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Aktuelle Version vom 7. Juni 2019, 11:12 Uhr
Octogesima adveniens |
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von Papst
Paul VI.
an Seine Eminenz Kardinal Mauritius Roy (kanadischer Erzbischof von Quebec)
Präsident des Laienrates und der päpstlichen Kommission „Iustitia et pax“
anlässlich der 80-Jahr-Feier der Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum
14. Mai 1971
(Quelle: Papst Paul VI., Neue Impulse für soziale Gerechtigkeit, Apostolisches Schreiben „Octogesima adveniens“ vom 14. Mai 1871. Johannes Verlag Leutesdorf am Rhein 1971. Mit kirchlicher Druckerlaubnis. Die Nummerierung entspricht der englischen Fassung; auch in: Nachkonziliare Dokumentation, Nr. 35)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 2 Die heutigen sozialen Fragen
- 2.1 8. Verstädterung
- 2.2 9. Industrialisierung
- 2.3 10. Vereinsamung, Vermassung, Kriminalität
- 2.4 11. Wohnungsnot
- 2.5 12. Gerechtigkeit und Brüderlichkeit
- 2.6 13. Jugend; Gleichberechtigung der Frau
- 2.7 14. Die Arbeiter und Gewerkschaften -
- 2.8 15. Die modernen Armen
- 2.9 16. Die Diskriminierten
- 2.10 17. Die Gastarbeiter
- 2.11 18. Bevölkerungswachstum
- 2.12 19. Einsatz geistiger Kräfte
- 2.13 20. Massenmedien
- 2.14 21. Um- und Mitwelt des Menschen
- 3 Ideologische Gegensätze
- 3.1 22. Moderne Tendenzen
- 3.2 23. Menschenrecht und Liebe
- 3.3 24. Verantwortung zum politischen Leben
- 3.4 25. Die politischen Gruppen
- 3.5 26. Christentum, Marxismus, Liberalismus
- 3.6 27. Doppeldeutige Ideologie
- 3.7 28. Bedrohende Ideologie
- 3.8 29. Technologische Ideologie
- 3.9 30. Berechtigte Anliegen
- 3.10 31. Unterschiedliche Formen des Sozialismus
- 3.11 32. Der Marxismus
- 3.12 33. Unterschiedliche Formen des Marxismus
- 3.13 34. Die Einheitlichkeit des Marxismus
- 3.14 35. Der Liberalismus
- 3.15 36. Der Weg des Christen
- 3.16 37. Utopien und christlicher Glaube
- 3.17 38. Humanwissenschaften
- 3.18 39. Gefahr der Humanwissenschaften
- 3.19 40. Dialog mit den Humanwissenschaften
- 3.20 41. Scheinbarer und wahrer Fortschritt
- 4 Beitrag der Christen
- 5 Pflicht zum Einsatz
- 6 Anmerkungen
Einleitung
1. Anlass
Das achtzigjährige Jubiläum der Enzyklika "Rerum novarum", deren Botschaft die Menschen weiterhin zum tätigen Einsatz für soziale Gerechtigkeit bewegt, veranlasst Uns, einige Gedanken vorzutragen; dies tun Wir mit der Absicht, bestimmte Überlegungen in die Mitte zu rucken, indem Wir die soziale Lehre Unserer Vorgänger fortführen, Richtlinien darlegen und Vorschläge unterbreiten, welche von den Notwendigkeiten einer Welt gefordert sind, die sich ständig wandelt. Die Kirche ist nämlich zusammen mit der Gesellschaft der Menschen auf Pilgerschaft und nimmt an deren Geschick in den Wechselfällen der Verhältnisse und Zeiten teil. Auch wenn sie sich auf die Verkündigung der Liebe zu Gott und des uns von Christus gebrachten Heiles verlegt, erhellt sie doch mit dem Licht des Evangeliums das menschliche Schaffen und verhilft den Menschen dazu, den liebevollen Heilsplan Gottes auszuführen und ihr Verlangen voll zu stillen.
2. Weltweiter Ruf nach Gerechtigkeit und Frieden
Wir stellen aber fest - das nährt unser Vertrauen - dass der Geist des Herrn in den Herzen der Menschen weiterhin wirkt und überall christliche Gemeinschaften zusammenführt, die sich ihrer Aufgaben in der Gesellschaft bewusst sind. Denn auf allen Kontinenten, bei allen Menschen, in jedem Volk, auf jeder geistig-kulturellen Entwicklungsstufe und unter jeglichen Lebensbedingungen erweckt der Herr unaufhörlich echte Apostel des Evangeliums. Es war Uns ja Gelegenheit gegeben, mit diesen zusammenzukommen, sie zu bewundern und ihren Unternehmungsgeist zu stärken, als Wir jüngst Unsere Reisen unternahmen. Wir sind an die Menschenmenge herangetreten, haben ihre Forderungen und Rufe gehört, die Not und Hoffnung zugleich anzeigten.
Damals erschienen Uns die schweren Probleme in neuem Licht, die in unserer Zeit gewälzt werden und zur Lösung anstehen. Sie sind zwar in jedem Land besonders gelagert, gehen aber doch die gesamte Schicksalsgemeinschaft der Menschen an. Diese stellen sich nämlich die Frage nach ihrem zukünftigen Schicksal, nach dem weiteren Verlauf und der Bedeutung der gegenwärtig vor sich gehenden Wandlungen. Es herrschen schwerwiegende Unterschiede hinsichtlich des Fortschritts auf ökonomischem Gebiet, der geistigen Bildung und der Politik bei den verschiedenen Völkern; denn die einen Länder sind bestens industrialisiert, während die Wirtschaftsstruktur anderer Regionen immer noch auf den Ackerbau angewiesen ist. Die einen Völker haben Überfluss an Reichtum und Wohlstand, andere leiden an Mangel; die einen Völker haben in der Ausbildung der Fachwissenschaften und der Technik einen sehr hohen Stand erreimt, andere haben hingegen jetzt noch damit zu tun, das Analphabetentum zu beseitigen. überall wird mehr Gerechtigkeit gefordert und ein verlässigerer Friede ersehnt, wobei die gegenseitige Achtung zwischen den Menschen und Völkern gewahrt werden soll.
3. Verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse
Freilich sind die Verhältnisse, unter denen die Christen gern oder ungern leben, verschieden ja nach der Region, den sozial-politischen Institutionen und den Formen menschlicher Kultur. Hier nämlich werden sie gezwungen zu schweigen, stehen im Verdacht, sind gleichsam in den zweiten Rang der Gesellschaft abgedrängt und gehen unter einem absolutistischen Regime ihrer Freiheit verlustig. Dort hinwieder sind sie schwach vertreten und gering an Zahl, so dass ihre Stimme sich nur schwer Gehör verschaffen kann. Wo die Kirche bei anderen Völkern einen gut verfassten Platz innehat, bisweilen sogar einen gesetzlichen und öffentlichen, erleidet sie Angriffe, die in jenem Ungleichgewicht und Unrechtszustand begründet sind, von dem die Gesellschaft der Menschen erschüttert wird; einige ihrer Glieder lassen sich dazu verleiten, mit aufrührerischen und gewaltsamen Mitteln der verwickelten Situation Herr zu werden, wodurch sie sich eine günstigere Lösung erhoffen. Während jedoch manche von den herrschenden Ungerechtigkeiten keine Notiz nehmen und die gegenwärtige Lage beizubehalten bemüht sind, lassen sich andere durch aufrührerische Parolen irremachen, die ihnen mit einer die Sache verfälschenden Vorstellung eine immer bessere menschliche Gemeinschaft versprechen.
4. Sozialaufgabe der Christen
Wenn nun die so verschiedenen Verhältnisse erwogen werden, erscheint es Uns in der Tat sehr schwer, mit der Darlegung eines einzigen Gedankens eine überall passende Lösung zu bieten. Indes verfolgen Wir gar nicht ein solches Ziel, dies gehört auch nicht zu Unserem Aufgabenbereich. Denn die christlichen Gemeinschaften selbst müssen darauf hinwirken, die Lage des eigenen Landes nach dem wahren Sachverhalt zu erforschen und im Lichte der unveränderlichen Worte des Evangeliums zu erhellen, um Grundsätze, Beurteilungsnormen, Richtlinien für das Handeln aus der Soziallehre der Kirche zu gewinnen - wir meinen jene Lehre, die im Laufe der Zeit ausgebildet worden ist, vor allem aber in diesem Industriezeitalter, nämlich seit jenem denkwürdigen Tag, an dem Leo XIII. eine Botschaft "über die Lage der Arbeiter" veröffentlicht" hat, deren Jubiläum zu begehen Uns heute Ehre und Freude bereitet. Aufgabe solcher christlichen Gemeinschaften ist es also, unter dem Beistand des Heiligen Geistes - in Gemeinschaft mit den zuständigen Bischöfen, im Gespräch mit den anderen christlichen Brüdern und mit allen Menschen guten Willens - ausfindig zu machen, welche Wege beschritten und welche Leistungen erbracht werden müssen, um die notwendig erscheinenden und oft unaufschiebbaren Veränderungen auf sozialem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet herbeizuführen.
Während sie also darum ringen, solche Wandlungen zu betreiben, mögen die Christgläubigen vor allem ihr Vertrauen stärken, das sie in die Wirksamkeit des Evangeliums und in die besondere Art seiner Forderungen gesetzt haben. Denn das Evangelium ist nicht deshalb veraltet, weil es unter völlig anderen sozialen und geistig-kulturellen Umständen verkündet, geschrieben und gelebt wurde. Seine Lehren und Beiträge, bereichert durch jene lebendige Erfahrung in der christlichen Überlieferung im Laufe der Jahrhunderte, sind stets neu, was die Umkehr der Menschen und den Fortschritt im gesellschaftlichen Leben betrifft; man darf jedoch jene evangelischen Aussagen nicht so heranziehen, als ob sie sich auf besondere zeitlich bedingte Sachfragen anwenden ließen, wobei die umgreifende und sich durchhaltende Botschaft des Evangeliums in Vergessenheit geriete.<ref> Vgl. II. Vat. Konz., Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 10 AAS 58 (1966), S. 1033. </ref>
5. Kompetenz kirchlicher Soziallehre
Bei der Verwirrung und Unsicherheit unserer Zeit vermag die Kirche eine einzigartige Botschaft zu verkünden und die Bemühungen der Menschen zu stärken, die sich rühren, ihr eigenes Geschick zu meistem, und bestrebt sind, dieses nach eigener Entscheidung und Wahl zu gestalten. Seit jener Zeit, wo durch die Enzyklika "Rerum Novarum" die unwürdige und schändliche Lage der Arbeiter in der aufkommenden Industriegesellschaft geschildert wurde, hat der Fortschritt andere Themen und Arten sozialer Gerechtigkeit deutlich gemacht, wie auch die Enzykliken "Quadragesimo Anno“<ref>AAS 23 (1931). S. 209 f.</ref> und "Mater et Magistra“<ref>AAS 53 (1961), S. 429.</ref> schon erklärt haben,
Jüngst aber hat sich das Ökumenische Konzil dafür eingesetzt, diese Probleme in Angriff zu nehmen, zumal in der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes", Und wir selbst haben in der Enzyklika "Populorum Progressio" diese Handlungsrichtlinien wieder erweitert: vor allem müssen heute alle die Gewissheit haben und es geradezu spüren, dass die Soziale Frage nunmehr sämtliche Verbindungen der Menschen untereinander betrifft.<ref>AAS 59 (1967), S. 258.</ref> Da nämlich die Kirche deutlicher und tiefer erkannt hat, was in diesen Belangen das Evangelium Jesu Christi abverlangt, hält sie es für ihre Pflicht, sich auf eine noch geeignetere Weise für die Menschen einzusetzen, damit diese nicht nur die Hauptpunkte einer solch schwerwiegenden Frage nach allen Seiten aufspüren, sondern auch zur Überzeugung gelangen, dass in dieser Stunde einer höchst bedeutsamen Entscheidung gemeinsames Handeln aller dringlich notwendig ist.<ref>Ebd. S. 257. </ref>
Von dieser Aufgabe, deren Wir Uns voll bewusst sind, werden Wir heute angetrieben, einige Gedanken und Empfehlungen vorzulegen, die angesichts der weitreichenden Probleme zu Tage treten, welche von den Menschen unserer Zeit gelöst werden müssen.
6. Die Adressaten
Im übrigen wird die nächste Bischofssynode sich damit befassen, die Aufgabe der Kirche genauer zu bedenken und tiefer zu erforschen, die es in jenen schwierigen Fragen zu erfüllen gilt, welche die Gerechtigkeit in der heutigen Welt stellt. Nun bietet das Jubiläum der Enzyklika "Rerum Novarum" Uns heute die Gelegenheit, Unsere diesbezüglichen Sorgen und Überlegungen vor Dir, Unserem ehrwürdigen Bruder, auszubreiten, der Du den Vorsitz Unserer Kommission "Iustitia et Pax" und des Laienrates führst. Auf diese Weise wollen wir auch solche Einrichtungen des Heiligen Stuhles zur tatkräftigen Durchführung des Werkes ermahnen, mit dem sie sich bemühen, das Wirken der Kirche für die Menschen zu fördern.
