Dietrich von Hildebrand: The Sacred Heart: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Quelle:''' Dietrich von Hildebrand: ''Über das [[Herz]]. Zur [[mensch]]lichen und [[Menschwerdung Gottes|gottmenschlichen]] [[Affekt]]ivität'', [[Verlag Josef Habbel]] Regensburg 1967 (207 Seiten). Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Sacred Heart, Helicon Verlag Baltimore/Dublin. Der erste und dritte Teil des Buches ist von Karla Mertens übersetzt, der zweite vom Verfasser selbst. Bei der Digitalisierung leicht bearbeitet von [[Benutzer:Oswald]]. Die Rechtschreibung ist der gegenwärtigen Form angeglichen. Lateinische Sätze die übersetzt sind, wurden meist weggelassen.
 
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== Auf dem Schutzumschlag ==
 
== Auf dem Schutzumschlag ==

Version vom 9. Oktober 2024, 12:23 Uhr

The Sacred Heart

Über das Herz
Zur menschlichen und gottmenschlichen Affektivität

Dietrich von Hildebrand, amerikanische Erstveröffentlichung 1965

Quelle: Dietrich von Hildebrand: Über das Herz. Zur menschlichen und gottmenschlichen Affektivität, Verlag Josef Habbel Regensburg 1967 (207 Seiten). Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Sacred Heart, Helicon Verlag Baltimore/Dublin. Der erste und dritte Teil des Buches ist von Karla Mertens übersetzt, der zweite vom Verfasser selbst. Bei der Digitalisierung leicht bearbeitet von Benutzer:Oswald. Die Rechtschreibung ist der gegenwärtigen Form angeglichen. Lateinische Sätze die übersetzt sind, wurden meist weggelassen.

Das Heiligste Herz Jesu

Auf dem Schutzumschlag

Zu Anfang dieser Darlegungen entwickelt von Hildebrand eine Phänomenologie des Herzens als Mitte und Quelle der menschlichen Affektivität. So macht er den Blick für ein unvoreingenommenes Erfassen des geistigen Ranges und der Würde dieser zentralen Sphäre der Person. Damit sind die Grundlagen geschaffen für ein volles, ehrfürchtiges Eingehe auf die heilige Affektivität des gottmenschlichen Herzens.

Vielen, auch nicht wenigen katholischen Lesern werden durch diese eindringende phänomenologische Untersuchung der menschlichen Affektivität erst die Augen geöffnet für die zentrale Bedeutung des Herzens innerhalb der gesamten Person, In meisterhaften Analysen zeigt von Hildebrand das Herz als das wahre Selbst des Menschen. Diese Einsichten befähigen erst zu dem eigentlich christlichen Lauschen, zur Teilhabe an der heiligen Affektivität des Gottmenschen. Ein Buch, das von jeder wirklichkeitsfremden vordergründigen Versüßlichung wie von einem ebenso grotesken wie folgenschweren Männlichkeitsidol befreit.

Hier leuchtet endlich einmal die Sinnmitte der wahren, zutiefst biblisch begründeten Herz-Jesu-Verehrung auf, die so auch den nicht-katholischen Brüdern verständlicher zu werden vermag.

EINLEITUNG

Einer Eingebung des Herrn folgend, die sie in einer Vision empfangen hatte, bat Schwester Droste Vischering Papst Leo XIII. die ganze Welt dem heiligsten Herzen Jesu zu weihen. Ihre Bitte wurde mit jener Reserve aufgenommen, die die Kirche stets Privatoffenbarungen gegenüber wahrt. Schwester Droste Vischering fuhr fort, für ihre große Sendung zu beten und zu opfern. Drei Jahre war sie ans Bett gefesselt und litt furchtbare Schmerzen. Nachdem die zuständigsten Theologen lange beraten hatten, entschloss sich der Heilige Vater endlich, ihrem Wunsch zu entsprechen. Am selben Tag, an dem die Glocken aller katholischen Kirchen den feierlichen Akt der Weihe der ganzen Welt an das Heiligste Herz Jesu verkündeten, starb Schwester Droste Vischering. Sie hatte ihre große Mission vollendet.

Jedes Jahr durchlebt die Kirche in ihrer Liturgie das Erlösungsgeschehen von neuem. Diese Entfaltung ihres heiligen inneren Lebens folgt einem wechselnden Rhythmus. Jeder Teil des Kirchenjahres hebt ein anderes Ereignis der Erlösungsgeschichte hervor und so tritt in jeder Jahreszeit ein anderer Aspekt des Inkarnationsgeheimnisses in den Vordergrund. Dieser Rhythmus ergibt sich organisch, da die Liturgie der in der Zeit vollzogenen Erlösung gedenkt und sie vergegenwärtigt. Zugleich aber entspricht diese wechselnde Betonung einzelner Aspekte ein und derselben göttlichen Wirklichkeit den Gesetzen der menschlichen Natur "in statu viae" (Pilgerstand). Es ist uns in diesem irdischen Leben nicht gegeben, die Gesamtwirklichkeit der Offenbarungswahrheit auf einmal zu erfassen oder eine volle Antwort auf alle ihr vielfältigen Aspekte zu geben. Das werden wir erst in der Ewigkeit vermögen.

Auch die Vielzahl der außerliturgischen Frömmigkeitsformen weist auf diese Notwendigkeit wechselnder Zugänge zu dem gleichen Mysterium hin. Manche von ihnen heben einen bestimmten Aspekt des Geheimnisses der hl. Menschwerdung hervor; so die vom hl. Franziskus von Assisi eingeführte Andacht zum Kinde Jesu, zum Leiden unseres Herrn oder die Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu. Jede von ihnen wendet sich an Christus, den Gottmenschen, in einer besonderen Betrachtungsweise, die das Inkarnationsgeheimnis neu beleuchtet. So spricht die Gestalt des Kindes beredt vom Menschen in seiner Begrenzung; von der Frau Geborenen, der vom hilflosen Säugling an einer Entwicklung unterworfen ist, und erst allmählich zum Stand des Erwachsenen heranreift. So leuchtet in der göttlichen Kindheit die Spannung zwischen Gottes Absolutheit und der Begrenztheit des endlichen Geschöpfes wunderbar auf. Im Kinde Jesu offenbart sich Gottes unendliche Liebe, die sich uns mitteilt, indem sie Fleisch annimmt, in überaus ergreifender Weise.

In der Anbetung Christi in seiner Passion zeigt sich erschütternd die gleiche Spannung. Es ist der ewige Gott, die zweite Person der Heiligsten Dreifaltigkeit, das göttliche WORT, das in seiner menschlichen Natur leidet. Eindringlich wird uns die Wirklichkeit dieser menschlichen Natur bezeugt; denn dem Leiden ausgesetzt sein, ist ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Person. Wie in der Andacht zum göttlichen Kind, wird auch hier das Geheimnis der unendlichen Liebe Gottes angebetet. Gewiss ist das Mysterium der Liebe schon in der Menschwerdung enthalten, aber in der Passion Jesu bezeugt sich überwältigend die unermessliche Liebe Christi zu uns.

Vielleicht enthüllt sie sich jedoch am tiefsten in der Anbetung des Göttlichen Herzens. Die Anrufung: "Herz Jesu in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt" spricht von der dem Geheimnis der Menschwerdung innewohnenden Spannung in ihrer vollen unaussprechlichen Herrlichkeit. Wenn wir Herz Jesu sagen, rühren wir an das tiefste und edelste Merkmal der menschlichen Natur, ein Herz zu haben, das fähig ist zu lieben, ein Herz, das Angst und Kummer kennt, das betrübt und ergriffen sein kann. Das Herz ist für die menschliche Person das zutiefst charakteristische, ihr zartester, innerster, geheimster Mittelpunkt; und im Herzen Jesu wohnt die Fülle der Gottheit.

Wie einzigartig tritt im Heiligsten Herzen die unendliche Liebe Christi hervor, dieses Mysterium, das die tiefste Quelle unserer Freude ist. Es ist das große, das innerste Geheimnis jeder Seele, dass Christus uns liebt. Es ist die unfasslichste Wirklichkeit, die das Leben jedes Menschen von Grund auf änderte, könnte er sie nur voll begreifen. Das aber erfordert nicht allein ein theoretisches Erkennen dieses Geheimnisses als einer geoffenbarten Wahrheit, sondern ein Innewerden dieser Liebe, ähnlich wie der Liebe des menschlichen Geliebten. Ebenso schließt es ein ahnendes Erfassen des unvergleichbaren, einzigartigen Charakters dieser göttlichen Liebe ein, ihrer neuen, geheimnisvollen Qualität, ihrer unaussprechlichen Heiligkeit, wie sie im Evangelium und in der Liturgie erstrahlt und sich im Leben der Heiligen widerspiegelt.

Dieses große Geheimnis, - Gottes unendliche Liebe zu uns in Christus - die Quelle unserer Freude, unseres Trostes, unserer Hoffnung "in statu viae" (Pilgerstand) und unserer immerwährenden Seligkeit in der Ewigkeit leuchtet in besonderer Weise im Heiligsten Herzen auf: Herz Jesu, brennender Glutherd der Liebe.

Im Leben der Kirche wird die eine geoffenbarte Wahrheit im Lauf der Zeit immer differenzierter entfaltet. Die - sehr oft von Häresien hervorgerufene - Entwicklung der Dogmen bezeugt diesen Vorgang einer stets deutlicher werdenden Formulierung und Herausarbeitung. So bewahrt das unfehlbare Lehramt der Kirche nicht nur die ewige, unveränderliche übernatürliche Wahrheit, sondern hält in dieser zunehmenden Differenzierung ein Gegenmittel für die spezifischen Gefahren der jeweiligen Zeit bereit. Wie unser Herr im Evangelium verschiedene Aspekte der allumfassenden Wahrheit betont, dem Menschen entsprechend, zu dem Er spricht und der besonderen Gefahr gemäß, auf die Er hinweist, so legt die Kirche jeweils andere Seiten der einen unwandelbaren Wahrheit ausdrücklicher dar und wirkt dadurch den spezifischen Gefahren einer Epoche entgegen.

Ähnliches zeigt sich in der Entwicklung einzelner Frömmigkeitsformen. Auch hier erleben wir diesen Differenzierungsvorgang. So tritt eine Andacht, deren Gegenstand schon immer in der geoffenbarten Wahrheit enthalten war, im Lauf der Zeit viel mehr in den Vordergrund. Hier geht ein Wachstumsprozess vor sich, der seinen Sinn und Wert in sich hat. Er mag durch die Irrtümer einer Epoche ausgelöst sein oder ihnen providentiell im voraus begegnen. Eine neue Frömmigkeitsform kann also eine doppelte Beziehung zu den Zeitirrtümern haben: die eines Gegengiftes und die einer vorbeugenden Wappnung.

Die Verehrung des Heiligsten Herzens hat vor allem den Charakter innerer Differenzierung und ausdrücklicher Entfaltung von Gehalten, die schon immer in die Anbetung der heiligen Menschheit Christi einbezogen waren. Doch zugleich ist sie eine providentielle Antwort auf die Verirrungen einer Epoche und auf die Häresien eines bestimmten Ethos. Als diese Verehrung im siebzehnten Jahrhundert eingeführt wurde, war sie, abgesehen von ihrer inneren Sinnfülle, zugleich ein Gegengift gegen den Jansenismus und eine providentielle Schutzwehr für die Zukunft. Die wachsende Hinwendung zu ihr wirkt heute den Irrtümern des Antipersonalismus und dem Neutralismus des Herzens entgegen. In einer Zeit, in der ein radikaler Kampf gegen die Würde des Menschen geführt wird, in der man die menschliche Person als solche hasst, in der ein impersonaler Indifferentismus die Welt bedroht, strahlt aus dem Heiligsten Herzen das Licht der unendlichen göttlichen Liebe: "Und das Licht leuchtet in der Finsternis". Das schutzlose, allen Schmähungen und Beleidigungen, allen Lästerungen und Angriffen ausgesetzte Herz Jesu, das zahllose Menschen nicht kennen, dessen göttliche Botschaft viele andere übersehen und missverstehen, offenbart uns unablässig von neuem, dass die letzte Wirklichkeit Liebe ist, denn:

"Gott ist die Liebe".

Man hat zuweilen gesagt, unsere Religiosität solle mehr theozentrisch als christozentrisch sein. Da Christus selbst sich beständig an den ewigen Vater wende, sollten wir Seinem Beispiel folgen. Da Er der Mittler ist, bete auch die Kirche: "Durch Christus unseren Herrn". Doch, wie wir schon in einem früheren Werk (1) zeigten, lassen sich diese Alternativen nicht auf den übernatürlichen Bereich anwenden: "In Wahrheit ist es aber falsch, diese beiden Arten der Christusbezogenheit als Gegensätze einander gegenüberzustellen. Christus ist sowohl das ewige Wort des Vaters an uns, die Epiphanie Gottes, als auch der Mittler zwischen uns und Gott, unser Haupt, durch den wir allein Gott angemessen anbeten können. Christus wendet gleichzeitig ewig dem Vater und uns sein Antlitz zu. Er ist nicht nur ein Führer zu Gott wie Moses, er steht nicht nur auf der Seite der Menschheit und blickt mit ihr zu Gott auf, führt sie zu Gott hin, sondern er steht auch uns gegenüber als die Selbstoffenbarung Gottes, als der, der zu Philippus spricht: ,Philippus, wer mich sieht, sieht auch den Vater', als der, von dem der heilige Johannes sagt: ,Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Eingeborenen voll Gnade und Wahrheit' " (2). Daher können wir sagen: je christozentrischer, um so theozentrischer.

Mittelpunkt und Krone der christlichen Offenbarung ist die Selbstoffenbarung Gottes in Christus, die Epiphanie Gottes in der heiligsten Menschheit Jesu. "Denn die geheimnisvolle Menschwerdung des Wortes zeigt dem Auge unseres Geistes das neue Licht Deiner Herrlichkeit; indem wir Gott so mit leiblichem Auge schauen, entflammt Er in uns die Liebe zu unsichtbaren Gütern", sagt die Weihnachtspräfation.

Unsere Verbundenheit mit Christus ist nicht nur eine Wir-Gemeinschaft, und das ausschließliche "Du" ist Gottvater, sondern auch eine Ich-Du-Gemeinschaft. In der liebenden Hingabe an Christus, in der Einswerdung mit Ihm, werden wir in die heiligste Dreifaltigkeit geheimnisvoll hineingezogen.

Wenn auch die Wir-Verbundenheit mit Christus, unsere Gliedschaft an seinem Leib in übernatürlicher Weise durch die Taufe seinsmäßig hergestellt wird, so ist doch diese Gliedschaft tot ohne die gläubige und liebende Hingabe an Christus. So wird insbesondere die volle Nachbildung Christi in uns nie ohne die Ich-Du-Gemeinschaft mit Christus sich einstellen.

In der Liturgie finden wir diese beiden Aspekte in ihrer geheimnisvollen Durchdringung wieder. In der heiligen Messe opfern wir mit Christus, unserm Haupt, er ist dem Vater zugewandt, und er wendet sich nicht vom Vater ab, wenn in der heiligen Kommunion sein Antlitz uns zugewandt ist und wir in der Liebesvereinigung mit ihm durch seine heiligste Menschheit in seine Gottheit aufgenommen werden.

Noch ein weiterer Einwand wird erhoben: Warum muss das Herz Gegenstand einer eigenen Andacht sein? Ist nicht alles zugunsten der Herz-Jesu-Verehrung Gesagte in der Anbetung Christi, des Gottmenschen, in seiner heiligsten Menschheit enthalten? Was fügt diese verhältnismäßig neue Frömmigkeitsform noch hinzu?

Wir sagten schon: jede Hervorhebung eines Aspektes des Inkarnationsgeheimnisses - weit entfernt, uns von Seiner Gesamtpersönlichkeit abzuziehen - hilft uns vielmehr, uns tiefer in das Wesen Christi zu versenken, Ihn wacher zu betrachten, Ihn inniger anzubeten. Es ist jedoch bezeichnend, dass dieser Einwand nicht gegen die Andacht zum Kinde Jesu oder zu den Leiden unseres Herrn erhoben wird. Schon in sich bestätigt er ein Unvermögen, den besonderen Aspekt des Göttlichen Geheimnisses zu erfassen, den die Verehrung des Heiligsten Herzens erschließt.

In anderen Werken haben wir auf die vollkommen neue und zentrale Bedeutung der Liebe in der christlichen Sittlichkeit hingewiesen. Während Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit das Mark der natürlichen Moral sind, ist die Gutheit der Liebe der Mittelpunkt der christlichen Sittlichkeit. Diese leuchtende Güte umhüllt uns mit ihrem Atem voll Erbarmen, wenn wir das Gleichnis vom verlorenen Sohn hören: "Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und wurde von Mitleid gerührt. Er lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn". (Lk 15, 20-21). Es ist dieselbe überströmende Liebe, deren Erhabenheit wir beim Lesen des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter spüren und die eine so unvergleichliche Stellung in der christlichen Sittlichkeit innehat.

In dieser strahlenden, sieghaften Güte hat die Stimme des Herzens eine überragende Bedeutung. Vergleichen wir das glorreiche Martyrium des hl. Stephanus, wie es die Apostelgeschichte berichtet, mit dem edlen Tod des Sokrates, den Platons Phaidon beschreibt, so steht uns die völlig neue Rolle des Herzens in den Jüngern Christi unabweislich vor Augen. Die edle Geistigkeit, die sich im Martyrium des hl. Stephanus zeigt, schließt einen überströmenden Reichtum des Herzens ein.

Eine wahrhaft verklärte Affektivität durchströmt die christliche Sittlichkeit. Sie unterscheidet sich zutiefst von jeder nur natürlichen Affektivität, aber nicht etwa, weil sie weniger glühend, weniger zärtlich, weniger gefühlvoll wäre. Ganz im Gegenteil: es ist eine unbegrenzte Affektivität, die neue, bislang gänzlich unbekannte Dimensionen des Herzens enthüllt: "Ich bin gekommen Feuer auf die Erde zu werfen und wie wünsche ich, dass es schon entzündet wäre!" (Lk 12,49).

Die Verehrung des Heiligsten Herzens hebt das Geheimnis dieser heiligen Affektivität der Menschheit Christi hervor; sie tut es mit dem ganzen, für die Offenbarung Christi so charakteristischen Realismus.

Wir meinen hiermit den individuellen, konkreten Charakter der göttlichen Offenbarung in Christus, im Gegensatz zu jedem Abstraktionismus, der echte Weite mit logisch fassbarer Ausdehnung verwechselt; im Gegensatz auch zu jedem hochmütigen, die Materie verachtenden Spiritualismus. Der Atem der individuellen, konkreten Wirklichkeit durchweht die ganze Bibel und die Liturgie. Er begegnet uns wieder im heiligen Franziskus und in der franziskanischen Bewegung. Besonders aber finden wir ihn in der Anbetung des Heiligsten Herzens. Hier bezeugt sich in der Art, wie der heilige Leib in die Verehrung einbezogen ist, eine ganz ins Konkrete gehende Wirklichkeitsnähe. Die Betrachtungen dieses, von der Lanze des Soldaten durchbohrten, leiblichen Herzens, aus dem Sein kostbares Blut hervorquoll, verleiht der ganzen Verehrung einen unerbittlichen Realismus. Die geheimnisvolle wechselseitige Durchdringung des physischen Herzens und des Herzens als geistiges Zentrum der Affektivität zieht uns tief in die konkrete Wirklichkeit dieses gesegneten Mysteriums hinein. Es ist dieselbe abgrundtiefe und unsagbar sublime (erhabene) Qualität, die uns in der Verehrung des kostbaren Blutes Christi ergreift, dieselbe geheimnisvolle Sobrietät (Nüchternheit). "Wer ist es, der da kommt von Edom, in hochroten Kleidern aus Bosra? (Jes 63,1)."

Wie schon erwähnt, legt die Kirche zu gegebener Zeit ausdrücklich dar, was immer schon unausgesprochen gegenwärtig war. Wenn auch die Herz-Jesu-Verehrung verhältnismäßig spät eingeführt wurde und sich in unserer Zeit mehr und mehr verbreitete, so hat doch die Menschheit Christi die Botschaft Seines Heiligsten Herzens in seiner unergründlichen Liebe unablässig ausgestrahlt und dieses Mysterium durch alle Jahrhunderte seit der Ankunft unseres Herrn auf dieser Erde leuchtend verkündet. Die Apostel waren hingerissen von dem Heiligsten Herzen Jesu. Die Worte "denn Ich bin sanftmütig und demütig von Herzen" haben die Seelen aller seiner Jünger ergriffen. Wir hören in der Liturgie: "Nur Schmähung und Leid hat Mein Herz zu erwarten. Ich wartete auf Mitleid vergebens, auf Tröster - ich fand keinen. Sie gaben mir Gift als Speise, reichten mir Essig als Trank für den Durst. (Ps 69, 21-22).

Mein Volk, was hab' Ich dir getan? Womit betrübt' Ich dich? Antworte mir!"

Hier stehen wir vor dem heiligsten Herzen des Herrn.

Seit es Christen gibt, war das Heiligste Herz Jesu die Wonne aller Heiligen (deliciae sanctorum omnium); seine ausdrückliche Verehrung hat nur eine Wirklichkeit sichtbar gemacht, die immer schon im heiligen Leben der Kirche gegenwärtig war. Anstatt in der Verehrung des Heiligsten Herzens einen besonderen "modernen", dem Geist der Liturgie fremden Kult zu sehen, gilt es zu verstehen, dass sie organisch aus der Anbetung der heiligsten Menschheit Christi hervorwächst.

