Petrus Canisius: Katholische Marienverehrung

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Katholische Marienverehrung und lauteres Christentum
Kirchenlehrer Petrus Canisius, Erstausgabe 1577

Quelle: Petrus Canisius, Katholische Marienverehrung und lauteres Christentum, Herausgegeben von Josef Jordans S.J., Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn 1934 (280 Seiten, Imprimatur Paderbornae, die 19. m. Oktbr. 1933. Vic. Gen. Gierse). Bei der Digitalisierung leicht bearbeitet durch Benutzer:Oswald.

Siehe Literatur

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Der "Unvergleichlichen Jungfrau und
Hochheiligen Gottesmutter"

Maria,
deren Ehre der hl. Petrus Canisius vorliegende Schrift gewidmet,
möge der heilige Lehrer auch diese Arbeit darbringen,
und als zweiter Apostel Deutschlands
die allvermögende Fürbitte der Mutter des Heiles
ihr erlangen, auf dass sie beitragen dürfe
zum Wohle des von ihm so sehr geliebten
deutschen Volkes
und zu dessen Wiedervereinigung in der alten
wahren Kirche,
in der die Weissagung der jungfräulichen Gottesmutter
sich allezeit erfüllt hat: "Siehe, von nun an werden
mich selig preisen alle Geschlechter,
denn Großes hat an mir getan, der da mächtig und

dessen Name heilig ist". (Lk 1,48 f.)

Vorwort des Übersetzers

Die hier dargebotene Übersetzung will das große Marienwerk des hl. Petrus Canisius wenigstens auszugsweise einem weiteren Leserkreis zugänglich machen.

Der Mann, auf den das Oberhaupt der katholischen Kirche unsere Zeit hingewiesen hat als auf ein Vorbild heiligen Wandels und eine Leuchte wahrer Lehre, verdient gewiss mehr bekannt und beachtet zu werden, vor allem in dem Land, dessen zweiter Apostel er genannt wird. Zur Verherrlichung dieses unseres neuen deutschen Heiligen und Kirchenlehrers möchte vorliegende Arbeit nach Kräften beitragen. Jedenfalls ist das lateinisch geschriebene Buch, das der Heilige im Jahr 1577 und in zweiter Auflage im Jahr 1583 herausgegeben unter dem Titel: De Maria Virgine Incomparabili et Dei Genitrice Sacrosancta - Über die Unvergleichliche Jungfrau und Hochheilige Gottesmutter Maria - auch heute noch als eines der besten Marienwerke aller Zeiten anerkannt. Einer der bedeutendsten Theologen, die das neunzehnte Jahrhundert in Deutschland hervorgebracht hat, Professor Dr. Matthias Scheeben, bezeichnet dieses Werk des hl. Canisius als eine klassische Verteidigung der ganzen katholischen Lehre über Maria. Papst Pius XI. aber sagt von ihm, es enthalte eine vollständige und sehr reiche, der Heiligen Schrift und der katholischen Überlieferung entnommene Belehrung über die Gottesmutter. Diese 800 Seiten", so fügt er bei, "spiegeln gleichsam die edle Natürlichkeit und lautere Aufrichtigkeit ihres Verfassers wider. Nicht minder aber bekunden sie seine hervorragende Belesenheit und wissenschaftliche Gründlichkeit. Vor allem jedoch ist die ganze Schrift durchglüht von der zarten und innigen Andacht ihres Verfassers zu Maria, die er im Titel seines Werkes als die unvergleichliche Jungfrau und hochheilige Gottesmutter bezeichnet." (Dekretalschreiben "Misericordiarum Deus").

Möge also die Verdeutschung eines auch heute noch so sehr geschätzten Werkes seinem heiligen Verfasser einigen Zuwachs der verdienten Ehre bringen. Aber vor allem möchte sie sich die Aufgabe stellen, die gottgewollte Andacht zur jungfräulichen Gottesmutter, der das große Werk unseres deutschen Kirchenlehrers gewidmet ist, in den Herzen der Leser fester zu begründen und zu vertiefen. Sicherlich hat die Marienverehrung besonders seit der feierlichen Verkündigung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariä durch Papst Pius IX. und infolge der wiederholten Anregungen des großen Rosenkranzpapstes Leo XIII. in der ganzen katholischen Welt und namentlich auch in deutschen Landen einen neuen Aufschwung genommen. Aber vielleicht ist auch heute noch die Klage berechtigt, der vor beinahe vier Jahrhunderten der hl. Canisius in seiner Vorrede Ausdruck gegeben. "Auch unter den katholischen Christen, schreibt er, gibt es nicht wenige, die kaum jemals über die ganz einzige Würde, Heiligkeit und Liebenswürdigkeit der jungfräulichen Gottesmutter nachdenken. Eine gewisse Lauheit und Trägheit hält so manche davon ab, durch Maria zu Christus, dem Herrn und Spender aller Gnaden emporzusteigen. Und doch könnten sie so mit weit größerer Leichtigkeit und Vertraulichkeit ihrem höchsten Gott und Herrn immer näher kommen."

Entsprechend der Zeit, in der dieses Werk geschrieben wurde, geht es in erster Linie darauf aus, die katholische Marienverehrung gegen die zahlreichen und heftigen Angriffe der Glaubensneuerer zu verteidigen. Die Frage, ob es auch heute noch angebracht ist, auf die alten Anschuldigungen einzugehen und sie mit den Worten des hl. Canisius zurückzuweisen, glaubte ich bejahen zu müssen. - Papst Pius XI. hat in seinem Rundschreiben "Lux veritatis" vom 25. Dezember 1931 auch für unsere Tage die Tatsache festgestellt, dass nicht wenige Nichtkatholiken unsere Verehrung der Gottesmutter auf das schärfste verurteilen, als ob wir dadurch die Gott allein gebührende Ehre beeinträchtigten. Es lebt also immer noch fort das alte Vorurteil, das im Jahrhundert der Glaubensspaltung so vielen Gemütern eingepflanzt worden. Auch heute noch wird immer wieder die Anschuldigung gegen uns wiederholt, die von den Urhebern der Glaubenstrennung unter das Volk geworfen wurde, nämlich dass die Katholiken aus Maria eine Göttin machten, die sie anbeteten. Sie setzten die Mutter an die Stelle ihres Sohnes, und um Maria zu verherrlichen, vernachlässigten sie die Ehre und Würde Christi.

Es ist also sicherlich zeitgemäß, solchen alten und immer wieder erneuten Anklagen gegenüber die ernsten und gründlichen Ausführungen zu wiederholen, wodurch der Vorkämpfer der katholischen Sache diese Behauptungen der Glaubensneuerer vor vier Jahrhunderten bereits als unwahre und verletzende Schmähungen nachgewiesen hat. Auch die modernen Gegner der katholischen Marienverehrung, die vorgeblich aus Eifer für die Gott und Christus allein zukommende Ehre, sich nicht scheuen, ihre katholischen Mitbürger der Abgötterei zu beschuldigen, hätten wahrlich allen Grund, sich von dem heiligen Kirchenlehrer Canisius einmal sagen zu lassen, worin denn eigentlich die Sünde der Abgötterei besteht. - Nicht umsonst hat Pius XI. in seinem oben angeführten Rundschreiben an solche Eiferer die ernste Frage gerichtet: "Wissen diese Leute denn nicht oder nehmen sie sich nicht die Mühe, einmal aufmerksam zu bedenken, dass unserm Herrn Jesus Christus, der doch seiner Mutter mit so inniger Liebe zugetan ist, nichts wohlgefälliger sein kann, als wenn wir ihr die Ehre und Liebe erweisen, die sie verdient, und durch Nachahmung ihres heiligen Tugendbeispiels ihren mächtigen Schutz uns zu erlangen suchen?"

Nein, nicht die Verehrung Mariä, wie sie in der alten Kirche von jeher geübt wurde, hat die Bande gelöst, die einst alle christlichen Völker, und vorab die deutsche Nation, mit dem Gottmenschen verbunden hielten. Vielmehr haben sich im Laufe der letzten vier Jahrhunderte die prophetischen Worte erfüllt, die bei Beginn der großen Abfallbewegung von dem alten Glauben der hl. Petrus Canisius niedergeschrieben hat; "Wo es schon so weit gekommen ist, dass die erhabene Gottesmutter verachtet und öffentlich gelästert wird, was anders lässt sich da für die Zukunft erwarten, als dass man zuletzt auch den Sohn Marias verwerfen und verleugnen werde?"

Gerade dort, wo man angeblich zur Sicherung der Ehre Christi seine Mutter in den Hintergrund gedrängt hatte, findet man jetzt viele, die das Dogma von der Gottheit Jesu Christi preisgegeben haben, also nach den Worten der Heiligen Schrift als Wegebereiter des Antichrist anzusehen sind (1 Joh 2, 22; 4,3; 2 Joh 7).

Wir hätten gewiss in unsern Tagen noch weit mehr Anlass gehabt als der hl. Canisius vor vierhundert Jahren, in die klagenden Worte auszubrechen: "Wehe uns dreimal Unglücklichen, dass wir in diesen letzten und schlimmsten Zeiten einer wahnwitzigen Welt leben müssen, in denen eine wahre Hochflut der Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit sich über die Erde ergießt !" - Der Heilige erkannte eben mit dem Scharfblick seines glaubensstarken Geistes gar wohl, aus welchen Tiefen diese Flut emporquoll; er sah auch klar das Verderben voraus, das der Feind des Menschengeschlechtes über die künftigen Generationen bringen würde, die vom Felsen Petri hinweggespült, allen Wogen irriger Meinungen und zügelloser Leidenschaften preisgegeben waren. Es war deshalb nicht eine trügerische Einbildung oder übertriebene Schwarzseherei, die ihn ausrufen ließ: "Mit unermüdlichem Eifer ist Satan an der Arbeit, dem vollständigen Unglauben den Weg zu bereiten und das Geheimnis der Gottlosigkeit zu vollenden, das er mit Hilfe seiner Diener von Tag zu Tag mehr ins Werk zu setzen bestrebt ist." - In welch erschreckendem Maß es dem höllischen Geist bereits gelungen ist, diesen Plan zu verwirklichen, das bezeugen in unseren Tagen die Trümmer so vieler zerstörten Götteshäuser und Klöster in Russland und Spanien sowie die Erfolge der internationalen Gottlosen-Propaganda in fast allen Ländern der Welt.

Aber auch der Geist Gottes ist an der Arbeit, derselbe schöpferische Geist, der im Anfang über den Wassern schwebte, derselbe Heilige Geist, der, als die Zeit erfüllt war, im Schoß der reinsten Jungfrau dem Sohn Gottes den menschlichen Opferleib bildete zum Werk der Erlösung, und der im Sturmeswehen auf die junge Kirche Christi herabkam und sie mit seinem Lichte und seiner Kraft ausstattete, damit sie allen Völkern und Zeiten die Wahrheit und Gnade des göttlichen Erlösers bewahren und vermitteln könne. Mitten in die Finsternis unserer ratlosen Zeit sendet der Heilige Geist den Strahl seines himmlischen Gnadenlichtes, die Blicke aller Wahrheit und Rettung Suchenden hinzulenken zu dem einen Erlöser des Menschengeschlechtes Jesus Christus, der Petrus, seinen Stellvertreter, sicher über die Wogen der auf- und niedersteigenden Zeitirrtümer dahin geleitet und durch ihn alle einlädt zur rettenden Arche der Kirche. Und wieder ist es die Braut des Heiligen Geistes, die seligste Jungfrau Maria, die der ringenden Menschheit unserer Tage als Morgenstern der Rettung aufgeht. Sie hat einst der ganzen Welt die Ankunft ihres Erlösers angekündet und vermittelt. Die Hirten und die Weisen, Juden und Heiden, Arme und Reiche, Ungebildete und Gebildete, haben damals Jesus gefunden auf den Armen seiner Mutter, und auch heute sollen die christlichen Völker, die das Vaterhaus der alten, wahren Kirche Christi verlassen haben, den Heimweg zum Vater der Christenheit und damit zu Christus selbst, dessen Stellvertreter er ist, nach dem Plan Gottes finden an der Mutterhand Mariä.

Es ist darum eine tröstliche Erscheinung, auf die Papst Pius XI. in seiner Weihnachtsenzyklika vom Jahr 1931 hingewiesen hat, dass in unsern Tagen manche Neuerer anfangen, die Würde der Gottesmutter mehr anzuerkennen und zu ihrer Verehrung sich hingezogen zu fühlen. Der Papst erblickt darin ein hoffnungsvolles Vorzeichen besserer Tage. "Wenn alle Guten", so fährt er dann fort, "ihr Gebet und ihre Tätigkeit auf dieses Ziel hinlenken und die seligste Jungfrau, die auch ihre verirrten Kinder mit mütterlicher Liebe begleitet, ihre Fürbitte einlegt, so dürfen wir hoffen, dass diese endlich den Weg zu der einen Herde Jesu Christi und somit auch zu Uns, die Wir, wenn auch ohne Unser Verdienst, seine Stelle auf Erden vertreten und mit seiner Autorität bekleidet sind, zurückkehren werden."

Ganz gewiss wird der hl. Petrus Canisius unsere Gebete durch seine mächtige Fürbitte unterstützen. Auch jetzt noch liebt er das deutsche Volk, dem er sein langes, arbeitsvolles Leben gewidmet. Oft hat er die Deutschen, auch die von der Kirche Getrennten, so viel er konnte, entschuldigt und in Schutz genommen. So schrieb er in einem Brief an seinen Ordensgeneral Aquaviva: "In Deutschland gibt es unendlich viele, welche im Glauben irren, aber sie irren ohne Eigensinn, ohne Verbissenheit und Verstocktheit; sie irren nach Art der Deutschen, die von Naturanlage meist ehrlichen Gemütes sind und sehr empfänglich für alles, was sie teils in den Schulen, teils in den Kirchen, teils in den Schriften der Irrlehrer gelernt haben." Diese Liebe hat ihm einst die Feder geführt bei der Abfassung seines umfangreichen Marienwerkes. Die Treugebliebenen wollte er befestigen und die Irregeleiteten durch seine überzeugende Belehrung zurückführen zur Mutter des Erlösers und aller Erlösten. Der legt ja die vom Heiligen Geiste geleitete Kirche die Worte der unerschaffenen, göttlichen Weisheit in den Mund: "Wer mich findet, der wird das Leben finden und Heil schöpfen vom Herrn." (Spr 8, 35). Der zweite Apostel Deutschlands wird jetzt, da er in seine Herrlichkeit eingegangen ist, und am Himmel der heiligen Kirchenlehrer als helleuchtender Stern erglänzt, das Werk seines Eifers für die Ehre der Himmelskönigin und seiner Liebe zu unserm immer noch so zerrissenen und friedlosen Deutschland fortsetzen, und, will es Gott, in nicht allzu ferner Zukunft zum erfolgreichen Ende führen. Möge er also dieser Übersetzung seines goldenen Marienbuches Gottes Segen und die Huld der gebenedeiten Gottesmutter erflehen, damit sie irgendwie zur Erreichung dieses Zieles behilflich sein könne.

Nun muss ich noch einige Bemerkungen hinzufügen, die der hier vorliegenden Übersetzung als Einführung dienen sollen.

Das große Marienwerk des hl. Petrus Canisius behandelt im ersten Buch die Geburt, Kindheit und das tugendhafte Jugendleben der seligsten Jungfrau. Im zweiten Buch bespricht es ihre wunderbare immerwährende Jungfräulichkeit. Das dritte Buch handelt über die Verkündigung Mariä. Es bespricht eingehend den Gruß des Engels sowie die Würde, zu der Maria bei der Menschwerdung des Sohnes Gottes erhoben wurde. Im vierten Buch verteidigt der hl. Canisius die katholische Lehre über die Tugenden der heiligsten Gottesmutter. Er widerlegt die irrige Auslegung der Stellen aus dem Evangelium, wovon die Neuerer Anlass nahmen, die Heiligkeit Mariä anzugreifen. Das fünfte Buch handelt über den glorreichen Heimgang der seligsten Jungfrau, über ihre himmlische Verherrlichung an Leib und Seele, sowie über die Verehrung, deren sie sich auf Erden in der Kirche Christi von jeher erfreut hat.

Eine vollständige und unveränderte Wiedergabe des "gigantischen" Werkes, wie P. Hartmann Grisar es genannt hat, war selbstverständlich nicht tunlich. So wurde denn in der Übersetzung vieles, namentlich aus den ersten Büchern, weggelassen. Außerdem habe ich mir eine teilweise Umstellung des behandelten Stoffes erlaubt. So besteht das erste Buch der Übersetzung großenteils aus Kapiteln des dritten Buches der ursprünglichen Einteilung. Nach dem Vorgang des oben erwähnten P. Grisar, der in seinen "Marienblüten" (herausgegeben bei Felizian Rauch, Innsbruck, 1930) die Mariologie des hl. Canisius kurz zusammengefasst hat, habe ich den Abschnitt über die Würde Mariä als Gottesmutter an die erste Stelle gerückt. Das zweite Buch behandelt die Jungfräulichkeit Mariä, das dritte Buch ihre vollkommene Sündenlosigkeit und Gnadenfülle; es besteht fast ganz aus Teilen des ersten und des dritten Buches der Originalfassung.

Im vierten Buch gibt die Übersetzung in möglichst unverkürzter Fassung das vierte Buch des Originalwerkes wieder, worin der hl. Canisius das untadelige Tugendbeispiel der seligsten Jungfrau gegen die Anwürfe der neueren Kritik verteidigt. Dagegen musste das fünfte Buch in seinem zweiten Teile, der die Verherrlichung der Himmelskönigin auf Erden zum Gegenstand hat, sich eine erhebliche Kürzung gefallen lassen.

Überall wurde in einer Anmerkung auf das entsprechende Buch und Kapitel des Originalwerkes verwiesen. Die Übersetzung hält sich so genau wie möglich an den Wortlaut des Textes. Nur an wenigen Stellen musste sie sich damit begnügen, dessen Sinn wiederzugeben. Einige Zusätze, die geboten schienen, sind als solche kenntlich gemacht.

Sämtliche Väterstellen, die angeführt werden, sind nachgeprüft worden. Sie werden angegeben nach dem Sammelwerk von Migne (M), und zwar die lateinischen Väter unter der Bezeichnung ML die griechischen mit MG. Die erste Zahl, die jedes Mal beigefügt ist, gibt den entsprechenden Band, die zweite die betreffende Seite an.

Von den angeführten Stellen aus den Werken der Neuerer konnten nachgeprüft werden die Zitate von Martin Luther nach der Weimarer Ausgabe (W von 1883 an). Von den hinzugefügten Zahlen bezeichnet die erste den betreffenden Band, die zweite jedes Mal die Seite, die dritte die Zeile, Philipp Melanchthon wird zitiert nach dem Corpus Reformatorum unter dem Zeichen CR. (Band 1-18 erschienen Halis Saxonum 1834; 19-28 erschienen Brunsvigae 1853.) Ebenso wird Johannes Calvin zitiert nach dem Corpus Refonnatorum (Band 29-87, Brunsvigae 1863-1900. Calvins Werke umfassen Bd. 1-59 des CR.). Bei den Zitaten aus den Zenturiatoren (Historia Ecclesiast. 13 Centur. 3 Bände Basileae 1624) wird jedes Mal die betreffende Zenturie angegeben samt der Seitenzahl.

Zum Schluss liegt mir noch ob, meine Dankespflicht zu erfüllen und allen denen, die mir bei dieser Arbeit behilflich waren, ein herzliches Vergelt' s Gott! anzuwünschen, namentlich dem verehrten hochwürdigen Mitbruder, der die zahlreichen Zitate nachgeprüft hat, um so mehr, weil er nicht zugab, dass sein Name erwähnt würde. Er ist mittlerweile zu seinem himmlischen Lohn berufen worden.

Essen, Ignatiushaus, am letzten Tage des Marienmonats, den 31. Mai 1933.

Der Übersetzer

Aus der Vorrede des hl. Petrus Canisius an den Leser

Als der hl. Apostel Johannes auf der Insel Patmos im Geist die Zeiten des Antichrist schaute, schrieb er diese prophetischen Worte nieder: "Es öffnete seinen Mund das Tier, dem der Drache seine Macht verliehen hatte, zu Lästerungen gegen Gott und sein Zelt und die Himmelsbewohner" (Offb 13, 6). Mehr denn je zuvor erhebt sich in unseren Tagen ungescheut und ungestraft die Lästerung gegen alles Heilige, gegen die göttliche Majestät selbst und gegen die jungfräuliche Gottesmutter Maria. Sie ist das lebendige Zelt gewesen, worin das Wort, der Sohn Gottes sich mit unserem Fleisch bekleidet und Wohnung genommen hat.

Wohl ist auch in früheren Jahrhunderten die Ehre Marias angegriffen worden, von einem Cerinthus, Ebion, Mani, Valentinus, Helvidius, Jovinianus, Nestorius und anderen, die von der Kirche als Irrlehrer gebrandmarkt wurden. Aber kein Zeitalter hat so zahlreiche und erbitterte Feinde Mariens hervorgebracht wie das gegenwärtige, das alle Lästerungen erneuert, die in den vergangenen Jahrhunderten gegen die jungfräuliche und heiligste Gottesmutter ausgesprochen worden sind.

So weit ist es darum, zumal in den nördlichen Ländern, gekommen, dass nur Wenige mögen befunden werden, die an Maria der Hochgebendeiten nicht Ärgernis erlitten hätten und die an ihrer Würde und Heiligkeit nicht irgendwie irre geworden wären. Christus und sein Evangelium führen alle im Munde, aber von derjenigen, die uns Christus geschenkt und deren Lobpreis das Evangelium laut verkündet, nimmt man kaum mehr Kenntnis, man tut ihrer kaum noch Erwähnung und ihre Gedächtnistage werden fast nicht mehr begangen. Nur noch bei ganz wenigen lebt noch die Liebe, Verehrung und Hochschätzung fort, die einer solchen Mutter gebührt.

So gehen denn viele, die sich des christlichen Namens rühmen, ganz ebenso wie die Juden und Mohammedaner, all der erhebenden Tröstung und Freude verlustig , die einst gottbegnadete Männer wie ein Ephräem, Damaszenus, Ildefons, Anselm, Bernhard, Bernhardinus und so manche andere gelehrte und heilige Menschen in der andächtigen Verehrung Marias gefunden haben und wie sie auch heute noch nicht wenige fromme Seelen durch Gottes Gnade in wunderbarer Weise an sich erfahren.

Luther hat einmal die Äußerung getan, es liege nicht viel daran, wenn wir Maria keine besondere Verehrung erwiesen, ja nicht einmal an sie dächten. Ohne es zu wissen, hat er sich schon durch diese eine Bemerkung der Taktik des bösen Feindes dienstbar gemacht. Denn der hat es stets darauf abgesehen, die Andacht und Verehrung zur heiligsten Jungfrau möglichst aus der Kirche zu verdrängen, ja sie für immer in Vergessenheit zu bringen. Wenn er es vermöchte, würde der Satan den gnadenreichen Namen Mariä, die seiner Herrschaft so gewaltige Einbuße verursacht hat, aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis wie aus dem heiligen Evangelium gänzlich auslöschen.

Das wird ihm freilich niemals gelingen. Aber unablässig ist er an der Arbeit. So brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass, wie bei allen Irrlehrern, so namentlich bei den Neuerern des sogenannten Reformationszeitalters oft eine so auffallende Gereiztheit und Bitterkeit der Gesinnung und des Tones zum Ausdruck gelangt, wenn sie auf die jungfräuliche Gottesmutter zu sprechen kommen. Ganz offenbar zeigt sich bei ihnen das Bestreben, alles Lob, das die Vorzeit der unvergleichlichen Würde und Erhabenheit der heiligsten Jungfrau zu spenden gewohnt war, immer mehr herabzudrücken und einzuschränken. In der Tat, was ist ihnen Maria? Sie ist die Mutter Christi, antworten sie. Aber Gottesmutter oder Gottesgebärerin wollen sie Maria nicht nennen. Darin gleichen sie den Anhängern des Irrlehrers Nestorius.

Als Jungfrau erkennen sie Maria an, aber immerwährende Jungfrauschaft ihr zuzugestehen, wie die Katholiken es tun, das halten sie für Übertreibung.

Mit der Tatsache, dass Maria mit einem Mann verlobt und vermählt war, ließe sich nach Ansicht dieser Leute ein Gott gemachtes Versprechen immerwährender Enthaltsamkeit nicht vereinigen.

Sie räumen ein, dass der Engel Maria als eine von göttlicher Huld begnadete Jungfrau begrüßt habe. Aber sie wollen sie nicht nach dem Brauch und Sinn der alten Kirche als Gnadenvolle anerkennen.

Wohl sei sie gebenedeit unter den Frauen, aber deswegen noch nicht durch göttliches Urteil selig gepriesen. Tugend und Heiligkeit wagt man der seligsten Jungfrau nicht abzusprechen. Aber ganz vollkommen und frei von allen Fehlern und Sünden sei sie nicht gewesen.

In den Worten, die Elisabeth der gottbegnadeten Jungfrau zurief: "Selig bist du, weil du geglaubt hast" wollen die Neuerer ihre eigene Ansicht ausgedrückt finden. Darnach würde nämlich aller Anspruch, den Maria auf Gerechtigkeit und Seligkeit erheben könnte, nicht in ihren Werken und Verdiensten begründet sein, sondern nur in ihrem Glauben.

Aber selbst der Glaube Mariens verdient nach dem Urteil dieser Sittenrichter kein uneingeschränktes Lob. Nur zögernd und schwankend habe sie ja dem Worte Gottes zugestimmt. Und ihre Zustimmung habe sich mehr auf menschliche Einsicht als auf die göttliche Weisheit gestützt.

Sie versteigen sich sogar zu der Behauptung, Maria sei mehrmals von Christus dem Herrn strenge zurechtgewiesen worden, und zwar in aller Öffentlichkeit. Darum nehmen sie auch keinen Anstand, von einer wirklichen Fehler- und Sündhaftigkeit Mariens zu reden. Sie stellen in dieser Hinsicht Maria auf die gleiche Stufe mit der sündigen Eva.

Eine demütige Magd Gottes möge man Maria immerhin heißen, aber zumeist in dem Sinn, dass sie von niedriger und unansehnlicher Herkunft gewesen sei und bei ihren Landsleuten kein besonderes Ansehen genossen habe. Man kann nicht leugnen, dass nach dem Bericht des Evangeliums der Engel Gabriel Maria in überaus ehrenvoller Weise begrüßt hat. Und doch behauptet man, der katholische Brauch, diesen Gruß immer noch dem Engel nachzusprechen, sei völlig zweck- und nutzlos.

Man betont immer wieder die auch uns Katholiken wohlbekannte Wahrheit, dass Maria ebenso wie alle andern Menschen ein Geschöpf Gottes, seiner Gnade bedürftig und durch das Blut Christi erlöst sei.

Aber aus diesem Satz, den wir nie angezweifelt haben, glauben die Neuerer folgern zu dürfen, die Anrufung Mariens sei ein gotteslästerlicher Missbrauch und eine unerträgliche Schmälerung der Ehre Christi.

Man will Maria keine Vorzugsstellung einräumen vor den übrigen Seligen des Himmels. Ja selbst die Erdenpilger dürften nach der Ansicht eines Luther mit diesem sich rühmen: "Wenn wir nur an Christus glauben, sind wir eben so heilig wie Maria." "Wenn du nur Glauben hast", sagt er wieder, "dass Christus ebenso in dir wohne, wie in Maria, so kannst du mir ebenso gut helfen wie sie." Ja, derselbe Luther stellte sogar die Behauptung auf, die in der katholischen Kirche herkömmliche Anrufung der seligsten Jungfrau tue Maria Schmach an und müsse als verabscheuungswürdiger Götzendienst bezeichnet werden.

Die Gegner der Marienverehrung machen also den Katholiken den Vorwurf, sie verehrten Maria in übertriebener und abergläubischer Weise. Ich muss dagegen feststellen, dass viele Katholiken leider nur allzu lässig und kalt auf die rechte Verehrung der Gottesmutter sich verlegen.

Auch unter den katholischen Christen gibt es nicht wenige, die kaum jemals über die ganz einzige Würde, Heiligkeit und Liebenswürdigkeit der jungfräulichen Gottesmutter ernstlich nachdenken. Eine gewisse Lauheit und Trägheit hält so manche davon ab, durch Maria zu Christus, dem Herrn und Spender aller Gnaden emporzusteigen.

Und doch könnten sie, durch ihre mütterliche Hand gestützt und geleitet, mit weit größerer Leichtigkeit und Vertraulichkeit ihrem höchsten Gott und Herrn immer näher kommen, ihn inniger lieben, vollkommener ehren, eifriger loben und fester umfangen.

Möchte es mir doch gelingen, nicht nur die irrigen Anschauungen der von der Kirche Getrennten zu berichtigen, sondern auch alle Angehörigen des großen Reiches Christi wirksam dazu anzuleiten, dass sie die bevorzugte Stellung recht erkennen und ausnutzen, die Maria in diesem Reich der Wahrheit und Gnade inne hat.

Sollte auch mein Bemühen wenig Lob ernten, so wird es doch ein Zeichen meiner Liebe und eifrigen Andacht zur seligsten Jungfrau sein, und als solches wird es meinen Brüdern, das ist den Bürgern der katholischen Kirche, gewiss willkommen sein. Übrigens bezeuge ich, dass ich, den Fußstapfen der Väter folgend, in allem, was ich zum Lob Marias sage, ihren Sohn ehren will. Auch für mich ist hier maßgebend die Regel, die der hl. Ildefons aufgestellt hat: "Was für die Magd geschieht, das ist dem Herrn gewidmet; was der Mutter erwiesen wird, das kommt dem Sohn zugute, und zur Ehre des Königs wird gereicht, was im Dienste der Königin aufgewandt wird (Lib. de virginit. Mariae, cap. 12. ML 96, 108 A)."

Diese Schrift hat sich also zur Aufgabe gesetzt, die katholische Wahrheit (Zusatz des Übersetzers [s. Vorwort]) über die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria gegen die falschen Behauptungen und Entstellungen der Irrlehrer darzulegen und zu verteidigen.

Demgemäß wird das erste Buch zeigen, dass Maria in Wahrheit die Mutter des menschgewordenen Sohnes Gottes ist und darum im eigentlichen Sinne Mutter Gottes genannt wird.

Das zweite Buch wird die immerwährende Jungfrauschaft Mariens dartun.

Im dritten Buche wird nachgewiesen werden, dass Maria frei blieb von jeder Sünde und selbst vor der Erbsünde bewahrt wurde. Vom ersten Augenblick ihres Lebens an ist sie wirklich voll der Gnade gewesen.

Das vierte Buch wird die Vollkommenheit des Tugendlebens Marias schildern und die Einwände dagegen zurückweisen.

Im fünften Buch wird die herkömmliche Marienverehrung, wie sie in der katholischen Kirche zu allen Zeiten geübt worden ist, gegen die Angriffe und Verleumdungen ihrer Gegner in Schutz genommen.

Erstes Buch: Die wahre Gottesmutterschaft der seligsten Jungfrau Maria

Erstes Kapitel: Maria ist in Wahrheit Mutter Gottes

Der Hauptvorzug Marias besteht darin, dass sie die wahre und wirkliche Mutter Christi, des Gottmenschen ist. (S. III. Buch, 13. Kapitel).

1. Der Engel Gabriel verkündigte der auserwählten Jungfrau von Nazareth im Namen Gottes, dass sie die Mutter des Emmanuel sein sollte. "Der Heilige Geist wird auf dich herabkommen und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten. Darum wird auch das Heilige, das aus dir geboren werden soll, Sohn Gottes genannt werden" (Lk 1, 35).

Ohne Zweifel wäre es dem allmächtigen Gott, der in keiner Weise von der Mitwirkung seiner Geschöpfe abhängig ist, möglich gewesen, seinen eingeborenen Sohn auch ohne Vermittlung einer irdischen Mutter auf die Erde zu senden und den Menschen zu schenken. Er hätte ihm ja unmittelbar einen Leib bilden können. Indessen hat der große Gott in seiner Weisheit und Güte es für angemessener und ersprießlicher gehalten, das erhabene Geheimnis unserer Erlösung im Schoß der jungfräulichen Mutter beginnen zu lassen. Gott wollte uns seinen Sohn durch Vermittlung einer menschlichen Mutter schenken. Der Erlöser der Menschen sollte in Wahrheit Menschensohn heißen und sein. Und was er von Ewigkeit her beschlossen hatte, das kündigte er gleich im Anfang der Weltgeschichte an durch seine Verheißung, das Haupt der boshaften Schlange, die den Menschen verführt hatte, solle durch den Samen der Frau zertreten werden (Gen 3, 15).

Diesen Plan auszuführen, erwählte sich Gott ein eigenes Volk und aus diesem eine bestimmte Familie, die, von Juda und David abstammend, diese verheißene Frau der Welt schenken sollte, und damit den Samen, in dem alle Völker gesegnet sein würden (Gen 12,3. 22,18. 49, 8, 10).

Auf diese Frau, das die wahre und wirkliche Mutter des erwarteten Messias sein und zugleich Jungfrau bleiben werde, wies die göttliche Weissagung hin, die an den König Achab erging: "Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und sein Name wird sein Emmanuel" (Jes 7,14). Auf diese Weissagung spielt der Engel an, da er deren Erfüllung an Maria als unmittelbar bevorstehend ankündigt: "Siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären" (Lk 1,31).

So ist es denn nicht zu verwundern, dass Maria im Evangelium so oft die Mutter Jesu genannt (Mt 2, 11; Lk 2, 34.48, Joh 2,1.3.5. 19,25) und von der Kirche als die Gottesgebärerin oder Gottesmutter gepriesen wird.

"Nachdem die Jungfrau ihre Zustimmung gegeben so sagt der hl. Johannes Damaszenus (Lib. 3. cap. 2. et lib. 4. cap. 14. de fide orthodoxa-MG 94, 986 B et MG 94, 1159 B) - kam der Heilige Geist mit seiner Kraft auf sie herab und verlieh ihr eine wunderbare, alles natürliche Vermögen übersteigende Fähigkeit, das göttliche Wort in sich aufzunehmen und zugleich es zu zeugen. Nicht aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, das heißt nicht aus ehelicher Zusammenkunft und nicht mit einer fleischlichen Ergötzung hat sie empfangen, sondern aus dem Wohlwollen des Vaters und der Mitwirkung des Heiligen Geistes, und aus ihrem jungfräulichen und reinsten Blut gleichsam den leiblichen Stoff dargeboten, der zur Bildung des menschlichen Leibes Christi erforderlich war. Und ein ebenso wunderbares und göttliches Werk war es, dass dieser aus dem Blut der Jungfrau gebildete Leib, sowie die zugleich von Gott erschaffene und mit diesem Leib vereinigte menschliche Seele in demselben Augenblick von der Person des Wortes, das im Anfang bei Gott, ja selbst Gott war, zu eigen angenommen und so mit der göttlichen Natur aufs innigste verbunden wurde. So ist also wirklich "das Wort Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt", wie das Johannesevangelium sagt (Joh 1, 14). Der eingeborene Sohn Gottes ist auch der eingeborene Sohn Marias; der aus dieser Jungfrau Empfangene und Geborene ist nicht nur Gott, sondern Mensch und Gott zugleich und er ist nicht nur Menschensohn, sondern auch Emmanuel, das heißt Gott mit uns.

Mit vollem Recht durfte darum Maria, voll des Heiligen Geistes, in Gott ihrem Heiland aus ganzer Seele frohlockend, in den Jubelruf ausbrechen: "Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter, denn Großes hat an mir getan, der mächtig ist" Lk 1,48).

3. Viele bewundernswerte Meisterwerke Gottes kann die Schöpfung aufweisen, aber dieses eine göttliche Werk, das in Maria wie in einem auserwählten Gefäß ausgeführt worden, übertrifft und verdunkelt alle übrigen bei weitem. Unsagbar geheimnisvoll und wunderbar ist die Anordnung und Ausführung des göttlichen Planes der Abstammung und Fortpflanzung in der langen Reihenfolge der geschaffenen und noch zu schaffenden Lebewesen. Aber mit dieser jungfräulichen Fruchtbarkeit und fruchtbaren Jungfräulichkeit kann das alles keinen Vergleich aushalten. Diese Mutter allein hat ihren eigenen Schöpfer geboren, so dass sie mit vollem Recht sagen darf: "Der mich erschaffen hat, der hat in meinem Zelt geruht" (Sir 24, 12). Von erlauchterem Adel kann darum niemand sein als diese erhabene Mutter. Die Hoheit fürstlicher Söhne strahlt ja auf deren Mütter zurück, und der zur königlichen Würde emporgestiegene Sprössling verleiht auch der Mutter herrlichen Glanz, wie das Beispiel der Bethsabee zeigt. Diese war zuerst die Gattin eines einfachen Soldaten gewesen, wurde aber von ihrem Sohn Salomon, der König geworden war, der königlichen Majestät und Regierungsgewalt teilhaftig gemacht und stand beim König wie beim ganzen Volke in höchstem Ansehen.

Es ist darum nicht erstaunlich, dass die edle Gattin des Priesters Zacharias die weit jüngere Verwandte mit solcher Ehrfurcht aufnahm und begrüßte: "Gebenedeit bist du unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes." Vom Heiligen Geist erleuchtet, hatte Elisabeth ja erkannt, dass die bescheidene Jungfrau von Nazareth die Mutter des Herrn aller Dinge geworden war. "Woher kommt mir eine solche Ehre, fragte sie deswegen, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?" (Lk 1,43).

4. Es ist eine erfreuliche Tatsache, dass auch viele von den Neuerern und zwar gerade deren Wortführer, Maria dieses hauptsächlichste Vorrecht nicht abzusprechen gewagt haben. Wahrscheinlich wollten sie in dieser Sache mit den allzu klaren Worten des Evangeliums sich nicht in Widerspruch setzen, um nicht als grundsätzliche Gegner der Ehre Marias zu erscheinen.

So gesteht Calvin (In harmon. Evang. circa 1. cap. Lucae-Corpus Reformatorum 73, 35. [45· Band der Werke Calvins]): "Wir können heute die durch Christus uns gewordene Segnung nicht festlich begehen, ohne uns daran zu erinnern, wie herrlich Gott Maria ausgeschmückt, indem er wollte, dass sie die Mutter seines Sohnes sei." Ebenso bekennt Luther (In explicat. Cantici "Magnificat" - W [Weimarer Ausgabe] 7, 572 Zeile 26): Maria seien deshalb, weil sie die Mutter Gottes geworden, so vorzügliche und unermessliche Güter vom Himmel verliehen worden, dass keine menschliche Erkenntnis dieselben zu fassen vermöge. Alle Ehre und alles Glück sei ihr zuteil geworden; sie überrage alle Glieder des Menschengeschlechtes in ganz einziger Weise, da sie mit dem himmlischen Vater einen solchen Sohn gemeinsam habe.

Größeres könne niemand von ihr aussagen, "wenn er auch so viele Zungen hätte, als die Erde Blumen und Kräutlein hat, oder als es Sterne am Himmel und Sandkörnlein am Meere gibt".

So hat Gott es gefügt, dass selbst Gegner der Kirche Zeugnis ablegten für diese katholische Wahrheit der Gottesmutterschaft Marias.

Zweites Kapitel: Die heiligen Schriften

Die heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testaments bezeugen, dass die menschliche Natur Christi von niemand anders als von Maria herkommt. Das ewige Wort ist in ihr und aus ihr Mensch geworden (S. III. Buch, 15. Kapitel).

1. Im Gegensatz zu den Vätern der Glaubensneuerung im 16. Jahrhundert suchten die Wiedertäufer und andere Sektierer jenes Zeitalters Maria ihren Hauptvorzug, die Mutterschaft des Gottmenschen, streitig zu machen.

Dem Beispiel älterer IrrIehrer folgend, stellten sie die Behauptung auf, der Leib Christi sei nicht aus dem Leib der Jungfrau gebildet worden, vielmehr habe Christus auch seine menschliche Natur ausschließlich und unmittelbar vom himmlischen Vater empfangen (Vorbemerkung des Übersetzers und kurze Zusammenfassung des 14. Kapitels im Original. Das folgende gehört zum Text des 15. Kap.). - Wenn aber Christus, wenn der Sohn Gottes nichts aus der Jungfrau angenommen hat, wenn er nicht als wahrer Mensch von einer menschlichen Mutter geboren worden ist, wozu, so frage ich, hätte es dann des Schoßes Mariä bedurft, warum hätte sie ihn dann zuerst, wie der Engel Joseph belehrte, in ihrem Schoß empfangen und tragen müssen, um ihn später, als die Zeit erfüllt war, zur Welt zu bringen? Lukas sagt ja ausdrücklich: "Es erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren erstgeborenen Sohn" (Lk 2, 6.7). Der Prophet Isaias und der Engel Gabriel haben doch nicht die Unwahrheit gesagt, wo sie von der Jungfrau Maria vorhersagten, dass sie den Emmanuel zuerst empfangen und dann gebären werde.

Wer sollte also nicht einsehen, wie viel Maria zur Bildung und Entwicklung des Leibes Christi beigetragen hat? In ihrem Schoß ward ja dieser Leib empfangen und geformt; eine bestimmte Zahl von Tagen und Monaten hindurch erhielt er so seine Nahrung und sein Wachstum, bis er zuletzt geboren wurde.

Auch Elisabeth spricht, vom Heiligen Geist erleuchtet, von der gebenedeiten Frucht des Leibes der seliggepriesenen Jungfrau, und sie nennt Maria ausdrücklich die Mutter ihres Herrn (Lk 1,42 f.).

Besonders fällt hier auch ins Gewicht der von Matthäus gebrauchte Ausdruck: "aus der geboren ward Jesus" (Mt 1, 16). Dieser besagt nämlich deutlich genug, dass die Substanz des Leibes Christi ausschließlich aus der Substanz seiner jungfräulichen Mutter hergenommen ist.

Weil er aus Maria geboren ist, heißt Christus der Menschensohn; so ist er eben mit ihr blutsverwandt, und durch sie nimmt er teil an der menschlichen Natur.

Der Engel, der Joseph in seinem quälenden Zweifel Trost bringt, belehrt ihn mit diesen Worten: "Was in Maria geboren, (das heißt hier empfangen) worden ist, das ist vom Heiligen Geist" (Mt 1, 20).

In der jungfräulichen Empfängnis ist ein doppeltes Element zu unterscheiden; das eine ist göttlich, unsagbar und unbegreiflich. Es besteht in der Einwirkung des Heiligen Geistes, der durch seine Macht und Kraft die Menschwerdung des Herrn ins Werk gesetzt hat. Darum heißt es von ihm, dass er die Jungfrau überschattete. Das andere Element ist natürlicher Art und besteht in der Mitwirkung der Jungfrau, die aus der Substanz ihres Leibes darbot, was zur Bildung des vom ewigen Wort anzunehmenden Fleisches erfordert war.

Dazu kommt, dass der Apostel Paulus vom Sohn Gottes aussagt, er stamme dem Fleisch nach aus dem Samen Abrahams und Davids. Und so würden der Verheißung Gottes gemäß alle Völker in dem einen Samen Abrahams gesegnet und der Messias werde der Sohn Davids sein (Röm 1, 3. Gal 3, 16). Das kann offenbar nicht von der göttlichen, sondern nur von der menschlichen Natur Christi gelten und setzt voraus, dass Christus eine Mutter hat, die dem hebräischen Volke und dem Geschlecht Davids entsprossen ist. Wie hätte auch sonst der von Ewigkeit her gezeugte Sohn des himmlischen Vaters endlich im Fleisch erscheinen sollen und zwar so, dass er, als Abkömmling des jüdischen Volkes und der Patriarchen aus den Lenden Davids, wie die Schrift sich ausdrückt, hervorgegangen, in die Welt eintrat und als wahrer Mensch sich zeigte, wenn er nicht wirklich aus Maria als seiner Mutter geboren wäre und so als wahres Menschenkind die menschliche Natur angenommen und beibehalten hätte.

Wer also in Abrede stellt, dass der Leib Christi wirklich aus der Substanz des jungfräulichen Schoßes Mariä gebildet worden sei, der löst nach dem Ausdruck des hl. Johannes Jesus auf und gesellt sich dem Antichrist zu. "Jeder Geist, der nicht bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, der ist nicht aus Gott, und dieser ist der Antichrist" (1 Joh 4,3).

Übrigens könnten zur Bekräftigung dieser Wahrheit alle Stellen der Heiligen Schrift angeführt werden, worin sie das Geheimnis unserer Erlösung mit dem Blut Christi in Zusammenhang bringt.

Und so oft sie die Schwächen der von Christus angenommenen Natur ihm zuschreibt, wie Hunger, Durst, Müdigkeit, Schmerz und Traurigkeit, bezeugt sie damit, dass er in Wahrheit der Menschensohn ist.

3. Auch die Weissagungen des Alten Bundes enthalten nicht wenige Zeugnisse zur Bekräftigung unserer Lehre.

Isaias schaute im Geist das Kind, das die Jungfrau empfangen und gebären werde, und rief bei diesem Anblick in freudigem Entzücken aus: "Ein Kind ist ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt" (Jes 9, 6).

Und später kommt er wiederum auf die Mutter und den Ursprung dieses Kindes zu sprechen mit den Worten: "Ein Reis wird hervorgehen aus der Wurzel Jesse, und eine Blume, oder wie andere lesen, eine Knospe wird aufsteigen aus seinem Wurzelstock" (Jes 11, 1). Die Wurzel Jesse bedeutet das Geschlecht Davids, das Reis, das aus der Wurzel Jesse hervorgeht, ist Maria aus dem Hause Davids, die Blume aber, die zugleich als Blüte und Frucht aus dem Wurzelstock hervorsprosst, ist Christus, der aus Maria geboren ward. Der Spross, der aus der Triebkraft des Zweiges hervorgeht, erhält von diesem seine natürliche Beschaffenheit, und der Baum bringt in seinen Ästen und Zweigen immer wieder die seiner Natur entsprechenden Blüten und Früchte hervor, nicht bald diese, bald andersartige.

Ebenso hat auch die Mutter Christi, die gleichsam das Reis war, woraus Jesus als Blüte hervorsprosste, diesen aus der Substanz ihres Leibes als ihr wesensgleichen Menschen geboren.

Und noch einmal richtet der Prophet Isaias seinen Seherblick auf den erwarteten Messias, und gibt - des langen Harrens gleichsam überdrüssig - seiner und der ganzen Synagoge Sehnsucht nach der Ankunft des Messias Ausdruck in dem lauten Ruf: "Tauet Himmel, den Gerechten, ihr Wolken regnet ihn herab: möge sich die Erde öffnen und hervorsprossen den Erlöser" (Jes 45, 8). Der Messias ist die ersehnte Frucht, und Maria ist gleichsam das gesegnete Erdreich, dem diese Edelfrucht entsprossen soll.

Auch der königliche Sänger kündigt Maria an als das Erdreich, woraus die Frucht der Wahrheit hervorgeht (Ps 85,12) Diese wird sie spenden zu der Zeit, da aus ihr, als aus seinem Brautgemach, hervorgehen wird der, dessen Zelt die Sonne ist, und der sich nun aufmacht, wie ein Riese seine Bahn zu durchlaufen (Ps 19, 6).

Drittes Kapitel: Christus hat die menschliche Natur aus Maria angenommen

Die einmütige Lehre der lateinischen wie der griechischen Väter bekundet die allgemeine Überzeugung der ganzen Christenheit, dass Christus der Herr die menschliche Natur aus Maria seiner Mutter angenommen hat. (S. IIl. Buch, 16. Kapitel).

1. Ein Zeuge aus der ältesten christlichen Vorzeit ist Irenäus, Martyrer und Bischof von Lyon. Er verteidigte gerade diese Wahrheit mit besonderer Schärfe gegen die Irrlehrer, die behaupteten, Christus habe nichts aus der Jungfrau Maria angenommen. Er sagt (Lib. 3. contra Valentin. cap. 16. n. 2. - MG 7, 921 A cf. l. 3. cap. 21. n·5. MG 7,952 A, cap.21. n. 7. MG 7, 953 A, cap. 22. n. 1. MG 7, 955 C.): "Keinen andern Menschensohn kennt das Evangelium als den aus Maria geborenen, und dieser ist es, der gelitten hat." "Wenn er aus Maria nichts angenommen hat, so ist er nur scheinbar in die Welt gekommen; er hat dann keinen Leib angenommen, keine wahre Ähnlichkeit mit uns Menschen gehabt; es war dann ganz überflüssig, dass er zu Maria hinabstieg; er hat dann keine eigentliche irdische Speise zu sich genommen, er verspürte nicht wirklichen Hunger, nachdem er vierzig Tage gefastet; man könnte nicht wirklich sagen, dass er müde am Jakobsbrunnen gesessen, dass er über Lazarus geweint, dass seine Seele traurig war bis in den Tod. Er hätte nicht wirklich blutigen Schweiß vergossen, oder Wasser und Blut aus seiner durchbohrten Seite. Alle die Merkmale des Lebens endlich, die nach dem Bericht des Evangeliums sein auferstandener Leib an sich getragen hätte, entbehrten dann aller Wahrheit und Wirklichkeit."

2. Ein weiterer Zeuge ist der hl. Justinus, der die Wahrheit, die er in seinen Schriften verteidigte, ebenfalls mit seinem Blut besiegelt hat. Er schreibt (In Dia logo cum Tryphone habito, n. 100. MG 6,710 B.):

"Christus nannte sich selbst den Menschensohn, entweder weil er aus Maria der Jungfrau geboren ist, die von David, Jakob, Isaak und Abraham abstammte, oder auch weil Abraham der Stammvater der übrigen ist, von denen die Familie Mariä ihre Abkunft herleitet. Wir wissen ja, dass die Vorfahren der Töchter auch die Ahnen der Söhne sind, welche jene zu Müttern haben."

"Entschieden zurückzuweisen", sagt der heil. Augustinus (Lib. de fide et symbolo, cap. 4. n. 9. ML 40, 186), "ist die Behauptung, unser Herr Jesus Christus habe Maria nicht zur irdischen Mutter gehabt. Gott wollte ja beide Geschlechter ehren und nicht nur dem Mann sondern auch der Frau seine liebevolle Vorsorge beweisen; das männliche Geschlecht zeichnete er aus, indem er selbst bei der Menschwerdung es annahm, das weibliche aber, indem er aus einer Frau geboren wurde."

3. Aus diesen Zeugnissen der Väter und Lehrer der Kirche wird klar, ein wie großes Unrecht die Wiedertäufer unserer Tage als Erneuerer der alten Irrlehren Christus, seiner Mutter und der ganzen Menschheit antun. Sie zerstören nämlich sozusagen jene heilige Brüderlichkeit, wodurch der eingeborene Sohn Gottes die ihm allein gebührende Herrlichkeit in seiner großen Güte uns mitteilen wollte.

Darum hat er ja unsere Natur angenommen, damit wir aus Kindern des Zornes und Sklaven der Hölle seine Brüder und Miterben würden. Könnte man nun Christus, der uns zu unserem Heil eine so unermessliche Wohltat hat spenden wollen, eine größere Undankbarkeit und Kränkung zufügen, als wenn man so seine Liebe und Freigebigkeit heruntersetzt oder ganz verkennt? Und doch tun das die Irrlehrer, die schuld sind, dass unser Gott und Erlöser nicht anerkannt, geehrt und angerufen wird als Haupt und Bruder aller Menschen; so berauben sie ihn der Gegenliebe, wonach er doch so sehr verlangt und worauf er einen so großen Anspruch hat.

Dass sie auch Maria ein großes Unrecht zufügen, liegt auf der Hand. Sie machen ihr ja das Lob und die Ehre streitig, die alle Kinder der Kirche nach dem Vorgang des Engels Gabriel und Elisabeths, ihr stets dargebracht haben. Keine andere Mutter hat je ein so ausschließliches Mutterrecht auf ihr Kind besessen, wie es Maria zukam in Bezug auf Christus, den sie als Jungfrau empfangen und geboren hat.

Viertes Kapitel: Maria ist nicht nur Mutter Christi, sondern auch Mutter Gottes

(S. III. Buch, 18. Kapitel)

1. Die oben widerlegten Irrlehren heben die göttliche Natur Christi derart hervor, dass sie seine menschliche Natur ganz verschwinden lassen.

Nunmehr gilt es, denen entgegenzutreten, die Christus zwar als wahren Menschen und die Jungfrau Maria als seine wirkliche Mutter anerkennen, dabei aber behaupten, Christus sei nicht zugleich Gott gewesen und darum dürfe man seine Mutter nicht Gottesgebärerin heißen, sondern nur Mutter Christi.

Dieser Satz wurde im fünften Jahrhundert von Nestorius aufgestellt. Er nahm zwei Personen in Christus an, eine göttliche und eine menschliche. Die Gottheit habe im Menschen Christus Wohnung genommen, ihn gleichsam zu ihrem Tempel gemacht. Darum behaupten die Nestorianer, Christus sei wohl "Gottesträger", aber Gott sei er nicht. Folgerichtig sehen sie in Maria nur die Mutter eines Menschen, des "Menschensohnes", als den Christus sich selbst zu bezeichnen pflegte. Sie sei nur Christiträgerin aber nicht Gottesgebärerin zu nennen.

Nestorius suchte als Bischof von Konstantinopel das Volk für seine Lehre zu gewinnen, indem er sich auf das Schweigen der Heiligen Schrift berief. "Dass Gott durch die jungfräuliche Gebärerin Christi hindurchgegangen ist, darüber sind wir durch die göttliche Schrift belehrt worden, nicht aber, dass Gott aus ihr geboren sei." Cyrillus von Alexandrien aber erwiderte darauf, allerdings werde Maria im Evangelium nur die Mutter Jesu genannt, nicht die Mutter Gottes, indes entspreche diese letztere Benennung der Lehre und Autorität der Väter und der allgemein üblichen Redeweise. Davon dürfe aber niemand abgehen, wie auch das Konzil von Ephesus (im Jahr 431) bestimmt habe.

Auf diesem Konzil war die Lehre des Nestorius verurteilt und er selbst seines bischöflichen Amtes verlustig erklärt worden. Daraufhin hatte der Kaiser den halsstarrigen Irrlehrer geächtet und mit Verbannung bestraft. Scheinbar lenkte jetzt Nestorius ein. Er verstand sich zu der Erklärung, man möge immerhin Maria Gottesgebärerin nennen und den traurigen Streitigkeiten ein Ende machen.

Als er aber in der Folge sich trotzdem genötigt sah, ins Exil zu wandern, setzte er seinen Kampf gegen die gebenedeite Jungfrau fort und suchte überall das Wort "Gottesgebärerin" zu vertilgen.

Auch nach dem Tod des Nestorius starb seine Irrlehre nicht aus. Von König Codroas begünstigt, breitete sie sich namentlich in Persien aus. Auch unter den Griechen, Jakobiten und den syrischen Mönchen fand sie Anhänger und erhielt sich dort lange Zeit hindurch. Es gab sogar einige Bischöfe, z. B. Theodor von Mopsuestia, Anthemius von Konstantinopel und Ibas von Edessa, die kurz nach der Definition des Konzils von Ephesus, den alten Streit erneuerten und Maria den Titel Gottesmutter absprachen. Erst die allgemeine Kirchenversammlung von Chalcedon (451) konnte diese Religionsstreitigkeiten beilegen. Sie untersuchte die nestorianischen Machenschaften von neuem und verurteilte sie nochmals, indem sie den Ausspruch des Konzils von Ephesus und die Autorität des hl. Cyrillus von Alexandrien, dieses wackeren Vorkämpfers gegen Nestorius, aufrecht erhielt.

2. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auch Luther sich offen gegen Nestorius erklärt und den Satz verteidigt, dass Maria in Wahrheit Mutter Gottes genannt werden muss. Er erläutert dies durch folgenden Vergleich. Mit Recht nennt man eine Frau die Mutter des Kindes, das sie empfangen und geboren hat, obwohl sie ihm nicht die Seele, die ja von Gott selbst erschaffen und eingegossen wird, sondern nur den Leib aus ihrer eigenen Substanz vermittelt hat. In gleicher Weise nennt man Maria mit Fug und Recht Mutter Gottes, wenn sie auch Christus nur in Hinsicht auf seine Menschheit erzeugt, seine Gottheit aber ihm nicht mitgeteilt hat. Alle Rechtgläubigen stimmen ja darin überein, dass die beiden Naturen, die göttliche und die menschliche, in der einen Person Christi vereinigt wurden, sobald die Kraft des Heiligen Geistes die seligste Jungfrau fruchtbar gemacht, und dass diese hypostatische Vereinigung nie mehr aufgelöst wurde, auch nicht beim Tod Christi.

Allerdings hat derselbe Luther an anderen Stellen sich in einer Weise geäußert, die nestorianisch lautet. So hat er z. B., wie Butzer in seiner Erklärung des Hebräerbriefes anführt, den Ausspruch getan, Christus sei nicht ein allmächtiger Mensch, er habe nicht alles bemerkt, nicht an alles gedacht. Es ist darum nicht zu verwundern, dass manche seiner Schüler vom Nestorianismus angesteckt waren und nicht zugeben wollten, dass Maria einen Menschen geboren habe, der zugleich Gott sei. So beschuldigten die Wittenberger Theologen die sogenannten Flaccianer, d. h. die Anhänger des Flaccius IIlyrikus, sie verteidigten nestorianische Sätze wie z. B. der Sohn Marias werde mit Gott dem Sohn erfüllt, der Sohn Gottes habe den Sohn Marias angenommen, die göttlichen Gaben und Eigenschaften hätten sich in die menschliche Seele Christi ergossen.

3. Schon im 5. Jahrhundert haben sich die Lehrer der alten Kirche bei ihrer Bekämpfung des Nestorius auf jene goldenen Worte des Johannesevangeliums berufen: "Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt" (Joh 1, 14). Sie führten auch den Ausspruch Christi an: "Ich bin vom Himmel herabgestiegen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat" (Joh 6, 38).

Eben deshalb weil in Christus die Person des Sohnes Gottes keine andere ist als die des Menschensohnes, wird alles, was von Christus dem Sohn Gottes ausgesagt wird, auch dem Menschensohn zugeschrieben, und umgekehrt. Zur Bestätigung sei hier folgendes Selbstzeugnis Christi angeführt: "Niemand steigt auf in den Himmel, als der vom Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn, der im Himmel ist" (Joh 3, 13).

Mit vollem Rechte nennen wir darum Maria, die Mutter Christi, wahre Gottesgebärerin.

Zweites Buch: Die immerwährende Jungfrauschaft der Gottesmutter Maria

Erstes Kapitel: Die wunderbare Jungfrauschaft der Gottesmutter

(Vgl. Vorrede zum H. Buch, sowie 1. u. 2. Kapitel)

1. Im apostolischen Glaubensbekenntnis spricht die ganze Christenheit ihre im Wort Gottes begründete Überzeugung aus, dass in Maria die Würde der Gottesmutterschaft mit unversehrter Jungfräulichkeit verbunden war. Seit Jahrhunderten wiederholt darum die Kirche immer wieder diesen Ruf staunender Bewunderung: "O heilige und unbefleckte Jungfrauschaft, nach Gebühr dich zu preisen vermag ich nicht. Den die Himmel nicht fassen können, den hast du in deinem Schoße geborgen."

Nach dem natürlichen Lauf der Dinge - so der hl. Bernhard (Senn. 3. in vigilia natalis Domini, n. 9. ML 183, 99 A.) - kann die Jungfräulichkeit nicht bestehen mit der Fruchtbarkeit und die Fruchtbarkeit ist unvereinbar mit unversehrter Jungfrauschaft. Wie konnte also der ganze Erdkreis zur Überzeugung gelangen, dass in der Jungfrau Maria verwirklicht worden sei, was bis dahin noch nie geschehen war und was in Ewigkeit nicht mehr geschehen wird, dass nämlich in ihr die Jungfrauschaft und die Fruchtbarkeit sich zusammenfanden ?"

Es ist darum leicht erklärlich, dass diese Lehre gleich bei Beginn der evangelischen Predigt sehr vielen als hart und unglaublich vorkam.

Gottes weise Vorsehung hatte jedoch Vorsorge getroffen, dem Glauben an dieses Geheimnis die Wege zu bahnen. Von den Tagen des Paradieses her wies er die Menschen hin auf die künftige Mutter des Emmanuel, der als Same der Frau, und als Sohn der Jungfrau verheißen wurde (Gen 3,15. - Jes 7, 14). Wenn Gott, entgegen dem gewöhnlichen Lauf der Natur, manchen unfruchtbaren oder im Alter bereits vorgerückten Frauen, wie Sara, Rebekka, Rachel, der Mutter Samsons und Anna, der Mutter Samuels, in wunderbarer Weise Nachkommenschaft schenkte, so sollten diese Beispiele göttlichen Eingreifens die gläubigen Gemüter auf das Wunder der jungfräulichen Geburt des verheißenen Emmanuel vorbereiten.

Darum wies auch der Engel bei der Verkündigung Maria auf ein derartiges Wunder hin, das Gott an ihrer Verwandten Elisabeth gewirkt hatte. So wollte er in ihr den Glauben bestärken, dass Gott sie zur Mutter seines Sohnes machen und zugleich in ihrer Jungfräulichkeit bewahren werde.

Zweites Kapitel: Maria blieb Jungfrau auch nach der Geburt ihres göttlichen Kindes. Widerlegung der Helvidianer

(Siehe II. Buch, 10. Kapitel)

1. Helvidius gab zu, dass Maria jungfräulich empfangen und geboren habe. Nach der Geburt Christi habe sie jedoch ihre Jungfrauschaft nicht bewahrt, sondern mehrere Kinder aus ihrer Ehe mit Joseph gehabt. Zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Helvidius lebte seine Irrlehre in Spanien wiederum auf. In neuerer Zeit stellten einige Anhänger Calvins ähnliche Behauptungen auf. Wie schmählich verkennen doch diese Leute den edlen Charakter des Gemahls Mariä, dem das Evangelium das Lob eines gerechten Mannes spendet, den Gott wiederholt besonderer Erleuchtungen und Offenbarungen würdigte, und von dem Matthäus ausdrücklich bezeugt, dass er vor der Geburt des göttlichen Kindes vollständige Enthaltsamkeit Maria gegenüber beobachtet habe. Und nun sollte er nach der Geburt Christi, deren Wunder er hatte schauen dürfen und die seine tiefe Ehrfurcht vor Maria noch unermesslich gesteigert hatte, sein bisheriges Verhalten ihr gegenüber in derartiger Weise geändert haben? Er musste ja in Maria das auserwähIte Werkzeug des höchsten göttlichen Geheimnisses erblicken, ein himmlisches Heiligtum, das Gott seiner getreuen Obhut anvertraut hatte. Er hielt sich fast für unwürdig, mit Maria überhaupt zusammenbleiben zu dürfen.

2. Nicht minder tut eine solche Ansicht der Gottesmutter selbst Schmach an. Sie wagt es ja, Maria den Ehrentitel abzusprechen, der ihr in ganz besonderer und ausgezeichneter Weise zukommt, und der ihr von der ganzen Kirche stets zuerkannt wurde, dass sie nämlich die allzeit unversehrte Jungfrau zu heißen verdiene.

