollte Haltung zum Tod ist darum jene, die allen Aspekten des Todes in einer inneren Rangordnung gerecht wird, bei der der selige übernatürliche Aspekt das sieghafte letzte Wort hat.
Die Veränderung unserer Einstellung zur Welt durch die übernatürliche Sicht des Todes
Bevor wir auf die Frage eingehen, was wir für den Sieg der übernatürlichen Sicht des Todes über die natürliche tun können und sollen, müssen wir noch die Frage beantworten, wie unsere Einstellung zu dieser Welt durch die übernatürliche Sicht des Todes wird bzw. werden soll.
Wie schon erwähnt, tritt die wahre Hierarchie aller Dinge klar hervor, wenn wir unser Leben als "status viae" erkannt haben und dem "status finalis" in Hoffnung zugewandt durch dieses irdische Leben hindurchschreiten. Darum wird unser Verhalten auf Erden nicht weniger bedeutsam, sondern im Gegenteil viel bedeutsamer. Darauf müssen wir noch mehr im einzelnen eingehen.
Vieles wird bedeutsamer, vieles weniger bedeutsam. Unser Verhalten wird in mancher Hinsicht im Licht der Ewigkeit bedeutsamer; vieles, was uns beschäftigt und beunruhigt, wird unwichtiger. Wir könnten sagen, die wahre Hierarchie der Dinge, die in unserem irdischen Leben eine Rolle spielen, tritt im Licht der Ewigkeit und nur in ihm hervor. Wir meinen nicht die Hierarchie der Güter, die durch die Höhe ihres Wertes bestimmt ist. Um zu erfassen, dass die neunte Symphonie von Beethoven noch viel schöner und bedeutsamer ist als seine erste, ist ein Vergleich bei der im Licht der Ewigkeit nicht erforderlich. Dass Mord der Träger eines größeren sittlichen Unwertes ist als ein Diebstahl, ist ebenfalls einsichtig, ohne auf die Ewigkeit zu blicken. Wenn wir sagen, nur im Licht der Ewigkeit erschließe sich die wahre Hierarchie der Güter, so meinen wir: Das erste, unerlässliche Sollen besteht darin, Gott nicht zu beleidigen. Die Gottesliebe, die in den zwei Geboten, an denen nach Christi Wort das ganze Gesetz und die Propheten hängen, die erste Stelle einnimmt, manifestiert sich vor allem darin, dass wir Gott nicht beleidigen. Sowohl Gott durch die Sünde nicht zu beleidigen als auch alle anderen Manifestationen der Gottesliebe treten im Licht Gottes und der Ewigkeit als "unum necessarium" (das Eine, Notwendige) klar hervor. Daran schließt sich unlöslich die Nächstenliebe an.
Der heilige Johannes vom Kreuz sagt, wir werden nach dem Maß unserer Liebe gerichtet werden. Damit deutet er auf die Hierarchie hin, die wir im Auge haben. Alles, was wir in Bezug auf die sittlichen Gebote tun, hat einen unbedingten Vorrang und ein ganz anderes Gewicht als alle sonstigen Leistungen, so groß und wertvoll sie auch sein mögen. Im Licht der Ewigkeit erschließen sich viele Dinge, die uns hier ungeheuer beschäftigen - unsere finanzielle Situation, die angestrebte berufliche Stellung, das Ansehen, das wir genießen, und manches andere -, in ihrer Vergänglichkeit und relativen Unwichtigkeit. Das Schicksal des Nächsten hingegen und vor allem derer, mit denen uns ein besonderes Band der Liebe verbindet, verliert im Licht der Ewigkeit nichts von seiner Bedeutung.
Uns kommt es vor allem darauf an, zu zeigen, dass die Erfüllung dessen, was Gott in einer besonderen Situation von uns will, durch die Erwartung der Ewigkeit, die Sehnsucht nach der ewigen Vereinigung mit Jesus und in Ihm und durch Ihn mit Gott Vater an Bedeutsamkeit zunimmt. Auch kleine Erweise der Liebe, der Rücksicht auf andere gewinnen im Licht der Ewigkeit an Gewicht und Bedeutung, während alles "Weltliche" und viele Dinge, die zwar legitim, aber nicht wertvoll, sondern nur angenehm sind, in ihrer Vergänglichkeit als relativ unwesentlich erfasst werden.
Außerdem müssen wir betonen, dass es viele Geschenke Gottes gibt, die durch ihren Wert eine Quelle des Glückes hier auf Erden sind, auf die unsere tiefe Dankbarkeit die richtige Antwort ist, z. B. die Erkenntnis großer tiefer Wahrheiten, das "frui" (Genießen) der Schönheit in Natur und Kunst und allem voran die tiefe Liebesgemeinschaft mit anderen Menschen, sei es in der Freundschaft, in der Ehe, in der Beziehung zu Eltern, Kindern, Geschwistern oder in der Liebe schlechtweg. All diese Güter sollen wir voll würdigen. Dankbarkeit ist eine der fundamentalen Antworten, die wir Gott schulden. Zur echten Dankbarkeit gehört die Würdigung dessen, was Gott uns schenkt, das "frui" dieser Güter, das volle Erleben ihrer Fähigkeit, Glück zu spenden.
Die Sehnsucht nach der ewigen Liebesgemeinschaft mit Jesus und der visio beatifica wird weder die Zuwendung zu allem, was in einer gegebenen Situation Gott wohlgefällig ist oder was Gott von uns erwartet, noch die dankbare Würdigung aller Geschenke Gottes mindern. Im Gegenteil, die von einer ungestümen, ungeduldigen Liebe zu Jesus genährte Einstellung zum Tod und zur Ewigkeit wird uns wacher machen für diese Zuwendung zum "status viae".