Angesichts dieses innersten, überaus zarten Geheimnisses werden alle Abirrungen bloß natürlicher menschlicher Affektivität offenbar. Die Gegenüberstellung mit dem Heiligsten Herzen, der "Quelle des Lebens und der Heiligkeit" entlarvt auch die Seichtheit jedes affektiven Neutralismus, jeder falschen "Nüchternheit", aller Idole der un-affektiven Vernünftigkeit, der Hypertrophie des Willens und der Pseudo-Objektivität. Das Heiligste Herz, "aus dessen Fülle wir alle empfangen haben", vereitelt alle Versuche, die Liebe auf Gehorsam, die Fülle des Herzens auf Vernunft und Willen zu reduzieren und ebenso jedes Bestreben, die wahre "Subjektivität", die persönliche Glut aus dem christlichen Ethos zu verbannen.

Wollen wir uns aber tiefer in das Mysterium des Heiligsten Herzens versenken und seine Herrlichkeit im richtigen Licht sehen, wollen wir den einzigartigen Aspekt der Menschwerdung erfassen, der im Heiligsten Herzen aufleuchtet, so müssen wir erst die wahre Natur des Herzens selbst entdecken. Wollen wir verstehen, zu welcher Umgestaltung unsere Herzen gerufen sind, wollen wir uns voll und ganz von der Sinnfülle des Gebetes "Forme unser Herz nach Deinem Herzen" treffen lassen, dann müssen wir zuerst Bedeutung und Stellung des Herzens im Menschen ergründen. Kurz, wir können die Verehrung des Heiligsten Herzens in ihrem wahren Sinngehalt, in ihrer besonderen Mission, unsere Herzen aufzuschmelzen, nicht begreifen, wenn wir nicht zuerst das Wesen des Herzens, die Größe und Schönheit der echten Affektivität entdeckt haben.

Aus der Bedeutung, welche die Kirche der Verehrung des Heiligsten Herzens beilegt, aus der zunnehmenden Betonung dieses Aspektes des Geheimnisses der hl. Inkarnation, ergibt sich für uns die eindringliche Aufforderung, unser Verstehen des Herzens als eines der grundlegenden Zentren der menschlichen Seele zu vertiefen. Alles, was wir in der Kontemplation des Heiligsten Herzens Jesu ahnend erfassen: die Glorie dieses Mysteriums, die aus jeder Anrufung der Litanei zum Heiligsten Herzen hervorströmt und leuchtet; die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe der Liebe Christi, welche die Liturgie des Heiligsten Herzens durchglüht - alles dies ruft uns unabweislich auf, das Wesen des "Herzens" zu ergründen.

Das Stufengebet zu Beginn der hl. Messe - in seiner früheren Form - zeigt uns das Geheimnis des menschlichen Herzens und führt uns durch seine Höhen und Abgründe. Wir werden hineingezogen in einen wechselnden Rhythmus von heiliger Freude und metaphysischer Bangigkeit, von Verlassenheit, Gottvertrauen und Hoffnung. Wir hören die Worte: "Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf." Dann ertönt plötzlich das "Warum betrübst du dich, meine Seele?", und wieder das "Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf", und nach dem "Warum betrübst du dich, meine Seele?" das "Hoffe auf Gott" und noch einmal "Der mich erfreut von Jugend auf."

Wir gewahren die zentrale Rolle des Herzens in ihrer ganzen Tiefe. Zugleich wird uns geheimnisvoll sein wechselnder Rhythmus nahegebracht. Der ganze Psalter kündet von der Mittelpunktstellung des Herzens und jeder, der Ohren hat zu hören, muss seine große und herrliche Stimme in den Propheten und in den Worten unseres Herrn vernehmen.

Lesen wir aber philosophische Texte über das Herz und die affektive Sphäre, dann zeigt sich ein völlig anderes Bild: Dieses Zentrum des Menschen wird als weniger seriös, weniger tief und weniger wichtig als Vernunft und Wille hingestellt. Wir haben hier ein drastisches Beispiel von Abstraktionismus vor uns, d. h. der Gefahr, Theorien über die Wirklichkeit zu konstruieren, ohne die Wirklichkeit zu befragen. Diese philosophische Einstellung muss unweigerlich an den Tatsachen vorbeigehen. Wir bewegen uns also in zwei verschiedenen Welten: dem Bereich des Herzens im menschlichen Leben, in der Heiligen Schrift und in der Liturgie einerseits und in der philosophischen Theorie über die affektive Sphäre anderseits.

Tatsächlich hat die Philosophie dem Herzen bislang keinen gebührenden Rang eingeräumt. Während man Vernunft und Wille zum Gegenstand gründlicher Untersuchungen machte, wurde das Phänomen des Herzens weitgehend vernachlässigt. Und selbst wenn es einmal untersucht wurde, hat man dem Herzen kaum je eine Stellung, vergleichbar der der Vernunft oder des Willens zugebilligt, die der wirklichen Bedeutung und Würde dieses Mittelpunktes der menschlichen Seele entsprochen hätte. Vernunft und Wille sind stets und ständig höher gestellt worden als das Herz. Die wenigen rühmlichen Ausnahmen, zum Beispiel Pascal und Theodor Haecker, bestätigen nur die weit überwiegende Regel.

Doch weder die Vernunft noch der Wille Jesu wurden Gegenstand einer besonderen Verehrung, sondern gerade Sein Herz. Sollte uns nicht diese, durch die Vorsehung und die Kirche bestimmte Tatsache zu einem tieferen Verstehen des Herzens und folglich zu einer Überprüfung unsere Einstellung zur gesamten affektiven Sphäre aufrufen?

Noch abgesehen hiervon ist eine solche Überprüfung von großer Bedeutung. Sie ist es auch unabhängig von der Tatsache, dass ein Verstehen des Wesens des Herzens für ein tieferes Begreifen des großen Geheimnisses unentbehrlich ist, das die Herz-Jesu-Litanei in die Worte fasst: "Herz Jesu, in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt."

Mehr als jede andere Verehrung ist die des Heiligsten Herzens Entstellungen und Missverständnissen ausgesetzt. Wie Kardinal Henry Newman sagt, wird jede Volksreligion in irgend einer Weise verunreinigt. Seine Worte kann man besonders auf die sublime Herz-Jesu-Verehrung anwenden. Viele Andachtsbilder des Heiligsten Herzens und vor allem zahlreiche Lieder verbreiten in Wort und Melodie eine abstoßende Sentimentalität und geben ein Bild des Heiligsten Herzens, das nicht nur seines übernatürlichen Mysteriums beraubt, sondern schon vom natürlichen Standpunkt aus geschmacklos und minderwertig ist. Um diese Gefahr zu bekämpfen, hat man der "weichen" Auffassung unglücklicherweise eine Darstellung des Herzens voll bloß natürlicher Kraft entgegengehalten, die obendrein durch Pseudo-Männlichkeit befleckt ist.

Versteift man sich also darauf, das Heiligste Herz nicht als weich und weibisch, sondern in seiner "männlichen" Stärke zu betrachten, so gerät man von der Scylla in die Charibdis. Ein billiges Männlichkeits-Pathos ist ebenso mittelmäßig wie süßliche Sentimentalität. Beide sind Verzerrungen und Verfälschungen des echten Wesens des Herzens. Schon auf der rein natürlichen Ebene. überflüssig zu sagen, dass sie auch unsere Auffassung vom Heiligsten Herzen selbst entstellen. Solchen Fehldeutungen gegenüber gilt es die wahre Natur des Herzens herauszuarbeiten.

Selbstverständlich wollen wir keine Theologie des Heiligsten Herzens bieten, denn dies ist die Aufgabe kompetenter Theologen. Die großartige Enzyklika "Haurietis aquas" Papst Pius XII. ehrwürdigen Angedenkens gibt aus höchster autoritativer Quelle die theologische Grundlage dieser Verehrung. Wir wollen in diesem Buch vielmehr zunächst versuchen, das Wesen des Herzens selbst zu ergründen und der Tiefe und geistigen Fülle dieses Zentrums der menschlichen Seele voll gerecht zu werden. Auf diese Weise möchten wir den Weg für ein tieferes Eindringen in das unaussprechliche Mysterium des Heiligsten Herzens bereiten. Denn nur, wenn wir verstehen, welche Stellung das Herz im Menschen einnimmt, können wir erfassen, dass wir im Heiligsten Herzen Jesu vor einem einzigartig tiefen und sinnerfüllten Aspekt der Inkarnation stehen. Im zweiten Teil dieses Werkes wollen wir versuchen, das Mysterium des Heiligsten Herzens von verschiedenen Seiten zu beleuchten, damit unser geistiges Auge sich mehr und mehr dem unerschöpflichen Reichtum und der glorreichen Schönheit dieses Geheimnisses öffne.

Ein Schlussteil wird der Umgestaltung gewidmet sein, zu der unser Herz gerufen ist. Nicht nur unsere Vernunft sollte von Christus erleuchtet, nicht nur unser Wille in Christus und durch Christus auf Gott gerichtet werden, auch unser Herz, das eine unersetzliche Mission im menschlichen Leben hat, sollte in Christus umgestaltet werden. "Bilde unser Herz nach Deinem Herzen" betet die Kirche.

Gottes unendliche Güte möge gewähren, dass unser Bemühen das Verstehen Jesu Christi und die Liebe zu Ihm durch die Betrachtung und Anbetung Seines Heiligsten Herzens vermehre "in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt".

I. TEIL

1. KAPITEL: DIE STELLUNG DES HERZENS

Die affektive Sphäre und ihr Mittelpunkt, das Herz, verblieben im ganzen Verlauf der Philosophiegeschichte mehr oder weniger unter einer Wolke. Sie spielen in der Kunst, in den persönlichen Gebeten großer Seelen, vor allem aber im Alten und Neuen Testament und in der Liturgie eine Rolle, nicht aber in der eigentlichen Philosophie. Hier wurden sie geradezu stiefmütterlich behandelt: man räumte ihrer Erforschung nicht nur keinen Platz ein, sondern das Herz wurde auch entsprechend bewertet, falls man sich überhaupt mit ihm beschäftigte.

Beide wurden geradezu vom Reich des Geistes ausgeschlossen. Gewiss stehen in Platons Phaidros die Worte "Der Wahnsinn der Liebe ist die größte der himmlischen Segnungen". Aber in der systematischen Einordnung der menschlichen Fähigkeiten, wie etwa im "Staat", billigt Platon dem Herzen keinen der Vernunft vergleichbaren Rang zu.

Doch vor allem in der Philosophie des Aristoteles zeigt sich eine Missachtung des Herzens, an der er allerdings nicht konsequent festgehalten hat. So sagt er in der Nikomachischen Ethik, der gute Mensch wolle nicht nur das Gute, sondern freue sich auch am edlen Handeln (Nic. Eth. I, 9, 1099a). Hier wird der Freude, die zweifellos ein affektives Erlebnis ist, eine hohe Bedeutung zugestanden. Die Wirklichkeit nötigte Aristoteles also, in der Analyse konkreter Probleme seinen allgemeinen Thesen und der abstrakten Systematik zu widersprechen. In der ganzen Tradition aber gilt seine Bewertung des Herzens eindeutig als negativ. Denn nach Aristoteles bilden Vernunft und Wille den geistigen Teil des Menschen, der affektive Bereich und mit ihm das Herz gehören zu den ungeistigen Schichten, d. h. zu den Erlebnissen, die der Mensch angeblich mit den Tieren teilt.

Diese niedrige Einstufung der Affektivität ist um so erstaunlicher, als Aristoteles erklärt, das Glück sei das höchste Gut, um dessentwillen jedes andere Gut erstrebt werde. Nun gehört Glück offenbar zur affektiven Sphäre - welches auch seine besondere Qualität und Quelle sein mag -, denn die einzige Weise Glück zu erleben ist, es zu fühlen. Das gälte auch dann, wenn Aristoteles Behauptung zuträfe, das Glück bestehe in der Aktualisierung der seiner Ansicht nach höchsten Fähigkeit des Menschen: der Erkenntnis. Auch dann könnte die Erkenntnis nur die Quelle des Glückes sein. Es selbst kann seinem Wesen nach nur gefühlt werden; ein nur "gedachtes" oder "gewolltes" Glück wäre offenbar kein Glück. Es würde ein Wort ohne Sinn, wenn wir es vom Fühlen trennen, der einzigen Erlebnisform, in der es bewusst erfahren werden kann. Trotz dieses offenbaren Widerspruches blieb die Geringschätzung der affektiven Sphäre und des Herzens merkwürdigerweise ein mehr oder weniger unbestrittener Bestandteil unserer philosophischen Tradition.

Man fasste die gesamte affektive Sphäre meistens als "Leidenschaften" auf und soweit dies geschah, betonte man ihren irrationalen, ungeistigen Charakter.

Eine der großen Irrtumsquellen in der Philosophie ist zweifellos die falsche Vereinfachung oder das Nicht-Unterscheiden von Dingen, die trotz scheinbarer oder echter Ähnlichkeit oder Analogien voneinander abgegrenzt werden müssen. Dies ist besonders verhängnisvoll, wenn das Unvermögen zu unterscheiden zur Gleichsetzung eines Höheren und eines viel Niedrigeren führt. So hat man die affektive Sphäre hauptsächlich deswegen so sehr unterschätzt, weil man sie insgesamt mit ihrem untersten Typ identifizierte, darum die Existenz geistiger affektiver Akte leugnete und dem Herzen eine Vernunft und Wille ebenbürtige Stellung verweigerte. Man sah das ganze affektive Gebiet, sogar das Herz, von der Seite der Körpergefühle, emotionalen Zustände oder der Leidenschaften im engeren Sinn. Was man diesen Arten von Gefühlen zu Recht abspricht, verweigerte man irrtümlich und unberechtigt einer wertantwortenden Freude, einer tiefen Liebe, einer edlen Begeisterung.

Diese Fehldeutung rührt zum Teil daher, dass diese Sphäre Erlebnisse sehr verschiedener Stufen umfasst, die von Körpergefühlen bis zu höchsten geistigen Erfahrungen der Liebe, heiliger Freude oder tiefer Zerknirschung reichen. So groß ist diese Mannigfaltigkeit, dass es verhängnisvoll wäre, die gesamte Sphäre als homogen zu behandeln. Ein Abgrund trennt Wertantworten wie die heilige Freude Simeons, als er das Kind Jesus in seinen Armen hielt, die Zerknirschung des hl. Petrus nach seiner Verleugnung Christi, die Liebe des hl. Franz Xavier zum hl. Ignatius von Leidenschaften wie Eifersucht, Ehrgeiz, Wollust usw. Beide Arten von Erlebnissen sind nicht nur vom sittlichen, sondern auch vom strukturellen und ontologischen Standpunkt aus abgründig verschieden.

Gewiss finden wir auch im Reich der Vernunft überaus stark voneinander abweichende Erlebnistypen und große Höhenunterschiede. So liegt eine tiefe Kluft zwischen einem bloßen Assoziationsvorgang und einer Einsicht in eine notwendige und hoch intelligible Wahrheit. Eine Träumerei, der sich unsere Einbildungskraft hingibt, ist nicht nur ihrem intellektuellen Wert, sondern auch ihrer Struktur nach etwas völlig anderes als eine philosophische Schlussfolgerung.

So umfasst auch das Reich der Affektivität alle Arten und Typen von "Gefühlen". Es hat sogar eine noch größere Spannweite, schließt noch unterschiedlichere Erlebnisse ein. Der Ausdruck "Gefühl" ist daher alles andere als univok.

Jedoch hat selbst die überragende Stellung, die die christliche Offenbarung der Affektivität und dem Herzen zuteilte - in Sinneinheiten wie Caritas, Liebe, heilige Freude, Reue, Verzeihung, Seligkeit - die Philosophie nicht von der Notwendigkeit überzeugt, ihre von der Antike überkommene Auffassung der Affektivität zu revidieren.

Gewiss gibt es im Strom der christlichen Philosophie eine große Traditionslinie, in der der affektiven Sphäre und dem Herzen konkret volle Gerechtigkeit widerfuhr. Das Werk des hl. Augustinus ist von den Bekenntnissen an von bewundernswürdigen Einsichten in das Wesen des Herzens und der affektiven Haltungen erfüllt. Ihre überragende Bedeutung, Tiefe und Geistigkeit sind stets irgend wie in seinen Schriften gegenwärtig. Dies alles lebt sogar in seinem Stil, im Rhythmus und Atem seines Denkens, ja in seiner Stimme. Doch wenn er von dem Abbild der Dreifaltigkeit in der Seele des Menschen spricht, nennt er den Willen und nicht das Gefühl - wie man erwarten könnte - zusammen mit der Vernunft und der memoria. Niemals spricht er sich gegen die von der Antike ererbte Vorstellung aus, selbst nicht in seiner bewundernswerten Widerlegung des stoischen apatheia-Ideals.

Mit dieser Feststellung möchten wir keineswegs den fundamentalen Unterschied zwischen der augustinischen und der griechischen Einstellung zu der affektiven Sphäre abschwächen. Wenn Augustinus ihr auch, wie wir zugeben, keinen der Vernunft oder dem Willen analogen Rang einräumt, (obwohl er in konkreten Problemen ihre Bedeutung und Würde hervorhebt) so macht er sich ebenso wenig den griechischen Standpunkt zu eigen, der dem Herzen und der affektiven Sphäre die Geistigkeit abspricht. Niemals ordnet der hl. Augustinus diese beiden in die irrationale, biologische Sphäre ein, die der Mensch mit den Tieren teilt. So widerfährt dem Herzen und der Affektivität auch in der sich aus dem augustinischen Werk entwickelnden Tradition volle Gerechtigkeit - etwa beim hl. Bonaventura und anderen - wenn es auch nicht zu einer klaren Widerlegung der ererbten griechischen Auffassung kommt. Erst der in Pascal verkörperte Augustinismus bringt hierin die Wende.

Vielleicht liegt der Hauptgrund für diese Diskreditierung in der Loslösung der affektiven Antwort von dem motivierenden Objekt, auf das sie sinnvoll eingeht. Dann muss sich eine Karikatur der Affektivität ergeben. Sobald man annimmt, Begeisterung, Freude, Trauer hätten ihren Sinn in sich, sobald man sie, abgesehen von ihrem Objekt untersuchen, ihren Wert bestimmen will, verfälscht man das eigentliche Wesen dieser Gefühle. Nur wenn man weiß, wovon ein Mensch begeistert ist, erschließen sich Wesen und Existenzsinn dieser Begeisterung. Darum sagt der hl. Augustinus: "überhaupt wird in unserer Lehre nicht so sehr danach gefragt, ob der fromme Sinn zürnt, sondern weshalb er zürnt; nicht ob er fürchtet, sondern was er fürchtet!" (3)

Sobald die affektive Antwort von dem sie erzeugenden Objekt losgerissen wird, aus dem ihr Sinn und ihre Berechtigung stammt, dem gegenüber sie eine dienende Stellung hat, wird sie selbst zu einem bloßen affektiven Zustand herabgewürdigt, der ontologisch noch tiefer steht als etwa Müdigkeit und alkoholisch bedingte Lustigkeit. Weil aber affektive Antworten legitim eine andere Stellung und eine andere Schicht der Person beanspruchen, oder vielmehr weil sie wesenhaft intentional (4) sind, zerstört diese Trennung vom Objekt ihre innere Seinsfülle, Würde und ihren Ernst. Aus einer echten affektiven Antwort würde ein verschwimmendes, hohles unseriöses Fühlen, eine irrationale, unkontrollierbare schwankende Emotion. Wenn Begeisterung, Liebe, Freude in diesem Licht gezeigt werden, will man natürlich aus dieser wesenlosen irrationalen Atmosphäre von "Gefühl" in eine Welt der Vernunft und der klaren geistigen Formeln flüchten. Sobald man religiöse Haltungen von ihrem Gegenstand ablöst, sobald man die Frage der Existenz Gottes beiseite schiebt und Ihn als ein bloßes Postulat für den Genuss religiöser Gefühle oder einen für die seelischen Bedürfnisse unentbehrlichen Mythos betrachtet, werden die religiösen Antworten ihres wahren Sinnes und Gehaltes beraubt, noch abgesehen von der unheilvollen, blasphemischen Gottesvorstellung. Die große, edle Wirklichkeit der Anbetung, der Hoffnung, der Furcht Gottes und der Liebe zu Ihm schrumpft sofort zu einem "bloßen Fühlen" zusammen, wenn man diese Antworten in sich als das Hauptthema betrachtet.

Es geht hier hauptsächlich um drei Entstellungen. Erstens wird das Thema vom Objekt auf die affektive Antwort verlagert, die gerade ihren Existenzsinn in dem beantworteten Objekt hat. Die zweite Verzerrung geht noch weiter, denn sie trennt die affektive Antwort von ihrem Gegenstand und betrachtet sie als absolut unabhängig von ihm, als etwas, das seinen Sinn in sich hat und auch ohne Objekt existiert. Dies führt zu einer Verfälschung ihres eigentlichen innersten Wesens. Die dritte Perversion besteht darin, dass man etwas, das gar nicht zur affektiven Sphäre gehört, oder seiner Natur nach weder ein Gefühl noch etwas Psychisches sein kann, zu einem affektiven Zustand stempelt. Das geschieht zum Beispiel, wenn man die Verbindlichkeit, die sich aus einem Versprechen ergibt und die eine objektive rechtliche Entität ist, zu einem bloßen "Gefühl" von Verbindlichkeit macht. Solche Verwechslung bringt natürlich das "Gefühl" in allgemeinen Verruf. Denn es ist eine Entwertung und Aushöhlung, wenn man eine objektive Bindung zu einem bloßen Fühlen herabwürdigt. Gewiss muss eine echte affektive Antwort wie Liebe, Begeisterung, Mitleid nicht notwendig auf einer ontisch tieferen Stufe stehen als ihr Gegenstand. So ist die Antwort der Loyalität in sich nicht weniger gehaltvoll als die objektive, von ihr beantwortete Verbindlichkeit. Jedoch ihr Existenzmodus ist wesenhaft verschieden von dem einer affektiven Antwort. Denn diese Bindung ist ihrer Natur nach unpersonal und existiert nicht als personaler Akt, sondern als objektives Gebilde innerhalb der interpersonalen Sphäre, unabhängig davon, ob die betreffende Person sich selbst verpflichtet fühlt oder nicht. Sie durch ein bloßes Sichverpflichtetfühlen zu ersetzen ist gleichbedeutend mit einer Auflösung der Verbindlichkeit oder einem Leugnen ihrer Existenz. Zudem ist das Verbindlichkeitsgefühl selbst auf diese Weise seines Seinsgrundes, seines Sinnes und seiner objektiven Gültigkeit beraubt, denn diese beziehen sich ja gerade auf eine Bindung, die in der interpersonalen Sphäre wirklich besteht.