Eine solche Ansicht würdigt ferner diese Jungfrau zu einer wankelmütigen, unbeständigen Frau herab, die ihren vorher ausgesprochenen und heilig bekräftigten Entschluss, keinen Mann zu erkennen, aus einer plötzlichen und unvernünftigen Laune aufgegeben und widerrufen hätte. Nach der Anschauung der Helvidianer hätte Maria ihr früherer Entschluss gereut, und sie hätte gleichsam bei sich gedacht und auch ohne Scheu gesagt: "Ich habe zwar Christus als Jungfrau empfangen und geboren, doch von jetzt an will ich die Enthaltsamkeit aufgeben, und von meinem Eherecht Gebrauch machen."

Könnte man wohl etwas unschicklicheres und törichteres von der seligsten Jungfrau denken, als diese Irrlehrer sich eingebildet haben? Die Gottesmutter, die schon damals, als der Engel ihr die Botschaft von ihrer Erwählung brachte, voll Gnade und Heiligkeit war, hat doch sicherlich in der Folge die jungfräuliche Reinheit nicht weniger hoch geschätzt, sondern vielmehr in der Liebe zu dieser Tugend beständig Fortschritte gemacht. Darum war sie nach der Geburt Christi eher noch sorgfältiger darauf bedacht, ihre jungfräuliche Reinheit unversehrt zu bewahren.

3. Wer so niedrig von Maria denkt, tut auch Christus, ihrem Sohn, selbst Unehre an. Demnach hätte er ja, obwohl er die höchste Weisheit ist, sich nicht eine würdigere Mutter zu erwählen gewusst, die den Willen und die Kraft gehabt hätte, immerwährende Enthaltsamkeit zu üben. So vielen anderen Jungfrauen hat er geholfen, das kostbare Kleinod der Jungfräulichkeit zu bewahren; wie hätte er da zugeben können, dass seiner Mutter dieser Gott und den Engeln so wohlgefällige Schmuck verloren gegangen wäre? Die Lehrmeisterin der Jungfrauschaft hätte nie in solcher Weise sich selbst untreu werden können. Nie hätte sie, die Gott in ihrem Schoß getragen, sich dazu herbeigelassen, ein gewöhnliches Menschenkind darin aufzunehmen. Das wäre ihr wie eine Entweihung eines himmlischen Heiligtums vorgekommen ( Vgl. Ambros. Lib. de inst. Virginis, cap. 6. n. 44. ML 16,331 B et lib. 10. epist. 56 [causa Bonosi] D. 3. ML 16, 1223 B.).

4. Christus empfahl sterbend seine Mutter dem hl. Johannes. Daraus schließen wir mit Recht, dass Maria ihren Gemahl bereits durch den Tod verloren hatte; aber ebenso geht aus dieser Tatsache hervor, dass sie nun ganz allein stand. Hätte sie, wie Helvidius sich einbildet, aus ihrer Ehe mit Joseph Söhne gehabt, so hätte Christus sie nicht der Obhut des Johannes zu übergeben brauchen.

Im gleichen Sinne hat schon Epiphanius (VgI. Adversus haeres. 1. 3. haer. 78, n. 10. MG 42, 714 C.) diesen Bericht des Evangeliums zur Widerlegung der Helvidianer verwertet. Wenn Maria noch andere Söhne gehabt hätte, sagt er, so hätte Christus die Sorge für seine Mutter diesen übertragen können, oder ihrem Gatten Joseph, wenn dieser noch am Leben gewesen wäre. Er hätte sie auch dem Petrus oder einem anderen Apostel anvertrauen können. Wenn er aber keinem andern als dem Johannes den Auftrag erteilte, mit den Worten: Siehe da deine Mutter, so tat er es deswegen, weil dieser Jünger im jungfräulichen Stand geblieben war. Er wollte damit anzeigen, dass Maria als Führerin der jungfräulichen Seelen geistiger Weise die Mutter des Johannes war.

5. Eine Hauptstütze für seine Behauptung glaubt Helvidius darin gefunden zu haben, dass im Evangelium zu wiederholten Malen der "Brüder des Herrn" Erwähnung geschieht. Damit können nach seiner Ansicht nur Söhne Mariä gemeint sein, die sie nach Christus geboren habe. Indes beweist er dadurch nur seine Unkenntnis der biblischen Redeweise. Diese bezeichnet nämlich auch Geschwisterkinder und sonstige Blutsverwandte oder Stammesgenossen als Brüder, obschon sie nicht einen gemeinsamen Vater haben. So redeten sich Abraham und Lot, Jakob und Laban gegenseitig als Brüder an, obwohl sie keine leiblichen Brüder waren.

Ebenso verrät Helvidius nur seine Unwissenheit, wenn er den Ausdruck "der Erstgeborene" so deutet, als sei in ihm notwendig der Hinweis auf später geborene Kinder enthalten. Nach dem Sprachgebrauch der Schrift besagt dieser Ausdruck aber nur, dass dem, der als der Erstgeborene bezeichnet wird, kein anderes Kind derselben Eltern vorhergegangen sei. In diesem Sinne ist aber Christus wirklich der Erstgeborene sowohl seines himmlischen Vaters als seiner irdischen Mutter. Und wie Gott der Vater außer seinem Eingeborenen, der von Natur aus sein Sohn ist, durch Adoption viele andere Söhne angenommen hat, die in der Heiligen Schrift Kinder Gottes genannt werden, so lässt sich auch von Maria sagen, dass sie neben ihrem einen erstgeborenen Sohn viele Adoptivkinder zählt, deren Mutter sie genannt werden kann.

6. Endlich bringt Helvidius für seine Ansicht noch die armselige Begründung vor, Christus habe Maria immer nur mit dem Wort Frau, niemals aber mit dem Namen Mutter angeredet. Er tut gerade, als wüsste er nicht, dass die Bezeichnung Frau ganz allgemein ist und das gesamte weibliche Geschlecht umfasst, also auch auf die Jungfrau angewandt wird. So geschieht es gleich im Anfang der Heiligen Schrift, wo Eva im Paradiese als Frau bezeichnet wird, wenngleich sie noch eine unberührte Jungfrau war.

Ebenso unglücklich ist der wortklauberische Versuch des Helvidius, eine Redewendung bei Matthäus seiner falschen Lehre dienstbar zu machen. Der Evangelist berichtet nämlich von Joseph, dem Gemahl Mariä:

"Und er erkannte sie nicht, bis sie ihren Sohn gebar." Hier wie auch an anderen Stellen der Heiligen Schrift, die eine ähnliche Zeitbestimmung angeben, ist diese nicht als Zeitgrenze anzusehen, über die hinaus eine Handlung oder Unterlassung einer Handlung nicht ausgesagt werden solle. Wenn z. B. Paulus von Christus sagt: "Er muss herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße legt" (I Kor 15, 25), so will das nicht heißen, dass Christus nur bis zu diesem Zeitpunkt herrschen werde.

Drittes Kapitel: Die immerwährende Jungfräulichkeit Mariä steht nicht im Widerspruch mit ihrer Vermählungl

(S. II. Buch, 10. u. 11. Kapitel)

1. Maria war wirklich mit Joseph vermählt. Der Engel forderte ja diesen auf, Maria als seine Gemahlin zu sich zu nehmen (Mt 1, 20). Und Joseph "tat, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte" (Mt 1, 24).

Es war dies eine vollkommene Ehe, wie der hl. Augustinus hervorhebt. Sie war ausgezeichnet durch die edelste Nachkommenschaft, nie wurde sie entweiht durch Untreue, nie durch Scheidung gelöst. Wenn manche Väter im Gegensatz zu Augustinus, Joseph nur den Bräutigam, nicht den Gatten Mariä nennen, so wollen sie nur darauf hinweisen, dass die Ehe nie vollzogen wurde, weder vor noch nach der jungfräulichen Geburt der gebenedeiten Gottesmutter.

2. Auf die Frage, in welcher Absicht Maria ihre Verlobung und Vermählung eingegangen sei, geben die Neuerer, namentlich die Zenturiatoren (Cent. I. lib. 2. cap. 10. [Editio Basileensis 1624] Cb V 121 pag. 278 B.) den Bescheid, sie habe ganz nach Art anderer Bräute das eheliche Leben und die Erlangung von Nachkommenschaft dabei im Auge gehabt. Andernfalls hätten die Evangelisten sich nicht so ausgedrückt, wie sie getan.

Es geht aber nicht an, aus der gewöhnlichen Handlungsweise der jüdischen Jungfrauen auf die Gesinnung der von Anfang an Auserwählten und Gebenedeiten unter den Frauen zu schließen. Maria lebte zwar noch unter dem alten Gesetz, hatte aber, vom Heiligen Geist erleuchtet, eine weit erhabenere Kenntnis der Wege Gottes, als das alte Gesetz sie vermittelte.

3. Sie verstand sich zu ihrer Verlobung und Vermählung, weil Gott es so wollte, zum Schutz ihrer jungfräulichen Ehre, für die er gleichsam noch mehr besorgt war als für die Würde seines Sohnes. Gott ließ die Jungfrau erkennen, dass sie auch im ehelichen Bund mit Joseph die vollkommene Keuschheit werde bewahren können.

Maria gab also nicht ihren Entschluss, jungfräulich zu bleiben, auf, als sie in den Ehestand eintrat. Ihre Einwilligung, in Joseph ihren Gemahl zu sehen und zu lieben und mit ihm verbunden zu bleiben bis zum Tod, tat ihrer Jungfräulichkeit ebenso wenig Eintrag, wie die Empfängnis vom Heiligen Geist und ihre Geburt ihre Unversehrtheit beeinträchtigen konnte.

4. Wenn die Evangelisten das nicht ausdrücklich hervorgehoben haben, so muss man sich darüber nicht wundern, da sie auch viele andere Einzelheiten übergangen haben, die sie über das Leben Mariä, ja Christi selbst hätten berichten können. Sie folgten darin der Eingebung des Heiligen Geistes, dem kein Sterblicher Vorschriften machen darf. In einer vom hl. Hieronymus übersetzten Homilie des Origenes heißt es darum im Anschluss an die Worte des Hohenliedes (2, 9): "Siehe, er steht hinter unserer Wand": das Wort der Schrift werde in seinem verborgenen Sinn nur verstanden von denen, die innerhalb der Wände der Kirche sich befinden und zugleich das hochzeitliche Gewand der Liebe anhaben. Da die neuen wie die alten Sektierer dieses Haus verlassen haben, in dem allein der Heilige Geist alle Wahrheit lehrt, so kann es nicht ausbleiben, dass ihre Schriftauslegung vielfach ganz und gar irrig ist.

Die Ansicht, dass die Heilige Schrift von jedermann leicht und mit untrüglicher Sicherheit verstanden werden könne, ist stets eine Hauptquelle zahlreicher schlimmer Irrlehren gewesen. Der Stolz hat eben von jeher die Menschen dazu verleitet, sich zu Richtern des göttlichen Wortes aufzuwerfen. Ich halte es darum für angebracht, zum Abschluss dieses Abschnitts folgende kurze Übersicht anzuführen, die sich in den Schriften Pico von Mirandolas (In apologia, quaest. 1. de descensu Christi ad inferos. fol. XXXII.) findet. Dieser Fürst, der durch seine Erudition alle seine Standesgenossen in unsern Tagen (d. h. zur Zeit des hl. Canisius) weit überragt, hat eine ganze Reihe von Beispielen zusammengestellt, die unsere Behauptung erhärten. "Alle Irrlehren", sagt er, "verdanken ihren Ursprung der falschen Auslegung gewisser Worte des Evangeliums. Es gab nämlich jederzeit solche, die, statt in dessen tieferen Sinn einzudringen, am äußeren Wortlaut haften blieben. So legte Arius die Worte Christi: (Joh 14,28) ,Der Vater ist größer als ich', dahin aus, dass der Vater größer sei als der Sohn, und deswegen gab er den Sohn für ein Geschöpf aus. Helvidius hat bei den Worten: ,Joseph erkannte Maria nicht, bis sie ihren erstgeborenen Sohn gebar' (Mt 1,25), mehr auf die sprachliche Bedeutung geachtet als auf den eigentlichen Sinn, den dieser Ausdruck im Evangelium hat, und so kam er dazu, die immerwährende Jungfrauschaft Mariä anzuzweifeln. Marcion las bei Paulus (Röm 5, 20): ,das Gesetz aber trat in Kraft, damit die Sünde überhand nehme', und folgerte daraus, das Gesetz des Moses sei etwas Böses und stamme von einem bösen Prinzip, wie es die Manichäer annehmen. Basilides fasste die Worte des Apostels: ,Ich aber lebte einst ohne das Gesetz' (Röm 7, 9) in dem Sinn auf, als habe die Seele des Paulus vorher in einem anderen Leib gelebt. Eunomius vernahm die Antwort, die Christus den Juden entgegenhielt, als sie ihm vorwarfen, er gebe sich als Sohn Gottes aus. Er wies sie nämlich auf das Schriftwort hin: ,Ich habe gesagt, ihr alle seid Götter und Söhne des Allerhöchsten' (Joh 10, 34). Aber anstatt auf die Absicht zu achten, die Christus bei der Anführung jenes Wortes hatte, fasste er nur den äußeren Wortlaut der Antwort ins Auge und behauptete, Christus sei ganz in demselben Sinne Gottes Sohn zu nennen, in dem jeder Heilige ein Sohn Gottes genannt werden könne. Von dem Ausspruch Christi, den Tag des Gerichtes wisse niemand, nur der Vater allein (Mt 14, 36), nahmen viele Anlass, sich die irrige Meinung zu bilden, dass der Vater mehr wisse, als der Sohn Gottes. Noch viele andere Beispiele dieser Art könnte ich anführen."

Mit Recht sagt darum Gregorius: "Sehr oft erfasst man nicht den wahren Sinn einer Schriftstelle, weil man sie zu wörtlich versteht."

Viertes Kapitel: Wie die christliche Vorzeit über die Jungfräulichkeit Mariä gedacht

(S. II. Buch, 12. Kapitel)

1. "Maria allein", sagt der hl. Augustinus (Lib. de sancta virginitate, cap. 6, ML 40, 399), "ist dem Geist und dem Leib nach sowohl Mutter als auch Jungfrau, sie ist zu gleicher Zeit Mutter Christi und Jungfrau Christi."

Und der hl. Hieronymus (In epist. 48, ad Eustochium de custodia virginitatis, n. 21. ML 22, 510) hat den Ausspruch getan: "Der jungfräuliche Christus und die Jungfrau Maria haben für beide Geschlechter der jungfräulichen Reinheit ihre Weihe gegeben."

Der hl. Gregor von Nazianz (Oratio 43. in laudem Basilii, n. 62. MG 36,575 G.) sagt in seiner Gedächtnisrede auf Basilius: "Christus ward aus der Jungfrau geboren, um die Gesetze der Jungfräulichkeit zu bestätigen. Nachdem Christus aus der Jungfrau geboren worden, hat die Keuschheit ihr Licht erstrahlen lassen."

Der hl. Ambrosius (Lib. de institut. virginis, cap. 5, n. 33. ML 16, 328 A.) preist Maria als die Bannerträgerin der unversehrten Jungfräulichkeit. "Durch ihr Beispiel werden alle angeregt, die jungfräuliche Reinheit zu schätzen und zu üben."

Seitdem Christus und Maria vorangegangen auf dem Weg der Jungfräulichkeit, ist diese Tugend, die bei den Juden sozusagen unbekannt, ja verachtet war, von den Heiden aber für alle menschliche Kraft übersteigend angesehen wurde, von zahllosen Christen in ihrer Schönheit und Lieblichkeit erkannt und gepflegt worden.

2. Von der Höhe des Himmels herabsteigend, erwählte sich der Sohn Gottes zur ersten Wohnstätte den Tempel jungfräulicher Reinheit. Aus der Jungfrau geboren, trat er aus ihrem unentweihten Schoß, als seinem Brautgemach, in diese Welt ein, seine Mutter durch ein Wunder in ihrer unverletzten Jungfräulichkeit bewahrend. Von ihren jungfräulichen Händen wollte er als Kind sich tragen, kleiden, im Tempel aufopfern lassen. Nicht nur übte er selbst die vollkommenste Reinheit sein ganzes Leben hindurch, er lud auch die Gläubigen alle ein, seinem Beispiel zu folgen. Wegen dieser Tugend liebte er besonders die beiden Johannes, den Täufer und den Lieblingsjünger, dem er sterbend seine jungfräuliche Mutter anempfahl. Seine glühende Liebe zu uns allen zu beweisen, bewährte er sich als treuen Bräutigam seiner ganzen Kirche, der jungfräulichen Braut, für die er sich hingab in den Tod. Unter den Chören der keuschen Jungfrauen weilt er mit Vorliebe. Das sind die Lilien, zwischen denen er im weißen und roten Gewand des Blutbräutigams sich am liebsten ergeht. Denen, die ihre jungfräuliche Reinheit unbefleckt bewahren, hat er einen ganz besonderen Lohn zugedacht.

Fünftes Kapitel: Durch ihre Jungfräulichkeit hat sich Maria ein großes Verdienst und einen herrlichen Lohn im Himmel erworben

Manche Neuerer erkennen die stete Jungfrauschaft Mariä an, leugnen jedoch deren Verdienstlichkeit. Nach ihrer Ansicht verdient die Jungfräulichkeit durchaus keinen Vorzug vor dem Leben im Ehestand.

Der hl. Augustinus (CL Lib. de sancta virginitate, cap.22. sqq. ML 40, 409) weist darauf hin, dass Christus von solchen spricht, die "wegen des Himmelreiches" auf die Ehe verzichten (Mt 19, 12). Mit diesen Worten verspreche er ihnen einen besonderen himmlischen Lohn. Die auf Erden mit reinem Herzen und jungfräulichem Leib Christus nachgefolgt sind, die werden auch im Himmel dem Lamm folgen und ein Lied singen, das die anderen nicht singen können, wie es in der Geheimen Offenbarung heißt (14,4).

"Es ist durchaus nicht zu bezweifeln", sagt derselbe heilige Lehrer an einer anderen Stelle (De bono coniugali, cap. 23. ML 40, 392), "dass an sich betrachtet, die jungfräuliche Keuschheit besser ist, als die eheliche Keuschheit." Damit ist nicht gesagt, dass nicht viele, die im Ehestand leben, an persönlichem Verdienst gar manchen gleich- oder sogar zuvorkommen, die unverheiratet geblieben sind. Aber wenn man nicht die Personen, sondern die Art des Standes selbst betrachtet, so verdient der ehelose Stand den Vorzug, wie bereits der Apostel gelehrt hat (1 Kor 7,38). Schon an sich also verdient die Jungfräulichkeit eine vorzüglichere Belohnung als die dem Ehestand zukommende Keuschheit.

Die Jungfräulichkeit Mariä aber überstrahlt, wie an Verdienst so an Herrlichkeit die aller übrigen jungfräulichen Seelen. Sie hat ja diesen bisher unbekannten, ja verachteten Weg zuerst gefunden und sozusagen gebahnt und geheiligt; sie hat zuerst die kostbare Gabe der Jungfräulichkeit dem Schöpfer dargebracht. "Die Jungfräulichkeit Mariä", lehrt der hl. Augustinus (De sancta virgin. c.4. ML 40, 398), "war Gott um so wohlgefälliger, weil Christus sie nicht etwa erst nach seiner Empfängnis vor jeder Verletzung schützte und bewahrte, sondern weil Maria schon vorher dieselbe Gott geweiht hatte, darum erwählte Christus diese Jungfrau, um aus ihr geboren zu werden." So ward Maria das Vorbild für alle jungfräulichen Seelen, und man kann auf sie das Psalmenwort anwenden: "Dem Könige werden in ihrem Gefolge Jungfrauen zugeführt werden" (Ps 45, 15). Sie werden ihm zugeführt als Töchter Mariä. Von dieser Mutter geleitet, und in ihrer Schule gebildet, dürfen sie jetzt im Gefolge der Himmelskönigin zum Thron Gottes hinzutreten, um ihm ewig Dank zu sagen.

Sechstes Kapitel: Die stete Jungfrauschaft Mariä ist bezeugt durch die katholische Überlieferung

(Siehe II. Buch, 17. Kapitel)

1. Auch unter denen, die sich von der katholischen Kirche getrennt haben, hielten manche an der Lehre von der immerwährenden Jungfrauschaft Mariä fest. Allerdings wagten sie vielfach nicht einzugestehen, dass die bisherige Überzeugung der gesamten Christenheit, also das Zeugnis der alten Kirche, sie zu dieser Zustimmung bewogen habe. Andere freilich wollen in der Lehre von der steten Jungfrauschaft Mariä nur eine fromme Ansicht sehen, die nicht zu den notwendig anzunehmenden Glaubenssätzen gehöre. Das sind diejenigen, die nur das für eine Glaubenswahrheit halten, was in der Heiligen Schrift enthalten ist.

Die Zenturiatoren (Centur. 1. lib. 1. cap. 10. pag. 279 H.) schließen sich dem Ausspruch des Erasmus von Rotterdam an, dass Maria stets Jungfrau geblieben sei, werde zwar in der Schrift nirgendwo ausdrücklich gesagt, lasse sich jedoch aus der Überlieferung nachweisen, die von der Zeit der Apostel an durch die Väter erhalten und weitergegeben worden sei. Einmütig habe die ganze Christenheit daran geglaubt, und so sei diese Lehre auf uns gelangt. Diesen Worten fügen die Zenturiatoren die ganz richtige Bemerkung hinzu, die Ehre des Messias habe es so erfordert, dass seine Mutter immerfort Jungfrau geblieben sei.

In dieser Sache nehmen also die Zenturiatoren das Zeugnis der Kirche an. Es ist nur zu bedauern, dass sie in so vielen andern Fällen das Zeugnis der ganzen Kirche hartnäckig zurückweisen, wo sie doch auch zur Ehre desselben Messias das Lob Mariä verkündet.

2. Es ist in der Tat so, wie Erasmus zugibt. Das katholische Bekenntnis zur immerwährenden Jungfrauschaft Mariä gehört zu jenen Glaubenssätzen, die nicht auf die Autorität der Heiligen Schrift, sondern auf die Entscheidung der Kirche sich stützen. Durch das übereinstimmende Zeugnis der Väter uns überliefert, müssen diese Lehren ebenso von uns geglaubt werden, wie wenn sie in der Heiligen Schrift ausdrücklich enthalten wären. Wenn Johannes Brenz, Huldrych Zwingli, Heinrich Bullinger und andere die Jungfrauschaft Mariä zwar anerkennen, aber nur, weil die Heilige Schrift so lehre, so sind sie in einem doppelten Irrtum befangen.

Sie nehmen hier eine katholische Lehre an, bekunden aber zugleich ihre Feindseligkeit gegen die katholische Kirche. Allbekannt ist die Tatsache, dass sie von dieser Kirche abgefallen sind, vorgeblich aus Eifer für die Reinerhaltung des göttlichen Wortes, das nach ihrer Ansicht in der Bibel allein zu finden sei. Auf das Urteil der Kirche, auf ihre Gesetze, Konzilien und Überlieferungen geben sie nichts. Sie wollen sich nicht zu dem Grundsatz bekennen, den die christliche Vorzeit von Anfang an festgehalten hat, dass nämlich die christliche Lehre, die ein jeder glauben und befolgen muss, wenn er zum Heil gelangen will, teils schriftlich, teils mündlich von den ersten Lehrern des Glaubens, den Aposteln, der Kirche überliefert und in ihr stets bewahrt worden ist. Das ist so wahr, dass selbst die meisten von den Neuerern, die nur die Heilige Schrift als einzige Glaubensquelle gelten lassen, sich gezwungen sahen, viele Stücke anzunehmen und zu verteidigen, die nicht in der Heiligen Schrift enthalten sind. So z. B. berufen auch sie sich auf die Überlieferung der Kirche, wenn sie festhalten an der Kindertaufe, am apostolischen Glaubensbekenntnis, am Verzeichnis der biblischen Bücher, an den Lehrentscheidungen der alten Konzilien über viele und wichtige Fragen, die auf das erhabenste Geheimnis der heiligsten Dreifaltigkeit Bezug haben. Ich führe nur die Worte des einen Calvin an (Lib.4. Institut. cap.9. n.8. Corp. Ref. 30 [2]862), der trotz seiner Feindseligkeit gegen die Kirche die ältesten Kirchenversammlungen und ihre Entscheidungen annimmt und billigt. Und doch enthalten die Beschlüsse dieser Konzilien auch viele Punkte, die nicht in der Bibel aufgeschrieben sind. "Die alten Synoden", sagt er, "nämlich die von Nicäa, Konstantinopel, die erste von Ephesus, die von Chalcedon und ähnliche zur Abweisung falscher Lehren abgehaltenen Versammlungen, nehmen wir gerne an, und verehren sie als unverletzlich und verbindlich in Bezug auf die Glaubenssätze, die sie festgestellt haben."

Fast gleichlautend ist die Erklärung, welche die Verfasser der Augsburgischen Konfession in der Einleitung abgegeben haben.

Ich wollte das hier erwähnen, um auf den Mangel an Beständigkeit und Folgerichtigkeit hinzuweisen, der in der Lehr- und Handlungsweise der Zenturiatoren und anderer Neuerer zutage tritt. Ganz nach Belieben oder Bedürfnis geben sie das eine Mal zu, dass man auch manches glauben und beobachten müsse, was nicht in der Bibel angegeben ist. Das andere Mal wieder stellen sie dies in Abrede. Nicht umsonst macht bereits Tertullian darauf aufmerksam, dass man gegen die Irrlehrer mehr Gewicht auf die Überlieferung legen müsse als auf die Schrift, denn jene lehre erst den richtigen Sinn der Schrift verstehen. Wenn ein Athanasius die Arianer, ein Basilius die Eunomianer, ein Epiphanius die Apostolischen, ein Hieronymus die Luciferianer, ein Augustinus die Donatisten als Irrlehrer bezeichnet und verurteilt hat, so geschah es jedes Mal mit dieser Begründung, dass jene, am Wortlaut der Schrift haften bleibend, ihre eigene Auffassung dem Urteil und der Überlieferung der Kirche vorzogen, statt deren Auslegung als die maßgebende anzuerkennen. Das ist aber nach den Worten des hl. Augustinus (Epist. 54. ad Januarium, cap. 5. n. 6. ML 33,202) nichts anderes, als eine Art anmaßenden Größenwahnes, wenn man zu bezweifeln wagt, ob man gewisse Lehren und Vorschriften glauben und befolgen müsse, die zwar in der Heiligen Schrift nicht angegeben sind, die aber in der Überlieferung und Übung der ganzen Kirche auf der ganzen Welt ihre Bestätigung finden.

Wenn wir auf die Heilige Schrift allein angewiesen wären, so dürfte ein Helvidius sich wirklich rühmen, seine Leugnung der immerwährenden Jungfrauschaft Mariä könne ihm nicht als Irrlehre nachgewiesen werden. Er beruft sich ja gerade auf so manche Schriftstellen, die ihm Recht zu geben scheinen. Zuerst weist er hin auf die Worte des Matthäusevangeliums, dass die Mutter Jesu Joseph als ihrem Mann angetraut war. Dann heißt es, dass sie in ihrem Schoß vom Heiligen Geist empfangen habe, bevor beide zusammenkamen (Mt 1, 18). Damit sei angedeutet, dass nach der Geburt Christi die eheliche Vereinigung stattgefunden habe. Diese Annahme finde anscheinend ihre Bestätigung in den Worten: "Und er erkannte sie nicht, bis sie ihren erstgeborenen Sohn gebar" (Mt 1, 25). Daraus schließt Helvidius, Christus sei der erstgeborene Sohn Mariä gewesen, und nach ihm seien noch andere Söhne derselben Mutter aus ihrer Ehe mit Joseph hervorgegangen. Diese würden im Evangelium des öfteren als Brüder Jesu bezeichnet, weil sie eben leibliche Brüder von ihm gewesen seien (Lk 8, 20; Mt 12,47; Mk 3,32; Joh 7,5; Mk 6, 3). Maria sei also nicht allzeit Jungfrau geblieben. Sie sei vielmehr den übrigen Frauen und Müttern gleich zu achten; sie habe nicht vom Heiligen Geist, sondern aus der Ehe mit ihrem Mann alle diese Kinder gehabt. Darum fragten die Leute von Nazareth mit Bezug auf Christus: "Ist dieser nicht ein Zimmermann, der Sohn Mariä, der Bruder von Jakob und Joseph und Judas und Simon?" (Mk 6,3).

Zudem redet Christus bei der Hochzeit zu Kana, und auch noch vom Kreuze herab, seine Mutter mit dem Namen "Frau" an. Ist das nicht auch ein Zeichen, dass sie nicht als immerwährende Jungfrau anzuerkennen ist? (Joh 2,.4; 19,26).

Wie sollte es endlich zu erklären sein, dass auch Paulus Maria nicht mit der Bezeichnung "Jungfrau" beehrt, sondern einfach sagt: "Gott hat seinen Sohn gesandt, gebildet aus einer Frau, unterstellt dem Gesetz" (Gal 4, 4).

Alle diese Geschosse hat Helvidius der Heiligen Schrift entnommen, und es möchte wohl nicht leicht fallen, seine Angriffe mit Waffen aus derselben Rüstkammer entscheidend zurückzuweisen. Wir haben zwar oben auch verschiedene Schriftstellen zu diesem Zweck angeführt und benutzt, aber nicht, ohne uns dabei auf die Aussprüche der Väter zu stützen, die uns in Erklärung jener Schriftstellen vorangegangen sind.

Ja, wir haben offen zugegeben, dass sich aus der Heiligen Schrift auch nicht ein Wort anführen lässt, wodurch man mit aller Klarheit beweisen könnte, dass Maria immerdar Jungfrau geblieben sei. Zwingli versucht zwar den Beweis für die stete Jungfrauschaft Mariä aus der Schrift allein zu erbringen, weil er der Autorität der Kirche auch in dieser Sache nicht Raum geben will. Er führt zu diesem Zweck die Weissagung des Isaias ins Treffen: " Siehe, eine Jungfrau wird empfangen, und einen Sohn gebären." Indessen beweisen diese Worte nur das eine, was ja auch bei allen Rechtgläubigen unzweifelhaft feststeht, dass Maria sowohl bei der Empfängnis wie bei der Geburt ihres Sohnes Jungfrau geblieben ist. Lässt sich aber aus dieser Stelle allein die immerwährende Jungfrauschaft Mariä beweisen? Für alle, die mit den Helvidianern nur aus den klaren Aussprüchen der Schrift ihre Glaubenslehren zu schöpfen vorgeben, hat die angeführte Stelle offenbar keine zwingende Beweiskraft. Noch weniger trifft das zu bei den andern Worten, auf die Zwingli sich beruft, von der verschlossenen Türe, die nur dem Fürsten Zutritt gewährt. Gewiss, diese Worte werden mit Recht auf Maria angewandt, wie wir aus manchen Aussprüchen der Väter dargetan haben. Aber für sich allein betrachtet, ist auch diese Stelle nicht genügend, die stets unverletzte Jungfräulichkeit Mariä auch für die Zeit nach der Geburt Christi mit aller Sicherheit darzutun. Das sehen auch manche von den Neuerern ein, die an der alten Lehre von der immerwährenden Jungfrauschaft der Gottesmutter festhalten. Sie tragen darum auch kein Bedenken, in diesem Punkt die beständige Überlieferung der Vorzeit als genügenden Beweis dieses Glaubenssatzes anzuerkennen.

So bekennt z. B. Bullinger: "Dass die jungfräuliche Gottesmutter Maria auch nach der Geburt Christi des Herrn Jungfrau geblieben sei, das hat von Beginn des Evangeliums an bis auf den heutigen Tag die katholische Kirche allezeit geglaubt, gelehrt und behauptet."

Ebenso beruft sich Butzer, einer der gelehrtesten Schüler Luthers, für diesen Glaubenssatz auf die allgemeine und beständige Übereinstimmung, die darüber in der Kirche geherrscht habe.

Auch Luther selbst verteidigt sich gegen die Anschuldigung, ein Anhänger der helvidianischen Irrlehre zu sein, mit diesem ganz katholisch lautenden Bescheid: In der Heiligen Schrift werde zwar nichts darüber gesagt, ob Maria auch nach der Geburt des Herrn Jungfrau geblieben sei; es werde nur berichtet, dass sie vor und in der Geburt ihre Jungfräulichkeit bewahrt habe. Aber trotzdem tritt er für die immerwährende Jungfrauschaft Mariä ein und verwirft den Irrtum des Helvidius nach dem Vorgang des Kirchenlehrers Hieronymus.

Die Kirche hat diese Lehre, die das apostolische Wort ihr überlieferte, auf dem zweiten Konzil von Nizäa in dem Satz ausgesprochen: "Wenn jemand nicht bekennt, dass die heilige und immerwährende Jungfrau Maria im eigentlichen und wahren Sinne Gottesmutter ist, so sei er im Banne."

Auch das Konzil von Konstantinopel nennt im dritten Kanon Maria die heilige und glorreiche immerwährende Jungfrau.

Schon der hl. Ambrosius (Epist. 56 (in causa Bonosi) n. 3. ML 16, 1223 C. ) erwähnt das Verwerfungsurteil einer bischöflichen Synode gegen die Leugner der immerwährenden Jungfrauschaft Mariä. Und diesem Urteil schließt er sich an. Der Papst Siricius bestätigte die Akten der Synode.

Auf die Autorität der katholischen Kirche gestützt und im Anschluss an die beständige Überlieferung unserer Vorfahren und aller Väter der christlichen Vorzeit, bekennen wir Katholiken alle mit Dank gegen Gott und mit Freude über die Verherrlichung seiner und unserer Mutter Maria: "Als Jungfrau hast du den Gottmenschen geboren, und nach der Geburt bist du unverletzte Jungfrau geblieben."

Drittes Buch: Die vollkommene Sündenlosigkeit und außerordentliche Gnadenfülle der allzeit reinen Jungfrau und Gottesmutter Maria

Zu einer ganz einzigen Würde hat Gott die seligste Jungfrau Maria auserwählt und erhoben. Sie ist in Wahrheit die Mutter Gottes geworden. Ihr Sohn, der Menschensohn, ist kein anderer als der eingeborene Sohn des ewigen Vaters. Der Heilige Geist hat dieses Wunder göttlicher Liebe in der demütigen Magd Gottes gewirkt. Durch die Kraft des Allerhöchsten überschattet, ward die unversehrte Jungfrau die Mutter ihres Herrn. Ihr allein ward dieses unerhörte Vorrecht zuteil, Jungfrau zu bleiben und Mutter zu sein. Im brennenden Dornbusch, den die Flammen nicht verzehrten, sieht die Kirche die wunderbare, unversehrte Jungfrauschaft Mariä vorgebildet.

Aber noch ein anderes Vorrecht war der jungfräulichen Gottesmutter vorbehalten. Unter allen Kindern Adams wurde Maria allein vor jeder Sündenmakel bewahrt. Nicht nur sollte sie frei bleiben von allen persönlichen Verfehlungen, selbst von den unbedeutendsten und leichtesten; auch von dem unverbrüchlichen Gesetz der Erbschuld, die allen Menschenkindern wegen ihrer Abstammung von dem sündigen Stammvater von selbst anhaftet, hat Gott der Herr einzig seine erkorene Mutter ausnehmen wollen. Wegen dieses Vorrechtes vor allem jubelt die seligste Jungfrau auf in freudigem Dankesruf: "Großes hat an mir getan, der mächtig und dessen Name heilig ist" (Lk 1,48).

Dies also ist die Lehre der katholischen Kirche. Maria war von Anfang an frei von jeder Sünde und voll der Gnade und Heiligkeit.

Bevor wir sie begründen und gegen die Einwände der Gegner sicherstellen, müssen wir zuerst des besseren Verständnisses halber einige Erläuterungen vorausschicken.

Erster Teil: Die gänzliche Sündenlosigkeit der allzeit reinen Jungfrau Maria

Erstes Kapitel: über das Wesen der Sünde und ihre Arten

(S. 1. Buch, 5. Kapitel)

1. Unter Sünde verstehen wir die Übertretung des göttlichen Gesetzes. Sie ist zweifacher Art: die Erbsünde und die persönliche Sünde.

Jene ist wie eine ansteckende Seuche vom Stammvater des Menschengeschlechtes auf alle seine Nachkommen übergegangen, die auf dem natürlichen Weg von ihm abstammen.

Die persönliche Sünde ist entweder eine schwere, die man auch Todsünde heißt, oder eine lässliche. Sie kann begangen werden in Gedanken, Worten und Werken, aus Unwissenheit, Schwachheit oder Bosheit.

Die Todsünde wird so genannt, weil sie die Seele des Lebens der Gnade und Kindschaft Gottes beraubt und vom himmlischen Reiche Gottes ausschließt.

Sie meint der Apostel Jakobus, wenn er schreibt: "Die Sünde aber gebiert, wenn sie vollendet ist, den Tod" (Jak 1, 15).

Von schweren oder Todsünden spricht auch der hl. Paulus, wenn er "die Werke des Fleisches" aufzählt, als da sind: "Unzucht, Unlauterkeit, Unschamhaftigkeit, Unkeuschheit, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Streitigkeiten, Eifersucht, Zorn, Hader, Zerwürfnisse, Spaltungen, Missgunst, Mord, Trunkenheit, Schwelgerei und ähnliches, wovon ich euch voraussage, wie ich schon früher gesagt habe, dass die solches tun, das Reich Gottes nicht erlangen werden" (Gal 5, 19 ff.).

Leichtere oder lässliche Sünden aber hat der Apostel im Auge, wenn er vom Holz und der Spreu spricht, wodurch auch die Gerechten das im großen ganzen solide Gebäude ihres Lebenswerkes zu beeinträchtigen pflegen (1 Kor 3, 12). Der Tag des Gerichtes wird alles fehlerhafte und minderwertige an eines jeden Werk verbrennen; er selbst aber wird selig werden, jedoch nur nachdem er gleichsam durchs Feuer hindurchgegangen (A. a. 0.15. V.).

2. Die Quelle aller Sünden und Fehler, die von den Menschen begangen werden, ist die durch unsere gemeinsame Abstammung von Adam ererbte Sünde. Diese hat uns von Anfang an der unschätzbaren Würde und Zierde der göttlichen Gnade beraubt. Alle natürlichen Gaben, womit Gott den ersten Menschen so freigebig ausgestattet hatte, wurden an Wert und Kostbarkeit unermesslich übertroffen von dieser übernatürlichen Eigenschaft, die Gott aus reiner Güte Adam verliehen hatte. Sie machte ihn, und in ihm sein ganzes Geschlecht, der göttlichen Natur teilhaftig. Aber durch die Sünde des Stammvaters ging uns dieses kostbare Erbe verloren. Und so ist jetzt jedes Menschenkind vom ersten Augenblick seines Daseins an nicht ein Kind der göttlichen Gnade, sondern ein Kind des Zornes, in einem Zustand, in dem es Gott nicht gefallen kann, im Zustand der Sünde, und darum dem Tod verfallen und unter der Botmäßigkeit des Satans, des Fürsten dieser Welt.

Kurz, der Mensch ist jetzt dem Leib wie der Seele nach degradiert, er befindet sich in einem Zustand, der überaus verschieden ist von der ursprünglichen Reinheit und Gerechtigkeit, worin Gott unsere Stammeltern erschaffen hatte.

3. Auch die persönliche Sünde findet sich bei allen Kindern Adams, diejenigen nicht ausgenommen, die von der Erbsünde befreit und mit Gott versöhnt sind. Selbst die Heiligen können sich vor häufigen, wenn auch nur kleineren Verfehlungen nicht bewahren. Darum müssen auch die größten Heiligen in aller Demut und Wahrheit gestehen: "Wenn wir sagen wollten: wir haben keine Sünde an uns, so würden wir uns selbst täuschen, und die Wahrheit wäre nicht in uns" (1 Joh 1,8). "Wir alle verfehlen uns in vielen Dingen" (Jak 3,2). Wir müssen alle beten: "Vergib uns unsere Schuld" (Mt 6, 12).

Darum lässt der hl. Hieronymus (Lib. 1. advers. Pelag. 1. 3. n. 10. ML 23, 606 C.) den Rechtgläubigen bekennen, wer auch nur denke, dass der Mensch ohne die Gnade Gottes sich vor jeder Sünde hüten könne, der vergreife sich am Vorrecht Gottes.

4. Es mögen hier noch einige Aussprüche des hl. Augustinus über die beiden Arten der Sünde angeführt werden.

Von der Erbsünde sagt er (De pecc. merit. et remiss. I. 1. C. 12. n. 15. ML 44,417.), sie allein genüge schon, die Seele vom Reich Gottes fern zu halten und des ewigen Lebens verlustig gehen zu lassen.

In einem Schreiben an Hilarius bemerkt er (Epist. 157 ad Hilarium, c. 1. n. 3. ML 33, 675): Wer mit Hilfe der Barmherzigkeit Gottes sich von den Sünden, die man als Verbrechen bezeichnet, frei gehalten und jene Sünden, die man in diesem irdischen Leben nicht zu meiden vermag, durch Werke der Barmherzigkeit und fromme Gebete zu tilgen und zu sühnen nicht versäumt hat, der wird ohne Sünde aus diesem Leben zu scheiden verdienen. Wohl wird man diesen Lebensweg nicht zurücklegen können, ohne in einige Sünden zu fallen; aber dann stehen uns ja auch immer Mittel zu Gebote, uns davon zu reinigen.

Das ist also die katholische Lehre über die Sünde.

Irrige Lehren über die Sünde

Eine Irrlehre ist dagegen die stolze Behauptung des Pelagius, der Mensch sei gerecht aus eigener Kraft.

Ebenso irren alle, die von der Erbsünde nichts wissen wollen; aber auch die Manichäer, die den Satz aufstellten, der Mensch könne nicht in einem einzelnen Fall die Sünde meiden. Dem entgegengesetzten Irrtum verfiel Jovinianus, wenn er behauptete, der Mensch könne überhaupt nicht sündigen. Das eine wie das andere hieße die Freiheit des menschlichen Willens in Abrede stellen.

Mit Calvin gehen sodann auch die einen falschen Weg, die keinen Unterschied anerkennen zwischen Todsünde und lässlicher Sünde, oder wie Augustinus sich ausdrückt, zwischen einer schweren und einer unbedeutenden Sünde.

Ein verabscheuungswürdiger Irrtum ist auch die Behauptung, die Gerechten sündigten bei jedem guten Werk, das sie tun. Das gleiche gilt von dem Satz, nichts ziehe dem Christen die Verdammnis zu, außer der einen Sünde des Unglaubens.

Zweites Kapitel: Maria ist durch einen besonderen Gnadenerweis der göttlichen Barmherzigkeit vor jeder Art von Sünde bewahrt geblieben

(S. 1. Buch, 6. Kapitel)

1. Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge hätte ohne Zweifel auch Maria der Sünde und vor allem der Erbsünde verfallen müssen. Sie stammte ja ebenso, wie die übrigen Menschenkinder von Adam ab, dessen Nachkommen alle von Natur aus "Kinder des Zornes" sind (Eph. 2, 3).

Christus allein kommt naturgemäß die vollständige Sündenlosigkeit zu. Er ist ja vom Heiligen Geist empfangen, und die menschliche Natur, die das ewige Wort annahm und mit sich vereinigte, war schon deswegen ganz und gar rein und heilig, ja die Quelle aller Heiligkeit. Seiner Gnade also hat Maria es zu verdanken, wenn sie vor der Sünde bewahrt blieb, die sie ihrer natürlichen Abstammung nach von Adam, ihrem Stammvater, hätte erben müssen. Der Erlöser, der gekommen ist, alles zu suchen und zu retten, was verloren gegangen war, wollte seiner Mutter eine ganz vorzügliche Gnade und Barmherzigkeit erweisen. Die andern hat er von der Sünde erlöst, indem er sie davon reinigte, seine Mutter aber erlöste er, indem er sie vor der Sünde bewahrte.

2. Manche katholischen Lehrer der Vorzeit haben - weil die Kirche noch keine endgültige Erklärung erlassen hatte - die unbefleckte Empfängnis Mariä in Zweifel gezogen.

Indes waren stets alle darin einig, dass Maria durch einen besonderen Beistand der Gnade vor jeder, auch der kleinsten persönlichen Sünde bewahrt worden sei.

Der hl.Thomas führt drei Gründe für diese allgemein anerkannte Lehre an (S. theol. 3. p. q. 27 a. 4). Diese Gründe können wir füglich auch für die unbefleckte Empfängnis Mariä geltend machen.

1) Es würde Christus zur Unehre, ja sozusagen zur Schmach gereichen, wenn seine Mutter sich jemals mit einer Sünde befleckt hätte. Dürfen wir nun nicht auch sagen, dass es eine noch größere Schmach für Christus bedeutet hätte, wenn Maria, die er sich zur Mutter erwählt, im Zustand der Erbsünde, also der Feindschaft Gottes ins Dasein getreten wäre? Wie verträgt sich mit der Ehre des Erlösers die Annahme, dass seine Mutter auch nur eine kurze Zeit hindurch in der Knechtschaft der Sünde, in der Ungnade und mit dem Fluch Gottes beladen, unter der Herrschaft des Teufels gewesen wäre?

2) Es schickte sich nicht - so der hl. Thomas - dass Maria, die in die innigste Beziehung zu Christus treten sollte, irgendeine Gemeinschaft mit Belial gehabt hätte. Eine solche ergibt sich aber in weit höherem Maße aus der Erbsünde als z. B. aus einer leichten persönlichen Sünde. Alle, auf die das Vergehen ihres Stammvaters Adam übergeht, treten ja in eine solche Beziehung zum bösen Feind, dass daneben eine Verbindung mit Christus nicht bestehen kann. Dagegen wird diese durch eine lässliche Sünde nicht aufgehoben bei dem, der durch die heiligmachende Gnade mit Christus verbunden ist. Noch mehr als eine persönliche lässliche Sünde steht also die Erbsünde im Gegensatz zu jener vollkommensten Verbindung, die zwischen Maria und ihrem göttlichen Sohn bestehen sollte.

3) Mit Recht sagt der hl. Thomas, dass es der ewigen Weisheit geziemte, dem Heiligen der Heiligen eine ganz reine und heilige Wohnstätte zu bereiten. Daraus dürfen wir aber schließen, dass Gott Maria, die er zur Mutter seines Sohnes erwählt hatte, nicht nur vor jeder persönlichen Sünde bewahrte, sondern auch vor der Makel der Erbsünde. Das Haus, das die göttliche Weisheit sich zur Wohnung erwählte, hat sie gewiss nicht etwa erst vom Unrat der Sünde reinigen wollen, sondern es von Anfang an rein und unentweiht zu erhalten gewusst. Nur so finden in ihrem vollen Sinn jene Worte des himmlischen Bräutigams ihre Anwendung auf Maria, an die sie auch nach der Ansicht des hl. Thomas gerichtet sind: "Ganz schön bist du, meine Freundin, und keine Makel ist an dir" (Hld 4, 7).

Drittes Kapitel: Andeutungen und Sinnbilder der gänzlichen Sündenlosigkeit Mariä im Alten Testament

1. In den heiligen Schriften des Alten Testamentes finden sich manche Andeutungen, Vorbilder und Gleichnisse, wodurch das jüdische Volk auf die evangelische Wahrheit vorbereitet werden sollte.

In deutlichen Zügen wird auch das Bild der seligsten Jungfrau darin gezeichnet, und namentlich tritt ihre immerwährende Reinheit so hell und strahlend uns vor Augen, dass jeder aufrichtige, vorurteilslose Beschauer sie leicht zu erkennen vermag.

2. Nicht ohne geheimnisvolle Bedeutung war es, dass der erste Adam aus der jungfräulichen Erde gebildet wurde, die noch nicht mit dem Fluch belastet und durch vergossenes Menschenblut noch nicht befleckt war. Darin lag ein symbolischer Hinweis auf Christus, den zweiten Adam. Der menschliche Leib, den er annahm, sollte hervorgehen aus einer Mutter, die rein war von jeder Sünde, keinem Fluch unterworfen und frei von der Makel unlauterer Begierlichkeit. Wie in ihrem ganzen Leben, so sollte sie auch bei Beginn desselben, also in ihrer Empfängnis, ganz rein und unbefleckt sein.

In Eva, der ersten Frau, erblicken wir das erste Vorbild Marias, die sie in mancher Hinsicht darstellen sollte, namentlich durch die Art und Weise, wie sie erschaffen wurde und ins Dasein trat. Als reine und unversehrte Jungfrau ward sie aus der Seite des Stammvaters gebildet; in wahrhaft schöner und liebenswürdiger Gestalt wurde sie Adam zugeführt, so dass er sie für würdig erachtete, in innigster Vertraulichkeit und Liebe mit ihm verbunden zu sein. Durch dieses Vorbild deutete Gott schon damals an, was er an der zweiten Eva vollführen wollte, die aller Jungfrauen Königin und die wahre Mutter der Lebendigen sein sollte. Durch einen Erweis außerordentlicher Huld wollte er Maria in vollendeter Reinheit und Unschuld ins Dasein treten lassen, so dass der zweite Adam an ihr sein ganz besonderes Wohlgefallen finden und sie der innigsten Verbindung mit ihm würdig erachten konnte.

3. Salomon war ein Vorbild Christi. In seinem elfenbeinernen, reich mit Gold geschmückten Thron, wie die Heilige Schrift ihn schildert, können wir darum ein Symbol der strahlenden Reinheit und glühenden Gottesliebe Mariens erkennen, die der Sitz der Weisheit genannt wird (S. 1 Kön 10, 18).

Viele sehen auch im Tempel Salomons ein Vorbild der seligsten Jungfrau. Dieses herrliche Gotteshaus war in seiner kunstvollen Anlage und prächtigen Ausschmückung der Stolz des jüdischen Volkes und erfüllte auch die Besucher aus der Heidenwelt mit Staunen und ehrfürchtiger Bewunderung (1 Kön 6). Maria ist der lebendige Tempel, den der wahre Salomon sich erbaut hat. Mit Recht bewundern und verehren wir ein so herrliches Heiligtum. Es hieße aber seinem Erbauer Unehre antun, wenn man daran zweifelte, ob er sein Meisterwerk auch wirklich möglichst vollkommen gestaltet und ausgestattet habe.

Ein anderes Vorbild Mariä ist die Bundeslade, die Moses auf Gottes Geheiß aus unverweslichem Akazienholz verfertigen und innen wie außen mit reinem Gold überziehen ließ. Maria war dazu ausersehen, als die lebendige Bundeslade das himmlische Manna in sich zu bergen. Darum musste sie auch nach dem Plan der göttlichen Weisheit gegen alle Fäulnis der Sünde gesichert, dem Leib wie der Seele nach ganz rein und unversehrt sein. Im Gold der lautersten Gottesliebe musste sie erstrahlen (S. Ex 37).

4. Maria ist das Paradies, das Gott so herrlich angelegt hat. Es prangt im reichsten Blütenschmuck, von den Engeln behütet, und der wahre Baum des Lebens sprosst aus ihm hervor (Vgl. Gen 2, 8 f.) Sie ist der verschlossene Garten, zu dem die Schlange keinen Zutritt fand, und der versiegelte Quell (Hld 4, 12).

Maria ist jene hebräische Frau, das als Mutter des wahren Moses, das Joch der Knechtschaft nie getragen. Unter allen israelitischen Frauen blieb sie allein in Ägypten, dem Land der Knechtschaft, auf wunderbare Weise in der Freiheit. So konnte sie den Befreier, den sie geboren, zur Rettung des ganzen Volkes aufziehen (Ex 2, 9). Sie ist das Reis Jesse, das nie gekrümmt, stets aufrecht emporwachsend, die gesegnete Blume und Frucht hervorsprossen ließ zum Heil für die ganze Welt (Jes 11, 1).

5. Maria ist der gesegnete Acker, aus dem die Treue hervorspross, wie David im Geist geschaut und vorhergesagt: "Gesegnet hast du, o Herr, dein Land. Unsere Erde hat ihre Frucht hervorgebracht" (Ps 84, 2.12 f.) Wer dürfte von diesem gesegneten Acker noch meinen, er sei jemals dem Fluch verfallen gewesen?

Wieder sah der Psalmist Maria als das Haus und die Wohnstätte des Messias, und voll Freude rief er darum aus: "Deinem Haus, o Herr, geziemt Heiligkeit" Ps 92,5). Um eines solchen Bewohners würdig zu sein, durfte aber diese Heiligkeit niemals mit der Schlacke der Unreinigkeit und dem Bodensatz der Sünde in Berührung gekommen sein. - Wenn es in einem anderen Psalm heißt: "Der Allerhöchste hat sein ZeIt geheiligt" (Ps 45,5), so dürfen wir auch diese Worte auf Maria anwenden. Sie ist ja das auserwählte Zelt, worin der Sohn Gottes Wohnung nehmen wollte. Darum hat Gott selbst dieses Zelt geheiligt. Die Heiligung wäre aber nicht eine vollständige und des Allerhöchsten würdige gewesen, wenn sie nicht jede Verunreinigung der Sünde von Anfang an ausgeschlossen hätte.

Gewiss, eine solche allegorische Erklärungsweise der Schriftstellen ist nicht von zwingender Beweiskraft. Immerhin bietet sie dem Gutgesinnten eine willkommene Bestätigung der Wahrheit, die sie in hellerem Licht erstrahlen lässt.

Viertes Kapitel: Die unbefleckte Empfängnis Mariä in der Tradition der Kirche

(Siehe 1. Buch, 7. Kapitel)

1. In ihrer Verteidigung der katholischen Lehre gegen die Irrlehrer ihrer Zeit, haben die Väter der Kirche mit besonderem Nachdruck diesen allgemeinen Satz betont:

Christus allein steht in keiner Weise im Sold der Sünde. Er allein ist von Natur aus frei von jeder Schuld. Alle andern Menschen, Kinder wie Erwachsene, sind in den Sündenfall Adams hineingezogen worden, und bedürfen notwendig der Gnadenhilfe Christi, wenn sie von der Sünde befreit und mit Heiligkeit ausgestattet werden sollen.

Doch hat schon der hl. Augustinus (Lib. de nato et gratia, C.36. n. 42. ML 44.267.) ausdrücklich hervorgehoben, dass Maria in dieser allgemeinen Regel nicht mit einbegriffen werden könne, weil sie als Mutter des Herrn, besonders bevorzugt sei. Sie müsse immer ausgenommen werden, so oft von Sünde die Rede sei.

2. Übrigens gilt auch für die Kirche Christi das Gesetz, dass sie im Verlauf der Zeit an Erkenntnis zunimmt, in ähnlicher Weise wie es bei den einzelnen Menschen der Fall ist. Der Heilige Geist stellt ihr bald diese, bald jene Glaubenswahrheit deutlicher vor Augen, indem er helleres Licht darauf fallen lässt. Als man die Frage über die unbefleckte Empfängnis Mariä ausführlich zu besprechen begann, mochten manche schon an der Neuheit dieses Gegenstandes Anstoß nehmen. Und je häufiger in den Schulen und auf der Kanzel davon die Rede war, bald in bejahendem bald im verneinenden Sinne, desto mehr wurde in friedliebenden Gemütern der Wunsch rege, man möge diese neue Frage auf sich beruhen lassen.

Auf dem Konzil von Basel wurden die für eine jede der beiden entgegengesetzten Ansichten geltend gemachten Gründe genau erwogen, und schließlich fasste man im Interesse der allgemeinen Beruhigung der Geister folgenden Beschluss. "Die Lehre, dass die glorreiche Jungfrau und Gottesmutter Maria durch eine ganz besondere zuvorkommende und wirksame Gnade der göttlichen Freigebigkeit niemals der Erbsünde verfallen sei, sondern jederzeit vor jeder Sünde, der ererbten wie der persönlichen, bewahrt und frei geblieben, also stets heilig und unbefleckt gewesen sei, er klären wir als eine fromme, mit dem kirchlichen Kultus und dem katholischen Glauben sowie mit der rechten Vernunft und der Heiligen Schrift übereinstimmende Lehre, die von allen Katholiken gutzuheißen ist, und wir entscheiden, dass man sie annehmen und festhalten soll. Demnach ist es in Zukunft niemandem erlaubt, das Gegenteil zu predigen oder zu lehren."

Dieses Zeugnis musste um so schwerer ins Gewicht fallen, weil die Baseler Synode von vielen Kirchenprovinzen angenommen und vorn Apostolischen Stuhl nicht eigentlich abgelehnt wurde.

In vielen Bistümern und namentlich in Rom selbst wurde alljährlich ein besonderes Fest zu Ehren der unbefleckten Empfängnis Mariä begangen. Papst Sixtus IV. bestätigte dieses Fest durch seine apostolische Autorität und forderte die Gläubigen auf, dasselbe mit Eifer zu begehen.
(Wie bekannt, hat am 8. Dezember 1854 Papst Pius IX die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariä feierlich als Glaubenssatz verkündet. Dreihundert Jahre zuvor hatte der hl. Petrus Canisius folgenden Ausspruch des hl. Thomas von Aquin (S. theol. p. 2.2 ae. q. 10. art. 12) angeführt: "Die katholischen Lehrer haben ihre Autorität von der Kirche. Man muss sich deshalb mehr an die Autorität der Kirche halten, als an die eines Augustinus oder eines Hieronymus oder irgendeines anderen Lehrers."
Dann hatte er hinzugefügt: Wie also die alten Kirchenlehrer zu ihren Lebzeiten auf die Kirche als die Auslegerin des göttlichen Wortes und Lehrmeisterin der Wahrheit mit aller Ehrfurcht gehört und alle ermahnt haben, auf sie zu hören, so würden sie, wenn sie jetzt lebten, ohne Zweifel durch ihr Wort und Beispiel uns anhalten, gläubig anzunehmen und zu befolgen, was in unserer Zeit der Heil. Geist durch seine Kirche lehrt.)

Zweiter Teil: Die außerordentliche Gnadenfülle der heiligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria

Erstes Kapitel: Der rechte Begriff von der Gnade

(Vgl. III. Buch, 5. Kapitel)

1. Die neuen Lehrer des 16. Jahrhunderts verstanden unter Gnade nichts anderes als die unverdiente Gunst und Barmherzigkeit Gottes, wodurch er den Gläubigen die Verdienste Christi zuwende. Sie beriefen sich dabei auf die Lehre des Apostels. Aber gerade der hl. Paulus versteht unter Gnade offenbar eine der Seele innewohnende Beschaffenheit. Er nennt sie einen Schatz, den die Gerechtfertigten in gebrechlichen Gefäßen tragen (2 Kor 4, 7). Es ist dies die Gerechtigkeit Gottes, die zugleich unsere Gerechtigkeit ist (Röm 3, 22). Sie ist uns nicht angeboren, sondern wird uns von Gott, der ihr Urquell ist, in Hinsicht auf die Verdienste Christi eingegossen. Dieses erhabene Geschenk, das Gott den Gerechten zu eigen gibt, macht sie Gott wohlgefällig und wahrhaft schön und reich in seinen Augen.

2. Vor allen andern Lehrern der alten Kirche hat besonders der hl. Augustinus den echten paulinischen Gnadenbegriff mit aller Sorgfalt und Gründlichkeit entwickelt und verteidigt. Er bezeichnet die Gnade als eine verborgene Mitteilung und Einflößung der geistlichen Liebe, die Gott auch den Kindern schon eingieße (Epist. 120. ad Consentium, cap. 4. n. 20. ML 33,462), als ein Pfand und Geschenk des Geistes, wodurch wir die Gerechtigkeit wirken und von der Verdammnis der Schuld befreit werden (cf. Lib. de spiritu et littera, cap. 3. n. 5. ML 44, 203; cap. 30, n. 52. ML 44, 233.). Ganz besonders gibt uns der folgende, eines Augustinus so ganz würdige Ausspruch eine treffliche Beschreibung des Wesens und Wirkens der Gnade.

"Durch das Gesetz - so der heilige Lehrer - haben wir die Kenntnis der Sünde, durch den Glauben erlangen wir die Gnade gegen die Sünde, durch die Gnade wird die Seele geheilt und die Sünde getilgt, durch die Gesundung der Seele wird der Wille befreit, durch den freien Willen wird die Gerechtigkeit mit Liebe umfasst, durch die Liebe zur Gerechtigkeit wird das Gesetz erfüllt. Das Gesetz wird durch den Glauben nicht entwertet, sondern vielmehr gefestigt, weil ja der Glaube die Gnade erlangt, es zu erfüllen. Ebenso wird auch der freie Wille durch die Gnade nicht seiner Würde beraubt, sondern vielmehr darin befestigt, weil die Gnade den Willen heilt, so dass er frei die Gerechtigkeit liebt."

Und anderswo sagt derselbe Kirchenlehrer (Epist. 145. ad Anastasium, n. 3. ML 33,593):

"Die Gnade bewirkt, dass die Gebote Gottes aus Liebe erfüllt werden, wozu die Furcht allein nicht ausreichte. Vermittels der Gnade wird nämlich die Liebe durch den Heiligen Geist, der uns geschenkt ist, unsern Herzen eingegossen. Deswegen sagt der Herr selbst: "Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen" (Mt 5, 17) und der Apostel: "Die Fülle des Gesetzes ist die Liebe" (Röm 13,10).

Es ist also die Gnade eine innere Beschaffenheit der Seele, eine ihr eingegossene übernatürliche Gabe - und das bedeutet weit mehr als nur die unverdiente Huld Gottes gegen den Gerechtfertigten, worin allein nach Ansicht der Neuerer das Wesen der Gnade bestehen soll.

3. Auch darin fälschen die neuen Lehrer den Begriff der Gnade, dass sie dieselbe mit der Nac,hlassung der Sünden verwechseln. Wenn man sie hört, sollte man meinen, die ganze Gerechtigkeit bestehe nur in der Verzeihung der Sündenschuld.

Diesen Irrtum hat wiederum der hl. Augustinus mit folgenden Worten zurückgewiesen. "Weder in der Kenntnis des göttlichen Gesetzes, noch in der Natur, noch in der Nachlassung der Sünden besteht jene Gnade, die uns durch unsern Herrn Jesus Christus gegeben wird (Lib. de gratia et libero arbitrio, cap. 14. n. 27. ML 44,897).

Nach der Lehre des Apostels (1 Kor 6,11) werden die Getauften nicht nur von allen Sünden und Lastern gereinigt, sondern sie werden auch geheiligt und gerechtfertigt im Namen unseres Herrn Jesu Christi und im Geist unseres Gottes." Darum verlangt der Apostel vom wahren Christen, dass er sei ein "neues Geschöpf" (2 Kor 5,17), "erneuert im Geist und Sinn" (Eph 4, 23), nicht nur befreit von der Sünde, sondern auch der Gerechtigkeit dienstbar geworden" (Röm 6, 18).

Schon Papst Cölestin 1 (Ad Venerium Marinum ep. 21. c. 10. n. II. ML 50, 534 B.), dessen ruhmwürdiges Andenken Augustinus preist, hat die Ansicht verurteilt, die jetzt von den Neuerern wieder hervorgeholt wird. Er bestätigte nämlich die vom Konzil von Mileve ausgesprochene Verwerfung des Satzes, die Gnade Gottes, wodurch wir in Christus gerechtfertigt werden, bewirke nur die Nachlassung der Sünden allein. In neuerer Zeit hat dann das Konzil von Trient die alte Lehre der Kirche abermals feierlich ausgesprochen (Sessio 6. cap. 7). "Die Rechtfertigung - so heißt es da - besteht nicht in der bloßen Nachlassung der Sünden, sondern auch in der Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen durch die freiwillige Aufnahme der Gnade."

Zweites Kapitel: Mit Recht nennt die Kirche Maria die Gnadenvolle

1. Seit dem fünften Jahrhundert ist in der katholischen Kirche die lateinische Bibelübersetzung des hl. Hieronymus im offiziellen Gebrauch. Sie heißt daher die "Vulgata", d. h. die allgemein übliche und anerkannte Lesart der Heiligen Schrift. Der Vulgata gemäß hat der Engel der Verkündigung die seligste Jungfrau als die "Gnadenvolle" begrüßt.