Allerdings müssen wir noch zwei Situationen unterscheiden: Die Einstellung zu den täglichen Aufgaben muss offenbar eine andere sein, solange ein Mensch relativ gesund ist. Die Arbeit oder alle Arten notwendiger Verpflichtungen bleiben dann thematisch. So sehr die übernatürliche Sicht des Todes die Vorherrschaft gewonnen hat, sosehr die Sehnsucht nach der Ewigkeit die Seele erfüllt, der Geist muss all dem, was an täglichen Verpflichtungen vorliegt, zugewandt bleiben. Gewiss wird er alles in seiner Bedeutung für die Ewigkeit sehen und alles "Weltliche" wird zurücktreten: "Nihil solliciti sitis." - "Um nichts macht euch Sorgen" (Phil 4, 6). Wenn aber jemand krank daniederliegt und in dieser Krankheit mehr oder weniger die Todeskrankheit erblickt, wechselt das Thema. Dann ist das Sterben das Thema, dann sollen die ihn bisher beschäftigenden Aufgaben zurücktreten. Dann steht die Vorbereitung auf den guten Tod, auf die gottgewollte Haltung im Akt des Sterbens, "in hora morits nostrae" (in der Stunde unseres Todes) (54), im Vordergrund.
Diese volle Zuwendung auf die Ewigkeit schließt aber kein Sich-Abwenden von jenen Menschen ein, die wir lieben. Ganz im Gegenteil! Genauso wie der Schmerz der Trennung von den geliebten Menschen bestehen bleibt, so soll auch die Liebe zu ihnen einen besonderen Glanz erhalten. Die Nähe der Ewigkeit erhebt alles zu feierlicher Größe. Das Licht der Ewigkeit macht unser Herz wacher für alle, die wir lieben, und in dem Maß, als wir sie lieben. In dem von der ungestümen Liebe zum Bräutigam der Seele überfließenden Herzen erblüht auch die Liebe zu bestimmten Menschen noch voller. Beim Nahen des Todes versinkt alles Unwesentliche; alles wird wahrer, gültiger, endgültig.
Unser Weg zum übernatürlichen Aspekt des Todes
Wie wir sahen, ist es eine gottgewollte Aufgabe, vom natürlichen, naiven Aspekt des Todes zum übernatürlichen des "Ecce, sponsus venit" vorzudringen. Diese Antwort hat nicht nur eine große Bedeutung für unser Glück auf Erden, sondern ist auch Träger eines hohen Wertes. Erstens entspricht sie der geoffenbarten Wahrheit; zweitens ist sie eine Frucht des vollen, tiefen, lebendigen Glaubens und einer restlosen, sehnsüchtigen Liebe zu Jesus. Darum gehört es zu unserer Umgestaltung in Christus, zu diesem beseligenden Aspekt des Todes zu gelangen. Wie gesagt, liegt dies nicht völlig in unserem Machtbereich, so wenig wie der volle Glaube und die restlose glühende Liebe zu Jesus. Doch ist eine wesentliche Mitwirkung unsererseits vorausgesetzt. Daher versuchen wir nun, den Weg zu diesem Aspekt des Todes, soweit unsere Kooperation in Frage kommt, zu analysieren.
Je größer der Glaube und je größer, umfassender, ungeduldiger, sehnsüchtiger unsere Liebe ist, desto größer wird auch unsere Hoffnung sein, die hier auf Erden unsere spezifische Antwort auf die ewige Seligkeit ist. Sie setzt den Glauben an das Fortleben der Seele voraus. In ganz anderer Weise als in der Überzeugung von der Unsterblichkeit, die auf rationaler Ebene gewonnen wird, wissen wir durch den Glauben, dass unsere Seele nicht nur fortlebt, sondern dass wir durch den Tod in den "status finalis" übergehen. Die Offenbarung, auf die der Glaube antwortet, erschließt uns die große Alternative, die uns nach dem Tod erwartet: entweder die ewige Verdammnis oder die ewige Seligkeit, nach einer Reinigung im Fegfeuer oder unmittelbar.
Zudem ist der Glaube die Antwort auf die Offenbarung der unermesslichen Barmherzigkeit Gottes, die in den Worten Jesu am Kreuz zu dem reuigen Schächer: "Wahrlich, Ich sage dir, heute noch wirst du mit Mir im Paradies sein!" (Lk 23, 43) und in denen des Dies irae: "Salva me, fons pietatis" zum Ausdruck kommt.
Das Wissen um die unendliche Barmherzigkeit des lebendigen Gottes, "in dessen Hände zu fallen furchtbar ist" (Hebr 10, 31), bildet die Grundlage der Hoffnung auf die ewige Seligkeit. Aber die ungestüme Liebe zu Jesus, die brennende Sehnsucht nach der Vereinigung mit Ihm in ewiger seliger Gegenwart verleiht der Hoffnung eine zentrale Stelle in unserem Erdenleben. Sie wird auch von der Liebe in höchst bedeutsamer Weise getragen, jedoch ganz anders als vom Glauben. Die Liebe nährt sie mehr, der Glaube stärkt sie.
Wie wir bereits darlegten, leben in der Hoffnung wesensmäßig zwei Antworten. Die eine gilt dem Wirklichwerden eines Ereignisses. Sie teilt vieles mit der Erwartung. Die andere gilt dem Wert und der Beglückendheit des Erhofften. Man hofft nicht auf das Eintreten eines Übels. Dies teilt die Hoffnung mit dem Wünschen. Aber vor allem kann man nicht hoffen, ohne mit dem Eingreifen der Vorsehung zu rechnen. In der Hoffnung blicken wir auf den Tod als den Übergang zur ewigen Seligkeit - statt der ewigen Verdammnis -, obgleich wir uns bewusst sind, wie sehr sie Geschenk der Barmherzigkeit Gottes ist.
Die christliche Schau des Todes schließt aber auch das volle Verstehen unserer sittlich geforderten Antwort auf Gott ein. Die Sicht des Todes als Stunde des Gerichtes verbindet ihn in einzigartiger Weise mit der Frage von Gut und Böse. Gott Rede und Antwort stehen ist von der Frage unseres sittlichen Verhaltens im Leben nicht zu trennen. Der Glaube an Gott, den absoluten, gerechten Richter, lässt sich nicht vom Bewusstsein unserer Verantwortung loslösen. Darum enthält er auch das klare Erfassen der furchtbaren Sünde des Selbstmordes. Es ist überaus wichtig, zu erkennen, dass der Übergang von einer bloß natürlichen Sicht des Todes zur übernatürlichen auch die Anziehungskraft des Selbstmordes unwirksam macht. Die heilige Furcht vor dem Gericht schließt das lebendige Bewusstsein von der Sündigkeit des Selbstmordes ein.