Die affektive Sphäre wird hier also auf doppelte Weise diskreditiert. Einmal, weil man etwas wesenhaft Nicht-Personales und unabhängig von unserem Geist Existierendes durch ein personales Erlebnis ersetzen will und zweitens, weil hierbei dem personalen Erlebnis selbst sein eigener Sinn und Existenzgrund entzogen wird.

Dieselbe Situation entsteht, wenn gewisse Denker die Welt der sittlich bedeutsamen Werte und das objektive Sittengesetz durch bloße Sympathiegefühle ersetzen möchten. Wirklichkeiten, die ihrer Natur nach unabhängig von unserem Geist bestehen, wie sittliche bedeutsame Werte und das Sittengesetz, wird durch dieses Ersetzenwollen ihre eigentliche Existenz abgesprochen; zugleich werden die sittlichen Gefühle völlig ausgehöhlt. Löst man sie von ihren Gegenständen ab, übersieht man ihren Antwortcharakter, dann hat man nicht mehr jene realen affektiven Vorgänge vor sich, die tatsächlich eine große und entscheidende Rolle im sittlichen Bereich spielen: Reue, Liebe, Verzeihen - sondern bloße, jeder Bedeutung entblößte Gefühle, die einem Herumfuchteln im luftleeren Raum gleichen.

Aber warum sollten wir uns einiger handgreiflicher Irrtümer wegen zu einer Verunglimpfung der affektiven Sphäre verleiten lassen? Sollen wir über sie ein Scherbengericht halten, nur weil jeder Versuch, Dinge als Gefühle zu deuten, die keine sind, zu einem besonderen Substanzverlust und einer Herabwürdigung dieses ganzen Bereiches führt? Das wäre ebenso falsch, wie die Vernunft in Verruf zu bringen, weil der subjektive Idealismus die ganze, uns aus Erfahrung bekannte Welt als ein Produkt unseres Intellektes betrachtet; wollten wir ebenso unlogisch vorgehen, so müssten wir die Vernunft selbst entwerten, eines Rationalismus wegen, der die Religion - wie im Deismus - auf die Sphäre der sogenannten reinen Vernunft herabziehen möchte. Sollten wir nicht besser die Missdeutungen der affektiven Sphäre widerlegen und ihnen den wahren Sinn des Herzens entgegenstellen?

Das Herz und die affektive Sphäre sind nicht nur auf Grund falscher Theorien, sondern auch wegen der Gefahr der Unechtheit verunglimpft worden, für die es im Gebiet der Vernunft und des Willens keine Parallele gibt.

Ein kurzer Überblick über die Haupttypen affektiver "Unechtheit" wird die dritte Ursache des unguten Rufes dieser Sphäre erklären. Da ist zuerst die rhetorische Unechtheit. Sie ist typisch für Menschen, die ein falsches Pathos zur Schau stellen, ihre Entrüstung oder Begeisterung genießen, in die sie sich mit einem Wortschwall hineinsteigern. Diese Leute haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Prahlern. Obwohl sie vielleicht nicht über ihre eigenen Taten reden oder Vorkommnisse dramatisieren, ist ihr falsches Pathos doch in sich ein beständiges, affektives Prahlen.

Dieser Typus hat große Zungenfertigkeit, Leichtigkeit des Ausdrucks und eine Vorliebe für Übertreibung. Dieser rhetorische Typ bringt es fertig, in seiner eigenen Seele einen gewissen emotionalen "Stoff' zu erzeugen. Vielleicht erlebt er wirklich eine affektive Antwort, aber er schmückt sie rhetorisch aus und übersteigert sie. In diesem Genießen seiner überladenen, aufgeblähten Gefühle stellt er sich selbst aus der Achse des wirklichen Gegenstands und seines Themas heraus. Mit diesem Sichweiden an der eigenen affektiven Dynamik verbindet sich die genießerische Zurschaustellung dieses Pathos vor einem Publikum.

Ein anderer Typ unechter Affektivität geht auf ein offensichtliches Verstricktsein in sich selbst zurück. Dieser Typ ist nicht rhetorisch. Er liebt keine bombastischen Phrasen und gefällt sich nicht im Äußern und Darstellen affektiver Antworten. Aber er hat Gefallen an dem Gefühl als solchem. Das spezifische Merkmal dieser Unechtheit ist ein Zurückblicken auf das eigene Gefühl, an Stelle der Konzentration auf das Gut, das uns affiziert oder die affektive Antwort motiviert. Das Thema des Erlebnisses springt vom Gegenstand zu dem von ihm bewirkten Fühlen über. Dieser hat nunmehr die Funktion, uns bestimmte Gefühle zu verschaffen. Ein charakteristisches Beispiel dieser introvertierten Unechtheit ist der Sentimentale, der seine larmoyante Rührung als ein Mittel genießt, angenehme Gefühle zu erzeugen. Während das echte "Ergriffensein" eine volle "Objektgerichtetheit" einschließt, wird der Gegenstand beim Sentimentalen zum bloßen Mittel herabgewürdigt, das ein "Gerührtsein" einleitet. Das intentionale Affiziertwerden ist zu einem emotionalen Zustand verfälscht, den ein Gegenstand herbeiführt oder "auslöst".

Aber der sentimentale Typ gibt sich keine volle Rechenschaft von seinen eigenen Gefühlen, wie es ein Mensch tut, der sich fortwährend selbst analysiert. Er wendet sich nur zurück auf sein "Gerührtsein" . Doch das genügt schon, um ihn aus der Konzentration auf den Gegenstand herauszureißen. Mit dieser strukturellen Umkehrung hängt die dürftige Qualität seines "Bewegtseins" und dessen Gegenstandes eng zusammen.

Während die rhetorische Unechtheit in ihren verschiedensten Formen hauptsächlich eine Folge des Hochmuts ist, entstammt die Sentimentalität in erster Linie der Begehrlichkeit.

Es wäre indes eine lächerliche Simplifizierung in allen Arten des "Gerührt-seins" ein Beispiel für Sentimentalität zu sehen, denn ursprünglich ist es eines der edelsten affektiven Erlebnisse. Es ist ein Schmelzen der Hartherzigkeit oder Empfindungslosigkeit, eine Hingabe an die großen und edlen Dinge, denen Tränen gebühren. (Sunt lacrimae rerum, Vergil). Nur eine vom Männlichkeitsidol verfälschte Einstellung könnte das edle Erlebnis des Gerührtseins mit Sentimentalität verwechseln. Die Verderbnis des Besten ist die ärgste. (Corruptio optimi pessima.) Weil der Sentimentale gerade dieses Erlebnis missbraucht, darf es in keiner Weise missachtet werden. Jedes Gefühl wird durch ein introvertiertes Genießenwollen ersetzt und verdorben. Von einer sublimen Schönheit der Natur und Kunst oder einer sittlichen Tugend, wie Demut oder Nächstenliebe ergriffen sein, heißt sich von dem inneren Licht dieser Werte durchfluten lassen, heißt sich ihrer Botschaft von oben in einer Hingabe öffnen, die Ehrfurcht, Demut und Zartheit einschließt.

Die Bereitwilligkeit, uns "rühren zu lassen" ist tatsächlich unlösbar mit dem vollen, echten Erfassen bestimmter Werte verknüpft. Ohne Zweifel ist diese Sensibilität und Geöffnetheit des Herzens, gleichfalls für ein wahres, tiefes Verstehen sittlicher Werte, wie Reinheit, Großmut, Demut, Nächstenliebe unerlässlich. Wer könnte bestreiten, dass sich die unendliche Liebe unseres Herrn, die sich in seinem Leiden offenbart, einem Menschen, "dessen Herz aufgeschmolzen ist", tiefer erschließt.

Wieder und wieder betet die hl. Kirche in ihrer Liturgie, Gott möge uns verleihen, dass unser Innerstes von der unendlichen Liebe Christi, die sich in seinem Kreuz und Tod offenbart, getroffen werde. In einem besonders schönen Gebet bittet sie um die Gabe der Tränen: "Allmächtiger, mildester Gott, Du ließest dem dürstenden Volk eine Quelle lebendigen Wassers aus dem Felsen hervor strömen; entlocke auch unserem harten Herzen die Tränen der Zerknirschung, damit wir unsere Sünden beweinen und durch Dein Erbarmen ihre Verzeihung erlangen. Amen."

Vergessen wir nicht die Worte des hl. Ambrosius an die hl. Monika: "Ein Sohn so vieler Tränen kann nicht verloren gehn". Muss dieser Ausdruck des Herzens nicht etwas Kostbares und Verehrungswürdiges sein, da er so viel in den Augen Gottes gilt? Wie falsch die Verwechslung der Ergriffenheit mit Sentimentalität ist, zeigt sich sofort, wenn wir bedenken, dass die letzte nicht auf dieses Gebiet beschränkt ist. Denn man kann nicht nur die "weichen" Gefühle genießen, sondern ebenso sehr die eigene Begeisterung, emotionale Erhitzung, ja sogar Zorn und Entrüstung. Überflüssig zu sagen, dass dieses Sich weiden an der eigenen affektiven Erregung, sei es Begeisterung, Empörung oder was immer, der Echtheit schadet. Die Entrüstung eines Menschen, der seine eigene emotionelle Kraft genießt, ist nicht mehr echt, nicht mehr erfüllt von aufrichtiger Sorge über das Übel, gegen das sich seine Entrüstung richtet. Diese wird durch die Introversion unecht. Das Thema verlagert sich von der Objektseite auf die Antwort selbst und das ist der Todesstoß für jede affektive Antwort.

Eine typische Form unechten, weil introvertierten Fühlens sind die Orgien von "Zerknirschung" in gewissen religiösen Sekten. Die Kultteilnehmer steigern sich in aller Öffentlichkeit in eine Raserei von "Reue" hinein und wälzen sich, wild schreiend, am Boden. Nach diesem Ausleben ihrer "Reue" nehmen sie wieder ihr normales Leben auf, sind völlig unverändert, aber fühlen sich durch diese emotionale Entladung ihres schlechten Gewissens sehr erleichtert.

Doch gilt es zu sehen, dass diese Introversion, obwohl sie in jedem Fall die Echtheit des Gefühles zerstört, doch für manche affektive Erlebnisse verhängnisvoller ist als für andere. In allen religiösen Antworten ist sie besonders hässlich, weil eine Entweihung in unserer Beziehung zu Gott oder zu etwas Sakralem viel schwerwiegender ist. Eine solche Entweihung liegt zum Beispiel in der wohl bekannten Form religiösen Sichgehenlassens vor, in der das Gebet nahezu ein Mittel wird, "fromme" Gefühle zu erwecken. Gewisse Menschen benützen ihre Kirchenbesuche als Gelegenheit, in sentimentalen, "frommen" Empfindungen zu schwelgen. Das Haus Gottes, von dem die Liturgie sagt: "Furchterregend ist dieser Ort. Hier ist Gottes Haus und die Pforte des Himmels" (Gen 28,17), wird zu einem Platz für emotionales Sichgehenlassen.

Was wir über die Sentimentalität sagten, gilt auch hier. Mit jedem auf sich selbst blickenden Genießen tritt notwendig eine qualitative Verderbnis ein. Die "frommen" Gefühle sind in Wirklichkeit alles andere als fromm. Jedes echte religiöse affektive Erlebnis trägt etwas von der "Atmosphäre Gottes", von der geheimnisvollen Herrlichkeit der Welt Christi in sich. Es schließt zudem eine Haltung tiefer Ehrfurcht ein. Unmöglich kann man ein ursprüngliches affektives Erlebnis zum Gegenstand eines sich selbst bespiegelnden Genießens machen. Unmöglich wird man qualitativ echte religiöse Gefühle erleben, wenn man sich Gott nicht in Ehrfurcht naht, sondern nur seine eigenes Fühlen kosten will und das Gebet zum Mittel für eine solche Befriedigung macht. Wenn uns echte affektive Erlebnisse geschenkt werden, ist es ebenso unmöglich, sie auf diese Weise zu missbrauchen, weil Wesensstruktur und Qualität wahrer religiöser Gefühle eine seelische Verfassung voraussetzen, in der man diesen Missbrauch verabscheuen würde.

Wir müssen aber gleich zu Anfang betonen, dass die Perversion nicht im affektiven Charakter eines religiösen Erlebnisses, noch darin liegt, dass es uns erfreut, sondern vielmehr in dem auf sich selbst zurückblickenden Genießen dieses Fühlens, das bereits in seinem Gehalt und in seiner Qualität eine Karikatur jeder ursprünglich religiösen Empfindung ist. Man genießt zugleich seine Frömmigkeit und damit die Befriedigung seines Hochmutes.

Es liegt uns fern zu bestreiten, dass bestimmte affektive, religiöse Erlebnisse völlig legitime Quellen großer Seligkeit und Wonne sind. Während des Gebetes glücklich zu sein, weil unser Herz mit Friede erfüllt ist, und getröstet zu werden, da ein Lichtstrahl in das Dunkel unserer Seele fällt und wir uns in Gott geborgen fühlen, all dies sind Erlebnisse, die eindeutig von einem Genießen gewisser "frommer" Gefühle, die wie gesagt - in Wirklichkeit alles andere als fromm sind, unterschieden werden müssen.

Dieses Frönen pseudo-religiöser Gefühle wird in der Scheinreue auf die Spitze getrieben. Zum eigentlichsten Wesen der Reue gehört ein tiefer Schmerz, und daran Vergnügen finden, heißt seine Aufrichtigkeit vollständig zerstören, ihn seiner Substanz und Tiefe berauben. Überdies ist der Wille sich zu bessern und nicht mehr zu sündigen ein Wesenselement der wahren Reue. Aus der Zerknirschung einen bloßen emotionalen oder gar irrationalen Zustand machen, dem der glühende, auf unser künftiges Verhalten gerichtete Wille völlig fehlt, entstellt dieses Gefühl zur Scheinreue. In der echten Reue hingegen, die zur vollen Entfaltung der Affektivität gelangt, lebt eine gänzliche Hingabe an Gott. Wie der verlorene Sohn sinkt die Seele in die liebenden Arme Gottes. Ihr großer, feierlicher Ernst schließt jeden Selbstgenuss radikal aus. Wir sehen hieran klar, warum dieser in der Reue noch verhängnisvoller ist als bei anderen religiösen affektiven Antworten, geschweige denn in nicht religiösen affektiven Gebieten. Eine dritte Art unwahren Gefühls, man könnte sogar sagen der klassische Typ von "Unechtheit" ist der Hysteriker (4). Wir denken dabei an Personen, die in einer leicht erregbaren Egozentrik befangen sind. Sie können sehr beweglich und tüchtig sein, eine rastlose Energie, eine merkwürdige Intensität und Lebendigkeit haben, ja kultivierte Menschen sein. Aber alles, was sie fühlen, tun oder sagen, ist durch Unaufrichtigkeit und Unechtheit vergiftet. Es ist nicht nur künstlich übersteigert und geziert, nicht nur von affektivem Sich-gehen-lassen angegriffen, sondern durch eine Art Verlogenheit verfälscht, die, auch wenn sie unbewusst und absichtslos bleibt, die Qualität dieses Fühlens selbst vergiftet.

Dieser Entartung liegen sowohl Hochmut wie Begehrlichkeit zugrunde. Solche Menschen drehen sich gleichsam um sich selbst. Sie sind beständig mit der Befriedigung ihres seltsamen, rastlosen Bedürfnisses beschäftigt, im Vordergrund zu stehen, eine Rolle zu spielen, nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst interessant zu sein. Unter Umständen lügen sie sogar, wenn sie von ihren Erlebnissen und Taten erzählen. Sie tun es nicht bewusst, sie bemerken ihre Unaufrichtigkeit gar nicht. Aber die falsche Grundlage, auf der ihre ganze Existenz aufgebaut ist, die gewissermaßen qualitative Lüge, durchsetzt ihr ganzes Fühlen und Wollen, ihr Handeln und Benehmen, und tut sich in einer Redseligkeit kund, die Wahres und Falsches vermischt. Das brennende Verlangen, den Mittelpunkt der Bühne zu behaupten, anderen Eindruck zu machen, sich anziehend und vor allem interessant zu geben, treibt sie dazu, viel Unwahres zu sagen. Dieser Drang und eine Vorstellungswelt, in der Wunsch und Wirklichkeit nicht mehr deutlich geschieden sind, und deren Klima "Verstiegenheit" und qualitative Falschheit ist, halten sie so in Bann, dass sie ihre Lügen nicht mehr als solche erkennen. Daher sind sie für diese nicht so verantwortlich, wie es nicht hysterische Menschen wären.

Wenn wir auch den hysterischen Typ mit Hilfe dieser Haltungen charakterisieren konnten, so liegt uns in erster Linie daran, die Unechtheit der Gefühle hinter all diesen Äußerungen hervorzuheben. Für uns handelt es sich hier um die innere Falschheit der Freude, Trauer, Begeisterung, Empörung, Reue und des Mitleides eines Hysterikers. Wir wollen diesen Typ von Unechtheit von dem rhetorischen oder sentimentalen Typ abgrenzen.

Der Ausdruck "hysterisch" wird manchmal auf affektive Zustände angewandt, die einen gewissen Grad nicht mehr kontrollierbarer Verwirrung erreicht haben. Wenn jemand zum Beispiel durch den Tod eines geliebten Menschen ganz außer sich gerät und in seinem Benehmen von einem Extrem in das andere fällt, etwa abwechselnd weint und lacht, sagen wir vielleicht: "Er ist hysterisch geworden". Diese Bezeichnung hat eine gewisse Berechtigung, wenn affektive Zustände, wie Schmerz, Verzweiflung, Aufregung in einen Erregungszustand ausarten, der nicht mehr der ursprünglichen affektiven Antwort entspricht.

Es muss jedoch nachdrücklich betont werden, dass ein grundlegender Unterschied zwischen jedem Intensitätsgrad einer echten affektiven Antwort und dem irrationalen, widersprüchlichen Charakter gewisser emotionaler Zustände besteht. Ein Mensch, der von solchen Zuständen gepackt wird, gibt seinen Gefühlen nicht nur einen völlig unadäquaten Ausdruck, sondern widerspricht mit seinem Benehmen der wahren Natur seiner Gefühle, straft sie geradezu Lügen. Dies muss hervorgehoben werden, weil man zuweilen jeden hohen Intensitätsgrad in der affektiven Sphäre "hysterisch" nennt. Sobald jemand einem tiefen Kummer oder Leid vollen Ausdruck gibt, wird er von manchen Leuten als "hysterisch" abgestempelt, obgleich seine Antwort vollauf gebührend ist. Der voll ausgedrückte Schmerz eines liebenden Gatten am Sterbebett seiner Frau oder die tiefe Sorge um einen geliebten Menschen, der in Gefahr ist, sind affektive Antworten, die offenbar in keiner Weise eine geringschätzige Bezeichnung verdienen. Sie haben nicht den irrationalen, widersprüchlichen Charakter einer neurotischen Reaktion; noch weniger ähneln sie der Unwahrhaftigkeit des Hysterikers in unserem Wortsinn.

Hinter solchem Missbrauch des Ausdrucks "hysterisch" verbirgt sich eine grundfalsche Theorie und Haltung. Viele abwegige Vorstellungen und Traditionen haben zusammengewirkt, um eine Mentalität entstehen zu lassen, die jede intensive Affektivität selbst, besonders aber ihren vollen Ausdruck für verachtenswert und geschmacklos hält. Für diese Verunglimpfung der Affektivität als solcher ist u. a. auch der angelsächsische Stoizismus, die puritanische Prüderie und die unglückliche Gleichsetzung einer neutralen, kritisch-untersuchenden Einstellung mit echter Objektivität verantwortlich. Manchmal hat dazu auch das Eindringen von Schlagwörtern aus dürftigen Psychologielehrbüchern beigetragen. Jedenfalls ist diese Haltung ein Symptom für bedauerliche Oberflächlichkeit.

Jemand, der einen anderen in großer Qual, in Verzweiflung oder sonstiger tiefer Bewegung sieht und sagt, er sei "hysterisch geworden", beweist damit, dass er einer gefährlich irrigen Theorie zum Opfer fiel. Dies bestätigt sich ganz, wenn wir nur an eines der sublimsten Beispiele überströmender, wahrer Affektivität denken: an die Tränen der hl. Maria Magdalena, mit denen sie sich unserem Herrn zu Füßen warf. Nur ein Mensch, der sich vor ungewohntem Ausdruck des Gefühls fürchtet, oder ein hoffnungslos Neutraler, der stets Zuschauer bleibt, würde die außerordentliche Intensität und Dynamik einer tiefen, ursprünglichen affektiven Antwort als Hysterie betrachten.

Nicht die kühle Indifferenz oder eine Haltung, wie sie bei einer Abrechnung oder finanziellen Transaktion am Platz sein mag, ist die wahre Antithese zur Hysterie, sondern vielmehr die tiefe, adäquate, affektive Antwort, wie eine echte, leuchtende Liebe oder eine heilige Freude.