Nun wird dieser Ausdruck "voll der Gnade" in der Redeweise der Heiligen Schrift des öfteren angewendet. Nicht selten wird von gerechten, heiligen Menschen gesagt, sie seien mit Gnade, ja sogar mit dem Heiligen Geist erfüllt gewesen. So hat der Engel Gabriel von Johannes dem Täufer vorhergesagt, er werde vom Mutterschoß auf mit dem Heiligen Geist erfüllt sein (Lk 1, 15). Ebenso heißt es von seiner Mutter Elisabeth, dass sie vom Heiligen Geist erfüllt wurde, und dasselbe lesen wir von Zacharias, dem Vater des Täufers (Lk 1,41. 67). Auch Stephanus wird gerühmt als ein Mann, voll des Geistes, und voll Gnade und Kraft (Apg 6, 5.8).

Ist es nun nicht eine überaus befremdliche Erscheinung, dass unsere modernen Schrifterklärer den andern Heiligen diese ehrenvolle Auszeichnung ohne Schwierigkeit zugestehen, bei Maria dagegen sie nicht wollen gelten lassen? Ihr gönnen sie es nicht, dass sie als voll der Gnade vom Engel sei begrüßt worden und immer noch von uns als solche gepriesen werde. Sie beschuldigen nämlich den lateinischen Übersetzer, er habe den griechischen Ausdruck, den Lukas an dieser Stelle gebraucht, nicht richtig wiedergegeben. Nach ihrer Ansicht müsste die wortgetreue Übersetzung lauten: Sei gegrüßt du holdselige; du hast bei Gott Gnade und Huld gefunden.

Indes liegt für uns kein Anlass vor, von der bisherigen Lesart abzuweichen, die schon seit so vielen Jahrhunderten in der Gesamtkirche allgemein anerkannt ist. Wir wissen ja, dass nur die Kirche von Christus beauftragt und bevollmächtigt ist, die Heilige Schrift zu bewahren und in ihrem richtigen Sinn auszulegen. Übrigens wäre es eine große Anmaßung, behaupten zu wollen, dass so viele Bischöfe, Lehrer und Priester aus den verschiedenen Nationen, alle Jahrhunderte der christlichen Vorzeit hindurch diese Stelle des Evangeliums nicht richtig sollten verstanden haben. Wenigstens dürfte man doch bei den griechischen Schrifterklärern der alten Zeit nicht eine so gänzliche Unkenntnis ihrer Muttersprache voraussetzen, wenn man sie nicht etwa einer groben Nachlässigkeit zeihen wollte.

Hören wir nur, in welcher Weise z. B. der hl. Gregor, Bischof von Neocäserea, der doch gewiss der griechischen Sprache kundig war, den fraglichen Ausdruck bei Lukas umschreibt (Homil. 1. de Annuntiat. B. V. MG 10, 1150 C.): "In jener Jungfrau war der ganze Schatz der Gnade niedergelegt. Sie allein war unter allen Geschlechtern rein an Leib und Geist. Sie allein durfte den tragen, der durch sein Wort das Weltall trägt. Es ist nicht etwa die äußere Schönheit, die der Engel an der heiligen Jungfrau bewundert, nein, er bewundert die Tugenden ihrer Seele."

Schon aus diesem Zeugnis allein ist leicht zu ersehen, dass der griechische Wortlaut und der Sinn der hier erklärten Stelle vom lateinischen Übersetzer ganz entsprechend wiedergegeben ist mit dem Ausdruck: "Du bist voll der Gnade." Der Engel der Verkündigung weist hier die seligste Jungfrau zuerst hin auf das Geschenk, das Gott Maria verliehen hatte. Es ist die Gnade, die Fülle der Gnade, womit sie war ausgestattet worden.

Durch den folgenden Satz: "Der Herr ist mit dir" weist er Maria hin auf den Geber dieser Gnade, auf den Herrn, der jetzt auf eine neue, einzigartige Weise mit ihr und in ihr sein wolle, wie er weder vorher noch nachher in irgendeinem seiner Auserwählten gewesen ist. "Mit dieser Jungfrau wollte Gott sich vereinigen, sagt darum Dionysius der Karthäuser (Lib. I de praeconio et dignit. Virg. art. 22. tom. 36, 44 D.), nicht nur durch seine Gnadengaben, durch seine Erleuchtung und Liebe, sondern er wollte in eine wirkliche, natürliche Verbindung mit ihr treten und gleichsam ein Teil von ihr werden in der Weise wie die Leibesfrucht ein Teil der Mutter ist."

Wir geben ohne Bedenken zu, dass jenes griechische Wort, dessen Lukas sich bedient so viel bedeutet, wie geliebt oder "mit Anmut ausgestattet". Diese von Gott Maria mitgeteilte Anmut ist aber nichts anderes als die übernatürliche, innere Gnade, die der Herr ihr verliehen hat (Vgl. Eph 1,6). Wenn also die lateinische Übersetzung dieses Wort mit "voll der Gnade" wiedergegeben hat, so ist sie in keiner Weise von dem richtigen Sinn abgewichen. Darum ist gegen diese Lesart bis auf unsere Tage noch nie ein Widerspruch laut geworden. Wir müssen also gerade jetzt um so entschiedener an der üblichen Ausdrucksweise der Kirche festhalten, je unberechtigter und anmaßender der Einspruch ist, den die heutige Neuerungssucht dagegen erhebt. Nur deswegen will man ja durch altehrwürdige Überlieferungen geheiligte Worte durch neuerfundene Ausdrücke ersetzen, weil man die alte katholische Wahrheit durch neue Irrtümer zu verdrängen sucht.

Drittes Kapitel: Die Gnadenfülle Mariä übertrifft die der andern Heiligen

1. Diese von jeher anerkannte Lehre wollte Luther nicht gelten lassen. Wohl gab er zu, dass Maria, die Gebenedeite unter den Frauen, zu einer Ehre und Würde erhoben wurde, wie sie keiner andern Frau von Gott jemals ist verliehen worden. "Indes, so fügt er bei (In postilla circa Evang. de festo Annunt. M. W 52, 627. [16]) ward sie vom Engel gleichsam in die gebührenden Schranken gewiesen und allen andern Heiligen gleichgestellt durch die Worte: ,Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott.' Damit wollte er sie ja offenbar darauf hinweisen, dass sie nur aus Gnade so sehr erhöht werde, nicht wegen ihres eigenen Verdienstes."

Wir stoßen hier wieder auf das alte Spiel mit dem Worte "Gnade", worunter Luther nur die Huld Gottes verstanden wissen wollte, mit Ausschluss aller inneren Gaben und jedes persönlichen Verdienstes. Er geriet so in vollständigen Gegensatz zu der bisher anerkannten und stets zu beachtenden Regel des hl. Prosper, die besagt (Lib. 2. de vocat. gentium, cap. 35. ML 51, 720 A.): "Gott hilft denen, die er ohne ihr Verdienst erwählt hat, dass sie sich mit Verdiensten bereichern können."

2. Dieselben Worte, die Luther hier zur Bekämpfung der katholischen Lehre benutzte, waren jedoch von den Vätern als Beweis für die bevorzugte Stellung Mariä unter den Heiligen angeführt worden. So sagt der hl. Chrysologus (Sermo 142. ML 52, 579 C.): "Selig ist sie, die allein unter allen Menschen zu hören verdiente: ,Du hast Gnade gefunden.' Wie groß ist diese Gnade? Es ist, wie der Engel vorher es ausgesprochen, eine wahrhaft volle Gnade, die in gewaltigem Strom sich über die gesamte Schöpfung ergießen sollte. ,Du hast Gnade gefunden bei Gott'. Der Engel spricht diese Worte aus, von Staunen ergriffen darüber, dass eine Frau etwas so großes verdient habe oder dass alle Menschen das Leben verdient haben durch eine Frau."

3. Maria konnte in ihrer tiefen Demut es gar nicht fassen, dass sie mit einem so unerhörten Lobpreis als voll der Gnade begrüßt wurde. Sie erschrak geradezu über eine solche Auszeichnung. Darum wollte der Engel sie beruhigen, indem er ihr zuredete: "Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott." Und er fügte auch sofort bei, worin diese Gnade bestehe. "Siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären." Diese Worte zeigen doch deutlich an, dass Maria nicht etwa vom Engel gewarnt wurde, sich nicht wegen seines Grußes zu überheben, wie Luther annimmt, sondern dass sie allen Heiligen vorgezogen und in ganz einziger Weise von Gott über alle Geschöpfe erhöht wurde.

4. Sicherlich hat darum der hl. Bernhard eine viel zutreffendere Erklärung dieser Worte gegeben, wenn er in weiterer Ausführung den Engel Gabriel also zu Maria reden lässt (Homil. 3. de B. Virg. n. 10. ML 183, 76 B). "O wenn du wüsstest, Maria, wie sehr deine Demut dem Allerhöchsten gefällt, und weIch eine erhabene Würde er dir zugedacht hat! Du würdest dann nicht länger der Begrüßung und Lobpreis seitens eines Engels dich für unwert erachten ... Du hast ja bei Gott selbst Gnade gefunden, und was für eine Gnade! Der Friede zwischen Gott und den Menschen, die Vernichtung des Todes, die Wiederherstellung des Lebens, siehe, das ist die Gnade, die du bei Gott gefunden hast."

Offenbar ist diese Gnade, die Maria nach den angeführten Worten des hl. Bernhard gefunden hat, nicht eine gewöhnliche Gnade, wie sie alle Heiligen aus der Fülle Christi zu schöpfen pflegen, sondern eine ganz einzigartige und besondere Gnade, die nur Maria allein empfangen hat.

5. In geistreicher und scharfsinniger Weise führt Albert der Große die Worte des englischen Grußes aus, wenn er so zu Maria spricht (De laudibus Virginis J. 1. c. 4. n. 1. Vol. 36, 28): Du hast Gnade gefunden, nicht sie geschaffen wie Gott, nicht immer hast du sie besessen wie der Sohn, du hast sie nicht geraubt wie der gefallene Engel, nicht sie verloren wie Adam, nicht sie gekauft wie Simon der Magier, nicht sie verborgen gleich dem ungetreuen Lehrer, sondern du hast sie uns zurückerstattet, nämlich die unerschaffene Gnade und mit ihr auch alle erschaffenen Gnadengeschenke, geistige wie leibliche."

6. Wir geben ohne weiteres zu, dass Maria den übrigen Heiligen insofern gleichzustellen ist, als auch sie, ebenso wie alle andern, der erlösenden, rechtfertigenden und verherrlichenden Gnade Christi bedurfte. Wenn jedoch Luther und seine Anhänger behaupten, die seligste Jungfrau habe den Worten des Engels gemäß auf keiner höheren Stufe der Gerechtigkeit und Heiligkeit gestanden, als alle andern, so weisen wir eine solche Ansicht mit aller Entschiedenheit als irrig zurück.

Dieser Irrtum ist eben die Folge des falschen Gnadenbegriffes, den die Neuerer aufgestellt haben. Ihnen bedeutet ja die Gnade nicht eine innere Eigenschaft der Seele, wodurch diese umgestaltet und geheiligt wird, sondern nur die äußere Huld, die Gott der Seele zuwendet in Hinsicht auf die ihr angerechneten Verdienste Christi. Demnach wollen sie auch nichts wissen von einem inneren Wachstum der Seele an Gnade und Heiligkeit, und folgerichtig müssen sie jede Verschiedenheit zwischen den einzelnen Seelen ablehnen, die sich aus dem größeren oder geringeren Maße innerer Gerechtigkeit ergeben würde.

7. Der Apostel Petrus ermahnt die Gläubigen, zu erstarken und zu wachsen in der Gnade zum Heil (1. Petr 2, 2).

Von dieser Gnade nun behaupten wir mit der ganzen katholischen Vorzeit, dass sie Maria in solcher Fülle von Anfang an mitgeteilt wurde, wie keinem andern Heiligen.

"Es war durchaus geziemend", sagt der hl. Laurentius Justiniani (Serm. in Nativit. Mariae V. - edit. Colon. 1675. pag. 670 E), "dass unbefleckt dem Geist und heilig dem Leib nach, reich an Verdiensten und mit allen Tugendschätzen ausgestattet war jene, die das Wort vom Himmel in sich aufnahm und durch den Glauben den Sohn empfing, die durch ihren Wandel die Welt erleuchtete, die Schar der Gläubigen mit dem Manna nährte, die vom Geist überschattet, den Mann in sich schloss (vgl. Jer 31,22), und die im Glanz der Jungfräulichkeit den menschgewordenen Gottessohn gebar, die Unversehrtheit des Leibes mit der Fruchtbarkeit des Schoßes verbindend."

Viertes Buch: Der unvergleichliche Tugendschmuck der Königin aller Heiligen im Licht des Evangeliums

(Siehe IV. Buch, Vorrede)

Die Gegner der Marienverehrung sind von jeher darauf ausgegangen, die geheiligten Zeugnisse des Evangeliums, die uns über Mariä Worte und Taten berichten, böswillig zu entstellen. Statt heilbringende Früchte in diesem Gottesgarten zu sammeln, zogen sie es vor, so manches Schriftwort zu zerpflücken und zu zerreißen, nur um einen Einwand gegen die Tugend und Würde Marias zu gewinnen. Von hochgradigem Eigendünkel betört, taten diese neuen Erklärer des Evangeliums, als ob die gesamte Christenheit bisher dem Wort Gottes gegenüber wäre mit Blindheit geschlagen gewesen. Die folgenden Kapitel machen es sich zur Aufgabe, die falschen Auslegungen der von den Neuerern angeführten Schriftworte im einzelnen richtig zu stellen. So werden sie die von unsern frommen Vorfahren uns überlieferte Hochschätzung der vollendeten Tugendschönheit Mariä als berechtigt und im Evangelium begründet nachweisen.

Erstes Kapitel: Marias Weisheit, nicht Schwäche

Mit Unrecht wird Maria von den Neuerern des Wankelmuts und der Schwachheit im Glauben geziehen. Ihre Frage an den Engel der Verkündigung: "Wie soll das geschehen?" war keineswegs tadelnswert, sondern vielmehr ein Beweis ihrer bewunderungswürdigen Weisheit' (Siehe IV. Buch, 1. Kapitel).

1. In jenem heiligen, nie genug zu bewundernden Gespräch, das Maria in Nazareth mit dem Engel Gabriel geführt hat, legte sie vor allem eine hervorragende Klugheit an den Tag. Alles, was sie sagt, ist voll Würde und Weisheit. Mit wenigen, wohlüberlegten Worten macht sie ihre Gedanken kund. Der Engel hatte ihr mitgeteilt, es sei Gottes Ratschluss und Wille, dass sie den Emmanuel, den Messias zum Sohn haben sollte. In aller Bescheidenheit forscht nun Maria nach, wie das geschehen solle, da sie keinen Mann erkenne, sondern stete Jungfräulichkeit gelobt habe.

2. In diesen Worten will man jedoch einen gewissen Mangel an Glauben entdecken. "Das sind Worte - so lässt sich Sarcerius vernehmen - wie sie eben nur von der natürlichen Vernunft eingegeben sein können, die nicht erfasst ,was des Geistes Gottes' ist" (Vgl. 1 Kor 2,14). Dem strengen Sittenrichter erscheint die Frage der seligsten Jungfrau als ein Anzeichen von Schwachheit, Zweifelsinn und Unwissenheit, wodurch sie sich habe verleiten lassen, dem ihr vom Engel offenbarten Worte und Werke Gottes aus Gründen menschlicher Vernunft und Weisheit sich zu widersetzen. In ähnlichem Sinne äußern sich Cullmann und andere. Sie leisten auch hierin ihrem Lehrmeister Luther treue Gefolgschaft, der in dieser Frage Mariä eine Anwandlung von Unglauben finden wollte (In Postilla circa Evang. in festo Annunt. Virg. W 17 II 387 19).

Eben erst hatte der Engel die Jungfrau als voll der Gnade und gebenedeit unter den Frauen gepriesen. Und da sollte sie bei demselben Gespräch schon sich dieses Lobes unwürdig gezeigt und eines so wenig rühmenswerten Wankelmutes im Glauben sich schuldig gemacht haben? Dem himmlischen Boten gegenüber, der im Auftrag Gottes sie belehrte, sollte Maria sich als eine so ungelehrige und undankbare Schülerin erwiesen haben? Hätte Maria nur einen schwachen, wankenden Glauben gehabt, hätte sie irgendeiner Anwandlung von Unglauben Raum gegeben, so hätte der Heilige Geist ihr gewiss nicht bald darauf durch den Mund Elisabeths den Lobspruch erteilt: "Selig bist du, weil du geglaubt hast" (Lk 1,45). Der Glaube, der Maria eine solche Seligpreisung eintrug, war sicherlich kein schwankender oder leerer Scheinglaube, sondern ein aufrichtiger, beständiger, unerschütterlicher, vollkommener und fester Glaube, der die kostbarsten Früchte brachte, der alles Böse besiegte und in allem Guten durch die Liebe sich betätigte. Ja, man darf wohl sagen, dass gerade aus diesen wenigen Worten der seligsten Jungfrau die ganze Größe ihres Glaubens im hellsten Licht hervorleuchtete, so dass der Engel selbst sie deswegen bewunderte. Unbegreifliche Geheimnisse hatte er ihr verkündet, die alle Kräfte der Natur und alle Gedanken der Menschen übersteigen, und die namentlich jenen Zeiten unerhört und unglaublich vorkommen mussten. Der Engel kündigt Maria an, dass Gott als sterbliches Menschenkind aus einer Frau geboren werden solle, dass eine Jungfrau ohne Mitwirkung eines Mannes empfangen und Gott gebären werde, ohne aufzuhören, Jungfrau zu sein und endlich, dass der Sohn einer armen Mutter über die ganze Welt herrschen werde als König in Ewigkeit. Uns sind alle diese Glaubenssätze von Kindheit an bekannt gewesen. Wir haben die feste Überzeugung von ihrer Wahrheit als ein heiliges, ehrwürdiges Vermächtnis so vieler Jahrhunderte von unsern frommen Voreltern übernommen. Und doch können wir diese Geheimnisse nie ernstlich erwägen oder aufmerksam darüber reden hören, ohne jedes Mal wieder mit neuem Staunen erfüllt zu werden. Wie außerordentlich, wie preiswürdig muss uns demnach der Glaube Mariä erscheinen. Auf die erste Kunde hin, die der Engel ihr von all diesen unbegreiflichen Geheimnissen überbringt, unterwirft sie sofort ihre Einsicht dem Wort Gottes. Mit derselben Ehrfurcht hört sie auf die Stimme Gabriels, wie wenn Gott selbst zu ihr redete, und mit vollkommenem Glauben nimmt sie alles an, was der Bote Gottes ihr sagt, so unfassbar es ihr auch erscheinen mag. Als bereitwilligste Dienerin des Herrn bietet sie ihm ohne Zögern ihre Mitwirkung an zur Ausführung des erhabenen Geheimnisses, das er durch seinen Engel ihr hat ankündigen lassen.

3. Auch unter den Neuerern weisen einige, und zwar nicht die unbedeutendsten, die Angriffe auf den Glauben Mariä zurück. Sie treten denen entgegen, die der heiligen Jungfrau nicht nur Mangel an Bereitwilligkeit und Entschiedenheit in der Annahme der himmlischen Botschaft vorwerfen, sondern sie sogar einer freiwilligen Anwandlung des Unglaubens beschuldigen. So spricht sich z. B. einer der bekanntesten Schüler Luthers, Brenz, folgendermaßen aus, hinsichtlich jener Frage, die Maria an den Engel stellte: "Wie soll dies geschehen?" "Das sind nicht Worte der Ungläubigkeit, wie Zacharias sie geäußert, sondern es sind Worte, die aus dem Staunen gläubiger Gesinnung hervorgehen. Maria bezweifelt nämlich nicht die Gewissheit des Wortes Gottes, das sie aus dem Mund des Engels vernommen, sondern sie ist im Ungewissen über die Art und Weise, wie das, was ihr in Aussicht gestellt worden, in Erfüllung gehen solle (Brentius, Hom. 6. in cap. 1. Luc.)."

Und an einer anderen Stelle sagt derselbe: "Diese Worte gehen nicht hervor aus Unglauben, und auch nicht aus Neugierde, sondern aus dem Drang der Lage, worin sich Maria befand. Mit aller Sorgfalt auf ihre Keuschheit bedacht, musste sie darüber Belehrung suchen, wie sie dem ihr von Gott gewordenen Beruf zu entsprechen habe (In Evang. de Annuntiat. Virg.)."

Ich will noch einen trefflichen Ausspruch Zwinglis beifügen. Er sagt (In cap. 1. Luc.): "Die Sache selbst glaubt Maria; nur über die Art und Weise befragt sie sich. Und das ist ein Beweis ihrer unversehrten Reinheit. Denn daraus ist ersichtlich, dass die Jungfrau Maria niemals mit einem Mann ehelichen Verkehr gehabt, und dass ihr Kind vom Heiligen Geist ist. Zacharias dagegen zweifelte an der Sache selbst wie an der Art und Weise ihrer Ausführung."

Selbst Calvin, der zuerst in wenig pietätvoller Weise über den Glauben Marias sich geäußert, versteht sich schließlich zu folgendem Zugeständnis: "Diese Frage (Mariä) war deswegen nicht dem Glauben entgegen, weil sie viel mehr aus Verwunderung als aus Misstrauen hervorging (In harmon. Evang.)."

4. Solche Zeugnisse aus dem gegnerischen Lager sind uns eine willkommene Bekräftigung der Wahrheit und können zugleich als eine teilweise Genugtuung dienen für die Schmähungen, womit so manche Neuerer die Ehre jener Jungfrau zu bemäkeln wagten, die der Heilige Geist wegen ihres vollkommenen Glaubens selig gepriesen hat.

Es lässt sich aber auch aus diesem Beispiel ersehen, dass die Häupter der sogenannten Reformation, ja sogar die Anhänger der nämlichen Sekte, über einen und denselben Satz des Evangeliums nicht nur verschiedene sondern auch ganz entgegengesetze Ansichten hegen und verbreiten. Es stimmen also weder die Lehrer unter sich noch die Schüler mit ihrem Lehrer in der Erklärung des Evangeliums überein. Durch ein gerechtes Gericht Gottes geschieht es so, dass die Feinde der Kirche sich gegenseitig bekämpfen. Die fortwährende Uneinigkeit und Streitsucht, womit sie ihr Werk betreiben, macht es allen Einsichtigen klar, dass sie weit mehr mit den Arbeitern beim Turmbau von Babel Ähnlichkeit haben, als mit zuverlässigen Erklärern der göttlichen Schriften.

5. Zuverlässige Schrifterklärer aber sind die heiligen Väter. Und die bezeugen einmütig und ausdrücklich, dass Marias Glauben durchaus kein Tadel treffen könne wegen der Frage, die sie an den Boten der Verkündigung stellte. So hat z. B. der hl. Augustinus auf den Unterschied hingewiesen, der im Verhalten des Zacharias und dem der seligsten Jungfrau hervortritt. "Zacharias fragte" - so der hl. Lehrer (Sermo 290 [de nativit. Bapt.] c. 5. ct. 4. ML 38, 1314) -: ,Wie soll ich das wissen, oder woraus soll ich das erkennen, da ich doch ebenso wie meine Gattin bereits im Greisenalter stehe?' Durch diese Worte gab er zu verstehen, dass er an der Erfüllung der Vorhersagung Gabriels zweifelte. Seine Frage war also nicht etwa nur eine Erkundigung nach der Art und Weise, wie die Verheißung des Engels in Erfüllung gehen solle. Die Frage Mariä aber ,Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?' enthält nur die Bitte um nähere Auskunft über ein Ereignis, dessen Möglichkeit sie damit nicht anzweifeln will. Darum wird jenem' gesagt: ,Du sollst stumm sein, weil du nicht glauben willst', dieser aber wird die Verheißung auseinandergesetzt, deren Erfüllung sie mit ihrer Frage nicht in Zweifel gezogen hatte".

Auch der hl. Ambrosius verteidigt die Mutter des Herrn und wirft nur Zacharias allein Schwachheit im Glauben vor, wo er sagt (In exposit. Luc. cap. 1. lib. 2. n. 15. ML 15, 1558 C.): "Maria geht sofort auf die Besprechung der ihr zugedachten Aufgabe ein, Zacharias aber zögert und äußert seinen Zweifel an der erhaltenen Botschaft. Dieser zeigt, dass er nicht glaubt, was er, wie er sagt, nicht zu verstehen vermag. Deshalb fordert er gleichsam noch eine weitere Bürgschaft, bevor er glauben will. Jene aber drückt ihre Bereitwilligkeit aus, das zu tun, was Gott von ihr verlangt. Sie bezweifelt nicht, dass es geschehen wird, sondern fragt nur, wie es geschehen solle."

Ebenso betont der hl. Bernhard (Homil. 4. super "Missus est", n. 3. ML 183, 80 C.), Maria, die im Glauben befestigt war, habe hier nicht die ihr angekündigteTatsache angezweifelt, sondern nur nachgeforscht, in welcher Weise dieselbe nach Gottes Anordnung verwirklicht werden solle. Sie habe gleichsam sagen wollen: "Der Herr, vor dem ja mein Gewissen offen liegt, weiß, dass seine Magd gelobt hat, keinen Mann zu erkennen. Er möge mir also kundgeben, welche Bedingung und Voraussetzung zu erfüllen ist, damit seinem Willen und Wohlgefallen entsprochen werde."

Zweites Kapitel: Die vollkommene Liebe, die Maria bei der Heimsuchung Elisabeths betätigt

(Siehe IV. Buch, 3. Kapitel)

1. Um seine Botschaft noch mehr zu beglaubigen, hatte der Engel die seligste Jungfrau auf das Wunder hingewiesen, das Gott an ihrer Verwandten Elisabeth gewirkt hatte. Ungeachtet ihres hohen Alters und ihrer bisherigen Unfruchtbarkeit habe diese einen Sohn empfangen und befinde sich bereits im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft. Daraufhin fasste Maria den heiligen Entschluss, ihre Verwandte möglichst bald zu besuchen und ihr von Herzen Glück zu wünschen. "Sie machte sich also auf und begab sich eilends über das Gebirge nach einer Stadt des Stammes Juda. Und sie kam in das Haus des Zacharias und grüßte Elisabeth" (Lk 1,39 f.).

2. Die Reise war in mancher Hinsicht beschwerlich. Nach der gewöhnlichen Ansicht machte sich Maria ohne jegliches Geleite auf den Weg. Für eine zarte Jungfrau war ein solcher Gang über das Gebirge nicht leicht; das Ziel der Reise lag von Nazareth weit entfernt. Es war ja eine Stadt im Stammgebiet Juda, wohl nahe bei Jerusalem; also hatte Maria einen Weg von etwa drei Tagereisen zurückzulegen. Bei ihrem gesegneten Zustand musste es ihr um so schwerer fallen, ihre geliebte Einsamkeit für längere Zeit zu verlassen und eine so mühsame Reise anzutreten. Doch ohne Zögern folgte sie dem Antrieb des Heiligen Geistes und machte sich eilends auf den Weg.

3. Die Beweggründe der Reise Mariä. Es war ihre hilfsbereite, opferwillige Nächstenliebe, die Maria dazu bewog, ihre Verwandte aufzusuchen und ihre Dienstleistung ihr anzubieten. Die Nächstenliebe veranlasste sie, ihre Zeit und Ruhe zu opfern, die Nächstenliebe beschleunigte ihre Schritte, sie flößte ihrem zarten Körper Kraft ein, befähigte sie zu ungewohnter Arbeit, und linderte alle Mühsale der Reise.

4. Die Nächstenliebe gab Maria ihren freudigen Glückwunsch ein. Bevor man sie eingeladen oder erwartet hatte, vielleicht ohne ihre Verwandte früher gesehen und kennengelernt zu haben, tritt sie in das Haus ein und begrüßt Elisabeth, nicht nur in Liebe als ihre Verwandte, sondern auch als die Gattin eines Priesters des Herrn in aller Ehrfurcht. Die Nächstenliebe drängte sie, zugleich mit ihrem Glückwunsch ihre Dienste anzubieten voll Bereitwilligkeit und Freude, sich nützlich machen zu können. Welch ein herrliches Beispiel bewunderungswürdiger Liebe, die in Maria sich wahrhaft geduldig und gütig erweist, die nicht sich selbst sucht, die nicht aufgeblasen noch ehrsüchtig ist, die sich erfreut an der Wahrheit, die alles duldet, alles glaubt, alles hofft, alles erträgt (vgl. 1 Kor 13). Maria ist die HöhergesteIIte, aber gern sucht sie die auf, die geringer ist als sie, die jungfräuliche Mutter des Herrn lässt sich bescheiden herab zum Dienst der bejahrten Frau. Keine Arbeit, keine Mühewaltung, wie sie im Haus des Zacharias üblich war, lehnt sie ab.

5. Wie groß war aber erst Mariä ehrerbietige und dankbare Liebe zum allerhöchsten Gott, die mit dieser Liebe zu ihrer Verwandten aufs engste verbunden war. Die außerordentlichen Lobpreise, die Elisabeth oder vielmehr der Heilige Geist ihr widmet, lenkt Maria von sich ab und ihrer eigenen Würde gleichsam nicht gedenkend, gibt sie dem Urheber und Urquell alles Guten allein die Ehre. Sein Lob verkündet sie mit lauter Stimme; aus der Fülle ihres Herzens quillt ein Dankeslied empor, das alle Anwesenden zum Lobpreis Gottes auffordert. Selbst beim vertrauten Gespräch mit anderen gerät sie in Verzückung, sobald die Rede auf Gott und seine Gnade kommt. Ohne jede Anstrengung erhebt sie ihren Geist zu Gott, mit dem sie ja stets vereinigt ist. Sie verehrt Gott wirklich im Geist und in der Wahrheit, alle ihre Sinne und Seelenkräfte hält sie auf die Verherrlichung Gottes gerichtet, so dass Herz und Leib dem lebendigen Gott zujubeln. "Hochpreist meine Seele den Herrn, und mein Geist frohlockt in Gott meinem Heiland" (Lk 1,46 f.).

6. Die segensreichen Folgen der Heimsuchung Mariä. Glück brachte dieser Besuch dem ganzen Hause des Zacharias. Elisabeth wurde beim Gruß Mariä sogleich mit dem Heiligen Geist erfüllt, und, mit der Gabe der Weissagung ausgerüstet, begann sie göttliche Geheimnisse zu verkünden. Glückbringend war Marias Ankunft für das Kind Elisabeths, das, wenngleich noch im Mutterschoß verschlossen, beim Klang der Stimme Marias gleichsam die Gegenwart des Erlösers und seiner Mutter erkannte. So viel es vermochte, tat es seine aufwallende Freude und Ehrfurcht kund und drückte seine Dankbarkeit aus für das hohe Gnadengeschenk der Heiligung, die ihm in diesem Augenblick zuteil geworden. Wie der hl. Ambrosius meint (Lib. de institut. virg. cap. 7. n. 50. ML 16, 333 C.), diente das dreimonatliche Verweilen der Mutter des Herrn dazu, dessen künftigen Vorläufer "durch das Öl ihrer Gegenwart und Reinheit" immer mehr zu salben und zu stärken." Lange vorher hatte auch Origenes ganz im gleichen Sinne und fast mit denselben Worten sich geäußert (Homil. 9. in Lucam. MG 13. 1822 B.): "So wurde also Johannes während jener drei Monate von der heiligen Mutter gleichsam für den Kampf eingeübt."

Drittes Kapitel: Die Demut ind das Selbstzeugnis Mariä

Die Demut der allerseligsten Jungfrau (S. IV. Buch. 7. Kapitel). Das Selbstzeugnis der Gottesmutter: "Er hat angesehen die Demut seiner Magd" (Lk 1, 48).'

1. Mit diesen Worten ihres Lobgesanges wollte Maria den Beweggrund ihres jubelnden Lobpreises Gottes und ihrer beseligenden Freude in ihrem Heiland ausdrücken. Wie der hl. Bernhard hervorhebt (Homil. I super. Evang. "Missus est", D. 6. ML 183. 59 B. ), ist es die Demut, deren Maria sich rühmt, nicht die Jungfräulichkeit, denn die erwähnt sie nicht. Und nach der Erklärung des hl. Beda (In cap. 1. Luc. ML 92. 321 D.) verschaffte die Demut Maria sowohl die Gunst Gottes als die Seligpreisung seitens aller Menschen. "Durch den Stolz Evas hatte der Tod Zutritt gefunden in die Welt. Es ziemte sich darum, dass die Demut Mariä dem Leben Eingang verschaffte." Einer der ältesten Erklärer des Evangeliums, Origenes, hatte hier die Frage gestellt: "Hätte denn die Mutter des Heilandes etwas Niedriges oder Kleinmütiges an sich haben können, wo sie doch den Sohn Gottes in ihrem Schoße trug? Wenn sie also sagte: ,Er hat angesehen die Demut seiner Magd', so bedeutet dieser Ausdruck so viel als: ,Er hat angesehen die Gerechtigkeit seiner Magd, er hat angesehen ihre Mäßigung, ihren Starkmut und ihre Weisheit.' Es gebührt sich ja, dass der Herr die Tugenden ansehe (Origenes, Homil. 8. in Luc. MG. 13. 1821 A.)."

2. Wie die Neuerer diesen Ausspruch Mariä erklären. Die Neuerer aber fassen diese Worte in einem andern Sinne auf, so dass sie nicht mehr die echte Bescheidenheit und heilige Demut Marias bezeugen, sondern nur mehr ihre gänzliche Verborgenheit und Unbedeutendheit. Der von Luther so hochgeschätzte Bibelerklärer Brenz legt der seligsten Jungfrau diese Ausführung ihres Ausspruchs in den Mund: "Er hat angesehen die Niedrigkeit seiner Magd, das ist meine Verächtlichkeit und meine Armseligkeit, da ich gleichsam die niedrigste und verächtlichste von allen seinen Mägden war. Wohl leite ich meine Abstammung vom Geschlecht des berühmten und heiligen Königs David her, aber in je größerem Ansehen meine Vorfahren gestanden, um so tiefer ist das Elend, dem ich anheimgefallen war."

Luther führt in seiner Erklärung des Lobgesanges "Magnificat" diese Worte Mariä folgendermaßen aus (Cf. libell. de Mariae Cantico "Magnificat". W 7. 560 [17-37]): "Gott hat auf mich hilflose, niedrige, gering geschätzte, geringfügige, unbekannte und unbeachtete Maid (junge, unverheiratete Frau) seine Augen hingelenkt. "

Wenn die Neuerer nur gesagt hätten, Maria habe in diesem Ausspruch sich selbst als unbedeutend und arm an Verdiensten vor Gott erniedrigt und die erhabene Würde, wozu sie war erhoben worden, ganz allein der Gnade und Huld Gottes zuschreiben wollen, so wäre dagegen nichts einzuwenden.

3. Die Auffassung der Neuerer wird zurückgewiesen. Wenn man aber mit Berufung auf dieses Wort Marias sich in der Behauptung gefällt, diese so hehre Jungfrau sei von niedriger Geburt, das Kind tiefstehender, armer Eltern und ein Gegenstand der Missachtung für ihre Nachbarn und Landsleute gewesen, sie habe keine andere Stellung gehabt als die einer gewöhnlichen Magd und sich beständig mit den niedrigsten Arbeiten in Haus, Stall und auf dem Feld beschäftigt, so ist das eine ganz und gar unbegründete und ungeziemende Vorstellungs- und Redeweise. Das heißt doch schließlich nichts anderes, als der jungfräulichen Mutter alle Vorzüge des Leibes und des Geistes absprechen, die schon natürlicherweise ihr das Wohlwollen und die Hochschätzung der Menschen gewinnen können. Da hat man doch bisher in Übereinstimmung mit den Lehrern der Vorzeit sich eine ganz andere und angemessenere Vorstellung von der Gottesmutter gemacht. Ich weise nur hin auf die Zeugnisse eines Gregor von Nyssa, eines Ambrosius, eines Johannes Damascenus, eines Metaphrastes, Nikephorus und so mancher anderer. Diese berichten uns, dass die EItern Marias aus dem königlichen Geschlecht Davids abstammten, ein nicht unbedeutendes Vermögen besaßen, vor allem aber von ausgezeichneter Tugend waren und in jeder Beziehung zu den Edlen des Volkes zählten. Maria aber wurde nach der Überlieferung schon als Kind von ihren Eltern Gott geweiht und wuchs unter den Tempeljungfrauen auf, in ihrem ganzen Wandel ein Vorbild für alle andern. Dass die Eltern Marias wohlhabend waren und zwei Drittel ihres Vermögens Gott und den Armen schenkten, ist nur eine fromme Überlieferung. Sicher aber ist dies, dass Maria den hohen Wert der freiwilligen und lobenswerten Armut erkannte, als sie die Mutter des Messias geworden war, dem der Prophet die Worte in den Mund gelegt: "Arm bin ich und in mühsamer Arbeit von Jugend auf" (Ps 87, 16). Christus, der reich war, ist unseretwillen dürftig geworden (2 Kor 8, 9), um von seinem ersten Auftreten an die Weisheit der Weit zuschanden zu machen (1 Kor 1,5). Er wollte uns durch sein Beispiel lehren, die Güter dieser Weit zu verachten und die Armut zu lieben. So wenig wir deshalb Christus als niedrig und verächtlich ansehen, ebenso wenig dürfen wir seine Mutter für gering und verächtlich halten, weil sie seine Armut mit ihm geteilt hat. Und wenn sie nun wirklich von armen oder verarmten Eltern abstammte, dürfte man sie deswegen die "niedrigste und verächtlichste Magd" nennen?

"Aber Maria hat sich doch selbst als Magd bezeichnet."

" Gewiss, sie nennt sich eine Magd des Herrn".

Das ist jedoch kein Titel der Niedrigkeit, sondern erhabener Größe, wahrer Freiheit und Würde.

4. Um die Richtigkeit ihrer Auffassung darzutun, berufen sich die Neuerer auf die sprachliche Bedeutung des von Lukas gebrauchten griechischen Wortes, das wir mit "Demut" übersetzt haben. Sie behaupten nämlich, nach biblischem Sprachgebrauch bezeichne dieses Wort nicht die Tugend der Demut, sondern bedeute stets so viel wie Niedrigkeit und Verachtung. Diese Behauptung trifft jedoch nicht zu, wie aus folgenden Stellen der apostolischen Briefe des hl. Petrus und des hl. Jakobus ersichtlich ist. Dort heißt es nämlich: "Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade" (1 Petr 5, 5 und Jak 4, 6). Und diesem Satz wird die Mahnung beigefügt: "Demütigt euch also unter die gewaltige Hand Gottes" (1 Petr 5, 6) bzw. "demütigt euch vor dem Herrn" (Jak 4, 10). Offenbar handelt es sich an diesen Stellen um die eigentliche Tugend der Demut, die dem Stolz der Hoffärtigen entgegengesetzt ist.

Jeder, der auch nur einige Kenntnis der griechischen Sprache besitzt, sieht aber auf den ersten Blick, dass jenes Hauptwort, das Maria im Evangelium von Lukas anwendet, von dem hier gebrauchten Zeitwort "demütigt euch" abgeleitet ist, also richtig mit "Demut" übersetzt wird."

5. Doch geben wir einmal zu, die Neuerer hätten die Worte der seligsten Jungfrau mit Recht so wiedergegeben: "Er hat angesehen die Niedrigkeit seiner Magd." In der Tat haben ja auch manche katholische Schrifterklärer diese Übersetzung vorgezogen. Dann darf man aber immer noch nicht aus diesem Ausspruch folgern, Maria sei von ganz niedriger Herkunft und ein allgemein gering geachtetes Mägdlein gewesen. Man darf das Wort "Niedrigkeit" nicht so einseitig auffassen, als wenn Maria in ihrer Kindheit und Jugend die Stellung und Beschäftigung einer ganz unangesehenen, verächtlichen Magd gehabt hätte. Wäre Maria auch mit Glücksgütern reich gesegnet gewesen und hätte sie sich allgemeiner Wertschätzung erfreut, so hätte sie doch in aller Wahrheit sich vor Gott als eine geringe Magd und an Verdiensten arme Jungfrau bezeichnen dürfen. Im Vergleich mit der unendlichen Majestät des Schöpfers ist ja auch das höchste Geschöpf niedrig und verächtlich. Wenn also Maria sagt, Gott habe ihre Niedrigkeit angesehen, so denkt sie nicht an eine ihr von anderen Menschen zugefügte Schmach oder an eine erzwungene Verdemütigung, in der sie bis jetzt gelebt, wie unsere Gegner behaupten; nein, aus eigenem Antrieb verdemütigt sie sich, indem sie vor den Augen Gottes sich selbst für nichts achtet, als seine geringste Magd sich bekennt und alles Gute, was sie hat, namentlich ihre hohe Würde, nicht als ihr Verdienst ansieht, sondern als Geschenk der freigebigen Güte Gottes.

Wahrlich, nur ein törichter, unverständiger Mensch wird aus diesen Worten die Folgerung ziehen, Maria müsse in Wirklichkeit arm und leer an allem Guten gewesen sein. Aber darauf läuft eben das ganze Bestreben der Neuerer hinaus, die Würde der heiligen Jungfrau möglichst in Schatten zu stellen. Sie tun gerade, als wenn die Ehre Gottes um so mehr gesichert und gefördert würde, je mehr man den Tugenden und verdienstlichen Handlungen Marias alle Kraft, Wirksamkeit und Preiswürdigkeit abspricht. Man will ihre ganze Gerechtigkeit und Seligkeit im Glauben an die zugerechneten Verdienste Christi allein bestehen lassen. Zu diesem Zweck hat man diesem Ausspruch Marias eine so einseitige und verkehrte Auslegung gegeben.

Indessen müssen auch diese neuen Schrifterklärer uns schließlich so viel zugeben. Das besagte Wort kann jedenfalls die Tugend der Demut bedeuten; und auch wenn man es im Sinne von selbstgestandener Geringfügigkeit oder Unbedeutendheit auffasst, so bleibt es doch im wesentlichen Zusammenhang mit dem Begriff jener Tugend, die den gerechten Menschen lehrt, sich vor Gott zu erniedrigen; und das ist es eben, was wir unter der christlichen Demut verstehen.

6. Der hl. Bernhard (Serm. 34. in Cantic. n.3. M. L 183. 960 D. et tract. de grad. humilit. c. I. n. 2. ML 182, 942 B.) macht die scharfsinnige Bemerkung: "Die Demut ist es, die uns rechtfertigt, nicht die Verdemütigung." Diese wichtige Unterscheidung lassen die Neuerer unbeachtet. Sie denken sich Maria mehr als erniedrigt und verdemütigt, denn als wahrhaft demütig. Dagegen haben die Lehrer der Vorzeit die eigentliche Demut als Demut des Herzens bezeichnet. Diese Tugend ist es, die Christus uns gleich bei seinem Eintritt in die Welt gelehrt hat. Sie ist der Beginn alles gottgefälligen, gottgeweihten Lebens. Die Demut ist nach den Worten des hl. Hieronymus (Epist. ad Celantiam. cp. 148. n. 20. ML 22. 1214) "die vorzüglichste Bewahrerin und Hüterin aller Tugenden."

Man kann die Demut die eigentliche Tugend des Gottmenschen nennen. Da er von Ewigkeit her der Sohn des Allerhöchsten ist, wollte er durch Annahme der menschlichen Natur sich zum letzten Diener aller erniedrigen (Mt 20, 28). Diese Tugend hat er mehr als jede andere, durch sein Beispiel wie durch seine Lehre allen Menschen, den Großen wie den Kleinen, anempfohlen. Die Demut ist die charakteristische Tugend aller wahren Christen. Den Heiden dagegen war sie nicht einmal dem Namen nach bekannt, und die Irrgläubigen verkennen ihr inneres Wesen. Sie gehören ja zu den "Geistesstolzen" von denen die Gottesmutter im "Magnifikat" spricht. Unter Verachtung der Einheit und Einfalt der Kirche trachten sie, der Vorschrift des Apostels zuwider, nach hohen Dingen, statt zu den niedrigen sich herabzulassen (Röm 12,26). Darum bezeichnet der hl. Augustinus das entgegensetzte Laster der Hoffart geradezu als die Mutter aller Irrlehrer (Lib. 2. de Genesi contra Manich. c. 8. n. II. ML 34, 202)", Nach den Worten desselben heiligen Lehrers können wir nur auf dem Wege der Demut die Wahrheit suchen und erreichen. "Sind die übrigen Laster zu fürchten wegen der Sünden, zu denen sie uns verleiten, so ist der Stolz sogar bei den guten Werken, die wir tun, zu fürchten. Denn er bringt uns Gefahr, selbst die Früchte unserer lobenswerten Taten durch die Begierde nach Ehre und Lob zu verlieren (Epist. 118 [ad Dioscor.] c. 3. n. 22. ML 33. 442)."

Indes bedarf es keiner weiteren Worte zum Preis der christlichen Demut. Selbst die Stolzen suchen sich ja den Schein dieser Tugend zu geben. Aber wie selten ist die wahre Demut!

7. Worin die echte Demut bestehe, will ich nur kurz andeuten mit folgenden trefflichen Worten des Abtes Pyamon, die uns Cassian aufbewahrt hat (Collat. 18, cap. II. ML 49. 1112 B). "Die wahre Herzensdemut besteht nicht in affektierten Manieren und Worten. Sie geht vielmehr aus der inneren Gesinnung des sich selbst geringschätzenden Geistes und Herzens hervor. Wenn diese wirklich vorhanden ist, so wird sie sich auch nach außen offenbaren. Aber nicht in der Weise, dass man sich selbst Fehler andichtet und solche von sich aussagt mit dem Wunsch, die andern möchten nicht daran glauben. Vielmehr wird sie sich darin zeigen, dass man anmaßender Beschuldigungen und kränkender Beleidigungen seitens anderer nicht achtet, ja sanftmütigen und gleichmütigen Herzens sie hinnimmt und erträgt."

8. Diese seltene und schwierige Tugend nun leuchtete an Maria mehr als bei allen andern Heiligen hervor.

Je mehr Maria alle Übrigen durch den Reichtum ihrer Gnadengaben übertraf, je höher sie durch ihre Würde alle andern Geschöpfe überragte, desto tiefer wollte sie ohne Unterlass sich erniedrigen. Möge man immerhin die andern Heiligen wegen ihrer großen Demut rühmen; aber fanden sie nicht auch manches in ihrem früheren Lebenswandel, was sie zu beweinen und zu beklagen hatten? Sie wurden noch vom Gesetz ihrer Glieder gequält, stießen vielleicht nicht selten an während ihres Lebenslaufes, zogen sich im Kampf, den sie gegen den Feind zu führen hatten, manche Makel und Wunde zu, hatten also immer wieder Anlass, mit dem Apostel über ihre Armseligkeiten zu seufzen und in Wahrheit sich zu verdemütigen. - Maria aber war durch so viele Schutzmittel der göttlichen Gnade gesichert und bewahrt, dass nichts, was auch nur von ferne an Sündenmakel erinnerte, ihrer Seele nahen konnte; alles an ihr war rein und licht, lautere und heldenmütige Tugend. Eben deswegen war ihre Demut um so außerordentlicher und staunenswerter, weil sie, die allein ganz schön und gnadenvoll auf die erhabenste Höhe der Tugend war erhoben worden, im Geist immer wieder in die Tiefen der Geschöpflichkeit hinabzusteigen pflegte, um ihr eigenes Nichts stets vor Augen zu behalten. Diese Demut Mariä ist der kostbarste Edelstein in dem reichen Tugendgeschmeide, das die Königin der Heiligen ziert; diese eine Tugend ist der Sonne vergleichbar, die den Glanz aller Sterne überstrahlt.

Die Neuerer hätten also sicherlich keine Veranlassung gehabt, jenes Selbstzeugnis der demütigsten Jungfrau in der Weise auszunutzen, wie sie es getan haben. Wie sie selbst gestehen, wollten sie Maria den ihr zukommenden Platz anweisen, indem sie ihre "Niedrigkeit" betonten und sie als ein ganz unansehnliches und verachtetes Mägdlein darstellten. In unseren Augen aber erscheint Maria gerade wegen ihrer Demut als wunderbar groß und preiswürdig und als nachahmenswertes Vorbild christlicher Tugend und Heiligkeit.

Die Demut Mariä offenbart sich in all ihrem Reden, Schweigen und Handeln.

9. So wenig war Maria von sich selbst eingenommen, dass sie ihre eigene Größe nicht zu kennen schien. Sorgfältig hielt sie dieselbe verborgen. Als Magd Gottes bekannte und benahm sie sich.

Die ehrenvolle Begrüßung seitens des Engels lehnte sie gleichsam ab, als ob sie ihr verdächtig vorgekommen wäre. An dem ihr gespendeten Lob ergötzt sie sich nicht, vielmehr wird sie dadurch erschreckt und verwirrt. Sie fragt sich sozusagen selbst: "Wie verdiene ich, dass der Engel Gottes zu mir kommt ?". Als sie aus den Worten Gabriels den Willen Gottes erkannt hatte, dass sie zur Mutter ihres Schöpfers erwählt sei, da legt sie sich keinen andern Namen bei als den seiner gehorsamen Magd. Bei ihrem Besuch Elisabeths lässt sie gleichsam nur widerwillig deren Lobpreis über sich ergehen, und lenkt alle Ehre und alles Lob von sich ab auf Gott allein, der Großes an ihr getan.

10. Die demütige Jungfrau bekennt sich dem Kaiser untertänig. Auf seinen Befehl hin reist sie mit ihrem Gemahl nach Bethlehern. - Sie wird nicht unwillig und fühlt sich nicht beleidigt, wo sie beim Herannahen der Stunde der Geburt sich aus allen Häusern und Herbergen ausgeschlossen sieht, und bei der Geburt jeglicher Hilfe und Bequemlichkeit beraubt ist. Wie einfach ging alles zu bei jener heiligen Geburt, wo die Mutter mit einem fremden Stall und einer armen Krippe für ihr Kind sich begnügen musste und nur von einigen armen Hirten aufgesucht wurde in jener heiligen Nacht, in der sie ihr göttliches Kind der Welt geschenkt hatte. Und nicht lange danach musste sie mit ihm in die Verbannung ziehen. Wie viel Kreuz und Leid hat sie in ihrem späteren Leben mit ebenso demütigem wie starkem Geist erduldet! Nur ihre Demut konnte sie dazu bewegen, vierzig Tage nach der Geburt ihres göttlichen Kindes zum Tempel sich zu begeben und dort den gesetzlich unreinen Müttern sich anzuschließen, um sich gleich ihnen entsühnen zu lassen und das Sühnopfer der Armen darzubringen. Die Demut lehrte sie, dem Handwerker, mit dem sie vermählt war, mit aller Hochschätzung und Ehrfurcht gehorsam und behilflich zu sein. Daher räumt sie im Tempel bei der Anrede ihres wiedergefundenen Kindes Joseph den Vorrang ein und legt ihm den Ehrentitel des Vaters ihres göttlichen Sohnes bei, den sie vom Heiligen Geist empfangen hatte. "Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht" (Lk 2, 48). Obwohl die Brüder oder vielmehr Verwandten des Herrn nicht an ihn glaubten und dem gewöhnlichen Volk angehörten, ließ Maria sich doch deren Begleitung gefallen, um mit ihnen zusammen Christus aufzusuchen (Mt 12,46). Zur Hochzeit in Kana eingeladen, nimmt sie daran teil, damit es nicht den Anschein habe, als verachte sie ihre armen Bekannten (Joh 2, 1).

Die sechs oder sieben Aussprüche Mariä, die das Evangelium uns aufbewahrt hat, sind ebenso viele Zeugnisse wie für ihre Klugheit so auch für ihre tiefe Demut und große Bescheidenheit. Aber auch ihr Stillschweigen über das Geheimnis der Menschwerdung, das sie in heiliger Scheu so lange wahren wollte, selbst dem hl. Joseph gegenüber, bekundet die Demut der wunderbaren Jungfrau.

11. Welch schöne und günstige Gelegenheit hatte sodann Maria, in der Schule der Demut die größten Fortschritte zu machen, da sie so viele Jahre hindurch den göttlichen Lehrmeister aller Demut selbst unter ihrem Dach beherbergen, und täglich aus seinen Worten und seinem Beispiel neue Belehrung gewinnen durfte. Ja, so oft sie ihr göttliches Kind anblickte, musste sie gefördert werden in der Wertschätzung und Übung der Tugend, die der Sohn Gottes selbst uns vorleben wollte, da er sich erniedrigte bis zur Annahme der Knechtsgestalt unserer menschlichen Natur. Das Leben und Leiden des Erlösers bot seiner heiligen Mutter stets neue Gelegenheit zur Nachahmung seiner Demut und Geduld. Sie erlebte und erduldete ja mit ihrem göttlichen Sohn die Blindheit der Gottlosen, die Undankbarkeit der Juden, den Neid der Pharisäer, die Verleumdungssucht seiner eifersüchtigen Gegner, die Ungerechtigkeit der Obrigkeiten, die Treulosigkeit des Judas, die Unbeständigkeit der Jünger, die Grausamkeit seiner Henker, die Bitterkeit des Kreuzes. Zuletzt musste sie ihren Sohn, der ihr teurer war als das Leben selbst, in äußerster Verlassenheit und tiefster Verdemütigung am Holz der Schmach sterben sehen. Kurz, wo immer wir im Evangelium der jungfräulichen Mutter des Herrn begegnen, da finden wir sie geschildert als ein Muster der Demut, Bescheidenheit und Einfachheit.

Weil sie in der Schule ihres göttlichen Sohnes eine so vortreffliche Anleitung zur Demut erhalten hatte, darum wusste sie im Unglück wie im Glück einen beständigen Gleichmut zu bewahren. So empfand sie über die Ankunft und Huldigung der reichen und weisen Männer aus dem Morgenland keine größere Freude als über die der armen Hirten von Bethlehem. Es gefiel ihr der Glück- und Segenswunsch Simeons, aber auch seine traurige Vorhersagung des ihr drohenden Schmerzensschwertes nahm sie mit geduldiger Ergebung entgegen. Sie suchte eben in allem als demütige Magd des Herrn nicht ihre Ehre und nicht ihren eigenen Willen, sondern die Ehre und das Wohlgefallen Gottes. So folgte Maria dem Beispiel ihres göttlichen Sohnes, der den Vater zu ehren und uns den Weg zum Vater zu zeigen, sich verdemütigte bis zum Tod des Kreuzes.

12. Und nachdem er schon in seine Herrlichkeit eingegangen war, wollte die demütige Mutter Christi seinen Jüngern das Beispiel geben in der treuen Befolgung der Mahnung des göttlichen Meisters. Lukas zählt in der Apostelgeschichte die Mitglieder der jungen Kirche auf, die sich im Abendmahlssaal versammelt hatten, die Herabkunft des Heiligen Geistes zu erflehen. Warum nennt er da Maria, die Mutter Jesu, an allerletzter Stelle, nach den Männern und Frauen, nach allen übrigen Gläubigen? (Apg 1, 14). Gewiss gebührte Maria der erste Platz wegen ihrer hohen Würde und ihrer persönlichen Heiligkeit. Indes die Mutter Christi wollte jenes Gesetz erfüllen, das der Herr seinen Jüngern empfohlen hatte: "Gehe hin, und setze dich an den letzten Platz" (Lk 14, 10). Darum überließ sie nicht nur den Aposteln und Jüngern Christi, sondern auch allen anwesenden Frauen den Vorrang. Diese Demut erwägend ruft der hl. Bernhard aus (In serm. "Signum Magnum" n. 11. ML 83, 435 D.): "Mit Recht ist die Letzte die Erste geworden, weil sie, die Erste von allen, sich zur Letzten gemacht hat."

"Den Geist des Hochmutes - so redet ein alter Schriftsteller Maria an - hast du gänzlich überwunden durch deine Demut. Diese hat die Huld Gottes auf dich herabgezogen und dich in seinen Augen würdig gemacht, über alle Chöre der Engel erhöht zu werden. Niemals wärest du zu einer Herrlichkeit, die größer ist als die der höchsten Engel, emporgestiegen, wenn du nicht zuvor in Demut dich unter alle Menschen erniedrigt hättest."

Viertes Kapitel: Über das reiche und durchaus wohlgeordnete Gemütsleben der jungfräulichen Gottesmutter

(Siehe IV. Buch, II. Kapitel)

1. Vorbemerkungen über die menschlichen Gemütsbewegungen im Allgemeinen. Der Mensch ist ein leiblich-geistiges Wesen. Er hat darum ein niederes und ein höheres Strebevermögen. Aber bei der innigen Vereinigung von Leib und Seele kann es nicht fehlen, dass die Tätigkeit des einen vielfach auch das andere Begehrungsvermögen anregt und mit sich zieht. So entstehen dann die sogenannten Gemütserregungen die man auch als Affekte bezeichnet, wie z. B. Freude, Traurigkeit, Hoffnung, Furcht, Mitleiden u. a. Nach der Ansicht der stoischen Philosophie, die auch in unserer Zeit noch Anhänger hat, dürfte freilich ein wahrhaft weiser Mann mit solchen Gemütsbewegungen nichts zu schaffen haben. Indes erkennt die echte Philosophie die Veranlagung zu solchen Affekten als von der Natur selbst dem Menschen eingepflanzt an. Ein unnatürliches Beginnen wäre es also, diese Leidenschaften gänzlich in sich unterdrücken und ertöten zu wollen. Wohl aber müssen wir darauf bedacht sein, dieselben der Vernunft gemäß zu zügeln und zum rechten Ziel hinzuleiten. Harte oder stumpfsinnige Gefühllosigkeit stimmt ganz und gar nicht mit der Lehre Christi überein, die wesentlich eine Lehre der Menschlichkeit und Barmherzigkeit ist. Aus dem Evangelium ersehen wir ja, wie Christus selbst mannigfache Gemütsbewegungen in sich aufkommen ließ. So heißt es von ihm, dass er sich des Volkes erbarmte (Mt 9, 36; Lk 7, 13), dass er weinte (Joh 11, 35; Lk 19,41), dass er manchmal betrübt (Mk 3,5; 14,33), oder auch erzürnt war (Mk 3, 5). Der Menschensohn ist eben in allem uns ähnlich geworden, ausgenommen die Sünde (Hebr 2, 17; 4,15). - Bei uns entstehen allerdings diese Gemütsbewegungen, auch ohne dass wir sie wollen, und es ist uns, wie der hl. Hieronymus (Epist. 79. u. 9. (ad Salvinam de viduitate servanda) ML 22, 731) bemerkt, schwer, ja unmöglich, dabei vor jeder Verirrung uns zu bewahren. Indes sollen und können wir die Regungen der Leidenschaft derart beherrschen, dass sie der Vernunft unterworfen bleiben.

2. Die Frauen sind im allgemeinen dem Einfluss der Gemütsbewegungen mehr ausgesetzt als die Männer. Das weibliche Geschlecht ist, wie die Erfahrung lehrt, von Natur aus in höherem Grade vom Gefühl abhängig und darum in besonderer Weise geneigt zum Zorn, zur Ungeduld, zu Hass und Rachsucht, zu Klage und Streit. Die Frau lässt sich leicht von solchen Leidenschaften zu jeder Art von Maßlosigkeit fortreißen. Darum gibt es verhältnismäßig wenige Frauen, die es verstehen, ihr Gefühlsleben so zu beherrschen, dass sie bei wichtigen Geschäften die Sicherheit des Urteils sich bewahren. Aus diesem Grunde ist es von Anfang an fast bei allen Völkern üblich gewesen, die Frauen nicht zu den öffentlichen Beratungen und Ämtern zuzulassen. Die allgemeine Ansicht ging eben dahin, dass die Frauen sich mehr von Stimmungen als von der Vernunft leiten ließen. Zumal findet sich bei den meisten Müttern eine gefühlsmäßige Voreingenommenheit für ihre Kinder. Diese entspringt ganz naturgemäß aus der zärtlichen Zuneigung, die sie zu ihren Kindern empfinden. Die Liebe zu ihren Kindern treibt die Mutter mit unwiderstehlicher Gewalt, dieselben zu nähren, zu hegen, zu liebkosen, zu schützen; um ihrer Kinder willen ist sie bereit, allen Gefahren die Stirne zu bieten. Man sollte fast glauben, die Mutterliebe kenne kein Maß und keine Grenzen. Mag ein Kind noch so ungestaltet, armselig, träge und lästig sein, mag es die ekelhafteste Krankheit an sich haben, die Mutterliebe lässt sich durch nichts abschrecken, das Auge der Mutter ist gleichsam blind für alle Gebrechen und Fehler ihres Kindes.

Diese Bemerkungen glaubte ich vorausschicken zu sollen, um so den großen Unterschied zwischen dem Gefühlsleben der Gottesmutter und dem der übrigen Frauen und Mütter um so deutlicher hervortreten zu lassen.

3. Das Gefühlsleben der Gottesmutter.

Wenn auch Maria der menschlichen Gemütserregungen nicht ermangelte, so hatten diese doch bei ihr nie etwas tadelnswertes an sich. Sie waren vielmehr stets gemäßigt und wohlgeordnet, so dass Maria als die Gebenedeite unter den Frauen auch in dieser Hinsicht vor allen übrigen Frauen und Müttern einen großen Vorzug besitzt. Nach dem Ausspruch des Mönches Epiphanius (Epiphan. monachus, in orat. de laudibus Virg. n. 6 MG 120, 190 C.) handelte Maria stets mit Mäßigung und Standhaftigkeit; niemals ist sie hässlichen Regungen oder verwirrenden Gemütsbewegungen ausgesetzt gewesen.

4. Sehr zu tadeln sind die Neuerer, die Maria vielfach ungeordnete Gemütsbewegungen nachsagen. Sie setzen sich damit in Gegensatz zu den Schilderungen des Evangeliums. Daraus hätten sie doch ersehen sollen, mit welcher Ehrfurcht der Engel Maria anredete, und welche Hochschätzung die vom Heiligen Geist erleuchtete Mutter des Johannes ihr erwies. Sie bedenken ferner nicht, dass die gnadenvolle Jungfrau gewiss keine Einbuße an Tugend und Vollkommenheit erlitten hat, nachdem sie Gottesmutter geworden war. Vielmehr musste sie, entsprechend ihrer treuen Mitwirkung, in der Gnade beständig zunehmen und in jeder Tugend, zumal in der Weisheit, immer größere Fortschritte machen. Wie hätte also diese weiseste und reinste Jungfrau jemals ungeordneten und ungemäßigten Gemütsregungen zugänglich sein können? Sicherlich hat sich Maria nie zu aufbrausenden, ungehörigen, empfindlichen Äußerungen fortreißen lassen, wie sie manche Neuerer ihr in den Mund legen wollen. Das Evangelium berichtet uns ja, wie klug und bedachtsam sie war in der Wahl ihrer Worte und wie bescheiden und zurückhaltend in allen ihren Äußerungen.

5. Das Gemütsleben Mariä im besondern.

Der Affekt der Freude. In hervorragender Weise trat im Gemütsleben Mariä der Affekt der Freude in die Erscheinung. Hier haben wir Gelegenheit, einen neuen Irrtum zu widerlegen, den Brenz aufgebracht hat. Dieser behauptet nämlich in einer Predigt zum Lukasevangelium (Hom. 17), Maria habe in dieser Welt nur wenig Freude und Herzenswonne erlebt, ja sie habe die Schmerzen der Hölle durchmachen müssen.