Dasselbe gilt für die Sicht des Todes als Beginn der ewigen, seligen Liebesvereinigung mit Jesus. Der Selbstmord als schwere Sünde, als Beleidigung Gottes, steht in absolutem Widerspruch zu der ewigen Vereinigung mit Dem, Der gesagt hat: "Ihr seid Meine Freunde, wenn ihr tut, was Ich euch auftrage" (Joh 15,14).
Die Versuchung zum Selbstmord
Wir sprachen bereits von den verschiedenen Bedingungen, um die natürliche Sicht des Todes zu überwinden und zur christlichen Schau zu gelangen. Dazu gehört auch das klare Bewusstsein von der Sündigkeit des Selbstmordes. Dies gilt besonders für diejenigen, die anlagemäßig der Versuchung zum Selbstmord ausgesetzt sind. Sie müssen in besonderer Weise dazu erwachen, dass sie, befleckt von der Sünde des Selbstmordes, nicht vor dem Gericht Gottes bestehen können, ja vom Erlangen der ewigen Seligkeit ausgeschlossen werden. Sie müssen verstehen lernen, dass der Selbstmord die Heilung ihres Schmerzes geradezu vereitelt, ja das ersehnte Ziel unerreichbar macht. Dies gilt besonders für die tiefste Trauer über den Tod des geliebtesten Menschen. So berechtigt die Sehnsucht nach dem Tod in einem solchen Schmerz sein kann, so unsinnig ist der Selbstmord. Alle, die sich nach dem Sterben sehnen bzw. in ihm eine "Hintertür" sehen, müssen zu der Einsicht kommen, dass der Selbstmord ein untaugliches Mittel ist, um aus den furchtbaren Leiden des Diesseits in ein "besseres Land" zu entweichen, in dem alle Tränen getrocknet werden. Der wahrhaft erlösende Charakter des Todes schließt jeden direkten oder indirekten Selbstmord aus. Durch diese Sünde, die ja im Augenblick des "Abschlusses" begangen wird, für die es selten eine Zurücknahme in Reue gibt wie bei allen anderen Sünden, versperrt sich der Mensch gerade den Weg zu jenem Land, in dem alle Tränen getrocknet werden (55). Zur Sehnsucht nach der ewigen Vereinigung mit Jesus gehört notwendig auch das Bewusstsein, dass wir Christus gehören und nicht uns selbst.
Außerdem müssen sie sich vor Augen halten, dass die Frage unserer ewigen Seligkeit von unserem Verhalten in diesem Leben abhängt und unsere Umgestaltung in Christus hier auf Erden erfolgen muss. Darum ist der Selbstmord nicht nur, weil er Sünde ist, mit dieser Umgestaltung in Christus unvereinbar, sondern der willkürliche Abschluss unseres Lebens beraubt uns aller Möglichkeiten, Gott bis zu unserem von Ihm bestimmten Ende zu verherrlichen und an unserer Umgestaltung zu arbeiten.
Endlich sollten diese Menschen ihre Augen dafür öffnen, dass die Erde nicht nur eine "vallis lacrimarum" ist, sondern dass die Liturgie zugleich von ihr sagt: "Pleni sunt coeli et terra gloria tua" ("Voll sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit"). Sie müssen begreifen, wie unerlässlich die Dankbarkeit für die richtige Antwort auf Gott ist, dass sie auch für alle irdischen Geschenke Gottes notwendig zur Umgestaltung in Christus gehört und eine Voraussetzung für die ewige Seligkeit darstellt.
Unser ständiges Gebet um das Wachsen in Glaube, Hoffnung und Liebe enthält auch implicite das Gebet um einen Gott wohlgefälligen Tod und die Bitte, der Aspekt des Todes als ewige selige Vereinigung mit Jesus und in Ihm und durch Ihn mit der heiligen Dreifaltigkeit möge die Vorherrschaft in unserer Seele gewinnen. Denn die heilige Nüchternheit, die gleichfalls ein grundlegendes Element der Heiligkeit ist, sagt uns, welchen Versuchungen wir im Tode ausgesetzt sein können, wie plötzlich und unvermerkt er kommen und wie schwach unser Geist in einer längeren Krankheit werden kann. Oft erlebt man in schweren Krankheiten, wie viel schwerer es ist, in voller Wachheit zu beten und sich in die Arme des barmherzigen Gottes zu werfen. Dann erfahren wir, dass wir uns, solange es uns physisch gut geht, auf die Ewigkeit konzentrieren, Gottes Barmherzigkeit anflehen, den Glauben an unsere Erlösung durch Christus und gleichzeitig die Reue über alle unsere Sünden voll aktualisieren sollten. Vergessen wir nicht, wie plötzlich die Möglichkeit zum Beten, zur Reue aufhören kann, wenn jemand z. B. im Schlaf oder durch einen Schlaganfall stirbt. Ich selbst erlebte bei einer gefährlichen Kreislaufstörung, wie in einem Augenblick die Lebenskraft und das Bewusstsein schwinden, so plötzlich, dass man nicht einmal Zeit für einen Aufblick zu Jesus findet. Der Übergang vom vollen Bewusstsein und Wohlbefinden in die Nacht der Bewusstlosigkeit vollzieht sich so unmittelbar im Bruchteil einer Sekunde, dass für keinen Gedanken Zeit bleibt. Man fühlt nur den jähen Schwund aller Lebenskraft.
Die verschiedenen Arten der Liebe zu anderen Menschen im Hinblick auf den Tod
Verleiht uns Gott die Gnade, den Tod vorwiegend im Licht der ewigen seligen Vereinigung mit Jesus zu sehen, ohne alle anderen Aspekte zu überspringen, so bleibt doch der schmerzliche Abschied von denen, die wir tief lieben und vor allem von dem Menschen, den wir über alles lieben. Denn die Liebe zu menschlichen Personen, die Gott uns in besonderer Weise zugeordnet hat, wird nicht geringer, je größer, je tiefer, je sehnsüchtiger unsere Liebe zu Jesus ist. Ganz im Gegenteil! Je mehr wir Jesus lieben, um so tiefer werden wir auch menschliche Personen in dem echten "amare in Deo" lieben können.