7. Vor neuen Problemen
Aber Wir wollen, eingedenk der immer anstehenden Probleme, an deren Erforschung sich Unsere Vorgänger gemacht haben, unter anderem an die Fragen erinnern, die wegen ihrer Dringlichkeit, Tragweite und Kompliziertheit die Christgläubigen für die kommenden Jahre mit Sorgen erfüllen müssen, so dass sie zusammen mit den anderen Menschen ihre Kräfte aufwenden, um die neuen Schwierigkeiten zu meistem, durch die das künftige Schicksal der Menschen in Gefahr gerät. Denn die sozialen Probleme, welche die heutige Wirtschaftsstruktur mit sich bringt - dazu gehören die menschlichen Arbeitsbedingungen, gerechter Austausch der Güter und gerechte Verteilung des Reichtums, Sinn und Bedeutung der Produktionssteigerung und der notwendigen Konsumgüter, Mitbestimmung – müssen in den weiteren Zusammenhang der modernen Zivilisation gestellt werden. In den heute so heftigen und raschen Wandlungen entdeckt sich der Mensch täglich von neuem, fragt sich nach dem Sinn seiner Existenz und nach dem allgemeinen überleben der Menschen. Wiewohl es aber zweifelhaft erscheint, ob die Lehren einer früheren Zeit, die man für völlig veraltet und für längst überholt ansieht, annehmbar sind, muss der Mensch dennoch sein zukünftiges Schicksal, das er als unsicher und ungewiss weiß, mit den unveränderlichen und ewigen Wahrheiten erhellen, die ihn zweifellos übersteigen, deren Spuren er aber selbst, sofern er will, ausfinden kann.<ref> VgI. {{#ifeq: 2. Brief des Paulus an die Korinther | Octogesima adveniens (Wortlaut) |{{#if: 2 Kor|2 Kor|2. Brief des Paulus an die Korinther}}|{{#if: 2 Kor |2 Kor|2. Brief des Paulus an die Korinther}}}} 4{{#if:17|,17}} Kor%204{{#if:17|,17}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Kor%204{{#if:17|,17}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}. </ref>
Die heutigen sozialen Fragen
8. Verstädterung
Ein schwergewichtiger und einzigartiger Sachverhalt bewegt Uns heute: die allzu dichte Besiedlung der Städte. Dies ist in allen Ländern der Fall, gleich ob in den bereits industrialisierten oder in denen, welche sich noch immer um die Entwicklung von Kultur und Zivilisation bemühen. Nach einer langen Zeit geht die Agrarkultur nun zurück. Aber es erhebt sich die Frage, ob genügend Sorge aufgewendet wird zur rechten Gestaltung und Verbesserung des Lebens der Landbevölkerung, deren wirtschaftlich unterentwickelte und bisweilen armselige Lage der Grund ist, warum die Landbewohner in die Vorstädte abwandern, jenen betrüblichen Anhäufungen von Menschen, wo sie weder Arbeit noch Wohnung finden.
Diese stete Landflucht, die Ausweitung der Industrialisierung, das ununterbrochene Bevölkerungswachstum, die Anziehungskraft der Großstädte bewirken, dass sich dort Massen ansammeln, deren Riesengröße man sich kaum vorstellen kann; man spricht ja schon von einer sogenannten "Megalopolis", die von Hunderttausenden von Menschen bewohnt wird. Es gibt allerdings auch Städte, deren Ausdehnung eine geeignete Aufteilung der Einwohner möglich macht. Diese Städte gewähren denen, die wegen des Fortschritts der Landwirtschaft arbeitslos geworden sind, Arbeitsgelegenheit, menschliches Zusammenleben und Gemeinschaft, wodurch die Gefahr einer Verproletarisierung und eine Zusammenballung von Bürgern vermieden werden können.
9. Industrialisierung
Das maßlose Anwachsen solcher Städte kommt zur Steigerung der auf Gewinn bedachten Industrie hinzu, hält mit ihr aber nicht Schritt. Die Industrie- und Konsumwirtschaft, die auf technologischen Forschungen und auf Veränderung der Natur beruht, hält unbeirrbar und unablässig an der von ihr eingenommenen Marschroute fest und stellt ständig ihre Effektivität unter Beweis. Während aber die einen Wirtschaftsunternehmen sich ausweiten und zusammenschließen, gehen andere zugrunde oder ändern ihren Sitz; dies bringt neue soziale Schwierigkeiten mit sich: unfreiwillige, berufliche oder regional bedingte Arbeitslosigkeit, Überführung in andere Berufe, Berufswechsel, ständige Umschulung der Arbeiter, Ungleichheit der Bedingungen, in welche die verschiedenen Sparten der Industriewirtschaft geraten. Ein alle Maßen übersteigender Konkurrenzkampf, der mit den modernen Reklamemitteln die Wirtschaftsprodukte der Masse schmackhaft machen kann, stellt die immer neu erzeugten Güter in den Mittelpunkt und lockt die Konsumenten, während alte Fabriken, die bis jetzt einen ordentlichen Kurs steuern, nutzlos werden. Während sehr große Bevölkerungsgruppen nicht einmal die vorrangigen Bedürfnisse des Lebens befriedigen können, geht man darauf aus, das Verlangen nach überflüssigen Dingen zu wecken. Deswegen stellt sich nicht von ungefähr die Frage, ob der Mensch, auch wenn er noch so großes erreicht hat, nicht die Frucht seines Schaffens und Mühens gegen sich selbst wendet. Wird er nicht selbst, nachdem er zu Recht die Schätze der Natur in seinen Dienst genommen hat,<ref>Enzyklika Populorum progressio, 25, AAS 59 (1967), S. 269-270.</ref> zum Sklaven der von ihm produzierten Erzeugnisse?
10. Vereinsamung, Vermassung, Kriminalität
Ruft denn nicht der Lebensstil, welcher der dichten Besiedlung der Städte eigen ist und mit der in der Industrialisierung begründeten zunehmenden Zivilisierung einhergeht, nach der Weisheit des Menschen, nach seiner Fähigkeit, die Dinge zu ordnen und zu beherrschen, nach seinem vorausschauenden Erfindungsgeist? Inmitten der produktionstechnisch aufblühenden Gesellschaft zerstört der allzu große Drang nach der Stadt Lebensgewohnheiten und traditionelle, durch Erfahrung erprobte Einrichtungen, in denen menschliches Leben sich abzuwickeln pflegt: Familie, Nachbarschaft, ja sogar das Gefüge der christlichen Gemeinde. Der Mensch erfährt nämlich eine neue Einsamkeit, die nun nicht aus einer ihm feindlichen Natur herrührt, welche zu beherrschen er sich über Jahrhunderte hin bemüht hat, sondern in einer ihm fremd vorkommenden Masse, von der er umgeben ist und in der er sich gleichsam als Fremder fühlt. Die dichte Besiedlung der Städte, welche zweifellos eine bestimmte Stufe der fortschreitenden menschlichen Gesellschaft ist und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, stellt den Menschen vor nicht leicht zu lösende Probleme: wie er das Anwachsen der Städte in den Griff bekommt, ihre Ordnung und Organisation vornimmt, wie er den Bürgern zum Wohl aller Mut und Freude einflößt. Aber in diesem wirren Wuchern entstehen neue Proletarier. Sie lassen sich mitten in der Stadt nieder, von wo die Reichen bisweilen wegziehen; sie lassen sich in den Vorstädten nieder, die – vor Elend starrend - in einer bisher noch stummen Protesthaltung die Städte umzäunen, wo man übermäßigen Luxus genießt, ungezügelt Güter verbraucht, ja oft vergeudet. Die Stadt fördert weder brüderliches Gemeinschaftsleben noch gegenseitige Hilfeleistung, sondern begünstigt krasse Unterschiede und Gleichgültigkeit. Sie führt zu neuen Formen maßloser Erwerbssucht und Knechtung, sofern einige die Notlage der anderen zu ihrem Vorteil ausnutzen und daraus höchst verwerfliche Gewinne erzielen. Hinter den Häuserfassaden ist viel Elend verborgen, von dem auch die unmittelbaren Nachbarn nichts wissen; anderes Elend wiederum liegt offen zu Tage, da nämlich, wo die menschliche Würde mit Füßen getreten wird. Dazu gehören: Vergehen, Verbrechen, Psychopharmaka und die so genannte Erotisierung.
11. Wohnungsnot
Die sozial schwächeren Bürger aber kämpfen mit Lebensbedingungen, in denen die Menschlichkeit preisgegeben, das Gewissen unterdrückt und der Familie schwerer Schaden zugefügt wird. Massensiedlungen lassen nicht die geringste Intimgemeinschaft innerhalb der häuslichen Wände zu; Jungverheiratete warten vergebens auf eine ihnen angemessene Wohnung, die sie bezahlen können; sie verlieren den Mut, was sogar ihre Einheit in die Krise bringen kann; die der zu engen Wohnung entfliehenden Jungen und Mädchen suchen auf der Straße Ausgleich, so dass sie sich Gefährten und Freunden anschließen, ohne dass sie jemand beaufsichtigte und überwachte. Große Verantwortung haben die Zuständigen; sie müssen sich darum kümmern, den Gang dieser Erscheinungen zu zügeln und richtig zu lenken.
Es ist also notwendig, dass jene Struktur gesellschaftlichen Lebens wiederhergestellt wird, in der ein jeder die berechtigten Bedürfnisse der menschlichen Person befriedigen kann - und zwar bezüglich der Stadtstraßen, der Wohnviertel, der gesamten Bürgerschaft. Es sind im Rahmen der Gemeinden und Pfarreien Heime zu errichten, die für seelische Erholung und verschiedenartigen Unterricht geeignet sind - unter Wahrung der vielfältigen Form der Vereinigungen; außerdem "Zirkel" für sinnvolle Freizeitpflege, geeignete Versammlungsräume; Vereine, die das geistliche Leben pflegen. Hier können die einzelnen der Einsamkeit entfliehen und mit anderen brüderliche Verbindungen eingehen.
12. Gerechtigkeit und Brüderlichkeit
Es gibt aber eine Aufgabe, an der die Christen sich beteiligen müssen: dass man die Städte als Orte errichtet, wo die Menschen und ihre erweiterten Gemeinschaften existieren können; dass neue Wege der Nachbarschaft und der gegenseitigen Verbindung beschritten werden; dass eigene Methoden aus gedacht werden, um soziale Gerechtigkeit in die Tat umzusetzen; dass alle die Verantwortung für die Zukunft spüren, die alle betrifft und als schwierig erahnt wird. Den in der undurchsichtigen städtischen Verdichtung lebenden Menschen - dieser Zustand kann nicht mehr ertragen werden - muss die Botschaft der Hoffnung gebracht werden, und zwar mit Hilfe gelebter Brüderlichkeit und sichtbar gewordener Gerechtigkeit. Die dieser neuen Verantwortung bewussten Christen sollten nicht den Mut verlieren in der fast unübersehbaren Weite der Stadt, die jeder persönlichen Note bar ist; sie sollen sich vielmehr an den Propheten Jonas erinnern, der die große Stadt Ninive lange durchstreift hat, um dort die beglückende Botschaft der göttlichen Barmherzigkeit zu verkünden, in seiner Schwäche allein durch die Kraft des Wortes des allmächtigen Gottes gestärkt. Tatsächlich wird in der Bibel die Stadt oft als Ort der Sünde und Überheblichkeit dargestellt, in welcher der Mensch hochmütig wird und darauf vertraut, das Leben ohne Gott einrichten, ja gegen ihn seine Macht erweisen zu können. Es gibt aber auch die heilige Stadt Jerusalem als Ort, wo man Gott begegnet; sie ist die Verheißung der vom Himmel herabsteigenden Stadt.<ref>Vgl. {{#ifeq: Johannes-Apokalypse | Octogesima adveniens (Wortlaut) |{{#if: Offb|Offb|Johannes-Apokalypse}}|{{#if: Offb |Offb|Johannes-Apokalypse}}}} 3{{#if:12|,12}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; 2{{#if:|,{{{3}}}}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
13. Jugend; Gleichberechtigung der Frau
Der städtische Lebensstil und die durch Industrialisierung herbeigeführten Veränderungen stellen bisher kaum richtig erfasste Probleme in ein helleres Licht. Zum Beispiel: welche Stellung wird den Frauen und der Jugend in der nun entstehenden Gesellschaft zukommen? Wirklich schwierig ist heute überall das Gespräch zwischen den Erwachsenen und der Jugend, deren Sinn nach Neuerungen steht und die auch über die Zukunft völlig im Ungewissen ist. Wem entginge es, dass von daher innerhalb der Familien schwere Auseinandersetzungen, Zwistigkeiten und Absage an Aufgaben erfolgen können, ja dass sogar die Berechtigung der Autorität, die Erziehung zur Freiheit, die Überlieferung von Werten und festen Überzeugungen in Frage gestellt werden, was doch alles direkt an die Grundlagen menschlicher Gesellschaft rührt?