Er nimmt eben an, der Gedanke an das Schmerzensschwert, das ihre Seele nach der Weissagung Simeons durchbohren sollte, habe Maria eine unaufhörliche Angst verursacht und keine Freude mehr in ihrem Herzen aufkommen lassen. Die weiseste Jungfrau kannte fürwahr die Pflicht, die schon die Nächstenliebe uns auferlegt, mit den Freudigen uns zu freuen. Sie freute sich über das Glück Elisabeths, die sie ja gerade deswegen besuchte, weil sie dieser teilnehmenden Freude Ausdruck geben wollte. Und wie im Haus des Zacharias "ihr Geist in Gott frohlockte", so war ihr Herz schon in ihrer stillen Behausung zu Nazareth mit unsagbarer Freude erfüllt worden, als das Geheimnis der göttlichen Menschwerdung in ihrem Schoß sich vollzog. Wie glückselig war Maria in jener heiligen Nacht, in der sie ohne jeden Schmerz, aber voller Wonne ihr göttliches Kind gebar, als sie es zum ersten Mal schauen, und auf ihre Arme nehmen durfte. Nie hat eine andere Mutter eine solche Freude empfunden. Maria wusste ja, dass ihr Kind alle andern Menschenkinder an Würde und Liebenswürdigkeit unermesslich übertraf. Und es war ja ganz und gar ihr Kind; mit dem himmlischen Vater allein teilte sie das Recht, zu ihm sagen zu dürfen: "Mein Sohn bist du." Der Besitz dieses Kindes war ein beständiges Freudenmahl, das der ewige Vater der Gottesmutter bereitete. Ihr allein hat er seinen Sohn geschenkt, und der Sohn hat sich in dankbarer Kindesliebe seiner Mutter gänzlich hingegeben. Aus diesem Quell des Lebens und des Lichtes durfte Maria das Wasser der Freude in unbegrenzter Fülle schöpfen.

Wie trostreich musste es so dann für die Gottesmutter sein, in den Hirten, die als Vertreter der Juden und in den Weisen, die als die Erstlinge der Heidenwelt zur Geburtsstätte des göttlichen Kindes herbeieilten, gleichsam die ersten Christen begrüßen und im Glauben unterweisen zu können. Welche Freude muss sie empfunden haben, als sie im Tempel wahrhaft geistliche Menschen traf, die als glaubwürdige Zeugen die Herrlichkeit ihres Sohnes verkündeten. Mit welch süßer Freude mag sie im Haus von Nazareth und später in der Öffentlichkeit den Worten des wahren Salomo gelauscht und seine Weisheit bewundert haben! Gewiss hat sie mit nicht geringerer Lernbegierde und Aufmerksamkeit alle seine Lehren und Taten erwogen und beherzigt, wie einst die Königin von Saba die des weisen Königs. Mit inniger Freude gewahrte Maria, wie die Kennzeichen des Messias an ihrem Sohn immer deutlicher hervortraten, so dass er von vielen öffentlich anerkannt und das Reich Satans immer mehr erschüttert wurde. Sie sah, wie viele unglückliche Seelen die Irrwege der Sünde verließen und unter Christi Führung zu einem guten, heilbringenden Lebenswandel gelangten. GIückselig waren in der Tat die Augen der Mutter Jesu, denen es vergönnt war, die junge Kirche heranwachsen zu sehen, worin die Armen mit dem himmlischen Brot des Wortes Gottes genährt, die Demütigen erhöht, die Hungernden mit Gütern erfüllt und die Weissagungen der Propheten verwirklicht werden sollten.

Ganz besonders aber muss das liebeglühende Herz der Mutter Christi in unsagbarer Freude aufgejubelt haben, als sie nach all dem namenlosen Leid, das sie beim Tod und Begräbnis ihres Sohnes durchgemacht hatte, am Ostermorgen ihn wiederum lebend vor sich stehen sah in der ganzen Schönheit und Herrlichkeit seines auferstandenen verklärten Leibes. Vierzig Tage später durfte Maria dem herrlichen Schauspiel der Himmelfahrt ihres Sohnes anwohnen; sie sah, wie er als glorreicher Sieger über alle seine Feinde triumphierend von der Erde sich erhob, um von dem Reich seiner ewigen Herrlichkeit und von seinem Thron zur Rechten des Vaters Besitz zu ergreifen. Ob da nicht das Herz der überseligen Mutter gleichsam zerfloss vor Freude über das Glück ihres Sohnes, der jetzt als Hoherpriester in das Allerheiligste des Himmels mit solcher Macht seinen Einzug hielt. Seine Erhöhung war zugleich die ihrige; er stieg ja empor in dem Leib, den er aus ihr angenommen hatte. Sie freute sich auch über das Glück, das die Himmelfahrt ihres Sohnes seinen Jüngern eröffnete, denen sie ebenfalls Mutter war. Dieser Tag gab ihnen allen einen getreuen Sachwalter beim Vater und verschaffte ihnen freien Zugang zum Himmel, dessen bisher verschlossene Pforte nach dem Einzug Christi den durch ihn erlösten Sterblichen offen stand.

Ebenso wurde Maria am Tag der Herabkunft des Heiligen Geistes mit unbeschreiblicher Freude und entzückender Wonne erfüllt. Mehr noch als alle Apostel und Jünger des Herrn beschenkte der himmlische Gast seine heiligste Braut mit dem Reichtum seiner Gnadengaben und mit der Fülle der göttlichen Tröstungen, die Maria als Mutter der jungen Kirche bis zu ihrem seligen Hingang auf ihre Kinder überströmen ließ.

Das bisher Gesagte wird jedenfalls vollauf genügen zur Widerlegung der oben angeführten Behauptung, die das Leben der seligsten Jungfrau als gänzlich freudenleer und durch unaufhörliche Seelenqual verdunkelt hinstellen wollte. - Nun wäre es wohl an der Zeit, auch auf die Schmerzen einzugehen, die Maria wirklich erlitten hat. Doch soll zuvor noch eine gegnerische Ansicht besprochen werden, die an dem Verhalten der Gottesmutter bei dem schmerzlichen Verlust ihres zwölf jährigen Sohnes allerlei auszusetzen hat.

6. Ungerecht ist der Vorwurf, den manche gegen die Gottesmutter erheben, sie habe beim Verlust ihres zwölfjährigen Kindes sich einem maßlosen Schmerz und andern ungeregelten Stimmungen überlassen (Siehe IV. Buch, 12. Kapiel). Bekannt ist die Erzählung des Evangeliums, wie der zwölfjährige Jesus sich in den Tempel zu Jerusalem hinaufführen ließ und ohne Wissen seiner Mutter und seines Nährvaters dort zurückblieb, als diese nach Beendigung der jüdischen Osterfeier den Heimweg antraten. Erst am Abend des ersten Tages gewahrten die Eltern Jesu, dass er nicht bei der Reisegesellschaft war. Sie suchten ihn an verschiedenen Orten, fanden ihn aber erst am dritten Tag im Tempel wieder, wo er inmitten der Schriftgelehrten saß und sich mit diesen unterhielt. Es musste den Eltern Jesu auffallend vorkommen, dass er sich ganz gegen seine sonstige Gewohnheit ihrer Aufsicht entzogen und ihnen soviel Angst und Sorge verursacht hatte. Darum beklagte sich die Mutter Jesu ihrem Kind gegenüber mit den folgenden Worten, die ihrem Schmerz und ihrer Verwunderung Ausdruck geben sollten: "Kind", so fragte sie, "was hast du uns angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht."

Was manche in diesen Worten der Mutter Jesu finden wollen.

Nach der Ansicht eines Brenz wären die Eltern Jesu bei dieser schmerzvollen Prüfung von Verzweiflung und sogar noch schlimmeren Stimmungen erfasst worden. "Es mögen ihnen", so sagt er (in seiner 19. Homilie zum Lukasevangelium) "wohl diese oder ähnliche Gedanken gekommen sein: Wenn dieser wirklich der Messias wäre, den die Engel und Propheten verkündigt haben, wie könnte er dann den vom Gebot Gottes verlangten Gehorsam seinen Eltern versagen, sich insgeheim ihnen entziehen, und dadurch sie in so große Betrübnis stürzen?"

Brenz will in den Worten, die Maria an den Jesusknaben richtete: "Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht" eine Andeutung finden, dass die Eltern Jesu wirklich von solch quälenden Gedanken seien gepeinigt worden. Demnach hätte also Maria in ihrer Angst der Verzweiflung sich überlassen und an ihrem göttlichen Kind ein schweres Ärgernis genommen. Oder wäre das etwa nur ein unbedeutender Fehler gewesen, innerlich so gegen Gottes Vorsehung zu murren, im Glauben an Christus und seine Messiaswürde zu wanken, den Sohn Gottes launenhafter Willkür und selbst der Undankbarkeit und des Ungehorsams zu zeihen? Brenz scheut nicht davor zurück, den Eltern Jesu sogar diese Worte in den Mund zu legen: "Wer sollte da noch glauben, dass er der Messias und Erlöser seines Volkes sei?" Wir möchten dagegen an solche Ausleger des Evangeliums die Frage stellen: Schickt es sich wohl, ein derartiges Bild von der heiligsten Jungfrau zu entwerfen und sie dem Gespött des Volkes preiszugeben?

Wie kommt ein Georgius Major dazu, bei Erklärung dieses Evangeliums die Mutter Jesu in folgende verzweifelte Selbstanklage ausbrechen zu lassen: "O, ich Unseligste, die ich einst die Seligste zu sein schien! Besser wäre es für mich gewesen, wenn ich niemals die Mutter des Herrn geworden wäre, als dass ich den mir anvertrauten Heiland durch meine Nachlässigkeit in dieser Weise verlieren musste." Ebenso schildert Johannes Spangenberg die Selbstvorwürfe der Eltern Jesu über "das große Verbrechen", das sie verschuldet hätten, und das sie vor Gott der ewigen Strafe wert erscheinen lasse. Auch Brenz lässt Maria und Joseph folgendes Gespräch miteinander führen: "Wahrlich, wir sehen ein, dass wir nichts anderes zu erwarten haben, als das äußerste Verderben und ewige Verdammnis."

Das alles lesen diese modernen Erklärer des Evangeliums aus diesem heraus oder vielmehr in dasselbe hinein, wenn es gilt, dem Volke die Worte Mariä auseinanderzusetzen: "Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht." Aus dieser so ganz natürlichen Äußerung berechtigter Muttersorge nehmen diese Leute Anlass, die reinste und heiligste Jungfrau in einem möglichst ungünstigen Licht erscheinen zu lassen. Sie zeigen sich eben auch hierin als gelehrige Schüler ihrer Lehrer Melanchthon und Luther. Letzterer stellte bei Erklärung dieser Worte der Gottesmutter die Frage (In Postilla circa Evang. Dom. 1. post Epiphan. W. 12, 410 [14,24]): "Was anderes hätte Maria denken können, als dass der Sohn Gottes durch ihre Schuld verloren gegangen sei, und dass der Vater sie nicht für würdig halten werde, ihr seinen Sohn nun noch einmal anzuvertrauen? Es wäre besser gewesen, sie wäre nicht seine Mutter geworden, als dass er ihr so unversehens wieder entrissen wurde." Und schließlich bricht Luther in die Worte aus: "Hätte es wohl damals einen größeren Sünder gegeben (nach dem Urteil ihres zarten Gewissens zu reden), als es hier die Mutter Gottes selbst war?"

Doch lassen wir diese ebenso unbegründeten wie ungeziemenden Urteile der Neuerer auf sich beruhen. Wer von wahrhaft christlichem Geist sich leiten lässt, der wird anerkennen müssen, dass Maria, die gnadenvolle Gottesmutter, sich stets gleich blieb. Immer war sie standhaft im Glauben, in der Hoffnung langmütig, im Kreuz und Leid geduldig, im Gebete eifrig, in der Liebe vollkommen, in der Gnade befestigt, in allen ihren Handlungen gleichmütig, gemessen und besonnen.

Dieses eine werden auch die Gegner mir zugestehen müssen. Der Schmerz, den Maria empfand, als sie ihren Sohn in allen seinen Wunden am Kreuze hangen sah und als sie seinen heiligen Leichnam in ihrem Schoß trug, war doch gewiss noch weit größer und heftiger als das Leid, das ihr der dreitägige Verlust ihres zwölf jährigen Kindes bereitet hatte. Nun frage ich: hat etwa die Mutter des Gekreuzigten in ihrer unsäglichen Trauer über das Leiden und Sterben ihres Sohnes deswegen sich der Verzweiflung überlassen? Ist sie nicht vielmehr unerschüttert geblieben in ihrem Glauben und Starkmut ? - Wie dürfte man also annehmen, Maria habe sich von einem weit geringeren Leid derart niederbeugen lassen, dass sie im Glauben wankend geworden sei und der qualvollsten Angst und Verzweiflung sich hingegeben habe?

Den Gerechten ist es immer eigen gewesen, bei glücklichen Ereignissen nicht übermütig und bei widrigen Vorkommnissen nicht allzu niedergeschlagen zu werden, sondern alle Schicksalsschläge des Lebens mit unbesiegbarem Gleichmut zu ertragen, ja jedes Kreuz mit Freude zu begrüßen. Bekannt ist der Ausspruch Salomons: "Den Gerechten beugt nichts nieder, was immer ihm auch zustoßen mag" (Spr 12, 21). Wer dürfte also der heiligsten Gottesmutter das Lob unüberwindlicher Geduld und heldenmütigen Starkmutes vorenthalten?

7. Wie ist es zu erklären, dass die Neuerer bei der seligsten Jungfrau solch düstere Gemütsstimmungen und Seelenqualen voraussetzen konnten? Es ist nicht zu verwundern, dass in den Schriften der Neuerer so oft von den Schrecken des Gewissens die Rede ist, und dass andererseits jene Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein, wodurch man jede Angst zu bannen und tröstliche Sicherheit zu erlangen vermeint, bis zum Überdruss wiederholt und eingeschärft wird. "Durch das Urteil des eigenen Gewissens gerichtet" (Tit. 3, 11), tragen sie ein Brandmal in ihrem Gewissen, wie der Apostel sagt (1 Tim. 4, 2). Dieses ist ja mit jenen Sünden beladen, die keinem, der sich von der kathoIischen Kirche losgerissen hat, nachgelassen werden. Wie nämlich Augustinus in Übereinstimmung mit Cyprian deutlich sagt: "Wer immer sich von der katholischen Kirche getrennt hat, der wird schon wegen dieser einen Sünde, dass er sich von der Einheit Christi losgelöst hat, das Leben nicht haben, so lobwürdig ihm selbst sein Lebenswandel auch vorkommen mag, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm (August. in epist. 141 contra Donatistas post collationem. n. 5. ML 33, 579)." Es ist also wohl zu verstehen, wie solche, die durch das gerechte Gericht Gottes von immerwährenden Gewissensängsten beunruhigt werden, sich auch damit zu trösten suchen, dass sie selbst den heiligsten Menschen ähnliche Stimmungen und Seelenqualen zuschreiben.

Fünftes Kapitel: Maria sei nachlässig gewesen

Mit Unrecht beschuldigt man die Gottesmutter, dass sie durch tadelnswerte Nachlässigkeit den zwölfjährigen Jesusknaben verloren habe (S. IV. Buch, 13. [2. Auf!. 15.] Kapitel).

1. Viele Neuerer haben gegen die Mutter Jesu den Vorwurf erhoben, sie habe es an der pflichtmäßigen Sorgfalt fehlen lassen, als sie ihr Kind aus den Augen verlor. So schreiben die Zenturiatoren (Centut. 1. lib. 1. cap. 10. pag. 222 A.): "Bei diesem Anlass pflegt die Sünde besprochen zu werden, die Maria beging, indem sie ihren Sohn, den Messias, verlor; eine Sünde, die man mit der von Eva begangenen vergleichen kann, die im Anfang das Heil der Menschen vernichtet und verloren hat .... Wohl hat Maria, ohne es zu wissen und zu wollen, ihr Kind verloren. Aber auch sie hat nichtsdestoweniger schwer gefehlt."

Also auch diese strengen Sittenrichter müssen zugeben, dass Maria ihren Sohn verloren habe, ohne es zu wissen und zu wollen. Wie können sie trotzdem behaupten, dass Maria sich dabei einer Sünde schuldig gemacht habe? "Wer nicht mit Wissen sündigt, der begeht überhaupt keine Sünde", sagt mit vollem Recht der hl. Augustinus (In disputat. 2. contra Fortunatum. n. 20 ML 42, 121).

Der hl. Lukas hat wohl nicht ohne Absicht die Bemerkung gemacht: "Da sie aber meinten, er sei in der Reisegesellschaft, machten sie eine Tagreise mit" (2,44). Er wollte mit diesen Worten uns den Grund angeben, warum Maria und Joseph erst am Abend des ersten Reisetages gewahr wurden, dass Jesus nicht mitgekommen war. Sie hatten eben angenommen, er habe sich der Reisegesellschaft angeschlossen, wie er es vielleicht auch sonst schon getan hatte.

Dass die hl. Jungfrau selbst sich keiner schuldbaren Nachlässigkeit bewusst war, erkennen wir aus der Frage, die sie an den wiedergefundenen Jesusknaben stellte. Hätten sie sich selbst etwas vorzuwerfen gehabt, so würde sie nicht im Ton liebevoller Klage ihn gefragt haben: "Kind, warum hast du uns das angetan?"

2. Nach dem Urteil dieser modernen Schrifterklärer aber steht es unbezweifelbar fest, dass Maria sich bei dem hier berichteten Anlass einer schweren Sünde schuldig gemacht habe.

"An dieser Stelle", so sagen die Zenturiatoren, "pflegt die Frage behandelt zu werden über die Sünde, die Maria beging, als sie ihren Sohn verlor." Gehen wir etwas näher auf diese Worte ein. Von wem pflegt diese Frage behandelt zu werden? Etwa von den anerkannten Vätern und Lehrern der Vorzeit? Gewiss nicht. Oder von den Lehrern der Scholastik? Auch nicht. Von wem also? Von einigen Verkündigern einer neuen Lehre, die über die wichtigsten Glaubenslehren, wie die Rechtfertigung, die Freiheit des Willens, die Eucharistie und die andern Sakramente endlose Streitfragen aufwerfen, die ihre neuerdachten Meinungen als Wort Gottes anpreisen, und ganz nach Belieben verschiedene Religionsvorschriften aufstellen und dann wieder umstoßen, so dass man auf sie das Wort des Apostels anwenden dürfte, dass sie "allzeit lernen und doch nie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (2 Tim 3, 7).

3. Wir können übrigens gegenüber den Anschuldigungen, die von den Zenturiatoren und ihresgleichen gegen Maria erhoben wurden, die Aussprüche mancher ihrer eigenen Genossen ins Feld führen, die in dieser Sache gerechter geurteilt und das Verhalten der seligsten Jungfrau verteidigt haben. So sagt Zwingli (In 2. cap. Luc.): "Durch Gottes Fügung geschah es, dass der Knabe Jesus in Jerusalem verblieb, nicht etwa durch eigenwilliges Handeln des Knaben oder durch Nachlässigkeit seitens der Eltern. Was Christus angeht, so wollte er die Lehre geben, dass man selbst auf die Eltern keine Rücksicht nehmen dürfe, wenn das Interesse und der Wille Gottes uns anderswohin ruft." In ähnlicher Weise äußert sich Calvin (In harmon. Evangel. eR 73 [45] 105): "Aus mehreren Stellen der Heiligen Schrift geht hervor, dass die Pilger, die zu den Festzeiten sich in den Tempel begaben, um dort Gott anzubeten, die Reise gruppenweise zu machen pflegten. Es kann uns darum nicht wundernehmen, dass Joseph und Maria am ersten Tag sich wegen des Verbleibens des Knaben noch keine Sorge machten. Ihr späteres Verhalten zeigt, dass diese Sorglosigkeit nicht aus Trägheit oder Nachlässigkeit hervorgegangen war."

4. Diesem zweifachen Zeugnis gegenüber muss das Verhalten eines Brenz um so ungerechter erscheinen. Dieser entblödet sich nicht, den Eltern Jesu den Vorwurf zu machen, dass sie bei dem hier besprochenen Anlass "selbst mittelmäßigen Ansprüchen nicht genügt und in keiner Weise die rechte Mäßigung bewiesen hätten." Und wie begründet er diesen Vorwurf? "Das eine Mal sind sie zu sorglos, das andere Mal allzu bekümmert. Wo sie Jerusalem verlassen, bemühen sie sich nicht um den Knaben, um ihn mitzunehmen. Während des ganzen ersten Reisetages tun sie, als wäre er nicht da. Wo sie aber endlich nach ihm sehen und ihn bei den Verwandten nicht finden, da fallen sie auf einmal aus der größten Sorglosigkeit in die äußerste Besorgnis und benehmen sich in einer Weise, als ob es keinen Gott im Himmel gäbe, der sich um die Kinder kümmerte."

5. Solche Schmähungen gegen das heiligste Ehepaar, das je auf Erden gewandelt, richten sich selbst. Wir brauchen nur auf das bereits Gesagte hinzuweisen. Die Sorgfalt und Mühe, die Maria und Joseph aufwandten, den verlorenen Jesusknaben zu suchen, ist wahrlich Beweis genug, dass sie nicht aus sorgloser Nachlässigkeit ihn aus dem Auge verloren hatten. Sie kannten ja die Weisheit des göttlichen Kindes, das für sein längeres Verweilen im Tempel oder unterwegs besondere Gründe haben konnte. Jedenfalls durften sie annehmen, der Knabe werde in der Gesellschaft von Freunden und Bekannten, denen er sich mochte angeschlossen haben, in Bälde nachkommen und zu ihnen stoßen. Anderseits war der Schmerz, den sie empfanden, als sie am Abend des ersten Reisetages Jesus nirgendwo fanden, wohl erklärlich, er artete aber nicht aus in übermäßige Angst oder gar Verzweiflung, sondern blieb ein gemäßigter und heiliger Schmerz.

6. Zum Schluss wollen wir die Einzelheiten des Berichtes, wie der Evangelist Lukas ihn uns überliefert hat, noch einmal kurz zusammenfassen. Was die Neuerer zum Anlass nahmen, die Ehre Marias anzugreifen, mag uns so Stoff bieten zu ihrer Verherrlichung.

Maria pilgert in frommer Andacht zur heiligen Stadt Jerusalem; nicht auf weltliche Geschäfte, die sie etwa dort hätte besorgen wollen, sind ihre Gedanken und Absichten gerichtet, sondern auf die Festfeier, die sie im Tempel begehen will. Wenigstens einmal in jedem Jahr legt sie den weiten Weg von Galiläa über das Gebirge von Samaria zurück. Sie geht nicht allein, sondern mit dem Jesusknaben und mit Joseph, ihren Gemahl, der ihr beständiger Begleiter ist. Nicht einem Zwang gehorcht sie, nicht einem verpflichtenden Befehl Gottes oder der Obrigkeit, sondern aus freien Stücken macht sie die Pilgerfahrt. Sie will der Versammlung der Gläubigen beiwohnen und an dem öffentlichen Gottesdienst sich beteiligen, den sie nicht eher verlässt, als bis er vollständig beendigt ist.

Wie viele herrliche Geheimnisse liegen in diesen kurzen Angaben verborgen. Wir können nicht im einzelnen darauf eingehen, aber es genügt schon ein flüchtiger Blick, die preiswürdige Klugheit, den frommen Eifer der seligsten Jungfrau daraus zu erkennen. Gott zu huldigen und seine Ehre zu vermehren ist das glühende Verlangen ihres Herzens. Deswegen unterzieht sie sich freudig allen Mühen und Anstrengungen, die mit der Teilnahme an den heiligen Gebräuchen und am Gottesdienst verbunden sind. Gewissenhaft kommt sie allen Vorschriften der Religion und der geistlichen Obrigkeit nach. Auf der Reise wie in der Stadt und im Tempel leuchtet sie allen frommen Frauen und Müttern voran durch ihre Bescheidenheit und Andacht. Durch ihr Beispiel lehrt sie uns, nach althergebrachter Sitte die kirchlichen Feste zu begehen, die heiligen Stätten aufzusuchen und am öffentlichen Gottesdienst uns eifrig zu beteiligen. Sie wollte darin mehr tun, als das Gesetz von ihr forderte. Denn dieses verpflichtete nicht die Frauen, sondern nur die Männer, dreimal im Jahre zum Bundesheiligtum sich zu begeben und daselbst den Gott Israels anzubeten.

Nachdem Maria ohne jede Schuld ihrerseits den Jesusknaben, ihr teuerstes Kleinod, verloren hatte, sparte sie keine Sorgfalt und Mühe im Aufsuchen desselben und ruhte nicht, bis sie ihn wiedergefunden.

Gerade diese Begebenheit lässt uns also so recht deutlich erkennen, wie sehr Maria ihr göttliches Kind schätzte und liebte. Der unsagbare Schmerz, den sie während dieses bangen Suchens empfand, traf ihr mütterliches Herz in der Tat bereits mit der Schärfe des von Simeon ihr vorherverkündigten Schwertes, das später ihre Seele durchbohren sollte.

Sechstes Kapitel: Anschuldigung an Maria

Unbegründet ist die Anschuldigung, die von den Neuerem gegen Maria erhoben wird, als habe sie ihren im Tempel wiedergefundenen Sohn mit unwilligen und gereizten Worten zur Rede gestellt. Andererseits enthält die Gegenfrage Jesu durchaus keinen Vorwurf oder Tadel für seine Mutter (S. IV. Buch, 15. u. 16. Kapitel [17. und 18. Kap. der 2. Auflage]).

1. Lukas erzählt, wie Maria und Joseph nach langem, schmerzvollem Suchen am dritten Tage den Jesusknaben im Tempel wiedergefunden, umgeben von GesetzesIehrem, die er durch seine weisheitsvollen Fragen und Antworten in Erstaunen setzte. Maria trat nun hinzu und redete ihn mit diesen Worten an: "Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht."

Das waren Worte mütterlicher Liebe, gesprochen in freundlichem und gütigem Ton; sie brachten ja auch die herzliche Freude zum Ausdruck, die nach so herbem Leid das Mutterherz jetzt empfand über das glückliche Wiederfinden ihres Kindes. - Wir treten gern der von manchen geäußerten Meinung bei, Maria habe die Frage erst dann gestellt, als die Unterhaltung des Herrn mit den Tempellehrern beendigt war und die Versammlung sich aufgelöst hatte.

Gewiss, es lässt sich nicht verkennen, dass aus den Worten, womit die Mutter Jesu ihren Sohn anredete, neben mütterlicher Sorge ein gewisser Freimut elterlichen Autoritätsbewusstseins hervorklingt. In keiner Weise aber kann man aus der einfachen, im Ton der Verwunderung gestellten Frage irgendeine Verdrießlichkeit oder Bitterkeit heraushören. In der Tat hat auch keiner der alten Schrifterklärer darin eine Spur von Unbescheidenheit und ungeordneter Aufregung gefunden. Unter den Modernen gibt es allerdings einige, die in den Worten der heiligen Jungfrau einen ernstlichen Verweis erblicken wollen, den Maria ihrem Sohn erteilt habe, um ihre mütterliche Gewalt über ihn geltend zu machen. Eine solche Annahme hat jedoch selbst Calvin (In harmon. Evangel. CR 73 [45] 106) als unschicklich zurückgewiesen. Nichts wäre ja auch weniger mit dem Charakter der edelsten und bescheidensten Mutter vereinbar als eitles Pochen auf eine missverstandene Autorität.

Andere aber behaupten mit den Zenturiatoren (Cent. 1 lib. 1. c. 10. pag. 221 C.), Maria habe hier Jesus Vorwürfe gemacht und sich erregt gezeigt. Manche scheuen nicht davor zurück, der Mutter Jesu ganz bittere Worte in den Mund zu legen, wodurch sie ihn einer unschönen Handlungsweise, ja einer Sünde gegen den Gehorsam und die Dankbarkeit bezichtigt hätte.

Am weitesten ist hierin wohl Brenz (Homil. 20. in Luc.) gegangen, der die Mutter Jesu in folgender leidenschaftlicher Weise ihren Sohn anreden lässt: "Du bist mein Sohn; weißt du also nicht, was ein Sohn seinen Eltern schuldig ist? ... Warum hast du uns das getan? ... Wir haben dir ja niemals ein Übel zugefügt, sondern dir alles Gute getan, was wir nur immer konnten. Ich habe dich, als du noch in der Krippe lagst, mit großer Sorgfalt gepflegt. Wie vielen Mühsalen, Strapazen und Gefahren haben wir uns ausgesetzt, als wir mit dir nach Ägypten fliehen mussten! Mit welcher Sorgfalt haben wir dich bis auf diesen Tag großgezogen! . .. Und nun hast du selbst absichtlich uns in so großes Leid gestürzt, dass wir viel lieber den Tod erleiden möchten als noch einmal etwas so schreckliches durchmachen müssen. Ist es nun aber nicht ebenso schlimm, wenn man seinen Eltern durch eigene Schuld eine solche Angst und Traurigkeit verursacht, die grausamer ist als selbst der Tod durch das Schwert? Kein geringes Vergehen hast du, mein Sohn, gegen deine Eltern dir zuschulden kommen lassen. In solcher Weise hat Maria dem Jesusknaben Vorhaltungen und Vorwürfe gemacht."

Da darf ich wohl fragen: Schickt es sich denn, die Mutter des Herrn eine so unwürdige Rolle spielen zu lassen, und zwar aus einem ganz ungenügenden Vorwand? Wenn die gebenedeite Jungfrau wahrhaft an Christus glaubte, wenn sie wusste, dass er stets von aller Sünde und Schuld frei war, wenn sie überall sich der größten Bescheidenheit befleißigte - und das alles kann doch kein echter Christ in Zweifel ziehen - wie hätte sie sich in derartigen unbegründeten und bitteren Klagen ergehen können? Wie hätte sie ihrem Sohn die Wohltaten vorhalten sollen, die sie ihm erwiesen hatte, als ob er ihr dafür keinen Dank wisse? Wie hätte sie es sich herausnehmen dürfen, ihren göttlichen Sohn mit einem Elternmörder zu vergleichen und eines schweren Vergehens zu beschuldigen? Oder hätte sie so gänzlich das Bewusstsein ihrer Stellung und der göttlichen Geheimnisse verlieren können, dass sie der Majestät und Würde des Messias nicht mehr eingedenk gewesen wäre? Und sie wusste doch aus den Weissagungen der Propheten wie aus den Worten des Engels, dass Jesus die Weisheit und Kraft Gottes selbst sei. Wäre es wohl denkbar, dass die glaubensvolle Jungfrau alle die Wunderdinge, die sie an ihrem Kind erlebt, hätte vergessen und von ihrem göttlichen Sohn so niedrig hätte denken können, dass sie ihm einen so anmaßenden und schimpflichen Vorwurf ins Gesicht geschleudert hätte? Das heißt wirklich der Gottesmutter alle Weisheit und Charaktergröße absprechen und sie zu einer ganz gewöhnlichen, von Unwillen, Ungeduld und Schmähsucht beherrschten Frau herabwürdigen.

2. Indes begnügen sich die Neuerer nicht damit, die Worte Marias zu missdeuten und das Charakterbild der hehren Jungfrau in hässlicher Weise zu entstellen. Auch die Antwort, die Christus seiner Mutter gab, legen sie in einem Sinne aus, der für Maria überaus beleidigend und kränkend ist.

"Warum habt ihr mich gesucht?" fragt Christus. "Wusstet ihr denn nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?"

Mit diesen Worten belehrt Christus seine Eltern, warum er diese drei Tage hindurch in Jerusalem verweilt und es zugelassen habe, dass sie in Sorge und Angst nach ihm suchten. Er deutet an, dass er nicht aus Geringschätzung gegen sie, sondern aus Liebe und Verehrung zu seinem himmlischen Vater im Tempel geblieben sei. Durch sein Beispiel wollte Christus zeigen, wie man vor allem Gott gegenüber den vollkommenen Gehorsam üben müsse. Endlich sollte dieser Vorgang seine künftige öffentliche Lehrtätigkeit vorbedeuten und vorbilden, wie er sie nach der Taufe zur Ehre seines ewigen Vaters unter den Juden ausüben wollte. Christus will also Maria und Joseph durch seine Erwiderung nahelegen, dass sie keinen Grund gehabt hätten, um seinetwillen zu fürchten und besorgt zu sein, da er ja nichts anderes tue, als was der ewige Vater von ihm wolle. Der Wille und der Dienst des Vaters habe nun von ihm gefordert, dass er für diese kurze Zeit selbst die im Stich lassen solle, die ihm die Liebsten auf Erden waren, um mit den Gesetzeslehrern im Tempel über Glaubensfragen Unterredung zu pflegen und sich so zum ersten Mal den Israeliten zu offenbaren.

Wenn man die Worte Christi richtig erwägt, wird man also gewiss nicht einen Tadel oder Vorwurf darin finden können, den Christus gegen seine Eltern erhoben hätte.

Diese Worte enthalten vielmehr eine deutliche Entschuldigung und Rechtfertigung der Eltern Jesu. Christus weist ja ausdrücklich darauf hin, dass sein Verbleiben im Tempel nicht etwa ihrer Nachlässigkeit, sondern ganz allein der Fügung der göttlichen Vorsehung zuzuschreiben sei, nach deren Plan Christus bei dieser Gelegenheit sich als Messias offenbaren sollte.

Überdies war Christus doch sicherlich nicht so unhöflich und undankbar, dass er die zärtliche Liebe seiner Mutter und seines Pflegevaters sowie die aufopfernde Sorgfalt, die sie ihm erwiesen, hätte unberücksichtigt lassen oder gar zurückweisen können. Vielmehr müssen wir annehmen, dass er alle ihre Mühen und Schmerzen nicht ohne tiefes Mitgefühl innerlich miterlebte und dass er sie in der Trübsal, die sie um seinetwillen durchmachen mussten, durch seine ganz besondere Gnade tröstete und stärkte.

Christus ist ja immer und allen gegenüber voll der Barmherzigkeit gewesen; er ist es, von dem es heißt, dass er gerade auf den Armen und Dürftigen ein besonderes Augenmerk hat (Ps 41,2), der zumal die Leiden und Seufzer der Seinen nie unbeachtet lässt und gerade die Bitten der Armen und Verachteten gerne erhört (Ps 18, 28; 10,5).

Wie sehr sind also die im Irrtum, die in der Tempelszene eine scharfe Auseinandersetzung zwischen der Mutter Jesu und ihrem Sohn sehen wollen. Es ist doch offenbar, dass niemals ein Sohn seine Eltern so vollkommen geehrt und geliebt hat wie Christus es getan. Ganz undenkbar ist es darum, dass er seiner Mutter in bitterer und vorwurfsvoller Weise geantwortet und sie, die doch ganz ohne Schuld war, hart und lieblos behandelt hätte.

Wohl sprach der Jesusknabe hier zu seinen Eltern in einer Weise, die ihnen ganz ungewöhnlich vorkommen musste. Es war das erste Mal, dass er ihnen gegenüber seine göttliche Autorität und Sendung betonte. Er machte sie gleichsam darauf aufmerksam, dass sie bei der zärtlichen Liebe und Sorge, die sie ihm als Menschensohn erwiesen hatten, nicht genug an seine göttliche Natur gedacht hätten, deren Vorrang über seine menschliche Natur er jetzt so entschieden geltend machte.

3. Der zwölfjährige Jesus hat hier durch seine Worte und sein Beispiel eine wichtige Lehre und Mahnung geben wollen, die in erster Linie alle mit der Erziehung der Jugend Betrauten angeht.

Es ist eine allgemein bekannte und von allen Einsichtigen beklagte Tatsache, dass die Liebe der Eltern zu ihren Kindern nur allzu oft das vernünftige Maß überschreitet und in schwächliche Nachsicht ausartet. Die Folge davon ist, dass die Kinder meistens allzu weichlich erzogen werden. Die Eltern übersehen vielfach die Fehler ihrer Kinder, sind mehr geneigt, dieselben zu entschuldigen, als sich darüber zu erzürnen. Sie verheimlichen lieber deren Seelenwunden, als dass sie dieselben zu heilen suchen. Aus dieser Wurzel erwachsen den Familien und Gemeinden die schlimmsten Schäden; aus dieser Quelle zumeist ergießt sich die Sittenverderbnis fast über alle Generationen. Leider sind nur wenige Eltern mehr zu finden, die ihre Kinder ebenso dem Geist wie dem Fleisch nach lieben und die ernstlich darauf bedacht sind, das kindliche Gemüt zur Gottesfurcht und zur Übung der Frömmigkeit und Tugend heranzubilden.

Noch schwerer versündigen sich aber an ihren Kindern jene Eltern, die den Keim der Frömmigkeit im kindlichen Gemüt zu ersticken suchen, sobald sie gewahr werden, dass in ihm das Verlangen und Streben nach höherer Vollkommenheit sich regt. Durch ihr Beispiel und Machtwort treten sie jeder Äußerung einer solchen Absicht entgegen und schrecken von deren Ausführung ab. Das sind aber grausame und gottlose Eltern, die ihre Kinder nicht nur zum Sinnengenuss, Stolz, Ehrgeiz und zu maßloser Vergnügungssucht anleiten, sondern sie auch von jedem Streben nach den höheren, unvergänglichen Gütern und Freuden abhalten und so nur allzu oft in das ewige Verderben hinabziehen.

4. Aber auch der Jugend wollte der zwölfjährige Jesusknabe eine Lehre und Mahnung geben. Durch sein erhabenes Beispiel zeigte er ihr, wie man selbst die engsten und festesten Bande des Blutes, der Freundschaft und Verwandtschaft zerreißen muss, wenn Gott zur höheren Vollkommenheit ruft und die Rücksicht auf das ewige Heil ein solches Opfer verlangt. Dann tritt eben der Fall ein, den der hl. Hieronymus im Auge hat, wenn er sich folgender wuchtigen Worte bedient (Ad Heliodorum epist. 14. n. 2. ML 22, 348): "Mag auch dein kleiner Neffe deinen Hals umschlingen und deine Mutter mit aufgelöstem Haar und in zerrissenen Kleidern dich hinweisen auf die Brüste, womit sie dich genährt, mag auch dein Vater sich vor dir auf den Boden niederwerfen und mit seinem Leib dir die Türschwelle versperren, so darfst du dennoch dich nicht abhalten lassen, über deinen Vater hinwegzuschreiten und trockenen Auges zur Fahne des Kreuzes dich emporzuschwingen ... In dieser Sache grausam sein ist die einzig richtige Pietät." Das ist die Gesinnung, die Christus selbst bei seinen Soldaten vorausgesetzt, wenn er an sie die Aufforderung ergehen lässt, um seinetwillen alles zu verachten und der ganzen Welt den Abschied zu geben. Er will, dass man alle Rücksicht auf Eltern, Freunde oder Vertraute beiseite setze, wenn es gilt, mit Überwindung ihres Widerstandes sich ungeteilt dem Dienste des höchsten Herrn hinzugeben und für immer sich ihm zu weihen. Wenn einer anders handelte, so würde das Wort Christi auf ihn Anwendung finden: "Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ja, wer nicht zur rechten Zeit Vater und Mutter gewissermaßen hasst, der ist meiner nicht wert" (Mt 10, 37; Lk 14, 26).

5. In erster Linie müssen die das vorliegende Beispiel befolgen, die sich gänzlich dem Stand der höheren Vollkommenheit geweiht haben. Diese haben, den besten Teil der evangelischen Lebensweisheit erwählend, sich die Aufgabe gestellt, frei von den Hindernissen der Welt- und Eigenliebe, durch großmütige Selbstverleugnung nach vollkommener Gottesliebe zu streben. Ihnen wollte Christus im Tempel die Lehre erteilen, dass sie nicht ihren Eltern, Verwandten und Freunden zuliebe den Heiligen Geist vertreiben oder betrüben möchten. Nachdem sie das Gott geweihte Asyl erreicht, sollten sie sich nie mehr demselben entreißen lassen; nie sollten sie, nachdem sie einmal Hand an den Pflug gelegt, rückwärts schauen. Unbeirrt von der natürlichen Anhänglichkeit an ihre Verwandten sollten sie alle ihre Kräfte und alle ihre Zeit dazu verwenden, Gott eifrig zu dienen und sein Wohlgefallen zu suchen. Darum hat Basilius der Große in seiner Unterweisung über das Streben nach wahrer Frömmigkeit unter anderem folgende Vorschrift gegeben (De vita solitaria seu coenobitarum constit. mon. c. 20. Il. I. MG 31, 1390 C.): Verwende nicht größere Sorgfalt auf deine Verwandten als auf den Herrn selbst. Wenn du mit Christus jenen wahrhaft abgestorben bist, warum trägst du noch Verlangen, wiederum mit ihnen zu verkehren? Willst du um ihretwillen wieder aufbauen, was du wegen Christus niedergerissen hast? Aber dann wirst du zum Fahnenflüchtigen und brichst dein Versprechen. Verlasse doch nicht deinen Posten aus Rücksicht auf deine Verwandtschaft."

6. Die Mahnung, die Christus hier gibt, gilt aber auch für die andern Gläubigen. Alle müssen die ungeordnete Anhänglichkeit an die Verwandten und jede Art von Menschenrücksicht beiseite setzen, wenn diese sie verleiten will, der göttlichen Berufung und ihrer Pflicht untreu zu werden. Müsste man also auch sein ganzes Vermögen verlieren, sein Vaterland verlassen, den Unwillen seiner Verwandten und Freunde sich zuziehen, ja die ganze Welt gegen sich aufbringen, so wäre das alles gering anzuschlagen, wenn man nur um solchen Preis die Beleidigung Gottes vermeiden, den wahren Glauben bewahren und sein Seelenheil sicherstellen könnte.

Siebentes Kapitel: Maria von Unwissenheit befangen ?

Mit Unrecht folgern die Neuerer aus den Worten des Evangeliums, Maria sei in einer beschämenden und tadelnswerten Unwissenheit befangen gewesen (S. IV. Buch, 17. [19.] Kapitel).

1. Der hl. Lukas berichtet, die Eltern Jesu hätten den Sinn der Gegenfrage, womit er die klagende Frage seiner Mutter erwiderte, nicht erfasst. "Sie aber verstanden dieses Wort nicht, das er zu ihnen sagte" (Lk 2, 50).

Aus dieser Bemerkung glauben nun manche moderne Schrifterklärer schließen zu sollen, die Eltern Jesu hätten eine rein irdische, weltliche Anschauung vom Messiasreich gehabt. Sie hätten darum nicht erwartet, dass Jesus nach Art der gelehrten Rabbiner auftreten werde, sondern gehofft, ihn als herrschgewaltigen König sich offenbaren zu sehen.

Darauf antworten wir kurz, dass Maria und Joseph eine viel zu heilige und erhabene Kenntnis Christi besaßen, als dass sie jene weltlichen Erwartungen der Mehrzahl ihrer jüdischen Volksgenossen hätten teilen können. Schon sein erstes Auftreten im Stall von Bethlehem, die Art seines äußerlich so überaus ärmlichen und verächtlichen Erscheinens in dieser Welt musste sie klar erkennen lassen, dass Christi Reich ein geistliches und durchaus kein weltliches Reich sein werde. Maria und Joseph gehörten nicht zu jenen grobsinnlichen Menschen, die alle Größe eines Reiches nur nach äußerer Macht- und Prachtfülle, nach der Stärke der bewaffneten Heeresmacht und nach der Menge und dem Glanze des königlichen Hofgesindes zu bemessen pflegen.

2. Die Zenturiatoren meinen, durch die Tatsache, dass Maria die Worte Jesu nicht erfasste, die Behauptung erhärten zu können: "Maria war durchaus nicht ganz vollkommen; vielmehr hatte auch sie ihre schwachen Seiten (Cent. 1. lib. 1. cap. 10. pag. 279 F.)."

Darauf ist zu erwidern, dass zweifellos auch Maria gewisse natürliche Mängel und Schwächen hatte, die jedoch ihrer Tugend und sittlichen Vollkommenheit keinen Eintrag zu tun vermochten, vielmehr zur Übung und Erstarkung derselben reichlich Anlass boten. "Die Tugend kommt ja in der Schwachheit zur Vollendung" (2 Kor 12, 9). So war auch die jungfräuliche Gottesmutter menschlichen Gemütsbewegungen unterworfen, wie wir oben gezeigt haben. Oft war sie von Schmerzen heimgesucht, musste körperliche Ermüdung und Mattigkeit erleiden und zuletzt der unvermeidlichen Notwendigkeit des Todes sich unterziehen. Dagegen war die gnadenvolle Jungfrau von allen moralischen Fehlern und Sündenmakeln vollständig frei, wie oben ausführlich nachgewiesen wurde.

"Aber sie erfasste nicht die Worte des Herrn, wenden die Zenturiatoren hier ein - da Lukas ausdrücklich sagt: ,Und sie - nämlich Joseph und Maria - verstanden nicht, was er zu ihnen sprach.' Daraus geht doch hervor, dass sie nicht ganz vollkommen gewesen sein können."

Es finden eben auch auf die heiligen und vollkommenen Erdenpilger die Worte des Apostels Anwendung, dass ihr Erkennen Stückwerk und ihre Einsicht gleichsam durch einen Spiegel gewonnen und rätselhaft ist. Das ist der Grund, warum auch die heiligsten Menschen vieles von dem was im Wort Gottes enthalten ist, nicht zu erfassen vermögen (Vgl. 1 Kor 13, 9, 12). Es ist demnach nicht jede Unkenntnis in Bezug auf göttliche Dinge sündhaft, namentlich wenn es sich um Geheimnisse handelt, die Gott noch nicht oder doch nicht deutlich genug zu unserer Kenntnis hat gelangen lassen.

3. Eine seltsame Schlussfolgerung findet sich in der Evangelienerklärung Leonhard Culmanns (In Postilla circa Evang. Dom. 1. post Epiphan.): Für ihn ist die hier besprochene Stelle des Evangeliums Beweis genug, dass Maria nicht nur in Unwissenheit, sondern auch in einer irrigen Ansicht befangen war. Daraus leitet er nun diese Behauptung ab: "Wenn Maria sich irren konnte, so kann auch die Kirche irren. Maria war voll der Gnade, und trotzdem fiel sie in Irrtum. Gott lässt es zu, dass auch die Heiligen bisweilen in Mutlosigkeit und Unwissenheit geraten, damit wir nicht verzweifeln, wenn uns ähnliches zustößt, und damit wir nicht eine zu hohe Meinung von der Weisheit eines Menschen haben sollen, weil wir sonst leicht getäuscht werden könnten." - Dieser Ausspruch verrät aber nur die Unwissenheit dessen, der ihn getan hat. Er weiß ja nicht zu unterscheiden zwischen Unkenntnis und Irrtum, und zwischen der schuldbaren, namentlich der selbstgewollten Unwissenheit und der gänzlich unverschuldeten.

Ferner ist kein Katholik so einfältig, dass er lehrte oder glaubte, Maria habe, wo sie noch auf Erden weilte, alles gewusst. Ohne Zweifel entzog sich vieles ihrer Kenntnis. Deshalb befragte sie sich ja bei dem Engel Gabriel, damit er sie über das, was sie zu wissen wünschte, belehren möchte. Nach der Geburt Jesu geriet sie in Staunen über die wunderbaren Dinge, die sie in Bezug auf ihr göttliches Kind zu sehen und zu hören bekam. Sicherlich nahm also ihre Kenntnis und ihr Verständnis der göttlichen Geheimnisse allmählich immer mehr zu.

Was aber den Glauben und die Glaubenslehre angeht, so ist es sicher, dass die weiseste Jungfrau alles das, was sie notwendig erkennen musste, ohne jedes Schwanken und ohne jeden Irrtum festhielt. Sie war gewiss in den göttlichen Dingen weit mehr bewandert, als wir uns vorstellen können. In dieser Beziehung war Maria in derselben Lage wie z. B. die Apostel Christi. Diese sind, selbst nach Empfang der Gnadenfülle des Heiligen Geistes, in Bezug auf manche göttliche Dinge in Unkenntnis geblieben. Es wäre aber falsch, wenn man daraus folgern wollte, sie wären auch in Betreff der Glaubenslehren, die sie mündlich oder schriftlich vortrugen, oder in ihren amtlichen Anordnungen dem Irrtum unterworfen gewesen, auch wenn es sich um Dinge handelte, die sie notwendig hätten wissen müssen.

Eines ähnlichen Trugschlusses macht sich der erwähnte Schrifterklärer schuldig, wenn er aus dem Satz, dass Maria manches nicht gewusst habe, die Folgerung zieht, der Glaube und die Lehre der ganzen Kirche ermangele der Sicherheit und unbezweifelbaren Festigkeit. Der Sinn seines ganzen Beweisganges ist ja dieser: Maria hat sich geirrt; folglich konnte auch die Kirche in Irrtum fallen. Und er sollte doch wissen, dass aus dem falschen Obersatz, den er aufstellt, nur eine falsche Schlussfolgerung sich ergeben kann.

Aber selbst wenn wir seine erste Behauptung zugäben, so würde doch daraus nicht das folgen, was er aus derselben ableiten möchte. Angenommen Maria hätte sich als Privatperson geirrt, so wäre man deswegen noch nicht zu der Annahme berechtigt, dass in gleicher Weise auch die Kirche, die zuverlässige Lehrmeisterin aller Gläubigen, dem Irrtum anheimfallen könne. Wer richtig denkt, muss vielmehr in folgender Weise schließen. Maria war in der Gnade des Heiligen Geistes befestigt. Darum blieb sie in allem dem, was man notwendig glauben muss, vor jedem Irrtum bewahrt. Ebenso ist auch die Kirche, die in Maria vorgebildet wurde, durch Gottes Beistand in Bezug auf alle notwendigen Stücke des Glaubens gegen jeden Irrtum sichergestellt. Derselbe Heilige Geist, der die Mutter Christi in besonderer Weise erleuchtete und leitete, lehrt die Kirche Christi alle Wahrheit gemäß der ausdrücklichen Verheißung, die Christus ihr gegeben und allezeit erfüllt hat (Joh 14, 16). Darum heißt und ist die Kirche wirklich die Säule und Grundfeste der Wahrheit (1 Tim 3, 15). Ihr hat Christus die höchste entscheidende Lehrautorität und Richtergewalt übertragen. Darum befiehlt er, man solle alle, die auf ihr Urteil nicht hören wollen, wie ungläubige Heiden ansehen und als öffentliche Sünder meiden (Mt 18, 17). Darum sagt Irenäus ( Adv. haer. Lib.4. cap. 24 MG 7, 966 C.): "Wo die Kirche, da ist auch der Geist, und wo der Geist Gottes ist, da ist auch die Kirche und jegliche Gnade."

4. Auch Melanchthon behauptet, Maria und Joseph seien in einem Irrtum befangen gewesen. An die Worte des Evangeliums: "Sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das, was über ihn gesagt wurde" (Lk 2,33), knüpft er folgende Bemerkung: "Damit du nicht sagen sollest, die Heiligen begingen keinen Irrtum. Nicht bei den Menschen darf man Jesus suchen, sondern in dem, was seines Vaters ist, nämlich in dessen Wort (Cf. annot. in Evang. Dom. 1. post Epiph. - CR 14, 202)."

Melanchthon beachtet nicht, dass man unterscheiden muss zwischen einem Staunen, das mit einer Art ungläubigen Zweifels verbunden ist und einer Verwunderung, die der Ausdruck ehrfurchtsvoller, freudiger Überraschung ist. Ersterer Art war das Staunen des Zacharias, als er vernahm, dass ihm ein Sohn geboren werden solle. Weil er, so wie seine Gattin, bereits hochbetagt waren, bezweifelte er, dass dies geschehen könne. Sein Staunen war gewiss fehlerhaft. Maria aber verfiel nicht in einen solchen Fehler, als sie sich wunderte über den Gruß und die Botschaft des Engels und als sie später staunte über das, was über Jesus gesagt wurde. Es gereicht also den Eltern Jesu durchaus nicht zum Vorwurf, dass jenes ungewohnte Schauspiel, das sich beim Wiederfinden des zwölfjährigen Jesus ihren Augen darbot, sie mit Staunen und Verwunderung erfüllte.

Ebenso lag keine Unvollkommenheit darin, dass sie die Antwort Jesu nicht begriffen. Sie waren sich nicht im klaren darüber, ob er nicht etwa durch diesen Bescheid andeuten wolle, dass er von jetzt an in Jerusalem zu verbleiben und gleich anderen, der heiligen Wissenschaft beflissenen Jünglingen, täglich den Unterricht in der Gesetzeslehre mitzumachen gedenke. Sie hatten ja keine bestimmte Kenntnis über die Art und Weise, wie Jesus seine Messiasaufgabe zu erfüllen vorhabe. In diesem Sinne erklärt auch Franz Lambert, der sonst zu unsern Gegnern zählt, diese Stelle des Evangeliums. Er schreibt: "Ohne Zweifel wusste die selige Jungfrau, dass Christus der Sohn des Allerhöchsten sei, wie sie es vom Engel gehört hatte, und auch Joseph befand sich darüber nicht in Unkenntnis. Sie wussten auch, dass der Tempel das Haus Gottes sei, und dass Jesus diese drei Tage hindurch in besonderer Weise im Haus seines Vaters tätig war. Aber das wussten sie nicht, was er damals meinte mit den Worten, dass er in dem sein müsse, was seines Vaters sei. Warum er nun gerade damals so gesprochen und warum er in jenen drei Tagen von seiner Mutter sich wollte suchen lassen, wer könnte darüber genügend Auskunft geben?"

5. An letzter Stelle müssen wir noch die Worte ins Auge fassen, die der Evangelist seinem Bericht hinzufügt und die für das Lob und die Ehre Marias überaus bedeutungsvoll sind. Sie bieten uns weit ergiebigere Frucht als alles das, was die Gegner ausgedacht haben, um die Ehre Marias zu schmälern. Lukas sagt nämlich von den Eltern Jesu nicht nur, dass sie den Bescheid, den er ihnen gab, nicht verstanden, sondern er schließt seinen Bericht mit den vielsagenden Worten ab: "Und er stieg mit ihnen hinab und kam nach Nazareth, und war ihnen untertan. Seine Mutter aber bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen" (Lk 2, 51). Welch eine Ehre war es doch für Maria, dass der ewige Gott, dem alle Engel dienen, sich ihr unterwarf. Aber auch ihre große Bescheidenheit offenbart sich hier. Obwohl sie den Sinn der Äußerung ihres Sohnes nicht erfasste, drang sie doch nicht mit neuen Fragen in ihn. Sie machte nicht ihre mütterliche Autorität geltend; sie wollte nicht nach anderer Frauen Art das letzte Wort haben, sondern ohne weitere Entgegnung und Widerrede schwieg sie still. Welche Hochschätzung diese Mutter für ihren teuersten Sohn im Herzen hegte, das zeigt uns die ehrfürchtige Sorgfalt, womit sie alle Worte und Taten desseIben der Beachtung wert hielt und ihrem Gedächtnis einprägte. Selbst die kleinsten Einzelheiten, die von anderen über ihn berichtet wurden, erschienen ihr so wichtig und bedeutend, dass sie keine davon vergaß, sondern alles überdachte und beherzigte. So ward das Herz Mariä gleichsam zur Schatzkammer der Geheimnisse des Heiles, nicht nur zur eigenen Bereicherung sondern auch zum bleibenden Gewinn für alle Gläubigen, die einst an diesen kostbaren Schätzen teilhaben sollten.

Achtes Kapitel: Maria bei der Hochzeit zu Kana

Das Verhalten Mariä bei der Hochzeit zu Kana bietet durchaus keinen Anlass, sie der Ehrsucht zu beschuldigen. Sie hat sich dadurch nicht den Tadel ihres göttlichen Sohnes zugezogen, wohl aber ihre preiswürdige Tugend an den Tag gelegt. (S. IV. Buch, 18. Kapitel)

1. Überaus bedeutungsvoll ist das Ereignis, das sich bei der Hochzeit zu Kana, einem Städtchen in Galiläa, ereignete und von Johannes, der selbst ein Galiläer war, berichtet wird. - Zwei Aussprüche Marias führt der Evangelist in seiner Erzählung an. "Sie haben keinen Wein mehr", so lautet der eine und der andere: "Was immer er euch sagen wird, das tut." Diese beiden Äußerungen offenbaren die ausgezeichnete Tugend der heiligen Jungfrau.

Die Gegner der Marienverehrung aber verdrehen den ersteren Ausspruch gewaltsam in diesem Sinne, als habe sich Maria aus einer Art weiblicher Eitelkeit dazu verleiten lassen, ohne jede Rücksicht auf Schicklichkeit und Bescheidenheit ihren Sohn um ein Wunder anzugehen und so die Augen der Anwesenden auf sich zu lenken und die Hochschätzung der Menschen zu gewinnen. Sie stellen also die seligste Jungfrau auf eine und dieselbe Stufe mit jenen "Brüdern" Jesu, die der Evangelist als eitle und ruhmsüchtige Menschen schildert. Diese forderten Christus auf, sich der Welt zu offenbaren, weil sie selbst die Gunst der Menge suchten und in dem Glanz Christi sich sonnen wollten. Ja, man möchte der demütigsten Jungfrau sogar die Absicht unterschieben, sie habe bei dieser Gelegenheit sich als Gehilfin Christi aufspielen und in sein ureigenes Amt sich eindrängen wollen. - Heißt das nun nicht, die Mutter des Herrn eines unerträglichen Hochmutes beschuldigen, wenn man von ihr annimmt, sie habe sich die ihrem göttlichen Sohn allein gebührende Ehre angemaßt?

2. Demgemäß wollen die Neuerer in dem Bescheid, den Christus seiner Mutter erteilte, eine wohlverdiente, strenge Zurechtweisung erkennen. So schreibt Melanchthon (In annotation. circa Evangel. Joannis C.2. CR 14, 1077): "Christus weist seine Mutter ab und stellt sie den übrigen Menschen gleich, indem er zu ihr spricht: ,Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?' Er wollte damit sagen: ,Weil du meine Mutter bist, glaubst du wohl den Anspruch erheben zu dürfen, mehr von mir verlangen und erhalten zu können, als die andern. So wisse denn, dass du bei mir nicht mehr giltst als irgendeine sündhaftes Frau oder als jene Syrophönizierin. Du wirst darum nur soviel bei mir erreichen, als deinem gläubigen Vertrauen auf meine Barmherzigkeit entspricht.'"

So wagt man mit Berufung auf das Evangelium die heiligste Gottesmutter vor dem christlichen Volke herabzuwürdigen und verächtlich zu machen!

Mehr Mäßigung und Billigkeit als viele andere zeigt hier Calvin, der die Annahme zurückweist, als habe Maria aus weiblicher Eitelkeit und Ehrsucht so geredet und gehandelt, wie sie es tat. Er hebt ausdrücklich hervor, dass keine Rede davon sein könne, als hätte Maria dadurch wissentlich und freiwillig einen Fehler begangen. Allerdings macht er schließlich die ganz unbegründete Bemerkung, dass Maria mit ihrer Bitte zu weit gegangen sei (In harmon. Evangel. [in Evang. Joa. c. 2.] CR 75 [47] 38).

3. Ein anderer macht es der Mutter Christi zum Vorwurf, dass sie sich bei diesem Anlass allzu geschäftig und besorgt gezeigt habe. Indes offenbarte sie gerade dadurch ihre tätige Nächstenliebe und ihren lebendigen Glauben an die Macht und Güte Jesu. Voll Mitleid mit der peinlichen Verlegenheit ihrer Gastgeber klagte sie deren Not ihrem göttlichen Sohn, dem starken Helfer aller Gläubigen, die ihn am Tag der Trübsal anrufen.

4. Aber wie ist es dann zu erklären, dass Christus seine Mutter und die von ihr gestellte Bitte mit so harten Worten abwies? Luther (In Postilla circa Evang. de nuptiis - W 17, II 65 [24] u. 66 [16]) spricht von einer "unfreundlichen Erwiderung, wodurch Christus seine Mutter vor allen Gästen beschämt habe". Nach seiner Übersetzung hätte nämlich Christus seine Mutter also angeredet: "Frau, was habe ich mit dir zu schaffen?" Er hat jedoch auf diese Weise den vom Evangelisten angewandten Ausdruck nicht unerheblich verschärft. Wörtlich übersetzt lautet die Frage Christi an Maria: "Was ist mir und dir?" nämlich in dieser Sache. Diese im Griechischen wie im Lateinischen übliche Redeweise ist in folgendem Sinne zu verstehen: "Was habe ich mit dieser Sache, von der du sprichst, zu tun?" Dass Christus seiner Mutter damit keinen Vorwurf machen wollte, zeigen die sofort beigefügten Worte: "Meine Stunde ist noch nicht gekommen." Damit wollte er sagen, dass es für ihn noch nicht an der Zeit sei, Wunder zu wirken oder dass der geeignete Zeitpunkt für die von Maria erbetene wunderbare Hilfe noch nicht gekommen sei.

Dass Christus seine Mutter mit dem Worte "Frau" angeredet, kann durchaus nicht als Zeichen der Geringschätzung oder des Unwillens gedeutet werden. Nach dem Sprachgebrauch der Heiligen Schrift kommt diese Bezeichnung für alle Personen weiblichen Geschlechts in Anwendung, und hat durchaus keine verächtliche Nebenbedeutung. Ja, Maria wird als erste unter allen Frauen vorzugsweise so bezeichnet. Sie ist ja jenes außerordentliche Frau, nach dem Salomon im Geist ausschaute, als er sagte: "Wer wird eine starke Frau finden? (Spr 31, 10). Auch Paulus nennt die Gottesmutter die Frau, aus der der Sohn Gottes Mensch wurde und dem Gesetz untergeben, damit er die erlöse, die unter dem Gesetze standen (Gal 4, 4.5). Wenn Luther behauptet (In cap. 4 ep. ad. Gal - W 40 I, 561, 11), Paulus bezeichne die jungfräuliche Gottesmutter, wie es scheine mit einer Art von Geringschätzung, nur als Frau, so macht er sich damit einer Beschimpfung des Apostels wie der seligsten Jungfrau schuldig.

5. Wir brauchen nur den Bericht des Evangeliums mit Aufmerksamkeit durchzulesen, um die Haltlosigkeit aller Anklagen zu erkennen, welche die Gegner der Marienverehrung daraus entnehmen. Vielmehr treten uns gerade hier der Glaube, die Liebe und Bescheidenheit der seligsten Jungfrau besonders deutlich vor Augen. Kaum hat sie die drohende Verlegenheit bemerkt, so nimmt sie voll Vertrauen zur Güte und Macht Christi ihre Zuflucht. Sie begnügt sich jedoch damit, in aller Bescheidenheit ihren Sohn darauf hinzuweisen, dass der Wein ausgegangen sei. Alles übrige überlässt sie dem Ermessen ihres Sohnes, voller Zuversicht, dass er Abhilfe schaffen könne und wolle. Auch der anscheinend harte Bescheid, den Christus ihr erteilt und die vorläufige Ablehnung ihrer Bitte vermag sie in ihrer zuversichtlichen Erwartung seiner wunderbaren Hilfe nicht wankend zu machen. Ohne jede Spur von Empfindlichkeit nimmt sie die abweisende Antwort Christi entgegen. Die Probe, auf die ihr Glaube so gestellt wurde, diente nur dazu, denselben noch mehr zu festigen. Darum gab sie sogleich den Tischdienern Anweisung, den Befehlen Christi in allem nachzukommen.