Hier möchten wir noch darauf hinweisen, dass die Liebe zu uns zugeordneten Menschen, so groß und tief sie sein möge und welcher Kategorie sie auch angehöre, mit der unbedingten Hingabe unseres Herzens an Jesus nicht unverträglich ist. Sobald die Liebe zu Menschen ein "amare in Deo" und nicht "extra Deum" ist, wächst sie, je größer die Liebe zu Jesus wird.
Von dieser Liebe gilt nicht das gleiche wie von der Nächstenliebe. Die wahre christliche Nächstenliebe ist eine unmittelbare Folge der Liebe zu Jesus. Da sie caritas (56) ist, kann sie ohne die Liebe zu Jesus nicht existieren. Sie ist nicht nur eine Frucht der Liebe zu Jesus; ihre Tiefe, ihre Fülle hängt nicht nur ausschließlich von unserer Liebe zu Ihm ab, sondern sie erwächst notwendig aus ihr und kann nicht fehlen, wenn die unbedingte Liebe zu Jesus vorliegt. Die Nächstenliebe bedarf keiner besonderen Zuordnung, keines besonderen Liebespotentials, sobald die unbedingte Liebe zu Jesus, das LiebespotentiaI, das für die Liebe zu Jesus erforderlich ist, besteht. Gewiss, Menschen sind verschieden große Gefäße. Die letzte, größte Herzenshingabe des einen kann objektiv doch weniger groß sein als die des anderen. Aber der Zusammenhang zwischen der Nächstenliebe und der Liebe zu Jesus ist solcher Art, dass die Nächstenliebe notwendig mit der Liebe zu Jesus wächst. Bei dem, der ein größeres Liebespotential besitzt und dieses in seiner Liebe zu Jesus aktualisiert, ist auch die Nächstenliebe entsprechend größer.
Das Verhältnis zwischen der Liebe zu besonderen Menschen und der Liebe zu Jesus ist nicht solcher Art. Erstens kann eine Freundes-, Eltern-, Kindesliebe oder eine bräutliche Liebe usw, bestehen ohne die volle Liebe zu Jesus. Wenn sie kein "amare in Deo" ist, wird ihr zwar eine letzte Tiefendimension fehlen, aber sie kann doch eine große glutvolle Liebe sein. Denken wir an Orpheus und Euridike, an Alceste und an viele Beispiele, allen voran an Tristan und Isolde.
Der zweite, entscheidende Unterschied liegt darin, dass diese Liebe immer einer persönlichen Zuordnung bedarf, eines besonderen Wortes, das Gott zu den Liebenden gesprochen hat. Diese Liebe ist keine notwendige Frucht der Liebe zu Jesus. Jemand kann prinzipiell Jesus mit letzter Glut und Hingabe lieben, ohne dass in ihm eine Liebe zu irgendeinem besonderen Menschen lebt, die über die Nächstenliebe kategorial hinausgeht. Wir sagen: prinzipiell, denn das Fehlen jeder natürlichen Liebe zu einem bestimmten Menschen ist meistens ein Zeichen großer affektiver Armut. Im allgemeinen geht die unbedingte Liebe zu Jesus Hand in Hand mit der Fähigkeit, einen Menschen in irgendeiner Liebeskategorie zu lieben. Die Heiligen, in denen wir die große, strahlende, unbegrenzte Liebe zu Jesus finden, sind im allgemeinen auch einer großen Liebe zu bestimmten Menschen fähig. Denken wir an die Liebe der heiligen Theresia von Lisieux zu ihrem Vater, die des heiligen Augustinus zu seiner Mutter und seinem Sohn Adeodatus, die der heiligen Elisabeth zu ihrem Mann.
Ein dritter Unterschied zwischen dem Verhältnis der Liebe zu Jesus und der zu einem bestimmten Menschen einerseits und dem Verhältnis der Liebe zu Jesus und der Nächstenliebe andrerseits ergibt sich daraus, dass die Beziehung zu jenem Menschen eine besondere Zuordnung voraussetzt. Es ist also entscheidend, ob jemand einen Menschen trifft, der in dieser besonderen Weise an sein Herz appelliert. Die Liebe zu Jesus kann als solche nicht die besondere Zuordnung ersetzen, die für alle Kategorien natürlicher Liebe vorausgesetzt ist. Es bedarf für diese menschlichen Beziehungen auch noch der Fügung Gottes, dass wir einen Menschen treffen, der in uns Liebe erweckt. Wer Jesus letztlich liebt, braucht nie jemanden getroffen zu haben, der eine Liebe in seinem Herzen entzündete und sie erwiderte; auch die Erwiderung spielt ja für die menschlichen Beziehungen eine entscheidende Rolle.
Aber andrerseits ist es notwendig, zu sehen, dass die große Liebe zu einem Menschen ein Hindernis für die absolute Hingabe an Jesus bilden kann, solange sie kein "amare in Deo", keine Liebe ist, die bewusst und ausdrücklich in die liebe zu Jesus eingebettet wird, solange Er nicht der König der Beziehung ist und der Ineinanderblick der Liebe beider nicht in Jesus vollzogen wird. Für die Frage, wieweit die Liebe zu einem Menschen ein Hindernis für die letzte, unbedingte Hingabe an Jesus bildet, ist die Qualität dieser Liebe von großer Bedeutung. Eine leidenschaftliche, nur von vitalen Werten getragene Antwort der Liebe bildet ein größeres Hindernis als jene, deren Qualität bei aller Glut eine edle Geistigkeit besitzt und von unserem freien Personzentrum sanktioniert wird. Dennoch müssen wir sagen: Solange sie kein "amare in Deo" ist, kann die intensive Liebe zu einem Menschen, die den Liebenden ganz präokkupiert, ein Hindernis für die absolute Hingabe an Jesus darstellen.
Noch wichtiger ist es, zu betonen, dass ein "amare in Deo" eines bestimmten Menschen nie zu groß sein kann. Durchflutet von der "caritas", ohne dabei ihren spezifischen kategorialen Charakter zu verlieren, bildet diese Liebe in keiner Weise ein Hindernis für die totale Hingabe an Jesus. Nein, je größer die Liebe zu Jesus, um so stärker und tiefer ist auch die Liebe zu bestimmten Menschen.