Ebenso gibt es bei einigen Völkern - das wird bisweilen eindringlich gefordert - intensive Bemühungen darum, dass ein Gesetz über den Status der Frauen beschlossen wird, durch das nach Beseitigung jedes ungerechtfertigten Unterschieds zwischen beiden Geschlechtern der Frau Gleichheit der Rechte zuerkannt wird unter gebührender Berücksichtigung ihrer Würde. Wir meinen natürlich nicht jene fingierte Gleichheit, welche die vom Schöpfer selbst gemachten Unterschiede leugnet und der wahrlich gewichtigen Aufgabe der Frau im häuslichen Zusammenleben und ebenso inmitten der Gesellschaft nicht gerecht wird. Die diesbezüglich im Laufe der Zeit einzubringenden Gesetze müssen so vervollkommnet werden, dass sie die besondere Aufgabe der Frau schützen, zu der sie aufgrund ihrer Natur berufen ist, dass sie ihr die rechtmäßige persönliche Freiheit und gleiche Rechte zuerkennen, wodurch sie ihre Aufgabe im öffentlichen Kulturbereich, im wirtschaftlichen und sozialen Leben und in der staatlichen Verwaltung wahrnehmen kann.
14. Die Arbeiter und Gewerkschaften -
Die Kirche hat auf dem letzten Ökumenischen Konzil folgendes eingeschärft: Ursprung, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen ist und muss die menschliche Person sein.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes 25, in: AAS 58 (1966), S. 1045.</ref> Jeder Mensch hat das Recht zu arbeiten und die Vollmacht, die geistige Begabung und seine Person in verantwortlicher Arbeit zu fördern, gerechten Lohn zu empfangen, mit dem er das physische, gesellschaftliche, kulturelle und geistige Leben seiner eigenen Person und seiner Angehörigen in würdiger Weise gestalten kann,<ref> Ebd. 67, a. a. O., S. 1089.</ref> schließlich jene Hilfen in Anspruch zu nehmen, die er aus Krankheitsgründen oder des vorgerückten Alters wegen braucht. Wenn die demokratischen Staaten zum Schutz solcher Rechte prinzipiell die Gründung von Gewerkschaften anerkennen, so zeigen sie sich aber nicht immer bereit, diesen Grundsatz zu praktizieren. Tatsächlich ist die Bedeutung solcher Gewerkschaften groß; sie verfolgen nämlich das Ziel, die verschiedenen Arbeitergruppen zu vertreten, ihre legitime Zusammenarbeit zum wirtschaftlichen Gedeih der Gesellschaft zu fördern und sie immer mehr ihrer Aufgaben bei der Besorgung des Gemeinwohls bewusst zu machen. Dennoch ist die Tätigkeit der Gewerkschaften nicht problemlos; denn sie können da oder dort der Versuchung anheimfallen, eine günstige Gelegenheit zur Machtausübung wahrzunehmen, so dass, zumal im Falle der Arbeitsniederlegung - die allerdings als letzte Möglichkeit zur Verteidigung der eigenen Rechte für legitim zu erachten ist - der allgemeinen Wirtschaft oder dem ganzen gesellschaftlichen Gefüge allzu schwere Bedingungen auferlegt oder gar rein politische Forderungen unterbaut werden. Wenn es sich aber vornehmlich um Dienstleistungen handelt, die dem öffentlichen Wohl dienen und für den Alltag der ganzen Gemeinde notwendig sind, dann müssen die rechten Grenzen berücksichtigt werden, bei deren Überschreiten der Gesellschaft völlig verwerfliche Schäden zugefügt werden.
15. Die modernen Armen
Kurz: es sind schon gewisse Fortschritte erzielt worden, wodurch größere Gerechtigkeit und umfangreichere Teilhabe an der Verantwortung in die gegenseitigen Beziehungen der Menschen eingebracht wurden. Aber auf diesem so großen Sektor gibt es noch vieles zu leisten. Es gilt, beim Abwägen, Praktizieren und Erproben solcher Unternehmungen tatkräftig durchzuhalten, damit die gerechten Bestrebungen der Arbeiter nicht zu spät berücksichtigt werden. Diese Bestrebungen werden nämlich um so nachdrücklicher, als ihre Organisation, ihr Würdebewusstsein und die Macht ihrer Vereinigung fortschreiten und zunehmen.
Die blinde Liebe zum Eigennutz und die Herrschsucht halten die Menschen unablässig im Bann; deswegen ist eine immer sorgfältigere Prüfung der Sachlage erforderlich, damit die ungerechten Verhältnisse schon bei ihrem Entstehen genau durchschaut werden und stufenweise eine solche Form von Gerechtigkeit erzielt wird, die immer weniger mangelhaft ist. Wenn man die durch die industriellen Strukturen verursachten Veränderungen bedenkt, denen der Lebensstil rasch und ständig angepasst werden muss, dann erkennt man leicht, dass die dadurch Geschädigten zahlreicher werden und weniger Macht besitzen, ihre Stimme geltend zu machen. Diesen modernen "Armen" – dazu gehören nämlich die körperlich Schwachen, solche, die weniger geeignet sind, sich in die Gesellschaft einzuordnen, die Greise, solche, die aus verschiedenen Gründen abseits des gesellschaftlichen Lebens stehen - wendet die Kirche ihre Sorge zu, um sie aufzufinden, zu unterstützen, ihnen den gehörigen Platz und ihre Würde zu wahren in einer Gemeinschaft von Menschen, die in Konkurrenzgeist und Erfolgssucht gleichsam jede Menschlichkeit abgelegt zu haben scheint.
16. Die Diskriminierten
Zu den Menschen, welche in ungerechten Verhältnissen leben, sind - leider handelt es sich hier um nichts Neues - jene zu rechnen, welche der Abstammung, der Herkunft, der Farbe, des Bildungsstandes, des Geschlechtes oder der Religion wegen rechtlich oder tatsächlich Benachteiligungen preisgegeben sind. Die rassische Diskriminierung wird heute recht nachdrücklich erforscht, weil sie scharfe geistige Auseinandersetzungen sowohl innerhalb gewisser Staaten als auch bei den internationalen Beziehungen auslöst. Mit Recht glauben die Menschen, sie dürfe keinesfalls gebilligt werden; deswegen müsse von vornherein jeder Versuch zurückgewiesen werden, Gesetze oder Verhaltensweisen zu dulden oder zu legitimieren, die stets von rassischen Vorurteilen herrühren. Die Glieder der Menschheitsfamilie nehmen nämlich an derselben Natur und deswegen an derselben Würde mit denselben Rechten und Grundpflichten teil, da sie auch zur selben übernatürlichen Bestimmung berufen sind. Die ein gemeinsames Vaterland haben, müssen alle gleich sein vor dem Gesetz; ihnen muss mit gleichem Recht der Zugang zum wirtschaftlichen Leben, zur geistigen Bildung, zum politischen, sozialen Leben und nicht zuletzt zu gerechter Verteilung des Sozialprodukts offen stehen.
17. Die Gastarbeiter
Unsere Gedanken wenden sich auch dem misslichen Zustand zu, in dem eine große Zahl von Arbeitern lebt, die ins Ausland abgewandert sind und dort als Fremde die ihnen zukommenden gesellschaftlichen Rechte nur schwer wahrnehmen können, obwohl sie zum wirtschaftlichen Fortschritt des Volkes, von dem sie aufgenommen wurden, wirksam beitragen. Unbedingt muss diese Verhaltensweise, die in einem allzu ausgeprägten Nationalismus gründet, überwunden werden, damit ein Gesetz über ihren Status geschaffen wird, in dem ihnen das Recht ein- und auszuwandern zuerkannt wird; damit sie sich leichter dem Volks ganzen einfügen; damit ihnen die Möglichkeit zu einem geeigneten Heim gegeben wird, in dem die Familien, wenn irgendwie möglich, mit ihnen zusammengeführt werden.<ref> Enzyklika Populorum progressio 69, AAS 59 (1967), S. 290-291.</ref>
Zu dieser Menschenklasse gehören jene Völker, die auf der Suche nach Arbeit entweder einer glücklosen Situation oder einer ungesunden Gegend entfliehen, ihre Heimat verlassen und anderswo als Vertriebene ihr Leben zu verbringen gezwungen sind. Es ist Pflicht aller und vornehmlich der Christen,<ref> VgI. {{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Octogesima adveniens (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 25{{#if:25|,25}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> mutig und freudig mitzuarbeiten, dass unter allen Völkern eine brüderliche Gemeinschaftsverbindung zustande kommt, die als notwendige Grundlage wahrer Gerechtigkeit und als Bedingung dauerhaften Friedens zu betrachten ist: Wir können nicht Gott, den Vater aller, anrufen, wenn wir uns gegenüber anderen nach dem Bild Gottes geschaffenen Menschen nicht brüderlich verhalten wollen. Die Haltung des Menschen gegenüber Gott dem Vater und die Haltung des Menschen gegenüber den Menschenbrüdern sind derart eng verknüpft, dass die Schrift sagt: "Wer nicht liebt, kennt Gott nicht" (1 Joh 4, 8).<ref> II. Vat. Konz., Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchnstlichen Religionen Nostra aetate, 5, AAS 58 (1966), S. 743.</ref>
18. Bevölkerungswachstum
Wegen des zumal bei jungen Völkern feststellbaren Bevölkerungszuwachses wird in nächster Zeit die Zahl derer zunehmen, die keine Arbeit haben und deswegen zu einem Elends- oder Parasitenleben gezwungen werden, es sei denn, die Menschen würden, von ihrem Verantwortungsbewusstsein heilsam bewegt, die Kräfte und den Willen aller Menschen bündeln, damit ein wirksamer Investitionsmodus entwickelt wird, eine Methode, den Produktionsapparat richtig zu ordnen, um die Waren zu kaufen und zu verkaufen, ebenso geeignete Unterweisungen zu vermitteln. Wir wissen sehr wohl, mit welcher Sorgfalt bei den internationalen Institutionen solche Fragen erwogen werden. Deswegen tragen Wir den sehnlichen Wunsch vor, dass dem, was von ihren Mitgliedern erklärt worden ist, möglichst bald Taten folgen.
Nicht ohne Beunruhigung ist festzustellen, dass in diesen Belangen auch bei jenen ein gewisses Gefühl fatalistischer Notwendigkeit Platz greift, welche die öffentliche Gewalt innehaben. Diese Auffassung treibt sie bisweilen dazu, Heilmittel in den malthusianischen Lehren zu suchen, die so nachdrücklich propagiert werden, dass sie sowohl der Verhütung des Nachwuchses als auch der Abtreibungspraxis Vorschub leisten. Nun muss man aber an diesem so schwierigen, entscheidenden Punkt nachdrücklich betonen, dass die Familie, ohne die keine Gesellschaft bestehen kann, das Recht hat, jene Mittel zu gebrauchen, mit denen sie zur angemessenen Vollkommenheit zu gelangen vermag. Es besteht kein Zweifel, dass - wie Wir in der Enzyklika "Populorum Progressio" mahnend dargelegt haben – die öffentlichen Gewalten sich, soweit es ihnen zusteht, hier einschalten können, indem sie die Bürger darüber belehren und geeignete Vorschläge unterbreiten, vorausgesetzt, dass diese den Geboten des Sittengesetzes entsprechen und dass die gerechte Freiheit der Ehegatten unbedingt gewahrt wird. Wenn aber das festgegründete Recht auf Ehe und Zeugung genommen wird, dann ist es um die menschliche Würde geschehen.<ref> Enzyklika Populorum progressio 37, AAS 59 (1967), S. 276. </ref>
19. Einsatz geistiger Kräfte
In der Tat waren Menschen nie offensichtlicher als in unserer Zeit veranlasst, soziale Unternehmen auszudenken. Deswegen sind darauf jene geistigen Kräfte und Vermögensaufwendungen einzusetzen, die für die Rüstung und für technologische Experimente verbraucht werden. Wenn der Mensch die sich anbietende günstige Gelegenheit zum Handeln außer amt lässt und nicht frühzeitig genug die neu aufkommenden sozialen Probleme ins Auge fasst, dann werden diese mit der Zeit noch schwerer, so dass die Hoffnung auf ihre friedliche Lösung schwindet.