Diese Mahnung richtet die Mutter Jesu gewissermaßen an alle, die in Christus geistiger Weise wieder geboren sind. "Ihr alle, so ruft sie uns gleichsam zu, die ihr der Einladung zur geistlichen Hochzeit nachgekommen und durch den Glauben Freunde des himmlischen Bräutigams geworden seid, höret auf meine Worte. Ihr nehmt das Zeugnis und das Gebot des ewigen Vaters an, dass ihr auf seinen vielgeliebten Sohn, an dem er sein Wohlgefallen hat, hören sollt. So vernehmt nun auch das Zeugnis und Gebot der Mutter, auf dass ihr erkennt, wie ihr auf diesen Sohn hören sollt. Alles, was er euch sagen wird, sollt ihr nicht nur anhören, glauben und mit dem Mund anerkennen, sondern auch im Werk befolgen, mag er es nun selbst euch sagen oder durch seinen Geist, das ist durch seine vom Heiligen Geist geleitete Kirche euch verkünden lassen. Niemand gebe sich also mit einer falschen Gerechtigkeit aus dem Glauben allein zufrieden. Niemand rühme sich in leerem und unberechtigtem Vertrauen der Verdienste meines Sohnes. Wie dieser selbst zuerst anfing zu tun, was er später lehrte, so verlangt er auch von seinen Jüngern, dass sie nicht nur Hörer des Gesetzes seien, sondern auch Vollbringer desselben. Er wird einst einem jeden vergelten nach seinen Werken. Wenn ihr den Willen des Vaters wie des Sohnes tun werdet, will er euch dann anerkennen als seine Brüder und Schwestern, ja in ähnlicher Weise wie mich durch den Namen ,Mutter' auszeichnen. "

Ebenso hat Maria bei diesem Ereignis ihre große Nächstenliebe kundgetan. Ohne darum gebeten zu sein, aus eigenem Antrieb und aus Mitgefühl mit der Not der Hochzeitsleute sucht sie denselben zu helfen. Da sie aus eigener Kraft dies nicht vermag, macht sie ihren mütterlichen Einfluss bei Christus geltend und bittet ihn, den armen Leuten seine Hilfe angedeihen zu lassen. Wir können uns leicht vorstellen, mit welchen Gefühlen dankbarer Freude die getreue Mutter das Wunder geschehen sah und wie herzlich sie Christus beglückwünschte zu der herrlichen Offenbarung seiner göttlichen Macht. Aufrichtig teilte sie die Freude der Hochzeitsgäste, namentlich der Brautleute, denen nun die peinliche Beschämung erspart blieb.

Sicherlich erfüllte der Heilige Geist das Herz Mariä auch mit heiligem Jubel über den glücklichen Erfolg der Bitte, die sie an Jesus gestellt hatte. Sie war ja der Anlass geworden zu dem ersten Wunder ihres göttlichen Sohnes, wodurch viele im Glauben an ihn als den wahren Messias bestärkt wurden.

Bei dieser Gelegenheit offenbarte sich endlich auch die überaus große Bescheidenheit der seligsten Jungfrau. Sie spricht nur soviel, als unbedingt notwendig ist. Kürzer hätte sie wirklich sich nicht fassen können, als sie es getan. Ganz leise flüsterte sie ihrem Sohn diese wenigen Worte zu: "Sie haben keinen Wein mehr."

Die Gegner werfen Maria vor, sie habe in unbescheidener Weise sich vorgedrängt und sich in Angelegenheiten eingemischt, die Christus allein angingen. Wir könnten ihnen Recht geben, wenn Maria laut vor allen Gästen ihre Stimme erhoben und etwa so zu Christus gesprochen hätte: "Gib ihnen Wein, zeige was du vermagst; offenbare vor allen Anwesenden deine Messiaswürde und Macht. Zeige dich der Welt, denn lange genug bist du zu Haus in der Verborgenheit geblieben."

Aber eine derartige Rede- und Handlungsweise lag der bescheidenen Jungfrau gänzlich fern. Nie wäre es Maria in den Sinn gekommen, durch menschliche Ratschläge den Messias leiten und in sein Amt sich einmischen zu wollen, um sich sozusagen als Gehilfin ihres Sohnes wichtig zu machen.

Wenn also Christus anscheinend die Bitte seiner Mutter in einer etwas harten Weise abwies, so wollte er ihr damit nicht Unbescheidenheit vorwerfen. Er wollte vielmehr zeigen, dass er noch eine andere, höhere Natur habe als die menschliche, die er aus Maria angenommen, und dass er nicht nur ihr Sohn sei, sondern auch der Sohn Gottes. Das Wunderwirken aber stehe nur der göttlichen Macht zu.

Ferner wollte er allen, die das Evangelium zu verkünden haben, die Lehre geben, dass sie mit Hintansetzung aller natürlichen Anhänglichkeiten, und ohne Rücksicht auf die Wünsche und Ratschläge ihrer Eltern und Verwandten, vor allem die Interessen Gottes wahrnehmen müssen.

Die Mutter des Herrn hat sich also nicht getäuscht, wenn sie trotz der scheinbar abweisenden Antwort, die Christus ihr gab, die Diener aufforderte, allen seinen Weisungen nachzukommen. "Die heilige Mutter wusste eben - wie der hl. Maximus (Homil. 23. in Fest. Epiphan. 7. - ML 57,275 A.) sagt - dass diese Zurückweisung, die sie seitens ihres Herrn und Sohnes erfuhr, nicht ein Zeichen seines Unwillens sein solle, sondern ein Geheimnis seiner Erbarmung erwarten lasse."

6. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass es auch unter den Neuerern nicht an solchen fehlt, die in dieser Sache die Ehre der seligsten Jungfrau verteidigen.

So schreibt z. B. Lucas Lossius in seiner Erklärung dieses Evangeliums: "Hier wird uns ein Zug hervorragender Nächstenliebe in Maria vorgeführt, indem sie sich der Not Bedürftiger annimmt. Ebenso bewährt sie ihren Glauben, da sie nicht an ihrer Erhörung zweifelte, obwohl sie eine harte Antwort von ihrem Sohn erhielt." Ein anderer - Georgius Major genannt - preist den Glauben Mariä, der durch den hart lautenden Bescheid Christi in ein um so helleres Licht gestellt worden sei. Die Mutter Jesu, sagt er, verlor trotz der scheinbaren Abweisung ihre glaubensvolle Zuversicht nicht, da sie die Güte seines Wesens und seine Bereitwilligkeit, allen zu helfen, wohl kannte. Derselbe bespricht auch die Frage, warum Christus Maria hier nicht mit dem Namen Mutter sondern mit dem Wort "Frau" angeredet habe. Dabei widmet er ihr dieses schöne Lob. "Christus nimmt hier Bezug auf jene erste Verheißung, dass der Same der Frau der Schlange den Kopf zertreten werde. Er bedient sich also dieser Form der Anrede, weil sie die ehrenvollste von allen ist. Unter sämtlichen Frauen ist Maria allein das große Frau, das jenen Samen hervorgebracht hat, in dem alle Völker der Erde gesegnet werden. Ihr allein kommen die herrlichen Ehrentitel zu, womit der Engel Gabriel und Elisabeth sie begrüßten als die Gnadenvolle und die Gebenedeite unter den Frauen. Mit diesem Wort hat sie der Herr noch angeredet, da er am Kreuze hangend voll Liebe seine Mutter der Obsorge des Johannes anvertrauen wollte, mit den Worten: "Frau, siehe da deinen Sohn." So krönte und ehrte er seine Mutter noch im Sterben mit diesem Ehrentitel, der sie zur Gebenedeiten unter allen Frauen machte. Fern sei es von uns, zu denken, der Sohn Gottes habe, wo er schon mit dem Tod rang, seine Mutter aus Geringschätzung Frau genannt" (In Evangel. Dom. 2. post Epiphan.).

Neuntes Kapitel: Maria und die öffentlichen Lehrtätigkeit Jesu

Zu Unrecht wird gegen Maria der Vorwurf erhoben, sie habe aus ehrsüchtigen Absichten gemeinsam mit andern Verwandten Christus während seiner öffentlichen Lehrtätigkeit aufgesucht und mit unbescheidener Zudringlichkeit seine Predigt zu unterbrechen gesucht (Siehe IV. Buch, 19. [21.] Kapitel).

1. Als der Herr schon begonnen hatte, den Samen des göttlichen Wortes auszustreuen, begab es sich eines Tages, dass seine Mutter, begleitet von einigen Verwandten, ihn aufsuchte und draußen auf ihn wartete. Man meldete also dem Herrn: "Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich" (Mt 12,47), oder wie Lukas erzählt: "Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wünschen dich zu sehen" (Lk 8, 20). Diesem Boten gab Christus zur Antwort: "Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Dann richtete er seine Augen auf die im Kreis um ihn herumsitzenden Jünger und die Hand nach ihnen ausstreckend, sprach er: "Siehe, das sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer immer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter" (Mt 12,48 ff.). Mit einer geringfügigen Änderung berichtet Lukas die Worte des Herrn in dieser Fassung: "Meine Mutter und meine Brüder sind die, welche das Wort Gottes hören und tun" (Lk 8, 21).

So lautet der Bericht des Evangeliums, der den Gegnern der Marienverehrung zu neuen Angriffen Anlass gegeben hat.

2. Calvin eröffnet den Kampf mit dieser Behauptung (In harmonia Evangelica CR 73 [45] 350): "Ohne Zweifel liegt in diesen Worten - ,Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?' - ein Tadel der Zudringlichkeit Marias, die offenbar den Lehrvortrag Christi zu unterbrechen suchte."

Ein anderer (Lossius) wagt es sogar, Maria sündhaften Ehrgeizes zu beschuldigen. Nur deswegen habe sie Christus um eine Unterredung ersucht, weil sie die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer habe auf sich lenken wollen.

Der heftige Bekämpfer der Marienverehrung Brenz trägt kein Bedenken, der Mutter des Herrn den Vorwurf zu machen, sie habe hier die Gesetze des öffentlichen Anstandes in gröblicher Weise verletzt. Durch ihre Ehrsucht habe sie sich so schwer verfehlt, dass Christus sie öffentlich beschämt habe.

3. Ich muss gestehen, im ersten Augenblick vermag ich auf derartige Lästerungen kaum eine Antwort zu finden. Ich sehe, wie jene vor meinen Augen mit solcher Wut angegriffen und bekämpft wird, die als die unschuldigste Jungfrau und heiligste Mutter des allerhöchsten Gottes wahrlich etwas Besseres verdient hätte, als dass ihr ehrwürdiger Name durch solche Lästerungen mit Füßen getreten wird. Einem Juden, einem Mohammedaner, einem Ungläubigen, dem das Licht des Evangeliums noch nicht aufgegangen, könnte man es verzeihen, dass er die Mutter des Herrn nicht kennt, nicht liebt, nicht verehrt und preist. Aber welche Entschuldigung ließe sich vorbringen zugunsten dieser vorgeblichen Verteidiger der reinen evangelischen Lehre, wenn sie in ihren Schriften und Predigten solche Schmähungen gegen die hochheilige Gottesmutter ausstoßen?

Wehe uns dreimal Unglücklichen, dass wir in diesen letzten und schlimmsten Zeiten einer wahnwitzigen Welt leben müssen, in denen eine wahre Hochflut der Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit sich über die Erde ergießt. Schon ist es so weit gekommen, dass die erhabene Gottesmutter Maria verachtet und öffentlich gelästert wird. Was anderes lässt sich da für die Zukunft erwarten, als dass man zuletzt auch den Sohn Marias verwerfen und verleugnen werde? In vielen Gegenden Europas ist das ja bereits wirklich geschehen, wie der Augenschein uns zeigt. Wird doch Christus selbst in der heiligsten Eucharistie und in seiner göttlichen wie in seiner menschlichen Natur auf das heftigste angegriffen. Wie viele Glieder seines mystischen Leibes sind zu seinen Verfolgern und Lästerern geworden! Man lässt ja sozusagen nichts mehr von allen Satzungen, Einrichtungen und Gebräuchen der Kirche unversehrt und unverletzt bestehen. Mit unermüdlichem Eifer ist Satan an der Arbeit, dem vollständigen Unglauben den Weg zu bereiten und das Geheimnis der Gottlosigkeit zu vollenden, das er mit Hilfe seiner Diener von Tag zu Tag mehr ins Werk zu setzen bestrebt ist.

Doch genug der Klagen! Kommen wir zur Sache.

4. Die Schriftausleger, die aus Anlass dieser Stelle des Evangeliums so unwürdig über Maria urteilen, begehen vor allem darin einen schmählichen Irrtum, dass sie die heiligste Jungfrau den sogenannten Brüdern Jesu gleichstellen, in deren Gesellschaft sie den Herrn aufsuchte. Diese waren nicht leibliche Brüder Christi; denn, wie oben schon nachgewiesen wurde, war er nicht nur der erstgeborene sondern auch der einzige Sohn seiner heiligsten Mutter. Die Heilige Schrift pflegt eben auch Geschwisterkinder als Brüder zu bezeichnen, wie wir an den Beispielen von Abraham und Lot, Jakob und Laban sehen.

Diese "Brüder" Jesu nun werden vom Evangelisten Johannes als eitle, ehrsüchtige Menschen geschildert. Sie wollten Christus veranlassen, sich der Welt zu zeigen und durch Wunder die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie selbst aber glaubten nicht an ihn, weil sie nach den Worten des hl. Augustinus (In Evang. Joa. tract. 28. n. 5. ML 35, 1623) die Ehre bei den Menschen suchten.

Die Neuerer machen sich also nicht nur eines Irrtums sondern auch einer Lästerung schuldig, wenn sie der heiligsten Jungfrau die nämliche Gesinnung zuschreiben, welche diese Verwandten beseelte. Wenn Maria deren Begleitung annahm, so tat sie das wohl in der Absicht und Hoffnung, diese Menschen würden aus der Anhörung der Lehre Christi Nutzen ziehen und zur völligen Sinnesänderung gelangen.

Auf Maria kann sicherlich nicht der leiseste Verdacht ehrsüchtiger Gesinnung fallen. Dafür bürgt ihre tiefe Demut, die nichts anderes anstrebte als die möglichste Förderung der Ehre Gottes allein. Brenz beruft sich auf das Zeugnis einiger angesehener Schrifterklärer, die ebenfalls bei Besprechung dieses Vorgangs Maria der Ehrsucht beschuldigt hätten. Namentlich hat er dabei Chrysostomus im Auge, der allerdings in seiner Erklärung des Matthäusevangeliums sich in diesem Sinne zu äußern scheint (Homil. 44. in Mt n. 1. MG 57,464). Seine Worte sind jedoch nach dem Urteil vieler als rhetorische Übertreibung aufzufassen. Nach der Ansicht des hl. Thomas von Aquin wollte der hl. Johannes Chrysostomus nur sagen, Christus habe durch seine Bemerkung das ehrsüchtige Streben in die Schranken weisen wollen, jedoch nicht, weil die Mutter sich dieses Fehlers schuldig gemacht hätte, sondern weil die Zuhörer Christi eine solche Gesinnung bei ihr mögen vermutet haben.

5. Übrigens weist auch Calvin diese von Brenz erhobene Anklage gegen die seligste Jungfrau zurück, wenn er schreibt (In harmon. Evang. - CR 73 [45] 350): "Was Ambrosius und Chrysostomus vorbringen, um Maria der Ehrsucht zu beschuldigen, ist von keinem Belang, da ihre große Frömmigkeit und Bescheidenheit durch das Zeugnis des Geistes gepriesen wird."

In ähnlicher Weise hat sich Zwingli geäußert. Ich kann nicht umhin, noch einen Ausspruch des Erasmus von Rotterdam anzuführen, der dieselbe Schwierigkeit folgendermaßen löst: "Chrysostomus will in dem Umstand, dass Maria in Gemeinschaft mit den Brüdern Jesu den Herrn herausrufen wollte, einen Zug von Ungestüm und Ehrsucht erblicken. In einer andern Ausgabe jedoch - denn die verschiedenen Abschriften des Chrysostomus weichen in manchen Dingen voneinander ab - legt er diese rücksichtslose Zudringlichkeit hauptsächlich den Brüdern Christi zur Last, während er die Mutter stillschweigend entschuldigt."

6. Wenn aber Calvin an der oben angeführten Stelle die Ansicht äußert, Maria habe Christus bereden wollen, seine Lehrtätigkeit aufzugeben oder doch zu unterbrechen, so ist er durchaus im Irrtum. Maria wusste ja, dass der himmlische Vater Christus das Lehramt aufgetragen hatte, und dass die Ausübung desselben von der größten Wichtigkeit, ja eine Notwendigkeit war. Um keinen Preis hätte sie darum ihren Sohn darin stören oder unterbrechen wollen. Wahrscheinlich hat sie darum weder unmittelbar noch vermittels eines Boten sich selbst an Christus gewandt, während er am Lehren war. Sie hat vielmehr, wie man annehmen kann, nur den Wunsch geäußert, man möge ihr und den Verwandten ermöglichen, näher zu Christus heranzukommen. So viel steht fest: Kein Evangelist sagt etwas davon, dass Maria selbst einen Boten zu Christus geschickt habe. Man kann also annehmen, dass der Bote, der Christus mitten in seinem Lehrvortrag die Ankunft seiner Verwandten meldete, dies ohne einen Auftrag, ja gegen den Willen Marias getan. Nach der Ansicht des hl. Hieronymus wollte er den Herrn durch diese absichtliche Störung versuchen. Andere meinen, er sei ohne Wissen der Mutter Christi von den ehrsüchtigen Verwandten beauftragt worden, die Meldung zu überbringen. Aber gesetzt auch den Fall, dass Maria selbst den Boten zu Christus geschickt hätte, so wollte sie sicherlich nicht ihren Sohn davon abhalten, seine Predigt fortzusetzen, sondern nur ihn benachrichtigen, dass sie draußen auf ihn warte und nach Beendigung seines Unterrichts ihn zu sprechen wünsche.

So glauben wir zur Genüge die Handlungsweise der seligsten Jungfrau gerechtfertigt und die von ihren Gegnern vorgebrachten Anschuldigungen zurückgewiesen zu haben. Diese haben sich offenbar in gröblicher Weise gegen die Pietät und Gerechtigkeit verfehlt, indem sie die makellose Mutter des Herrn, diesen Spiegel der Gerechtigkeit anzuschwärzen suchten. Muss doch selbst ein Brenz eingestehen, dass nicht nur bei Maria, sondern selbst bei den übrigen Verwandten Jesu von bösem Willen hier keine Rede sein könne.

Zehntes Kapitel: "Wer ist meine Mutter?"

Mit den Worten: "Wer ist meine Mutter?" hat Christus nicht, wie sie Neuerer sich einbilden, seine Mutter abweisen, beschämen oder verleugnen wollen (Siehe IV. Buch, 20. [22.] Kapitel).

1. Dem Boten, der Christus von der Ankunft seiner Mutter und seiner Verwandten in Kenntnis setzte, antwortete der Herr: "Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?" Und dann sprach er, auf seine Jünger hinweisend:" Siehe, diese hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer immer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der ist mir Mutter und Bruder und Schwester" (Vgl. Mt 12,47 ff.).

Die Neuerer wollen, wie im vorigen Kapitel bereits gesagt worden, in dieser Antwort Christi einen scharfen Tadel erblicken, wodurch er seine Mutter vor allem Volk zurechtgewiesen habe. Nun ist es aber gewiss, dass Maria durchaus keinen Anlass gegeben hatte, von Christus öffentlich beschämt oder auch nur hart angeredet zu werden. Das geht aus dem oben Gesagten klar hervor. Anderseits ist selbstverständlich jeder Verdacht ausgeschlossen, als ob Christus irgendeine Unehrerbietigkeit oder gar Ungerechtigkeit gegen seine heilige Mutter habe begehen können. "Nicht wird hier die Mutter verleugnet", ruft der hl. Ambrosius den Manichäern zu, "die sogar vom Kreuze herab anerkannt wird (In 8. Luc. lib. 6. n. 38. ML 15, 1678 C.)."

2. Auch die Worte die Christus hinzufügt: "Wer immer den Willen meines Vaters tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter" tun der Ehre Marias keinen Eintrag, sondern stellen sie vielmehr in ein um so helleres Licht.

Oder hätte etwa Christus damit sagen wollen, dass er seine Mutter nicht zu denen rechne, die den Willen des Vaters tun, oder dass er sie den Aposteln und den andern wahren Dienern Gottes nachsetze, die er als Brüder, Schwestern und Mutter anerkennt? Spricht er ihr etwa jenen vollkommenen Gehorsam gegen Gottes Willen ab, den er an seinen Auserwählten mit solch einer liebenswürdigen Zärtlichkeit preist und anerkennt? - Gewiss, die natürliche Verwandtschaft mit Christus, deren jene "Brüder" des Herrn in verkehrter Weise sich rühmten, reicht für sich allein nicht dazu aus, das Wohlgefallen Gottes, die Gunst Christi sowie seine Gnade und Seligkeit zu gewinnen. Darum machten sich jene eitlen Menschen, die den Geist Gottes nicht besaßen, einer törichten Vermessenheit schuldig, wenn sie meinten, wegen ihrer Verwandtschaft mit Christus dürften sie sich über die andern Menschen erheben und mit seinen Wunderwerken prahlen. Christus aber verlangt von den Seinen, dass sie in einem anderen, höheren Sinne mit ihm verwandt seien, indem sie, dem Willen seines Vaters entsprechend, der Wahrheit des Evangeliums gläubig sich unterwerfen und die Gebote Gottes treu erfüllen. In dieser Verbindung mit Christus also und seiner Nachfolge besteht jene geistige Verwandtschaft mit ihm, die er der nur leiblichen, natürlichen stets vorzieht.

3. Darum besteht auch die Größe und Hoheit Marias nicht so sehr darin, dass sie die Mutter Christi und deshalb durch die innigsten Bande des Blutes mit ihm verbunden ist. Vielmehr ist sie deswegen so groß und erhaben, weil sie dem Geist nach auf das vollkommenste mit Christus vereinigt ist. Die Mutter des Herrn steht ihm unter allen Geschöpfen am nächsten, weil sie die gehorsamste und treueste Magd des Herrn war. So schreibt der hl. Augustinus, auf diese Worte Christi Bezug nehmend (Lib. de sancta virginitate, cap.5. et. 6. - ML 40, 399): "Jede fromme Seele, die den Willen Gottes erfüllt, und andere durch die Liebe gebiert, auf dass Christus in ihnen gestaltet werde, wird ihm dadurch gleichsam zur Mutter und ist würdig, durch diesen Namen ausgezeichnet zu werden. Wie viel mehr verdient demnach Maria, als die Mutter aller Glieder Christi anerkannt zu werden, da sie mit solch glühender Liebe dazu mitgewirkt hat, ein Glied Christi zu werden." - Und bei der Erklärung dieser Stelle des Evangeliums sagt derselbe heilige Lehrer (Epist. 243. ad Laetum D.9. - ML 33, 1058): "Der Herr streckte seine Hand aus, indem er auf die Jünger hinwies und dabei sagte, nur die gehörten zu seiner Verwandtschaft, die den Willen seines Vaters erfüllten. Sicherlich hat der gütige Meister auch die heilige Maria in diese auserwählte Schar eingeschlossen. Man hatte sie aber nur angemeldet im Namen der ihr allein zukommenden natürlichen, irdischen Mutterschaft. Darum wollte der göttliche Lehrmeister zeigen, wie diese zurückstehen muss hinter der geistigen Verwandtschaft, durch die seine Jünger mit ihm verbunden sind. Diese Art himmlischer Verwandtschaft und Verbindung mit Christus ist den übrigen Heiligen und der heiligen Jungfrau gemeinsam."

Der hl. Augustinus findet also in diesen Worten Christi, die den Neuerern zum Anlass wurden, die Ehre Marias herabzusetzen, ein besonderes Lob der Gottesmutter. Er sieht darin einen Hinweis auf ihre besondere Vorzugsstellung unter allen anderen, die den Willen Gottes tun und darum geistiger Weise mit Christus verbunden sind. Maria ist im wahrsten Sinne Mutter Christi, weil sie allein durch die eigentliche Mutterschaft und zugleich die innigste geistige Verwandtschaft ihrem göttlichen Sohn am nächsten steht.

4. (Siehe IV. Buch, 21. [23.] Kapitel) Mit demselben hl. Augustinus haben wir Katholiken stets den Glauben gehegt und bekannt, dass Maria vielmehr aus dem Grunde selig zu preisen ist, weil sie den Glauben Christi in sich aufnahm, als deswegen, weil sie ihn selbst in ihrem Schoß empfing.

Den "Brüdern" Christi nützte ihre Verwandtschaft mit ihm nichts weil sie nicht an ihn glaubten. Ebenso hätte auch Maria die leibliche Mutterschaft Christi nichts nützen können, wenn sie nicht Christus zuerst durch den Glauben in ihr Herz aufgenommen hätte, bevor sie ihn in ihrem Schoß trug. Der Vorzug, Mutter Christi zu sein, ist zwar die vorzüglichste von allen äußeren Gnadengaben, die Gottes Güte ohne jedes persönliche Verdienst einem Menschenkind verleihen kann. Aber wie jedes andere äußere Gnadengeschenk lässt sich selbst die Würde der Gottesmutterschaft von der Gnade, wodurch die Seele innerlich geheiligt und Gott wohlgefällig gemacht wird, getrennt denken. Und so pflegen die Neuerer sich dieselbe vorzustellen.

Die Lehrer der Vorzeit dagegen, namentlich die der letzten Jahrhunderte, die nach dem Vorgang des hl. Bernhard diesen Gnadenvorzug der Gottesmutterschaft als den Grund aller übrigen der seligsten Jungfrau verliehenen Vorrechte so hoch erheben, denken dabei stets auch an die innere Gnadenfülle und Heiligkeit, die Maria Gott so überaus wohlgefällig machte. Und so ehren auch wir in Maria jene doppelte Mutterschaft Christi, wie die Heilige Schrift sie uns lehrt.

Die Neuerer aber begehen denselben Fehler, dessen die Juden sich schuldig machten. In ihrer fleischlichen Anschauungsweise fassten diese nur die äußere und natürliche Beziehung der Mutter Christi zu ihrem Sohn ins Auge. Darum suchte Christus durch das Heilmittel seines Wortes sie von dieser grobsinnlichen Denkweise abzubringen und ihre Aufmerksamkeit auf die übernatürliche, geistige Verwandtschaft hinzulenken, die alle Gott suchenden Seelen mit seinem menschgewordenen Sohn verbinden soll.

So hat also Christus zum Besten des geistlichen Fortschritts seiner Zuhörer, zumal jener ehrsüchtigen, weltlich gesinnten Verwandten in einer Weise sich ausdrücken und benehmen wollen, die seiner Mutter gegenüber als wenig rücksichtsvoll erscheinen konnte.

Elftes Kapitel: Christus verhalten zu Maria

Aus welchen Gründen Christus im Evangelium Maria nur spärliches Lob erteilt, ja bisweilen sie scheinbar hart angeredet und behandelt habe (Siehe IV. Buch, 22. [24.] Kapitel)

1. Christus, der Herr, war vor allem zum Volk der Juden gesandt. Diese für sich und seine Lehre zu gewinnen, war die erste Aufgabe seines öffentlichen Wirkens. Mit Bescheidenheit und Klugheit musste er sie erfüllen. Es wäre also nicht schicklich gewesen, wenn er das Lob seiner Mutter und ihrer außerordentlichen Vorzüge hätte verkünden wollen. Die Juden waren ohnehin schon zur Kritisier- und Verleumdungssucht geneigt. Sie würden ihm sicherlich jedes Lob, das er seiner Mutter gespendet hätte, als Übertreibung oder Prahlerei ausgelegt haben. Diese Menschen brachten ja dem Herrn nicht willige Empfänglichkeit sondern vielmehr Argwohn und Verachtung entgegen. Seine Predigt, dass er der wahre Messias und der wesensgleiche Sohn Gottes sei, kam ihnen ungeachtet aller Wunder, wodurch er sie bestätigte, als unerträgliche Anmaßung vor. Was hätte es also genützt, wenn der Lehrer aller Demut diesen unempfänglichen Menschen die Tugenden seiner heiligen Mutter hätte anpreisen wollen, oder wenn er sich selbst als Sohn der Jungfrau ausgegeben hätte? Ohne Zweifel hätte das nur die Wirkung hervorgebracht, ihren Widerwillen gegen die Predigt des Evangeliums noch zu steigern und ihren Widerstand gegen die Wahrheit noch mehr zu versteifen.

Es wäre offenbar verfrüht gewesen, schon vor der Verherrlichung Christi die Ehrenvorzüge Mariä zu verkünden. Die Menschen waren noch nicht darauf vorbereitet, aus dem Mund Christi die Botschaft entgegenzunehmen über die Gnadenfülle der seligsten Jungfrau, über ihre Überschattung durch die Kraft des Allerhöchsten, über ihre Empfängnis des ewigen Wortes, über ihre schmerzlose und jungfräuliche Geburt. Darum gefiel es der göttlichen Weisheit, die alles lieblich und kräftig anordnet, diese Geheimnisse nur allmählich ans Licht treten zu lassen. Zuvor mussten erst die grundlegenden Hauptwahrheiten des christlichen Glaubens in ihrer unerschütterlichen Festigkeit erprobt sein. Manche Glaubenslehren, die bereits in den Aussprüchen der Propheten enthalten sind und von Christus klarer und bestimmter ausgedrückt wurden, sind erst nach seiner Rückkehr zum Vater und nach der Sendung des Heiligen Geistes ganz deutlich klargestellt und allgemein als Bestandteil der christlichen Lehre anerkannt worden. Hierin erkennen wir auch einen Grund, warum Gott das Entstehen so vieler Irrlehren zugelassen hat. Diese wurden nämlich zum Anlass, dass gewisse Glaubenslehren, über die bisher noch keine vollständige Übereinstimmung geherrscht hatte, genauer erforscht und dann endgültig festgelegt wurden. So trat die Wahrheit, die bis dahin noch in ein gewisses Dunkel gehüllt war, dank dem Beistand und der Leitung des Heiligen Geistes deutlich ans Licht.

2. Aber Christus fand doch so manches Wort der Anerkennung für seinen Vorläufer Johannes, für Petrus, Nathanael, für den heidnischen Hauptmann und für die Büßerin Magdalena. Warum hatte er dagegen - wenigstens soweit aus dem Evangelium zu ersehen ist - kaum ein Wort des Lobes für seine Mutter übrig? Er wollte eben seinen Aposteln und deren Nachfolgern im Apostelamt durch sein Beispiel die Lehre geben, sich von jeder übertriebenen Anhänglichkeit an ihre Verwandten frei zu machen und auch den Schein des Bösen von sich fern zu halten. Christus wollte allen apostolischen Männern zeigen, wie sie ihre Tätigkeit ganz und gar den Interessen Gottes widmen sollen, ohne durch eine zu weitgehende Rücksichtnahme auf ihre Verwandten sich davon ablenken zu lassen.

3. Nun wollen wir die zweite und etwas schwierigere Frage behandeln, warum Christus manchmal in einer anscheinend rauen und harten Weise seine Mutter gegenüber sich äußerte und benahm.

Die Neuerer berufen sich hier besonders auf das Verhalten Christi bei der Hochzeit zu Kana, wo er die Bitte seiner Mutter ablehnte mit der Frage: "Was ist zwischen mir und dir, Frau?" Wir haben schon in einem früheren Kapitel erklärt, wie diese Worte aufzufassen sind. Indes nehmen wir einmal mit den Neuerem an, Christus habe damals seine Mutter mit einer gewissen Strenge und Härte angeredet; geben wir selbst zu, Christus habe hier mit der Frage: "Wer ist meine Mutter?" dieselbe sozusagen verleugnet, ja räumen wir ihnen sogar ein, Christus habe schon als zwölfjähriger Knabe seiner Mutter auf ihre bekümmerte Klage hin statt einer besänftigenden Erklärung eine vorwurfsvolle Erwiderung gegeben und sie absichtlich nicht als Mutter sondern nur mit der weniger zutraulichen und ehrfurchtsvollen Bezeichnung Frau anreden wollen. Auch unter dieser Annahme, die übrigens, wie oben nachgewiesen wurde, gänzlich unzulässig ist, würde das Verhalten Christi seiner Mutter gegenüber nicht als eine Herabsetzung der Ehre Mariä aufzufassen sein, sondern vielmehr als eine wichtige Belehrung und heilsame Mahnung, die Christus den Seinen erteilen wollte.

Vom Messias war vorausgesagt, dass er Priester sein werde nach der Ordnung Melchisedechs, der sozusagen ohne Vater und Mutter und ohne Geschlechtsregister in dieser Welt lebte, da die Heilige Schrift ihn uns vorführt, ohne von allem dem eine Angabe zu machen (Vgl. Hebr 7,3). Christus, der Eingeborene des Vaters, entbehrte in seiner göttlichen Natur jeder irdischen Verwandtschaft. Als Mensch aber, der aus der Jungfrau geboren, nichts von einem sterblichen Vater angenommen hatte, wandelte er zwar über diese Erde, schien aber in seinem irdischen Leben selbst seine Mutter Maria, seine Abstammung aus dem königlichen Geschlecht Davids und seine Verwandtschaft nicht anzuerkennen. Darum fragte er: "Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder und Verwandten?" Als Sohn Abrahams wollte Christus das israelitische Gesetz der Beschneidung vervollkommnen und erfüllen. Darum lehrte und übte er die geistliche Beschneidung, die alle Auswüchse der natürlichen Neigungen des Fleisches durch das Schwert des Geistes beseitigt, die auch die engsten Bande menschlicher Verwandtschaft und Freundschaft, falls sie dem Dienste Gottes hinderlich sind, zerschneidet. Dieses Schwert wollte er gleichsam zuerst gegen sein eigenes Herz zücken, da er seiner innigst geliebten Mutter nicht schonte und sich von ihr fast wie von einer Fremden abwandte. "Wer ist meine Mutter?" fragte er. Menschlich zu reden lag darin ohne Zweifel eine gewisse Härte, die der Mutter wehe tun musste. Sie war weit hergekommen, wartete draußen voll Verlangen, mit ihm zu sprechen, und nun will der Sohn sie nicht zulassen, weist sie gewissermaßen ab. -

An Christus sollte ferner die Prophezeiung in Erfüllung gehen, die einst der erste Adam in Hinsicht auf den zweiten Adam ausgesprochen: "Es wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen" (Gen 2, 24). Der Sohn Gottes hat gewissermaßen den Vater verlassen, da er Knechtsgestalt annahm und sich selbst vernichtete, ja bis zum Tod des Kreuzes sich verdemütigte. Christus hat auch seine Mutter verlassen. Einzig bedacht auf sein Amt, das Evangelium zu verkünden, gab er alle Sorge für sie daran, so dass er nicht einmal seine Predigt um ihretwillen unterbrechen wollte. So hat er Vater und Mutter verlassen, und zwar um seiner Braut anzuhangen, nämlich der Kirche. Wie ein Bräutigam trat er aus seinem Gemach hervor; diese Braut zu gewinnen, die ihm teurer war als seine Mutter, ja als sein eigenes Fleisch und Blut, wollte er sich zuletzt dem bittersten Tod überliefern.

4. Das Verhalten Christi seiner Mutter gegenüber sollte uns sodann einen soliden Trostgrund liefern für die Zeiten der Trübsal.

Christus wollte uns so klar machen, dass alle frommen Gläubigen ebenso wie die Mutter des Herrn, nur auf dem Weg vieler Prüfungen und Verdemütigungen zur ewigen Freude und Herrlichkeit gelangen. Das ist der königliche Weg, den unser König und Herr selbst gegangen und auf dem wir ihm nachfolgen müssen, wenn wir dem Sohn Gottes gleichförmig und mit ihm verherrlicht werden wollen (S. Röm 8, 29. 30).

5. Endlich wollte Christus durch die Art und Weise, wie er seine Mutter anredete und behandelte, uns zu jener gottgefälligen Rücksichtslosigkeit auffordern, die gegebenen Falles zur Pflicht werden kann. Manches zarte Kind hat demgemäß seinen Eltern oder Geschwistern beherzt zugerufen: "Ich kenne euch nicht." Es hatte von Christus gelernt, dass dem Willen Gottes und dem ewigen Seelenheil alles andere hintanzusetzen ist. Allen, die ein vollkommeneres Leben führen wollen, und die von den weltlichen Geschäften sich frei gemacht haben, um sich ganz dem göttlichen Dienste zu weihen, wollte Christus die Lehre geben, alle Sorge für Eltern und Verwandte abzulegen. Selbst einem liebgewordenen Freundschaftsbund sollte man großherzig entsagen, falls er, wie es oft geschieht, dem Streben nach Vollkommenheit im gottgeweihten Stande sich mehr hinderlich als förderlich erweisen würde.

6. Namentlich hatte Christus die Lehrer und Hirten der Kirche im Auge, als er so das Beispiel gab, wie man ohne Rücksicht auf die Gefühle verwandtschaftlicher Liebe der Pflicht des apostolischen Berufes treu bleiben müsse. Es lässt sich ja kaum beschreiben, bis zu welchem Maße selbst sonst tüchtige und gelehrte Männer sich von der uns allen angeborenen Zuneigung zu Fleisch und Blut beeinflussen und beherrschen lassen. Und doch wirkt eine solche Anhänglichkeit, die man vor sich selbst und anderen als anständige Freundes- und Verwandtschaftsliebe zu rechtfertigen sucht, auf die Dauer wie ein süßes, berauschendes Gift; sie entnervt und lähmt den Geist, bevor er sich dessen bewusst wird. Nicht selten erwächst daraus Unehre und Schmach für das heilige Amt, ja für den ganzen geistlichen Stand. Darum hat Moses sich hohen Lobes wert gezeigt, als er bei der Erwählung eines Nachfolgers im Führeramt für das Volk Israel seine eigenen Söhne nicht berücksichtigte. So zeigte er, dass er sich nicht leiten ließ von der natürlichen Anhänglichkeit an Fleisch und Blut. So nahm auch der Gesetzgeber des Neuen Bundes keine Rücksicht auf die eigene Mutter, zumal er an seine Jünger und ihre Nachfolger im apostolischen Amt die Anforderung stellte, mit aller Entschiedenheit, ja mit einer Art Hass sich von allen Geschäften und Personen, auch den liebsten, abzuwenden, so oft ihr Beruf und die Interessen Gottes es erheischen würden. Rief doch Christus jenem Mann, der sein Jünger werden, aber zuvor noch der Beerdigung seines eben verstorbenen Vaters beiwohnen wollte, das strenge Wort zu: "Lasse die Toten die Toten begraben."

Zwölftes Kapitel: Die Lobpreisung Mariä von Christus bestätigt

Die Lobpreisung Mariä durch jene Frau im Evangelium ist nicht von Christus eingeschränkt oder berichtigt, sondern vielmehr bestätigt und vervollständigt worden (Siehe IV. Buch, 23. [25.] Kapitel).

1. Wir lesen im Evangelium des hl. Lukas (11, 27 f.): "Als er (Jesus) dieses sagte, da geschah es, dass ein Frau aus der Volksmenge heraus seine Stimme erhob und ihm zurief: Selig, der Leib, der dich getragen, und die Brüste, die du gesogen hast. Er aber sprach: Selig sind vielmehr die Gottes Wort hören und es beobachten."

Bis jetzt hat noch kein Erklärer der Heiligen Schrift bezweifelt, dass diese Frau durch die Einwirkung des Heiligen Geistes die richtige Erkenntnis über Christus gewonnen und geäußert habe. Mit Glück und Mut trat sie den anwesenden Lästerern Christi entgegen, indem sie laut dieses Zeugnis für die Wahrheit des christlichen Glaubens ablegte. Sie bekannte vor allem Volk, dass man in Christus mehr sehen müsse, als einen gewöhnlichen Menschen, und deswegen müsse auch seine Mutter und Ernährerin von allen gepriesen werden. So wurde diese Frau zum Vorbild der Kirche, die ebenfalls die Gottheit Jesu Christi und die Größe seiner Mutter um so lauter verkündet und preist, je hartnäckiger die Juden und die Weisen der Welt durch ihre Schmähungen den Glanz dieser beiden erhabensten Personen zu verdunkeln bestrebt sind.

Wahrlich durch diese Frau hat der Heilige Geist selbst gesprochen, und ich wüsste nicht, wie man das besser ausdrücken könnte, was sie in so kurze, treffende Worte gefasst hat. An ihr hat sich wirklich das Wort des Apostels bewahrheitet, dass es Gott gefalle, das Schwache und Törichte vor der Welt zu erwählen, um die Weisen und Mächtigen zu beschämen (1 Kor 1,27).

2. Bei den Neuerern findet dieses "Fraulein", wie Calvin sich ausdrückt, wenig Gnade. Sie werfen der Frau vor, sie habe eine fleischliche Anschauung vom Reich Gottes gehabt und das Wesen der Gnadenwahl zur Gerechtigkeit sowie zur Seligkeit nicht richtig erfasst. Nach Frauenart setze sie das Glück der Mütter darin, dass sie berühmte Söhne haben. Deshalb sei sie auch vom Herrn zurechtgewiesen worden.

Indes kann jene gute Frau sich immerhin damit trösten, dass sie im Evangelium rühmlich erwähnt, von den Kirchenvätern gelobt und durch die Umstände ihres Auftretens selbst völlig gerechtfertigt wird. Oder wäre das nicht alles Lobes wert, dass diese einfache Frau aus dem Volke aus eigenem Antrieb, inmitten so vieler Feinde und Lästerer Christi, ohne jede Menschenfurcht und Schüchternheit für den verachteten und geschmähten Heiland eintritt? Und sie begnügt sich nicht mit einem leisen oder halblauten Bekenntnis, nein laut erhebt sie ihre Stimme und bezeugt offen und frei vor allen Anwesenden die Hoheit und Heiligkeit Christi.

Vielleicht sind die Neuerer deswegen nicht gut auf diese Frau zu sprechen, weil sie in deren Worten einen offenkundigen Lobpreis Marias erblicken. Es ist nämlich ganz auffallend, wie sehr jene Leute allem dem abgeneigt sind, was zur Verherrlichung der seligsten Jungfrau beitragen kann. Sie geben sich alle Mühe, jedes Anzeichen und jede Äußerung der Marienverehrung zu unterdrücken, abzuschwächen und zu verdrehen. Wenn es von ihnen abhinge, würden sie jede Spur davon in der Kirche Gottes vertilgen. Indes werden alle Bemühungen der Marienfeinde erfolglos bleiben. Sie können nur zum Anlass werden, dass immer zahlreichere und tüchtigere Verteidiger und Herolde der Würde und Heiligkeit Marias erstehen. Die göttliche Vorsehung wird schon dafür Sorge tragen, dass der Lobpreis der seligsten Jungfrau, den der Erzengel Gabriel angestimmt, und den Elisabeth und die Frau, von der hier die Rede ist, fortgesetzt haben, nie mehr auf Erden verstummen wird. Immerfort muss ja die Weissagung sich erfüllen, die der Heilige Geist Maria auf die Lippen gelegt: "Es werden mich selig preisen alle Geschlechter, denn Großes hat an mir getan, der mächtig und dessen Name heilig ist" (Lk 1,48). Zu allen Zeiten wird man der Aufforderung Folge leisten, die Beda der Ehrwürdige seiner Erklärung der hier besprochenen Stelle beifügt: "Lasst uns mit der katholischen Kirche, die durch diese Frau vorgebildet wurde, unsere Stimme erheben und im Geist über das Gewühl der Menge emporsteigend dem Heiland zurufen: ,Selig der Leib, der dich getragen, und selig die Brüste, die du gesogen hast. Ja, wahrhaft glückselig ist deine Mutter (In Evang. Lucae, 1. 4 c. 11 ML 92, 480 A.).' "

3. Nun wollen wir noch kurz die Beschuldigung zurückweisen, die Calvin gegen die Gesamtkirche zu erheben sich erdreist. Er schreibt nämlich (Harmon. Evang. - CR 73 (45) 349): "Wunderlich ist der Stumpfsinn, womit die Papisten zu Ehren Mariens jene Worte ableiern. Und doch weisen diese selbst ausdrücklich ihren Aberglauben zurück. Indes brechen sie ihr Dankgebet mit dem Ausruf jenes Frauleins ab, die darauf folgende Berichtigung (Christi) jedoch lassen sie aus. Aber so musste es kommen. Sie kennen keine Überlegung mehr in ihrem willkürlichen Bestreben, das heilige Wort Gottes zu entstellen."

Calvin bezeichnet demnach die katholische Sitte die Mutter des Herrn mit den Worten jenes "Frauleins" selig zu preisen, als Stumpfsinn und Aberglauben.

Und doch ist diese Sitte schon seit Jahrhunderten von so vielen heiligen und gelehrten Männern beibehalten worden. Und doch hat jenes "Fraulein", das zuerst die Calvin so missliebigen Worte ausgerufen, auf Antrieb des Heiligen Geistes gehandelt. Es war dies derselbe Geist, der vorher Elisabeth eingegeben hatte, die Gottesmutter und die Frucht ihres Leibes zu preisen. In diesem Geist, dessen Name heilig ist, haben bis auf den heutigen Tag alle Geschlechter des katholischen Erdkreises Maria selig gepriesen, und sie werden fortfahren es zu tun bis zum Ende der Zeiten.

4. Calvin wirft uns vor, wir wiederholten zwar beständig die Worte jener Frau zum Lob Marias, ließen aber die anderen Worte aus, wodurch Christus ihren Ausspruch berichtigt habe.

Was ist darauf zu erwidern?

Jedes Mal wenn in unsern Kirchen dieser Abschnitt aus dem Evangelium gelesen oder gesungen wird, ist es Brauch, die Antwort Christi ebenfalls beizufügen. Wenn aber z. B. nach Verrichtung des kirchlichen Stundengebetes, bei der Danksagung nach Tisch oder sonstigen Anlässen der Kürze halber nur die Worte jener Frau angewendet werden, so liegt doch wahrlich darin nichts Anstößiges. -

Calvin behauptet sodann, mit der Bemerkung, die Christus auf jenen Ausruf der lobpreisenden Frau hin machte, habe er eine Zurechtweisung oder Berichtigung beabsichtigt. Diese Behauptung ist jedoch unbegründet. Das Verbindungswort "vielmehr" bedeutet ja nicht eine Leugnung oder Zurückweisung der vorher gesprochenen Worte. Im Gegenteil, es liegt darin eine Bestätigung des Ausspruchs, den die Frau getan. Die Worte Christi ergeben also etwa folgenden Sinn: Aus meinen Reden, die du angehört hast, schließest du mit Recht, dass ich mehr sein müsse als ein gewöhnlicher Mensch. Du preisest darum meine Mutter selig. So ist es in der Tat; aber ich versichere dir, nicht nur meine Mutter verdient eine solche Seligpreisung, sondern auch anderen kann ihr Glück zuteil werden. Dazu gehören alle, die meine Worte so anhören, dass sie dieselben in ihrem Herzen geistiger Weise empfangen, zur Entwicklung kommen und Frucht bringen lassen, indem sie meine Worte beobachten und erfüllen. So können auch sie mit mir verwandt werden und eine unbeschreiblich erhabene Würde erlangen.

5. Ganz im katholischen Sinne hat Zwingli (In cap. II. Lucae) den Ausspruch jener Frau aufgefasst. Er legt ihr nämlich diese Worte in den Mund: "Ihr Pharisäer verleumdet die Werke Christi und schreibet seine Wunderkraft dem Teufel zu. Ich aber erkläre im Gegensatz zu euch, dass er der heiligste der Menschen ist. Darum ist auch seine Mutter selig zu preisen. Aus der Heiligkeit Christi kann man also auf die Heiligkeit Marias schließen." Nach der Ansicht desselben Zwingli ließe sich das Bindewort, wodurch Christus seine Äußerung an die Worte jener Frau anschloss, in deutscher Übersetzung etwa so wiedergeben: "Das ist ganz wahr, was du da sagst." Und doch baut Calvin die Begründung seiner Anklage gegen den Brauch der Kirche auf dieses eine Wörtlein auf. Nach ihm hätte Christus damit sagen wollen: Es ist nicht so wie du sagst, im Gegenteil sind nur die selig zu preisen, die das Wort Gottes aufnehmen und bewahren. Somit hätte also Christus die Frau tadeln und ihren Ausspruch zurückweisen wollen.

Aber da muss man doch die Frage stellen: Aus welchem Grunde hätte denn Christus das seiner Mutter gespendete Lob missfallen, warum hätte er es zurückweisen sollen? Es lässt sich doch nicht in Abrede stellen, dass Maria mit vollem Recht selig gepriesen wird, weil sie Christus den Herrn in ihrem jungfräulichen Schoße getragen und an ihrer Brust genährt hat.

6. Christus hat also diesen Lobpreis nicht zurückgewiesen oder eingeschränkt durch die Worte, die er ihr beifügte. Wohl aber hat er dieselbe ergänzt durch den Hinweis auf diejenigen, die er in einem höheren Sinne selig pries. Dabei hat er aber nicht seine Mutter aus dieser glückseligen Schar ausschließen wollen. Nein, er hat sie vielmehr mit eingeschlossen, wie der hl. Augustinus ausdrücklich hervorhebt. Sie hat ja nicht weniger als die Übrigen das Wort Gottes angehört und beobachtet. Darum hat sie auch keinen geringeren Anspruch als die andern, auch aus diesem Grunde selig gepriesen zu werden. "Auch meine Mutter", so will demnach Christus sagen, "ist vor allem deswegen glückselig, weil sie das Wort Gottes beobachtet hat (Tract. in Joa. 10. c. 2. n. 3 ML 35, 1468)."

In derselben Weise erklärt Beda der Ehrwürdige den Sinn der Worte Christi (In Evang. Luc., lib. 4 cap. II. ML 92, 480 B.). "Auch die Gottesgebärerin, die freilich schon aus dem Grunde glückselig ist, weil sie die Menschwerdung des Sohnes Gottes in der Zeit vermitteln durfte, ist doch noch weit mehr deshalb selig zu preisen, weil sie immerdar durch ihre Treue und Liebe mit ihm vereinigt blieb."

7. Es wäre aber ein Irrtum, im Sinne Luthers anzunehmen, Christus habe jener Frau einen Vorwurf daraus machen wollen, dass sie Maria wegen ihrer natürlichen Verwandtschaft mit ihm als Mutter selig gepriesen. Gerade diese ihre innige Beziehung zum menschgewordenen Sohn Gottes ist ja das einzigartige Vorrecht der seligsten Jungfrau, das sie über alle anderen Geschöpfe erhebt und ihr eine Würde verleiht, die nach den Worten des hl. Thomas von Aquin in gewissem Sinne unendlich ist. Nach Gott kann es nichts Größeres und Erhabeneres geben als die Mutter Gottes. Mit Recht heißt es deshalb in einem alten Gebet: "Dein Schoß, o Herrin, ward gleichsam zum Tempel und Heiligtum des lebendigen Gottes; in ihm hat das Heil der Welt seinen Anfang genommen; darum verehrt ihn die ganze Welt."

Nein, Christus hat nicht jene Frau tadeln wollen, die erleuchtet vom Heiligen Geist, als erste in solcher Weise die Mutter des Herrn öffentlich lobpries. Er hat darin nicht, wie Luther glauben machen will, eine unpassende Äußerung grobsinnlicher Frömmigkeit gesehen. Er hat endlich durch die beigefügte Seligpreisung der Hörer und Befolger der Worte Gottes nicht das Lob seiner Mutter eingeschränkt, sondern vielmehr es erweitert und vervollständigt.

Christus preist selig alle, die das Wort Gottes hören und beobachten. Er preist also vor allen andern seine Mutter selig, die nicht durch Vermittlung eines Menschen sondern durch einen Engel die Botschaft Gottes vernahm von ihrer Erwählung zur höchsten Würde, die sich denken lässt. Sie nahm dieses Wort auf mit festestem Glauben, mit tiefster Demut und bereitwilligster Ergebenheit. Sie erwies sich als treueste Hüterin des Wortes, sie harrte aus an der Seite ihres Sohnes, und ließ sich auch dann nicht von ihm losreißen, als er den Lehrstuhl des Kreuzes bestieg.

Christus hat den Seinen zugerufen: "Selig die Augen, die sehen, was ihr sehet" (Lk 10,23). Selig zu preisen sind also die Augen der Apostel und Jünger, die das menschgewordene ewige Wort des Vaters aus nächster Nähe schauen durften. Wie viel mehr sind aber selig zu preisen die Augen Marias, die das Licht der Welt, das schönste aller Menschenkinder vor allen anderen schauen und sich an ihm ergötzen durften all die Jahre hindurch, da dieses Kind unter ihren Augen zum Jüngling und Mann heranwuchs.

Die Königin von Saba pries sich glücklich, die Weisheit Salomons anhören zu dürfen. Wie viel mehr sind selig zu nennen die Ohren, die Gottes ewige Weisheit selbst vernehmen und im stillen Haus von Nazareth wie auch später noch in der Öffentlichkeit den Worten des einzigen Lehrmeisters aller Gerechtigkeit lauschen durften. Sicherlich hat es nie jemand gegeben, der mit größerer Aufmerksamkeit, Freude und Frucht Christus über die höchsten Geheimnisse befragt und angehört hätte. Dürfen wir nicht auch selig preisen die Hände der heiligen Jungfrau, die so viele Jahre hindurch zu ihrer größten Herzenswonne mit dem Worte des Lebens in Berührung kamen, jene Hände, die dem göttlichen Kind, Knaben und Jüngling Nahrung und Kleidung beschafften, die Tag und Nacht in Erweisung aller mütterlichen Sorge ihm dienstbar waren?

Sollten wir dann nicht auch die Füße Marias glücklich preisen, die beflügelt von der Liebe Gottes, von der Sorge um Jesus, vom Gehorsam gegen das Gesetz so manche weite und beschwerliche Wege gemacht, jene Füße, die sich in der Nachfolge wie im Aufsuchen der Fußstapfen Christi vor und nach seiner Rückkehr in den Himmel so willig geübt und abgemüht haben?

Wie selig waren ferner nicht jene mütterlichen Umarmungen und Küsse, wodurch sie ihrem Kind ihre ungeheuchelte Liebe und zarte Ehrfurcht ausdrückte, und die ihr Kind mit gleicher Liebe entgegennahm und erwiderte, so oft die Mutter es an ihr Herz zog und als süße Last auf ihre Arme oder auf ihren Schoß nahm, oder es sorglich an der Hand führte!

Allerdings mögen diese Erweise mütterlicher Zärtlichkeit wie auch die Dienste, die Maria ihrem Kind leistete, als etwas Gewöhnliches erscheinen, weil das alles der Mutter Christi mit den übrigen Müttern gemeinsam ist. Und doch besteht zwischen dem, was Maria für ihr Kind tat, und der Art, wie jede andere Mutterliebe und -sorge sich betätigen kann, ein unermesslicher Unterschied.

Sie war sich ja bewusst, dass sie ihre mütterlichen Dienste nicht einem gewöhnlichen Menschenkind erwies, sondern ihrem Gott, der aus ihr die menschliche Natur angenommen hatte. Darum pflegte sie ihres Kindes mit der allergrößten Sorgfalt, Andacht und Treue, wie es ihrer zarten Glaubensinnigkeit und glühenden Liebe sowie der reichen Gnadenfülle entsprach, die sie zur würdigen Ausübung ihres erhabenen Berufes befähigte. Dieses Kind war ja ihr Gott, und auch in seiner Menschheit überaus liebenswürdig. Diese heilige Menschheit, aus der das reine Licht der innewohnenden Gottheit gleichsam hervor strahlte, ergoss immer neue Gnade und Heiligkeit in die Seele der Mutter.

Fürwahr, selig zu preisen ist die Mutter und Nährerin Jesu, die am vollkommsten inne ward und verkostete, wie süß dieses Kind war.

Ihm entströmte ja der Wohlgeruch aller Heiligkeit, sein Anblick schon erfüllte die Mutter mit himmlischer Freude, jede Umarmung dieses Kindes brachte ihr Zuwachs an Reinheit, der vertraute Umgang mit ihm schloss alle Wonne in sich. Wir können die Fülle der Mutterfreuden Mariä nur ahnen, aber niemals werden wir imstande sein, sie nach Verdienst zu würdigen. Nie werden wir die Süßigkeit der Tränen ermessen können, die Maria vergossen haben mag, wenn sie ihrem göttlichen Sohn sich immer wieder als seine demütige Magd und liebende Mutter darbrachte und im Werke erwies.

Wir tun darum wohl daran, wenn wir die Lobpreisung jener Frau im Evangelium stets von neuem wiederholen und die jungfräuliche Mutter beglückwünschen wegen aller Dienste, die sie ihrem göttlichen Kind hat leisten dürfen.

Wenn die Neuerer trotzdem in ihrem Widerspruch verharren, weil die Heilige Schrift auf solche Einzelheiten nicht eingehe, so mögen sie bedenken, dass man nur mit demütigem, willigem Herzen die Worte des Evangeliums zu erwägen braucht, um eine Fülle inhaltsreicher Gedanken daraus zu schöpfen.

Dreizehntes Kapitel: Glaubensfestigkeit und Opferwilligkeit Mariä

Maria hat das Sehmerzensschwert, das Simeon ihr vorher verkündet, neben dem Kreuze ihres sterbenden Sohnes stehend, mit unerschütterlicher Glaubensfestigkeit und unbesiegbarer Opferwilligkeit erduldet (Siehe IV. Buch, 25. [27.] Kapitel).

1. Zuerst werden wir den Ausspruch Simeons erwägen. Er bietet sozusagen die Grundlage für unsere Besprechung.

Dann werden wir an der Hand des Evangeliums die Veranlassung und die Ursachen der Schmerzen Marias untersuchen.

Viele huldigen heutzutage der irrigen Ansicht, man habe keinen Grund, von vielen und schweren Seelenleiden der jungfräulichen Gottesmutter zu reden. Ja, man dürfe annehmen, dass sie solche gar nicht erduldet habe, da eine große und tiefe Traurigkeit mit ihrer Heiligkeit und Standhaftigkeit nicht vereinbar gewesen wäre. Manche bespötteln sogar die alte Sitte der Gläubigen, die Schmerzen Mariä mitleidig zu erwägen und zu verehren, und wollen von einem solchen Mitleid überhaupt nichts wissen.

2. Die prophetischen Worte, die der greise Simeon bei der Darstellung Jesu im Tempel an Maria richtete, lauten: "Und deine eigene Seele wird das Schwert durchdringen, auf dass die Gedanken vieler Herzen offenkundig werden" (Lk 2, 35).

Offenbar hat der Seher hier nicht von einem wirklichen materiellen Schwert gesprochen. Denn nirgendwo wird berichtet, Maria sei durch das Schwert oder auf eine andere gewaltsame Weise zu Tod gekommen. Diese Worte sind also im bildlichen Sinne zu verstehen und wollen besagen, dass die Seele Mariä von einem herben, tödlichem Leid sollte durchbohrt werden.

Origenes (Homil. 17. in Lucam. MG 13, 1845 A.) hat allerdings die Ansicht geäußert, durch dieses Schwert sei das Gefühl der Unsicherheit und Wankelmütigkeit versinnbildet worden, wovon Maria in ähnlicher Weise wie die Apostel beim Leiden und Sterben Christi befallen worden sei. Indes widerspricht diese Meinung der allgemeinen Lehre, die jedes Wanken in der Festigkeit des Glaubens für unvereinbar hält mit der Würde und Heiligkeit der Gottesmutter. Auch findet eine solche Erklärungsweise keinerlei Begründung in der Heiligen Schrift, die nirgendwo das Wort "Schwert" in der von Origenes hier angenommenen Bedeutung anwendet.

3. Der Irrtum des Origenes wurde in neuerer Zeit wieder vorgebracht von Brenz, der gegen Maria den Vorwurf zu erheben wagt, sie habe ebenso wie die Apostel Ärgernis genommen am Leiden Christi und im Glauben an ihn gewankt. "Auch die an Christus glaubten," schreibt er, "nämlich die Apostel, die Jünger und seine Mutter, nahmen Anstoß an ihm, als sie ihn von den Priestern verurteilt und an das schmähliche Kreuz geheftet sahen. Und so ward es damals offenkundig, dass auch ihre Gedanken eitel und ihre Herzen gottlos waren" (17. Homilie zum Lukasevangelium). - Wer das Herz Marias der Gottlosigkeit zu beschuldigen wagt, verrät damit nur seine eigene Gottlosigkeit. Und auch den Aposteln darf man nicht ohne weiteres und unterschiedslos einen solchen Vorwurf machen. Wohl ward ihr Glaube für eine Weile gleichsam verschüttet, er war aber nicht gänzlich erloschen. Sie nahmen mehr aus Schwachheit Anstoß am Kreuz des Herrn, nicht aus böswilliger Gottlosigkeit. Die Worte Simeons: "auf dass die Gedanken vieler Herzen offenkundig werden", die Brenz mit seiner Anklage gegen die Mutter und die Jünger Christi im Zusammenhang zu bringen sucht, beziehen sich auf die frühere Prophezeiung Simeons, Christus sei gesetzt wie zum Heil so auch zum Verderben für viele. Die Worte aber, womit Simeon Maria jenes Schwert ankündigt, sind als Nebenbemerkung eingeschaltet.

4. Brenz fügt indes noch eine weitere Schmähung der Gottesmutter hinzu. Den Ausspruch Simeons erweitert er in folgender Weise. Er legt dem Seher diese Anrede an Maria in den Mund: "Du erwartest den Himmel schon auf dieser Erde; es werden dich jedoch um deines Kindes willen vielmehr die Schmerzen der Hölle überfallen. Du versprichst dir große Freude, indes wirst du seinetwegen die äußerste Traurigkeit erleiden, ja das Schwert des Schmerzes wird deine Seele durchbohren."

Jeder, der noch Sinn für Pietät hat, wird eine derartige Auffassung mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Wie dürfte man von der allerseligsten Jungfrau denken, sie sei von einer verkehrten Liebe zur Welt und ihren Freuden erfüllt gewesen, so dass sie den Himmel auf Erden gesucht und ein Leben ohne Kreuz und Leiden erhofft hätte? Die weiseste Jungfrau hatte doch wahrlich aus den Aussprüchen der Propheten entnommen, dass ihres Sohnes und aller Auserwählten Anteil das Kreuztragen sein werde.

Derselbe Brenz behauptet sogar, Maria sei während des Todeskampfes Christi gänzlich ihrer Traurigkeit erlegen. Er scheut sich also nicht, der Mutter Christi den Glauben und Starkmut des Geistes abzusprechen, den doch selbst seine sonstigen Gesinnungsgenossen anerkennen. So sagt z. B. Melanchthon ausdrücklich (In cap. 27. Mt - CR 14. 1035): "So groß auch der Schmerz und die Traurigkeit war, worunter das Herz der jungfräulichen Mutter neben dem Kreuz ihres sterbenden Sohnes gelitten, so war sie doch bei all ihrem Leid mit Glauben und Vertrauen erfüllt. Die Mutter wusste ja, dass ihr Sohn der Messias sei und dass durch ihn Sünde und Tod überwunden, Gerechtigkeit und Leben uns zurückerstattet werde. Darum war sie fest überzeugt Von seiner bevorstehenden Auferstehung." Auch die Zenturiatoren (Cent. 1 lib. 1. cap. 10. - pag. 279 G.) gestehen, es müsse ein außerordentlich starker Glaube Maria beseelt haben, als sie ihren Sohn unter so schrecklichen Qualen sterben sah und trotzdem zuversichtlich erwartete, dass er das alles siegreich überstehen werde.