Ein ähnlicher Missbrauch zeigt sich übrigens auch bei dem Ausdruck sentimental. Sentimentalität ist, wie gesagt, ein verdorbenes und minderes Gefühl; daher ist es völlig falsch, eine intensive, tiefe Affektivität so zu bezeichnen. Auch hier ist die wirkliche Antithese weder neutrale, das Gefühl ausschließende Indifferenz, noch verkrampfte Männlichkeit, die jedes Gefühl für eine Konzession an Schwäche und Weichlichkeit hält, sondern vielmehr das wahre Fühlen eines edlen und großen Herzens wie die Reue Davids oder das herzzerreißende Leid Rachels, an das die Liturgie am Tag der Unschuldigen Kinder erinnert: "Eine Stimme hört man in Rama, Weinen und Wehklagen, Rachel beweint ihre Kinder und lässt sich nicht trösten, denn sie sind nicht mehr."

Wir müssen uns also stets vor einem leichtfertigen Gebrauch des Wortes "hysterisch" hüten. Er ist nur in den Fällen gerechtfertigt, in denen eine ursprünglich tiefe und echte affektive Antwort in eine krankhafte, durch widersprechende Gefühlsausbrüche gekennzeichnete Ungeordnetheit ausartet. Bei außergewöhnlich intensivem affektiven Verhalten, selbst wenn es sich unbeherrscht ausdrückt, ist die Bezeichnung "hysterisch" völlig verfehlt. Einer, der schluchzt oder in tiefem Schmerz zusammenbricht, ist nicht hysterischer als der eingefleischte, ausgetrocknete Neutralist, der alles von außen sieht und mit seinen oberflächlichen Urteilen so schnell bei der Hand ist. Wenn eine gewisse Verdächtigung der affektiven Sphäre wegen der zahlreichen in ihr vorkommenden Unechtheiten verständlich ist, so ist doch leicht zu sehen, dass sie zu einem typischen Vorurteil führt. Vorurteile sind nicht weniger unverantwortlich, weil sie psychologisch begreiflich sind.

Unsere kurze Analyse der verschiedenen Typen von Unechtheit hat uns gezeigt, wie falsch es ist, die Dinge unter dem Aspekt ihrer möglichen Verzerrung zu betrachten. Alles Menschliche ist der Entstellung oder Verfälschung ausgesetzt. Und je höher ein Gut, um so ärger ist seine Entstellung und Verderbnis. Satan ist der Affe Gottes.

Vom philosophischen Gesichtspunkt ist die Tatsache, dass die affektive Sphäre und das Herz so vielen Abirrungen ausgesetzt sind, keinerlei Ausrede für ihre Missachtung. Wenn auch die Unechtheit in den Bereichen der Vernunft und des Willens keine analoge Rolle spielt, so ist das von falschen Theorien angerichtete Unheil noch schlimmer und verheerender. Sollten wir die Vernunft verdächtigen, weil sie zahllose Absurditäten ausgedacht und ungeistige Menschen, die mit diesen nie in Berührung kamen, gesünder blieben, als die davon Beeinflussten? Hat Ludwig Klages recht, wenn er den "Geist den Widersacher des Lebens" nennt, weil der Geist und besonders der Verstand für alle Arten künstlicher Verdrehungen und den Verlust der Ursprünglichkeit in vielen Lebensbereichen verantwortlich ist?

Im Gegenteil, es ist höchste Zeit, den über der affektiven Sphäre liegenden Bann zu brechen und ihre Bedeutung aufzuzeigen. Wir müssen den Platz des Herzens in der menschlichen Person erkennen, der dem des Willens und der Vernunft ebenbürtig ist. Wollen wir Rang und Rolle des Herzens und der affektiven Sphäre in ihren höchsten Bezeugungen verstehen, dann müssen wir das Dasein des Menschen, seine Suche nach irdischem Glück, sein religiöses Leben, das Leben der Heiligen, das Evangelium und die Liturgie betrachten. Gibt es einen Zweifel, dass die tiefste Quelle irdischen Glückes die wahre gegenseitige Liebe zwischen Menschen ist, sei es eheliche Liebe oder Freundschaft? In der neunten Symphonie Beethovens erklingen die Worte:

Ja wer auch nur eine Seele
sein nennt auf dem Erdenrund
und wer's nie gekonnt, der stehle
weinend sich aus diesem Bund.
(Schillers Ode an die Freude)

Könnte man die affektivste aller affektiven Antworten übergehen: die Liebe, die die ganze Poesie, jede Dichtung und Musik durchdringt: die Liebe, von der Leonardo da Vinci sagte: "Je größer der Mensch, um so tiefer seine Liebe". Die Liebe, die Pius XII. mit den Worten pries: "Der Zauber der menschlichen Liebe ist seit Jahrhunderten das anregende Thema bewundernswerter geistiger Schöpfungen in der Literatur, der Musik und den darstellenden Künsten gewesen; ein immer altes und neues Thema, das die Zeiten, ohne es jedoch zu erschöpfen, in den erhabensten und dichterischsten Weisen abgewandelt haben (6)." Sagt nicht die Heilige Schrift im Hohenlied: "Und gäbe der Mensch alle Habe seines Hauses für die Liebe, für nichts wird er es erachten."

Aber selbst wenn man für das Wirken der Liebe im menschlichen Leben blind wäre, und Schönheit, Erkenntnis und schöpferisches Schaffen für die Hauptquelle irdischen Glückes hielte, bleibt das Glück ein affektives Erlebnis. Das Herz ist es, das Glück verkostet, nicht die Vernunft oder der Wille.

In neuer, unvergleichlicher Tiefe und Würde zeigt sich die affektive Sphäre und das Herz im Leben der Heiligen. Lesen wir die Schriften des hl. Franziskus von Assisi oder vertiefen wir uns in sein Leben, so kann uns nicht verborgen bleiben, welchen Raum die Zerknirschung, die heilige Freude, seine die tiefsten Schichten der Seele bewegende Ergriffenheit von Gottes Güte und von den Leiden Christi, seine glühende Christus- und Nächstenliebe, die zärtliche Zuneigung selbst zu den Tieren in ihm einnimmt.

Unmöglich können wir die Tiefe, Geistigkeit und Herrlichkeit übersehen, die nur dem Herzen eigen ist, wenn wir die Briefe des hl. Ignatius von Antiochien lesen oder in dem geistigen Klima der Bekenntnisse des hl. Augustinus verweilen, etwa bei den Worten:

"Spät habe ich Dich geliebt, Du ewig alte und ewig neue Schönheit; spät habe ich Dich geliebt." (X, 27). Oder wenn wir das Gebet des hl. Bonaventura lesen: Durchbohre süßester Herr Jesus das Innerste meiner Seele.

Man sollte nicht einwenden, Reue, Liebe und Freude hätten, weil sie übernatürlich wurden, im Leben der Heiligen mit der natürlichen Affektivität nicht nur nichts mehr gemeinsam, sondern setzen sogar ihr Verstummen voraus, wenigstens im mystischen Bereich. Zugegeben, dass die übernatürliche, gnadenhafte Affektivität die natürliche übersteigt und sich von ihr unterscheidet, eine unvergleichliche Reinheit der Motivation besitzt und dass ein Teil der natürlichen Affektivität zum Schweigen kommen muss, um Raum für die gnadenhafte Affektivität zu schaffen. Dennoch lässt sich der affektive Charakter dieser übernatürlichen Antworten unmöglich bestreiten. Es ist ein ähnlicher Unterschied wie zwischen der eingegossenen (sapientia infusa) und der natürlichen Weisheit. So sehr man auch die Verschiedenheit beider betonen mag, es wäre Unsinn zu behaupten, übernatürliche Weisheit sei keine Weisheit mehr und gehöre, anstatt in die Kategorie des Erkennens und Erfassens im weitesten Sinn, zum Reich des Willens oder der Affektivität. Dasselbe gilt für die heilige Freude, Glückseligkeit und übernatürliche Liebe. Auch wenn man ihren Höhenunterschied und ihre Überlegenheit gegenüber natürlicher Freude und Liebe herausstellen möchte, bleiben sie affektive Erlebnisse und gehören nicht plötzlich, weil sie durch Christus verklärt wurden, zum Willens- oder Erkenntnisbereich. Der Unterschied zwischen dem übernatürlichen und Natürlichen geht quer durch alle drei Sphären und in eine völlig andere Richtung als der zwischen diesen einzelnen Gebieten. So intensiv das übernatürliche auch in ihnen wirken mag, niemals verlieren sie in der gnadenhaften Erhöhung ihre spezifische Eigenart. Wer wird bestreiten, dass die christliche Offenbarung der Liebe eine erhabene und zentrale Stelle zuerkennt und das Wesen der Liebe als Stimme des Herzens in ihrer affektiven Fülle eindeutig hervorgehoben hat? Das Wort des hl. Paulus: "Freut euch allzeit im Herrn, wiederum sage ich: freuet euch!" (Phil 4,4), meint eine Antwort unseres Herzens und nicht unseres Intellektes oder Willens. Die dem Herzen zuerkannte Bedeutung wird an unzähligen Stellen der Hl. Schrift offenkundig, etwa in Christi wiederholten Hinweisen auf die Freude: "Und eure Freude wird niemand von euch nehmen", oder "Du guter und getreuer Knecht, geh ein in die Freude deines Herrn." Die Hirten jauchzten bei der Verkündigung der Frohbotschaft; die Magier erfüllte "eine überaus große Freude", als sie den Stern erblickten, der sie zum Kind Jesu führte; die seligste Jungfrau stimmt das Magnifikat, ihren jubelnden Hochgesang, an. Simeon ist von seliger Freude ergriffen, da er das Kind Jesus in seinen Armen hält.

Und die Rolle des Schmerzes? Können wir die Lehre vom Kreuz vom Herzen trennen, d. h. vom Leiden, das offenbar eine eminent affektive Erfahrung ist? Könnte man das unermessliche Meer des Leidens in Gethsemane und in der ganzen Passion unseres Herrn betrachten und dann noch die Tiefe, Geistigkeit, die zentrale Stellung des Herzens in ihr bestreiten (7), versuchten wir, uns den Menschen als nur aus Vernunft und Wille bestehend vorzustellen (ein Widerspruch in sich!) so würden zahllose Stellen der heiligen Schriften und der Liturgie ihres Sinnes beraubt.

Statt uns verzweifelt zu bemühen, die offenbare und herrliche Stellung, welche die christliche Offenbarung der affektiven Sphäre und dem Herzen zuweist mit dem Scherbengericht zu versöhnen, das die griechische Philosophie über beide verhängte, statt in eine Sackgasse zu geraten, sobald es um das Wesen der Liebe geht, statt sich mit unzähligen künstlichen und unnötigen Problemen herumzuschlagen, wollen wir lieber der Entwertung der affektiven Sphäre und des Herzens ein Ende machen. Decken wir die Doppeldeutigkeit des Wortes Fühlen auf und klären wir die Rangunterschiede in dieser Sphäre. Geben wir zu, dass eine Trias von geistigen Zentren im Menschen besteht: Vernunft, Wille und Herz (Gefühl), die bestimmt sind zusammenzuwirken und einander zu befruchten. Herz Jesu, in dem alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft enthalten sind, erbarme Dich unser.

2. KAPITEL: NICHTGEISTIGE UND GEISTIGE AFFEKTIVITÄT

Bei unserer Untersuchung des Wesens des Herzens müssen wir uns von Anfang an klarmachen, dass das gesamte innere Leben des Menschen sehr oft mit dem Wort "Herz" bezeichnet wird. Dann ist es mehr oder weniger gleichbedeutend mit "Seele" (8). So sagt Christus: Aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung ... (Mt 5,19). Hier wird das Herz nicht dem Willen und der Vernunft gegenübergestellt, sondern dem Leib und besonders den äußeren körperlichen Tätigkeiten. Es ist jedoch charakteristisch für den echten und eigentlichsten Sinn des Herzens, dass es als Stellvertreter des menschlichen Innenlebens gewählt und statt der Vernunft oder des Willens mit der Seele als solcher gleichgesetzt wird.

Das Wort "Herz" hatte im Altertum, wie auch in den islamischen und indischen Kulturen, verschiedene Bedeutungen (9). Mit diesem wichtigen, interessanten Thema können wir uns hier jedoch nicht befassen, da wir das Wesen des Herzens als eine Gegebenheit im menschlichen Leben erforschen, und nicht eine historische Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen des Wortes Herz geben wollen. Wie in unserer "Christlichen Ethik" wollen wir auch hier vom "unmittelbar Gegebenen" ausgehen (10). Ohne Zweifel ist die Affektivität eine große Wirklichkeit im menschlichen Leben, die sich nicht unter Intellekt oder Wille subsumieren lässt. In der Literatur und im Sprachgebrauch bezeichnet das Wort "Herz" den Mittelpunkt der Affektivität und dieser bedarf dringend näherer Erforschung.

Aber selbst wenn man das Herz als Sitz und Inbegriff der Affektivität versteht, müssen dabei noch zwei Bedeutungen unterschieden werden. Erstens ist es das Organ jeder Affektivität, wie der Intellekt die Wurzel aller Erkenntnisakte ist. In diesem weiteren Sinne entspringen alle Wünsche, jede Sehnsucht, jedes "Affiziertwerden" (11) im Herzen.

In einem genaueren Sinn sprechen wir vom Herzen als dem innersten Kern der affektiven Sphäre (12). So sagen wir etwa von einem Menschen: "Dieses Ereignis hat sein Herz getroffen." Hier stellen wir das Herz nicht dem Intellekt und dem Willen gegenüber, sondern den weniger zentralen Schichten der Affektivität. Wir wollen ausdrücken, wie tief dies Geschehnis den Betreffenden bewegt, wie es ihn nicht etwa nur verdross oder ärgerte, sondern im Innersten seines affektiven Seins verwundete. Diesem Sinn von "Herz" begegnen wir in den Worten Christi: "Denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein." (Mt 6, 21). Hier bedeutet Herz den Brennpunkt der affektiven Sphäre, das, was zentraler als alles andere in diesem Bereich getroffen wird. Während im ersten Sinn: dem Herzen als Wurzel der Affektivität kein Hinweis auf besondere Tiefe, also keine Antithese zu den periphereren Schichten des Fühlens liegt, hat das Herz in diesem letzten, typischen Sinn die Bedeutung des Schwerpunktes der gesamten Affektivität. Wie schon gesagt, umfasst die affektive Sphäre eine Vielzahl von in Struktur, Qualität und Rang sehr unterschiedlichen Erlebnissen. Sie reichen von nicht-geistigen Zuständen bis zu hoch-spirituellen affektiven Antworten.

Wir werden nur kurz die Haupttypen der affektiven Erlebnisse oder "Gefühle" aufzählen, um zu zeigen, wie sehr man sich irrt, wenn man sie als eine homogene Schicht behandelt. Auf diese Weise wird sich die affektive Sphäre in ihrer ganzen Höhe und Tiefe vor uns auftun; wir werden sehen, welche ungeheure Rolle sie spielt und welche Stellung sie in der Seele und im Leben des Menschen einnimmt.

Der erste grundlegende Unterschied innerhalb des Reiches der Affektivität ist der zwischen leiblichen und psychischen Gefühlen. Denken wir zum Beispiel an einen Kopfschmerz oder an unser Wohlbehagen bei einem warmen Bad, an körperliche Erschöpfung, an das angenehme Gefühl des Ausruhens, wenn wir müde sind, oder an die Reizung unserer Augen, sobald sie zu starkem Licht ausgesetzt werden. Alle diese Gefühle sind durch eine deutlich erfahrene Beziehung zu unserem Körper gekennzeichnet. Sie sind selbstverständlich bewusst erlebt und durch einen Abgrund von physiologischen Abläufen getrennt, obwohl sie der Ursache nach engstens mit ihnen zusammenhängen.

Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass das Verhältnis der eben genannten Gefühle zum Leib nicht auf ihre kausale Verknüpfung mit physiologischen Vorgängen beschränkt ist, sondern dass sie auch eine bewusst erlebte Verbindung zum Körper enthalten. Wir empfinden, wie sie in unserem Körper vor sich gehen. Manchmal spielen sie sich in einem bestimmten Teil des Körpers ab, wie Fuß- oder Zahnschmerzen. In anderen Fällen, etwa bei Müdigkeit, erstrecken sie sich über den ganzen Leib. Zuweilen erleben wir sie als Einwirkung von außen, zum Beispiel wenn uns die Spritze des Arztes sticht; ein andermal als "Geschehnisse" im Körper selbst (13).

Selbst wenn wir von den aus früheren Erfahrungen oder wissenschaftlichen Feststellungen gewonnenen Erkenntnissen absehen, tragen diese Gefühle deutlich die Kennzeichen körperlicher Erlebnisse. Vergleichen wir ein Kopfweh mit dem Kummer über ein tragisches Ereignis, so steht die grundsätzliche Verschiedenheit unabweisbar vor uns. Gerade der leibliche Charakter dieser Gefühle unterscheidet sie offensichtlich vom Kummer; er findet sich ebenso in ihrer Qualität wie in Struktur und Eigenart ihres Erlebtwerdens. Diese Art phänomenaler Beziehung zum Leib ist ausschließlich den Körper-Gefühlen und -Instinkten eigen. Sie sind in bestimmter Weise die "Stimme" unseres Leibes (14) und der Mittelpunkt unserer Leibeserfahrung. Sie treffen uns am schärfsten und werden am wachesten und bewusstesten empfunden. Sie bilden den existentiellen Kern unseres Körpererlebnisses.

Es wäre völlig falsch, die menschlichen Körpergefühle denen der Tiere gleichzustellen. Denn die körperlichen Schmerzen, Vergnügen und Instinkte, die ein Mensch erlebt, haben einen grundlegend anderen Charakter als die des Tieres. Sie sind gewiss keine geistigen, aber eindeutig personale Erlebnisse.

Diese Tatsache schließt eine unüberbrückbare Kluft zwischen menschlichen und tierischen Körpergefühlen ein. Zugegeben, einige physiologische Vorgänge verlaufen homolog. Nichtsdestoweniger ist alles im bewussten Leben eines Menschen von der Wurzel her anders, weil es in die geheimnisvolle, tiefe Welt einer Person eingesenkt ist und von diesem einen identischen Selbst erlebt wird. In einem früheren Werk: "Reinheit und Jungfräulichkeit" haben wir uns mit der "Tiefe" der Körpergefühle in der sexuellen Sphäre beschäftigt und gezeigt, wie sie darauf angelegt sind, von der ehelichen Liebe durchformt zu werden. Isoliert man diese Gefühle von der Gesamtwirklichkeit der menschlichen Person, so missversteht man sie nicht nur in ihrer sittlichen Bedeutung, sondern auch in ihrem eigenen Sinn und Wesen. Sie enthüllen ihren wahren Charakter nur, wenn sie im Licht der besonderen intentio unionis ehelicher Liebe und der Sanktion Gottes für die Ehe gesehen werden. Ihr wirklicher Sinn zeigt sich ausschließlich in ihrer Beziehung zur Liebe.

Unnötig hier zu betonen, wie der personale Charakter gerade in diesem körperlichen Erlebnis hervortritt oder seine unerschöpfliche differenzierte Bedeutung für jede einzelne Person zu erörtern. Diese Differenzierung stammt aus der alles entscheidenden Haltung der Person gegenüber den Körper-Gefühlen, der Art, wie die Person sie durchlebt, d. h. von ihrem Ethos in Bezug auf Reinheit und geistige Integrität, aber auch daraus, dass eben diese Person, diese geliebte Individualität jene Gefühle erfährt.

Wenn wir miterleben, wie körperliche Schmerzen einen Menschen peinigen, so tritt in diesem Leiden die Würde und der Adel des menschlichen Leibes hervor, der so geheimnisvoll mit einer unsterblichen Seele vereinigt ist. Stellen wir uns einen Augenblick die entsetzlichen körperlichen Qualen der Märtyrer vor. Ihr personaler Charakter zeigt sich deutlich darin, dass sie von Menschen gefühlt wurden, die bereit waren, lieber Folter und Tod zu erdulden, als Gott zu verleugnen und dass sie diese Pein in ihren Leibern erlitten.

Und wer würde die geheimnisvolle Tiefe der körperlichen Leiden unseres Herrn, den physischen Schmerz des Gottmenschen, bezweifeln?

Wenden wir uns nun den psychischen Gefühlen zu. Hier stehen wir vor unvergleichlich mannigfaltigeren Typen. Tatsächlich finden sich in diesem Bereich nicht-körperlicher Erlebnisse die verhängnisvollsten Äquivokationen des Wortes "Gefühl". Dabei gibt es hier tiefgehende Verschiedenheiten.

Ein Beispiel eines ontologisch niedrigen Typs nichtleiblicher Gefühle ist die wohl bekannte Lustigkeit nach alkoholischen Getränken; wir meinen einen leichten Schwips und keine Betrunkenheit. Diese Euphorie oder ihr Gegenteil, die Depression (die richtiger Trunkenheit folgen kann) ist sicherlich kein einfaches Körpergefühl, wie die mit dem Schwips verbundenen Körpergefühle, zum Beispiel eine gewisse Schwere. Diese Erlebnisse unterscheiden sich auch eindeutig von den vorher besprochenen Körpergefühlen, denn diesen Zuständen von "Hochstimmung" und Depression fehlen die Merkmale körperlicher Erlebnisse. Erstens müssen nicht Leibesvorgänge ihre Ursache sein. Solche Depressionen können auch durch psychische Erlebnisse, zum Beispiel eine große Spannung oder einen unverarbeiteten Eindruck hervorgerufen werden. Oder jemand ist deprimiert oder niedergeschlagen ohne den Grund zu erkennen, der vielleicht ein unangenehmer Wortwechsel am Vortag oder eine gerade durchlittene große Anstrengung oder Enttäuschung sein mag.