20. Massenmedien
Wenn wir die hauptsächlichen Wandlungen unserer Zeit erwähnen, wollen wir nicht die täglich zunehmende Bedeutung der Massenmedien mit Schweigen übergehen, auch nicht ihren wirksamen Einfluss auf die geistige Haltung, auf die Erkenntnis der Dinge, auf die Veränderung der menschlichen Institutionen und auf die Gesellschaft selbst. Sie bringen freilich auch viele Vorteile mit sich; denn mit ihrer Hilfe werden Nachrichten von fast allen Ländern zu uns gebracht, wobei sie die Verbindung über weite Entfernungen hin vervollkommnen und zwischen allen Menschen Ursachen der Einheit fördern, so dass geistige und berufliche Bildung weiter verbreitet werden können. Aber solche Kommunikationsmittel bringen aufgrund ihrer Wirkweise Schritt für Schritt eine neue Art von Herrschaftsgewalt mit sich. Warum wird nicht gefragt nach denen, bei welchen die Leitung dieser Medien liegt, nach den Plänen, die sie machen, nach den Mitteln, sie durchzusetzen, schließlich nach der Wirkung, die ihrer Arbeit folgt, und zwar bezüglich des persönlichen Freiheitsvollzugs, auf dem Gebiet der Politik, der Weltanschauungen und betreffs des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens? Auf den mit der Verfügungsmacht über diese Medien versehenen Menschen liegt die überaus schwere Last der Verantwortung, bezüglich der Wahrheit ihrer Nachrichtensendungen, bezüglich der daraus folgenden komplizierten Auswirkungen und schließlich bezüglich der dargebotenen Lebenswerte. Außerdem wird mittels des Fernsehens eine ganz eigene Erkenntnisweise eröffnet, und es zeichnen sich Umrisse einer neuen Zivilisation ab, die vom "Bild" den Namen bekommt.
Die öffentlichen Gewalten dürfen offenbar weder die wachsende Bedeutung der Kommunikationsmittel noch die Vorteile oder Gefahren ignorieren, die ihr Gebrauch mit sich bringt in bezug auf den wahren Fortschritt und auf die Weiterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft.
Daher ist es ihre (der öffentlichen Gewalten) Pflicht, ihr Amt im Dienst des Gemeinwohls richtig wahrzunehmen, indem sie fruchtbare Unternehmen fördern und sowohl den einzelnen Menschen als auch den Gruppen Hilfe gewähren, wenn diese sich zur Verteidigung erstrangiger Güter der Person und der menschlichen Gemeinschaft einsetzen. Ihnen wird außerdem daran liegen, durch geeignete Maßnahmen das fernzuhalten, was von Natur aus dem gemeinsamen Vermächtnis der Lebenswerte schaden könnte, auf die sich ein echter Fortschritt der Gesellschaft gründet.<ref> II. Vat. Konz. Dekret Inter mirifica, 12.</ref>
21. Um- und Mitwelt des Menschen
Während das Blickfeld der Dinge, in das der Mensch gesetzt wird, sich so ganz nach den Bildern ausrichtet, die ihm in Auswahl dargeboten werden, macht sich noch eine andere Veränderung bemerkbar, welche in wirklich verhängnisvoller und unvermuteter Weise der menschlichen Tatkraft folgt. Dessen werden sich die Menschen heute fast überstürzt bewusst: nämlich die Natur so unbedacht ausgeschlachtet zu haben, dass Gefahr besteht, sie zu zerstören, und dass der in solchem Missbrauch liegende Schaden wieder auf sie selbst zurückfällt. Aber nicht nur die Umwelt des Menschen wird für diesen stets feindlicher, wie zum Beispiel die Verunreinigung der Natur, Umweltverschmutzung, neue Krankheiten, absolute Vernichtungskraft; der Mensch hat auch die menschliche Gesellschaft selbst nicht mehr im Griff, so dass er für seine Zukunft Lebensbedingungen herbeiführen kann, die für ihn ganz und gar unerträglich sind. Es handelt sich um die Soziale Frage, die so weite Dimensionen hat, dass sie die gesamte Menschheitsfamilie erfasst.
Derart neuen Aussichten müssen die Christen ihre Gedanken zuwenden, damit sie sich zusammen mit den übrigen Menschen der Verantwortung für das Schicksal bewusst werden, das ein allen gemeinsames zu nennen ist.
Ideologische Gegensätze
22. Moderne Tendenzen
Während der Fortschritt der Wissenschaften und der Technik das Antlitz der irdischen Wohnstätte der Menschen sehr verändert und neue Methoden der Erkenntnis, des Sachgebrauchs, der gegenseitigen Beziehungen bringt, wird der Mensch offenbar unter diesen modernen Lebensbedingungen von einem doppelten Streben bewegt, und zwar um so heftiger, je mehr die Wissenschaft und Bildung voranschreiten: nämlich das Streben nach Erlangen von Gleichheit und nach Teilhabe an den verantwortlichen Aufgaben. Dies sind ja zwei Formen der menschlichen Würde und Freiheit.
23. Menschenrecht und Liebe
Auf dem Wege zur Realisierung dieser beiden Interessen und zu ihrer Aufnahme in die öffentlichen Strukturen sind schon Fortschritte gemacht worden bei der Festsetzung der Menschenrechte und bei internationalen Verträgen, worin diese Rechte in die Praxis umgesetzt werden könnten.<ref> Enzyklika Pacem in terris, AAS 55 (1963). S. 261 f.</ref> Indessen kommen Unterschiede, die zwischen Menschen verschiedener Abstammung, Bildung, Religion, politischer Verfassung gemacht werden, immer wieder vor. Denn öfters werden die Menschenrechte, wenn sie auch nicht verachtet werden, so doch weiterhin nicht anerkannt oder nur äußerlich beachtet. Recht oft kommt es auch vor, dass Gesetze erst später erlassen werden, als es die Sachlage forderte. Diese Gesetze sind zwar notwendig, aber sie genügen nicht zur Knüpfung zwischenmenschlicher Verbindungen, die in Gerechtigkeit und Gleichheit gründen sollten. Denn das Evangelium lehrt - wo es uns doch die Liebe vorschreibt -, dass den Ahnen besondere Amtung geschuldet wird, und dass sie in der Gesellschaft einen besonderen Platz einnehmen; außerdem seien die begüterten Menschen verpflichtet, auf bestimmte eigene Rechte zu verzichten, um so ihre Güter hochherziger zum Wohl anderer zu verwenden. Denn wenn ein über die Rechtsgebote hinausgehendes Pflichtbewusstsein, die anderen zu achten und zu unterstützen, fehlt, kann die Gleichheit der Bürger, die gesetzlich festgelegt ist, zum Vorwand genommen werden, ungerechte und unverkennbare Unterschiede zu machen, fremde Arbeit dauernd zu missbrauchen, andere in Wirklichkeit zu veramten. Wenn die Menschen nicht mit neuem Geist und Eifer erfüllt werden, um die gegenseitigen menschlichen Beziehungen zu fördern, dann kann eine mehr als billig betonte Gesetzesgleichheit zu Lebensbedingungen führen, die allzu sehr den privaten Nutzen begünstigen, wo ein jeder auf seine Rechte pocht und das Gemeinwohl hinten anstellt.
Wer sähe nicht, von welcher Bedeutung auf diesem Gebiet die christliche Lebensauffassung ist, die ja dem innersten Verlangen der Menschen entspricht, welche geliebt werden wollen? Die Liebe zu den Menschen, welche natürlicherweise einen erstrangigen Wert darstellt, bereitet die Bedingungen des gesellschaftlichen und internationalen Friedens, indem sie die brüderliche Verbindung aller Menschen festigt.<ref> Botschaft zum Weltfriedenstag, AAS 63 (1971), S.5-9.</ref>
24. Verantwortung zum politischen Leben
Das von Uns genannte zweifache Bestreben nach Erlangung der Gleichheit und Mitverantwortung hängt aber mit der Förderung eines demokratischen Gesellschaftsstils zusammen. Für einen solchen werden verschiedene Modelle angeboten, von denen einige schon praktiziert werden. Aber keines von ihnen findet allseitige und unbedingte Billigung, so dass es auf diesem Gebiet weiterhin Lehrmeinungen und Versuche gibt. Den Christen aber fällt die Aufgabe zu, sich an dieser Suche zu beteiligen, ebenso an der Organisation und am Leben der bürgerlichen Gesellschaft. Da der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, ist er der Schmied seines eigenen Glücks innerhalb der recht zahlreichen Sondergruppen, die zur Vervollkommnung und weiteren Entwicklung notwendigerweise eine umfassendere Gesellschaft erheischen, die allgemeineren Charakter hat: die politische Gemeinschaft. In dieser erweiterten Gesellschaft hat jede unternehmerische Tätigkeit der einzelnen ihren Platz, und aus ebendiesem Grund nimmt sie den Charakter von Gemeinwohl an.<ref> II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 74.</ref> Damit ist die Bedeutung jener Institution für das gesellschaftliche Leben genannt, durch die nicht nur die Kenntnis der persönlichen Rechte weitergegeben, sondern auch das ins Gedächtnis zurückgerufen wird, was mit ihnen notwendig zusammenhängt: die Anerkennung der Pflichten, zu denen der eine dem anderen gegenüber gehalten ist. Bewusstsein und Wahrnehmung der damit verbundenen Aufgabe aber hängen vor allem wieder von der persönlichen Einstellung, von der geistigen Selbstzucht, von der Übernahme von Verantwortung und von der Einwilligung in Reglements ab, durch die sowohl für den einzelnen als auch für einzelne Gruppen bestimmte Freiheitsgrenzen festgelegt werden.<ref>II. Vat. Konzil, Erklärung Dignitatis humanae, 1.</ref>
25. Die politischen Gruppen
Die politische Tätigkeit - muss man darauf hinweisen, dass es sich hier um die Tätigkeit, nicht aber um eine bestimmte Auffassung (doctrina) handelt? - ist durch den Vorentwurf einer Gesellschaftsform zu unterstützen, die ganz bestimmte Mittel einsetzt und Entscheidungen trifft aus der vollen Kenntnis sowohl der menschlichen Berufung als auch der verschiedenen Formen dieser Berufung in der Gesellschaft. Dann steht es aber weder den bürgerlichen Gemeinschaften noch den nur auf sich selbst bedachten politischen Parteien zu, irgendeine Auffassung aufzuzwingen, unter Einsatz von Mitteln, welche die Menschen einer harten geistigen Zwangsherrschaft unterwerfen, der übelsten von allen. Nur jenen Gemeinschaften, die durch kulturelle und religiöse Bande geknüpft sind, kommt es zu - unbeschadet der Freiheit der Mitglieder -, ohne Eigennutz und in Verfolgung der eigenen Wege inmitten des gesellschaftlichen Gefüges solche Überzeugungen zu nähren und zu fördern, welche dem Wesen des Menschen und der Gesellschaft, ihrem Ursprung und Ziel gerecht werden. In dieser Sache wollen wir an jenen Grundsatz erinnern, den das Zweite Vaticanum aufgestellt hat: Man darf die Wahrheit nur kraft der Wahrheit selbst, die sanft und kraftvoll zugleich in den Geist eindringt, zur Geltung bringen (19).
26. Christentum, Marxismus, Liberalismus
Wer demnach als Christ seinen Glauben leben will, indem er politische Tätigkeit als Dienst zum Wohl anderer vollbringt, der kann nicht - wenn er sich nicht widersprechen will - jene Auffassungen unterstützen, die entweder von Grund auf oder wegen hauptsächlicher Lehraussagen mit dem Glauben unvereinbar sind, den er bekennt, oder mit dem, was er vom Menschen hält. Daher darf er auch nicht marxistischen Lehren zugetan sein, ihrem atheistischen Materialismus und der Dialektik, mit der sie die Gewalt rechtfertigen, schließlich auch nicht jenem Grundsatz, nach dem sie die persönliche Freiheit in der Gemeinschaft (Kollektiv) aufgehen lassen, während sie dem Menschen und dem von einzelnen und der Allgemeinheit Erstellten jeden transzendenten Rang absprechen. Ein Christ unterstützt auch nicht die Auffassungen der sogenannten Liberalen, welche die Freiheit der Person hochzuhalten behaupten und sie doch von jedem Maßstab trennen, sie nur aus Profit- und Machtgründen überbetonen; sie meinen schließlich, die gesellschaftlichen Bande zwischen den Menschen folgten ohne weiteres und gleichsam ohne äußeren Einfluss aus privater Initiative, sie seien nicht Sinn und Hauptgesichtspunkt, an dem die Vortrefflichkeit einer geordneten Gesellschaft ermessen werden kann.
27. Doppeldeutige Ideologie
Ist es nötig, auf die einer sozialen Doktrin zugrundeliegenden Zweideutigkeiten hinzuweisen? Denn bald führt sie die politische oder soziale Tätigkeit dahin, dass sie einfach einen versponnenen Gedanken, der nur in den Vorstellungen des Geistes enthalten ist, auf die Wirklichkeit anwendet; bald ist es der Gedanke selbst, der lediglich als Anleitung zum Handeln dient. Läuft denn nicht der Mensch in beiden Fällen Gefahr, sich selbst fast entfremdet zu werden? Der christliche Glaube übersteigt jedoch solche Auffassungen, stellt sich ihnen bisweilen entgegen, sofern er einen alles übersteigenden Gott und Schöpfer aller Dinge anerkennt, der auf allen Stufen des Geschaffenen den mit einer echten Freiheit begabten und durch ganz bestimmte Pflichten gebundenen Menschen ruft und anspricht.