5. Das Schwert, das nach Simeons Weissagung die Seele Mariä durchbohren sollte, bedeutet also nichts anderes als die unaussprechlichen Schmerzen, die das Mutterherz Mariä durchdringen würden, und namentlich ihr inniges Mitleiden mit dem gekreuzigten Sohn.

Dass diese Erklärung keineswegs neu und unbegründet ist, beweisen folgende Zeugnisse aus der christlichen Vorzeit.

So weist Simeon Metaphrastes (De ortu et educatione Deiparae. n. 19. - MG 115. 551 D.) zuerst die irrige Ansicht des Origenes zurück, wovon oben die Rede war und die in neuerer Zeit von Brenz wieder aufgebracht wurde. Dann fügt er bei: "Passender ist die Annahme, er (Simeon) habe mit diesem "Schwerte" den Schmerz bezeichnen wollen, der zur Zeit des Leidens Maria erfüllte."

Johannes von Damaskus (Lib. 4. de fide orthod. cap. 14. - MG 94, 1162 D.) schreibt: "Die selige und mit übernatürlichen Gaben so reichlich ausgestattete Jungfrau erlitt die Schmerzen, die ihr bei der Geburt (ihres Sohnes) erspart geblieben, zur Zeit seines Leidens. Da hat sie in mütterlichem Mitleiden ihren mit Wunden bedeckten Sohn gleichsam wieder geboren. Sie musste ihn, den sie von Anfang an als Gott erkannte, gleich einem Verbrecher am Richtpfahl sterben sehen. Dieser Gedanke war das Schwert, das ihre Seele zerriss. Da erfüllte sich das Wort: ,Deine eigene Seele wird das Schwert durchdringen', wie es Simeon ihr vorhergesagt hatte, als er den Herrn auf seinen Armen trug. Doch die Traurigkeit verwandelte sich in Freude bei der Kunde von der Auferstehung, als der Herr, der im Fleisch gestorben war, zum Leben zurückkehrte."

Übrigens erklären auch viele Neuerer die Weissagung Simeons in demselben Sinne.

Es möge genügen, die Worte Luthers hier zu wiederholen (In Postilla circa Dom. 1. post Christi nativitatem. W 10, I 405 [3]): "Simeon wollte Maria vorhersagen, dass sie im Geist die Qualen des Todes werde erdulden müssen, wenn sie auch keine körperliche Marter werde auszustehen haben. Wie diese Vorhersage sich später erfüllte, kann niemandem unbekannt sein."

Simeon hatte aber nicht nur das Mitleiden Mariä mit ihrem gekreuzigten Sohn im Auge, als er ihr das Schmerzensschwert ankündigte. Er meinte vielmehr alle die vielfältigen Drangsale und Kümmernisse, die über die Mutter Christi kommen sollten, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird.

Vierzehntes Kapitel: Die vielfältigen Seelenleiden, die Maria um ihres Sohnes willen erduldet hat

1. Wer etwas tiefer in den Bericht des Evangeliums einzudringen sucht, wird notwendig auf viele ergiebige Quellen stoßen, woraus mannigfache und große Schmerzen in das zartfühlende Herz Marias sich ergießen mussten. Auch für Maria gelten die Worte, die Christus an alle seine Auserwählten richtet: "In der Welt werdet ihr Drangsal erleiden." Ja, das ganze Leben Marias war mit Beschwernissen, Drangsalen. Gefahren und Kümmernissen angefüllt. Ihre Tugend sollte so vor Gott und den Menschen immer preiswürdiger werden und ihr eine um so größere Seligkeit erwerben, je mehr sie Anteil gehabt an dem schweren Kreuz ihres Sohnes. Wie der Sohn so musste auch die Mutter durch Kreuz und Leiden in ihre Herrlichkeit eingehen. Je schmerzlicher sie vor allen andern mit dem Gekreuzigten gelitten, um so reichlicher sollte sie an seiner Freude und Herrschaft teilhaben.

Der wahren, echten Nächstenliebe ist es eigen, mit den Fröhlichen sich zu freuen und mit den Weinenden zu weinen, wie der Apostel uns lehrt. Christus findet kein Gefallen an gefühllosen, kalten und selbstsüchtigen Menschen. Dagegen liebt er solche, die gütig, mild und gefällig sind, wie er selbst es ist.

Es ziemte sich also für die Mutter des Herrn, die voll der Gnade und ihrem Sohn am ähnlichsten ist, dass sie an zärtlicher Liebe alle andern Mütter übertraf. Demnach musste Maria mit allen Schmerzen ihres Sohnes das zärtlichste Mitgefühl empfinden.

2. Es konnte darum nicht anders sein, als dass die liebevolle Mutter auf das peinlichste berührt wurde von der unmenschlichen Rücksichtslosigkeit der Bewohner Bethlehems, die ihr kein Obdach gewährten, als die Stunde der Geburt ihres Kindes bevorstand. So sah sie sich gezwungen, in einem Stall Unterkunft zu suchen in jener rauen, kalten Winternacht und ihrem zarten Kindlein eine Tierkrippe als erste Ruhestätte anzubieten. - Sollte es dann nicht ihrem Mutterherzen weh getan haben, als sie ihr liebes Kind acht Tage nach der Geburt dem harten Gesetz unterwerfen und dem Messer der Beschneidung überliefern musste? -

Wie trauervoll war ferner das Mitleid des Herzens Mariä mit den Müttern und Kindern von Bethlehem; wie tief war ihr Mitgefühl mit dem Leid jener trostlosen Mütter, denen das Schwert des Herodes das Liebste und Teuerste entriss, das sie besaßen und wie schmerzlich beklagte sie mit ihnen den Tod dieser Kinder, die im zartesten Alter auf so grausame Weise um ihres Sohnes willen hingeschlachtet wurden.

Es war auch gewiss keine Kleinigkeit für Maria, ganz plötzlich, mitten in der Nacht, ohne sich von ihren Bekannten verabschieden oder für die Reise sich ausrüsten zu können, Heim und Heimat zu verlassen, um ihr Kind der Wut seiner Todfeinde zu entziehen. Und dann musste sie jahrelang mit ihrem Kindlein und mit Joseph in der Verbannung weilen, mitten unter den heidnischen Ägyptern, deren Sprache und Sitten ihnen ganz fremd waren. Wie viel Ungemach und Entbehrung hat die heilige Familie während ihres Aufenthalts im Ägypterland, und schon auf der Reise hin und zurück wohl ertragen müssen! Oft genug mag die Sorge um das tägliche Brot sie gequält haben, nicht nur in der Fremde, sondern auch noch in Nazareth.

Groß war der Schmerz und die Angst der Mutter Christi, als sie ihren zwölfjährigen Sohn, ihr einziges Kleinod, verloren hatte. Erst nach langem, bangem Suchen fand sie ihn am dritten Tage wieder. Kein Wunder, dass sie die Klage nicht zu unterdrücken vermochte: "Kind, was hast du uns getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht."

Als ihr Sohn sie endgültig verließ, um die frohe Botschaft des Heiles zu verkünden, und, allenthalben Wohltaten spendend, das Land durchzog, musste Maria es erleben, dass Neid, Verleumdung und Verfolgung ihn unablässig begleiteten. Wer vermöchte die unaussprechliche Traurigkeit zu schildern, die ihr liebevolles Mutterherz darob empfand?

Innigen Anteil nahm Maria ohne Zweifel auch am Geschick ihres Gnadenkindes Johannes, des heiligen Vorläufers ihres göttlichen Sohnes. Beim ganzen Volk hatte er so großes Ansehen sich erworben und mit allem Eifer dem Messias den Weg zu bereiten gesucht. Wie schmerzlich musste also Maria die Kunde von seiner Gefangennahme berühren und mit welcher Trauer wird sie erst die Nachricht von seinem blutigen Ende erfüllt haben, als Herodes auf das Anstiften einer ehebrecherischen Frau dem Vorläufer Christi das Haupt abschlagen ließ, um es einer unzüchtigen Tänzerin zum Geschenk zu geben.

Maria liebte ihr Volk und Vaterland. Darum konnte sie nur mit tiefstem Herzeleid mitansehen, wie die Juden, und namentlich die einflussreichen Führer des Volkes, hartnäckig und verstockt die Predigt des Evangeliums ablehnten. Die Mutter Christi musste gewahren, wie die Voreingenommenheit und Undankbarkeit der Juden gegen den in ihrer Mitte weilenden und wirkenden Messias sich immer mehr ausbreitete und verstärkte, und wie nur ein geringer Prozentsatz seiner Zuhörer Christus aus seinen Lehren und Wunderwerken als ihren Messias erkannte. Wie tief und schmerzlich musste die Mutter des Erlösers diese verhängnisvolle Blindheit ihres Volkes beklagen. Sie sah ja das unglückliche Los der unversöhnlichen Feinde Christi voraus. Wie weh taten ihrem Mutterherzen die hasserfüllten Schmähungen, die gegen ihren liebsten Sohn von allen Seiten an ihr Ohr drangen. "Er ist ein Samaritan" (Joh 8,48) hörte sie die Lästerer ausrufen, er ist ein "Schlemmer, ein Weintrinker" (Mt 11, 19), ein "Volksverführer" (Joh 7,12), ein "Sabbatschänder" (Joh 5, 16), ein "Gesetzesverächter" (Mt 26, 65), er steht mit dem Teufel im Bunde" (Lk 11, 15). - Mit welcher Besorgnis und Angst musste nicht die Mutter Christi erfüllt werden, als der Beschluss des Hohen Rates ruchbar wurde, der Christus gleichsam in die Acht erklärte. Nur allzu klar erkannte sie daraus, dass die Führer des jüdischen Volkes ihrem Sohn das Schlimmste anzutun gedachten.

Wie bitter musste für die liebevollste Mutter jene Stunde sein, in der Jesus von ihr und seinen Freunden in Bethanien Abschied nahm, um seinen Todesgang anzutreten. Gewiss hat er seiner Mutter ebenso wie seinen Jüngern mitgeteilt, welche Leiden jetzt über ihn kommen würden, auf dass die Schrift in Erfüllung ginge. Da standen wohl alle die Schilderungen des leidenden Messias in den Weissagungen des Isaias, dieses "Evangelisten des Alten Bundes" deutlich und lebendig vor dem Geist der betrübten Mutter. Sie sah in ihrem Sohn das Opferlamm, das jetzt zur Schlachtbank geführt werden sollte. Zum letzten Mal durfte sie ihn in ihre Mutterarme schließen. Schon warteten auf ihn draußen die blutgierigen Wölfe, die über ihn herfallen und ihn zerreißen sollten. Wer könnte also die ganze Bitterkeit ermessen, die dieser Abschied für das Herz einer solchen Mutter in sich schloss? Im Geist begleitete Maria ihren Sohn und erlebte innerlich das furchtbare Trauerspiel, das nun beginnen sollte und dessen Einzelheiten man ihr nach und nach berichtete. Immer tiefer drang das Schwert des qualvollsten Schmerzes ein in ihr Mutterherz. -

Sie sieht ihren liebsten, einzigen Sohn, wie er von seinen Jüngern verlassen, von den Soldaten gefesselt, von den Hohenpriestern angeklagt, von Herodes verspottet, von Pilatus gegeißelt, von seinen Henkern auf jegliche Weise gequält, vom ganzen Volk verworfen, aus der heiligen Stadt hinausgestoßen, ruchlosen Räubern zugesellt, und wie ein Verbrecher durch die Straßen der Stadt geschleppt wird. - Die Mutter kann ihren Sohn in seinen letzten Stunden nicht allein lassen, sie ist nicht länger zurückzuhalten, sie lässt sich in die Stadt führen, sie will ihren Sohn sehen, wie er mit dem Kreuz beladen, zum Tode geführt wird, sie schließt sich dem traurigen Zug an, und folgt ihm bis zur Kreuzigungsstätte. Wer könnte beschreiben, was die Mutter des Herrn da gelitten hat, als sie nun mitansehen musste, wie ihr geliebter Sohn so schmachvoll seiner Kleider beraubt, der Willkür der Henker ausgeliefert, von diesen zum Kreuz hingeführt und daran festgenagelt wurde. Nun sah sie ihn entblößt, mit zerdehnten Gliedern, ganz zerschlagen, bedeckt mit Wunden, blutüberströmt zwischen zwei Räubern am Kreuzesstamm hangen. Dazu musste sie die unaufhörlichen Beschimpfungen und Lästerungen anhören, wodurch die Feinde Christi, hoch und niedrig, ihrer unersättlichen Wut gegen den Gekreuzigten Luft machten, als hätten sie ihre Freude daran, das unbefleckte Lamm zu Tode zu quälen. Wie grausam drang aber erst das furchtbare Schmerzensschwert in die innerste Seele Marias ein, als sie den trostlosen Klageruf ihres Sohnes hörte, dass er sich selbst von Gott verlassen fühlte. Da konnte die Schmerzensmutter wirklich mit Job sprechen: "Ich weinte über den, der betrübt war, und meine Seele trug Mitleiden mit dem Armen" (Job 30,25) Wie arm war doch jetzt ihr Sohn geworden, der am ganzen Leib verwundet und zerschlagen, nichts mehr hatte, wohin er sein Haupt legen konnte, und dessen zum Tod betrübte Seele bei niemandem mehr Beistand und Trost fand, als nur bei seiner treuen Mutter.

Fünfzehntes Kapitel: neben dem Kreuz Jesu Maria seine Mutter

Die Worte des Johannesevangeliums: "Es stand aber neben dem Kreuz Jesu Maria seine Mutter" im Licht der herkömmlichen Schrifterklärung. Rechtfertigung der Andacht zu Ehren der schmerzhaften Mutter den Angriffen der Neuerer gegenüber (S. IV. Buch, 26. [28.] Kapitel).

1. Was der Evangelist Johannes über die Geschehnisse auf dem Kalvarienberg berichtet, verdient schon deshalb besondere Beachtung, weil er selbst als Augen- und Ohrenzeuge dem schrecklichen Schauspiel beiwohnte. Kein Menschenherz, das diesen Bericht aufmerksam erwägt, kann dabei gefühllos bleiben. Es haben ja sogar die Sonne, die Felsen und Grabdenkmäler der Verstorbenen damals ihre Anteilnahme bezeugt.

Die Worte des Evangelisten lauten also: "Es standen neben dem Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria Kleophä und Maria Magdalena. Da also Jesus seine Mutter und den Jünger, den er liebte, da stehen sah, sprach er zu seiner Mutter: ,Frau, siehe da deinen Sohn'. Darauf sprach er zu dem Jünger: ,Siehe da deine Mutter.' Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich" (Joh 19, 25-27).

2. Eine bewunderungswürdige Tat hat uns hier der Evangelist berichtet. Während die Jünger und Freunde Christi furchtsam geflohen und auseinander gestoben waren, blieb seine Mutter ihm nahe und wohnte dem grausamen Schauspiel, das sich auf dem Kalvarienberg vollzog, bis zum Ende bei. Nicht vermag der Schrecken ihren Geist zu betäuben, die Schmerzen können ihren Mut nicht brechen. Immer sich gleichbleibend in ihrem standhaften Glauben, der Traurigkeit nicht unterliegend und alle weibliche Schwachheit überwindend, wollte und konnte sie ihrem am Kreuz sterbenden Sohn inmitten der dräuenden Scharen seiner Feinde den letzten Mutterdienst erweisen. In treuer Muttersorge hielt sie Wache bei ihm, aufrecht gehalten durch den unerschütterlichen Glauben, dass hier nicht der Zufall sein Werk vollbringe, sondern dass aus freiem Willen das Lamm Gottes zu dieser Schlachtbank sich habe führen lassen, um sich für alle hinzuopfern (Vgl. Jes 50, 6; 53, 7).

3. Sie stand da und betrachtete staunend die unerklärliche Güte Gottes, dass er zur Rettung seiner Diener den eigenen Sohn einem so bittern Tod überliefern wollte. Sie erwog sodann Gottes Gerechtigkeit, die solche Sühne für die Schuld der Menschen forderte vom eigenen Sohn, der dafür Bürge geworden war. Sie bewunderte endlich Gottes Freigebigkeit, dass er der sündigen Welt dieses kostbare Blut schenkte und den überreichen Erlösungspreis seines Eingeborenen auch den undankbarsten Menschen wollte zugute kommen lassen.

Es stand die Mutter Christi neben dem Kreuz, einesteils sich freuend über den glorreichen Kampf, den ihr Sohn daran durchkämpfte sowie über den herrlichen Sieg, den er, wie sie wohl wusste, in Kürze über seine Feinde erringen würde, anderen teils ganz aufgelöst in Traurigkeit darüber, dass er so ganz allein, ohne jede menschliche ja sogar ohne alle göttliche Hilfe die Kelter treten musste, bis er endlich, ganz übergossen mit seinem Blut und zu Tod erschöpft, die letzten Atemzüge tat, und seine Mutter ihres einzigen Glückes beraubt zurückließ. - Es stand die Mutter Jesu neben dem Kreuz als Vorbild standhafter Festigkeit, die gerade im Unglück sich bewähren muss. Allen kommenden Geschlechtern gab sie das Beispiel, wie weder Trübsal noch Bedrängnis, weder Gefahr noch Verfolgung, weder Schwert noch Tod noch irgendein anderes Geschöpf sie zu trennen vermochte von der Liebe Christi, mit dem sie unauflöslich verbunden war. Das Feuer der Liebe, das in ihrem Herzen brannte, erfüllte sie mit solchem Mut und solcher Kraft, dass weder der Ingrimm der Juden noch die Wildheit der Soldaten, weder die Wut der sie umflutenden Menge noch die stets anwachsende Heftigkeit und Bitterkeit ihrer Seelenschmerzen sie bewegen konnte, ihren Posten zu verlassen.

4. Unerschütterlich blieb sie da stehen, auch als ein neuer Pfeil ihr Herz verwundete, als das Wort ihres sterbenden Sohnes an ihr Ohr drang: "Frau, siehe da deinen Sohn."

So groß war nämlich die Liebe Christi zu seiner Mutter, so zärtlich war er um sie besorgt, dass er mitten in den heftigsten Schmerzen und dem Tod schon ganz nahe, seine Mutter noch gütig anschaute und liebevoll anredete, und dass er sie seinem auserwählten Liebesjünger anempfehlen wollte. - Aber gerade dieses liebevolle Abschiedswort ihres göttlichen Sohnes hatte einen überaus bittern Beigeschmack für die Mutter Christi. Durch diese letztwillige Verfügung ward ihr ja, wie der hl. Bernhard hervorhebt (Cf. Sermo de verbis Apocal. "Signum magnum" n. 15. ML 183, 438 A.), Johannes zum Sohn gegeben; es sollte also "der Diener an die Stelle des Herrn treten, der Jünger an die Stelle des Meisters. Statt des Sohnes Gottes erhielt sie den Sohn des Zebedäus, statt des wahren Gottes ward ihr ein bloßer Mensch überwiesen." So musste gerade dieses Wort wie ein scharfes Schwert das Herz Marias schmerzlich verwunden.

5. Aber bei all ihrem Schmerz und in all ihrer Trauer bewahrte die Mutter Jesu neben dem Kreuz stets die geziemende Mäßigung im Ausdruck ihrer Gefühle. Sie benahm sich, wie es sich für ihre jungfräuliche Sittsamkeit schickte. Sie rang nicht die Hände, sie zerraufte sich nicht das Haar, sie erhob nicht ein lautes Wehegeschrei, sie schmähte nicht auf die Mörder ihres Sohnes und rief nicht Gottes Strafe auf sie herab, sondern in züchtiger Selbstbeherrschung stand die geduldigste Jungfrau da, die Augen voller Tränen, das Herz ganz in Leid versenkt. So stach ihr Benehmen sehr ab von dem so vieler Frauen, die beim Tod ihrer Angehörigen kein Maß zu halten wissen in den Ausbrüchen ihres Schmerzes und sich wie Verzweifelnde ja fast wie Wahnsinnige gebärden, ohne auf gütiges, tröstendes Zureden zu achten. Die Trauer der schmerzhaften Mutter Jesu hielt sich dagegen in den Grenzen des Glaubens und der wahren Vernunft, und verstieß in keiner Weise gegen die Gesetze der Wohlanständigkeit. Darum ist es gewiss nicht zu billigen, wenn manche Prediger und Maler sich darin gefallen, die schmerzhafte Mutter unter der Wucht ihres Leides zusammenbrechend in Ohnmacht gesunken, oder wie betäubt vor Schmerz und bewusstlos vor sich hinstarrend darzustellen. Ebenso unschicklich sind jene Schilderungen, die Maria in lautes Wehklagen ausbrechen und ihrem Schmerz in leidenschaftlicher Weise Ausdruck geben lassen.

6. Wenn also die Neuerer sich darauf beschränken würden, gegen derartige unwahre und geschmacklose Äußerungen der Andacht zur schmerzhaften Mutter Einsprache zu erheben, so könnten wir ihnen nur beipflichten. Sie gehen jedoch viel weiter. So schreibt z. B. Bullinger: "Wie viel Aufhebens machen doch die papistischen Prediger von dem Mitleiden der seligen und unversehrten Jungfrau Maria! Sie schätzen dasselbe so hoch, dass sie die Leidensgeschichte des Herrn nicht vollständig dargestellt zu haben meinen, wenn sie nicht neben dem, was die Evangelisten über Christus den Herrn erzählt haben, auch ihre Einbildungen über das Mitleiden der Jungfrau zum Besten gegeben." - "Was sollen denn diese seltsamen Ausführungen über die Trauerklage Marias vor dem Volke? Wozu soll es dienen, die zum Mitleiden geneigten Gemüter bis zu Tränen zu rühren? Denn das scheint in der Tat der einzige Zweck zu sein, den gewisse Mönche dabei im Auge haben."

Und doch haben schon die heiligen Väter oft über das Mitleiden der seligsten Jungfrau gesprochen und geschrieben, und zwar in der Absicht, ihre Zuhörer und Leser zu einer heilsamen Trauer zu stimmen, die sich nicht selten in frommen Tränen äußert. Die Predigtweise der Neuerer freilich ist recht kalt und frostig, wie aus dem nüchternen Ton ihrer Schriften sich ersehen lässt. Sie gehen allerdings nicht darauf aus, die Gemüter zur Trauer und Buße zu stimmen. Ihr Hauptbestreben ist es vielmehr, die Gläubigen zu einem nur allzu großen Vertrauen zu bewegen und sie in falsche Sicherheit zu wiegen. Wenn nun unter den katholischen Predigern unserer Zeit viele mit Eifer und Geschick dem Beispiel der alten Väter und Lehrer folgen, sind sie etwa deswegen zu tadeln? Oder ist wirklich alles, was die katholischen Erklärer des Evangeliums über die Trauer und die Tränen der Mutter des Gekreuzigten ausführen, nichts weiter als eine Erfindung und Einbildung müßiger Geister? Der Evangelist berichtet, dass die Mutter Jesu während des Todeskampfes ihres Sohnes neben dem Kreuz stand, dass sie alle seine Leiden mit ansah, und seine letzten Worte hörte. Sollte nicht schon dieses wenige, was der Evangelist erzählt, hinreichen, uns zum Nachdenken anzuregen auch über die Leiden und Tränen der schmerzhaften Mutter? Sollte es nicht genügen, uns Mitleid einzuflößen mit ihrem Leid, wie sie das Leiden ihres sterbenden Sohnes im Herzen mitgefühlt hat? Jedenfalls entspricht der katholische Brauch, immer wieder und namentlich in der heiligen Woche, wie schon Chrysostomus die Karwoche genannt hat, in Trauer und Mitleid die Schmerzen des Gekreuzigten und seiner betrübten Mutter zu beherzigen, ebenso sehr dem natürlichen Gefühl wie der althergebrachten Sitte der Vorzeit.

Die folgenden Worte des ebenso gelehrten wie heiligmäßigen Rupert von Deutz mögen dies bezeugen (Lib. 6. de divinis officiis, cap. 2. et 13. ML 170, 153 C et 170, 161 A.). "Nicht so sollen wir der Huld des Gebers (nämlich des ewigen Vaters), der seinen Sohn uns schenkte, sowie der Liebe dessen, der für uns gestorben, uns erfreuen, dass wir darüber vergessen dürften, uns zu betrüben wegen der Tatsache, dass wir die Qualen und den Tod unseres lieben Herrn verschuldet haben. Denn, wie es eine Undankbarkeit wäre, sich nicht über das erstere zu freuen, so wäre es eine Gefühllosigkeit, sich nicht über das letztere zu betrüben". - Kurz danach fügt er die Mahnung bei, wir sollten zur Zeit, da die Kirche das feierliche Gedächtnis des Leidens und Sterbens Christi am Kreuz begeht, uns zur Traurigkeit stimmen und Bußgesinnung in uns erwecken, auf dass auch unsere Seele das Schwert des Leidens unseres Herrn durchdringe, wie es die Seele Marias durchdrang, und die Nägel seiner Hände und Füße unser Fleisch durchbohren und damit sein Kreuz unsere Begierlichkeit ertöte. So wollen wir also, schließt er, mit ihm leiden, damit wir mit ihm herrschen können." (Röm 8, 17).

7. Aber, so fragt man vielleicht, hat denn nicht Christus den über sein Leiden trauernden Frauen von Jerusalem die tadelnden Worte zugerufen: "Weint nicht über mich?" (Lk 23, 28)

Indes hat der Herr damit nicht das fromme Mitgefühl mit seinem Leiden diesen Frauen untersagen, sondern sie darauf hinweisen wollen, dass sie noch einen andern Grund zu klagen hätten, den sie nicht erkannten. Er meinte damit das furchtbare Strafgericht Gottes, das über die gottesmörderische Stadt hereinbrechen und ihr wie dem ganzen Lande den Untergang bringen sollte. Auch entsprang die Trauer dieser Frauen nur ihrem natürlichen Mitleid mit dem kreuztragenden Christus und seinem bevorstehenden Tod. An seine baldige Auferstehung glaubten sie wohl nicht. Es besteht also ein großer Unterschied zwischen dem Mitleiden dieser Frauen und jenem glaubensvollen Mitgefühl, wie die Kirche es hegt und äußert, wenn sie das Leiden des Erlösers und seiner Mutter mit innigem Schmerze betrachtet und ihren Kindern vor Augen stellt.

8. Dem schmerzerfüllten Mutterherzen Marias wurde selbst nach dem Tode ihres geliebten Sohnes noch eine tiefe Wunde geschlagen. "Einer der Soldaten," sagt der Evangelist, "öffnete mit der Lanze seine Seite" (Joh 19, 34), und dem durchbohrten Herzen Jesu entfloss Blut und Wasser. Diesen Lanzenstoß hat der entseelte Leib nicht mehr empfunden, aber die Seele der Mutter, die vom Herzen ihres Sohnes nicht zu trennen war, ist dadurch tödlich verwundet worden. Und was muss die Schmerzensmutter dann gefühlt haben, als sie den vom Kreuz herab genommenen Leichnam aus nächster Nähe betrachten, befühlen, umarmen, küssen und verehren konnte, als sie jede einzelne Wunde beschaute und alle die Spuren so großer Grausamkeit mit ihren Tränen benetzte? Ihr eigenes Leid wurde noch vermehrt durch das Wehklagen und Jammern ihrer Freunde und der Frauen ihrer Geleitschaft. Und das hielt an, bis endlich dieser heiligste Leichnam, dieses Werkzeug der Gottheit, an dem nun weder Gestalt noch Schönheit mehr war, in traurigem Zuge zu Grabe getragen wurde. Sein Anblick hätte Grausen und Entsetzen hervorrufen können, wenn nicht ein gewisser Schimmer der Heiligkeit und Gottheit die entstellten Glieder durchleuchtet und verklärt hätte.

9. Hier will ich einen Ausspruch Melanchthons (In explic. Evang. Mt cap. 27. - CR 14, 1035) anführen, woraus ersichtlich ist, dass auch solche, die sonst nicht mit uns übereinstimmen, der schmerzhaften Mutter den Tribut ihrer Verehrung nicht versagen können.

" Erwäget, - dies sind seine Worte - welch einen Glaubenskampf Maria durchgekämpft hat. Großer Schmerz vereinigte sich in ihr mit Glaube und Zuversicht. Sie betastete den Leichnam ihres verstorbenen Sohnes, sie küsste seine Wangen und Hände, sie sah seinen entseelten Leib da liegen nach Art anderer Leichname. Und doch wusste sie, wie er empfangen worden war, sie wusste, dass er der Messias sei, sie wusste, dass durch ihn die Sünde und der Tod getilgt und die Gerechtigkeit wiederhergestellt werde. Darum wusste sie auch, dass er gewiss auferstehen werde. So wollen auch wir uns trösten bei unserm Tod, indem wir auf diesen unsern Herrn hinblicken und wir wollen dieselben Gedanken, die Maria sich vorhielt, bei uns oft erwägen."

Darin können wir allerdings Melanchthon nicht beistimmen, wenn er diesen "Kampf des Glaubens", den Maria so gekämpft habe, aus einem gewissen Mangel an Glaubensfestigkeit hervorgehen lässt, der ihrer Seele immerhin noch angehaftet hätte. Eine solche Annahme verträgt sich nicht mit dem vollkommenen und standhaften Glauben der Gottesmutter, der gerade in den Leidensstunden sich so heldenmütig bewährt hat.

10. Die fromme Betrachtung der Schmerzen Marias unter dem Kreuz kam übrigens nicht erst im Mittelalter auf, sie war vielmehr schon zur Zeit der alten Kirchenlehrer üblich, wie die folgende Stelle aus den Schriften des hl. Ephräm des Syrers beweist.

Dieser Schüler und Freund des hl. Basilius des Großen lässt in seiner Trauerklage der schmerzhaften Mutter unter dem Kreuze Maria ihren Sohn also anreden: (In Lament. Mariae. - Edit. Rom. 1746 III 574 A.) "Mein süßester, geliebtester Sohn, wie kann es doch sein, dass du die Kreuzesqual auf dich nehmen musstest? Mein Sohn und mein Gott, wie konntest du alles das aushalten, die Anspeiungen, die Nägel und die Lanze, die Backenstreiche, Verspottungen und Schmähungen, die Dornenkrone, das Purpurkleid, den Essigschwamm und das Rohr, Galle und Essig? Wie kommt es, dass du entblößt am Kreuz hängst, mein Sohn, der du den Himmel mit Wolken bedeckst? Wie, du leidest Durst, und bist doch der Schöpfer, der das Meer und alles Quellwasser erschaffen hat. Du bist der Schuldlose, und stirbst zwischen zwei Verbrechern. Was hast du denn Böses getan? Worin hast du, mein Sohn, die Juden beleidigt? Warum haben also die ungerechten, undankbaren Menschen dich an dieses Kreuz schlagen lassen, da du doch ihre Lahmen und Kranken geheilt und ihre Toten zum Leben erweckt hast? Wo ist jetzt deine Stütze, mein süßester Sohn und großmütiger Gott? Ach, ich vergehe vor Schmerz, da ich dich an diesem Marterholz hangen sehe, festgehalten von den Nägeln und bedeckt mit Wunden. Wo ist nun deine Schönheit, wo deine Anmut? Die Sonne hat ihren Glanz verborgen und will nicht mehr leuchten, das Licht des Mondes ist geschwunden, er ist in Finsternis gehüllt, die Felsen sind geborsten, die Gräber haben sich aufgetan, und der Vorhang des Tempels ist entzwei gerissen. Die leblosen Geschöpfe haben ihren Schöpfer und Werkmeister erkannt, aber diese verkehrten, unseligen Juden haben ihre Ohren verstopft und ihre Augen geschlossen, damit sie nicht dich, mein Sohn, als ihre untergehende Sonne erkennen müssen. O Simeon, du bewunderungswürdiger Seher, jetzt fühle ich wirklich wie das Schwert, das du mir vorherverkündet hast, meine Seele durchbohrt. Siehe, mein Sohn und mein Gott, wie dieses Schwert mein Herz verwundet hat; es ist dein Tod, der mein Herz zerrissen hat. Meine ganze Seele ist aufgewühlt, mein Licht hat sich verdunkelt; durch und durch hat das unbarmherzige Schwert mein Gemüt durchbohrt. Ich sehe dein entsetzliches Leiden, mein Sohn und mein Gott, ich sehe den unverdienten Tod, den man dir antut, und ich kann dir keine Hilfe bringen. Trauert mit mir, ihr Jünger des Herrn allzumal, da ihr meinen Schmerz und die tiefe Wunde meines Herzens schauet."

Dann fügt der hl. Ephräm den Trostgrund bei, der die Mutter Christi in so großem Leid aufrecht hielt und sie in ihrem festen Glauben und Vertrauen bestärkte. Er lässt nämlich Maria folgendermaßen zu ihrem göttlichen Sohn sprechen: "Mein liebster Sohn, ich verehre deine Kümmernisse, ich preise und bete an deine Barmherzigkeit und Großmut. Die Schmach, die du auf dich genommen, mein Sohn, hat allen Ehre gebracht, dein Tod ist das Leben der ganzen Welt geworden. Nun bitte ich dich noch, du mögest doch so bald wie möglich aus dem Tod wiedererstehen, wie du, mein Sohn und Gott, es mir verheißen hast, auf dass die Welt gerettet werde, und ich, deine demütige Mutter, und alle deine geliebten Jünger mit Freude, alle deine Feinde aber mit Beschämung erfüllt werden."

Die Schmerzen, die Maria in ihrem mitleidsvollen Herzen unter dem Kreuz ihres Sohnes erduldet hat, übertrafen nach der Meinung mehrerer Kirchenlehrer selbst die entsetzlichsten Qualen aller Martyrer. Einer hat den Ausspruch getan: "Weil Maria mehr geliebt hat als alle andern, darum hat sie auch mehr gelitten. Sie fühlte den Tod ihres göttlichen Sohnes so, wie wenn es ihr eigener Tod gewesen wäre. Aber ihre Liebe war stärker als der Tod. So ist sie die Königin der Martyrer geworden.

11. Da die Mutter Christi nach dem Maß ihrer Liebe vor allen andern an dem Leiden ihres Sohnes Anteil gehabt, so hatte sie auch mehr als alle andern ein Anrecht auf die Tröstungen Christi. Und ebenso erwarb sie sich unter dem Kreuz des Erlösers einen besondern Anspruch auf die dankbare Verehrung und Liebe aller Erlösten. Es ist ja eine sichere und durch die Heilige Schrift bezeugte Wahrheit, dass Christus allen denen, die ihn suchen (Hebr 11, 6) und seinen Kelch trinken (2 Tim 2, 12), d. h. ihm zulieb Kreuz und Leid mit ihm teilen (Lk 9, 23), ein überaus getreuer und freigebiger Vergelter sein wird, der alle Tränen von den Augen der Seinen abwischen (Offb 21, 4) will. Den Gliedern seines mystischen Leibes, die besonders viel mit ihm gelitten, wird er das Übermaß seiner Tröstungen (2 Kor 1, 7) zukommen lassen. Die verhältnismäßig leichte und nur einen Augenblick währende Trübsal, die sie durchgemacht, wird eine überfließende Fülle von alles überwiegender Herrlichkeit in ihnen bewirken (2 Kor 4,17).

Demgemäß konnte Christus es sich nicht versagen, sofort nach seiner Auferstehung aus dem Grab, seiner betrübtesten Mutter Trost zu bringen. Sie suchte er vor allen andern auf und ließ sie zuerst die Herrlichkeit seiner Verklärung schauen. Da ergoss sich, um mit Rupert von Deutz zu reden, ein gewaltiger Strom von Freude in die Seele Mariens, als ihr von neuem zum Leben erstandener Sohn ihr selbst die erste Kunde brachte von seinem glorreichen Sieg. Denn fern sei von uns der Gedanke, als ob derselbe, der im Gesetz geboten hat, Vater und Mutter zu ehren, seine eigene Mutter, die um seinetwillen vom Schwert des Schmerzes war durchbohrt worden, hätte rücksichtslos übergehen und vernachlässigen können (Lib.7 de divinis officiis, cap. 25. ML 170, 205 D.).

Allen Gliedern Christi, die in Verbindung mit ihrem Haupt leiden, gilt die Verheißung: "Wenn wir mit ihm leiden, so werden wir auch mit ihm herrschen; wenn wir mit ihm gestorben sind, so werden wir auch mit ihm leben" (2 Tim 2, 11 f.). Welche Fülle von Herrlichkeit und Ehre und Freude wird also Christus, der freigebigste König, in seinem Reiche, seiner heiligsten Mutter verliehen haben zum Lohn für ihr treues Ausharren bei ihm. Sie hatte ihm ja gerade in seinen letzten Stunden, die ihm solch namenlose Pein gebracht, mit größter Liebe beigestanden bis zu seinem Tod. Die Qualen, die er am Kreuz erduldet, waren ebenso viele Pfeile und Schwerter gewesen, die das liebevolle Mutterherz Marias verwundeten und durchbohrten. Wie wird darum ihr göttlicher Sohn sie jetzt teilnehmen lassen an seiner Herrlichkeit. Gewiss gibt es im Himmel kein geschaffenes Wesen, das größere Freude und Macht besäße als Maria, keines, das Christus näher stände oder inniger mit ihm verbunden wäre, als seine glorreiche Mutter.

12. Unter dem Kreuz hat Maria sich auch das Anrecht erworben, geistiger Weise nicht nur des Lieblingsjüngers Johannes, sondern aller Erlösten Mutter genannt zu werden und zu sein.

Vielleicht werden manche weniger abgeneigt sein, Maria diesen Titel "Mutter aller Gläubigen" zuzugestehen, wenn sie hören, dass auch Luther einen besonderen Trost darin fand, Maria seine wahre Mutter nennen zu dürfen, ebenso wie wir in Christus unsern Bruder und in Gott unsern Vater sehen dürfen. "Dies alles, so bemerkt er dazu, ist lautere Wahrheit und Wirklichkeit, wenn wir nur Glauben haben" (In Postilla circa Evang. de Nativit. Christi. - W 10, I, 72, 19).

Auch Calvin trägt kein Bedenken, Maria als seine Lehrmeisterin anzuerkennen, und sich als ihren Schüler zu bekennen, wenn er schreibt (In harmon. Evangel. c. 1. Luc. - CR 73 [45] 38): "Gern nehmen wir Maria als unsere Lehrerin an und wollen uns durch ihre Lehren und Vorschriften leiten lassen."

Wenn doch diese Männer und ihre Anhänger, die das Gewand Christi, dass heißt die Einheit der Kirche in so verhängnisvoller Weise zerrissen haben, in Wahrheit der Familie und Jüngerschaft Marias angehören wollten!

Was aber Maria von ihren Kindern und Schülern vor allem verlangt, das ist die Übung wahrer Demut und die Selbstzucht unterwürfigen Gehorsams.

Fünftes Buch: Die Verherrlichung der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria

Erster Teil: Das selige Hinscheiden der heiligsten Gottesmutter und ihre glorreiche Aufnahme in den Himmel

Erstes Kapitel: Pilgerfahrt Mariens

Warum Christus der Herr seine Mutter noch für längere Zeit nach seiner Himmelfahrt ihre irdische Pilgerfahrt fortsetzen ließ (Siehe V. Buch, I. Kapitel).

1. Maria brachte nach der Himmelfahrt ihres göttlichen Sohnes noch eine Reihe von Jahren in diesem sterblichen Leben zu. Einige Schriftsteller des christlichen Altertums nehmen an, die Mutter des Herrn habe ein Alter von ungefähr siebzig Jahren erreicht (vgl.: nhang: Chronologie, vor allem des Lebens Mariä). Demnach hätte sie noch über zwanzig Jahre auf Erden geweilt. So hatte die junge heran wachsende Kirche an ihr, die als Mutter Christi auch Mutter der Christen ist, ein leuchtendes Vorbild und eine kräftige Stütze.

Zwar hatte der Heilige Geist die Apostel als die von Christus bestellten Lehrer der Kirche in alle Wahrheit eingeführt, aber in noch weit höherem Grad als diese war die Mutter Christi in die Geheimnisse des Glaubens eingeweiht worden. Durch Maria wollte darum der Heilige Geist den Aposteln und Evangelisten viele Einzelheiten mitteilen, namentlich solche, die sie allein aus eigener Erfahrungswissen konnte. An dieser Annahme, der bereits der hl. Anselm Ausdruck gegeben hatte, hielt auch Melanchthon fest, wenn er sagte, Maria habe die Apostel durch ihre Ratschläge geleitet (Cf. 2. part. Chronic. et loc. commun. Mansi. CR 12914).

2. Von allen zeitlichen Geschäften und Sorgen befreit, konnte Maria jetzt in stiller Zurückgezogenheit nach Herzenslust der Betrachtung dieser Geheimnisse sich hingeben, die sie stets in ihrem Gedächtnis bewahrt hatte. Aber darüber vergaß sie nicht die Werke der Liebe. Sie suchte allen alles zu werden, um alle für Christus zu gewinnen. So bildete sie den Mittelpunkt der Christengemeinde von Jerusalem, in der alle "ein Herz und eine Seele" waren (Vgl. Apg 4, 32).

3. Ganz besonders musste Maria die von den Aposteln eingeführte und begünstigte Sitte zusagen, wonach "die ersten Gläubigen alles gemeinsam hatten" (Apg 2, 44). Sie entsprach ja so recht der Lebensweisheit, die das Evangelium Christi lehrt und die Christus durch sein Beispiel uns so eindringlich empfehlen wollte. So lebte denn Maria inmitten der armen Witwen, deren Obsorge die Apostel den sieben Diakonen anvertrauten, wie die Apostelgeschichte berichtet. Dabei verblieb dem hl. Johannes das ihm vom Herrn verliehene Vorrecht, an Maria Sohnes stelle zu vertreten. Indes zieht Calvin aus den Worten des Evangeliums, Johannes habe auf das Geheiß des sterbenden Meisters hin die Mutter Christi zu sich genommen, eine Schlussfolgerung, die nicht zulässig ist. Er schreibt nämlich (In cap. 19. Joa. v. 27. CR 75 [47] 418): "Johannes wäre nicht in der Lage gewesen, die Mutter Christi aufzunehmen und bei sich zu behalten, wenn er nicht über ein Haus und einen festen Lebensunterhalt hätte verfügen können." Die ständige Verwaltung eines eigenen, mit zeitlichen Gütern ausgestatteten Hauswesens hätte den Aposteln jedenfalls als mit ihrem Beruf nicht vereinbar erscheinen müssen. Das legt uns jener Ausspruch nahe, den die Apostelgeschichte uns von ihnen aufbewahrt hat. "Es wäre nicht recht, so sagten sie, wenn wir das Predigen vernachlässigen würden, um uns mit der Verteilung der Speisen und Almosen zu befassen." (Vgl. Apg 6, 2.) In welchem Sinn nach Anschauung der christlichen Vorzeit Maria Johannes zu sich genommen, mögen uns folgende Worte Ruperts von Deutz erklären (Cf. Lib. 13. in Joa. cap. 19. ML 169. 790 C.): Johannes nahm Maria auf, aber nicht in sein Besitztum, denn ein solches hatte er nicht und hat es auch später nicht erworben. Er gehörte ja zu denen, die alles verlassen hatten, um dem Herrn nachzufolgen. Er nahm sich vielmehr der Mutter Christi in der Weise an, dass er bei der üblichen Verteilung der zum Leben notwendigen Dinge an die Gemeinschaft für Maria sorgte, wie wenn sie seine Mutter wäre, und ihr alles verschaffte, dessen sie bedurfte. So hatten bereits die heiligen Lehrer Beda und Augustinus diese Stelle erklärt.

Calvin möchte sich allerdings auf das Zeugnis des Geschichtsschreibers Nikephorus berufen, der berichtet, Maria habe im Haus des Johannes gewohnt. Indes waren andere Schriftsteller der Ansicht, damit sei das Haus des Markus gemeint gewesen, der auch Johannes genannt wurde.

Keinesfalls sind die Neuerer berechtigt, aus der angeführten Stelle des Evangeliums Kapital zu schlagen gegen die Armut der Apostel, die sie aus Bettlern, wie Theophylaktus sie nennt, allzu gern zu Hausbesitzern machen möchten. Bei ihnen ist es ja auch jetzt noch eine beliebte Praxis, solchen ihre Gunst und ihren Schutz angedeihen zu lassen, die sich aus Mönchen in Ehemänner, aus Klerikern in Laien und womöglich in Schenkwirte oder gar Henker umwandeln.

Zweites Kapitel: Das selige Hinscheiden der jungfräulichen Gottesmutter

(Siehe V. Buch, 2. u. 3. Kapitel)

1. Warum Maria sterben musste.

Der christliche Glaube lehrt uns, dass nach dem ursprünglichen Plan des Schöpfers die Menschen nicht hätten sterben müssen. Erst durch die Sünde des Stammvaters ist der Tod in die Welt gekommen. Nun hatte zwar Maria nicht die Erbsünde an sich gehabt, und konnte der Tod nicht als Strafe über sie kommen. Immerhin hatte sie von Adam die sterbliche Menschennatur geerbt, und darum schickte es sich, dass sie, wie alle andern Menschenkinder, den Weg des Todes ging. So wurde offenbar, dass sie nicht, wie die Manichäer faselten (Cf. S. Thomas in 3. sent. dist. 4. q. 2), ein übermenschliches, engelartiges Wesen war.

Es ziemte sich sodann, dass die Mutter Christi auch darin ihrem Sohn gleichförmig wurde, dass sie ebenso wie er den Kelch des Todes trank, bevor sie in ihre Herrlichkeit einging. Durch ihr heiliges, gottergebenes Sterben sollte Maria das Maß ihrer Tugenden und Verdienste erfüllen. "Kostbar ist ja in den Augen Gottes der Tod seiner Heiligen" (Ps 116, 15). Für sie ist der Tod nichts anderes als Befreiung aus dem Kerker der Leiblichkeit und Ablegung einer beschwerenden Last, das Ende der irdischen Pilgerschaft und der Beginn des wahren Lebens in der himmlischen Heimat.

Nach dem Plan der göttlichen Güte sollte endlich der Tod Mariä allen ihren Kindern zur Stärkung und Tröstung gereichen in den Kämpfen und Beängstigungen der letzten Stunde.

2. Das Hinscheiden Mariä war überaus selig und friedlich.

Gott wollte seine Mutter in ihrer Todesstunde vor allem körperlichen Schmerz und aller Angst der Seele bewahren. Sie hatte ja schon unter dem Kreuz beim Sterben ihres Sohnes die bitterste Todespein im voraus erdulden müssen. Auch alle Nachstellungen des Teufels hielt Gott von seiner sterbenden Mutter fern sowie alle Schrecken, die sonst der Tod mit sich bringen kann. Wunderbar stärkte er ihre Seele und ergoss in sie die Fülle unsagbaren Trostes. So wurde das Sterben Mariä wirklich zu einem furchtlosen und freudigen Hinübergehen in das wahre Leben.

Viele sind friedlich in Christus entschlafen. Aber niemand hat einen so leichten Tod gehabt wie Maria. Mehr als alle andern war ihre Seele losgelöst von jeder Anhänglichkeit an die Welt, die sie nun verlassen sollte, und unvergleichlich heftiger war ihr Verlangen, bei Christus, ihrem Sohn, zu sein. Wie sehnte sie sich danach, dass er komme und sie abhole! Ihrem liebeglühenden Herzen entstieg die innige Bitte des Psalmisten: "Führe meine Seele aus ihrem Gefängnis heraus, auf dass sie deinen Namen lobpreise: Die Gerechten erwarten mich und freuen sich auf den Augenblick, da du mir vergelten wirst" (Ps 142, 8).

In der Tat harrten alle gerechten Seelen und die Engelscharen auf ihre Königin, voll Verlangen, sie zu ihrem himmlischen Thron zu geleiten, dass sie aus der Hand Gottes die Krone ihrer Herrlichkeit empfange.

3. Manchen mag es seltsam erscheinen, dass in der Heiligen Schrift des Todes Mariä keine Erwähnung geschieht. Indes konnten die Verfasser der Evangelien, die ihren Bericht mit der Himmelfahrt Christi abschlossen, nichts über ein Ereignis schreiben, das erst geraume Zeit nachher eintrat und also außerhalb des Rahmens ihrer Erzählung blieb. Den Aposteln und Evangelisten war es vor allem darum zu tun, dass sie die Hauptwahrheiten des Christentums den Menschen in Wort und Schrift auseinandersetzten. Die Ereignisse aus dem Leben Mariä und die Taten der Apostel berichteten sie nur nebenbei und gelegentlich.

4. Nach der gewöhnlichen Annahme ist die Gottesmutter in Jerusalem aus diesem Leben geschieden. Mehrere spätere Schriftsteller, namentlich Johannes Damaszenus, bezeugen die fromme Überlieferung, dass die Apostel durch Gottes Fügung beim Tod Mariä zugegen gewesen seien (vgl.: der Anhang: Chronologie, vor allem des Lebens Mariä). Den Zenturiatoren gegenüber machte ein Zeitgenosse (Franc. Turrianus, lib. 2. adv. Magdeburgenses pro Defensione Can. Apost.) geltend, dass namentlich der hl. Petrus, der wegen des Verbannungsbefehls des Kaisers Claudius gegen die Juden für längere Zeit Rom verlassen musste, damals eine Reise nach Jerusalem gemacht haben kann, auch ohne dass man ein wunderbares Eingreifen Gottes anzunehmen braucht. Es ist ja selbstverständlich, dass die Apostel ein großes Verlangen hatten, die Mutter Christi vor ihrem Hinscheiden noch einmal zu sehen. Erblickten sie doch in Maria ihre Mutter und Lehrmeisterin, ja die vorzügliche Säule der Urkirche.

5. Der heilige Leib der entschlafenen Gottesmutter wurde der genannten Überlieferung zufolge in Gethsemane beigesetzt. Andreas von Kreta, Erzbischof von Jerusalem, spricht von diesem Grab der seligsten Jungfrau, das einst in großer Verehrung gestanden habe und durch Wunder verherrlicht worden sei (In orat. 3. de assumpt. Virginis. MG 97, 1103 A.).

Die Zenturiatoren (Cent. I lib. 1., de Maria Virgine c. 10. p. 280 A.) nehmen Anstoß daran, dass Nikephorus in seinem Bericht über den Tod Mariä auch von einem feierlichen Leichenbegräbnis spricht, das die anwesenden Apostel und Gläubigen ihr bereitet hätten. Solche Bestattungsfeierlichkeiten unter Psalmengesang und mit Anwendung von brennenden Kerzen und Blumenspenden seien erst viel später aufgekommen, und nicht schon in den apostolischen Zeiten üblich gewesen.

Und doch erwähnt schon die Apostelgeschichte, dass die Christengemeinde von Jerusalem eine große Trauerklage veranstaltet habe über den gesteinigten Stephanus, den die Brüder zu Grab trugen (Vgl. Apg 8, 2). Hieronymus aber will unter dieser Trauerklage eine öffentliche Bestattungsfeier verstanden wissen, woran eine große Menge teilgenommen habe. So war es denn auch, wie Gregor von Nazianz sagt (Orat. 2. in Julian. n. 16. MG 35, 683 B.), bei den Christen üblich, dass bei feierlichen Leichenbegräbnissen den Toten zu Ehren Lieder gesungen und Fackeln getragen wurden.

Wann wäre aber eine solche Ehrung mehr am Platz gewesen, als bei der Bestattung der heiligsten Gottesmutter? Dürften wir da nicht mit noch weit größerer Berechtigung als bei irgendeiner andern christlichen Leichenfeier die Frage des hl. Chrysostomus wiederholen (Homil. 4. in cap. 2. n. 3. epist. ad Hebr. MG 63, 43): "Was bedeuten die Fackeln bei der Begräbnisfeier, was die Gesänge? Wollen wir nicht damit Gott verherrlichen?"

Drittes Kapitel: Die leibliche Himmelfahrt Mariä

1. Nach der allgemeinen Überzeugung der Kirche hat Gott neben den andern großen Vorrechten seiner Mutter auch diese besondere Auszeichnung verliehen, dass er ihren heiligen Leib vor der Verwesung bewahrte und kurze Zeit nach der Grablegung wieder zum Leben erweckte, um ihn der Verklärung und der himmlischen Herrlichkeit der Seele teilhaftig zu machen. Bis jetzt hat die Kirche diese Lehre zwar noch nicht in feierlicher Weise als Glaubenssatz ausgesprochen; man darf sie aber deswegen nicht nur als eine fromme unsichere Meinung ansehen, die auf den unzuverlässigen, legendenhaften Aussagen einiger Schriftsteller aus früheren Jahrhunderten beruhe.

Das wird uns klar werden, wenn wir zuerst die Zeugnisse genauer prüfen, worin sich diese Überzeugung ausspricht und dann die inneren Gründe erwägen, die ihre Glaubwürdigkeit dartun. Zuletzt wollen wir auf die Einwendungen erwidern, wodurch man die leibliche Himmelfahrt der seligsten Jungfrau bestreitet oder in Zweifel zieht.

2. Um mit den Aussagen der uns näherliegenden Vorzeit zu beginnen, so spricht sich der Fürst der Scholastik, der hl. Thomas von Aquin, also aus (In opusc. 8. circa exposit. salut. Angelicae, edit. Venet. tom. 17, 136): "Wir glauben, dass Maria nach ihrem Tod wieder auferweckt und in den Himmel übertragen wurde." Albert der Große bekennt sich zu derselben Überzeugung und schreibt nicht nur der Gottesmutter, sondern auch allen denen, die zugleich mit dem Herrn wiederauferstanden sind, die doppelte Verherrlichung des Leibes und der Seele in der himmlischen Heimat zu (In ult. caput Joa. tom. 24. 716).

Ebenso gibt der hl. Bernhard (In assumpt. B. V. serm. 1. n. 4 Ml 183,416 C; in "Sign. Magnum", n.6. ML 183, 432 D. ) deutlich zu verstehen, dass er an der leiblichen Himmelfahrt der seligsten Jungfrau keinen Zweifel hegte. Er schildert den Jubel der Himmelsbewohner, da sie die Stimme Mariä hören, ihr Antlitz schauen und ihre freudebringende Gegenwart genießen durften. Ferner sagt er von Maria, Christus habe sie als seine über alles geliebte Mutter mit dem Prachtgewand der himmlischen Glorie bekleidet und die herrlichste Krone ihr aufs Haupt gesetzt. Nicht weniger deutlich und bestimmt lauten die Zeugnisse der orientalischen Kirche, die uns bis ins achte und siebente Jahrhundert zurückführen. So sagt der hl. Andreas von Kreta, Erzbischof von Jerusalem (Sermo 2. in dormit. B. V. MG 97. 1082 et 1079.), von der heimgegangenen Gottesmutter: "Wie ihr jungfräulicher Schoß bei der Geburt nicht verletzt worden war, so blieb ihr Leib auch nach dem Tod unversehrt. Bei der Geburt ist sie bewahrt geblieben vor jeder Verletzung, und als sie tot im Grab lag, durfte die Verwesung ihr nicht nahen. Bis auf den heutigen Tag bleibt dieses Grab leer; das ist eine bezeugte Tatsache, und sie bestätigt die Wirklichkeit der stattgefundenen Übertragung."

Und an einer andern Stelle spricht er ausdrücklich von der Auferweckung des heiligen Leibes Mariä und von seiner Aufnahme in den Himmel. "Die den Urheber des Lebens geboren hatte, ward dem Leben wiedergegeben und an den Ort versetzt, wo der Urquell immerwährenden Lebens ist, wo es nichts Wandelbares und Vergängliches gibt, wo alle Mühsale und Leiden des Erdenlebens ein Ende haben, wo man allen lästigen Wechselfällen entrückt ist. Kurz, der heutige Tag bot dem Himmel das einzig schöne Schauspiel des Einzugs seiner Königin und ihrer Begrüßung seitens der ewigen, unerschaffenen Weisheit. Worin diese bestand, das kann nur derjenige vollständig erfassen, der den Leib und die Seele Mariä einst miteinander vereinigt hatte, und der sie jetzt nach kurzer Trennung von neuem und für immer verband." - Der heilige Patriarch von Konstantinopel Germanus († 733) redet Maria mit folgenden Worten an (Sermo 1. de dormit. B. v. M. MG 96, 346 A.): "Dein Geist lebt fort für immer, und dein Leib ist von der Verwesung des Grabes nicht berührt worden." Und an einer andern Stelle: "Der Leib der seligsten Jungfrau, der bereits vom Tod wieder auferweckt worden, ist mit der Gabe unbehinderter Geistigkeit ausgestattet, da er in den Zustand vollkommener Unsterblichkeit und Unversehrtheit umgestaltet wurde."

3. Ausführlich hat der hl. Johannes von Damaskus die Gründe dargelegt, die eine baldige Wiedererweckung des heiligen Leibes der Gottesmutter und seine Aufnahme in den Himmel als angemessen erscheinen lassen. Es sagt nämlich (Homil. 2. in dormit. B. V. n. 14. MG 96, 742 A.): "Wie der heilige Leib, den das Wort Gottes aus Maria angenommen, der Verwesung und Auflösung nicht unterworfen war und am dritten Tage aus dem Grabe erstand, so war es angemessen, dass auch die Mutter Christi ihrem Grab entrissen und zu ihrem Sohn empor getragen wurde. Es schickte sich, dass sie, zu der Gottes Sohn hatte hinabsteigen wollen, und die er mehr als alle andern liebte, nun zu ihm erhoben wurde in sein größeres und vollkommeneres ZeIt, nämlich in den Himmel. Die das göttliche Wort in ihrem Schoß beherbergt hatte, musste nun in das Gotteszelt ihres Sohnes versetzt werden. Wie Christus der Herr nach seinen eigenen Worten in dem sein musste, was seines Vaters ist, so musste auch die Mutter im königlichen Palast ihres Sohnes, im Haus des Herrn und in den Vorhöfen des Hauses unseres Gottes ihre Wohnung haben. Sie, die der Vater zur Braut erkoren hatte, musste in das himmlische Brautgemach eingeführt werden. Maria, die ihren Sohn am Kreuz gesehen und bei diesem Anblick vom Schwert des Schmerzes, das sie bei der Geburt verschont hatte, ins Herz getroffen wurde, musste ihn nun in seiner Herrlichkeit zur Rechten des Vaters thronen sehen."

Kurz hat Dionysius Rickelius (der Kartäuser genannt) diese Gründe zusammengefasst, indem er sagt, es sei ohne Zweifel überaus geziemend gewesen, dass Christus in seiner göttlichen Allmacht seine aller Ehre würdige Mutter nicht nur der Seele, sondern auch dem Leib nach verherrlichte und belohnte, wie es seiner Großmut entsprach. Er hat also sicherlich nicht den reinsten Leib, aus dem er seinen eigenen mit der Gottheit vereinigten Leib gebildet und angenommen, in Staub zerfallen oder zwar unverwest, aber unbekannt und unverehrt der Vergessenheit anheimfallen lassen.

Wir können also auch in Bezug auf dieses besondere Vorrecht Mariä mit allem Recht den Schluss ziehen: Es geziemte sich, dass Christus seiner Mutter die Ehre der leiblichen Himmelfahrt zuteil werden ließ. Also hat er in seiner unbegrenzten Macht und Güte auch wirklich Maria diese Verherrlichung erwiesen und durch diesen letzten Ehrenvorzug alle vorher ihr verliehenen Vorrechte gekrönt.

4. Nicht alle, die sich von der alten Kirche losgesagt, haben deswegen auch die katholische Überlieferung von der leiblichen Aufnahme Mariä in den Himmel preisgegeben. So bekennt sich der Nachfolger Zwinglis, Bullinger, zur alten Tradition, wenn er schreibt: "Wir glauben, dass der heilige Leib der jungfräulichen Gottesmutter Maria, der das reinste Brautgemach und der heilige Tempel des Heiligen Geistes ist, in den Himmel aufgenommen worden ist (Lib. de origine erroris, cap. 16)." Brenz gesteht wenigstens zu, es sei wohl möglich, dass Maria auch dem Leib nach in den Himmel versetzt worden sei. Auch Henoch sei ja seinem Leib nach der Erde entrückt, und viele Heilige seien mit Christus aus ihren Gräbern auferstanden, wie die Schrift sage. Ganz sicher aber ist es, fügt er dann bei, dass Maria die ewige Glückseligkeit erlangt hat (Hom. I. in die assumpt. Virg.).

5. Viele jedoch wollen sich nicht dazu verstehen, die Lehre von der leiblichen Himmelfahrt Mariä anzunehmen. Die Heilige Schrift sage ja nichts darüber, und es hänge auch nichts von der Beantwortung dieser Frage ab, weil sie ja für unser Seelenheil nicht in Betracht komme. Alles, was man darüber disputiere, sei unnützes Gerede. Das ist eben die Taktik der neuen wie der alten Irrlehrer, bei allen ihren willkürlichen Behauptungen und Leugnungen sich auf die Schrift zu berufen, die allein maßgebend sei, und zwar nur in dem Sinne, den sie darin zu finden meinen.

Die Lehrer der Vorzeit haben jedoch in der Heiligen Schrift manche Andeutungen und Bestätigungen der katholischen Überliferung in dieser Sache ausfindig gemacht. So haben z. B. Nikephorus (Eccl. hist. 1. 2. C. 23. MG 145, 815 C.) und Glykas in dem Ausspruch des Psalmisten: "Erhebe dich, Herr, zu deiner Ruhestätte, du und die Lade deiner Heiligung" (Ps 131, 8) einen Hinweis auf die Himmelfahrt Christi und die Aufnahme seiner Mutter in die Herrlichkeit ihres Sohnes gesehen. "David wusste, schreibt Glykas (Annal. p. 3. MG 158, 439 C.), dass Maria, die Christus in ihrem Schoß getragen und deshalb als Lade der Heiligung bezeichnet werden darf, ebenso aus dem Grab zum Leben wiedererstehen sollte, wie Christus, der Sohn Gottes, der aus Maria geboren werden wollte. Deshalb hat der Prophet mit Recht diese zweifache Auferstehung von den Toten und ihre gegenseitige Beziehung in anschaulicher Weise zur Darstellung gebracht. Darum hat er den Worten: ,Erhebe dich, o Herr', noch die andern hinzugefügt: ,und die Lade deiner Heiligung'."

Ein anderes Psalmwort lautet: "Es stand die Königin zu deiner Rechten in goldgewirktem Gewand, umgeben von bunter Pracht" (Ps 45, 10). Nach der Erklärung von Glykas (Annal. p. 3. MG 158, 439 C.) ist unter dieser Königin die allzeit jungfräuliche Gottesmutter zu verstehen, die nach ihrem Tod wieder mit ihrem Leib bekleidet worden ist und nun in nächster Nähe ihres Sohnes stehend, zugleich mit diesem unsterblichen König herrscht und regiert. Das will nicht besagen, dass sie dieselbe Machtvollkommenheit besäße wie ihr göttlicher Sohn, sondern dass dieser seine heiligste Mutter auch ihrem Leib nach mit Unsterblichkeit und unvergänglicher Herrlichkeit geschmückt und über alle andern Seligen erhöht hat, die in Maria ihre Königin bewundern und verehren, wie sie in Christus den König der Könige erkennen und anbeten. In demselben Sinne erklärt der selige Amadeus (Homil. 2. de assumpt. B. V. ML 188, 1341 C.) die angeführte PsalmsteIle. Auch auf jenes Wort der Heiligen Schrift können wir uns berufen, das Gott nach dem Sündenfall zu Eva gesprochen: "Ich will vervielfältigen deine Bedrängnisse und Wehen, in Schmerz sollst du deine Kinder gebären und unter der Gewalt des Mannes sein" (Gen 3, 16). Von diesem allgemeinen Strafgesetz, das nicht nur für Eva, sondern für das gesamte weibliche Geschlecht gegeben war, hat Gott seine Mutter, die Gebenedeite unter den Frauen, ausgenommen, sie allein hat ohne allen Schmerz geboren. Darin stimmen alle Gottesgelehrten überein. Warum sollten wir also nicht annehmen dürfen, dass dieselbe göttliche Güte die Gottesmutter auch vor jenem andern Fluch bewahrt habe, wodurch alle Sterblichen der Verwesung und Auflösung in Staub verfallen waren, kraft des allgemeinen Strafurteils: "Du bist Staub und sollst zum Staub zurückkehren" (Gen 3, 19).