Aber selbst wenn solche Stimmungen von unserem Körper verursacht werden, stellen sie sich nicht als "Stimme" des Leibes dar; weder haben sie ihren Sitz in ihm, noch sind sie körperliche Zustände. Sie sind viel "subjektiver", d. h. gehen mehr im Subjekt vor sich als die Körpergefühle. Wir sind zum Beispiel fröhlich, während wir Schmerzen haben. Diese Fröhlichkeit spielt sich im Bereich unserer psychischen Erlebnisse ab: die Welt erscheint in einem rosigen Licht, der Kummer schwindet und eine gewisse Zufriedenheit durchzieht unser ganzes Sein. Selbstverständlich stellen wir nicht in Abrede, dass mancherlei Körpergefühle diese psychische Hochstimmung begleiten können. Doch der Unterschied zwischen beiden wird nicht geringer, weil sie in uns gleichzeitig existieren und körperliche Empfindungen psychische Erlebnisse begleiten. Diese Wesensverschiedenheit bleibt selbst dann bestehen, wenn wir die Erfahrung machen, dass ein Körpergefühl und ein psychischer Zustand miteinander zusammenhängen, zum Beispiel ein leibliches Gefühl von Gesundheit und Vitalität gleichzeitig mit psychischer Hochstimmung und guter Laune auftritt. Hier koexistieren und durchdringen sich beide nicht nur, vielmehr können wir den Einfluss unserer körperlichen Vitalität auf unsere psychische Stimmung geradezu feststellen. Doch löscht diese erfahrene Verknüpfung keineswegs die grundlegende Verschiedenheit beider aus.

Wenn aber eine solche Fröhlichkeit oder Depression keine Körpergefühle sind, so unterscheiden sie sich noch unvergleichlich mehr von den geistigen Gefühlen, wie Freude über die Bekehrung eines Sünders oder über die Genesung eines Freundes, Mitleid oder Liebe. Gerade hier geraten wir leicht in eine verhängnisvolle Äquivokation, da wir für psychische Zustände und geistige affektive Antworten dasselbe Wort "Gefühl" gebrauchen, als seien sie zwei Arten ein und derselben Gattung.

Ein Zustand von Vergnügtheit ist eindeutig etwas anderes als Freude, Trauer, Liebe oder Mitleid, denn einmal fehlt ihm der Antwortcharakter, d. h. die sinnvolle, bewusste Beziehung zu einem Gegenstand. Er ist kein "intentionales" Erlebnis in unserem Sinne (15), in dem Intentionalität gerade ein spezifisches Merkmal von Geistigkeit ist. Sie findet sich in jedem Erkenntnisakt, jeder theoretischen Antwort (wie Überzeugung oder Zweifel), in jeder Willens- und affektiven Antwort. Sie zeigt sich auch in den verschiedenen Formen des "Affiziertseins", wie Ergriffenheit, von Frieden-Erfülltsein, Erbautsein. Obwohl die Intentionalität allein noch keine Geistigkeit im vollen Sinne verbürgt, enthält sie doch ein rationales Element, eine strukturelle Geistigkeit. Nicht intenionale psychische Gefühle sind daher eindeutig ungeistig, denn das Fehlen der Intentionalität grenzt sie von der geistigen Sphäre ab.

Zweitens werden psychische Zustände entweder durch körperliche oder psychische Vorgänge "verursacht", affektive Antworten sind dagegen "motiviert". Eine echte affektive Antwort kann niemals durch bloße Kausalität, sondern nur durch Motivation zustande kommen. Wirkliche Freude schließt nicht nur notwendig das Bewusstsein von einem Gegenstand ein, über den wir uns freuen, sondern auch das Innesein, dass gerade dieser Gegenstand der Grund eben dieser Freude ist. Wenn wir über die Genesung eines Freundes jubeln, wissen wir, dass dies Ereignis unsere Freude erzeugt und motiviert. Seine Heilung ist also sinnvoll und einsichtig mit unserer Freude verbunden, die sich wesentlich von der Lustigkeit unterscheidet, in die uns zum Beispiel alkoholische Getränke versetzen. Zwischen Trinken und geselliger Lustigkeit besteht bloß ein wirkursächlicher Zusammenhang, der als solcher nicht intelligibel ist und den wir nur aus der Erfahrung kennen. Die Verbindung zwischen der Genesung unseres Freundes und unserer Freude ist jedoch voll intelligibel; das Wesen dieser Begebenheit und ihr Wert verlangen geradezu nach Freude. Das bedeutet: unsere Freude setzt die Kenntnis eines Gegenstandes und seiner Bedeutsamkeit voraus und der Vorgang, in dem der Gegenstand in seiner Bedeutsamkeit die Antwort erzeugt, ist selbst ein bewusster. Er spielt sich im geistigen Bereich der Person ab. Wir werden später auf die Eigenart der Intentionalität und der Motivation zurückkommen.

Wenn wir den geistigen Charakter der affektiven Antworten, ihre Verschiedenheit von bloßen psychischen Zuständen und ihre noch größere von Körpergefühlen betonen, so übersehen wir damit keineswegs ihre Auswirkungen auf den Leib. Es liegt uns gänzlich fern, die innige Verbindung zwischen Leib und Seele zu bestreiten. Unsere klare Unterscheidung der körperlichen und seelischen Erlebnisse schließt keineswegs einen falschen Spiritualismus ein. Gewiss gehört die Rückwirkung der geistigen affektiven Antworten auf den Leib zur menschlichen Natur. Aber die unmittelbare Nähe beider Erlebnisse mindert ihre radikale Verschiedenheit nicht. Weiter ist zu bedenken: obwohl die affektiven Antworten diesen körperlichen Widerhall erzeugen können, gilt dies keineswegs auch umgekehrt. Niemals vermögen körperliche Vorgänge als solche affektive Antworten hervorzubringen. Eine gewisse leibliche Gesundheit und Vitalität mag eine notwendige Voraussetzung für diese Antworten sein, aber sie verdanken ihre Entstehung einem Motiv, der Kenntnis einer irgendwie bedeutsamen Gegebenheit. Die psychischen Zustände haben wirklich jenen "unzuverlässigen", vorübergehend-flüchtigen Charakter, den man zu Unrecht oft den "Gefühlen" im allgemeinen, im Gegensatz zu Erkenntnis- und Willensakten zuschreibt. Schlechte Laune, Lustigkeit, Depression, Irritation, "Nervosität" haben eine schwankende, irrationale Beschaffenheit. Sie sind der Preis, den der Mensch für seine Schwachheit, seine Verwundbarkeit, seine Abhängigkeit vom Leib bis in seine Stimmungen hinein und für sein Preisgegebensein an irrationale Einflüsse zahlen muss.

Es ist daher eine wichtige Aufgabe in unserem geistigen und religiösen Leben, nicht nur unsere Handlungen und Entschlüsse, sondern auch unser Herz von dem Rhythmus dieser psychischen Gefühle frei zu machen. Wir alle kennen Menschen, die sich übermäßig von solchen Launen beherrschen lassen. Sie sind unberechenbar. Wir verlassen sie in bester Stimmung und wenige Stunden später sind sie ohne objektiven Grund deprimiert oder schlechter Laune. Das Barometer ihrer Seele bewegt sich infolge dieser irrationalen Zustände ständig auf und ab. Schnell langweilt oder irritiert sie, was sie zuerst gern taten. Sie weigern sich zu tun, was sie sollten, weil ihre Stimmung umgeschlagen ist.

Dies gilt jedoch nicht für alle un-intentionalen psychischen Zustände. Später werden wir uns mit jenen legitimen psychischen Gefühlen und Stimmungen beschäftigen, die der Widerhall großer geistiger Erlebnisse sind. Fern sei es von uns, zum Beispiel das Hochgefühl illegitim zu nennen, das unbewusst als Echo unserer tiefen Freude über die Heilung eines lieben Freundes in unserer Seele schwingt. Wir meinten soeben nur die irrationalen Launen, die keine echte Resonanz einer geistigen Antwort und darum nicht "berechtigt" und "legitim", sondern bloß eine Wirkung von körperlichen Ursachen oder von Erlebnissen sind, die sie in keiner Weise rechtfertigen. Diese Launen stehen entweder in keinem Verhältnis zu den vorausgegangenen Erlebnissen, oder hängen nicht rational mit ihnen zusammen. Das trübe Licht, in dem jemand alles um sich herum sieht, nur weil er zu wenig schlief beansprucht gewissermaßen, ein gültiger Aspekt der Welt zu sein und nicht das, was es wirklich ist: eine bloße Wirkung ungenügenden Schlafes. Gerade weil diese Zustände einen immanenten Anspruch erheben, rational berechtigt zu sein, weil sie sich viel gewichtiger darstellen, als sie objektiv sind, werden sie illegitim und eine Belastung für unser geistiges Leben.

Diesen illegitimen Charakter haben vor allem psychische Zustände mit negativen Vorzeichen; etwa Depressionen, schlechte Laune, Irritation, Aufgeregtheit, Angst usw. Aber Entsprechendes gilt auch für euphorische Zustände, die nicht der Widerhall einer echten, motivierten Freude sind, sondern von einem Medikament herrühren. Auch diese Stimmungen tragen einen falschen Anspruch in sich und behindern unser wahres geistiges Leben. Es genügt nicht, unseren Verstand und unseren Willen aus der Tyrannei dieser irrationalen Vorgänge zu lösen, auch unser Herz muss von ihr befreit werden. Wenn wir die Willkürherrschaft dieser psychischen Gefühle überwinden, schaffen wir Raum für geistige Gefühle. Unser Herz kann sich füllen mit sinnvollen affektiven Antworten. Wir werden fähiger, uns über große und bleibende Güter zu freuen, denen unsere Freude gebührt. Wir können lieben, was liebenswert ist, können unsere Sünden bereuen, den Frieden und das Licht empfinden, die die Existenz Gottes und unserer Erlösung unseren Seelen verleihen sollte.

An dieser Stelle sind noch zwei Arten der Abhängigkeit vom Körper zu erwähnen: eine bewusste und eine unbewusste. Die erste ist der Grad unserer Unfähigkeit, uns von Leibesgefühlen unabhängig zu machen. Es gibt Menschen, die vollständig von körperlichen Unpässlichkeiten oder Unbequemlichkeiten absorbiert werden oder bei Schmerzen völlig niedergeschlagen sind. Jedes Weh, selbst das geringste wird zum Drama. Andere werden so von körperlichen Anstrengungen absorbiert, etwa, wenn sie lange stehen oder unbequem sitzen müssen, dass sie unfähig sind, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, sich an schöner Musik oder an einem Gespräch mit einem Freund zu erfreuen. Dagegen gibt es Menschen, die außerordentlich unabhängig von ihrem Körper sind. Ihre Seelen bleiben frei, wenn auch ihr Leib leidet. (Wir sprechen natürlich nicht von sehr heftigen Schmerzen.) Sie können sich an geistigen Dingen trotz körperlicher Qualen, Anstrengungen und Unbequemlichkeiten erfreuen.

Zweitens gibt es eine unbewusste Abhängigkeit von psychischen Zuständen, die tatsächlich durch den Leib verursacht werden. So sieht jemand alles in düsterer Beleuchtung, nur weil er übernächtigt ist, oder er ist irritiert und schlecht aufgelegt, weil gewisse physiologische Prozesse in seinem Körper ablaufen. Hier wird der Einfluss des Körpers auf die Seele nicht bewusst erlebt. Wenn wir solche Zustände, die keine sinnvolle Basis haben, in uns eindringen lassen, räumen wir unserem Leib ein noch größeres Herrschaftsrecht ein, als wenn uns unsere Körpergefühle zu sehr in Anspruch nehmen. Dieser versteckte Einfluss ist tiefer und gefährlicher. In den Körpergefühlen spricht der Leib zu uns; wir wissen, sie sind seine Stimme. Hier aber stellen sich Gefühle, die in Wirklichkeit von rein physiologischen Abläufen verursacht sind, als psychische Vorgänge und gültige Stimmungen der Seele dar. Nehmen wir sie ernst und geben wir ihnen nach, so machen wir uns weit mehr zum Sklaven unseres Leibes, als im vorherigen Fall. Wir sollten wissen, dass kein echtes Motiv für sie besteht, dass nichts geschah, was unseren Stimmungswechsel rechtfertigen konnte. Gerade die Tatsache, dass diese Depression oder Laune keine objektive Berechtigung hat, ja sogar der echten Antwort auf die betreffende Situation widerspricht, müsste uns diesen Gefühlen gegenüber misstrauisch machen und uns zu bedenken geben, dass sie eine Folge körperlicher Abläufe oder Verhaltungen sein könnten. Diese Einsicht hat große Auswirkungen auf unsere schlechte Verfassung. Wir gewinnen durch sie einen geistigen Abstand von unserer Laune, die auf diese Weise für ungültig erklärt wird, und können uns zumindest weitgehend von ihr befreien. Während sich die Körpergefühle gleich bleiben, wie immer wir zu ihnen stehen, verlieren Depressionen und Launen, einmal als Folge körperlicher Vorgänge erkannt, mehr oder weniger ihr Gewicht.

Es wäre freilich völlig falsch, zu leugnen, dass körperlich verursachte Depressionen eine Quelle schrecklicher Leiden und ein großes Unglück für die Betroffenen sind. Im allgemeinen aber büßen sie viel von ihrer Macht über uns ein, sobald wir uns ihrer Ursachen bewusst werden und sie gleichsam demaskiert haben. Wenn wir erst sehen, dass die Welt sich nicht verändert hat, dass nichts geschah, was unsere Depression rechtfertigen könnte, sie also ausschließlich Folge einer körperlichen Verfassung ist, sind wir ihr im allgemeinen nicht mehr ausgeliefert, sondern haben Abstand von ihr gewonnen. Nichtsdestoweniger gibt es Fälle, wie das Klimakterium für manche Frauen oder gewisse neurotische Störungen, bei denen das volle Gewicht des Depressionszustandes fortdauert, obwohl der Betroffene dessen Ursprung voll und ganz begreift. Dieser sucht daher mit Recht Heilung oder Linderung bei den Ärzten.

Von diesen nicht-intentionalen psychischen Zuständen müssen wir die Leidenschaften unterscheiden. Die "Leidenschaften" werden oft mit dem gesamten Bereich psychischer und geistiger Gefühle im Unterschied zu Vernunft und Wille gleichgesetzt; so in der traditionellen und kartesianischen Philosophie. Aber dies ist selbst dann noch irreführend, wenn es in einem bloß analogen Sinne geschieht, denn die Gefahr eines Übersehens der grundlegenden Unterschiede in der affektiven Sphäre bleibt bestehen. Man sollte vielmehr den Ausdruck "passiones" auf bestimmte Typen affektiver Erlebnisse beschränken, die der ursprünglichen Bedeutung des Wortes entsprechen.

Wenn wir von Leidenschaften sprechen, meinen wir in erster Linie einen bestimmten Grad affektiven Erlebens. Sobald gewisse Gefühle eine große Intensität erreichen, drohen sie unsere Vernunft zum Schweigen zu bringen und unseren Willen zu überwältigen. Der Zorn kann einen Menschen so sehr um seinen Verstand bringen, dass er nicht mehr weiß, was er tut. Er "verliert seinen Kopf", schlägt zum Beispiel wütend nach einem anderen, ohne ihn oder einen anderen bewusst treffen zu wollen. In diesem Zustand verliert er auch die Fähigkeit freier Entscheidung. Selbstverständlich ist er objektiv nicht seines freien Willens beraubt und verantwortlich dafür, dass er in diesen Zustand geriet. Gleichzeitig aber ist es klar, dass er für jede, in solcher Erregung begangene Tat, weniger verantwortlich ist, als er es für genau dieselbe Tat in ruhiger Verfassung sein würde.

Zum richtigen Verständnis müssen wir eine grundlegende Unterscheidung machen, die schon Platon im Phaidros zwischen den beiden Arten von Wahnsinn vollzog. Im 18. Kapitel unseres Buches: "Umgestaltung in Christus" grenzten wir in ähnlicher Weise das "Wahre sich Verlieren" von dem illegitimen überwältigtwerden ab. Wir zeigten, dass es zwei Weisen des Außersichseins gibt, die einander radikal entgegengesetzt sind, obwohl beide eine Antithese zur normalen Verfassung bilden, in der wir festen Boden unter den Füßen spüren, unsere Vernunft die Situation klar übersieht und unser Wille sich ohne weiteres entscheidet.

Die niedere Form des "Außer-sich-seins" (die oben als eine Bedeutung von Leidenschaft angeführt wurde) ist durch ihre Irrationalität charakterisiert. Hier wird unsere Vernunft gleichsam ausgelöscht und auch ihr bescheidenster Gebrauch verhindert. Unser Geist ist nicht nur verwirrt, sondern abgedrosselt. Die brutale Dynamik dieses Zustandes begräbt sowohl die Vernunft wie das freie Personzentrum unter ihren Fluten. Beide werden überwältigt und in eine unmenschlichbiologische Eigengesetzlichkeit hinab gezogen, die selbstverständlich völlig ungeistig ist.

Die höhere Form des Außer-sich-seins, - d. h. ein ekstatischer Zustand und jedes Erlebnis, in dem etwas Größeres als wir selbst sich unser "bemächtigt" -, ist das äußerste Gegenteil eines Ausbruches der Leidenschaft. Wenn jemand so sehr von einem hohen Wert getroffen ist, dass er über den normalen Rhythmus seines Lebens hinausgehoben wird, "verliert" er gewissermaßen auch den sicheren Boden unter den Füßen. Er verlässt jene angenehme Verfassung, in der sein Verstand alles übersieht und der Wille kühl seine Entscheidung berechnet.

Aber dies folgt nicht auf ein Auslöschen der Vernunft, sondern im Gegenteil auf ihre außerordentliche Erhebung in einem intuitiven Erfassen, das alles andere als irrational ist, vielmehr einen lichten, überrationalen Charakter hat (16). Diese höhere Form ist so weit von jeder Vernunftwidrigkeit entfernt, dass sie unseren Geist nicht etwa verdunkelt, sondern ihm eine Fülle des Lichtes schenkt. Allerdings tritt die Welt des Alltäglichen in den Hintergrund und überlässt die Szene ganz und gar dem großen unmittelbaren Erlebnis.

Diese "Ekstase" im weitesten Sinn des Wortes ist jeder Versklavung, jeder Umgehung unserer Freiheit von Grund auf entgegengesetzt. Weit entfernt, unser freies Personzentrum entthronen zu wollen, unsere Vernunft und unseren Willen gewalttätig zu unterdrücken, verlangt sie die Sanktion dieses unseres freien Personzentrums und appelliert an sie. Sie ist ein geschenkhaftes Emporgehobenwerden zu einer höheren Freiheit, in der unser Herz - und nicht nur unser Wille - antwortet, wie es antworten soll. Sie ist eine Befreiung von den uns niederhaltenden Fesseln. Freilich gibt es viele Stadien und Grade dieser affektiven Ekstase, aber sie alle verhalten sich antithetisch zu jenem Zustand, in dem wir von Leidenschaften verschlungen werden. Statt einer Vernebelung der Vernunft in leidenschaftlicher Erregung erleben wir eine lichtvolle, unmittelbar einsichtige Klarheit; statt der brutalen Überwältigung und Entthronung unseres freien Personzentrums werden wir emporgerissen und von einer höheren Freiheit umfangen. In der ersten Form werden wir von Kräften unterhalb unseres normalen Lebens fortgezogen, in der zweiten von etwas Größerem und Höherem als wir selbst emporgehoben.

Es dürfte nun klar sein, in welchem Gegensatz diese beiden Erlebnisse zueinander stehen. Gewiss liegt jedes von ihnen weitab vom gewöhnlichen Lebensgang. Aber genauer gesagt: sie sind noch weiter von einander als jede von dem Normalzustand entfernt. Dies ist jedoch nichts Ungewöhnliches, denn in vielen Bereichen des Seienden begegnen wir demselben Sachverhalt, dass scheinbar gleiche Dinge tatsächlich noch weiter voneinander entfernt sind als von einem dritten, von dem sie beide so eindeutig abweichen. Der hl. Augustinus erwähnt in "de civitate Dei", sowohl ein gelähmtes Glied wie ein verklärter Leib seien schmerzunempfindlich, aber aus entgegengesetzten Gründen: der gelähmte Körper bleibt unter dem Stand eines gesunden Leibes, der verklärte steht über ihm. Diese beiden Typen von Schmerzlosigkeit unterscheiden sich also mehr voneinander als von dem gesunden, schmerzempfindlichen Körper. - Ein Tier kann nicht sündigen - auch ein Heiliger in der Ewigkeit kann es nicht. Aber offenbar ist diese Unfähigkeit zur Sünde in jedem Fall etwas gänzlich anderes. Die eine beruht auf dem Fehlen einer Vollkommenheit, die zweite ist eine außerordentliche Vollkommenheit. Die stoische Gelassenheit (apatheia und ataraxia) ist viel weiter von der serenitas animae des Heiligen entfernt, d. h. von der friedvollen Hingabe an Gottes Willen, als von einem ungestümen, wechselnden Rhythmus von Freude und Leid, Furcht und Hoffnung, je nach den sich ändernden Lebensumständen. So ließen sich noch viele andere Beispiele nennen, in denen dieselbe Wahrheit wiederkehrt.