Aber bleibt der Tod, selbst wenn er als Übergang zu der seligen Vereinigung mit Jesus vor uns steht, nicht doch tief schmerzlich wegen der Trennung von geliebten Menschen und vor allem dem geliebtesten Menschen? Bleibt nicht der große Schmerz über das Leid, das sie mit unserem Tod trifft, und ebenso unser Schmerz der zwar nur zeitweiligen Trennung von ihnen?
Gewiss, der Tod bleibt leidvoll und soll es bleiben, aber dieser tiefe Schmerz wird durch das "lumen Christi" verklärt. Mit dem radikalen, obgleich nur temporären Abbruch der Gemeinschaft mit der geliebten Person, mit dem beide treffenden Versinken der Gegenwart des anderen taucht eine ganz andere tiefe Gemeinschaftsdimension geheimnisvoll auf.
Der Mitvollzug der Zuordnung des geliebten Menschen zu Jesus Christus als letztes Wort der Liebe
Durch die Tatsache, dass alle Menschen, besonders jene, mit denen uns tiefe Liebe verbindet, auf Jesus zugeordnet sind, dass nur Er die Quelle der Seligkeit für sie sein kann, dass die Vereinigung mit Ihm und in Ihm mit Gott Vater und dem Heiligen Geist in ewiger Liebesgemeinschaft und das Gelangen zur visio beatifica die "raison d'être" für sie darstellt, wird der Schmerz der Trennung von den geliebten Menschen im Tod verklärt. Wenn die Stunde der großen Entscheidung naht und wir die Liebesgemeinschaft von Angesicht zu Angesicht mit Jesus erreichen, die für sie wie für uns das letzte Ziel ist, dann leuchtet eine ganz neue Gemeinschaftsdimension mit den geliebten Menschen auf.
Dies wird noch verständlicher, wenn wir auf diese Dimension der Liebe zu Menschen während unseres gemeinsamen Erdenlebens eingehen.
Wir wiesen in verschiedenen Publikationen (57) darauf hin, dass jede tiefe Liebe und besonders die exklusive bräutliche Liebe danach verlangt, in Jesus verankert zu werden. In unserer Metaphysik der Gemeinschaft betonten wir, dass jede tiefe, nicht in Jesus verankerte Liebe gleichsam eine steckengebliebene Liebe ist (58). Wir zeigten, dass die innerste Tendenz der Liebe, die "intentio unionis" und die "intentio benevolentiae" - man könnte sagen: der Genius der Liebe -, sich nur voll entfalten kann, wenn diese Liebe in Jesus verankert ist (59). Die "intentio unionis" erreicht nie völlig ihr Ziel, wenn sie nicht in jene Kammer in der Seele des Geliebten hineinreicht, für die nur Christus den Schlüssel hat. Wir meinen die tiefste Schicht, die unvergleichlich zentralste und wichtigste Kammer in der Seele und im Herzen des Menschen, in der die Beziehung dieser Seele zu Jesus wohnt. Bei den Menschen, die Christus nicht gefunden haben und Ihn nicht als den Gottmenschen anbetend lieben, bleibt diese Kammer leer. In der Liebe zu diesen Menschen können wir auch nie bis in diese Tiefe der "unio" vordringen. Wir bleiben mit aller Sehnsucht nach "unio" an der Schwelle der geliebten Person. Hat sie aber Jesus gefunden und wird diese tiefste Kammer von dem ewig geliebten Bräutigam der Seele bewohnt, so kann die Liebe und ihre "intentio unionis" nur in diese Kammer eindringen, wenn die Beziehung in Jesus verankert ist. Dasselbe gilt analog für die "intentio benevolentiae" (Intention des Wohl-Wollens).
Für diese einzigartige Bejahung des geliebten Menschen im Gestus der liebenden Umarmung seines ganzen Wesens ist es, wie gesagt, unerlässlich, zu verstehen, dass dieser Mensch für Jesus geschaffen ist, dass er Jesus gehört und nur Er ihm letztes Glück - nein, sogar die ewige Seligkeit schenken kann. In jeder tiefen Liebe in Jesus ist notwendigerweise auch ein innerer Gestus enthalten, der diese letzte Zuordnung beseligt nachvollzieht. Die Liebenden nehmen in einer Weise an diesem Mysterium teil, die weit über ein bloßes Wissen hinausgeht. Sie vollziehen diese letzte Zuordnung zu Jesus mit. Dieser Mitvollzug ist einerseits die höchste Erfüllung der "intentio benevolentiae", des brennenden Wunsches, dem geliebten Menschen möge die ewige Seligkeit zuteil werden, andrerseits eine beseligende Teilnahme an dem tiefsten Sinn, dem Geheimnis der Existenz des geliebten Menschen.
Es gehört zum Höhepunkt der "intentio unionis", dass wir diesen Mitvollzug auch als letzte Erfüllung unserer Liebe zu dem geliebten Menschen erleben.
Diese Konvergenz der Lebenslinien in Jesus, "rex et centrum omnium cordium" (König und Mittelpunkt aller Herzen), ist nicht nur ein besonderer Trost bei der grausamen Trennung im Tod, sondern spielt schon auf Erden eine zentrale Rolle bei jeder Liebe in Jesus.
Damit soll in keiner Weise die in unserem Buch: Das Wesen der Liebe (60) besprochene Dimension der Liebesgemeinschaft, der frontale Ineinanderblick der Liebe, zurückgedrängt werden. Ganz im Gegenteil, der Mitvollzug der Zuordnung der Seele des geliebten Menschen zu Jesus verdeckt nicht das Thema der frontalen Liebeshingabe an den anderen Menschen (61). Der frontale Ineinanderblick der Liebe in Jesus ist eine andere Dimension der Gemeinschaft als der Gestus des Mitvollzugs der letzten Zuordnung des geliebten Menschen zu Christus. Wir müssen ausdrücklich betonen, dass sie durch den Mitvollzug nicht überholt oder gar ausgeschaltet wird. Je mehr ein Mensch Jesus liebt, um so fähiger wird er, sowohl den Nächsten wie auch jene Menschen mehr zu lieben, mit denen ihn eine besondere, tiefe Beziehung verbindet.