6. Aber wie kommt es denn, so wendet man ein, dass ein so gründlicher Kenner der Heiligen Schrift wie Hieronymus sich nicht bestimmt für die leibliche Himmelfahrt Mariä hat erklären wollen, vielmehr seine Unkenntnis oder Unsicherheit in dieser Frage offen eingestand?

Darauf ist zu erwidern, dass allerdings unter den Werken des hl. Hieronymus ein Buch über die Himmelfahrt der seligsten Jungfrau angeführt wird (Epist. 9. ad Paul. et Eustoch. ML 30, 126 sqq.). Es steht jedoch fest, dass diese Schrift nicht vom hl. Hieronymus selbst herrührt. Der unbekannte Verfasser warnt seine Leser vor einem im Morgenland erschienenen Buch über den Heimgang der seligsten Jungfrau, das mehr dem frommen Gefühle als der Wahrheit Rechnung trage. Immerhin erkennt auch dieser Schriftsteller die Tatsache an, dass schon damals der Glaube an die leibliche Aufnahme Mariä in den Himmel immer mehr Anklang fand und mit vielen Beweisgründen verteidigt wurde.

7. Man hält uns ferner den Ausspruch des Papstes Gelasius I. (492-496) entgegen, der auch ein Buch "Über den Heimgang der hl. Maria" als unecht und unglaubwürdig verurteilt habe.

Es ist gewiss zuzugeben, dass solche unzuverlässige Schriften über den Tod und die Himmelfahrt Mariä erschienen, eine sogar unter dem Namen des hl. Apostels Johannes. Auch einige Sektierer, wie z. B. der Manichäer Seleukus und andere, deren Rechtgläubigkeit zweifelhaft war, hatten Schriften über das Leben und den Tod der Gottesmutter unter das Volk geworfen. Da ist es nicht zu verwundern, dass Papst Gelasius seine Zeitgenossen davor warnte, derartigen Schriften Glauben zu schenken, die Wahres mit Falschem vermischten und sogar manches enthielten, was dem wahren Glauben zuwiderlief. Wie dürfte man aber daraus folgern, dass alles, was so heilige und glaubwürdige Zeugen der alten Überlieferung, wie sie oben angeführt wurden, lehren, auf apokryphe Schriften und Erzählungen zurückzuführen sei?

8. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass in der griechischen Kirche schon bald nach dem Konzil von Ephesus, in der lateinischen wenigstens seit dem sechsten Jahrhundert das Fest der Aufnahme Mariä alljährlich feierlich begangen wurde. Schon diese Art der Benennung, die bei keinem andern Heiligenfeste angewandt wird, weist darauf hin, dass die Kirche nicht nur die Verherrlichung der Seele Mariä, sondern auch die Verklärung und Erhöhung ihres mit der Seele wiedervereinten Leibes den Gläubigen vor Augen stellen wollte. Diese Anschauung hat sich denn auch so allgemein bei den Gläubigen eingebürgert, dass etwaige Leugner der leiblichen Himmelfahrt Mariä in den Ruf vermessenen Widerspruchsgeistes und unkatholischer Gesinnung geraten würden.

So rufen wir denn mit unserer Mutter, der Kirche: "Aufgenommen ward Maria in den Himmel. Des freuen sich die Engel, lobsingend preisen sie den Herrn. Die Jungfrau Maria ist aufgenommen worden in das himmlische Brautgemach, in dem der König der Könige auf sternenverziertem Thron sitzt. Erhöht wurde die heilige Gottesmutter über die Chöre der Engel ins himmlische Reich."

Viertes Kapitel: Das Fest der Himmelfahrt Mariä

Das Fest der Himmelfahrt Mariä gilt in der alten Kirche als Hauptehrentag Unserer Lieben Frau. Die sogenannte Reformation hat dieses Fest abgeschafft. Die Gründe, die man dafür vorgegeben und die Kritik, die man an der Festmesse dieses Tages geübt (Siehe V. Buch, 6. u. 7. Kapitel).

1. Die katholische Kirche betrachtet den Tag, an dem sie die Aufnahme Mariä in den Himmel festlich begeht, als den größten Ehren- und Freudentag Unserer Lieben Frau. An diesem Tag ward ja ihrer Seele und ihrem Leib das höchste und vollkommenste Glück zuteil. Mehr noch als je zuvor hat da ihr Geist, ihr Gemüt und ihr Leib frohlockt im beseligenden Aufschwung zum lebendigen Gott. Jetzt war wirklich an ihr alles in Erfüllung gegangen, was ihr vom Herrn verheißen und was über sie war vorhergesagt worden. Alle, die Maria und ihren Sohn lieben, müssen darum an diesem Tag ihr voll Freude Glück wünschen und ihr zujubeln: Selig bist du, denn du hast nicht nur geglaubt, was Gott dir gesagt, sondern heute hast du auch die Frucht und den Lohn des Glaubens und jeglicher Tugend erlangt; er, auf den alle deine Liebe und Sehnsucht von jeher gerichtet war, ist jetzt ganz dein, du darfst ihn anschauen und seine Seligkeit genießen immerdar. - Müssen wir uns nicht freuen an diesem Tag, an dem die reinste Seele Mariä von unserer Erde sich hinaufschwang zu ihrem Gott? Welch eine kostbare Frucht hat heute die Wüstenei der Welt dem Himmel schenken dürfen! Die Stadt Gottes und alle ihre Bewohner staunten deren Schönheit an und fühlten sich wunderbar erquickt von ihrem lieblichen Duft. Und als auch der jungfräuliche Leib, aus dem Grab auferweckt, mit seiner heiligsten Seele wieder vereint, unter dem Jubel der seligen Geister, die ihre Königin geleiteten, in das himmlische Paradies seinen Einzug hielt, da strahlte im Glanze dieses hellen Lichtes die weite Himmelsau mit all ihren funkelnden Sternen in neuer vermehrter Pracht. o glücklicher Tag, der die demütigste Magd des Herrn zu solcher Höhe erhoben hat, dass sie die mächtige Königin des Himmels und Herrin der Welt geworden ist.

Auch uns hat dieser Tag Glück gebracht, denn er hat uns in Maria eine ebenso mächtige Königin wie gütige Mutter zur Fürsprecherin am Thron Gottes bestellt. Wohl bleibt sie stets die Mutter unseres Richters, aber als Mutter der Barmherzigkeit verwendet sie sich zu unsern Gunsten bei ihrem Sohn, und unablässig ist sie darauf bedacht, unser Heil uns zu sichern.

2. Dieses altehrwürdigeHochfest der heiligsten Gottesmutter, das in der griechischen wie in der lateinischen Kirche stets mit Freude und Begeisterung gefeiert wurde, ist jedoch für einen großen Teil der von der Kirche Getrennten zum Stein des Anstoßes geworden. Sie wollen dieses Fest gänzlich beseitigt wissen, und in vielen ihrer Gemeinden ist es tatsächlich bereits abgeschafft worden. In ihrem offiziellen Festverzeichnis wird es nicht mehr angeführt. Die Gesänge und Lobreden, die bisher zum Preis des heiligen Hinscheidens und der glorreichen Verklärung und Erhöhung der Gottesmutter und Himmelskönigin erklungen sind, müssten, wenn diese Neuerer ihren Willen durchsetzen könnten, für immer verstummen.

Gereicht denn nicht alle Ehre, die wir Maria erweisen, auch zur Verherrlichung Christi? Umgekehrt muss jede Vernachlässigung und Beleidigung der Mutter von ihrem Sohn als eine ihm selbst zugefügte Kränkung empfunden werden und seinen Zorn herausfordern.

Wo bleibt übrigens die Konsequenz in der Handlungsweise dieser Leute? Festlich begehen sie z. B. den Todestag des Erzmartyrers Stephanus, und mancherorts weihen sie auch der einstigen Sünderin und nachmaligen Büßerin, von der das Evangelium erzählt, ein eigenes Fest. Und nun weigern sie sich auf einmal, den Tag des Heimgangs der reinsten Jungfrau und Himmelskönigin in irgendeiner besonderen Weise zu feiern, wo doch an diesem Tag Maria ihr himmlisches Leben anfing und von ihrer Herrlichkeit Besitz nahm, wodurch sie alle übrigen Heiligen überstrahlt.

3. Überdies muss man es als eine unbegreifliche Anmaßung bezeichnen, wenn Privatpersonen, die sich in keiner Weise auf eine amtliche Befugnis stützen können, sich zu Richtern in religiösen Dingen aufwerfen und über althergebrachte und erprobte Gebräuche sich hinwegsetzen, ja öffentlich sie verächtlich zu machen und abzuschaffen sich unterfangen. Sie mögen uns sagen, in wessen Namen und Auftrag sie sich solches herausnehmen. Auf einen göttlichen Auftrag können sie sich nicht berufen. Denn Gott hat die Sorge für alle religiösen Angelegenheiten der geistlichen Autorität übertragen (Dtn 17, 18, 19). Aus dem Evangelium können sie ihre Vollmacht nicht herleiten, denn dieses verlangt, dass man denen, die rechtmäßig den Lehrstuhl der Religion einnehmen, Ehrfurcht und Gehorsam erweise, selbst wenn ihr persönlicher Wandel mit ihrem Amt und ihrer Lehre in Widerspruch steht (Mt 23, 2, 3). Sie können nicht der apostolischen Sendung sich rühmen; denn die überträgt die Leitung der Herde den Hirten, und unterwirft das Volk in allen geistlichen Dingen den Bischöfen (Hebr 13, 17; 2 Tim 4, 3).

Die kirchliche Autorität aber hat die Einsetzung der religiösen Feiertage und die Abänderung der Festordnung niemals den staatlichen oder bürgerlichen Obrigkeiten überlassen, vielmehr solche Einmischung ihnen streng untersagt.

Die Neuerer können also keinen wahren Rechtstitel für ihr Verfahren geltend machen, sondern nur auf den Grundsatz der Willkür und Gewalttätigkeit sich berufen: Ich will es nun einmal so, und darum gebiete ich es; der Wille des Gewalthabers macht jeden anderen Grund unnötig. Nach diesem herrlichen Grundsatz handelt in der Tat die sogenannte reformierte Kirche. Alle Arten von Ausschweifung, Schmausereien, Trinkgelage, Tanzlustbarkeiten, kurz jede weltliche Beschäftigung duldet sie an ihren Feiertagen; diesen heiligen Ruhetag aber, der zu Ehren der Gottesmutter begangen wird, kann sie nicht ertragen. Sie will es nicht leiden, dass man das Volk im Geist des Evangeliums dazu anhalte, Maria zu lieben und zu verehren und so in ihr Gott zu loben, der sie zur höchsten Würde und Gnade erwählt und zu so großer Heiligkeit und Herrlichkeit empor geleitet hat. Mögen die von der Kirche abtrünnig Gewordenen immerhin ihre neuen, ungerechten Satzungen aufstellen und geltend zu machen suchen, indem sie, um mit dem Propheten zu sprechen, die Finsternis für Licht ausgeben und das Licht Finsternis nennen (Vgl. Jes 10, 1 und 5, 20). Es wird endlich doch einmal die Zeit kommen, wo sie zu ihrem großen Schaden es empfinden werden, dass es keine Kleinigkeit ist, die Mutter des Erlösers der ihr gebührenden Ehre zu berauben und gegen Christus in seiner erhabenen Mutter mit solcher Vermessenheit anzukämpfen.

4. Die Neuerer suchen jedoch ihrem Vorgehen den Schein berechtigten Eifers zu geben. Sie tun, als wollten sie nur die Missbräuche aus der Welt schaffen, die mit diesem "papistischen Feiertag" verbunden seien.

Indes ist nicht alles in Wirklichkeit ein Missbrauch, was die Neuerer als Missbrauch ausgeben. Das Urteil der Neuerer ist in solchen Sachen ebenso wenig zuverlässig wie das eines Kranken über den Geschmack der Speisen. Wirkliche Missbräuche muss man eben abzustellen suchen. Freilich wird man sie nie vollständig beseitigen oder verhüten können, wie die Geschichte der Kirche beweist. Man suche also, die Übelstände soviel wie möglich zu beseitigen, aber auf rechtmäßigem Weg, nicht mit fanatischer Willkür. Man schneide die Auswüchse ab, jedoch ohne dem Baum selbst zu schaden. Was nützt eine Arznei, die, statt die Krankheit zu heilen, sie vielmehr verschlimmert? Weit mehr als alle Missbräuche sind jene Irrtümer zu beklagen, die den Leib Christi zerfleischen. Darum gilt es vor allem, diese abzuwehren. - Dürfte man etwa die Sonntagsfeier abschaffen, weil sie durch manche Missbräuche entstellt worden ist? Viele benutzen ja die Sonntagsruhe zu sündhafter Ausgelassenheit an statt zur eifrigen Ausübung der Frömmigkeit und gottgefälliger Werke. Die neuen Lehrer müssen das nur allzu sehr bei ihren eigenen Leuten erfahren.

5. Mehr Mäßigung zeigen diejenigen, die das Hochfest Mariä nicht gänzlich vernachlässigt und abgeschafft wissen wollen, vielmehr in ihren Predigten darauf zu sprechen kommen und das Evangelium des Festes zum Gegenstand ihrer Erklärung nehmen. So hat Luther selbst an diesem Festtag öffentlich darüber zum Volk geredet. In dieser Predigt macht er indes folgende Bemerkung: "Ohne Zweifel müssen wir glauben, dass die Gottesmutter fortlebt; wie aber jetzt ihr Leben beschaffen sei, das müssen wir Gottes Fürsorge überlassen (Postilla circa enarrat. evang. de festo Nativ. Virg. W. 10, III. 269,10)."

Es wäre sicherlich zu tadeln, wenn jemand müßige und neugierige Erwägungen anstellen wollte über die unbeschreibliche Seligkeit und Herrlichkeit, die Maria im Himmel besitzt. Der obige Ausspruch Luthers enthält aber einen weiter zielenden Vorwurf. Er richtet sich gegen alle Lehrer und Prediger der alten Kirche, die den triumphierenden Einzug Mariä in den Himmel, den Jubel der sie begleitenden und begrüßenden Engelscharen und den ehrenvollen Empfang beschreiben, den Christus seiner geliebten Mutter bereitete. Es entspricht aber offenbar dem Charakter dieses Festes, dass wir uns nicht mit einem einfachen Glaubensakt an das Fortleben Mariä im Himmel begnügen, sondern auch in wahrer Liebe uns über ihre Erhöhung mit ihr selbst und mit allen Engeln und Seligen von Herzen freuen. So wird die Betrachtung der Herrlichkeit, womit Gott seine heiligste Mutter im Himmel gekrönt hat, uns kräftig anregen, ihr auch auf Erden die gebührende Verehrung zu erweisen. Das ist die Absicht der Kirche, wenn sie an diesem Tag ihren Kindern zuruft: "Lasset uns alle im Herrn uns erfreuen und diesen Tag festlich begehen zu Ehren der seligsten Jungfrau Maria, über deren Aufnahme in den Himmel die Engel sich freuen und dem Sohn Gottes lobsingen." Zu dieser geistlichen Festfreude werden die Gläubigen um so wirksamer und kräftiger angeregt werden, je eingehender ihnen die wunderbare Glückseligkeit vor Augen gestellt wird, die Gott der Seele und dem Leib der heiligsten Jungfrau verliehen hat in einem weit höheren Maße, als allen anderen Seligen. - Mit aller Entschiedenheit lehnen wir also die Denkweise Luthers ab, weil sie haltlos und der Anschauung der Kirche wie den Schriften der Väter zuwider ist. Seine Äußerung läuft schließlich darauf hinaus, man brauche der Herrlichkeit der Himmelskönigin keine größere Beachtung und Bewunderung zu schenken, als der des guten Schächers, der durch seine Bekehrung unmittelbar vor dem Tod Verzeihung erlangte. Das heißt aber dem listigen Feinde des menschlichen Heiles in die Hände arbeiten, der sehr gut weiß, welchen Nutzen die Gläubigen aus der Betrachtung der Himmelfahrt der seligsten Jungfrau und aus der Freude über ihre Erhöhung zu gewinnen pflegen und wie sehr dadurch die Ehre Gottes, der so Großes an ihr getan, gefördert wird.

6. Auch an der Festmesse von Mariä Himmelfahrt üben die Neuerer ihre unberechtigte und gehässige Kritik.

In der Epistel dieses Tages, so sagen sie, wende die Kirche manches auf Maria an, was im Buche Sirach, woraus die Lesung genommen ist, nur von der ewigen Weisheit gesagt sei. In diesem Sinne hat Luther die Bemerkung gemacht (Postilla circa enarrat, evang. de festo Nativ. Virg. W 10, III. 269, 10), man habe in dieser Epistel die Worte, die auf die göttliche Weisheit, nämlich Christus, Anwendung finden, mit Gewalt verdreht. Von Christus sei gesagt, dass er vor aller Zeit gewesen, und dass in ihm alles erschaffen ist. "Wenn das aber der Gottesmutter Maria beigelegt wird, so ist es eine reine Lüge und eine Gotteslästerung."

Darauf ist zu erwidern, dass nicht selten eine und dieselbe Schriftstelle in mehrfachem Sinn gedeutet werden kann, und zwar nach der Absicht Gottes selbst, wie der hl. Augustinus sagt (Lib. 3. de doctrina Christiana, cap. 27. n.38. ML 34,80). Darum überträgt der Apostel z. B. auf das himmlische Jerusalem, was anderswo über die Stadt Jerusalem geschrieben stand (Gal 4, 24 f.). Dasselbe tut der hl. Johannes in der Geheimen Offenbarung (21, 2). So wird namentlich, wie ebenfalls der hl. Augustinus hervorhebt (L. c. cap. 31. n.44. ML 34, 82), manches, was zunächst von Christus als Haupt der Kirche ausgesagt wird, auf die Kirche, die seinen mystischen Leib ausmacht, übertragen oder auch umgekehrt. Christus und seine Kirche werden so gleichsam als eine und dieselbe Persönlichkeit aufgefasst. Demnach hätte Luther sich nicht so sehr darüber zu ereifern brauchen, dass die Kirche den Lobpreis, den das Buch Sirach der ewigen Weisheit spendet, nicht auf Christus allein beschränkt, sondern auch auf Maria ausdehnt, die als Mutter Christi das vorzüglichste Glied seines geheimnisvollen Leibes ist. Damit will die Kirche gewiss nicht die Mutter Christi ihrem Sohn gleichstellen, den sie als göttliche Person anbetet. Gott steht ja unendlich hoch über jedem Geschöpf. Die Ehre, die Christus als dem Urquell alles Guten gebührt, wird aber nicht herabgemindert, sondern erst recht ins Licht gestellt und vermehrt durch die Tatsache, dass er seine Mutter in gewissem Sinne an den Vorzügen, die er von Ewigkeit aus sich selbst besessen hat, wollte teilnehmen lassen. So machte er sie mehr als alle andern Heiligen preis- und verehrungswürdig, wie er sie ja auch dazu erwählt hatte, ihn, die unerschaffene Weisheit selbst, der Welt zu schenken. Was das ewige Wort in einem höheren und vollkommeneren Sinn von sich aussagt, das darf vor allen Engeln und Heiligen Maria in entsprechender Weise auf sich anwenden. Darum darf auch sie sagen: "In allem habe ich Ruhe gesucht, und im Erbteil des Herrn verweile ich. In meinem Zelt nahm er Wohnung, der mich hervorgebracht hat." Und weil sie im Vergleich mit den übrigen Seligen bei weitem den Vorrang in der Glückseligkeit besitzt, so passen auf Maria sehr gut die folgenden Gleichnisse der Zeder, der Palme, des Rosengartens, des Ölbaumes und der hochragenden Platane. Die frommen und unbefangenen Gläubigen stoßen sich nicht an solchen Bildern, sondern gehen freudig und dankbar auf die Absicht ihrer Mutter, der Kirche, ein, die ihnen so in der Sprache der Heiligen Schrift die unbeschreibliche Hoheit der Würde und Glückseligkeit Mariä veranschaulichen und diese ganz geistigen und himmlischen Dinge ihrer Erkenntnis näher bringen will.

7. Ebenso haben manche Neuerer die Kirche wegen der Wahl des Evangeliums getadelt, das sie für die Festmesse von Mariä Himmelfahrt bestimmt hat. Sie bringt nämlich die evangelische Erzählung über das Verhalten der beiden Schwestern Martha und Maria Christus, ihrem Gaste, gegenüber und wendet die Worte, womit der Herr Marthas Klage über ihre Schwester erwiderte, auf die seligste Jungfrau an.

Butzer entrüstet sich über eine so erbärmliche Verdrehung des evangelischen Berichtes, den man auf gewaltsame Weise mit der Aufnahme Mariä in den Himmel in Beziehung zu bringen suche.

Nun ist es freilich wahr, dass in diesem Evangelium der Gegenstand des Festes mit keiner Silbe erwähnt wird. Die Evangelisten haben überhaupt über den Tod und die Himmelfahrt Mariä nichts berichtet. Die Gründe dieses Schweigens sind oben angeführt worden. So hat also die Kirche die besagte Episode als Festevangelium aufgenommen. Die überlegene Weisheit der neuen Lehrer hätte sicherlich eine passendere Auswahl zu treffen gewusst. Die Lehrer der Vorzeit aber fanden ohne Schwierigkeit die Vergleichungspunkte zwischen diesem Evangelium und dem Geheimnis des Festes heraus. So schreibt z. B. ein alter Schrifterklärer: Maria hat Christus aufgenommen, und zwar in einem höheren Sinne als Martha. Sie hat ihn ja empfangen, geboren und getragen, und beständig ihm ihre Pflege und Arbeit gewidmet. Sie lauschte aber auch aufmerksam auf sein Wort und bewahrte es in ihrem Herzen; so konnte sie es später andern erzählen, auf dass auch wir es zu hören bekämen.

Ganz besonders passt aber auf Maria und ihre Himmelfahrt der Schlusssatz des Evangeliums: "Maria hat den besten Teil erwählt, der niemals wird von ihr genommen werden" (Lk 10, 42)

(Anmerkung des Übersetzers. Manche neuere Theologen sehen bereits auf den ersten Seiten der Hl. Schrift, im sogenannten Protoevangelium (Gen 3, 15) nicht nur das Vorrecht der unbefleckten Empfängnis Mariä, sondern auch das ihrer leiblichen Aufnahme in den Himmel vorher verkündet. Darin hat Gott selbst unser; Stammeltern gleich nach dem Sündenfall jene Frau in Aussicht gestellt, das durch seinen Sohn der höllischen Schlange den Kopf zertreten würde. In innigster, immerwährender Verbindung mit ihrem göttlichen Sohn und in Kraft seines Erlösertodes sollte die Mutter Christi von Anfang an über Satan und seinen Samen, d. i. die Sünde triumphieren. Vollkomen wurde der Triumph Mariä über den Teufel aber erst dadurch, dass sie an dem Sieg des Auferstandenen über den Tod teilhatte, der durch den Neid des Teufels im Gefolge der Sünde in die Welt gekommen. Demnach durfte Christus seine Mutter nicht in den Fesseln des Todes lassen. Aus dem Grab auferweckt und in den Himmel aufgenommen, sollte sie auch dem Leib nach mit ihrem göttlichen Sohn als "Todesüberwinderin" vereint in die ewige Herrlichkeit eingehen. (S. Pohle, Dogmatik, 2. Bd. S. 296.)

II. Teil: Die Verherrlichung der Gottesmutter

Die Verherrlichung der Gottesmutter und Himmelskönigin Maria in der katholischen Kirche und ihre Anfeindung durch den Protestantismus

Erstes Kapitel: Die erste biblischen Weissagung über Maria

Die in der katholischen Kirche übliche Lesart der ersten biblischen Weissagung über Maria als Besiegerin Satans ist nicht eine Fälschung, wie manche Neuerer schmähen, sondern besteht vollkommen zu Recht. Ebenso lässt sich nichts Stichhaltiges einwenden gegen den alten Satz: Maria ist die Zerstörerin aller Irrlehren (Siehe V. Buch, 9. Kapitel).

1. Die Worte des sogenannten Protoevangeliums, wodurch Gott den sündigen Stammeltern die künftige Erlösung und dem höllischen Verführer seine endgültige Niederlage ankündigte, lauten nach der Vulgata, d. i. nach der von der Kirche anerkannten Übersetzung folgendermaßen: "Siehe, ich will Feindschaft setzen zwischen dir (der Schlange, dem Satan) und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Und sie wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihrer Ferse nachstellen" (Gen 3, 15).

Gegen diese Übersetzung hat nun Luther in folgenden heftigen Ausdrücken Stellung genommen (In 3. cap. Genesis. W. 42,143 [9]): "Wer wird nicht mit Verwunderung oder vielmehr mit Abscheu den böswilligen Plan Satans gewahr werden, der diese trostvollen Worte über den Sohn Gottes vermittels einer albernen Übersetzung auf die Jungfrau Maria abgelenkt hat? In allen lateinischen Bibeln wird hier das weibliche Fürwort gesetzt: Und sie wird dir den Kopf zertreten. Daher haben in der Folge alle späteren Schrifterklärer diesen so überaus heiligen Ausspruch zur Abgötterei missbrauchen können, ohne dass irgend jemand dagegen Einspruch erhoben oder Widerstand geleistet hätte."

Zunächst könnten wir hier die Frage stellen: Stimmt eine solche Redeweise wohl mit der apostolischen Weisung überein, ein Diener des Herrn solle nicht streitsüchtig sein, sondern sich gegen alle sanftmütig zeigen und die der Wahrheit Widerstrebenden mit Bescheidenheit zurechtweisen? (Vgl. 2 Tim 2, 24 f.) Ist es wohl recht, nicht nur die jetzige Kirche, sondern auch die Lehrer der Vorzeit und sämtliche oberhirtliche Stellen der Kirche in aller Öffentlichkeit herunterzureißen und in solch maßloser Weise anzuschuldigen?

2. Falsch ist auf jeden Fall die Behauptung, diese in der lateinischen Kirche gebräuchliche Lesart sei so aufgefasst worden, als ob Maria, und nicht Christus, den Fürsten dieser WeIt besiegt und als ob sie allein den Kopf der Schlange zertreten habe. So schreibt z. B. Rupert von Deutz (Lib. 3. de Trinit. et operib. ejus in Gen. cap. 19. ML 167, 304 D.): "Mit den Worten: ,Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau stellt Gott ein wahrhaft großes Werk seiner Gnade in Aussicht. Den Teufel, der jetzt durch seinen Betrug den Sieg über die Frau davongetragen hatte, sollte einst die Frau seinerseits durch überlegene Stärke überwinden. Diese Feindschaft sollte jedoch nicht durch die Frau selbst, sondern durch seinen Samen betätigt und mit siegreichem Erfolg zu Ende geführt werden."

Die katholische Kirche hat immer geglaubt und gelehrt, dass nur Christus allein durch eigene Kraft den Teufel besiegen und den Fürsten dieser Welt seiner Herrschaft berauben konnte. Christus wollte aber seine Gewalt über Satan auch andern mitteilen. Er sagte ja zu seinen Jüngern: "Sehet, ich habe euch die Gewalt gegeben, über Schlangen und Skorpionen dahin zu schreiten, und über alle Gewalt des Feindes, und nichts wird euch schaden" (Lk 10, 19).

Es braucht uns also nicht wunderzunehmen, wenn in ähnlicher Weise auch von Maria gesagt wird, dass sie den Kopf der Schlange zertreten habe, nicht aus eigener Kraft, sondern in der Kraft dessen, den sie empfangen und geboren hat. Christus machte so seine Mutter zu einer anderen Judith, die den Feind des Volkes Gottes, den höllischen Holofernes, ruhmreich überwand. Dieser Sieg konnte offenbar die Ehre Christi nicht beeinträchtigen, sondern nur sie vermehren, da Christus es war, der in seiner Mutter den Satan besiegte. Wie darf man also der Kirche den Vorwurf machen, sie habe diese Stelle der Heiligen Schrift zur Abgötterei missbraucht, weil sie den Christus allein zukommenden Titel des Siegers Satans auf Maria übertragen habe?

3. Unberechtigt ist ferner der Vorwurf, die lateinische Übersetzung tue dem ursprünglichen Wortlaut dieser Stelle Gewalt an. Denn da heiße es nicht: sie wird der Schlange den Kopf zertreten, sondern er, nämlich der Same der Frau, d. i. ihr Sohn.

Es ist bekannt, dass man in der hebräischen Schrift die Vokale der einzelnen Wörter nicht anzugeben pflegte, sondern nur die mitlautenden Buchstaben. Letztere sind aber dieselben sowohl für die männliche wie für die weibliche Form des Fürworts. So ist es verständlich, dass beide Lesungen aufkommen konnten, je nachdem der Übersetzer glaubte, dieses oder jenes Vokalzeichen hinzufügen zu sollen. Auch unter den griechischen Schriftstellern herrscht darum diese Verschiedenheit. Wir stellen nicht in Abrede, dass auch viele Väter, wie Irenäus (Lib. 5. ctr. haer. c. 21, n. 1. MG 7, 1179 A.), Cyprian (Lib.2. ctr. Iudaeos, cap. 9. ML 4,733 A.) u. a., die Lesung vorgezogen haben: "er wird dir den Kopf zertreten." Diese wenden also die Weissagung direkt auf Christus an, nicht auf Maria. Indes müssen die Neuerer ihrerseits zugeben, dass es auch nicht an Aussprüchen von gelehrten und glaubwürdigen Vätern fehlt, die ebenso wie die offizielle Übersetzung sich für die Lesart entschieden haben, wonach die Weissagung lautet: "und sie - die Frau, die Mutter des Messias - wird dir den Kopf zertreten."

Der hI. Hieronymus, der sprachkundigste von allen Vätern, hat beide Lesarten angewendet. Der hI. Ambrosius hatte wohl die Worte dieser Weissagung im Auge, als er in rhetorischer Weise die Frage steIlte (Orat. in funus Theodosii Caesaris, n. 44. ML 16, 1463 B.): "Was hast du also ausgerichtet, Satan? Maria hat dich besiegt. Sie hat deinen Bezwinger geboren. Ohne an ihrer Jungfräulichkeit Schaden zu erleiden, hat sie den zur Welt gebracht, der am Kreuz dich überwinden und im Tod dich unterjochen sollte." Auch der hI. Chrysostomus hat sich derselben Lesart bedient wie die lateinische Bibelübersetzung, wo er diese Stelle in folgenden Worten erklärt (Cf. Corona aurea Lippomani in cap. 3 Gen. homil. 17 MG 53, 153): "Ich will die Frau zu deiner unversöhnlichen Feindin machen, und nicht nur sie allein. Auch zwischen ihrem Samen und deinem Samen soll ewige Feindschaft herrschen. Sie hat es auf deinen Kopf abgesehen, und du wirst ihrer Ferse nachstellen ... dich aber will ich ihr zu Füßen legen." Und in seinen Homilien sagt derselbe heilige Lehrer (Homil. 46. in Mt In Maurin. Bibl. Edit. Lugdun. 1677. tom. II. 1945 B.): "In Schlachtordnung stehen sich beide Heere gegenüber... In Bereitschaft steht die Frau, den Kopf der Schlange beobachtend und meidend. Sie beobachtet ihn, um ihn zu zertreten, sie meidet ihn, um den Bissen der Schlange auszuweichen. Die Schlange ihrerseits kämpft mit schlauer Vorsicht und boshafter Arglist. Schlau nimmt sie sich davor in acht, vom Fuß der Frau zertreten zu werden, arglistig lauert sie darauf, eine Unachtsamkeit der Frau zu erspähen und zum tödlichen Biss auszunutzen .... Freudig sieht Gott diesem Kampf zu, gern schenkt ihm seine Aufmerksamkeit Christus der Herr, auf den Augenblick harrend, in dem die Frau seinen unverletzten Fuß der Schlange auf das Haupt setzen und so den Sieg über sie gewinnen wird."

Übrigens hat die Kirche die andere Lesart - er wird dir den Kopf zertreten" - niemals missbilligt. Diese findet sich ja nicht nur in den griechischen Bibelausgaben, sondern auch in manchen lateinischen Schriften der ältesten Vorzeit angewandt; die heftigen Angriffe, die wegen des einen Wörtleins von den Neuerern vom Zaun gebrochen wurden, sind demnach gänzlich unberechtigt. Der eigentliche Grund dafür liegt eben in dem versteckten Hass, der diese Leute gegen Maria und ihre Verehrung erfüllt.

4. Wie der Sieg über Satan, so wird Maria auch die Überwindung der Irrlehren zugeschrieben. Die Häresien sind ja die giftige Saat, die der böse Feind auf dem Acker Gottes von jeher ausgestreut hat. Wie der hI. Bernhard bemerkt, hat die höllische Schlange immer wieder der Ferse ihrer Besiegerin nachgestellt. Aber trotz aller Arglist hat sie nie Erfolg gehabt. "Maria allein hat alle häretische Bosheit besiegt (Cf. Serm. de Maria Virg. ex verbis Apocal. n. 4. ML 183, 431 C.)."

Diesen letzten Satz hat der hI. Bernhard der Kirche nachgesprochen, die in ihrem offiziellen Gebet schon seit Jahrhunderten Maria zugerufen: "Freue dich, o Jungfrau Maria, du hast alle Irrlehren zuschanden gemacht, weil du den Worten des Erzengels Gabriel Glauben geschenkt hast." So ist sie ja die Mutter dessen geworden, der die ewige Wahrheit selbst ist und durch den Glanz seines Lichtes die Finsternis aller Irrtümer verscheucht hat. Maria hat in höherem Grad als alle andern den siegreichen Glauben an die göttliche Macht und Majestät Christi in sich aufgenommen und bewahrt. Durch diesen festen, unerschütterlichen und bewunderungswürdigen Glauben hat sie sich bewährt als glorreiche Führerin im Kampf gegen alle Irrlehren. Namentlich aber hat sie jene verderblichen, der Hölle entstiegenen Häresien zu Schanden gemacht, wodurch die Arglist Satans das Geheimnis der göttlichen Person Christi und der zwei in ihr vereinten Naturen zu fälschen suchte. Die siegreiche Kraft, die wir Maria zuschreiben zur Bekämpfung und Niederwerfung der Irrlehren, gereicht also in Wahrheit zur Verherrlichung Christi. Die Neuerer haben demnach gar keinen Grund, ein e Schmälerung der Ehre Christi darin sehen zu wollen. In ihrer Verblendung erkennen sie nicht, wie viel Trost und Kraft die Kirche in dem Bewusstsein findet, in Maria eine allzeit getreue Mutter und Beschützerin im Himmel zu besitzen, die ihr alles Licht und alle Hilfe erfleht, die Nachstellungen dieser Geister des Irrtums ohne Mühe zu erkennen und zu überwinden. Gewiss, Christus selbst, der Hüter Israels und der wahre unbesiegbare David, verleiht seiner Kirche alle Einsicht und Kraft, deren sie bedarf, aber er tut dies um so lieber, je größer das persönliche Wohlgefallen ist, das er an seiner Mutter findet, die für ihr bedrängtes Volk ihre Fürbitte bei ihrem göttlichen Sohn einlegt.

Zweites Kapitel: Die Ablehnung des "Salve Regina"

Das alte Pilgerlied der Kirche zur Begrüßung und Anrufung der Himmelskönigin, das "Salve Regina". Die unbegründete Ablehnung desselben seitens der Neuerer (Siehe V. Buch, 13. Kapitel).

1. Ein gottloses Lied nennen die Neuerer das bekannte "Salve Regina", wodurch in allen papistischen Kirchen Tag für Tag die darin herrschende Marienanbetung zum Ausdruck komme. Unerträglich übertrieben seien die Titel, die hier Maria beigelegt würden; preise man sie doch als Königin, als Mutter der Barmherzigkeit, ja als unser Leben, unsere Süßigkeit und Hoffnung. Das heiße aber offenbar der Ehre Christi zu nahe treten und einem Geschöpfe zuerkennen, was nur Gott allein zukomme.

2. Als Verfasser dieses Liedes gilt [[Hermann Kontraktus, ein Sohn des Schwabenlandes und Mönch von Reichenau. Er war ein geborener Graf von Walverate und lebte zur Zeit Kaiser Heinrichs des Heiligen. Es wird erzählt, dass der hl. Bernhard unter den Klängen dieses Liedes seinen feierlichen Einzug in den Dom von Speyer gehalten habe. Kaiser Konrad und eine große Volksmenge hatten ihn als apostolischen Legaten und Kreuzzugsprediger bewillkommnet. Der Heilige aber habe vor dem Bild der Gottesmutter niederkniend Maria mit den Schlussworten des Salve Regina begrüßt: "O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria."

3. Warum sollten wir Maria nicht als Königin begrüßen dürfen? Sie stammt ja aus dem königlichen Geschlecht Davids und darf den ihren Sohn nennen, der König der Könige und Herr der Herrscher heißt und ist, und dessen Reich kein Ende hat. Unter allen, die im Himmel mit Christus herrschen, nimmt Maria den ersten Platz ein. Als Königin der Engel und der Heiligen erblickt sie über sich nur Gott und Christus, alles andere steht unter ihr. Auf sie findet das Wort des Psalmisten Anwendung (Ps 45, 10): Es stand die Königin zur Rechten ihres Sohnes, der über alles herrscht. Nicht nur die lateinische Kirche gibt daher Maria den Titel Königin, auch die griechische und syrische Kirche hat sie seit vielen Jahrhunderten als solche begrüßt.

4. Mutter der Barmherzigkeit wird Maria genannt, weil sie Christus, den König der Gnade, den Urquell der Barmherzigkeit und den Urheber unseres Heiles, in wunderbarer Weise und zum Staunen der Welt geboren hat.

Unser Leben nennen wir Maria, der die Kirche in jubelnder Freude zuruft: "Gesegnet bist du vom Herrn, denn durch dich haben wir Anteil erhalten an der Frucht des Lebens." Von Eva heißt es, sie sei uns Urheberin unseres Todes, ja unser Tod geworden. So dürfen wir also Maria unser Leben nennen und die Mutter der Lebendigen. Gott hat sie ja dazu erwählt, dass sie den unglücklichen Kindern Evas in Christus das wahre Leben schenken solle. Mit Recht vergleicht man darum Maria mit dem Baum des Lebens, der inmitten des Paradieses stand. Überdies kann das so ganz reine und heilige Leben Mariä allen, die einen Gott wohlgefälligen Wandel führen wollen, als Spiegel und Vorbild dienen. So wird Maria den Nachahmern ihres Tugendbeispiels auch in diesem Sinne zum Leben gereichen. Darum glaubten manche Schrifterklärer die folgenden Worte der ewigen Weisheit auch Maria in den Mund legen zu dürfen: "Glückselig sind, die meine Wege einhalten. Wer mich findet, der findet das Leben und wird Heil schöpfen vom Herrn" (Spr 8, 35). Viele erlangen durch die Fürsprache Mariä von Gott die Gnade, aus dem Tod der Sünde zum geistlichen Leben wiederaufzuerstehen. Die dürfen also mit vollem Recht Maria ihr Leben nennen.

Als unsere Süßigkeit und als süße Jungfrau preisen wir Maria, weil sie uns das wahre Himmelsbrot, das alle Süßigkeit in sich enthält, vermittelt und gespendet hat. Christus ist ja das wahre Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist (Joh 6, 51). Als er in Bethlehem geboren wurde, da erfüllten sich die prophetischen Worte, dass die Berge Süßigkeit träufeln und die Hügel Milch ergießen würden (Vgl. Joel 3, 18 und Amos 9, 13). An Maria ist nichts Finsteres, nichts, was Schrecken einflößt, ihr ganzes Wesen ist, wie der hl. Bernhard sagt, süße Milde und Anmut, sie ist voll Sanftmut und Barmherzigkeit.

5. Am meisten nehmen die Gegner der katholischen Marienverehrung daran Anstoß, dass wir im Salve Regina die seligste Jungfrau als "unserer Hoffnung" bezeichnen. - Ohne Zweifel müssen wir unser Heil in erster Linie von Gott selbst erhoffen. Er ist es ja, der dasselbe hauptsächlich bewirkt, und unser Heil besteht schließlich in nichts anderem als in der Anschauung und im Besitz Gottes. Maria kann uns nur behilflich sein zur Erreichung dieses Zieles. Ihre Mitwirkung kommt also erst an zweiter Stelle in Betracht und steht weit hinter der Tätigkeit Gottes zurück. Das ist auch die katholische Anschauung, wie der hl. Thomas von Aquin sie wiedergibt, wenn er lehrt (S. Th. p. 2. 2a q. 17. a. 4): "Auf einen Menschen oder ein anderes Geschöpf darf man insofern seine Hoffnung setzen, als die Mitwirkung einer solchen Hilfsursache zur Erlangung von irgendwelchen Gütern, die zur endlichen Glückseligkeit in Beziehung stehen, förderlich sein kann. Wir dürfen dann auch auf jeden Heiligen unser Vertrauen setzen, weil er, als ein besonderer Freund Gottes, durch seine Fürbitte bei ihm uns helfen kann. Wie viel mehr sind wir aber dann berechtigt, auf Maria unsere Zuversicht zu setzen, eben weil sie Gott und Christus am nächsten steht. In diesem Sinn dürfen wir sie also unsere Hoffnung nennen.

6. Nun wollen wir noch kurz den Einwand berücksichtigen, der gegen die im Salve Regina an Maria gerichtete Bitte vorgebracht wird. Wir flehen sie nämlich an, sie möge ihre barmherzigen Augen uns verbannten Evaskindern zuwenden und sich uns als milde, gütige und süße Fürsprecherin erweisen. Ein solcher Appell, so sagt man, laute doch allzu sentimental und verlange zudem etwas Unmögliches, weil ja die Seligen des Himmels kein Gefühl des Mitleids mehr empfinden könnten.

Darauf ist zu erwidern, dass die Gerechten auf Erden und die Seligen im Himmel, eben weil sie mit Christus als ihrem gemeinsamen Haupt verbunden sind, auch untereinander vereinigt bleiben durch das Band der gegenseitigen Liebe. So kann es also nicht fehlen, dass die Glieder der triumphierenden Kirche, die sich bereits der himmlischen Seligkeit erfreuen, liebevollen Anteil nehmen an den Leiden und Kämpfen der streitenden Kirche, mit deren Gliedern sie zu einem und demselben mystischen Leib Christi verbunden sind. Wenn wir diese Anteilnahme der Seligen an unsern Bedrängnissen als Mitleid bezeichnen, so wollen wir damit nicht sagen, dass sie irgendwie ihrer Seligkeit Eintrag tue. Die Himmelsbewohner sind ja allen Störungen entrückt, die eine lebhafte Anteilnahme an fremdem Unglück uns Erdenpilgern zu verursachen pflegt. Wir fühlen uns bei solchen Anlässen oft vom Verkehr mit Gott abgezogen und in unserer Beschäftigung mit himmlischen Dingen behindert. Bei den Seligen dagegen ist dies nicht der Fall. Die Liebe, die sie hegen, ist weit vollkommenerer Art als die unserige. Darum ist auch bei ihnen das Mitleid, das dieser Liebe entquillt, viel reiner und edler, und stört sie keineswegs in ihrer beseligenden Anschauung Gottes. Sie sind auch hierin Christus, ihrem Haupt, gleichförmig. Christus thront zur Rechten des Vaters im Besitz der vollkommensten Glückseligkeit. Und doch zeigte er solches Mitleid mit seinen von Saulus bedrängten Gläubigen, dass er ihren Verfolger zu Boden schleuderte mit der vorwurfsvollen Frage: "Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich? (Apg 9, 4) Darum versicherte derselbe Paulus später, als er bereits der Völkerapostel geworden war: "Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben wüsste mit unsern Schwachheiten" (Hebr 4, 15). Warum sollten wir also diese biblische Redeweise nicht beibehalten? Warum sollten wir nicht mit der ganzen christlichen Vorzeit davon überzeugt sein, dass die verklärte Mutter Christi wirklich Mitleid hat mit unserm Elend, zumal wenn wir seufzend und weinend es ihr klagen? "Nur der möge von deiner Barmherzigkeit schweigen, so redet der hI. Bernhard die seligste Jungfrau an, der sich erinnern kann, in seinen Nöten einmal ohne Hilfe geblieben zu sein, obwohl er dich darum angefleht (Serm. 4. de Assumpt. n. 8. ML 183, 428 D.)."

Die Vorzeit hatte eben für die Gemeinschaft der Heiligen, von der im apostolischen Glaubensbekenntnis die Rede ist, ein ganz anderes Verständnis, als es der jetzigen Generation eigen ist. Diesem uralten Glauben der Christenheit hat schon im dritten Jahrhundert Origenes Ausdruck verliehen mit den Worten (Homil. in Cantic. lib. 3. MG 13, 160 A.): "Alle Heiligen, die aus diesem Leben geschieden sind, bewahren auch jetzt noch ihre Liebe zu denen, die noch in dieser Welt sind. Man darf also ohne jedes Bedenken von ihnen sagen, dass sie um das Heil ihrer Hinterbliebenen besorgt sind und dass sie denselben durch ihre Fürbitte bei Gott zu Hilfe kommen. Es heißt ja auch in den Büchern der Makkabäer: ,Dies ist der Prophet Jeremias, der viel betet für das Volk und die ganze heilige Stadt' (2 Makk 15, 14)." Weit größer aber als die Liebe der Heiligen zu ihren Brüdern und Schwestern, die noch auf Erden pilgern, ist die Mutterliebe Mariä zu ihren Kindern. Diese Liebe lässt sie nicht ruhen. Immerfort verwendet sie sich mit ihrer Fürbitte bei ihrem göttlichen Sohn, und sie erlangt uns viel mehr, als wir auf den dunkeln Wegen unserer irdischen Wanderschaft ahnen und erhoffen können.

Drittes Kapitel: Die katholische Marienverehrung ist keine Abgötterei

Wer immer die katholische Marienverehrung als Abgötterei bezeichnet, der macht sich einer offenbaren Unwahrheit und einer empörenden Ungerechtigkeit schuldig (S. V. Buch, 14. Kapitel).

1. Die Abgötterei galt von jeher als eines der allerschwersten Vergehen. Im Alten wie im Neuen Testament wird sie als solches gekennzeichnet. Darin bestand, dem Buch der Weisheit gemäß, die Torheit und Abscheulichkeit des Heidentums, dass es Geschöpfe an die Stelle Gottes setzte und ihnen göttliche Ehre erwies (S. Kap. 13 und 14). Von Christus aber, der sich selbst das Licht der Welt nennt (Joh 9,5), hatten die Propheten geweissagt, dass er, die Finsternis des heidnischen Wahnes verscheuchend, die Götzenbilder zerstören und dem Götzendienst ein Ende machen werde. (Vgl. Ez 30, 13 und Sach 13,2).

Wie darum zwischen dem Licht und der Finsternis, zwischen Christus und Belial keine Gemeinschaft bestehen kann (vgl. 2 Kor 6, 15), so ist auch zwischen dem Tempel Gottes, das ist der Kirche Christi, und den falschen Götzen oder deren Anbetern jede Gemeinschaft und Übereinstimmung ausgeschlossen. Es ist der hl. Germanus, Patriarch von Konstantinopel, der diese Schlussfolgerung gezogen. Und derselbe macht in jenem Brief noch die treffende Bemerkung (Epist. ad Thomam, epist. Claudiopol. - MG 98, 178 D. et 190 A.): "Bei uns wird nur ein Gott als anbetungswürdig anerkannt, wie es auch nur einen Glauben an ihn gibt und eine heilwirkende Taufe. Nur dem einen Gott erweisen wir also die ihm gebührende Anbetung, wie es uns von den Aposteln ist überliefert worden und bis heute beobachtet wird."

2. Dass die in der katholischen Kirche übliche Heiligenverehrung in keiner Weise dem ersten Gebot zuwider ist, muss jeder vernünftig urteilende Mensch zugeben.

Jedermann gewahrt auf den ersten Blick, welch ein Abstand besteht zwischen dem Herrn, dessen Wille allein ausschlaggebend ist, und einem Freund dieses Herrn, der ihm zugunsten eines Dritten eine Bitte vorträgt. Noch weit offensichtlicher ist der allen Rechtgläubigen selbstverständliche Unterschied zwischen Gott und seinen Heiligen, und darum auch der Unterschied in der Art der Verehrung, wie sie Gott selbst dargebracht wird und wie wir sie den Heiligen erweisen.

3. Übrigens scheinen unsere Ankläger gar nicht recht zu wissen, worin die Sünde der Abgötterei eigentlich besteht. Diese Sünde wird nicht schon dadurch begangen, dass einem Geschöpf eine äußere Verehrung dargebracht wird, die nach anerkannter Anschauung und Gewohnheit dem Schöpfer vorbehalten ist. Erst wenn zu dieser äußeren Verehrung die innere Absicht hinzukommt, die dem Schöpfer allein gebührende Ehre auf das Geschöpf zu übertragen, liegt die Sünde der Abgötterei vor. Ein Beispiel wird das klarmachen. Wenn bei einer Theatervorstellung ein Schauspieler Gott darzustellen hätte und ein Mitspieler sich vor ihm in anbetender Haltung niederwerfen würde, so dürfte man diesen doch nicht einen Götzendiener nennen. Es kommt alles auf die innere Gesinnung an, womit man die äußere Handlung vollzieht. Wenn wir Katholiken nun beteuern, dass uns bei der Verehrung Mariä und der übrigen Heiligen jede götzendienerische Absicht ganz und gar fern liegt, mit welchem Recht kann man uns der Abgötterei beschuldigen? Wie darf man uns trotz unserer gegenteiligen Versicherung die Absicht unterschieben, den Geschöpfen Gottes göttliche Ehre erweisen zu wollen? Heißt das nicht das Vorrecht des Allerhöchsten sich anmaßen, der allein Herzen und Nieren durchforscht und der das Gericht über die Gedanken und Absichten der Menschen sich vorbehalten hat? - Wir sind uns bewusst, mit der Lehrentscheidung des zweiten Konzils von Nicäa übereinzustimmen, die besagt (Synodus Nicaena lIa, Act. 3. Mansi, 13, 398 D.): "Mit Ehrfurcht nehmen wir an, was die apostolische Überlieferung der Kirche über die Verehrung der Heiligen lehrt. Wir ehren in ihnen die Diener, Freunde und Kinder Gottes. Die Ehre, die von derselben Gesinnung beseelte Diener eines Herrn einander erweisen, ist ja ein Beweis ihrer treuen Liebe zum gemeinsamen Herrn."

4. Ebenso bekennen wir uns zu der von derselben Synode ausgesprochenen Verurteilung folgender Sätze:

Was die Heilige Schrift gegen die Anbetung der Götzenbilder sagt, gelte in gleicher Weise von der Verehrung der Bilder der Heiligen. Die Christen zollten diesen göttliche Ehre.

Endlich belegt das Konzil alle mit dem Bann, die zu behaupten wagen, die katholische Kirche habe jemals der Abgötterei gehuldigt.

Dieser Vorwurf wurde nämlich von jeher gegen die Rechtgläubigen erhoben. Gerade die erbittertsten Feinde des Christentums schmähten die Christen als Götzendiener. So die Juden und Julian der Abtrünnige. Weil die Christen die Leiber der Martyrer mit großer Feierlichkeit bestatteten und über deren Gräbern das heilige Opfer darbrachten, so nahmen die heidnischen Verfolger daraus Anlass zu behaupten, die Christen bezeigten ihren Verstorbenen göttliche Ehren. Der Irrlehrer Vigilantius wiederholte diese Verleumdung, wie wir aus der Widerlegungsschrift des hl. Hieronymus ersehen. Ebenso wollten die Manichäer in der Verehrung der Martyrer, wie die Katholiken - sie nannten dieselben "Halbchristen" - sie übten, nur heidnischen Götzendienst sehen. Sie hat der hl. Augustinus in seiner Schrift gegen Faustus zurückgewiesen.

Calvin trat mit seinem fanatischen Bilderhass nur in die Fußstapfen der alten Bilderstürmer, die in einem Constantin Copronymus ihren Hauptvertreter erblicken mögen. Das sind also die Vorgänger, deren die Neuerer sich rühmen können. Man gab vor, die Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit überall zur Geltung bringen zu wollen, und welcher Mittel hat man sich dazu bedient? Man brach in so viele fremde Gotteshäuser ein, beraubte sie ihrer Altäre und Geräte, ja sogar des heiligen Opfers und Priestertums. Die ausgeplünderten Kirchen aber entweihte man durch neuartige Gebräuche oder benutzte sie als Stallungen und zu allerlei profanen Zwecken. Mit gleicher Willkür schaffte man mehrere kirchliche Festtage ab und räumte auf mit vielen althergebrachten Gebräuchen, die bisher Anlass und Anregung zur Übung religiöser Andacht geboten hatten. Man begnügte sich nicht damit, den Gemeinden - oft gegen deren Willen - neue Prediger aufzudrängen, die eine neuartige Religionslehre verkündeten und die, den weltlichen Obrigkeiten zu Gefallen redend, unter dem Titel der evangelischen Freiheit die gottesschänderischen Profanierungen entschuldigten. Nein, man ging auch dazu über, dass man die Diener der Kirche und die rechtmäßigen geistlichen Vorsteher ihrer Einkünfte beraubte, sie mit Schimpf und Schande aus ihren bisherigen Stellungen vertrieb und ihnen alle geistliche Verwaltung abnahm. Heißt das aber nicht, den Gottesdienst mit Stumpf und Stiel ausrotten, wenn man die gottgeweihten Personen, Orte und Zeiten auf jede Weise ihrer Bestimmung entzieht?

Ich will nicht weiter reden von den Gräueln der Bilderstürmer unserer Tage, die ihre sakrilegischen Hände nach allem ausstrecken, was zum Gottesdienste und zur Ausspendung der Sakramente dient, indem sie Kelche, heilige Geräte, Gewänder und Bilder rauben, schänden, zerschlagen, verschleudern und öffentlich den Flammen übergeben, nachdem sie ihren Spott damit getrieben ganz zu schweigen von den abscheulichen Quälereien und blutigen Misshandlungen, womit sie allenthalben ihre Wut an Priestern und Ordensleuten ausgelassen haben. Und das nennt man Wiederherstellung der unverfälschten Gottesverehrung und preiswürdige Reform der Kirche!

Viertes Kapitel: Drei Arten von religiösen Kult

Die katholische Lehre unterscheidet drei Arten von religiösem Kult: Die Anbetung, die gewöhnliche Verehrung (Dulie) und die Hochverehrung (Hyperdulie). Letztere kommt der Gottesmutter zu, die von der Kirche mehr als alle übrigen Heiligen verehrt wird und von allen Gläubigen demgemäß verehrt werden soll (Siehe V. Buch, 15. Kapitel).

1. Die höchste Verehrung, die wir innerlich und äußerlich, durch Gesinnung des Geistes und Huldigung des Leibes unserm Schöpfer und Herrn erweisen müssen und ihm allein erweisen dürfen, benannten die Lehrer der Kirche mit dem Worte "Latria". Dieses ist der griechischen Sprache entnommen und bedeutet soviel wie das deutsche "Frondienst". - Die innere Hochschätzung und äußere Ehrenbezeigung, wodurch man besonders hervorragende Geschöpfe Gottes nach dem Maße ihrer Vorzüge auszuzeichnen pflegt, wurde mit dem Worte Dulia bezeichnet. Auch dieser Ausdruck sagt soviel wie Dienstleistung. Es besteht aber ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Dienste, den alle Geschöpfe ihrem Schöpfer und höchsten Herrn zu leisten verpflichtet sind, und der ehrenvollen Anerkennung, die wir solchen Mitgeschöpfen erweisen, die durch hervorragende Heiligkeit über uns stehen und mit Gott inniger verbunden sind. Nun gibt es aber - abgesehen von der heiligsten Menschheit Christi - kein geschaffenes Wesen, das Gott so nahe stände wie die seligste Jungfrau und Gottesmutter Maria. Ihr gebührt darum auch eine ganz eigenartige Verehrung, wodurch wir sie vor allen anderen Heiligen auszeichnen. Der Name "Hyperdulie" oder "Hochverehrung", den man derselben gegeben, ist demnach ganz entsprechend.

Die Neuerer, die nach dem Vorgang Luthers (In Postilla circa Festum Epiphaniae. W 17, II. 368 [35]) diese von den Lehrern der Vorzeit angewendeten Bezeichnungen als unbegründet und willkürlich verwarfen, haben damit nur sich selbst unberechtigter Willkür schuldig gemacht.

2. Gott allein bringt die Kirche die höchste Verehrung - Anbetung - dar.

So bezeugt es schon der hl. Johannes von Damaskus (Orat. 3. de imaginibus, n.28. MG 94, 1347 B): "Gott allein beten wir an als den Schöpfer aller Dinge. Ihm erweisen wir die höchste Verehrung, die Anbetung, die der göttlichen Natur gebührt." Diese Verehrung umfasst nicht nur die innere Anbetung des Geistes, sondern auch die willige Hingabe des Leibes an den Dienst Gottes, die treue Beobachtung der göttlichen Gebote und den frommen Gebrauch der Sakramente. Alles, was der Mensch im Geiste des wahren Glaubens zu Gottes Ehre denkt, spricht oder tut, auch wenn es nicht ausdrücklich von Gott befohlen ist, gehört zur Gottesverehrung. Namentlich ist das Opfer der Ausdruck dieser höchsten Verehrung. Darum ist die Kirche so sehr darauf bedacht, dasselbe nur Gott darzubringen; niemals wird es einem Heiligen dargebracht. Überdies dürfen nur die dem Dienste Gottes geweihten Männer im Namen der Kirche diese Opferhandlung vollziehen. Der hl. Augustinus hebt diesen Gedanken den Manichäern gegenüber nachdrücklich hervor (Lib. 20. contra Faustum, cap.2I, ML 42, 384 et 385). "Wann hat jemals, sagt er, ein Bischof oder Priester beim Dienste des Altares über der Ruhestätte eines Heiligen in dieser Weise gebetet: Ich opfere dir, Petrus oder Paulus oder Cyprian? Die Opfergabe wird Gott selbst dargebracht, der die Martyrer gekrönt hat, und zwar über den Gedächtnisstätten derjenigen, die er gekrönt hat."

3. Darum pflegt die Kirche ihre öffentlichen Bitten in der Liturgie nicht an die Heiligen zu richten, sondern unmittelbar an Gott den Vater, und sie beschließt dieselben mit den Worten: Durch unsern Herrn Jesus Christus.

Alle Kirchen und Altäre werden Gott geweiht, wenn sie auch den Namen eines Heiligen erhalten, zu dessen Gedächtnis. In den Litaneien werden zwar auch die Heiligen genannt und angerufen mit der Bitte, für uns zu beten, indes wendet sich die Kirche immer zuerst an die drei göttlichen Personen, und von diesen allein erfleht sie Barmherzigkeit, Frieden und alle Güter, deren wir sonst bedürfen. Den Schluss der Litanei macht jedes Mal die Anrufung des Lammes Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt.

Ebenso bildet die Anbetung Gottes Anfang und Schluss des offiziellen Stundengebetes. Am Ende eines jeden Psalmes wird der Lobpreis der heiligsten Dreifaltigkeit wiederholt. Das "Te Deum" beschließt die Metten, das "Benedicamus Domino" lenkt nach Beendigung jeder Hore Sinn und Herz auf den Lobpreis und Anbetung Gottes.

Zur Gottesverehrung gehört auch der Erweis unserer Dankbarkeit gegen Gott, unsern Schöpfer und Erlöser, durch Spenden und Geschenke zur Förderung und Verschönerung des feierlichen Gottesdienstes und noch mehr durch persönliche Weihe und Hingabe an die göttliche Majestät. Demselben Zweck dient ferner die Feier eigener Gedächtnis- und Dankfesttage, wodurch wir uns im Lauf des Kirchenjahres die Großtaten der göttlichen Güte immer wieder vor die Seele führen, damit sie nicht allmählich in Vergessenheit geraten. Diesen Gedanken hat der hl. Augustinus ausdrücklich hervorgehoben (Cf. De Civit. Dei, lib. 10. cap. 4. ML 41, 281).

4. Was die Verehrung der Heiligen, die sogenannte Dulie, angeht, so stimmen auch die Neuerer mit uns darin überein, dass es nützlich und schicklich sei, die Tugenden der Heiligen öffentlich zu preisen und aufmerksam zu erwägen. Es gereicht ja zum Lob Gottes selbst, wenn wir die Geschenke und Wirkungen seiner Güte in seinen auserwählten Werkzeugen anerkennen. Gerade in den Heiligen offenbart sich in besonderem Grad Gottes wunderbare Macht und Größe.

Die Kirche bleibt aber in ihrer Heiligenverehrung dabei nicht stehen. Sie sieht in den Heiligen ihre Beschützer und Fürsprecher bei Gott und erzeigt ihnen dankbare Anhänglichkeit. Auch von ihren Kindern verlangt sie gleiche Gesinnung und Betätigung der Andacht. Sie denkt darüber nicht anders als der hl. Johannes Damaszenus, der in folgender Weise argumentiert (Lib. 4. de fide orthod. cap. 15. MG 94, 1166 C et de imagin. orat. 1. n. 17. MG 94, 1247 C.): Wie sollte man die nicht ehren, die treue Diener, Freunde, ja Kinder Gottes sind, die unsern Feinden Schrecken einjagen und bei Gott für uns Fürsprache einlegen, die uns viele Gaben und Gnaden von Gott verschaffen und dem menschlichen Geschlecht Hilfe und Beistand leisten, und deren heilige Leiber oft eine belebende Wunderkraft zeigen zum Heil der Gläubigen? - Daraus zieht der heilige Lehrer den Schluss, wie sehr es sich für uns schicke, die Heiligen nicht nur nachzuahmen, sondern auch durch Bitten und Anrufung, in Liedern und geistlichen Gesängen, durch Verehrung ihrer Bilder und ähnliche Andachtsübungen sie zu verherrlichen. Darum war es in der Kirche von alters her Brauch, dass die Gedächtnistage der Heiligen von den Gläubigen festlich begangen wurden.

Diese Sitte soll uns, wie der hl. Augustinus ausdrücklich hervorhebt (Cf. Lib.20. contra Faustum, cap. 21. ML 42, 384), nicht nur zur Nachahmung der Heiligen anregen, sondern uns auch die Gemeinschaft an ihren Verdiensten und die Hilfe ihrer Fürbitte verschaffen. Zu demselben Zweck werden in den liturgischen Gebeten des hl. Messopfers die Namen von Heiligen erwähnt. Während wir die übrigen Verstorbenen, die im Frieden ruhen, am Altar dem Herrn im Gebet empfehlen, gedenken wir der Heiligen in der Absicht, dass sie für uns Fürbitte einlegen (Cf. Tractat. 84. in Joa. n. I ML 35, 1847).