28. Bedrohende Ideologie
Noch eine andere Gefahr besteht, wenn man gänzlich einer Anschauung anhängt, die einer wahren und allseits gesicherten Wissenschaft entbehrt; wenn man sich auf sie verlässt, als ob sie endgültig und völlig ausreichend wäre, dann wird eine Art neues Idol ersonnen, dessen absoluter und zwanghafter Charakter bisweilen unbewusst beibehalten wird. In dieser Anschauung glauben nämlich manche einen Anhaltspunkt finden zu können, ihr wenn auch noch so gewaltsames Tun zu rechtfertigen und zugleich ihrem hochherzigen Vorhaben, anderen zu dienen, genügen zu können. Ein solch guter Wille bleibt gewiss bestehen, wird aber durch eine solche Anschauung wie aufgesogen, die zwar Wege zur Befreiung des Menschen vorschlägt, ihn letztlich aber doch der Versklavung anheimgibt.
29. Technologische Ideologie
Wenn aber heutzutage Forscher vom Rückgang solcher Auffassungen zu sprechen beginnen, dann kann dies vielleicht eine Chance eröffnen für den Zugang zum überweltlichen und bewährten Vorrang der christlichen Religion; zugleich kann es aber auch vorkommen, dass die Menschen in einer stärker werdenden Bewegung geistig einer neuen Form des sogenannten Positivismus anheimfallen: der Technologie, die so weithin verbreitet ist, dass sie als vorrangige Methode menschlichen Schaffens, als vorwiegende Lebensgewohnheit, ja auch als Sprachstil erscheint; jedoch wird nicht danach gefragt, was sie selbst bedeutet.
30. Berechtigte Anliegen
Der Christ aber geht an solchem Positivismus vorbei, der im Menschen nur einen Teil beziehungsweise einen Ausschnitt in Erwägung zieht, wenngleich er heute bekanntlich großes Gewicht hat; bei seiner Arbeit nimmt der Mensch in der Geschichte einige Bewegungen wahr, die von den vorher aufgeführten Anschauungen ausgegangen sind, teilweise aber sich von ihnen unterscheiden. Schon vor kurzem hat Unser Vorgänger Johannes XXIII. in der Enzyklika "Pacem in Terris" aufgezeigt, dass unter ihnen ein Unterschied gemacht werden kann: Es ist - wie er selbst sagt - angebracht, von den falschen Aussagen der Philosophen über Natur, Ursprung, Ziel der Welt und des Menschen jene Bewegungen zu unterscheiden, welche die Wirtschaft, das Soziale, die Bildung oder die politische Verwaltung betreffen, auch wenn solche Bewegungen von jenen Meinungen ihren Ursprung und ihre Anregung nehmen; denn während eine endgültig umschriebene wissenschaftliche Formel nicht mehr verändert wird, sind jene Bewegungen den Veränderungen ausgesetzt, da sie ja unter veränderlichen Zeitbedingungen stehen. Wer würde im übrigen in Abrede stellen, dass in diesen Bewegungen Gutes und Lobenswertes enthalten sein kann, sofern sie nämlich mit den Geboten der rechten Vernunft in Einklang stehen und sich den berechtigten Bestrebungen des Menschen zuwenden?<ref>Enzyklika Pacem in terris 59, AAS 58 (1963), S. 300.</ref>
31. Unterschiedliche Formen des Sozialismus
In unserer Zeit werden die Christgläubigen von den Anschauungen des Sozialismus in seinen verschiedenen Formen angelockt, die im Laufe der Zeit entstanden sind. In diesen suchen sie Bemühungen und Vorschläge zu finden, die ihnen kraft ihres christlichen Glaubens am Herzen liegen. Sie meinen nämlich, auf diesen Weg der Geschichte geführt zu werden, und wollen hierzu ihren Beitrag leisten. Jener Weg der Geschichte zeigt auf verschiedenen Kontinenten und unter verschiedenen Zivilisationsarten je verschiedene Spielarten unter demselben Namen, auch wenn diese Bewegung von Anschauungen ausgelöst worden ist und meist ausgelöst wird, die mit dem christlichen Glauben nicht vereinbart werden können. Es ist also ein sehr scharfes und genaues Urteil erforderlich, da die vom Sozialismus angezogenen Christen recht oft dazu neigen, ihn sich allgemein und umfassend als etwas allseitig Vollkommenes vorzustellen; dann wird der Sozialismus zum Streben nach Wahrung gegenseitiger Gerechtigkeit, gegenseitiger Zusammengehörigkeit und Gleichheit. Außerdem weigern sie sich, die gewaltsamen Verengungen der geschichtlichen Sozialismusbewegungen anzuerkennen, die weiterhin von jenen Anschauungen abhängen, aus denen sie entstanden sind. Unter jenen verschiedenen Weisen, die als Sozialismus ausgegeben werden - dazu gehören das hochherzige Verlangen und Forschen nach einer gerechten Gesellschaft, die historischen Bewegungen mit politischen Zielvorstellungen, das geschlossene Lehrsystem, welches eine umfassende und völlig freie Wertung des Menschen vorzulegen angibt -, müssen Unterschiede gemacht werden, wodurch den Zeitumständen entsprechend eine bestimmte Auswahl vorgenommen werden kann. Indes dürfen diese Unterscheidungen nicht zur Annahme führen, jene Arten seien völlig voneinander getrennt und beständen für sich. Der eindeutige Zusammenhang, der von Haus aus zwischen ihnen besteht, muss deutlich gemacht werden; diese Erkenntnis wird den Christen das Urteil dafür erbringen, wieweit sie sich in diese Vorhaben einlassen dürfen, unter Wahrung zumal der Freiheit, der Gewissenspflichten und des dem geistigen Leben zu gewährenden Raums, was alles den ganzen Fortschritt des Menschen zur Vollkommenheit verheißt.
32. Der Marxismus
Andere Christen aber fragen sich ob die geschichtliche Entfaltung der marxschen Anschauung jetzt einen gewissen Zugang zu ihr sicher erlaubt. Denn sie vermerken eine gewisse Auflösung des Marxismus, der sich bisher als einheitliches Gefüge von Anschauungen dargeboten hat, von dem her der ganze Mensch und die Welt in ihrem Entwicklungsverlauf erklärt wurden, weswegen er atheistisch war. Außer dem doktinären Streit, der öffentlich die verschiedenen Formen des Marxismus -Leninismus bei der Deutung des Verständnisses der Begründer teilt, außer jenen offenen Auseinandersetzungen zwischen mehreren Stilen der Staatsverwaltung, die heute von derselben Anschauung abgeleitet werden, stellen manche Unterschiede in den vielfachen Weisen, den Marxismus zu erklären, fest.
33. Unterschiedliche Formen des Marxismus
Die einen nämlich glauben, der Marxismus bleibe in erster Linie die tatkräftige Ausführung jenes Kampfes, der zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen ausgetragen wird. Weil sie ständige Gewalt, eine immer wieder sich verschlimmernde Bitternis des Beherrschtwerdens und ungerechter Ausbeutung erfahren, glauben sie, der Marxismus sei nichts anderes als Kampf ohne jedes weitere Vorhaben, ein Kampf, den es zu nähren und auch beständig anzuheizen gelte. Für die anderen ist er jedoch in erster Linie die gemeinsame Ausübung politischer und wirtschaftlicher Macht unter der Leitung einer einzigen Partei, die behauptet, sie allein bringe das Wohl aller zum Ausdruck und gewährleiste es; den einzelnen sowie den anderen Gruppen ist jede Möglichkeit zum Handeln und Entscheiden genommen. Nach anderen wiederum betrifft der Marxismus drittens - ob er sich der Herrschaft bemächtigt hat oder nicht - die sozialistische Anschauung, die im sogenannten Historischen Materialismus gründet und in der Verneinung alles dessen, was über die Natur hinausgeht. Wieder anderen erscheint er in einer abgeschwächteren Form, welche die Menschen unserer Zeit anzieht: er gilt als ein nach wissenschaftlichen Maßstäben ausgeführtes Unternehmen, als höchst zuverlässiger Weg zur Erforschung des Sozialen und Politischen, als vernünftiges und zwar geschichtlich ausgewiesenes Band zwischen einem rein geistigen Begriff und der Praxis eines gewaltsamen Umsturzes. Wenn auch diese Erklärungsweise unter Vernachlässigung der übrigen manche Gesichtspunkte herausstellt und diese im Sinne der Doktrin auslegt, so bietet sie doch manchen eine Arbeitshilfe, eine dem Tätigwerden vorausgehende feste geistige Überzeugung, wobei sie für sich in Anspruch nimmt, auf wissenschaftliche Weise die Antriebe (Trends) der fortschreitenden menschlichen Gesellschaft zu ermitteln.
34. Die Einheitlichkeit des Marxismus
Wenn aber in jener marxistischen Doktrin, wie sie in die Lebenspraxis umgesetzt wird, diese verschiedenen Gesichtspunkte und Fragen unterschieden werden können, die von daher den Christgläubigen zum Bedenken und Handeln vorgelegt werden, dann ist es in der Tat sinnlos und gefährlich, deswegen jenes innige Band zu vergessen, das sie innerlich miteinander verbindet. Ebenso gefährlich ist es, sich die verschiedenen Elemente der marxistischen Theorie anzueignen ohne Berücksichtigung ihrer Verbindung mit der Doktrin; schließlich ist es gefährlich, sich mitten in jenen Klassenkampf hineinzubegeben und seine marxistische Interpretation zu übernehmen, während man Typ und Struktur der auf Gewalt aufgebauten Gesellschaft und unbeschränkter Machtausübung übersieht, zu der jene Praxis allmählich führt.
35. Der Liberalismus
Auf der anderen Seite beobachtet man jedoch das Wiederaufleben der Anschauungen des sogenannten Liberalismus. Diese Bewegung wird nämlich immer stärker unter dem Vorwand wirtschaftlicher Leistungskraft und der Entschlossenheit, einen jeden gegen die immer mehr um sich greifende Macht der Institutionen und auch gegen den Machtdrang der öffentlichen Gewalten zu schützen. Freilich sind die Unternehmungen der einzelnen zu unterstützen und zu fördern; stellen aber die Christen, die diesen Weg wählen, sich nicht einen allseits vollkommenen Liberalismus vor, der gleichsam zum Programm für die Sache der Freiheit wird? Sie wünschen einen neuen Typ dieser Anschauung, der unserer Zeit angemessener ist, aber sie vergessen leicht, dass der philosophische Liberalismus von seinem Ursprung her eine verfehlte Betonung der Eigengesetzlichkeit der einzelnen Menschen ist, und zwar was ihr unternehmerisches Schaffen, ihre Initiative und den Vollzug der Freiheit betrifft. Das aber bedeutet, dass die Lehre der Liberalen von den Christen ebenfalls ein abwägendes Urteil verlangt.
36. Der Weg des Christen
Während ihm also die verschiedenen Anschauungen mit neuer Macht begegnen, muss der Christ aus den Quellen seines Glaubens und aus dem Lehramt der Kirche die Grundsätze und geeigneten Handlungsmaßstäbe schöpfen, um zu verhindern, dass er sich verführen lässt und dann in ein doktrinäres Gefüge eingeschlossen wird, dessen Grenzen und absolutistische Macht ihm vielleicht allzu spät aufgehen werden, wenn er sie nicht in ihren Wurzeln durchschaut. Er übersteigt jedes System, deswegen missachtet er den Dienst an seinen Brüdern nicht, sondern wird bei den gewählten Wegen den besonderen Einsatz behaupten, den die Christen zur Verbesserung der Gesellschaft leisten.<ref>Vgl. II. Vat. Konzil Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 11; AAS 58 (1966), S. 1033.</ref>
37. Utopien und christlicher Glaube
Im übrigen wird gegenwärtig die Schwäche der Anschauungen gerade durch die Systeme erkenntlich, mittels deren sie in die Tat umgesetzt werden sollen; denn der bürokratische Sozialismus und der sogenannte technokratische Kapitalismus bekennen sich ganz zu einem machtbestimmten Typ der Demokratie, mit dem nur schwer jene große Aufgabe des menschlichen Zusammenlebens nach Gerechtigkeit und Gleichheit gelöst werden kann. Auf welche Weise können diese wirklich dem Materialismus entgehen, dem allzu großen Hang zum Eigennutz oder auch der grausamen Unterdrückung, welche sie notwendigerweise mit sich bringen? Woher kommt jenes Aufbegehren, das sich allenthalben als Zeichen einer tiefen seelisch-geistigen Angst bemerkbar macht, wenn heute die Menschen nach den wieder auftauchenden sogenannten Utopien Ausschau halten, die beanspruchen, zur Lösung der politischen Aufgabe der heutigen Gesellschaften Besseres leisten zu können als die übrigen doktrinären Grundsätze? Man wird aber wohl kaum in Abrede stellen können, dass der Ruf nach einer erdichteten Gesellschaft recht oft eine bequeme Entschuldigung für jene darstellt, die sich wirklich drängenden Aufgaben entziehen wollen und so in eine Wunsch- und Einbildungswelt ausweichen. Wer mit seinen Gedanken in der Zukunft lebt, kann leicht einen Vorwand suchen, um den augenblicklichen Aufgaben auszuweichen. Indes muss auch unbedingt anerkannt werden, dass diese Weise, die bestehende Gesellschaft zu kritisieren, häufig den nach vom gerichteten Blick des Geistes weckt, der in dieser Zeit schon aufdeckt, was sich vielleicht unerkannt in ihr findet, dass sie die Menschen auf eine bessere Zukunft hin ausrichtet. Ebenso fördert sie die bewegende Kraft der Gesellschaft durch jenes Vertrauen, das sie der erfinderischen Befähigung des menschlichen Geistes und Herzens einflößt; schließlich kann sie, wenn sie für alles aufgeschlossen ist, sich auch dem Angebot der christlichen Religion öffnen. Der Geist des Herrn, der den in Christus erneuerten Menschen beseelt, hört nämlich nicht auf, jenes Gebiet zu verunsichern, wo der menschliche Geist um der Sicherheit willen ausruhen möchte, und die letzten Grenzen in Frage zu stellen, auf die sich der unternehmerische Fleiß des Menschen beschränken möchte; tatsächlich erlasst diesen eine Macht, die ihn dazu antreibt, jedes System und jede Art von Doktrin hinter sich zu lassen. Inmitten der Welt steht das Geheimnis des Menschen, der sich als Kind Gottes weiß innerhalb eines geschichtlichen und psychologischen Vorgangs, bei dem Unterdrückung und Freiheit, die Last der Sünde und das Wehen des Geistes miteinander in einem stets wechselnden Kampf liegen.