Das hindert aber nicht, dass der Mitvollzug der letzten Zuordnung des geliebten Menschen zu Jesus in gewisser Hinsicht die Krone der Liebe, ihr letztes Wort und zugleich eine geheimnisvolle tiefe "unio" mit dem geliebten Menschen darstellt. Das Ideal ist natürlich, wenn er in derselben Weise, wie wir bei ihm, unsere letzte Zuordnung zu Jesus mit vollzieht.
Diese "unio" ist einzigartig, weil sie sich auf das Tiefste, Eigentlichste, Letztgültige bezieht, auf das Urthema des Menschen, das zugleich weit über die natürliche Ebene hinaus in unnahbare, geheimnisvolle Höhen reicht. Die visio beatifica, von der der heilige Augustinus (62) sagt: "Da werden wir feiern und schauen, schauen und lieben, lieben und preisen, was am Ende ohne Ende sein wird", ist ja zugleich das Allerintimste und das - im Sinn der heiligen "Öffentlichkeit" - Öffentlichste; sie ist das Tiefste, was sich zwischen Gott und der Einzelseele vollzieht, und zugleich das letztlich Gemeinsame mit anderen Seelen. Sie ist der Höhepunkt der "unio" mit Jesus, bei der alles andere versinkt, und zugleich die tiefste Gemeinschaft mit allen. Aber im Rahmen dieser umfassenden Gemeinschaft bildet auch die Vereintheit mit den besonders geliebten Personen und vor allem dem zutiefst geliebten Menschen ein ganz Eigenes, "Je bekannter, um so teurer", sagt der heilige Augustinus (63).
Dieser Mitvollzug der Zuordnung des geliebten Menschen zu Jesus ist eben, weil sie für den geliebten Menschen das letzte Thema und zugleich ein von Gott Gewolltes, von Jesus Erwidertes ist, in gewisser Hinsicht das letzte Wort der Liebe, die dem geliebten Menschen gilt. Sie hebt den frontalen Ineinanderblick mit ihm in keiner Weise auf, sondern ist seine Krone. Das Du wird nicht aufgehoben - aber es ist ein aus der tiefsten Ich-Du-Beziehung geborenes sublimes Wir.
Kehren wir zurück zu unserem Thema, der christlichen Sicht des Todes, die in den Worten: "Ecce, sponsus venit, exite obviam ei" in wunderbarer Weise ausgedrückt ist. Es sei noch auf die Bedeutung des "exite obviam ei" hingewiesen. Im Augenblick des Sterbens, des völligen Versagens und Schwindens aller Kräfte, ruft uns dieses Wort zu der spontanen Kooperation auf, Jesus entgegenzugehen. Welch wunderbare geheimnisvolle Bewegung der Seele hin zu ihrem Erlöser, ihrem Bräutigam und Geliebten! Welcher Sieg über den natürlichen Aspekt des Todes, der ja auch ein real erlebter ist!
Wir sahen: die christliche Sicht ist die Frucht des starken, tiefen Glaubens, der glühenden, ungeduldigen, sehnsüchtigen Liebe und der sieghaften Hoffnung.
Wir möchten schließen, indem wir darauf hinweisen, wie viele Abstufungen es in der Liebe zu Jesus gibt - von der ehrfürchtigen Liebe, die sich um die Nachfolge Jesu bemüht, die von dem Wort Christi beseelt ist: "Vos amici mei estis, si feceritis quae ego praecipio vobis", bis zu der glutvollen Hingabe unseres Herzens an Jesus im "commerce intime". In dieser Liebe erreicht die "intentio unio" (64) ihren Höhepunkt: "Dein Antlitz suche ich. Ja, Herr, Dein Antlitz will ich suchen" (64). Es ist die sehnsüchtige Liebe zu Jesus, das tiefste Verlangen, mit Ihm vereint zu sein, die ganz persönliche, intime, glutvolle Liebe zu Ihm, die uns beten lässt:
- "ln hora mortis meae voca me,
- Et jube me venire ad te,
- ut cum sanctis tuis laudem te
- in saecula saeculorum."
- "ln meiner Todesstunde rufe mich
- Und heiße zu Dir kommen mich,
- Damit ich möge loben Dich
- Mit Deinen Heiligen ewiglich." (65)
Erlauschen wir die Inbrunst und Ungeduld in dem "jube me"!
Diese von Sehnsucht überfließende, ungeduldige Liebe ist die Seele der glorreichen christlichen Sicht des Todes. Sie lässt unser Herz vor Wonne erzittern bei den Worten: "Ecce, sponsus venit, exite obviam ei."
Anmerkungen
1) Ethik, deutsche Ausgabe besorgt von Karla Mertens, 2. Auflage in den Gesammelten Werken, Bd.II, Kohlhammer, Stuttgart 1973, 27. Kapitel. S. 382f.; Das Wesen der Liebe, Bd. III der Gesammelten Werke Habbel. Regensburg 1971, Kap. III, S. 111 ff.; Kap. X, S. 303: Kap XII, S. 412f. und S. 415; Liturgie und Persönlichkeit, 4. Auflage in Idolkult und Gotteskult, Bd,VlI der Gesammelten Werke, ebd.1974, 3. Kapitel. ,Der Geist der Wachheit in der Liturgie', S. 249-262: vgl. auch. auch: Die Umgestaltung in Christus, 3. Auflage in den Gesammelten Werken Band X, ebd.1971: ,Die wahre Bewusstheit', S. 51 ff.
2) »Je mehr Bewusstsein, desto mehr Selbst.« Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, deutsch von W. Rest; Hegner, Köln und Olten 1956: erster Abschnitt, C. S. 50.
3) Canzone: A se stesso.
4) Le Mort de demain, acte II, scène VI, p.161 in Trois Piéces (Le Regard Leuf - Le Mort de demain - La Chapelle ardente), Plon, Paris 1931: "Aimer un être, c'est Iui dire: ,Toi, tu ne mourras pas." ("Einen Menschen lieben heißt zu ihm sagen: ,Du wirst nicht sterben.´")
5 Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, übersetzt von Georg Graten von Hertling; Herder, Freiburg i. Br. 1918; 4. Buch, 4. Kapitel.
6) Kap. IX - XII, St.64 - 67.
7) Werke und Briefe, ,Geistliche Lieder', I; Insel-Verlag, Leipzig 1942.