Ferner pflegten die Gläubigen die Kirchen und Ruhestätten der Heiligen aufzusuchen und ihre Reliquien zu verehren, wie bereits Theodoret erwähnt (Lib. 8. de curandis affectionibus. MG 83, 1031 A). Sie empfahlen dabei sich und alle ihre Anliegen der Fürbitte der Heiligen, namentlich der Martyrer (Ibidem).

5. Der seligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria erweist die Kirche eine besondere Verehrung, die deswegen als Hochverehrung (Hyperdulie) bezeichnet wird.

Maria steht eben Gott besonders nahe; als Gottesmutter ist sie ihm blutsverwandt, und wie an Würde, so übertrifft sie auch an Heiligkeit und Verdienst alle übrigen Heiligen.

Der hl. Petrus Damiani gibt diesem Gedanken in folgenden Worten Ausdruck (Serm. 44. de nativit. Mariae. ML 144, 738): "Könnte es etwas Größeres geben als die Jungfrau Maria, die den großen allerhöchsten Gott in ihrem heiligen Schoß hat bergen dürfen? Siehe, wie selbst die Seraphim in weitem Abstand zurückbleiben, wenn du dich in Gedanken aufschwingen willst zur erhabenen Höhe der Jungfrau, die alle andern Werke Gottes, auch die herrlichsten, übertrifft und selbst nur von dem übertroffen wird, der ihr Schöpfer ist." Das ist der Grund, weshalb wir Katholiken mit solcher Ehrfurcht über Maria, über ihr Leben und Sterben sowie über ihre Verherrlichung denken und reden. Darum pflegen wir das Haupt zu entblößen oder zu verneigen, sooft wir, namentlich bei der Predigt, ihren Namen hören oder selbst aussprechen. Daher rührt der Brauch, den Englischen Gruß mit Dank und Freude so oft zu wiederholen und dem Gebet des Herrn die Anrufung seiner Mutter beizufügen. Zu ihrem Lob und zum Andenken an die Menschwerdung des Herrn fordert die Betglocke dreimal am Tag die Gläubigen auf, den sogenannten Engel des Herrn zu beten.

Deshalb haben unsere Vorfahren so viele Kirchen und Kapellen zu Ehren Mariä erbaut und freigebig ausgestattet. Sie wollten dazu beitragen, dass Unserer Lieben Frau Ehrenpreis niemals verstummen möge. Darum malten und meißelten sie so viele Darstellungen der seligsten Jungfrau, wie sie vom Engel gegrüßt wird, oder als freudenreiche Mutter ihr neugeborenes Kind anbetet, oder den Jesusknaben auf ihren Armen trägt. Dann wieder sehen wir Maria als Schmerzensmutter dargestellt, wie sie neben dem Kreuz steht, oder ihren toten Sohn in ihren Armen hält und seinen Leichnam zu Grab geleitet. Als glorreiche Himmelskönigin zeigen uns Maria so viele andere Darstellungen, wie sie von den ihr huldigenden Engeln in den Himmel abgeholt wird. Unsere Ahnen hielten diese Marienbilder in hohen Ehren; sie schmückten damit die Altäre und Wände ihrer Kirchen, vielfach auch ihre Häuser und Wohnungen.

In der Überzeugung, dass - von Christus abgesehen - niemand anders so gütig und hilfsbereit sei wie Maria, und dass sie von Gott alles erlangen könne, riefen sie so häufig und so vertrauensvoll ihre Fürbitte an. Hatten sie aber die wunderbare Hilfe Gottes durch Mariä Vermittlung an sich erfahren, so trieb es sie, ihrer Dankbarkeit einen bleibenden Ausdruck zu geben. Sie zeichneten den Bericht über die wunderbare Gebetserhörung auf, oder verewigten das Andenken daran durch irgendein Symbol oder Geschenk, das sie vor einem Altar oder Bild der Gottesmutter anbringen ließen. Viele besuchten auch in frommer Andacht die Maria geweihten Wallfahrtsorte, um daselbst ihre Anliegen Gott durch Vermittlung seiner Mutter zu empfehlen.

Kurz, die Gläubigen der gesamten christlichen Vorzeit erwiesen sich ihr ganzes Leben hindurch als treue Verehrer dieser himmlischen Mutter und Königin.

6. Dass sich bei allem dem auch manche Missbräuche einschlichen, darüber braucht man sich gewiss nicht zu wundern. Das ist eben eine natürliche Folge der menschlichen Schwachheit, die so leicht eine Beute unklugen Eifers und selbst böswilliger Verirrung wird. Auch die besten und heiligsten Einrichtungen können von unbesonnenen Menschen in verkehrter Weise angewendet oder sogar zu nichtswürdigen und gottlosen Zwecken missbraucht werden. Es ist immer leichter, sich zu Extremen fortreißen zu lassen, als die goldene Mittelstraße einzuhalten. - Nehmen wir also einmal an, die Neuerer hätten recht mit ihrer Behauptung, dass viele Katholiken mit der Verehrung Mariä Missbrauch getrieben hätten. Dürfte man dann die katholische Religion oder die kirchlichen Behörden dafür verantwortlich machen? Dürfte man davon Anlass nehmen, alle echten Verehrer der Gottesmutter anzuschuldigen? Sicherlich nicht. Man ist nicht berechtigt, die Handlungsweise einzelner der Gesamtheit zur Last zu legen.

Was die Kirche betrifft, so ist sie selbst gegen solche Missbräuche eingeschritten und hat durch geeignete Vorschriften dieselben abzustellen gesucht. Es sei nur hingewiesen auf das Dekret des Konzils von Trient über die Reliquien und Bilder der Heiligen (25. Sitzung).

7. Die unberufenen Ärzte unseres Zeitalters aber wenden Mittel an, die das Übel nicht heilen, sondern nur noch verschlimmern. Sie geben vor, alte Missbräuche abstellen zu wollen, und führen neue Irrtümer ein. Wenn es zuweilen vorgekommen ist, dass leichtgläubige Leute der seligsten Jungfrau erdichtete Wunder zuschrieben, muss man deswegen auch den wahren und als echt befundenen Wundern, die Gott durch seine Mutter gewirkt hat und auch heute noch wirkt, die Anerkennung versagen? - Mag sein, dass hie und da manche Katholiken viel mehr den Bildern Marias als der seligsten Jungfrau selbst ihre Verehrung darbrachten, und dass sie in der Art und Weise, wie sie diese Bilder verehrten, das rechte Maß überschritten. Muss man aber deshalb die Heiligenbilder aus den Kirchen entfernen ? - Es mag zutreffen, dass manchmal irregeleitete oder betrügerische Menschen fälschlich aussagten, Maria sei ihnen erschienen und habe ihnen diesen oder jenen Auftrag erteilt. Wer wird solche Betrügereien nicht verabscheuen und verurteilen? Wäre man aber deswegen berechtigt, alles für Lug und Trug zu halten, was glaubwürdige Schriftsteller über gewisse Erscheinungen und Offenbarungen der seligsten Jungfrau berichten? Das wäre eine Missachtung so vieler einsichtsvoller Männer, die nach besonnener Prüfung dieser Berichte ihnen Glauben schenkten und aus voller Überzeugung für deren Glaubwürdigkeit eintraten.

Es wäre ohne Zweifel wünschenswert, dass jene Missbräuche beseitigt würden, und man sollte eine zweckmäßige Reform durchführen. Die Reformer müssten jedoch stets von Klugheit und Liebe sich leiten lassen. Aber welche Art von Reform ist zu erwarten von Männern, die selbst keinem Gesetz wahrer Reform und Besserung sich unterwerfen wollen, und die ihr Heilswerk zur Wiedererneuerung der Kirche nicht im Geist der Weisheit und beharrlichen Liebe unternehmen, sondern auf Antrieb blinden Zornes, leidenschaftlichen Hasses und trotziger Hartnäckigkeit?

Leider gibt es auch nur allzuviele Namenskatholiken, die in ihrer grenzenlosen Gleichgültigkeit und schmählichen Nachlässigkeit um die Verehrung Mariä sich durchaus nicht kümmern, ja nicht einmal an sie denken. Sie sind so vollständig in die irdischen Dinge und in ihre weltlichen Geschäfte versenkt, dass sie vielleicht das ganze Jahr hindurch keine Zeit finden, die Gottesmutter zu preisen oder ihren Geist in Andacht zu ihr zu erheben.

Fünftes Kapitel: Bilder der Gottesmutter

Die Bilder der jungfräulichen Gottesmutter waren von jeher in Brauch, und sie wurden schon in den ältesten Zeiten der Kirche andächtig verehrt (Vgl. V. Buch, 22. Kapitel).

1. Die Neuerer greifen die katholische Kirche auch deswegen an, weil sie die Bilder und Statuen Mariä in Ehren hält. Sie treten somit in die Fußstapfen der alten Waldenser, die zur Zeit Kaiser Friedrichs II. die Lehre verbreiteten, man müsse die Bilder Christi und der Heiligen aus der Kirche hinausschaffen. Alle, die solche duldeten, machten sich des Götzendienstes schuldig. Damit hatten übrigens die Waldenser ebenfalls nur die alte Häresie der Bilderstürmer erneuert, wie diese die Nachfolger der Manichäer und Juden gewesen waren.

Luther selbst freilich wollte mit den Bilderstürmern nichts zu tun haben. So schreibt er in seinen Büchern gegen die himmlischen Propheten (W 18, 88 [30]): "Der Geist der Bilderstürmer ist kein guter Geist. Denn er sinnt auf Mord und Aufruhr, wenn er auch vorläufig seine Absicht noch zu verbergen sucht, weil ihm der günstige Zeitpunkt noch nicht gekommen zu sein scheint." Und an einer andern Stelle schreibt er (W 88 [33]): "Ihr guten Herrn, nicht darin besteht die Endabsicht des Teufels, dass die Bilder sollen angegriffen werden, sondern er sucht ein Einfallstor, um Blutvergießen und Mord auf dem Erdkreis anzustiften." Dieser Ausspruch Luthers hat sich nur zu sehr bewahrheitet, wie die Erfahrung bezeugt. Sowohl die alten als die neuen Bilderstürmer haben sich stets wie durch Gottlosigkeit, so auch durch Grausamkeit hervorgetan. Jene richteten zur Zeit des griechischen Kaisers Leo des Isaurers und Konsorten durch Verfolgung und Mordung Tausender von Rechtgläubigen in Kirche und Staat eine derartige Verwirrung an, dass in Folge davon das oströmische Reich vom westlichen losgerissen und so seinem baldigen Untergang entgegengeführt wurde. Die Bilderstürmer unserer Tage aber, mit einem Karlstadt an der Spitze, führen sich so wildwütig auf, dass die Entweihung der Kirchen und die Anstiftung blutiger Streitigkeiten unter der Bevölkerung ganzer Provinzen ihr eigentliches Geschäft auszumachen scheint.

Allenthalben sehen wir diese verderbliche Saat aufgehen. Man möchte meinen, dass die Zerstörungswut, die diese Menschen an den Gotteshäusern und frommen Bildern auslassen, alle Wildheit der Türken und Barbaren weit übertrifft. Sie dulden kein Kruzifix, kein Bild der jungfräulichen Gottesmutter oder irgendeines andern Heiligen in den Kirchen. Sie sind sorgfältig darauf bedacht, alles, was noch irgendwie an die alte Frömmigkeit erinnern könnte, aus ihren Bethäusern zu entfernen. Was für die christlichen Tempel nur einen Gräuel der Verwüstung bedeuten kann, das gilt ihnen als deren glorreiche Zierde. So hat der Satan erreicht, was er schon seit langem angestrebt. Sein neues Reich, das aus dem Unrat so vieler Sekten und Irrlehren in Europa zusammengeschwemmt worden, hat er jetzt in ein festes Gefüge gebracht und durch das barbarische Zerstörungswerk, das an den heiligen Bildern und Gotteshäusern verübt wurde, hat er demselben allgemeine Beachtung zu verschaffen gewusst.

Indes brauchen wir uns hier nicht mit der Verteidigung der heiligen Bilder zu befassen oder das Alter und die Berechtigung ihrer Verehrung darzutun. Diese Aufgabe haben lange vor uns erfüllt ein Gregor der Große, ein Germanus, Patriarch von Konstantinopel, ein Johannes von Damaskus und viele andere große Lehrer der christlichen Vorzeit.

2. Dass der Gebrauch und die Verehrung heiliger Bilder von jeher in der gesamten Christentheit zu Recht bestanden, dafür liefert die Geschichte der abendländischen wie der orientalischen Kirche zahlreiche Belege.

Wir können uns übrigens sogar auf die Geschichtsbücher des Alten Testamentes berufen, das ja auch schon solche bildliche Darstellungen ohne Bedenken anwandte. So waren auf der Bundeslade selbst zu beiden Seiten des Gnadenthrones, von wo aus die göttlichen Antworten ergingen, die Statuen von zwei Cherubim angebracht. Ein weiteres Beispiel ist die eherne Schlange, die Moses errichtete. Dazu kommen die vielen Bilder lebender Wesen, die Salomon in dem von ihm erbauten Tempel anbringen ließ. Dieser weise König wusste eben wohl zu unterscheiden zwischen dem abgöttischen Missbrauch der Bilder, den das göttliche Gesetz streng untersagte, und der Anfertigung oder Benutzung von Gemälden und Statuen zur Weckung frommer Erinnerungen und zum Dienste andächtiger Erbauung.

Die Konzilsgeschichte der Kirche führt nicht weniger als zwölf Synoden an, die den Gebrauch und die Verehrung heiliger Bilder einstimmig gebilligt und empfohlen haben. Die gegenteilige Ansicht aber wurde als dem Glauben widersprechend verurteilt. Zuletzt hat noch das Konzil von Trient, die früheren Lehrentscheidungen zusammenfassend, der allgemeinen Überzeugung der ganzen Kirche mit folgenden klaren Worten Ausdruck gegeben: Die Bilder des Herrn, der jungfräulichen Gottesmutter sowie der übrigen Heiligen sind, namentlich in den Kirchen, anzubringen und auf zu bewahren, und man soll ihnen die gebührende Ehrfurcht und andächtige Verehrung erweisen. Das ist nicht so zu verstehen, als ob diesen Bildern selbst eine göttliche Würde oder Kraft innewohne, die sie verehrungswürdig machte. Man darf sich auch nicht einbilden, dass man von ihnen selbst sich etwas erbitten könne, oder dass man sein Vertrauen auf diese Bilder setzen müsse in der Weise, wie einst die Heiden ihre Hoffnung auf die Götzenbilder zu setzen pflegten. Die Ehre, die ihnen erwiesen wird, bezieht sich vielmehr auf die Vorbilder, die sie darstellen. Wenn wir also diese Bilder küssen, das Haupt vor ihnen entblößen und vor ihnen niederknien, so wollen wir damit Christus anbeten und die Heiligen verehren, die sie darstellen (Conc. Trident. Sessio 25)."

3. Schon in der Urkirche wurden namentlich die Bilder der seligsten Jungfrau in Ehren gehalten. Als sie noch auf Erden weilte, mögen viele den Wunsch gehegt haben, sie zu sehen. Allen denen, die Maria nicht wirklich aufsuchen konnten, musste es wünschenswert erscheinen, wenigstens ihr Bildnis zu Gesicht zu bekommen. Eine alte Legende weiß zu berichten, dass der hl. Evangelist Lukas des MaIens kundig gewesen sei und das erste Bild der Gottesmutter gemalt habe. Nikephorus Kallistus erzählt, dieses Bild sei in der Folge von der Kaiserin Eudoxia nach Konstantinopel geschickt worden. Die Kaiserin Pulcheria habe dasselbe in einer von ihr erbauten Kirche zur Verehrung ausstellen lassen. Auch von wunderbaren Gebetserhörungen, die sich dort ereignet hätten, weiß er zu berichten (Cf. Eccles. hist. 1. 15. cap. 14. MG 147. 41 A et lib. 2. cap. 43. MG 145. 175 D.).

In Rom wird ebenfalls ein altes Muttergottesbild verehrt, das dem hl. Lukas zugeschrieben wird. Dieses Bild ließ der hl. Gregor der Große zur Zeit, da in Rom die Pest wütete, in feierlicher Prozession durch die Straßen der Stadt tragen. Es war gerade der Tag des hl. Osterfestes. Nach der von Sigonius (Hist. de regno Italiae. lib. 1.) bezeugten Überlieferung sei plötzlich ein Engel erschienen und habe den seitdem üblich gewordenen Ostergruß der Kirche an die Gottesmutter angestimmt: "Regina coeli laetare! - Freue dich, Himmelskönigin, Alleluja! Denn er, den zu tragen du verdient hast, Alleluja, ist auferstanden, wie er es gesagt hatte, Alleluja." Der hl. Gregor aber habe auf göttliche Eingebung hin diesem Lobpreis des Engels die Worte hinzugefügt: "Bitte Gott für uns, Alleluja!" - Von da an habe die große Sterblichkeit nachgelassen, und bald sei die Stadt von der Seuche gänzlich befreit gewesen.

Von demselben hl. Papst Gregor wird auch berichtet, dass er dem Bischof Leander von Sevilla ein Marienbild zum Geschenk gemacht habe. Nach einer alten Überlieferung wäre es das Bild gewesen, das noch heutzutage zu Guadalupe als wundertätiges Gnadenbild in so hoher Verehrung steht.

Von Ludwig dem Frommen heißt es, er habe stets ein Bild der Gottesmutter bei sich getragen. Der Kaiser Ludwig der Bayer brachte ein Bild der seligsten Jungfrau von seinem Zug nach Italien in die Heimat und stellte es eigenhändig in Ettal auf, wo er ein Kloster nebst Kirche zu Ehren der Himmelfahrt Mariä hatte errichten lassen.

Sechstes Kapitel: Weihe der Gotteshäuser

Die alte Sitte, die Gotteshäuser auch dem Gedächtnis der Heiligen, namentlich der jungfräulichen Gottesmutter zu weihen, ist durchaus berechtigt und lobenswert (Siehe V. Buch, 23. Kapitel)

1. Die modernen Bilderstürmer sind naturgemäß auch die erbittertsten Feinde der Marienkirchen. Die Gottesmutter bedarf allerdings nicht dieser Tempel, die zu ihrem Gedächtnis und zu ihrer Ehre errichtet werden. Sie ist ja selbst der heiligste und herrlichste Gottestempel, den der Allerhöchste sich gebaut.

Es entspricht aber dem Bedürfnis christlicher Dankbarkeit, wenn die Gläubigen sich besondere Stätten auswählen, an denen sie für der Lobpreis und der Verehrung der Mutter ihres Herrn auch einen öffentlichen und gemeinsamen Ausdruck geben können. - Die niederdrückende Last unserer leiblichen Armseligkeit macht es uns nur allzu schwer, in das Heiligtum der übernatürlichen, geistigen Welt uns zu zu erheben. Wir bedürfen darum äußerer Hilfsmittel, die uns diesen Aufstieg erleichtern. Dazu gehören vor allem die öffentlichen Gebetsstätten, die Gotteshäuser. Ihr Ursprung geht auf apostolische, ja sogar auf göttliche Anordnung zurück.

2. Gewiss, Gott ist an keinen bestimmten Ort gebunden und kann nicht durch räumliche Grenzen eingeschränkt werden. Es hat ihm jedoch gefallen, seine Gegenwart sowie seine Macht und Gnade an einigen Orten in einer besonderen und offenkundigeren Weise zu bezeugen. Namentlich hat er die ihm geweihten Tempel zu Stätten reichlicherer Gnadenerweisungen ausersehen. Darum bezeichnete Christus selbst den Tempel zu Jerusalem als das Haus seines Vaters und als Haus des Gebetes (Joh 2, 16; Lk 19,46). Er galt ihm als die eigentliche Stätte der Gottesverehrung. Der Tempel ist der Ort, der die Gläubigen zur größeren Ehrfurcht vor Gott anregt und sie dadurch befähigt, besondere Gnadenerweisungen für sich selbst wie für andere von ihm zu erlangen. Von den ersten Christen sagt der hl. Lukas, dass sie nach der Himmelfahrt Christi und nach der Herabkunft des Heiligen Geistes im Tempel allezeit Gott Lob und Dank sagten (Lk 24, 53 und Apg 2,46).

3. Zu demselben Zweck haben später die Christen in allen Ländern und an allen Orten Gotteshäuser errichtet, worin sie ihre öffentlichen Gebete dem Herrn darbrachten und die Geheimnisse unseres heiligen Glaubens feierten. Diese Kirchen, Basiliken und Oratorien wie auch die darin errichteten Altäre waren alle Gott allein gewidmet und geweiht, dem allein ja auch das heilige Opfer dargebracht wird, wie der hl. Augustinus betont. Aber wie derselbe heilige Lehrer bemerkt, war es bereits damals gebräuchlich, die Kirchen und Altäre auch nach den Heiligen, zumal der seligsten Jungfrau und den heiligen Martyrern, zu benennen. Das geschah schon aus dem Grund, weil man so die heiligen Orte leichter voneinander unterscheiden und namentlich die Ruhestätten der verschiedenen Martyrer kenntlich machen konnte. Es sollte aber auch, wie der hl. Augustinus sagt, diese Benennung die Gläubigen mahnen, in opferwilliger Hingabe an Gott dem Beispiel dieser Heiligen nachzufolgen (Cf. August. De Civit. Dei, lib. 8. cap. 27. ML, 41, 255 et Contra Faustum, lib. 20, cap. 21. ML 42, 384).

Der hl. Johannes von Damaskus (Lib. 4. Orthod. fidei, cap. 15. MG 94, 1166 C.) stellte es geradezu als Regel hin, dass die Gotteshäuser im Namen der Heiligen zu errichten seien.

4. Die Neuerer freilich bezeichnen diese altchristliche Sitte als einen törichten und gottlosen Wahn.

Nach dem Urteil dieser Leute wäre also der heilige Kaiser Heinrich einem törichten und gottlosen Wahn ergeben gewesen, wenn er auf seinen Reisen nach seiner Ankunft in einer Stadt ein Heiligtum der seligsten Jungfrau aufzusuchen pflegte, um dort die erste Nacht im Gebet zuzubringen. Derselbe Heilige wollte auch den Dom zu Speyer, die altehrwürdige Ruhestätte der deutschen Kaiser, von Anfang an der Gottesmutter geweiht wissen. Einem törichten Wahn hätte dann auch der hl. Stephan, König von Ungarn, gehuldigt. Nachdem er sein Land vom Heidentum gesäubert, ließ er in seiner Residenzstadt als Denkmal seiner außerordentlichen Verehrung und Liebe zur jungfräulichen Gottesmutter mit königlicher Freigebigkeit eine herrliche Kirche erbauen, die den Namen Mariä tragen sollte. Ebenso wären dann auch die heiligen Bischöfe Ulrich von Augsburg und Konrad von Konstanz in einem törichten Wahn befangen gewesen, als sie beide nach Einsiedeln in der Schweiz sich begaben, an der Einweihung des dortigen Heiligtums zu Ehren der Gottesmutter teilzunehmen. Derselbe Vorwurf träfe dann auch den großen Kaiser Karl, der mehrere Marienkirchen, darunter das herrliche Münster in seiner Kaiserstadt Aachen, errichtete und mit reichen Stiftungen beschenkte. Einem gottlosen Wahn wäre endlich auch der Apostel der Bayern, der hl. Martyrerbischof Rupert, dienstbar gewesen, als er in Regensburg und in Altötting, wo er dem Herzog Uto die Taufe gespendet hatte, zu Ehren der jungfräulichen Mutter in nächster Nähe des Hoflagers eine Kirche erbauen ließ und sie eigenhändig einweihen wollte.

Mögen also die modernen Kritiker immerhin über diesen frommen Brauch der Vorzeit den Stab brechen, mögen sie sich einreden, sie verrichteten ein Gott wohlgefälliges und dem Geist des Evangeliums entsprechendes Werk, wenn sie die Marienverehrung und die Maria geweihten Heiligtümer auf jede Weise und selbst mit Gewalt zu zerstören suchen. Wir unsererseits wollen lieber zusammen mit all den genannten Helden der christlichen Vorzeit in einem derartigen "Wahn" befangen bleiben, als mit den neumodischen Gegnern der Kirche und der Mutter Christi einer solchen "Aufklärung" huldigen.

5. Viele nehmen besonders Anstoß an der großen Anzahl und der prächtigen Ausstattung der Marienkirchen. Man hält sich auf über die vielen Lampen und Kerzen, die vor den Bildern der seligsten Jungfrau brennen, über die unzähligen Lieder und Gesänge, die das katholische Volk bald in lieblich zarten Weisen, bald in mächtigen Akkorden, von lautem Posaunenschall und brausendem Orgelspiel begleitet, zu Ehren Mariä immer wieder in seinen Kirchen ertönen lässt. Nach der Absicht der Kirche sollen alle diese äußeren Feierlichkeiten die Aufmerksamkeit und Andacht des einfachen Volkes wecken. Durch die Eindrücke, die so auf die Sinne einwirken, sollen Geist und Herz der Gläubigen zu einer innigeren Verehrung Christi und seiner heiligen Mutter angeregt werden. Die äußere Feier ist dazu angetan, die innere Andacht zu erleichtern und zu fördern, wodurch Gott im Geist und in der Wahrheit angebetet und angerufen wird.

Warum sollte es nicht angebracht sein, das Bild Mariä möglichst schön zu schmücken, und so ihre Würde als Gottesmutter und Gebenedeite unter den Frauen dem Beschauer vor die Seele treten zu lassen? Was ist dagegen einzuwenden, dass die seligste Jungfrau mit einem oder mehreren Engeln dargestellt wird? So werden wir daran erinnert, dass Maria es ist, die der Erzengel Gabriel so ehrenvoll begrüßt hat, und dass die Engel insgesamt, in weit höherem Grad als wir ahnen können, darauf bedacht waren, der Mutter ihres Herrn sich dienstbar zu erweisen die ganze Zeit ihres irdischen Lebens hindurch und namentlich in der Stunde ihres heiligen Todes. Warum sollte man sich daran stoßen, dass die jungfräuliche Gottesmutter als Königin dargestellt wird mit einer goldenen Krone auf dem Haupt und mit dem Zepter der Herrschergewalt in der Hand? Stimmt das nicht mit der Sprache der Heiligen Schrift und der Kirchenväter überein, die Maria schildern als die Königin in goldgewirktem, buntfarbigem Prachtgewand (Ps 45,10.) und als die erhabene himmlische Frau, deren Haupt umkränzt ist mit einer Krone von zwölf Sternen (Offb 12, 1)? In Maria erblicken die heiligen Väter die wahre Esther, die, vom Beherrscher des Himmels gekrönt und über alle Chöre der Engel erhoben, an Macht und Würde Christus am nächsten kommt und darum unter allen Geschöpfen im Himmel und auf Erden nicht ihresgleichen hat.

6. Das Licht der Lampen und Kerzen, die vor den Bildern der seligsten Jungfrau brennen, ist nur ein schwaches Sinnbild des himmlischen Glanzes, womit Gott sie verherrlicht hat. Das Räucherwerk, das davor angezündet wird, soll uns an den Wohlgeruch ihrer Tugenden und an die Fülle der Gnade erinnern, die der Heilige Geist auf sie ausgegossen hat.

7. Auch heutzutage fehlt es nicht an strengen Sittenrichtern, die in den Opferspenden für gottesdienstliche Zwecke eine tadelnswerte Beeinträchtigung der werktätigen Nächstenliebe erblicken wollen. Ist es nicht seltsam, dass gerade solche, die sonst jeder Art von Luxus und Verschwendung gegenüber recht nachsichtig zu urteilen pflegen, ja selbst daran teilnehmen, nur da, wo es sich um die äußere Verehrung Gottes und seiner Heiligen handelt, die größte Einschränkung und Sparsamkeit befürworten und verlangen? Die sind wirklich dem Verräter Judas nicht unähnlich, der sich als Sachwalter der Armen aufspielte, als er die fromme Freigebigkeit Magdalenas zur Salbung des Hauptes Christi als ein den Armen zugefügtes Unrecht bezeichnete. Christus aber wies den ungerechten Vorwurf des heuchlerischen Judas mit strengen Worten zurück, die Handlungsweise Magdalenas aber verteidigte er und spendete ihrer Freigebigkeit hohes Lob. Auf dieses Beispiel hat bereits der hl. Hieronymus den Irrlehrer Vigilantius hingewiesen, der den Brauch frommer Frauen, zu Ehren der Heiligen am hellen Tage Wachskerzen brennen zu lassen, getadelt hatte.

Siebentes Kapitel: Wallfahrten zu Marienheiligtümern

Die althergebrachte Gewohnheit des katholischen Volkes, nach gewissen bevorzugten Heiligtümern Mariä mit besonderer Vorliebe zu wallfahren, ist wohlbegründet und empfehlenswert (Siehe V. Buch, 24. Kapitel).

1. Die zahlreichen und prächtigen Marienkirchen, die in der ganzen christlichen Welt allenthalben zum Himmel emporragen, sind den Irrgläubigen ein Dorn im Auge. Ganz besonders aber sind es die Marianischen Gnadenorte und der außerordentliche Zulauf, dessen sie sich seitens des katholischen Volkes erfreuen, die ihren Missmut und Unwillen erregen. Gegen diesen "törichten Aberglauben" richten sie darum ihren Spott und Hohn. Auf solche Wallfahrer, sagen sie, beziehe sich jene Weissagung Christi über die Zeiten und Ereignisse, die dem Weltende unmittelbar vorangehen werden. Da würden manche die Worte im Munde führen: " Siehe, er" - nämlich Christus - "ist in der Wüste, siehe, er ist in den Kammern" (Mt 24, 26). Nach Christi Mahnung sollte man ihnen aber nicht glauben und nicht hinausgehen. "Was sollten die Toten mit Tempeln aus Stein oder Holz zu schaffen haben? Im Wort Gottes heißt es, dass man Gott an jedem Orte anrufen solle. Es ist also nicht ein Ort heiliger und zum Beten geeigneter als der andere (Vgl. Centuriat. Cent. 7. cap. 13. pag. 317 A.)."

Die Toten, oder vielmehr die Heiligen, deren Seelen in der Hand Gottes sind (Weish. 3, 1) und die vor dem Thron Gottes stehend (Offb 7, 11) mit den Engeln das Angesicht des Vaters schauen (Mt 18, 10), nehmen sich ebenso wie diese der Erdenpilger an. Der heilige Chrysostomus und der hl. Basilius bemerken ausdrücklich, dass die Heiligen uns besonders gerne beistehen, wenn wir im Gotteshaus beten und vor ihren Reliquien verweilen.

Demnach haben die Heiligen also doch etwas mit unsern Kirchen zu schaffen. Weil diese Wohnungen Gottes und Stätten christlicher Andacht sind, so muss den Heiligen daran liegen, dass Gott in gebührender Weise darin geehrt und das Heil ihrer Brüder durch fromme Übungen gefördert werde.

2. Was nun jene Worte Christi betrifft: "Wenn sie euch sagen: Siehe, er ist in der Wüste, so geht nicht hinaus; siehe, er ist in den Gemächern, so glaubt es nicht", so waren sie die Antwort auf die Frage der Jünger, aus welchen Anzeichen man auf der baldigen Untergang Jerusalems und die nahe Wiederkunft Christi am Weltende werde schließen können. Darauf erwiderte der Herr, in den letzten Zeiten würden viele falsche Propheten aufstehen, die durch mannigfache Irrlehren und Scheinwunder die Gläubigen von Christus und seiner Wahrheit wegzulocken suchen würden. Diese werden vielfältige Spaltungen in der Christenheit verursachen, indem sie vorgeben, sie verkündeten den wahren Christus, dem man sich anschließen müsse, um das ewige Heil zu erlangen. Die einen werden sagen: "Siehe, er ist in der Wüste", die andern dagegen: "Nein, in den Gemächern ist er, bei uns findet ihr den wahren Christus und sein Evangelium." Und zur Bekräftigung ihrer Lehre werden sie mit Hilfe der bösen Geister falsche Wunderzeichen wirken und dadurch viele in Irrtum führen. Um nun die Seinen gegen diese Gefahr sicherzustellen, ermahnt sie Christus, diesen neuen Lehrern oder vielmehr Verführern keinen Glauben zu schenken. "Geht nicht zu ihnen hinaus, sagt er, sondern verharret in der wahren Kirche, dieser erprobten Säule und Grundfeste der Wahrheit" (1 Tim 3, 15). Das ist auch die ernste Mahnung des Apostels: "Lasset euch nicht verleiten durch allerlei fremdartige Lehren" (Hebr 13, 9).

Es ist fürwahr ein seltsamer Einfall, diesen Worten Christi einen so fern liegenden Sinn unterschieben zu wollen, als hätte er damit die Verehrer Mariä und der Heiligen gemeint, die nach katholischer Sitte zu den Stätten wallfahren, an denen Gott durch Vermittlung seiner Heiligen besondere Gnaden verleihen will.

Dieser Ausspruch des Herrn ist vielmehr gerade gegen die gerichtet, die ihm eine so willkürliche Deutung zu geben versuchen. Sie sind es ja, die sich zur Rechtfertigung ihres Abfalls von der alten Kirche auf den nichtssagenden Vorwand berufen, Christus und seine Kirche befänden sich in der Wüste oder in abgelegenen Kammern, das heißt in den von ihnen gegründeten Konventikeln und Winkelkirchen. Nach Art der Donatisten wagen sie, das Wort und das Reich Christi auf ein einzelnes Land, auf einen einzigen Teil der Erde zu beschränken. In der Fürsorge für seine Herde wollte der Gute Hirt die Seinen vor diesen Mietlingen warnen, die, von der Kirche sich absondernd, gleichsam ebenso viele neue Christusse verkünden, als sie unter dem Deckmantel des Evangeliums und unter Missbrauch der Autorität Christi neue Lehrsätze aufstellen. Ist nicht wirklich der Erlöser ein Christus in der Wüste, in der Einsamkeit, gemäß der Anschauung von allen denen, die sich ihn als ein Haupt ohne Leib vorstellen, indem sie sich einbilden, die Kirche habe jahrhundertelang den wahren Sinn der Heiligen Schrift nicht erfasst und den richtigen Gebrauch der Sakramente nicht gekannt, sie habe sich also diese ganze Zeit hindurch in vollständiger Finsternis befunden?

Heißt das nicht Christus sozusagen in ein enges Gemach einschließen, wenn man den mystischen Leib Christi auf ein so kleines Gebiet beschränken will, wie ein Vigilantius, Jovinian, Donatus, Berengar, oder ein Wiklif, Hus oder Luther ihm zugestehen wollte? Sollte diesen Männern zu ihrer Zeit wirklich ein helleres Licht aufgegangen sein, als allen übrigen? Muss man nicht solchen Neuerungen gegenüber festhalten an dem für immer geltenden Worte des Herrn: "Glaubet ihnen nicht, geht nicht zu ihnen hinaus"? In diesem Sinne hat darum der hl. Augustinus (Lib. 1. quaest. Evang. cap. 38. ML 35, 1330) die vorliegende Stelle dahin ausgelegt, dass die echten Christgläubigen den Abtrünnigen keinen Glauben schenken dürften, weil diese sich auf eine einzelne Gegend oder Provinz zu beschränken pflegten. Die katholische Kirche dagegen sei dem hellaufleuchtenden Blitzstrahl vergleichbar, der aus den Wolken hervorzuckend vom Aufgang bis zum Niedergang alles erhelle. Auf der ganzen Welt trete ja die Kirche so deutlich in die Erscheinung, dass sie von allen, die nicht ganz blind sind, bemerkt und gleich einer Stadt auf hohem Berge leicht erkannt werden könne.

3. Es ist die Überzeugung der ganzen Kirche, dass Gott an einzelnen Orten seine Gnaden mit außergewöhnlicher Freigebigkeit zu spenden pflegt, und zwar vielfach gerade an solchen, denen die Gottesmutter ihre besondere Gunst hat zuwenden wollen.

So hat ja Gott schon im Alten Bunde die Stadt Jerusalem bevorzugt, wie er es verheißen hatte mit den Worten: "Ich will diese Stadt beschützen und ihr Rettung bringen um meinetwillen wie auch meinem Diener David zuliebe" (2 Chr 19, 34). Namentlich aber versprach Gott dem König Salomon auf seine Bitte hin, er werde allen Besuchern des Tempels seine besondere Huld erzeigen. "Ich habe dieses Haus, das du erbaut hast, geheiligt. Für ewig soll es meinen Namen tragen, und meine Augen und mein Herz werden alle Zeit dort sein" (1 Chr 9, 3).

4. In einem noch weit höheren Grade als der jüdische Tempel verdienen alle christlichen Kirchen, von Gott geheiligte und besonders begnadete Stätten genannt zu werden. Hier vor allem sollen ja die Gläubigen des Neuen Bundes im Geist und in der Wahrheit anbeten, hier bringt die Kirche durch die Hände ihrer Diener dem Allerhöchsten jenes reine Speiseopfer dar, das seinen Namen groß macht unter den Völkern. (Vgl. Mal 1,11) Doch hat es Gottes Weisheit und Güte gefallen, einige dieser Heiligtümer durch besonders zahlreiche und außerordentliche Gnadenerweise vor den übrigen auszuzeichnen. So gab der hl. Augustinus, wie er selbst bezeugt, manchen seiner Diözesanen den Rat, eine Wallfahrt zum Grab des hl. Felix von Nola zu geloben. Und doch gab es in Afrika selbst so manche heilige Stätten und Martyrergräber. Gewiss, Gott ist überall, sagt der heilige Lehrer, aber wer kann die geheimnisvollen Absichten ergründen, die Gott veranlassen, einige Orte durch besonders auffallende Erweise seiner Wundermacht auszuzeichnen? Zu diesen gehöre auch die Ruhestätte des hl. Felix, die einen weit verbreiteten Ruf als Gnadenort erlangt habe (Cf. August. Ad Clerum Hipponensem, Epist. 78. n. 3. ML 33, 269).

Beim hl. Augustinus finden wir auch die Mahnung, man solle sich nicht durch gewisse Missbräuche irremachen lassen, die sich leicht bei den Wallfahrten einschleichen und die von den Gegnern derselben immer wieder hervorgehoben werden. Er gibt zu, dass manche Wallfahrer nicht so fest den Werken der Frömmigkeit sich hingäben als vielmehr der Befriedigung ihrer Sinnenlust. Aber etwas anderes ist es, sagt der Heilige, was wir lehren, und etwas anderes, was wir dulden, weil wir es nicht verhüten können. Man muss unterscheiden zwischen der christlichen Sitte und den menschlichen Verstößen, die dabei vorkommen sei es in Folge ungezügelter Ausgelassenheit oder irrender Schwäche (Cf. August. Contra Faustum, lib. 20. cap. 21. ML 42, 385).

Hier gilt das Wort des hl. Hieronymus (Adv. Vigilantium n. 9. ML 23, 363 A.): "Die Schuld einzelner Christen darf man nicht der christlichen Religion anrechnen."

5. Einem jeden, der auch nur einigermaßen in den Schriften des christlichen Altertums bewandert ist, muss es bekannt sein, dass die Gläubigen aller Länder von jeher zu den heiligen Stätten Palästinas zu pilgern pflegten. Dort hat ja Christus, das Licht und der Heiland der Welt, die Geheimnisse unserer Erlösung gewirkt.

Darum konnte der hl. Hieronymus ohne Übertreibung sagen: "Aus der ganzen Welt kommen die Pilger scharenweise hierhin gezogen (Epist. 58. ad Paulinum de institut. monachi, n. 4. ML 22, 582)." Unzählige sind auch zu allen Zeiten zu den Gräbern der Apostelfürsten Petrus und Paulus nach Rom gepilgert. "Nach Rom, dieser königlichsten aller Städte", ruft der heil. Chrysostomus aus (In Epist. 2. ad Cor. MG 61, 582), "ziehen Könige, Statthalter und Soldaten; alles lassen sie im Stich, um zum Grab des einstigen Fischers und des ehemaligen Zeltmachers hinzueilen."

Berühmte Wallfahrtsstätten waren ferner die Tempel der hl. Jungfrau und Martyrin Thekla in Seleucia, des hl. Martinus in Tours, der heiligen 40 Martyrer in Kappadozien, das Grab des hl. Apostels Jakobus in Spanien und das der hl. Martyrin Agatha in Sizilien.

6. Besonders zahlreich und bekannt waren aber die der seligsten Jungfrau geweihten Heiligtümer. Dort suchten und fanden die Gläubigen von jeher wunderbare Hilfe in ihrer leiblichen und seelischen Not. Als zur Zeit Gregors des Großen in Rom die Pest wütete, forderte dieser heilige Papst alle Klassen der Bevölkerung auf, in der Hauptkirche der Gottesmutter, Maria die Größere (Santa Maria Maggiore) genannt, zusammenzukommen. Sooft in der Folgezeit eine öffentliche Plage die Stadt bedrohte, eilte das römische Volk mit seinen Priestern zu diesem Heiligtum und suchte dort Schutz bei der Mutter der Barmherzigkeit (Cf. Charta de litan. majoribus in basil. ML 77, 1329 B.).

Nach Verlegung seiner kaiserlichen Residenz nach Konstantinopel ließ Konstantin der Große dort eine Kirche errichten, die den Namen der Gottesmutter tragen sollte. Er weihte auch die ganze Stadt der seligsten Jungfrau. Zu ihr nahmen die Bewohner von Byzanz ihre Zuflucht, als später die Sarazenen die Stadt belagerten. Der Hilfe Mariä schrieben sie auch ihre Befreiung zu. Als die Christen Kappadoziens sich von dem abtrünnigen Kaiser Julian bedroht sahen, pilgerten sie unter Führung ihres Bischofs, des hl. Basilius des Großen, zum Heiligtum der Gottesmutter auf dem Berg Didymus. Dort suchten und fanden sie Abwendung der drohenden Gefahr.

7. Auch in Deutschland finden wir manche altehrwürdige und berühmte Heiligtümer Mariä.

In Aachen errichtete der hochsinnige und freigebige Kaiser Karl der Große die prächtige Münsterkirche, die den Namen der seligsten Jungfrau trägt. Er schmückte sie mit vielen kostbaren Marmorsäulen, die er aus Italien herbeischaffen ließ. Ein besonders kostbares Geschenk seiner Vorliebe für das Aachener Münster war der reiche Schatz heiliger Reliquien, die der Kaiser aus Palästina mitgebracht hatte. Er wollte, dass sie hier aufbewahrt und alljährlich dem Volk zur öffentlichen Verehrung ausgestellt und gezeigt werden sollten. Es ist kaum zu schildern, welch hohe Blüte die Andacht zur seligsten Jungfrau an dieser Stätte einstmals erreicht hatte. Aventinus nennt das Aachener Münster ein in ganz Europa hochverehrtes Heiligtum. Es sei unter den vielen großen Werken des großen Karl das bedeutendste gewesen. Die Wallfahrt nach Aachen hat fast bis in unser Zeitalter hinein ihre Zugkraft bewahrt und selbst von weit entlegenen Gegenden her zahlreiche Pilger dorthin geführt. Selbst aus Ungarn sind viele nach Aachen gewallfahrt, die so ein Gott gemachtes Versprechen erfüllten und zugleich ein erbauliches Beispiel hochherziger und opferwilliger Andacht zur Gottesmutter gaben. Recht beschämend muss demgegenüber für uns Deutsche die Feststellung sein, dass bei uns die fromme Sitte des Wallfahrens in unsern Tagen mehr und mehr in Verruf geraten ist. Oder müssten wir uns nicht der Tatsache schämen, dass wir von dem heroischen Glauben und der standhaften Frömmigkeit eines so guten und großen Kaisers so weit abgewichen sind? Wo ist die Liebe und Verehrung, die wir der heiligsten Gottesmutter im Kreise unserer Familien wie im öffentlichen Leben noch darbrächten? Und doch würden wir gewiss viel richtiger handeln, wenn wir nach dem Beispiel jenes wahren Vaters des Vaterlandes, des heiligen und unbesiegten Kaisers Karl, dem bisher noch kein besserer und glücklicherer Herrscher auf den deutschen Kaiserthron nachgefolgt ist, uns angelegen sein ließen, in der Furcht Gottes und in der Verehrung der jungfräulichen Gottesmutter den echten Glaubensgeist zu betätigen.

8. Ehrenvolle Anerkennung gebührt den hochherzigen Söhnen der Schweiz, die sich das hohe Gut des katholischen Glaubens und Bekenntnisses in so rühmenswerter Weise bis heute bewahrt und unter dem glückverheißenden Schutz Mariä so oft und so tapfer gekämpft und gesiegt haben. Sie wissen aus Erfahrung, wie viel Mut und Kraft dem Bewusstsein entströmt, der seligsten Jungfrau sich geweiht und in ihrem stillen Heiligtum ihre Hilfe angefleht zu haben. Einsiedeln nennen sie ja die Kapelle, die der hl. Meinrad mitten in der Wildnis des Waldes aufzubauen begann. Kaiser Otto I. widmete sie Maria, eingeweiht aber wurde sie von den himmlischen Geistern. Seit vielen Jahren ringsum von Feinden des katholischen Glaubens umstellt und bedroht, ward dieses Heiligtum vor kurzem durch eine Feuersbrunst zerstört. Aber trotz allem besteht es wie durch ein Wunder bis auf den heutigen Tag. Mögen die Andersgläubigen, die sich von der katholischen Kirche losgesagt haben, sich immerhin über diesen Wallfahrtsort lustig machen und die Berichte über dessen Ursprung und Entwicklung sowie über die damit verknüpften Wunder als unwahr hinstellen, das soll die Bekenner des alten Glaubens nicht abhalten, das herrliche Beispiel ihrer Vorfahren auch in Zukunft unbeirrt zu befolgen. Im Geist lebendigen Glaubens und in der Kraft christlicher Hoffnung werden sie auch fernerhin in der Mutter den Sohn ehren und durch ihre Vermittlung die Gnade ihres Erlösers und die Nachsicht ihres Richters sich zu erlangen suchen. Sie werden die Mühen, Unkosten und Gefahren auch einer weiten und beschwerlichen Reise starkmütig auf sich nehmen, um der heiligsten Jungfrau in diesem Heiligtum ihre Bitten und Opfer darzubringen. Sie wissen ja, wie viele hier schon Erhörung, reiche Gnade und beglückenden Trost gefunden haben.

9. Von einer Gnadenstätte im Bistum Minden, Overkerke genannt, berichtet der Geschichtschreiber Kranz: "Es hat Gott gefallen, dass an diesem Ort die heiligste Jungfrau in besonderer Weise angerufen wurde. Diese hat durch viele wunderbare Begebenheiten, deren Ruf sich weithin verbreitete, bezeugt, dass sie diese Stätte unter ihren besonderen Schutz genommen. Pilger von fern und nahe haben dies erfahren. So geschah es, dass seit vielen Jahren die Gläubigen dorthin zu wallfahren gelobten und nach Erfüllung ihres Gelöbnisses zu ihrer großen Freude in ihren Anliegen dort Hilfe fanden." Ebenso berichtet Aventinus von einer damals allgemein bekannten Gnadenstätte in Bayern, Hallerthaun mit Namen. Auch jetzt noch kennt man in Bayern mehrere Gnadenorte der Gottesmutter. Darunter ist namentlich Altötting auch in andern Ländern berühmt geworden. Kurz, alle Länder und Provinzen, in denen der alte, unverfälschte Glaube nicht durch die neuen Irrlehren zersetzt und zerstört worden ist, halten die Heiligtümer der seligsten Jungfrau in hohen Ehren. Und allenthalben findet man einige besonders bekannte und beliebte Gnadenstätten Mariä, zu denen die Gläubigen in großen Scharen wallfahren.

Rückblick und Schlusswort

Alle echten Kinder der katholischen Kirche befolgen mit Freuden das Beispiel, das ihre Vorfahren nun schon seit (zwanzig) Jahrhunderten in der Verehrung und Anrufung der jungfräulichen Gottesmutter gegeben haben. Mannigfaltig sind die Früchte, die sie aus der Übung dieser Andacht ziehen.

1. Aus der allgemeinen und beständigen Übereinstimmung so vieler Generationen und Völker in der Verehrung der seligsten Jungfrau gewinnen die Rechtgläubigen vor allem die anschauliche Erkenntnis, dass Christus, der Sohn Gottes und Mariä, sich der Ehre seiner Mutter allezeit angenommen und seine Sorge dafür allenthalben an den Tag gelegt hat. In dieser Erkenntnis werden sie sich deutlich bewusst, jener Kirche anzugehören, die als "Säule und Grundfeste der Wahrheit" vom Geist der göttlichen Wahrheit geleitet wird und deshalb in ihrer überall und zu jeder Zeit geübten Marienverehrung nicht irregehen kann. Darum sind die Katholiken sich dessen gewiss, dass die Geburt, das Leben, der Tod und die Himmelfahrt Mariä große und heilige Ereignisse waren in den Augen Gottes, deren Gedächtnis mit Recht von der ganzen Kirche festlich begangen wird. Die Erwägung dieser Ergebnisse kann demnach nur Nutzen bringen, wie ja auch Gott selbst die andächtige Begehung derselben im Geist der Kirche durch mancherlei Wunder bestätigt hat. Zu ihrer freudigen Genugtuung werden die Kinder der Kirche sich so der Tatsache bewusst, dass die Berechtigung der katholischen Marienverehrung trotz aller Angriffe ihrer Gegner unerschütter!ich feststeht und von den ersten Anfängen der Kirche an gleichzeitig mit deren fortschreitender Entwicklung immer tiefere Wurzeln geschlagen hat. Gibt es ja kaum einen Winkel des christlichen Erdkreises, wo die Anrufung der seligsten Jungfrau, das Begehen ihrer Feste oder die Verehrung ihrer Heiligtümer und Bilder nicht bekannt geworden oder in Übung gekommen wäre.

2. Manchen freilich genügen alle angeführten Aussprüche und Beispiele so vieler bedeutender Zeugen nicht. Sie sind eben gegen jede Art von Marienkult bis zu einem solchen Grad eingenommen, dass die Autorität aller Lehrer der Vorzeit sowie die alten Überlieferungen und Gebräuche der Kirche durchaus keinen Eindruck auf sie machen. Sie ziehen eben in dieser wie in so vielen andern Fragen ihr eigenes Urteil und die Ansichten der neuen Lehrer der Überzeugung früherer Generationen vor. Nach ihrer Anschauung hatte die Vorzeit kein Auge für das wahre Licht des göttlichen Wortes, das erst ihnen aufgegangen sei. Die früheren Jahrhunderte, in denen man die jungfräuliche Mutter verehrte, hätten eben noch in der dichten Finsternis der Unwissenheit, des Aberglaubens und der Abgötterei gelegen. Diese Klasse von Kritikern - oder soll man sagen: Spöttern - wird immer zahlreicher in Europa. Und der Schaden, den sie überall anzurichten drohen, wird um so größer sein, je mehr die Geister die zügelloseste Denk- und Redefreiheit bezüglich der religiösen Fragen sich anmaßen. In den nördlichen Gegenden hält sich bereits jedermann für berechtigt, über die Religion zu denken, was ihm beliebt und selbst ganz gottlosen und längst verurteilten Ansichten zu huldigen. Bei der großen Anzahl solcher jeden Haltes entbehrenden Menschen kann es nicht ausbleiben, dass sich fort und fort neue Sekten bilden, woraus dann immer wieder neue Spaltungen entstehen. Man möchte glauben, Gottes Gerechtigkeit wolle diese Leute zur Strafe für ihren Hochmut oder für ihre anderen verborgenen Sünden gänzlich ihrem verkehrten Sinne anheim geben, so dass sie ihre eigenen Behauptungen nicht mehr zu erfassen und aufrecht zu halten vermögen. So kommt es denn, dass sie ihre religiösen Ansichten fortwährend ändern und aus eigener Erfahrung die Wahrheit jenes Ausspruches mit Händen greifen können, den einer - und zwar nicht der Geringste - von ihnen, Melanchthon, einst getan hat (In Evang. Dom. 8. p. Trinit. CR 14, 343): "Das Wahre stimmt stets mit allem überein, was ebenfalls wahr ist; eine falsche Ansicht aber führt zu vielen anderen Irrtümern. Wenn einer vom rechten Weg abgewichen ist, so wird er, je länger er so voranschreitet, um so weiter vom rechten Weg abkommen."

3. Das eine steht meiner Überzeugung nach fest: Es ist eine Täuschung, zu glauben, man könne auch dann noch im Frieden und in der Gemeinschaft mit Christus auf die Dauer beharren, nachdem man der Mutter Christi gleichsam den Rücken gekehrt. Und das haben doch schließlich jene getan, die es nicht über sich bringen können, die Verehrung der Mutter des Herrn, so wie sie bisher in der Kirche allgemein üblich war, noch länger zu dulden oder zu billigen. Ich stehe nicht an, diese Behauptung aufzustellen: Alle, die in unsern Tagen die Verehrung der Gottesmutter mit solcher Geringschätzung abweisen und bekämpfen, setzen sich einer großen Gefahr aus und belasten in bedenklicher Weise ihr Gewissen.

4. Sie versündigen sich nämlich gegen Gott den Vater, der Maria für immer auf das innigste mit sich verbunden hat. Diesem auserwählten, bevorzugten Werkzeug Gottes irgendwie zu nahe treten, heißt sich sozusagen am Schöpfer Mariä selbst vergreifen.

Sie versündigen sich ferner gegen Gott den Sohn, der mit aller Sorgfalt über die Ehre seiner Mutter wacht und jede Verletzung derselben mit großer Strenge ahndet, wie die Feinde Mariä oft genug an sich erfahren haben.

Sie versündigen sich ebenso gegen den Heiligen Geist, den Lehrer und Leiter der katholischen Kirche, der durch so viele Aussprüche der heiligen Väter und so manche Entscheidungen oder Verordnungen der Konzilien zum Schutz der Würde und der Verehrung Mariä laut und feierlich eingetreten ist.

Sie versündigen sich sodann auch gegen die hochheilige Gottesmutter selbst, der sie in böswilliger Weise die ihr gebührenden und von der Kirche zuerkannten Ehrenerweisungen entziehen. Und es wäre doch wahrlich Christenpflicht gewesen, statt nach des Bösen Art die Verherrlichung der seligsten Jungfrau zu hindern, nach dem Beispiel der guten Engel dieselbe zu fördern und zu vermehren.

Sie versündigen sich ferner gegen die ehrwürdige Schar so vieler heiliger Väter und Lehrer, in denen wir die hervorragendsten Herolde und Verteidiger der christlichen Wahrheit erblicken müssen. Und doch haben die Glaubensneuerer sich nicht gescheut, diese verehrungswürdigen Männer sozusagen als lügenhafte und heuchlerische Betrüger auszugeben, und zwar gerade deswegen, weil sie in Wort und Tat die Marienverehrung unter allen Völkern und zu allen Zeiten zu verteidigen und zu verbreiten bemüht waren.

Sie versündigen sich weiterhin gegen die Kirche, diese Säule der Wahrheit, deren einmütige Lehre und Überlieferung über die Verehrung der seligsten Jungfrau sie treulos aufgeben, feindlich bekämpfen und schmählich entstellen.

Sie verfehlen sich gegen die Hirten und Vorsteher der Kirche, deren rechtmäßiger Autorität sie sich hartnäckig entziehen. Sie versagen ihnen den Gehorsam, den sie in einer so heiligen Sache zu leisten verpflichtet sind, und setzen sich stolz über die göttlichen und menschlichen Gesetze hinweg.

Sie verfehlen sich auch in einem gewissen Sinne gegen alle ihre Mitbrüder, die seit Beginn der christlichen Ära, ihrer innersten Überzeugung folgend, sich der Andacht zur seligsten Jungfrau beflissen haben. Diesen frommen Eifer, den auch ihre eigenen Vorfahren betätigt haben, wagen jetzt die Glaubensneuerer als Aberglauben, ja als verabscheuungswürdige Abgötterei zu verschreien, indem sie alle Marienverehrer Gotteslästerer und Feinde Christi schelten.

Sie versündigen sich endlich an sich selbst, da sie sich in unsinniger Grausamkeit einen unberechenbaren, verhängnisvollen Schaden zufügen. Dem Licht der Wahrheit, das seit so vielen Jahrhunderten auf dem ganzen christlichen Erdkreis erstrahlt, verschließen diese Leute ihre Augen. Die Finsternis der alten Irrlehren eines Hus, Wiklif, der Waldenser, Bilderstürmer und Vigilantianer ziehen sie dem Licht Christi vor, das doch schon längst die dunkle Nacht besiegt und verscheucht hat.

Und diese Sünde ist wahrlich nicht ein nur leichtes Vergehen. Sie zieht vielmehr die verhängnisvollsten Folgen nach sich, weil sie die von der göttlichen Weisheit festgesetzte Ordnung verkennt und stört. Es ist nämlich der unwiderrufliche Beschluss Gottes, dass Maria, entsprechend der ganz einzigen Bevorzugung, wodurch Gott sie über alle andern Geschöpfe begnaden und verherrlichen wollte, auch seitens der Gläubigen aller Zeiten eine ganz einzigartige Verehrung erwiesen werden soll, wie sie ihrer Würde, Heiligkeit und Herrlichkeit gebührt. Wie nichtssagend ist darum der Vorwand, dessen falscher Schein die Anhänger der neuen Lehrer dermaßen blendet, dass sie wähnen, aus Rücksicht auf die Ehre des Allerhöchsten der seligsten Jungfrau jede Verehrung und Anrufung vorenthalten zu müssen. Gott allein, so geben sie vor, dürfe man im Geiste und in der Wahrheit anbeten. Wenn sie das wirklich und ehr!ich tun wollten, so würden sie größere Bereitwilligkeit zeigen, sich den Anordnungen Gottes zu fügen. Sie würden dann mit weit größerer Ehrfurcht der Kirche Folge leisten, die Gott uns zur Lehrerin und Führerin gegeben. Sie würden nicht nur Christus selbst als das Haupt seines mystischen Leibes ehren wollen, sondern auch den vorzüglicheren Gliedern dieses Leibes die ihnen zukommende Ehre erweisen, ganz besonders aber der erhabenen Mutter des Herrn, Maria. Sie würden dann ohne Bedenken das Beispiel befolgen, das die christliche Vorzeit ihnen gegeben, und eine weit höhere Meinung haben von der Fürbitte, dem Verdienst und der Schutzmacht der Gottesmutter. Nur der ist fähig, Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten und anzuflehen, der sich durch den wahren Glauben Gott selbst rückhaltlos hingibt und keinen Zweifel an der Wahrheit des Glaubens aufkommen lässt. Das kann man aber nicht von denen sagen, die dem Heiligen Geist widerstehen, weil sie der von ihm geleiteten Kirche, ihren Konzilien und Vätern, hochmütig widersprechen. Sie haben nur einen hinkenden Glauben, ja ihr Glaube ist hinfällig geworden und liegt kraftlos am Boden. Im Geist und in der Wahrheit betet, nach einem Ausspruch des hl. Augustinus, wer im Frieden mit der Kirche betet und in der Einheit des Leibes Christi, der sich aufbaut aus den Gläubigen der ganzen Welt.

Hiermit beschließe ich meine Abhandlung über die heiligste und nie genug zu preisende und zu verehrende Jungfrau und Mutter Maria. Nach dem Maße meiner schwachen Kräfte habe ich versucht, den gesamten Stoff in diesen fünf Büchern möglichst übersichtlich und gründlich zusammenzufassen. Ich verhehle mir jedoch keineswegs, dass in meinem Werke manche Punkte übergangen oder nicht mit der nötigen Vollständigkeit besprochen worden sind. Der fair denkende Leser wird daran keinen Anstoß nehmen. Er wird auch verstehen, warum nicht alles den Beifall unserer kritisiersüchtigen Zeit finden mag.

Und nun wende ich mich an dich, erhabenste Königin und getreueste Mutter Maria. Wer dich mit frommem Sinn anfleht, findet immer Gehör, und die Erweise deiner Güte müssen in der beständigen Erinnerung aller Sterblichen fortleben, die sich deiner Wohltaten bewusst geworden sind. Mit inständigem Verlangen richte ich an dich die ehrfurchtsvolle Bitte, du mögest dieses schwache Zeichen meiner Andacht zu dir wohlgefällig aufnehmen. Ist auch meine Gabe an sich nur unbedeutend, so mögest du sie doch werten gemäß dem guten Willen des Gebers. Nimm sie darum huldreich an und empfiehl sie deinem allmächtigen Sohn. Die Urteile der Menschen gleichen den Spinnengeweben, die leicht zerreißen. Sie werden mir um so weniger Sorgen machen, wenn es dir gefallen sollte, auch nur ein Wort, ich sage nicht des Lobes, sondern der Entschuldigung für mein Werk zu sprechen. Wenn du diese Schrift unter deinen Schutz nimmst, wird sie gegen alle Angriffe gesichert sein. Deiner Fürbitte schreibe ich die besondere Gnadenhilfe Gottes zu, der mich so manches Mal, wenn meine Kraft erlahmen wollte, zur Fortsetzung der begonnenen Arbeit angespornt und meine Schwachheit neu gestärkt hat. Sie hat mich immer wieder aufgerichtet, wenn ich ermüden wollte, sie hat meine Schritte auf den rechten Weg gelenkt und, wenn ich zuweilen davon abgeirrt war, wieder darauf zurückgeführt, und jetzt hat sie mich endlich zum erwünschten Ziele hingeleitet. Ich weiß, ich bin kein Ephräm, dass ich mit ihm dir zurufen dürfte: "Mache mich würdig, o heilige Jungfrau, dein Lob zu verkünden", ich kann nicht, wie ein Damaszenus, mit neuen Weisen deiner Würde lobsingen, auch bin ich kein Ildefons, dass ich zum Lohn für den zur Verteidigung deiner Ehre geführten Kampf ein Geschenk aus deiner Hand zu empfangen verdiente. Aber ich würde mich schon für überreich belohnt erachten, wenn du meinen Namen wolltest eintragen lassen in das Verzeichnis - ich sage nicht: deiner Freunde und Söhne, aber doch - deiner geringsten Schützlinge und Diener. Ich würde schon zufrieden sein, wenn du für die Stunde, in der ich vor dem Richterstuhl des gerechten Gottes, deines Sohnes, mich stellen muss, mir Unwürdigem deinen Schutz und deine Fürsprache zusichern und mir die Gnade erlangen wolltest, mit Erfolg meine Tätigkeit im Dienste Gottes fortsetzen und einst glücklich vollenden zu können.

Zum Schluss erlaube ich mir eine aufrichtige Bitte an alle einsichtigen Leser des vorliegenden Werkes. Sollten sie darin auf etwas stoßen, was sie glauben tadeln zu müssen oder was einer Verbesserung bedürftig scheint, so mögen sie ohne Bedenken von ihrem Recht, das ja auch ein Recht der Liebe ist, Gebrauch machen und ihre Ausstellungen oder Berichtigungen vorbringen. In aller Liebe ersuche ich sie aber auch, dabei mit unserer Schwachheit einigermaßen Nachsicht zu üben. Was aber in unserer Abhandlung der Wahrheit und der ihr gestellten Aufgabe entsprechend befunden wird, das möge man nicht uns und unserm Verdienst zuschreiben, sondern, wie wir schon früher oft betont haben und hier in aller Aufrichtigkeit wiederholen, einzig und allein unserem Gott und Heiland Jesus Christus und der unvergleichlichen Jungfrau und Gottesmutter Maria, die im Himmel und auf Erden an Gnade und ewiger Herrlichkeit alle übrigen Geschöpfe übertrifft.

Ende des V. Buches und des ganzen Werkes über die Gottesmutter Maria.

Literatur