Es ist von größter Wichtigkeit, die beiden Formen des Außer-sich-seins deutlich zu unterscheiden, wenn wir das wahre Wesen der Leidenschaften klären und sie von den geistigen affektiven Antworten unterscheiden wollen. In Nietzsches Begriff des Dionysischen findet sich zum Beispiel eine typische Verwechslung von echter und falscher Ekstase. Überdies gibt es innerhalb der niederen Form des Außer-sich-seins noch zahlreiche verschiedene Typen. Die spezifische Qualität dieses Zustandes verändert sich weitgehend je nach der Art des affektiven Erlebnisses, das zum Auslöschen der Vernunft und zur Entthronung der Freiheit führt. Das Außer-sich-sein hat einen jeweils ganz anderen Charakter, wenn es sich um Zorn, Angst oder sexuelles Begehren handelt. Selbst der Zorn kann noch in sehr unterschiedlichen Schattierungen und Arten auftreten. Offenkundig hängt Wesen und Qualität dieser Leidenschaft davon ab, ob der Zorn aus dem Hochmut oder der Begehrlichkeit fließt, oder ob es "richtiger" Zorn ist, d. h. von einem sittlichen Übel motiviert wird.

Eine gänzlich andere Form des Außer-sich-seins zeigt sieh bei einem Menschen, der unerträgliche körperliche Schmerzen aushalten muss oder am Verhungern oder Verdursten ist oder etwa bei einem Süchtigen. Noch weiter entfernt von all diesen Arten ist der Verzweiflungsanfall eines Menschen, der sich in tiefer Qual das Haar ausreißt oder seinen Kopf gegen die Wand schlägt.

Doch wenn wir von Leidenschaften sprechen, meinen wir außer diesen Formen auch ein habituelles Verfallensein an gewisse übermächtig gewordene Triebe. Manche Menschen werden zum Beispiel von ihrem Ehrgeiz, ihrem Ressentiment, ihrer Habgier verzehrt. Hier handelt es sich nicht um ein augenblickliches Aufflammen der Leidenschaft, vielmehr um ein dauerndes Beherrschtwerden von einem gewissen Hang. In dem spezifisch irrationalen dunklen Charakter dieses Beherrschtwerdens liegt die Analogie zu den leidenschaftlichen Zuständen; es ist eine Art habitueller Überwältigung unserer Freiheit. Doch von dem augenblicklichen Leidenschaftsausbruch unterscheidet es sich nach vielen Seiten. So schließt es keine Verdunklung der Vernunft ein. Der technische Verstand d. h. die Fähigkeit klaren Überlegens und Berechnens - ist keineswegs lahmgelegt. Ein Mensch, der von Ehrgeiz oder Machtgier verzehrt wird - etwa Richard III. in Shakespeares Auffassung - besitzt eine verfeinerte Fähigkeit, alle Einzelheiten seiner verbrecherischen Pläne genau zu berechnen. Er hat sogar eine große technische Selbstbeherrschung. Daher kann keine Rede von Verdunklung des Verstandes sein, wie bei jemand, der nicht mehr genau weiß, was er tut. Auch Wille und Freiheit sind weder entthront noch überwältigt, wie bei einem, der in der Wut "den Kopf verliert". Die Verantwortung ist in keiner Weise vermindert. Er überlegt und plant seine Entscheidungen klar im voraus; an ihnen erweist sich der Gebrauch seines freien Willens.

Nichtsdestoweniger sind Vernunft und Wille auch in diesem Fall unterjocht. Hier zeigt sich die Herrschaft einer habituellen Leidenschaft über Vernunft und freien Willen in einem tieferen Sinn von Versklavung und in einer tieferen Personschicht. Der Verstand wird zum Knecht der Leidenschaft; seine ganze Tätigkeit wird von dem "vernünftigen" und wirksamen Verfolgen der von der Leidenschaft gestellten Ziele aufgesogen. Die wahre und höchste Aufgabe der Vernunft, die Wahrheit zu erkennen, zu fragen, was wir tun sollen, welches das sittlich richtige Verhalten ist, wird durch die Vorherrschaft der Leidenschaft im Keim erstickt.

Ebenso ist der Wille in seiner tiefsten Funktion gelähmt: in der Zustimmung zu den sittlich bedeutsamen Werten und ihrer Forderung. Natürlich ist die ontologische Willensfreiheit nicht unterbunden, ja nicht einmal vermindert. Die Verantwortlichkeit ist also keineswegs verringert. Auch der technische Gebrauch der Freiheit ist voll gegeben. Ein von Leidenschaft verzehrter Mensch kann, wie gesagt, seine Handlungen voraus bedenken und mit seinem Willen befehlen. Aber seine sittliche Freiheit ist zunichte geworden. Den echten Gebrauch seiner Freiheit, das "Ja" zu der in den sittlich bedeutsamen Gütern enthaltenen Forderung, und das "Nein" zu den sittlich bedeutsamen übeln, das "Ja" zum Ruf Gottes und das "Nein" zu den Versuchungen von Hochmut und Begehrlichkeit, dies alles bringt die Versklavung an die Leidenschaften zum Schweigen.

Wir haben schon bei den leidenschaftlichen Zuständen gesehen, dass nur gewisse Gefühle bei großer Intensität zu der niederen Form des "Außer-sich-seins" degenerieren können. Selbst im Rahmen dieser Gefühle wirkt sich, wie gesagt, deren besondere Eigenart auf den Charakter des "Außer-sich-seins" aus. Gleicherweise zeigte sich, wie nur bestimmte Triebe, Neigungen und Gefühle zu einer habituellen Versklavung der Person führen können.

Leidenschaften im wahrsten Sinn sind jedoch Gefühle wie Ehrgeiz, Habgier, Wollust, Geiz, Hass, Neid, die einen dunklen, widervernünftigen Charakter besitzen, selbst wenn sie noch keinen leidenschaftlichen Grad erreicht oder noch keine habituelle Herrschaft über die Person erlangt haben. Sie verdienen den Namen Leidenschaft unabhängig von ihrer Intensität. Wenn sie aber eine große Heftigkeit annehmen oder eine Person ganz in ihren Bann gerät, dann wachsen sie sich zu den charakteristischen Leidenschaftsausbrüchen oder zur habituellen Versklavung der Person aus. Doch hier geht es darum, zu sehen, dass sie nicht nur zur Entladung dieser schlimmen Dynamik drängen, sondern in ihrer eigentlichen Qualität eine innere Feindschaft gegen Vernunft und sittliche Freiheit aufweisen; gleichzeitig möchten wir hinzufügen: wenn auch nur Äußerungen von Hochmut und Begehrlichkeit diesen dunklen widervernünftigen Charakter haben können, so ist noch nicht jede Bekundung von Hochmut und Begehrlichkeit schon eine Leidenschaft. Zwischen Hochmut und Begehrlichkeit einerseits und dem ehrfürchtig wertantwortenden Zentrum andererseits besteht zwar eine innerste Unvereinbarkeit. Doch Leidenschaften im strengen Sinn des Wortes schließen nicht nur eine Antithese zum freien, wertantwortenden Zentrum ein, sie tragen außerdem eine wilde, widervernünftige Dynamik von abgründiger Tiefe in sich. (Vergl. die ausführliche Darstellung dieses Unterschiedes in unserer "Christlichen Ethik", Kap. 34 und 35).

Zusammenfassend können wir sagen: es gibt vier Typen affektiver Erlebnisse, die jede in ihrer Art eine geist-feindliche Dynamik in sich tragen und daher im weiteren Sinn des Wortes Leidenschaften genannt werden können. Zuerst die Leidenschaften im Vollsinn des Wortes, wie Ehrgeiz, Machtgier, Habsucht, Geiz, Wollust. Sie alle haben einen dunklen, widervernünftigen Charakter. Da ist zweitens das explosive Verhalten, wie der Zorn. Wir denken jetzt nicht an einen Zorn, den Ehrgeiz, Rachsucht, Hass oder Habgier anstacheln, - denn dieser würde keinen neuen Typ darstellen -, sondern vielmehr an jenen, der von irgendwelchem, einem Menschen zugefügten objektiven Übel motiviert wird, den wir daher "verständlich" finden. Ebenso meinen wir den einem objektiven, sittlichen Übel geltenden Zorn, der zum Beispiel in uns aufflammt, wenn wir eine Ungerechtigkeit miterleben. Zwar ist er explosiv, unkontrollierbar, unberechenbar, aber es ist nicht jener dunkle, widervernünftige, dämonische Typ, der von Ehrgeiz oder Habgier motiviert wird. Er ist mehr einer geladenen Kanone zu vergleichen. Doch das explosive "unkontrollierbare" Element in ihm macht ihn als solchen zu einer Leidenschaft.

Drittens gibt es Triebe, die durch versklavende Dynamik zu Leidenschaften werden. Wir denken hier an den Trinker, den Süchtigen, den Spieler. Diese Triebe sind wie eine Zwangsjacke, wie die Saugarme eines Polypen. Auch sie haben nicht jene dunkle, dämonische Note der Leidenschaften im strengen Sinn, aber eine unheimliche, unbegreifliche, irrationale Dynamik.

Viertens gibt es affektive Antworten, die uns trotz ihres wertantwortenden Charakters fortreißen können; etwa ein spezifischer Typ von Liebe zwischen Mann und Frau, zum Beispiel die Liebe des Chevalier des Grieux zu Manon Lescaux oder die des Don José zu Carmen. Erreicht dieser Typ eine große Intensität, so wird er zu einem reißenden Strom, der alle sittlichen Bastionen überflutet und die ganze Persönlichkeit mit sich fortspült. Dann bekommt auch die Liebe den Charakter einer Leidenschaft, die den Liebenden versklavt. Doch wir müssen betonen: für diese Degeneration ist der allgemeine sittliche Stand einer Person und die Verknüpfung der Liebe mit ihr fremden Elementen "verantwortlich". Während die ersten drei Typen von Leidenschaft ihr Gift in sich selbst tragen, kann der vierte Typ nur auf Grund dieser wesensfremden Elemente eine gefährliche Tyrannei ausüben.

Dieser kurze Blick auf die affektiven Erlebnisse, die man in unterschiedlichem Sinn Leidenschaften (17) nennen könnte, mag hier genügen. Unsere Kernfrage ist die radikale und einschneidende Verschiedenheit der Leidenschaften und der von Werten motivierten affektiven Erlebnisse. Nur wenn man sie ganz klar herausstellt, lässt sich der Bann brechen, mit dem die gesamte affektive Sphäre und das Herz unterschiedslos belegt wurde. Solange man die Leidenschaften als Urbilder der ganzen affektiven Sphäre nimmt, und jede affektive Antwort in dieser Beleuchtung sieht, muss man den wichtigsten und echtesten Teil der Affektivität zwangsläufig missdeuten.

Jede Wertantwort, jedes Affiziert-werden von Werten ist von den Leidenschaften radikal verschieden. Welcher Abgrund zwischen einem Leidenschaftsausbruch und den Tränen der Ergriffenheit über die Worte der hl. Maria Goretti, mit denen sie ihrem Mörder verzieh! Es ist auch nicht schwer zu sehen, dass sich kein Merkmal von Leidenschaft in affektiven Erlebnissen, wie das Beglücktsein über die Liebe eines anderen, das Verwundetsein von seinem Hass, oder in allen Wertantworten, wie Liebe, Hoffnung, Verehrung, Begeisterung oder Freude findet. Und doch zeigen sich trotz dieses grundlegenden Unterschiedes in der gefallenen menschlichen Natur plötzliche Übergänge von Wertantworten zu gewissen Leidenschaften oder jedenfalls zu irrationalen Gefühlen. Es gehört zu den tragischen Geheimnissen der menschlichen Gefallenheit, dass selbst die edelsten und geistigsten affektiven Antworten jählings Haltungen gänzlich anderen Charakters heraufbeschwören können. Bewunderung oder Begeisterung können zu einem Zornausbruch führen, wenn der Geliebte oder der bewunderte Gegenstand nicht gewürdigt oder irgendwie angegriffen wird. Der edle Eifer für die Gerechtigkeit kann unversehens zu Fanatismus entarten. Flammen der Eifersucht können in einem Liebenden auflodern - wie in Othello. Aber die Gefahr dieses geheimnisvollen Umschlagens löscht den Wesensunterschied zwischen Wertantworten und Leidenschaften in strengem Sinn nicht aus.

Vielleicht erklärt dieser mögliche jähe Wechsel teilweise das traditionelle Misstrauen gegen die affektive Sphäre. Man fürchtet sich vor jeder, sogar der edlen affektiven Intensität, weil sie einem Abenteuer gleicht. Später, wenn wir uns mit der Umwandlung des Herzens durch Christus befassen, werden wir sehen, dass selbst eine edle, affektive Dynamik einzig in Christus und durch Ihn vor der Gefahr des Abirrens bewahrt werden kann.

Es wäre jedoch ein schwerer Irrtum, zu meinen, diese plötzliche Veränderung oder Vergiftung eines edlen Erlebnisses sei auf die affektive Sphäre beschränkt. Es gibt keine Regung im Menschen, die nicht vergiftet werden könnte. Bestehen nicht analoge Gefahren im Reich der Vernunft? Dort zeigt sich nicht nur Irrtum, sondern geistiger Hochmut, Rationalismus und jene intellektuelle Anmaßung, die nicht eingesteht, dass es Dinge gibt, die man nicht ergründen kann. "Ihr werdet wie Gott, indem ihr Gutes und Böses erkennt". (Gen 3,5). Ist nicht auch spekulatives Denken ein waghalsiges Abenteuer? Es scheint, die Philosophiegeschichte beweist es.

Wollen wir jedes Risiko vermeiden, so müssen wir aufhören zu leben. Die Tatsache, dass Gott uns einen freien Willen gegeben hat, ist das größte aller Wagnisse. Wer jeder Gefahr ausweichen will, müsste sich eine Aufhebung der Lebensvorgänge wünschen.

Wir wollen nun in Kürze den Wesensunterschied zwischen den von Werten motivierten, affektiven Erlebnissen und den Leidenschaften weiter herausarbeiten und vor allem die Geistigkeit der ersten betonen. Diese Geistigkeit unterscheidet sie nicht nur von den Leidenschaften im engeren Sinn, nicht nur von den nichtintentionalen Zuständen, von Begierden und Trieben, sondern von einem Erlebnistyp, der zwar intentional ist, aber nicht von werttrageden Gütern hervorgerufen wird.

Die Geistigkeit einer affektiven Antwort ist noch nicht durch eine formale "Intentionalität" gesichert, sie erfordert darüber hinaus die für Wertantworten charakteristische Transzendenz. In der Wertantwort erzeugt allein die innere Bedeutsamkeit des Gutes unsere Antwort und unser Interesse; wir konformieren uns dem Wert, dem in sich Bedeutsamen. Unsere Antwort transzendiert im selben Maß - d. h. ist ebenso frei von bloß subjektiven Bedürfnissen, Begierden und rein entelechialen Vorgängen - wie unsere Erkenntnis, welche die Wahrheit erfasst und sich ihr unterwirft. Die der Wertanwort eigene Transzendenz reicht sogar noch weiter. Indem unser Herz sich dem Wert angleicht, das in sich Bedeutsame uns ergreift, bildet sich eine Einheit, die über die im Erkennen liegende noch hinausgeht. Denn in der Liebe ist die gesamte Person noch tiefer in die Vereinigung mit dem Objekt hineingezogen als in der Erkenntnis. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die in der Erkenntnis bewirkte Einheit notwendig in der Liebe mitverkörpert ist. Geistige affektive Antworten enthalten immer eine Mitwirkung des Intellektes mit dem Herzen. Es ist ein Erkenntnisakt, in dem wir den Gegenstand unserer Freude, unseres Kummers, Leidens, unserer Bewunderung und Liebe erfassen und wiederum in einem Erkenntnisakt begreifen wir den Wert des Gegenstandes.

Außer der vorbereitenden Beteiligung der Vernunft bedarf es weiterhin der Mitwirkung des freien geistigen Zentrums (18). Die affektive Wertantwort bildet also einen radikalen Gegensatz zu jeder bloß immanenten Entfaltung unserer Natur in all ihren Trieben und Begierden.

Mit dieser Transzendenz geht eine außerordentliche Intelligibilität Hand in Hand. Den Kausalzusammenhang zwischen Brennen und Schmerz müssen wir experimentell feststellen: erblicken wir ein Feuer, so können wir nicht unmittelbar einsehen, dass es uns wehtun wird, wenn wir ihm zu nahe kommen. Ebenso wenig können wir ohne Erfahrung wissen, dass uns starker Weingenuss trunken macht. Aber dies gilt nicht für die Beziehung zwischen der Wertantwort und dem sie motivierenden Gegenstand. Wir brauchen nicht experimentell feststellen, dass jemand von einer schönen Landschaft oder einer edlen Tat begeistert ist. Die innere, sinnvolle Beziehung zwischen dem ästhetischen oder sittlichen Wert und der Antwort der Begeisterung wird unmittelbar einsichtig, sobald wir uns in das Wesen des Wertes und dieser Antwort vertiefen.

Diese Geistigkeit der affektiven Wertantwort nimmt zu mit dem Rang des Wertes, dem sie gilt. In der heiligen Freude, die etwa der hl. Simeon erlebte, als er das Kind Jesus in seinen Armen hielt, ist ein Höhepunkt von Geistigkeit gegeben. Hier und in der heiligen Liebe tritt zu der formalen, allen Wertanworten eigenen Geistigkeit noch eine qualitative hinzu. Obwohl sie alle wesenhaft geistig sind, gibt es unter den Wertantworten noch eine weite Skala von Geistigkeit. Dieselbe formale Geistigkeit besitzt außer ihnen auch das Affiziert-sein von einem werttragenden Gut, zum Beispiel wenn wir von einem Akt der Großmut oder der Demut ergriffen sind oder ein tiefer Friede in unsere Seele strömt, während wir die Worte unseres Herrn betrachten. Hier finden wir die gleichen Merkmale der Geistigkeit wie in den Wertantworten: ein transzendierendes Emporgehobenwerden von hohen Werten, durch die Mitwirkung der Erkenntnis und die Sanktion unseres freien Zentrums.

Unseren Überblick über die affektive Sphäre können wir nicht beschließen, ohne eine besonders typische Gruppe zu erwähnen, die man poetische Gefühle nennen könnte.

Theodor Haecker vergleicht das Reich der Gefühle mit dem Meer. In der Tat, sie ähneln dem Meer in ihren unerschöpflichen Differenzierungen, ihrem Auf- und Abwogen, vor allem in der Schicht der psychischen, noch nicht geistigen Gefühle.

Wir befassten uns schon mit den nicht-intentionalen Gefühlen, wie schlechte Laune, Depression, Irritation, die den Charakter eines psychischen Zustandes haben und von körperlichen Vorgängen oder psychischen Ursachen hervorgerufen werden können. Aber mit ihnen ist der Bereich der psychischen und formal unintentionalen Gefühle noch nicht erschöpft. Es gibt noch eine kaum ermessliche Vielfalt von Gefühlen, die in der Poesie eine ungeheure Rolle spielen: etwa süße Melancholie, sanfte Trauer und schweifende Sehnsüchte. Da sind weiter alle Arten von Vorahnungen, das Gefühl einer unbestimmten, frohen Erwartung und das Fühlen der Fülle des Lebens. Da sind Unruhe, Ängste und Qualen des Herzens und eine reiche Mannigfaltigkeit anderer Empfindungen.

Für sie alle ist es charakteristisch, dass sie nicht formal intentional sind. Sie antworten nicht auf einen Gegenstand, sind kein zu ihm gesprochenes Wort. Dennoch haben sie eine innere Beziehung zu der objektiven Welt und sind meist mit intentionalen Erlebnissen verbunden, sind gleichsam ihr Resonanzboden. Sie haben eine geheimnisvolle, verborgene Verbindung mit dem Rhythmus des Alls und durch sie wird die menschliche Seele auf diesen Rhythmus gestimmt.

Sie sind legitime Bewohner des menschlichen Herzens. Sie sind sinnvoll und es wäre ungerecht, sie als etwas Unseriöses oder sogar Verächtliches und Lächerliches zu betrachten. Sie haben ihre gottgegebene Funktion, denn sie bilden einen unentbehrlichen Teil des menschlichen Lebens "in statu viae" (Pilgerstand), spiegeln das Auf und Nieder des Daseins, sind ein charakteristisches Merkmal der metaphysischen Situation des Menschen auf Erden. In ihnen stellt sich der Reichtum der menschlichen Existenz dar. In ihrer tiefen Sinnhaftigkeit geben sie dem Herzen eine verheißungsvolle Fülle. Diese Gefühle spielen nicht nur eine große Rolle in der Poesie; sie sind selbst etwas Poetisches, wenn sie nur echt und tief sind. Ihre unter der Oberfläche liegende, aber sinnerfüllte Verbindung mit einer Welt voll von Bedeutsamkeit und Werten - eine Verbindung, die sich der rationalen Formulierung bloßer Fakten entzieht - gibt diesem Reich einen der Dichtung verwandten Charakter.

Obgleich formal unintentional, gehören diese Gefühle gleichsam zu dem fürstlichen Gefolge und der Hofhaltung der wesenhaft intentionalen affektiven Antworten. Doch haben sie offensichtlich einen bescheideneren Rang als eindeutig intentionale, geistige Gefühle. Schon diese kurze Übersicht zeigt die ungeheure Skala grundverschiedener Erlebnistypen in der affektiven Sphäre. Wir sehen ihre Fülle, ihren inneren Reichtum, die große Rolle, die sie im menschlichen Leben spielen und vor allem den eindeutig geistigen Charakter der höheren Affektivität.

Das Herz - im weiteren Sinn des Wortes - ist das Zentrum dieser Sphäre und seine umfassende Bedeutung für die menschliche Person zeigt sich uns jetzt noch deutlicher. In der Konstituierung der Person als einer geheimnisvollen eigenen Welt haben die Affektivität und ihr Mittelpunkt, das Herz, eine einzigartige Stellung inne und sind unlösbar mit dem Selbst und dem innersten Daseinsvollzug der Person verwoben. Ihre bedeutungsvolle, spezifische Funktion lässt sich nur voll verstehen, wenn man den wesenhaft neuen Sinn von Individualität in der Person, verglichen mit der Individualität eines Tieres, einer Pflanze oder einer unbelebten Substanz betrachtet.