8) Responsorium oder Antiphon aus dem 11. Jahrhundert.
9) Gegen Ende des 5. Aufzugs: "Süßes Leben! schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens! von dir soll ich scheiden!",
10) Vgl. Ethik, 13. und 15. Kapitel. S. 183 ff.
11) Vgl.: Die Dämonen von F. M. Dostojewski, übertragen von E. K. Rahsin; Piper, München 1956; 3.Teil, 7. Kapitel, III, S.971: "Meine Unsterblichkeit ist schon deswegen ein Ding der Notwendigkeit, weil Gott doch nicht das Unrecht wird begehen wollen, das Feuer der Liebe, das nun einmal in meinem Herzen zu Ihm entbrannt ist, ganz auszulöschen. Und was ist kostbarer als die Liebe? Liebe steht höher als das Sein; Liebe ist die Krone des Seins. Wie sollte das Leben ihr nicht untertan sein? Wenn ich Ihn lieben gelernt habe und diese Liebe mir eine Freude ist - wie wäre es dann möglich, dass Er mich und meine Freude wieder auslöschte und uns in Nichts verwandelte? Wenn es einen Gott gibt, so bin auch ich unsterblich! Voilá ma profession de foi." (Das ist mein Glaubensbekenntnis.)
12) Platon, Apologie des Sokrales; vgl. insbesondere Kap. XXXI ff., St. 40 ff.
13) Der heilige Augustinus bringt diese Wahrheit in besonderer Weise zum Ausdruck, wenn er sagt: "Aber wie ein empfindendes Geschöpf, auch wenn es Schmerzen leidet, besser ist als ein Stein, den nichts schmerzt, so ist ein vernünftiges Wesen, mag es auch unselig sein, vorzüglicher als ein Wesen, das keine Vernunft, vielleicht auch keine Empfindung besitzt und darum für Unseligkeit nicht empfänglich ist." (De civitate Dei, XII, 1; Vom Gottesstaat, übertragen von Wilhelm Thimme; Artemis-Verlag, Zürich 1955; Bd.II, S. 63 f).
14) Wie Kierkegaard richtig gesehen hat, ist jede Form von Pantheismus innerhalb der verschiedenen Religionen der schärfste Gegensatz zur christlichen Offenbarung. Siehe dazu: Die Tagebücher 1834 - 1855, Auswahl und Übertragung von Theodor Haecker; 2. Auflage Hegner, Leipzig 1941, S. 99 (20.8.1838). und: Die Schriften über sich selbst, 33. Abteilung der Gesammelten Werke, übersetzt von Emanuel Hirsch; Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1951; ,Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller', Beilage: "Der Einzelne", Nr. 2, S. 117: ",Der Einzelne'; mit dieser Kategorie steht und fällt die Sache des Christentums, nachdem die Weltentwicklung so weit in Reflexion gelangt ist als sie ist. Ohne diese Kategorie hat der Pantheismus schlechthin gesiegt. ... aber die Kategorie ,der Einzelne' ist und bleibt der feste Punkt, weicher Widerhalt zu bieten vermag gegen pantheistische Verwirrung."
15) Platon, Apologie des Sokrates, Kap. XXXII, St.40 c ff.
16) Hyperion-Verlag, München 1909, S. 223 f.
17) Doslojewski, Gesammelle Briefe 1833 - 1881, übersetzt von Friedrich Hitzer; Piper, München 1966: ungekürzter Brief an Michail Michajlowitsch Dostojewskij vom 22. Dezember 1849, S. 76 - 81; Karl Nötzel, Das Leben Doslojewskis, Haessel-Verlag, Leipzig 1925, erster Teil. 11 d und e, S. 253 - 262.
18) Summa Theologica, IIa-lIae, q. 26, a. II.
19) ,Prolegomena', S. 19 ff., und Kap. IX, S. 268 ff.
20) Le Mystére de l'Être, Aubier, Paris 1951, tome I, cinquième leçon p. 116: "Je suis mon corps." ("Ich bin mein Körper.") Vgl. auch: Sixièm leçon, pp. 119 - 120. Übertragung ins Deutsche von Hanns von Winter: Geheimnis des Seins, Herold, Wien 1952; 1. Teil, 5. Vorlesung, S.142 und 6. Vorlesung, S.146. - Vgl. dazu: Josef Seifert, Leib und Seele, Anton Pustet, Salzburg 1973, S. 336 f. Anm. 453.
21) "Der Wunder sind viele, doch keines ist wunderbarer als der Mensch" (Erstes Stasimon, V.332 f).
22) "Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht ist es nötig, dass sich das All wappne, um ihn zu vernichten: ein Windhauch, ein Wassertropfen reichen hin, um ihn zu töten. Aber, wenn das All ihn vernichten würde, so wäre der Mensch doch edler als das, was ihn zerstört, denn er weiß, dass er stirbt, und er kennt die Übermacht des Weltalls über ihn: das Weltall aber weiß nichts davon." Pensées, VI, Frgt. 347; Titel der Übertragung von Ewald Wasmuth: Über die Religion; Lambert Schneider, Heidelberg 1954.
23) Pensées, a.a.O., II, Frgt. 72
24) Ebd., III, Frgt. 206.
25) Siehe dazu auch Platon: Phaidon, Kap. VI, St.61 f. Bei einer vom Staat verhängten Todesstrafe besteht eine ganz andere Situation, weil der Staat als echte Autorität handelt, d. h. als partielle Stellvertretung Gottes. Auch bei der Tötung eines Angreifers in der Notwehr liegt ein Eingreifen vor, das auf einem dem Menschen ausdrücklich eingeräumten Recht der Selbstverteidigung beruht.
26) Vgl. Alexander Solschenizyn, Der Archipel GULAG, drei Bände; deutsche Übersetzung von Anna Peturnig und Ernst Walter; Scherz, Bern 1974 und 1976.
27) Menschen, die den Tod nur als einen Erlöser von unerträglichen Leiden betrachten und ihn gleichzeitig für ein Versinken ins Nichts halten, sind offenbar blind für die Furchtbarkeit der Nichtexistenz. Der wahre Aspekt des Todes ist dadurch für sie gänzlich verdeckt. Sie haben nicht verstanden, dass der Verlust der personalen Existenz das größte Übel ist, wie der heilige Augustinus so herrlich sagt.