Da übersteigt die lebendige Kraft des christlichen Glaubens die kleinlichen Überlegungen einer blinden Liebe zum Eigennutz. Von der Kraft des Geistes Jesu Christi, des Erlösers der Menschen, bewegt und von der Hoffnung gestärkt, widmet sich der Christ dem Aufbau einer menschlichen, friedlichen, gerechten und brüderlichen Gesellschaft, die eine Gott gefällige Gabe werden soll.<ref>VgI. {{#ifeq: Vorlage:Röm (Bibel) | Octogesima adveniens (Wortlaut) |{{#if: Röm|Röm|Vorlage:Röm (Bibel)}}|{{#if: Röm |[[Vorlage:Röm (Bibel)|Röm]]|[[Vorlage:Röm (Bibel)]]}}}} 15{{#if:16|,16}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> In der Tat, die Erwartung .... einer neuen Erde darf die Sorge, diese Erde zu gestalten, nicht abschwächen, muss sie vielmehr wachrufen; denn auf ihr wächst der Leib der neuen menschlichen Familie heran, der schon einen gewissen Umriss der neuen Welt vermitteln kann.<ref>II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 39; AAS 58 (1966), S. 1057.</ref>
38. Humanwissenschaften
In dieser Welt, die dem durch die Wissenschaften und Technik verursachten Wandel unterliegt, der sie in eine neue Form des Positivismus hineinführen kann, steht noch ein anderes und zwar viel gewichtigeres Problem an. Nachdem nämlich der Mensch mit seiner Vernunft darum gerungen hat, sich die Natur zu unterwerfen, erfährt er sich gleichsam eingeschlossen in die Grenzen seiner eigenen Vernünftigkeit; da wird er selbst zum Gegenstand der Wissenschaft. Die "Humanwissenschaften" erfahren heute einen höchst bezeichnenden Aufschwung. Einerseits prüfen sie von Grund auf kritisch die Erkenntnisse, welche bis heute über den Menschen gewonnen wurden, da sie entweder zu sehr in faktischen Gegebenheiten oder zu sehr in gedanklichen Spekulationen begründet erscheinen. Andererseits sondern die Humanwissenschaften aus methodischer Notwendigkeit, wegen vorgefasster Meinungen und aufgrund sich widersprechender Sachverhalte allmählich ganz bestimmte Aspekte des Menschen ab; deswegen müssen sie dafür eine Erklärung zu geben versuchen, die umfassend sein will, oder wenigstens eine Deutung, die einfach nicht alles einbegreifen kann, da sie die Dinge nur nach dem Gesichtspunkt der Messbarkeit (Quantität) beziehungsweise der Erscheinung (Phänomenologie) betrachtet. Dieses Bemühen, mit Hilfe der Wissenschaften alles auf eine Formel zu bringen, verrät ein Vorhaben voller Gefahren. Denn den ersten Rang der Erforschung oder dem Zerlegen (Analyse) zuzuerkennen, heißt den Menschen verstümmeln und - unter dem Anschein wissenschaftlichen Lebens - es soweit bringen, dass er sich nicht mehr in seiner Ganzheit begreift.
39. Gefahr der Humanwissenschaften
Nicht weniger Aufmerksamkeit muss man aber den Wirkungen schenken, welche die Humanwissenschaften erzeugen können, da sie ja grundlegend sind für die Ausarbeitung sozialer Modelle, die dann als wissenschaftlich verifizierte Handlungsnormen verbindlich gemacht werden. Da kann der Mensch selbst gleichsam zum wissenschaftlichen Material werden, wobei seine Wünsche und Bedürfnisse gesteuert (manipuliert), die sittlichen Verhaltensweisen verändert werden, ja sogar seine Wertordnung getroffen wird. Es besteht daher kein Zweifel, dass all das die Gesellschaften von morgen und den Menschen selbst in eine große Krise und Gefahr bringt. Denn wenn alle bezüglich der Errichtung einer neuen Gesellschaft übereinkommen, die dem Menschen wahrhaft dient, dann muss man vor allem wissen, um was für einen Menschen es sich handelt.
40. Dialog mit den Humanwissenschaften
Bezüglich der Humanwissenschaften hegt der Christ mehr als andere Argwohn, wiewohl sie ihn nicht ungewappnet antreffen. Denn wie Wir in der Enzyklika "Populorum Progressio" geschrieben haben, kann die Kirche auf diesem Gebiet für jede Kultur ihren besonderen Beitrag leisten: Da die Kirche mit den Menschen das Streben nach Besserem teilt und von großem Schmerz gepeinigt wird, wenn der Menschen Hoffnung oftmals fehlschlägt, ist es ihr Herzensanliegen, ihnen beizustehen, damit sie möglichst große Fortschritte erzielen. Aus diesem Grunde stellt sie ihnen eben das, was ihr allein eigen ist, vor Augen, nämlich ein Gesamtbild sowohl vom Menschen als auch von den menschlichen Dingen.<ref>Enzyklika Populorum progressio, Nr. 13; AAS 59 (1967), S. 264.</ref> Soll die Kirche sich denn etwa den Humanwissenschaften mit ihren Fortschritten entgegenstellen und das, was sie für sich beanspruchen, bemängeln? Wie sich die Kirche den Naturwissenschaften gegenüber verhält, so vertraut sie auch ganz auf solche Erforschungen, ja ruft die Christen dazu auf, bei ihnen tatkräftig mitzuwirken.<ref>Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 36; AAS 58 (1966), S. 1054.</ref> Wenn sich also die Christen, von der Notwendigkeit der Forschung und vom Willen zur besseren Erkenntnis des Menschen getrieben und durch das Licht ihres Glaubens erleuchtet, den Humanwissenschaften widmen, können sie ein Gespräch - das schon jetzt fruchtbar zu werden scheint - zwischen der Kirche und jenen in Gang bringen, die sich mit diesem neuen Forschungsgebiet befassen. In der Tat kann eine einzige wissenschaftliche Disziplin aufgrund ihres ausschnitthaften Charakters nur einen - wenn auch wahren -Teil des Menschen treffen, Zusammenfassung aber und Sinn sämtIicher Teile entgehen ihr. Indes erfüllen die Humanwissenschaften innerhalb dieser Grenzen eine nützliche und gediegene Aufgabe, welche die Kirche gerne anerkennt. Sie selbst können auch die Grenzen und Arten menschlicher Freiheit noch mehr ausweiten, als es bereits bekannte Bedingungen vorhersehen lassen. Sie können zudem der christlichen Sozialethik nützen, die erkennen wird, dass ihr Forschungsgebiet dann in ganz bestimmter Weise abgegrenzt und beschränkt ist, wenn es sich um die Vorlage von sozialen Modellen handelt; dagegen wird ihre Aufgabe, die Dinge zu beurteilen und auf eine höhere Ordnung zu beziehen, sehr bekräftigt, wenn sie aufzeigt, wie unsicher und begrenzt jene Maßstäbe und Werte sind, welche ebendiese Gesellschaft als vollkommen und der Natur des Menschen selbst angeboren auszugeben pflegt. Da sie allerdings sehr notwendige Bedingungen sind, zugleich aber keineswegs dazu ausreimen, das, was menschlich ist, in geeigneter Wese zu verdeutlichen, sind diese Wissenschaften in gewisser Weise ein Gespräch, das von Tag zu Tag verwickelter wird, das Geheimnis des menschlichen Herzens aber eher vergrößert als erklärt, weil es nicht voll auf die innersten Bedürfnisse der Seele antwortet.
41. Scheinbarer und wahrer Fortschritt
Diese vollkommenere Erkenntnis des Menschen erlaubt die bessere Erklärung eines Hauptbegriffes, auf den sich die modernen Gesellschaften wie auf einen Rechtfertigungsgrund, einen Maßstab und Säule stützen: der Begriff Fortschritt. Denn schon seit dem 19. Jahrhundert haben die westlichen Gesellschaften und verschiedene andere mit ihnen eng verbundenen ihre Hoffnungen auf einen ständig neuen und fast unbegrenzten Fortschritt gesetzt. Dieser Fortschritt schien für sie in der Bemühung des Menschen um Befreiung von den Anforderungen der Natur und von den Bedrängnissen des gesellschaftlichen Lebens zu bestehen; im Fortschritt lagen nämlich Bedingung und Maß der menschlichen Freiheit. Weil er nun aber durch die modernen Massenmedien, die Wissbegier und den immer mehr steigenden Konsum verbreitet wird, wird der Fortschritt selbst zu einer Art ausgebauten Anschauung (Ideologie), die überall zum Tragen kommt. Deswegen wird heute in Zweifel gezogen, was der Begriff bedeutet und worauf er Bezug hat. Denn was bedeutet dieses unerbittliche Jagen nach Fortschritt, der dahinschwindet, sobald einer glaubt, ihn erreicht zu haben? Ein keiner Norm unterworfener Fortschritt macht den Mensch nicht ganz zufrieden. Zweifelsohne sind mit Recht die Grenzen und Schäden eines ökonomischen Wachstums aufgezeigt worden, das lediglich in der Mengensteigerung beschlossen liegt; es werden auch Leistungen erwartet, die mit der Wohlbeschaffenheit der Verhältnisse zu tun haben. Die Art und Echtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Grad der Mitverantwortung und Mitbestimmung haben für die Gesellschaft von morgen nicht weniger Bedeutung und Gewicht als die Fülle und Verschiedenheit der produzierten und konsumierten Dinge. Wenn der Mensch den Hang und den Wunsch, alles nach wirtschaftlichem Ertrag nach geschäftlichen Gesichtspunkten, nach Machtverhältnissen und Nützlichkeitserwägungen zu bemessen, überwunden hat, will er heute anstelle solcher quantitativer Maße gewichtigere Möglichkeiten, die Verbreitung der Wissenschaften und der Bildungsformen, gegenseitige Dienstleistung, Zusammenwirken aller zum gemeinsamen Werk setzen. Besteht denn nicht der wahre Fortschritt in der Ausbildung des sittlichen Gewissens, das den Menschen dazu bringt, Aufgaben im erweiterten Gesellschaftsleben zu übernehmen und sich sowohl den anderen als auch Gott frei zur Verfügung zu stellen? Für den Christen hängt der Fortschritt notwendig mit dem eschatologischen Geheimnis des Todes zusammen; denn Tod und Auferstehung Christi sowie der Antrieb des Geistes Gottes verhelfen dem Menschen dazu, dass er eingedenk der gespendeten Wohltaten seine schöpferische Freiheit zu wahrem Fortschritt einsetzt, und zwar nur in jener Hoffnung, die nicht enttäuscht.<ref>VgI. {{#ifeq: Vorlage:Röm (Bibel) | Octogesima adveniens (Wortlaut) |{{#if: Röm|Röm|Vorlage:Röm (Bibel)}}|{{#if: Röm |[[Vorlage:Röm (Bibel)|Röm]]|[[Vorlage:Röm (Bibel)]]}}}} 5{{#if:5|,5}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref>
Beitrag der Christen
42. Kirchliche Soziallehre
Da so viele und so große neue Probleme auftauchen, versucht die Kirche zu ermitteln, auf welche Weise sie innerhalb ihres eigenen Tätigkeitsgebietes der Erwartung der Menschen Genüge leisten kann. Wenn die heutigen Schwierigkeiten einmalig zu sein scheinen, entweder wegen ihrer Reichweite oder weil man eilends auf sie antworten muss, ist dann nicht der Mensch bar jeder Möglichkeit, sie zu lösen? Die soziale Lehre der Kirche begleitet mit ihrer ganzen inneren Kraft die Menschen bei der Sudle nach solchen Lösungen. Wenn sie sich nicht einsetzt, um eine bereits verfestigte Struktur mit ihrer Autorität zu bestätigen oder ein fertiges Modell vorzulegen, schärft sie dennoch nicht nur einige allgemeine Grundsätze ein, sondern wächst mit dem Erwägen und Bemühen, das die veränderlichen Verhältnisse dieser Welt bezielt, freilich unter dem Einfluss des Evangeliums, der Quelle der Erneuerung, immer wenn seine Botschaft in ihrer ganzen Fülle und mit ihren Forderungen bejaht wird. Zudem wächst diese Soziallehre aufgrund jener Einfühlungskraft, die der Kirche eigen ist und die sich fern menschlicher Nützlichkeitserwägungen durch verantwortliches Dienen und die Liebe zu den Schwachen auszeichnet; schließlich schöpft sie die Kräfte aus der gemachten Erfahrung, die im Laufe mehrerer Jahrhunderte bereichert worden ist. Dies ermöglicht ihr deshalb, im ständigen Bemühen derselben Kirche kühne und schöpferische Neuerungen einzuleiten, welche die gegenwärtige Weltlage fordert.