Doch müssen wir noch eine andere grundlegende Unterscheidung herausarbeiten. Abgesehen von den mannigfaltigen Schichten, abgesehen von den strukturellen Verschiedenheiten des jeweiligen ontologischen Ranges kann "Affektivität" noch unterschiedliche Bedeutungen haben. Im weiteren Sinn ist mit ihr die gesamte Sphäre von Gefühlen gemeint, mit der wir uns in unserer Übersicht beschäftigt haben. Im engeren Sinn bezeichnet sie nur einen bestimmten Typus, der ein spezifisches Ethos enthält. Der Herausarbeitung dieser Affektivität im engeren Sinn gilt das folgende Kapitel.

3. KAPITEL: DIE ZARTE AFFEKTIVITÄT

Nach dem ersten Weltkrieg entwickelte sich eine stark antiaffektive Richtung als Reaktion gegen das Ethos des neunzehnten Jahrhunderts. Sie trat besonders in der Architektur und in der Musik als "neue Sachlichkeit", "neue Objektivität" oder "Funktionalismus" hervor. Mit Recht wandte sie sich gegen die gekünstelte Architektur der Viktorianischen Zeit und des Jugendstils, nur glaubte sie unglücklicherweise, die wahre Antithese zu diesem überladenen "lautstarken" Stil sei in der Architektur eine öde, technische Ausarbeitung der praktischen Erfordernisse.

Der Funktionalismus drang mit seiner Opposition gegen den Geist des neunzehnten Jahrhunderts auch in die Musik ein. Hier brandmarkte er jedes affektive Element als "romantisch" oder sogar sentimental. Wir erinnern uns an den Ausspruch eines berühmten Germanisten, die Liebe sei in der Literatur, verglichen mit politischen Problemen, nur ein mehr oder weniger nebensächliches Thema.

Dieser antiaffektive Trend blieb nicht auf die Kunst beschränkt, er griff auch in den Bereich der Frömmigkeitsformen über. So gesund die Reaktion gegen eine sentimentale, subjektivistische Religiosität war - die sich zum Beispiel in vielen kitschigen Andachtsbildern und volkstümlichen religiösen Liedern ausdrückte - so suchte man die Lösung unglücklicherweise nicht in einer echten Affektivität, sondern in der Verbannung aller Gefühlselemente überhaupt (19). Jede Betonung der Liebe, des Ergriffenseins, der Sehnsucht wurde als kleinlicher Subjektivismus betrachtet, dem man sich im Geist gesunder Nüchternheit und Objektivität entgegenzustellen hatte.

Diese Richtung ist auch heute noch lebendig und zeigt sich in vielfacher Weise, zum Beispiel im Beschleunigen der Tempi in der Musik, in der Neigung, jedes legato so weit als möglich durch ein staccato zu ersetzen und von tiefer, herrlicher Affektivität erfüllte Musik wie die Beethovens oder Mozarts - unaffektiv, bloß "temperamentvoll" zu interpretieren. Dies alles sind Symptome eines noch anhaltenden Kampfes gegen die Affektivität im eigentlichen Sinne.

Bezeichnenderweise richtet sich diese Tendenz nur gegen eine bestimmte Form, die wir die "zarte Affektivität" nennen könnten. Die Verfechter des Funktionalismus und der nüchternen "Objektivität" scheuen keine affektive Dynamik oder temperamentsmäßige, "energiegeladene" Affektivität. Keineswegs verachten sie die Glut eines verzehrenden Ehrgeizes oder die Dynamik des Zorns und der Wut als "subjektiv" und "romantisch". Diesen dunklen, drängenden Typ energiestrotzender Affektivität lassen sie als etwas Elementares und Ursprüngliches gelten.

Die von der neuen Sachlichkeit und vom Funktionismus bekämpfte Affektivität hingegen hat einen spezifisch menschlichen und personalen Charakter. Dieser, die wir "zarte Affektivität" nannten, wird eine kühle Rationalität und ein utilitaristischer Pragmatismus entgegenstellt. Die Äußerung kraftvoller Vitalität, wie Lebhaftigkeit und starkes Temperament oder Leidenschaften wie Ehrgeiz und Wollust werden nicht nur geduldet; sie sind als legitimes Element des Lebens und der Kunst willkommen. Wir verurteilen durchaus nicht, dass diese Leidenschaften in der Kunst dargestellt werden. Sie haben immer eine große und berechtigte Rolle in ihr gespielt. Wir kritisieren nur, dass jene Verfechter der "neuen Sachlichkeit" die "zarte Affektivität" aus der Kunst ausschließen.

Niemandem würde es einfallen, Gefühle wie Ehrgeiz, Machtgier, Habsucht, Unzucht "sentimental" zu nennen. So schlimm sie vom sittlichen Standpunkt aus sind, so werden sie hier als etwas Großartiges, Kraftvolles, Männliches betrachtet, weil sie weit entfernt von jeder Sentimentalität sind. Man sieht in ihnen nur etwas ästhetisch Eindrucksvolles und keineswegs Lächerliches oder Beklagenswertes. Dasselbe gilt von allen sich in der vitalen Sphäre abspielenden affektiven Erlebnissen. Wie gesagt, niemand wird in dem Vergnügen, das man beim Schwimmen, Reiten oder Tanzen erlebt, Sentimentalität wittern.

Leute, die immer auf der Lauer nach Sentimentalität und Gefühlsbetontheit liegen, verdächtigen vor allem das eigentlichste Gebiet der Affektivität: die Stimme des Herzens. So berechtigt ihr Kampf gegen Sentimentalität ist, so lehnen sie unglücklicherweise die gesamte Sphäre der zarten Affektivität als bloß subjektiv, lächerlich und weichlich ab.

Die zarte Affektivität offenbart sich in allen Kategorien der Liebe (20): Kindes- und Elternliebe, Freundschaft, Geschwisterliebe, eheliche Liebe und Nächstenliebe. Sie entfaltet sich in der Ergriffenheit, Begeisterung, Dankbarkeit, in tiefem, echtem Schmerz, in Freudentränen und in Reue. Sie birgt die Fähigkeit zu edler Hingabe in sich, denn in sie ist das Herz einbezogen.

Shakespeares Richard III. oder Jago können die bloß dynamische, herzlose Affektivität vollziehen. Sie wissen nichts von der Affektivität im eigentlichen Sinne. In Josés Liebe zu Carmen - nach Bizets Oper - finden wir ungeachtet der Leidenschaft noch Elemente zarter Affektivität, aber in Carmen selbst nur jene herzlose, energiegeladene. Vergleichen wir das Ethos in den Arien des Don Ottavio mit Don Giovanni's "Treibt der Champagner", so zeigt sich in den ersten wiederum die zarte, eigentliche, in der letzten nichts als die herzlose, temperamentsmäßige Affektivität.

Die Unterscheidung zwischen diesen zwei Typen ist von großer Bedeutung, denn sie erweisen sich, insbesondere in ihrem Ethos, als so grundverschieden, dass die Äquivokation in dem beide umfassenden Begriff Affektivität offenbar wird.

Es handelt sich jedoch noch nicht um eine sittliche Unterscheidung, nicht einmal um eine Wertverschiedenheit, denn in beiden Gebieten gibt es legitime Haltungen, Entstellungen und Verirrungen. Die energiegeladene, vitale Affektivität verkörpert keinerlei Unwert. Die im Sport oder in überschäumender Vitalität erlebte Freude ist als solche offensichtlich etwas Gutes. Auch das Vergnügen in einer unterhaltenden Gesellschaft ist an sich etwas Positives. Dasselbe gilt von allen übrigen Arten vitaler Affektivität, außer von den Leidenschaften im eigentlichen Sinne. Auf der anderen Seite können sich im Bereich der zarten Affektivität Entartungen, wie Sentimentalität, einstellen, die der energieerfüllten Affektivität fremd sind. In diesen beiden eindeutig voneinander abzugrenzenden Gebieten gibt es noch große Rangunterschiede, obwohl gewiss nur die zarte Affektivität als solche die höheren Stufen erreicht.

Eine bestimmte Dimension von Gefühlen, in der das Herz thematisch wirkt, aktualisiert sich nur in der Affektivität im vollen Sinn. Diese ist in jeder Form von Liebe enthalten, wenn auch mit ungeheuren Unterschieden, je nach der Art des Liebenden und seiner Liebe. Einen Höhepunkt dieser Affektivität haben wir in Wagners einzigartigem Werk "Tristan und Isolde" vor uns. Wir finden sie, wenn auch mit ganz anderer Qualität, in höchster Ausprägung in Leonores Liebe zu Floristan, etwa im Duett "O namenlose Freude". Auch die Worte des Hohenliedes: "erfrischt mich mit Äpfeln, denn ich verschmachte vor Liebe" … sind ein echter Ausdruck dieser Liebe. Vergleichen wir sie etwa mit der nur vitalen Affektivität der Carmen in ihrem dafür so charakteristischen Lied "l'amour est enfant des bohêmes!" .

Je mehr der Liebende in seiner Liebe verweilen und ihre volle Tiefe erfahren möchte, je mehr er sich sammeln will und seine Liebe sich in ihrem tiefen, kontemplativen Rhythmus entfalten lässt, je mehr er sich nach der gegenseitigen Durchdringung seiner Seele und der Seele des geliebten Menschen sehnt, - eine Sehnsucht, die sich in den Worten "cor ad cor loquitur" (Herz spricht zu Herz) ausdrückt und sich darstellt in dem Ineinanderblick der Liebenden - um so mehr besitzt er die wahre Affektivität. Aber in dem Maße als seine Liebe nur einem dynamischen Charakter trägt und die volle kontemplative Entfaltung scheut, besitzt er nur die temperamenthafte, energieerfüllte Affektivität.

Manche Menschen sind nicht fähig, ihre Gefühle zu zeigen oder sind von ihnen verwirrt und verbergen sie hinter scheinbarer Gleichgültigkeit. Was sie verhüllen wollen, ist die zarte Affektivität. Sie versuchen nicht etwa, ihren Zorn oder Ärger, ihre Irritation oder ihre schlechte Laune zurückzuhalten und schämen sich nicht, Antipathie, Verachtung, Aufregung über ihre geschäftlichen Angelegenheiten oder Vergnügen über etwas Komisches zu zeigen, manchmal können sie ihrer Wut oder Irritation sogar in schamloser Weise Luft machen. Wir denken offenbar nicht an den Stoiker mit seinem ataraxia-Ideal, der jede Bekundung von Affektivität unterdrückt, sei sie zart oder energiegeladen. Wir haben vielmehr den wohlbekannten Typ im Auge, der sich schämt, seine innere Bewegung zuzugeben, seine Liebe auszusprechen oder seine Reue einzugestehen. Wenn auch einige Menschen nicht fähig sind oder sich scheuen, ihre Gefühle zu äußern, so verbergen manche sie aus ganz anderen und zwar den entgegengesetzten Gründen, die den antiaffektiven Typ bewegen. Es gehört nämlich zum Wesen der wahren Affektivität, dass bestimmte tiefe Gefühle in ihrem Geheimnischarakter erfasst werden. Die tiefen Gefühle werden verhüllt, weil man sie nicht entweihen will, weil sie einem zu nahe gehen. Ihr Wert, ihre Intimität und Tiefe verbieten es, sie vor Zuschauern auszubreiten. Im vorigen Fall hingegen schämte man sich, solche Gefühle zu haben und vertuschte sie, weil man sie als mehr oder weniger verwirrend empfand. Natürlich kann auch die zarte Affektivität eine große Dynamik entwickeln. Aber diese unterscheidet sich durch und durch von der bloß energetischen, denn sie erwächst aus innerer Fülle und Glut. Sie ist in jeder Phase eine Stimme des Herzens, verliert nie ihre innere Süßigkeit und Zartheit und entfaltet doch zugleich eine unwiderstehliche, strahlende Kraft. Wahre Glut finden wir nur hier. Verglichen mit der Dynamik echter Affektivität ist jedes nur energetische Gefühl ein Strohfeuer.

Gewiss kann diese höhere Affektivität entarten. Darum gibt es nur in ihr Sentimentalität und kleinliche, weiche Egozentrik. Für diese Verirrung ist die bloße Temperaments-Affektivität und auch die Sphäre der Leidenschaft unzugänglich. Aber die zarte Affektivität nur in der Beleuchtung möglicher Perversion zu sehen, ist nicht nur ein unverzeihlicher Irrtum, sondern auch Ausdruck eines bedenklichen antipersonalen Ethos. Hier erleben wir einen in der Menschheitsgeschichte häufigen Vorgang. Oft kämpft man nämlich gegen die Religion, die Kirche, den "Geist" angeblich, um gewisse Missbräuche zu beseitigen. Tatsächlich aber handelt es sich durchaus nicht um bloße Reaktionen gegen diese, sondern um eine schlimme Auflehnung gegen hohe Werte. Das trifft auch dann noch zu, wenn die Vorkämpfer in solchen Konflikten meinen, sie stritten ausschließlich gegen Missstände.

Die beschriebene Verdächtigung der gesamten zarten Affektivität ist in Wahrheit eine Äußerung jenes Antipersonalismus, dem alles Personale notwendig als "subjektiv" im pejorativen Sinne gilt. Für diese Antipersonalisten trägt schon der Begriff der Person den Stempel eines üblen Subjektivismus, der egozentrisch ist und abgeschnitten von allem "Objektiven und Gültigen". Sie meinen, je personaler, je bewusster und von personalem Ethos erfüllter, je affektiver etwas ist, um so enger und substanzloser wäre es. Gegen dieses Reich des Personalen führen sie Kräfte wie die Instinkte oder ökonomische und politische Belange ins Feld, weil sich diese auf breitere Gemeinschaften und nicht so sehr auf die individuelle Person beziehen.

Es wäre jedoch falsch zu meinen, der Widerstand gegen die zarte Affektivität beschränke sich nur auf den Funktionalismus oder wäre ausschließlich eine Reaktion gegen ein charakteristisches Ethos des 19. Jahrhunderts. Diese Mentalität taucht in Individuen aller geschichtlichen Epochen und in zahlreichen kulturellen Bereichen und Strömungen auf.

Der Antipersonalismus, der in dieser jeder Affektivität feindlichen Strömung enthalten ist, zeigt sich auch in einem Widerwillen gegen die "Bewusstheit". Wir denken hier weniger an die Anhänger des Idols biologischer Vitalität, die gegen die Bewusstheit kämpfen und die vitalen Triebe für "organischer" und echter halten als jeden bewussten geistigen Akt, wie Wollen, Denken oder affektive Antworten. Für diese Mentalität ist das Wort von Ludwig Klages "Der Geist ist der Widersacher des Lebens" charakteristisch. Wir meinen vielmehr jene, die behaupten, jede voll und ausgesprochen bewusst vollzogene und erlebte Freude und Liebe würde durch Reflexion und Unechtheit befleckt. Mit diesem Irrtum befassten wir uns bereits in einem früheren Werk: (Umgestaltung in Christus, 4. Kap.: Die wahre Bewusstheit).

Wahre Bewusstheit schließt nicht die geringste Introversion ein, sondern ist ein erfüllteres, wacheres Erleben. Je bewusster eine Freude ist, je mehr ihr Gegenstand in seinem vollen Sinn gesehen und verstanden wird, je wacher und ausdrücklicher die Antwort erfolgt, um so mehr wird die Freude erlebt. Die zarte Affektivität verlangt in besonderer Weise nach dieser wahren Bewusstheit, die nur dynamische hingegen nicht.

Das antipersonale Gift in den anti-affektiven Strömungen verrät sich auch in der Auflehnung gegen das "Sich.selbst-Besitzen", gegen das "erwachte" Sein, gegen die "Subjektivität" im Sinne Kierkegaards. Denn je unbewusster eine Antwort ist, um so weniger entfaltet sich ihr wahrer affektiver Charakter, um so weniger wird sie "affektiv" erlebt.

Es ist einer der wichtigsten Punkte in der Herausarbeitung der Stellung des Herzens und der zarten Affektivität, den Irrtum aufzulösen, als seien sie nur "subjektiv" und als bestünde ein Gegensatz zwischen "Objektivität" und "Affektivität".

Wie wir schon in mehreren Werken zeigten, bedeutet echte Objektivität, dass eine Haltung sich dem wahren Wesen, Thema und Wert ihres Gegenstandes angleicht. Dann ist Objektivität gleichbedeutend mit Adäquatheit, Gültigkeit und Wahrheit. So ist ein Erkenntnisakt objektiv, wenn er die wirkliche Natur des Gegenstandes erfasst. Wiederum ist ein Urteil objektiv, wenn es von der zur Frage stehenden Materie oder Thematik bestimmt ist und nicht von einer Voreingenommenheit. Eine affektive Antwort ist objektiv, wenn sie dem Wert des Gegenstandes entspricht. Der wahrhaft affektive Mensch ist ganz von dem Gut erfüllt, das die Quelle und Grundlage seines affektiven Erlebens ist. In seiner Liebe blickt er auf den Geliebten, in seinem Glück richten sich seine Gedanken auf die Ursache seines Glücklichseins ; in seiner Begeisterung steht der Wert des Gutes, über das er begeistert ist, im Brennpunkt. Die echte affektive Antwort setzt voraus, dass man von ihrer objektiven Gültigkeit überzeugt ist. Ein nicht durch die Wirklichkeit gerechtfertigtes affektives Erlebnis ist für den wahrhaft affektiven Menschen ungültig. Sobald er entdeckt, dass seine Freude, seine Begeisterung, sein Glück oder sein Kummer auf einer Illusion beruhte, bricht dies Erlebnis zusammen. Es ist nicht entscheidend, ob wir Glück fühlen, sondern ob wir den objektiven Umständen nach Grund haben, glücklich zu sein. Der wahrhaft Affektive, der Mensch mit wachem Herzen, ist gerade der, der versteht, dass es auf die objektive Lage ankommt, darauf, ob Ursache besteht, sich zu freuen, glücklich zu sein. Die großen, überströmenden affektiven Erlebnisse werden geboren aus dem Ernstnehmen der Situation, aus dem Erfülltsein von der Frage, ob diese Stunde eine Antwort der Freude, des Glückes oder des Schmerzes verlangt.

Dagegen ist der Subjektivist im negativen Sinn nur mit seinen eigenen Gefühlen und Reaktionen beschäftigt. Die objektive Situation, die eine Antwort erheischt, lässt ihn gleichgültig. Offenbar ist ein solcher Mensch niemals einer großen, ursprünglichen, tiefen Affektivität fähig.

Während es also tatsächlich einen Subjektivismus im negativen Sinn gibt, bleibt es gleichwohl wahr, dass wir voll affektiv antworten sollen, wie es den Gegebenheiten gebührt. Die Fähigkeit hierzu ist eine Gabe, die wir überdies als Beseligung empfinden; etwa das volle Verkosten von Glück oder Liebe. Das subjektive affektive Erlebnis ist also ein legitimes Thema, nur kann man es niemals von dem Objekt, das sein eigentlicher Seinssinn ist, ablösen, ohne seinen wahren Charakter zu zerstören.

Es gehört zum Wesenskern der affektiven Erlebnisse, dass jedes von ihnen bei voller eigener Thematik von dem Bewusstsein durchdrungen ist, objektiv gültig und berechtigt zu sein. Daher ist es ein tiefgehender Irrtum, den geistigen affektiven Bereich in subjektivistischer Beleuchtung zu sehen oder zu meinen, der kühle "vernünftige" oder der nur energiegeladene Typ, in dem das Herz eine geringe Rolle spielt, sei objektiver. Im Gegenteil, der affektive "Krüppel" ist ebenso wie der Mensch ohne jegliche echte Affektivität letzten Endes nie wirklich objektiv. Denn immer dann, wenn es in einer Situation um Werte geht, die ein affektives Eingehen auf sie verlangen, versagt sein Herz die ihnen gebührende Antwort.

Es wird hohe Zeit, uns von jeder Gleichsetzung von Objektivität und Neutralität freizumachen, da es eine Illusion ist, zu meinen, Objektivität beinhalte eine ausschließlich beobachtende, forschende Einstellung. Nein, wirklich objektiv ist nur die Haltung, die dem Gegenstand, seinem Sinn, seiner Aura, voll gerecht wird. Es ist im höchsten Maß unobjektiv, neutral und unbeteiligt zu bleiben, sobald ein Gegenstand und sein Wert eine affektive Antwort oder ein Eingreifen unseres Willens erfordern. Daher ist jede anti-affektive Tendenz in Wirklichkeit barer Subjektivismus, denn sie gleicht sich nicht dem Sinn und den wirklichen Konturen des Kosmos an, nicht der Schönheit und Tiefe der geschaffenen Welt, nicht ihren natürlichen Geheimnissen. Über allem aber ist es subjektivistisch, auf die Existenz Gottes, der die unendliche Heiligkeit, die unendliche Schönheit, die unendliche Güte ist, nicht gebührend zu antworten.

Wir müssen hier hervorheben, dass die wahre Natur des Kosmos die zarte und nicht die vitale Affektivität erheischt. Denn Leidenschaften im oben umschriebenen Sinn sind immer subjektiv. Für alle anderen Triebe und Gefühle in der Temperamentsschicht, zum Beispiel sportliches Vergnügen, stellt sich die Frage der Objektivität erst gar nicht. Der Kosmos verlangt nach der zarten Affektivität wahrer Liebe, nach Tränen der Freude und Dankbarkeit, nach Leiden, Hoffnung und Ergriffenheit, mit einem Wort: nach der Stimme des Herzens.

Die Unterscheidung zwischen den beiden Typen der Affektivität ermöglicht uns, die tiefere Natur des Herzens als Mittelpunkt und Organ der zarten Affektivität zu "entdecken". Ihre nähere Untersuchung hat uns gezeigt, dass der Begriff des Herzens als Zentrum und Organ der gesamten Affektivität, wie wir ihn im zweiten Kapitel fassten, noch zu weit war. Wir müssen ihn durch den engeren und genaueren ersetzen, der das Herz nur als Mittelpunkt der zarten Affektivität umschreibt.