28) In der Antike wurde der Selbstmord nicht als moralisch unerlaubt angesehen. Im Gegenteil! Den Selbstmord von Lucretia oder Cato hielt man für einen Akt bewundernswerten Mutes. Nur in der monotheistischen Welt des Alten und Neuen Testamentes gilt der Selbstmord als etwas sittlich Unerlaubtes, ja Schlechtes. Schopenhauer verteidigt ihn sogar als durchaus einwandfrei (Die Welt als Wille und Vorstellung, erster Band, § 69, und Parerga und Paralipomena, zweiter Band, Kap. 13: ,Über den Selbstmord').
29) Ein mir bekannter junger Mann, der ein Karmeliterskapulier trug, bat Gott in einem hinterlassenen Schreiben um Vergebung, bevor er sich das Leben nahm.
30) Es ist merkwürdig, dass auch bei denen, die den Tod nicht als ein zu fürchtendes Übel, vielmehr im Gegenteil als "Erlöser" von großen Leiden ansehen, besonders beim Verlust des geliebtesten Menschen, ein instinktiver Selbsterhaltungstrieb vorhanden sein kann. Geraten solche Menschen in Lebensgefahr, droht der Tod über sie hereinzubrechen, so versuchen sie oft instinktiv, sich zu retten.
31) Vgl. Moralia, Bd. IX der Gesammelten Werke, Habbel, Regensburg 1980; 22. Kapitel.
32) Der Geist des hl. Franziskus und der dritte Orden, Theatiner-Verlag, München 1921: ,Der Geist des hl. Franziskus', II, S. 13 ff., und: ,Der heilige Franziskus von Assisi' in: Die Menschheit am Scheideweg, Habbel, Regensburg 1955, S. 504 und S. 506.
33) 1. Aufzug, 2. Auftritt; übersetzt von A. W. von Schlegel.
34) Vers 3416 ff.
35) 3. Aufzug, 2. Auftritt.
36) Mailied.
37) Kap. XXXIV II., St.253 ff.
38) Sequenz des Requiems, Thomas von Celano zugeschrieben.
39) Schluss des Ambrosianischen Lobgesangs Te Deum.
40) Schluss der Antiphon Ubi caritas bei der Fußwaschung am Gründonnerstag.
41) 79. - 83. Kapitel, St. 523 - 527.
42) 10. Buch, Kap. 13 f., St. 614a - 616a.
43) Vgl. Die Krankheit zum Tode, 2. Abschnitt, A., Kap.2: ,Die sokratische Definition der Sünde', S. 124, und: Der Begriff der Angst, 3. Kapitel, § 2: ,Die Angst dialektisch bestimmt in Richtung auf das Schicksal', S.559 (beide Arbeiten in: Die Krankheit zum Tode und anderes, a.a.O.).
44) "Ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen; Gott aber gab das Gedeihen" (1 Kor 3,6).
45) Vgl. Das Wesen der Liebe, Kap. VII, S. 231.
46) Im Lauf des Ersten Weltkriegs fand er den Glauben an Christus. Er fiel bald darauf, am 16.11.1917.
47) Vgl. Faust, l.Teil, V.3188 - 3192:
"Lass diesen Blick,
Lass diesen Händedruck dir sagen,
Was unaussprechlich ist.
Sich hinzugeben ganz und eine Wonne
Zu fühlen, die ewig sein muss!"
48) Augustinus, De civitate Dei, XIII. 7: "der Tod … einst als Sündenstrafe verhängt".
49) Sermo 69, 3: "Uns aber wird die Schau eines lebendigen und sehenden Gottes verheißen."
50) Kirchengebet vom 10. Sonntag nach Pfingsten.
51) Sermo CLXIX - alias XV: "De verbis Apostoli", Philip. III, c.XIII.
52) Sequenz am Fest der Sieben Schmerzen der allerseligsten Jungfrau Maria von Jacopone da Todi.
53) 3.Kapitel: "Der Geist der ,discretio' in der Liturgie", S. 262 - 275.
54) Schluss des Ave Maria.
55) Dies gilt selbstverständlich nur für den kaltblütig, völlig frei vollzogenen Selbstmord, aber nicht für die zahllosen Fälle, in denen er z. B. die Folge eines Nervenversagens oder einer psychischen Erkrankung ist, also von Sünde keine Rede sein kann. Der Herausgeber.
56) Vgl. Das Wesen der Liebe, Kap.XI.
57) Die Ehe, Ars sacra, München, 2. Auflage 1958; ,Die Bedeutung von Mann und Frau füreinander ausserhalb der Ehe' in: Die Menschheit am Scheideweg, S.140 ff.; Das Wesen der Liebe, Kap. IX, S. 293, Kap. XI. S. 326 ff.; Man and Women, Franciscan Herald Press, Chicago 1966, p.82; Metaphysik der Gemeinschaft, 3. Auflage in den Gesammelten Werken, Bd. IV, HabbeI. Regensburg 1975, S. 65.
58) S. 96ff.
59) Das Wesen der Liebe, Kap.XI, S.335 und S. 350f.
60) Das Wesen der Liebe, Kap.VI, S. 173ff. und S.179 f.
61) Wenn wir sagen, die frontale Liebeseinheit in Jesus mit einer menschlichen Person werde nicht durch die in der letzten Konvergenz enthaltene Einheit abgelöst, so muss noch einmal betont werden, dass die Konvergenzeinheit auch zu der vollkommenen Frontaleinheit gehört. Eine Frontaleinheit in Jesus wäre nie vollkommen, wenn die Teilnahme an der letzten Zuordnung und Liebe zu Jesus des geliebten Menschen nicht vorläge. Die Konvergenzeinheit gehört, abgesehen von ihrer Bedeutung in sich - als Teilnahme an dem tiefsten Thema des Geliebten trotz der tiefen formalen Verschiedenheit von Konvergenzeinheit und Frontaleinheit -, auch zur vollkommenen frontalen Liebeseinheit in Jesus.
62) De civitate Dei, XXII, 30.
63) Epistola 92, 1.
64) Introitus vom Sonntag nach Christi Himmelfahrt (vgI. Ps 26).
65) Schluss des mittelalterlichen Gebetes Anima Christi.