43. Gerechtigkeit
Es geht fürwahr darum, größere Gerechtigkeit bei der Verteilung der Güter zu verwirklichen, sowohl bei den einzelnen Völkern als auch zwischen allen Staaten der Welt. Was die Handelsbeziehungen auf der ganzen Welt angeht, müssen die sich auf Gewalt stützenden Methoden überwunden werden, um im Interesse des allgemeinen Wohls zu vertraglichen Vereinbarungen zu kommen. Denn diese Gewaltmethoden haben nie eine dauerhafte und wahre Gerechtigkeit erstellt, auch wenn die aus gegenseitigen Beziehungen erwachsenden Wechselwirkungen bisweilen die Möglichkeit bieten, leichtere Gesprächsbedingungen zu finden. Im übrigen weckt die Anwendung von Gewalt gegensätzliche Kräfte, weswegen es dann zu einem Kampfzustand kommt, der zu willkürlichem Unrecht und zu Zügellosigkeiten führt.<ref>VgI. Enzyklika Populorum progressio, Nr. 56 H; AAS 59 (1967), S. 285 H.</ref> Aber, wie Wir oft betont haben, die oberste Gerechtigkeitspflicht besteht darin, dass jedes Volk das (heilige) Recht hat, den eigenen Fortschritt voranzutreiben, der im Zusammenhelfen erstellt wird und so jeder Verfügungsgewalt entzogen ist sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht. In der Tat gibt es viele und zwar verwickelte Probleme, die auf diesem Gebiet auftauchen, da die gegenseitigen Beziehungen heute so eng verknüpft sind. Es ist also mutige Entschlossenheit nötig, damit die gegenwärtigen Beziehungen zwischen den Völkern überprüft werden, handle es sich um die internationale Verteilung der Produktionsgüter, um die Handelsstruktur, um die Kontrolle des Gewinns oder um die Organisation des Finanzwesens - zu erwähnen sind auch allgemeine Wohlfahrtsreinrichtungen -; es bedarf ebenso eines entschlossenen Sinnes, damit die Modelle, nach deren Maß die reicheren Völker wachsen, in Frage gestellt werden; damit die Sinne und Herzen sich wandeln und bereit werden, dem internationalen Recht die Hauptrolle zuzuerkennen; schließlich, damit die internationalen Institutionen erneuert werden, um größere Wirksamkeit zu erreichen.
44. Wirtschaftliche Machtkonzentrationen
Unter dem Druck neuer Produktionsmethoden tun sich die Grenzen der Völker gewissermaßen auf, und es entstehen neue Wirtschaftsmächte, nämlich verschiedene Völker betreffende Unternehmungen, die wegen der konzentrierten und zur Gesamtproduktion geeigneten Machtfülle Führungsstil annehmen können, die niemandem Rechenschaft schuldig, zum großen Teil von den politischen Mächten der Völker unbeeinträchtigt und so von jeder Kontrolle vom Gemeinwohl her frei sind. Entsprechend ihrer erweiterten Produktionsstärke können solche privaten Einrichtungen zu einer neuen, unzulässigen Form wirtschaftlicher Macht führen, und zwar auf dem sozialen Gebiet, in der geistigen Bildung und auch in der Politik. Allzu konzentrierte Macht und Verfügungsgewalt, die schon Pius XI. 40 Jahre nach Erscheinen von Rerum Novarum verurteilt hat, nehmen eine neue und fest umrissene Form an.
45. Wille zur Macht
In unserer Zeit hegen die Menschen den sehnlichen Wunsch, von Not und fremder Gewalt frei zu kommen. Solche Befreiung beginnt aber bei der inneren Freiheit, die sie wiedererlangen müssen im Hinblick auf ihre Güter und Handlungsmöglichkeit. Diese (innere Freiheit) werden sie aber nur erreichen, wenn sie die anderen mit einer den (einzelnen) Menschen übersteigenden Liebe lieben, also nur dann, wenn sie die Haltung des Dienens tatkräftig fördern. Sonst führen die doktrinären Methoden, welche hauptsächlich auf Neuerung und umstürzende Änderung zielen, offensichtlich zu nichts anderem als zu einem Wechsel von Machthabern; denn diese neuen Herren, die sich nun zur Abwechslung der Herrschaft bemächtigt haben, sichern sich durch Vorrechte, mindern die Freiheiten und lassen neue Formen von Ungerechtigkeit entstehen.
Nun fragen aber die meisten Menschen von heute nach dem Modell der bürgerlichen Gesellschaft. Denn der ehrgeizige Wille vieler Völker läuft beim Konkurrenzkampf, von dem sie sich bestimmen beziehungsweise entzweien lassen, auf eine Herrschaft in der Technik, der Wirtschaft und im Militärwesen hinaus. Deswegen verhindert dieser Wille, dass solche Strukturen wirksam werden, durch die der Antrieb des Fortschritts sich eher nach einem Maßstab vollkommener Gerechtigkeit ausrichten würde; vielmehr werden die gegenseitigen Unterschiede vermehrt, leben die Menschen in gegenseitigem Misstrauen und Streit, wodurch der Friede ständig in Gefahr gerät.
46. Politik
Werden aber hier nicht die engen Grenzen, in welche die Wirtschaft eingefasst ist, recht augenscheinlich? Die wirtschaftliche Regsamkeit kann, so notwendig sie ist, auch, wenn sie der menschlichen Person dient, bewirken, dass die brüderliche Liebe gleichsam zum Blühen kommt und die Hilfe der Vorsehung Gottes deutlich wird.<ref>Enzyklika Populorum progressio, Nr. 86; a. a. O., S. 299.</ref> Sie biete Gelegenheit, dass zwischen den Menschen festgegenseitige Beziehungen geknüpft, die Rechte an erkannt, Dienste geleistet und in Anspruch genommen werden und dass bei der Arbeit die menschliche Würde gesichert wird. Auch wenn die Wirtschaft einer Front gleicht, wo feindliche Truppen sich einen Kampf liefern und um den Sieg ringen, kann sie dennoch die Gespräche fördern und zu gemeinsamen Hilfeleistungen anregen. Aber sie läuft Gefahr, die Kräfte und Freiheit maßlos aufzubrauchen.<ref>Vgl. [II. Vatikanum|II. Vat. Konzil]], Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 63; AAS 58 (1966), S. 1085.</ref> Dies ist der Grund, warum die Wirtschaft sich der Politik eingliedern muss. Zweifellos können, wenn von "Politik" die Rede ist, verschiedene Meinungen angeführt werden, welche den Geist verwirren und deshalb genau abgegrenzt werden müssen; aber alle sind sich darüber klar, dass auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet, sei es national oder international bestimmt, die letzte Entscheidung Sache der politischen Macht ist.
Diese politische Macht, die gleichsam ein aus der Natur sich ergebendes und notwendiges Band ist, um das soziale Gefüge zusammenzuhalten, muss aber die Besorgung des Gemeinwohls bezielen. Unter Wahrung der rechtmäßigen Freiheit der Personen, der Familien und subsidiären Gruppen ist sie imstande, allen Menschen wirksam die Lebensbedingungen zu gewährleisten, die in der Tat erforderlich sind, damit das wahre und ganze Wohl des Menschen erfasst wird, in dem auch seine geistliche Berufung eingeschlossen ist. Diese Macht wird allerdings innerhalb der Grenzen ihres Verfügungsbereichs wirksam, die bei den einzelnen Nationen und Völkern sehr verschieden sein können. Sie wird immer wirksam bewegt vom Eifer für Gerechtigkeit und vom Einsatz für das Gemeinwohl, für das sie sich in höchstem Maß verantwortlich weiß. Sie nimmt aber den einzelnen Menschen und den subsidiären Körperschaften keineswegs den ihnen eigenen Wirkbereich und die ihnen eigenen Aufgaben, zu denen sie selbst gehalten sind, um sich geschlossen für das Gemeinwohl einzusetzen. Tatsächlich muss jeder soziale Einsatz kraft seiner Natur den Gliedern des sozialen Ganzen Hilfe leisten, er darf sie nie zerstören und aufsaugen.<ref>Enzyklika Quadragesimo anno: AAS 23 (1931), S. 203; vgl. Enzyklika Mater et magistra: AAS 53 (1961), S. 414, 428; [II. Vatikanum|II. Vat. Konzil]], Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 74, 75; 76; AAS 58 (1966), S. 1095-1100.</ref> In Wahrnehmung dieser Aufgabe, zu der sie eigentlich berufen ist, muss die öffentliche Gewalt sich von Sonderinteressen freimachen, damit sie ihrer Pflicht gewahr wird, das Wohl aller Menschen zu besorgen - auch außerhalb der nationalen Grenzen. Wenn das Politische mit der angebrachten Bemühung betrieben wird, die ihre verschiedenen Gebiete ins Auge fasst, welche lokale, regionale, nationale Gesichtspunkte und die Welt selbst umgreifen, dann heißt dies nichts anderes als die Pflicht des Menschen, und zwar eines jeden Menschen, bejahen, zu erkennen, was es mit der freien Entscheidung auf sich hat und was sie bedeutet, ist ihm doch diese angeboten, damit er für die Verwirklichung des gemeinschaftlichen Wohls seiner Stadt, seines Volkes und der Menschheit Einsatz leistet. Die politische Kunst stellt eine schwierige und harte - jedoch nicht die einzige - Weise dar, jene schwere Pflicht zu erfüllen, nach der ein Christ den anderen zu dienen gehalten ist. Obwohl sie nicht alle Fragen ganz lösen kann, ringt sie doch darum, die gegenseitigen Beziehungen der Menschen zu einem guten Erfolg zu bringen. Ihre fürwahr weiten und vieles umfassenden Gebiete schließen andere indes nicht aus. Jenes Vorhaben aber, wonach die Politik in alles eingreift und maßlos wird, bringt größte Gefahr mit sich. Deswegen werden - auch wenn die Politik von eigenen Gesetzen bestimmt werden muss - die Christgläubigen, die sich in öffentlichen Belangen einsetzen, darum ringen, dass ihre Entscheidungen mit dem Evangelium in Einklang bleiben; sie werden, einzeln oder gemeinschaftlich, bezeugen, dass unter den vielen und zu Recht bestehenden Grundsätzen und Meinungen ihr christlicher Glaube wahr und lauter ist, durch den sie im Bemühen nicht um den eigenen Vorteil, sondern zum Nutzen der anderen wirksam zum Dienst an den Menschen bewegt werden.
47. Mitverantwortung
Die Hinwendung zum politischen Gebiet macht etwas anderes deutlich, was heute die Menschen fordern, nämlich eine größere Teilnahme an Verantwortung und Planung. Diese ihre rechtmäßige Forderung wird um so nachdrücklicher, je mehr der Grad der Bildung steigt, je mehr der Sinn für die Freiheit reift und je genauer die Menschen bemerken, welche Bedeutung für die Bestimmung der zukünftigen Lebensbedingungen schon jetzt das hat, was in dieser Zeit schwankender Hoffnung zur Entscheidung ansteht. Unser Vorgänger Johannes XXIII. hat in seiner Enzyklika Mater et Magistra<ref>Enzyklika Mater et magistra, AAS 53 (1961), pp. 420-422.</ref> gezeigt, dass der Zugang zu Aufgaben und Verantwortung schon von der Natur des Menschen gefordert sei; dass dies ein ganz bestimmter Vollzug der Freiheit und zugleich der Weg zur Förderung des Fortschritts der einzelnen sei. Er hat auch Gründe dargelegt, wonach auf dem Gebiet der Wirtschaft und vor allem in den gütererzeugenden Betrieben dem Menschen die Mitverantwortung gesichert werden kann.<ref>Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 68: AAS 58 (1966), S. 1089-1090; 1097.</ref> Heute aber erweitern sich solche Betätigungsfelder noch mehr; sie erstrecken sich auf soziale und politische Gebiete, wo eine gerechte Verteilung der Aufgaben und Entscheidungen vorzunehmen und zu vermehren ist. In der Tat werden die Wahlmöglichkeiten, die reiflich überdacht werden müssen, immer verwickelter; die in Betracht zu ziehenden Erwägungen sind vielfältig; schließlich ist das Voraussehen der Wirkungen voller Ungewissheit, wenn auch in dieser kritischen Zeit neue Wissenschaftszweige die Freiheit (der Entscheidung) wieder ins Licht stellen wollen. Obwohl bisweilen Grenzen gesetzt werden müssen, dürfen diese Schwierigkeiten dennoch keinesfalls verzögern, dass immer mehr Menschen an der Planung, den Entscheidungen und an deren Durchführung beteiligt werden. Damit aber der immer mehr um sich greifenden Macht der Technik widerstanden wird, müssen neue Formen demokratischer Macht gefunden werden, welche dem heutigen Leben entsprechen, so dass nicht nur jeder Mensch die Fähigkeit hat, Einsicht in die Verhältnisse zu gewinnen, seine Meinung darüber auszudrücken, sondern dass er auch durch gemeinsame Übernahme von Aufgaben und Verantwortung in Pflicht genommen wird. Auf diese Weise werden die menschlichen Gemeinschaften allmählich in eine Art Mitverantwortung und Lebensgemeinschaft verwandelt. Auf diese Weise wächst die Freiheit, die in der Beanspruchung ihrer eigenen, keinem verfügbaren Rechte ziemlich oft gegen die Freiheit der anderen sich durchsetzt, gemäß ihrer innersten, dem Menschlichen angemessenen Natur. Sie zielt nämlich darauf ab, dass ein jeder sich bemüht und dafür einsetzt, eine Willenseinigung im Tun und Leben herzustellen. Aber nur dann kann nach Meinung von Christen der Mensch in Unterwerfung unter Gott, der ihn befreit, die wahre, in Tod und Auferstehung Jesu Christi wieder zu neuem Leben erweckte Freiheit finden.
Pflicht zum Einsatz
48. Der Einsatz der Kirche
Auf sozialem Gebiet wollte die Kirche immer eine doppelte Aufgabe wahrnehmen: einmal den Menschen Licht bringen, um ihnen bei der Wahrheitssuche zu helfen, damit sie unter den verschiedenen Anschauungen, von denen sie angezogen werden, den sicheren Weg erkennen: zum anderen wollte sie sich für die Verbreitung der Kraft des Evangeliums einsetzen, in der ausdrücklichen Sorge, den Menschen wirksam zu dienen. Hat die Kirche, um diesen Vorhaben getreu zu sein, denn nicht mit dem apostolischen Amt bekleidete Priester zu den Arbeitern geschickt, die unter völlig gleichen Bedingungen wie die Arbeiter unter diesen Zeugen ihrer Sorge und ihres eifrigen Wollens seien? Deswegen wollen Wir mit erneutem Nachdruck alle Glieder der christlichen Familie zum Handeln bewegen, indem Wir Uns auf dieselben Worte berufen, mit denen Wir in der Enzyklika über den zu fördernden Fortschritt der Völker alle Gemeinschaften zur Inangriffnahme des Werkes ermahnt haben: die Laien müssen es als ihre Aufgabe ansehen, die Ordnung der irdischen Dinge zum Besseren zu wenden. Wenn es der ehrwürdigen Hierarchie zukommt, jene Gesetze und sittlichen Gebote zu lehren und autoritativ zu erläutern, denen auf diesem Gebiet Folge zu leisten ist, dann ist es Aufgabe der Laien, durch ihre freien Entschlüsse und Unternehmungen darauf hinzuwirken - ohne Anweisungen oder Vorschriften von anderswoher erst abzuwarten -, nicht nur das sittliche und geistige Verhalten der Menschen, sondern auch die Gesetze und Strukturen der bürgerlichen Gemeinschaft mit christlichem Geist zu durchdringen.<ref>Enzyklika Populorum progressio 81: AAS 59 (1967), S.296-297.</ref> Ein jeder möge sich also selbst fragen, um zu prüfen, was er bisher getan hat und was es für ihn noch zu tun gibt. Es genügt allerdings nicht, den Menschen allgemeine Vorschriften einzuschärfen, nur Zielvorstellungen zu entwickeln, schwere Ungerechtigkeiten zu verurteilen, Einsichten mit einem gewissen prophetischen Pathos vorzutragen; all das wird keinen Wert haben, wenn nicht in jedem Menschen ein lebendigeres Pflichtbewusstsein mit fest umrissenem Einsatz ineinsgeht. Man macht es sich zu leicht, anderen die Schuld an gegenwärtigen ungerechten Verhältnissen zu geben, wenn man nicht zugleich begreift, dass niemand von dieser Schuld frei ist und also vor allem von den einzelnen Menschen eine Besserung verlangt wird. Diese als vordringlich zu erachtende demütige Einstellung aber reinigt das Handeln von jeder verletzenden Härte und jedem parteiischen Eifer; zugleich bewahrt sie davor, dass die Kräfte versagen angesichts des schier unermesslichen Unternehmens. Der Gefolgsmann Christi nährt seine Hoffnung vor allem aus seinem Wissen, dass der Herr Jesus mit uns in der Welt wirkt, in seinem Leib, der die Kirche ist - und deswegen auch in der gesamten Menschheit; er weiß, dass die Erlösung folgt, die durch das Kreuzesopfer errungen wurde und am Morgen der Auferstehung siegreich aufgeleuchtet ist.<ref>Vgl. {{#ifeq: Evangelium nach Matthäus | Octogesima adveniens (Wortlaut) |{{#if: Mt|Mt|Evangelium nach Matthäus}}|{{#if: Mt |Mt|Evangelium nach Matthäus}}}} 28{{#if:30|,30}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}; {{#ifeq: Brief des Paulus an die Philipper | Octogesima adveniens (Wortlaut) |{{#if: Phil|Phil|Brief des Paulus an die Philipper}}|{{#if: Phil |Phil|Brief des Paulus an die Philipper}}}} 2{{#if:8-11|,8-11}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Diese seine Hoffnung ist außerdem in seiner Erkenntnis begründet, dass auch die anderen sich einsetzen für dieselbe Same der Gerechtigkeit und des Friedens; denn im Herzen eines jeden Menschen liegt mit Sicherheit unter einer scheinbaren Gleichgültigkeit sowohl der Wunsch verborgen, auf brüderliche Weise zu leben, als auch der Durst nach Gerechtigkeit und Frieden, der doch gestillt werden will.
49. Der Einsatz der Christen
Deshalb muss jeder entscheiden, was er unter den verschiedenen Bedingungen, Aufgaben und Unternehmen zu leisten hat; er muss, vom guten Gewissen bewegt, prüfen, zu welchem Tun er berufen ist. Weil der Christgläubige unter Verhaltensweisen lebt, die ihm zuwider sind und wo es neben berechtigten Anliegen höchst unklare geistige Bewegungen gibt, muss er gewissenhaft Wege wählen und sich hüten, sich in die bedingungslose Zusammenarbeit mit den Unternehmungen anderer einzulassen, wenn diese den Grundsätzen wahrer Menschlichkeit widersprechen, selbst bei Beziehungen, die sehr tief empfunden werden. Wenn er als Christ tatsächlich seine Rolle spielen und mit seinem Glauben in Einklang bleiben will - was ja auch die Ungläubigen von ihm erwarten -, dann muss er beim Handeln darauf achten, dass er seine Handlungsgründe deutlich macht und die von ihm herangezogenen Überlegungen übersteigt, indem er von einer umgreifenderen Betrachtung der Dinge geleitet wird, welche die Gefahren der Einzelinteressen und rücksichtsloser Macht, welche die Freiheit unterdrückt, vermeidet.
50. Vielfältiger Einsatz
Unter ganz bestimmten Umständen und angesichts eine Notlage, die man erfährt, muss die Entscheidung zu berechtigten, wenn auch verschiedenen möglichen Wegen anerkannt werden. Denn ein und derselbe christliche Glaube kann zur Übernahme verschiedener Aufgaben führen.<ref>Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 43: AAS 58 (1966).</ref> Die Kirche lädt alle Christen ein, eine doppelte Pflicht zu erfüllen, nämlich die Welt mit christlichem Geist zu beleben und auch zu erneuern, damit die Strukturen zu einer vollkommeneren Form entwickelt und den wahren Bedürfnissen dieser Zeit angepasst werden. Wenn die Christgläubigen unterschiedliche Entscheidungen treffen, verlangt die Kirche das Bemühen, die Meinungen anderer und die dafür vorgebrachten Gründe in gegenseitigem Wohlwollen und in gegenseitiger Achtung zu verstehen. Wenn aber die Verhaltensweisen des einzelnen und ihre Rechtschaffenheit aufrichtig überdacht werden, dann wird dies den einzelnen nahe legen, eine Haltung eifriger Liebe anzunehmen, aus der sie zwar auch Verschiedenheiten anerkennen, aber doch auf die konkrete Möglichkeit vertrauen, Entscheidungen schließlich gemeinsam zu treffen und so Einheit herzustellen. Stärker nämlich ist das, wodurch die Gläubigen geeint, als das, wodurch sie getrennt werden.<ref>Ebd. 93; S. 1061. 43: a. a. O., S. 1113; 1061.</ref> Tatsächlich sind viele, die in die heutigen Strukturen und Lebensbedingungen gleichsam eingepfercht sind von ihren eigenen Meinungen und Aufgaben völlig in Beschlag genommen, wenn nicht gar von dem Bestreben, die eigenen Interessen zu sichern; aber andere denken von den Gemeinschaftsbanden zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und Kulturen so hoch, dass sie ausnahmslos alle Meinungen und gewählten praktischen Wege derer sich zu eigen machen, mit denen sie gemeinschaftlich leben.<ref>Vgl. {{#ifeq: 1. Brief des Paulus an die Thessalonicher | Octogesima adveniens (Wortlaut) |{{#if: 1 Thess|1 Thess|1. Brief des Paulus an die Thessalonicher}}|{{#if: 1 Thess |1 Thess|1. Brief des Paulus an die Thessalonicher}}}} 5{{#if:21|,21}} Thess%205{{#if:21|,21}}/anzeige/context/#iv EU | BHS =bibelwissenschaft.de">Thess%205{{#if:21|,21}}/anzeige/context/#iv EU | #default =bibleserver.com">EU }}.</ref> Deswegen muss jedem daran liegen, sich selbst zu prüfen, damit jene wahre Freiheit in Christus aufkommt, die es möglich macht, dass auch unter ganz besonderen Umständen lebende Menschen offen werden für das, was alle insgesamt betrifft.
51. Christliche Verbände
Auf dieselbe Weise werden die christlichen Verbände unter Berücksichtigung ihrer verschiedene Formen der Verantwortung für ihr gemeinsames Handeln bewusst. Indem sie sich davor hüten, an die Stelle von Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft zu treten, müssen sie, zwar auf ihre Weise, aber gleichzeitig in Übersteigung des ihnen Eigentümlichen, die eindeutigen Forderungen des christlichen Glaubens bei der gerechten und notwendigen Veränderung der menschlichen Gesellschaft zum Ausdruck bringen.<ref>Vgl. Pastoralkonstitution Lumen gentium, 31: AAS 57 (1965), S. 37-38; Dekret Apostolicam actuositatem, 5: AAS 58 (1966), S. 842.</ref>
In unseren Tagen kann mehr denn je das Wort Gottes nur noch dann verkündet und verstanden werden, wenn es begleitet wird vom Zeugnis der Kraft des Heiligen Geistes, welcher im Handeln der den Brüdern dienenden Christgläubigen am Werk ist in eben den Verhältnissen, in denen ihr Leben und zukünftiges Schicksal auf dem Spiele steht.
52. Schlusswort
Wenn Wir diese Unsere Überlegungen Dir, ehrwürdiger Bruder, mitteilen, dann wissen Wir wohl, dass Wir nicht alle sozialen Probleme berührt haben, welche die Herzen der Menschen, seien sie gläubig oder guten Willens, heutzutage bewegen. Noch ist in Erinnerung, was Wir kürzlich erklärt haben; dem ist die von Dir anlässlich des zweiten Dezenniums zur Förderung des "Menschlichen Fortschritts" herausgegebene Botschaft hinzuzufügen; denn Wir haben von den Pflichten gehandelt, an die alle Völker gebunden sind, um jene schwierige Frage um den Menschen zu lösen, der allseits und in gemeinsamen Hilfeleistungen gefördert werden muss.
Das aber, was Wir hier dargelegt haben, wurde deswegen an Dich geschrieben, damit dem Laienrat und der Päpstlichen Studienkommission "Iustitia et Pax" neue Gehalte zur Verfügung stehen und sie so in der Durchführung der ihnen gestellten Aufgaben bestärkt werden. Damit ist ihnen nämlich die Aufgabe gestellt, das gesamte Volk Gottes wachzurufen zur vollen Wahrnehmung der ihm in dieser Zeit obliegenden Aufgabe und das Apostolat .... in den verschiedenen Völkern zu Fördern.<ref>Motu proprio Catholicam christi ecclesiam, 6. Januar 1967.</ref>
Von diesen Anliegen bewegt, erteilen Wir Dir, Ehrwürdiger Bruder, aus ganzem Herzen den Apostolischen Segen.
im achten Jahre Unseres Pontifikates
Anmerkungen
<references />