4. KAPITEL: HYPERTROPHIE DES HERZENS

Oft hören wir in Predigten, es komme nicht darauf an, was wir fühlen. Wenn von Reue oder von der Liebe zu Gott und dem Nächsten die Rede ist, so heißt es: "Man braucht Reue und Liebe nicht zu fühlen, denn beide sind in Wirklichkeit Willensakte". In diesem Zusammenhang wird sogar von dem Herz und seiner Stimme und von allen affektiven Antworten so gesprochen, als seien sie unwichtig und minderwertig. Es wurde geradezu üblich, zu erklären: "Gefühle sind Nebensache. Liebe und Reue soll man nicht sentimental auffassen". So werden die Gefühle und das Herz als "sentimental" eingestuft und damit von dem ernstzunehmenden, bedeutungsvollen Teil der menschlichen Seele ausgeschlossen.

Diese Einstellung ist psychologisch verständlich, denn affektive Antworten lassen sich nicht, wie Willensakte, frei erzeugen. Es ist für die affektive Sphäre charakteristisch, dass sie im Gegensatz zum Willensbereich unserem freien, spirituellen Zentrum nicht direkt zugänglich ist. Freude und Schmerz können wir weder frei hervorbringen wie eine Willensantwort oder ein Versprechen, noch lassen sie sich befehlen wie eine Bewegung unserer Arme. Wir vermögen sie nur indirekt zu beeinflussen, indem wir in unserer Seele den Boden für sie bereiten. Auch können wir die spontan in uns entstandenen affektiven Antworten sanktionieren oder desavouieren. (VergI.: Christliche Ethik, 25. Kap.).

Da der Mensch sittlich verpflichtet ist, Gott und seinen Nächsten zu lieben und seine Sünden zu bereuen, ist der Prediger und der Seelenführer versucht, die affektiven Antworten für bedeutungslos zu erklären und durch einen Willensakt zu ersetzen. Aber dies geschieht aus pädagogischen Gründen. Zunächst möchte man verständlicherweise das Gewissen eines Beichtenden besänftigen und beschwichtigen, der sich beunruhigt, weil er keine Reue und keine Nächstenliebe "fühlt". Sein Gewissen findet Frieden, wenn man ihm versichert, er brauche nur einen Willensakt zu setzen, seine Sünden zu verurteilen, sich von ihnen abwenden und sich zu entschließen, nicht mehr zu sündigen. Dann könne er das Bußsakrament empfangen, auch wenn er keinen Schmerz "fühle".

Zweitens muss man einen Beichtenden vor der Illusion bewahren, er sei wahrhaft zerknirscht, wenn er nach dem Sündigen nur Schmerz empfinde, ohne den festen Vorsatz zu fassen, in Zukunft nicht mehr zu sündigen. Wir haben schon die "unechten" Typen der Reue und vieler anderer affektiver Antworten erwähnt. Der legitime Wunsch, die Gläubigen vor dem Sturz in den Abrund der falschen Reue oder Nächstenliebe zu behüten, macht die Betonung des Willens und die Entwertung des Herzens verständlich.

Doch selbst wenn die affektiven Antworten echt scheinen, kann der Seelenführer noch nicht beruhigt sein, so lange sie nicht erprobt wurden. Wenn jemand Mitleid mit seinem leidenden Nächsten fühlt, aber versäumt, ihm durch Almosen oder auf andere Weise zu helfen, falls die Situation es erfordert, so betrachten wir sein Mitleid als unaufrichtig oder zumindest als nicht tief und ernst genug. Tatsächlich ist es nicht notwendig unaufrichtig, aber ihm fehlt gewiss die volle Tiefe und der ganze Ernst, solange es sich nicht in Taten erweist, wenn die Situation es verlangt. Ist dies Mitleid ehrlich, so ist es nichtsdestoweniger ungenügend. Um davor zu schützen, betont der Seelenführer den Willen und die Tat vielleicht so sehr, dass er schließlich die Bedeutung und den Wert des Mitleids als "gefühlter" Wertanwort abzustreiten scheint.

So verständlich diese Sorge ist, sie ändert nichts daran, dass das Mitleid gefühlt werden sollte, denn dieser Akt des Mitfühlens hat etwas zu geben, was kein Tun ersetzen kann.

Wenn jemand, vom kantischen Pflichtideal angespornt, leidenden Menschen auf jede Weise wirksam hülfe, aber mit kühlem, gleichgültigem Herzen und ohne das geringste Mitleid zu empfinden, so würde ihm gewiss ein wichtiger sittlicher und menschlicher Zug fehlen. Wahrscheinlich kann sogar das Geschenk des aufrichtigen Mitgefühls und der Wärme der Liebe für den Leidenden durch keinerlei liebeleer erwiesene Wohltaten ersetzt werden. Sicherlich muss diese mitleidige Liebe so echt und so tief in der Person verwurzelt sein, dass sie die volle Potenz zu allen Hilfeleistungen enthält. Aber, wie leicht zu sehen, ist es grundfalsch, das gefühlte Mitleid und die Liebe zu entwerten und durch Willensakte oder Handlungen zu ersetzen, nur weil Mitleid oder Liebe manchmal unecht oder zumindest ungenügend sind. Gewiss sind Wille und Handlungen in allen Situationen, in denen es um ein Tun geht, ein Prüfstein für die Tiefe und Ehrlichkeit jener affektiven Antworten. Aber das heißt nicht, eine ursprüngliche und aufrichtige affektive Antwort sei wertlos. Weit davon entfernt! Denn sie gibt etwas und hat einen Wert, der nie durch Taten ersetzt werden kann, die nicht aus einer solchen affektiven Antwort fließen.

Es wäre ebenso falsch, den Willen und das Tun zu unterschätzen, weil sie ohne den Beitrag des Herzens unvollkommen sind, als die affektiven Antworten zu missachten, nur weil sie ihrerseits unvollständig sind, wenn ihnen die Potenz fehlt, sich in Taten auszudrücken.

Der Verdacht gegen die Affektivität, die leisen Warnungen vor dem Herzen aus pädagogischen Gründen lassen sich noch auf eine andere Quelle zurückführen: das Herz usurpiert nämlich oft die Funktionen der Vernunft oder des Willens. In Wahrheit sollten die drei zusammenwirken, aber sie müssten die spezifische Aufgabe und Domäne der anderen anerkennen und respektieren. Vernunft und Wille sollten nicht zu ersetzen versuchen, was nur das Herz geben kann, noch sollte sich das Herz die Rolle des Intellektes und des Willens anmaßen. Sobald das Herz seinen eigenen Bereich überschreitet und Funktionen an sich reißt, die auszuüben es nie bestimmt war, diskreditiert es die Affektivität als solche und ruft ein allgemeines Misstrauen gegen sich selbst, auch in seinem eigensten Gebiet, hervor. Würde zum Beispiel jemand, der eine bestimmte Tatsache festzustellen wünscht, nicht seine Vernunft befragen, sondern statt dessen behaupten, sein Herz sage ihm, wie sich die Sache verhält, so würde er allen Arten von Illusionen Tür und Tor öffnen. Er hat sein Herz zu einem Dienst gezwungen, den es nie wirksam leisten kann, und zugelassen, dass seine ungeeignete Betätigung den Intellekt zurückdrängte.

Oder denken wir an einen Menschen, der wissen möchte, ob etwas sittlich bedenklich ist. Wenn er seine Vernunft nicht zu Rate zieht, sondern sich vollständig auf sein Herz verlässt, "fühlt er sich" unter Umständen "schuldig" (falls er skrupulant ist), wo tatsächlich keine Schuld vorliegt, oder er hält sich für rein und schuldlos, obwohl er wirklich Unrecht tut. Anstatt seine Vernunft entscheiden zu lassen, stützt er sich nur auf sein sich "schuldig" - oder "unschuldig Fühlen". Er nimmt dies affektive Erlebnis als eindeutiges Kriterium für eine objektive Tatsache, eine Annahme, die zweifellos falsch ist.

Hiermit wollen wir keineswegs dem tiefen Wort Pascals widersprechen: "das Herz hat seine Einsichten, die die Vernunft nicht kennt". Pascal meint hier mit "Herz" eine besondere Form von intuitiver Erkenntnis, die er dem streng logischen Verstandesdenken entgegenstellt. Es gibt Fälle, in denen wir etwa sagen: "Wir fühlen, dies ist nicht recht", obwohl wir nicht imstande sind, es mit logischen Argumenten zu beweisen. Wir empfinden zum Beispiel die Taktlosigkeit einer Bemerkung, ohne dass wir das Für und Wider zu begründen vermöchten.

Wenn wir sagten, das Herz solle sich nicht die Funktion des Intellektes anmaßen, haben wir dabei offensichtlich einen anderen Begriff von Herz und völlig verschiedene Fälle vor Augen.

Einmal erlebte ich einen klassischen Fall solchen illegitimen Sich-Verlassens auf das Gefühl. Ich war zusammen mit einem russischen Kovertiten in Rom.

Als ich ihn fragte, ob er am Sonntag in der hl. Messe war, antwortete er: "Nein, ich tat etwas noch Besseres: ich besuchte die alte Basilika Santa Costanza. Als ich in diese Kirche eintrat, die wie ein Gral aussieht, fühlte ich mich sofort gänzlich gereinigt." Für ihn zählten weder die unaussprechliche Verherrlichung Gottes durch das Opfer Christi, noch die Gnaden, die wir bei der Mitfeier der hl. Messe empfangen, noch das Kirchengebot, Sonntags die hl. Messe zu besuchen. Ein "frommes Gefühl" des "Gereinigtwerdens" hielt er für wichtiger als diese drei objektiven Wirklichkeiten.

Es gibt noch eine andere Art, Illusionen zum Opfer zu fallen: die Begeisterung über eine Tugend mit ihrem Besitz zu verwechseln. Jemand ist zum Beispiel glühend und aufrichtig von der Tugend des Gehorsams oder der Demut begeistert und meint deshalb, er selbst sei demütig und gehorsam. Er nimmt als selbstverständlich an, seine Begeisterung für den Gehorsam sei eine Garantie, dass er ihn üben könne. Diese Art von Illusion unterscheidet sich von der oben erwähnten primitiveren, die hauptsächlich aus einem zweifelhaften affektiven Erlebnis stammte. Denn wenn jemand sein "Gefühl des Gereinigtseins" mit einer wirklichen Reinigung verwechselt, ist die Echtheit seines Fühlens schon fragwürdig. Hier hingegen kann die Begeisterung echt und als solche eine Vorstufe sein, die zum wirklichen Gehorsam führen mag. Ja, sie ist die Grundlage, diese Tugend zu erlangen. Die Illusion besteht jedoch darin, die Intensität der Begeisterung für ein Zeichen des Besitzes der betreffenden Tugend zu halten. Weil die geistige Sobrietät fehlt, versäumt man, zwei nicht identische Schichten der personalen Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden: die Begeisterung über eine Haltung oder Tugend und das wirkliche Haben dieser Tugend. Zugegeben: die Begeisterung ist eine volle, gültige Realität, die ihre eigene Berechtigung hat. Sobald man sie jedoch mit echtem Besitz der Tugend verwechselt, fällt man einer gefährlichen Illusion zum Opfer. Diese ist letzten Endes ein Fehler der Vernunft, aber das Herz ist insofern hineingezogen, als der Intellekt sich fälschlich in Dingen, die ihn angehen, zurückhält und dem Fühlen gestattet, den tatsächlichen Vorgang zu verdecken. Darum würde ein von dieser Illusion geblendeter Mensch jemandem, der bezweifelt, dass er gehorchen könne, etwa sagen: "Nein, nein, ich bin sicher, dass ich einem Vorgesetzten ohne Schwierigkeiten gehorchen kann, denn ich fühle deutlich, ich bin gehorsam."

Wiederholen wir, dass die Möglichkeit solcher Illusionen keineswegs die Begeisterung oder irgendeine andere affektive Antwort in Verruf bringt, ebenso wenig als der Wille entwertet wird, weil man das Begeistertsein-Wollen manchmal mit wirklicher Begeisterung verwechselt. Eine gewisse Analogie hierzu ist die allgemeine Neigung der menschlichen Natur zu der Illusion, etwas einmal überzeugend in unserer Seele Erlebtes könne sich nicht ändern und hielte allen Prüfungen stand. Aber diese Illusion bleibt nicht auf die affektive Sphäre beschränkt, sondern ist eine allgemeine Gefahr, die überall eintreten kann. Doch ihr Auftauchen schließt nicht den geringsten Makel von Unechtheit in dem Erlebnis selbst ein.

Jemand fasst einen freien, festen Entschluss und ist überzeugt, dass nichts ihn wankend machen könne. Doch bald danach hebt er ihn wieder auf, aus Furcht oder unter dem Druck anderer Personen. Ein anderer behauptet, er habe einen so starken Glauben, dass nichts ihn zu erschüttern vermöge, und doch kann er in der Stunde der Versuchung seinen Glauben verlieren. So schwört auch der Liebende, seine Liebe werde nie nachlassen; mit der Zeit aber wird sie schwächer und schwindet dahin. Dieser unbegreifliche Abgrund zwischen dem so tief Erlebten, so aufrichtig Gemeinten und dem tatsächlichen Verlauf des Lebens ist die menschliche Tragödie, die Tragödie der versagenden Beharrlichkeit: obwohl die Dinge sich unserem Geist so überzeugend darstellen, haben sie so oft keine Dauer. Es ist die Tragödie des hl. Petrus, der Christus gesagt hatte: "Wenn ich mit Dir sterben müsste, so werde ich Dich doch nicht verleugnen!" (Mk 14,31). Die affektive Sphäre für diese allgemeine Schwäche der menschlichen Natur verantwortlich zu machen, wäre sicherlich ungerecht.

Es gehört geradezu zum Wesen und Sinn all dieser Erlebnisse, dass man voll und ganz überzeugt ist, nichts könne sie ändern. Ein Mensch, dessen Glaube, Wille oder Liebe sich ihm nicht als unerschütterlich darstellen, würde nicht wirklich glauben, wollen oder lieben. Das echte Erlebnis dieser Haltungen enthält notwendig auch das Bewusstsein, nichts könne sie zerstören. Ein Liebender, der sagte: "lch liebe dich jetzt, aber ich wage nicht, zu behaupten, wie lange dies dauern wird", liebt nicht wahrhaft. Es gehört zu dem "Wort" des Glaubens, zu dem Wort eines ernsten, feierlichen Entschlusses, zu dem Wesenswort der Liebe, zu sprechen: "Nichts kann sie ändern oder erschüttern."

Und so ist der wahre Christ, obwohl diese Überzeugung des Dauerns ein notwendiges Element des Glaubens, der feierlichen Entscheidung und der Liebe ist, sich gleichzeitig seiner Schwachheit und Gebrechlichkeit, seiner Unbeständigkeit, seiner fehlenden Beharrlichkeit bewusst. Er weiß, er kann nur mit Gottes Hilfe erfüllen, was das innere Wort seines Erlebnisses verspricht: "Ich glaube, hilf meinem Unglauben". (Mk 9,24). Die Worte des Offiziums zu Beginn jeder Hore: "O Gott, komm mir zu Hilfe", sind ständig auf seinen Lippen.

Diese beiden Fälle mögen genügen, um uns die Unordnung zu zeigen, die aus einer Hypertrophie des Herzens, d. h. aus dem übermäßigen Gebrauch, vielmehr Missbrauch der Affektivität folgen kann. Diese Unordnung entsteht, weil das Herz, anstatt mit der Vernunft und dem Willen zusammenzuarbeiten, entweder versucht, die Tätigkeit der Vernunft zu ersetzen, die nur diese richtig ausüben kann oder dem Willen sein spezifisches Wirkungsfeld vorenthält. Diese Hypertrophie des Herzens sollte jedoch unter keinen Umständen mit einer zu intensiven Affektivität gleichgesetzt werden. Nicht der Grad des Gefühls, sondern die Ungeordnetheit unserer Seele ist für diese Verirrungen verantwortlich. Die Affektivität kann nie intensiv genug sein, solange Herz, Wille und Vernunft gottgewollt zusammenwirken. In einem Menschen, in dem das liebende, wertantwortende Zentrum Hochmut und Begehrlichkeit besiegt hat, kann die Affektivität gar nicht zu groß sein. Je stärker und tiefer die Gefühlspotenz eines Menschen, um so besser. Kein Ausmaß der Liebe könnte je von Übel sein, so wenig wie große Willenskraft oder Geistesstärke ein Übel sind.

Eine tiefe Liebespotenz ist, weit entfernt etwas Schlechtes zu sein, vielmehr kostbar und herrlich. Andererseits kann sie sich nur glücklich und vollständig entfalten, wenn es in Christus und durch Christus geschieht. Aber die Notwendigkeit, umgestaltet zu werden, ist keine Eigentümlichkeit der Affektivität als solcher. Auch Vernunft und Wille müssen "getauft" werden, sonst bieten sie einen spezifischen Anstoß zur Versklavung des Menschen durch den Hochmut. Hat also die Hypertrophie des Herzens ihre Gefahren, so erleiden auch die Hypertrophie der Vernunft und des Willens ein entsprechendes Schicksal. Für alle drei Seelenkräfte ist ihr sinnvolles Zusammenwirken von höchster Wichtigkeit.

5. KAPITEL: AFFEKTIVE ATROPHIE

Der fundamentale Sinn und Wert der Affektivität tritt besonders lebendig hervor, wenn wir die Gefahr der affektiven Atrophie bedenken. Es gibt verschiedene Arten von Menschen, deren Gefühlsleben verstümmelt oder unterdrückt ist. Bei einem Typ ist dies auf eine Hypertrophie des Intellektes zurückzuführen. Wir denken an Menschen, die im Bann eines Wissensdrangs stehen, die aus jedem Erlebnis und jeder Situation ein Objekt thematischer Erkenntnis machen. Sie sind unfähig, die Einstellung intellektueller Analyse fallen zu lassen, und sind daher außerstande, von etwas affiziert zu werden oder irgend eine affektive Antwort der Freude, des Schmerzes, der Liebe oder Begeisterung zu geben. In diesen Menschen herrscht die Neugier des Beobachtens so sehr vor, dass alles, was ihnen begegnet sofort zum Erkenntnisgegenstand wird. Sie bleiben stets irgendwie Zuschauer. Sehen sie etwa bei einem Unfall einen Schwerverletzten, so ist ihr Hauptthema, seinen Ausdruck und sein Verhalten zu studieren, anstatt Mitleid mit ihm zu haben und zu versuchen, ihm zu helfen. Sie sind ganz von einer beobachtenden Haltung in Anspruch genommen und das Ereignis ist für sie weitgehend eine neue, interessante Gelegenheit, ihre Kenntnisse zu bereichern.

In dem Maß als diese Haltung vorherrscht und das Leben eines Menschen durchdringt, wird sein Herz zum Schweigen gebracht. Ein solcher "Intellektualist", der aus allem ein Thema für neugierige, unverbindliche Beobachtung macht, erfährt die Affektivität mehr oder weniger ausschließlich in der Befriedigung seiner intellektuellen Neugier; in der Tat eine dürftige Affektivität! und während ein solcher Mensch den Leidenschaften des Hochmutes oder des Ehrgeizes zum Opfer fallen kann, ist er gänzlich bar jeder "zarten" Affektivität. Wer von dieser intellektuellen Hypertrophie befallen ist, gleitet in eine Haltung ab, in der jedes vor ihm stehende Objekt sofort zum Thema wissenschaftlicher oder dilettantischer Untersuchung wird. Er ist außerstande, zu verstehen, dass der Gegenstand in vielen Situationen eine affektive Antwort oder ein aktives Eingreifen erheischt.

Wie deutlich zu sehen, ist diese Haltung nicht nur für die affektive Sphäre verhängnisvoll, sondern schädigt auch den Handlungsbereich. Ferner ist selbst die Erkenntnisschicht durch sie weitgehend verkrüppelt. Denn die Hypertrophie des Erkennens hindert diese Menschen fortgesetzt daran, ein ursprüngliches Interesse am Gegenstand zu nehmen. Für sie ist statt des Gegenstandes selbst nur der Vorgang des Untersuchens und Forschens thematisch. Es geht ihnen im Grunde allein darum, ihre Neugier zu befriedigen und ihr Wissen zu erweitern. Nun wird aber die Erkenntnis aller werttragenden Güter vereitelt, sobald nicht mehr das Objekt, sondern seine Erkenntnis Thema ist. In besonderer Weise wird jede wahre Kontemplation, die ja eine unbeschränkte Thematik des Gegenstandes voraussetzt, im Keim erstickt. (Vergl. dazu: What is Philosophie a. a. O. und: Der Sinn des philosophischen Fragens und Erkennens, Haustein Bonn 1950).

Wir sehen schon jetzt, welche unselige Neutralisierung und Verstümmelung der Persönlichkeit diese affektive Atrophie zur Folge hat. Menschen, die weder lieben, noch sich wirklich freuen können, die keine Tränen haben für Dinge, die zum Weinen sind, die keine echte Sehnsucht kennen, deren Erkenntnis sogar jeder Tiefe, jedes wahren Sachkontaktes entbehrt, solche Menschen leben nicht wirklich. Ihnen ist der Zugang zu jeder Kontemplation, zu allen Geheimnissen des Kosmos versperrt; sie sind vom wahren Leben abgeschnitten.

Ein zweiter Typ verkrüppelter Affektivität ist der Mensch, der eine Hypertrophie der pragmatischen Tüchtigkeit entwickelt hat. In seiner utilitaristischen Grundeinstellung hält er alle affektiven Erlebnisse für überflüssig und zeitverschwendend. Er verachtet jegliches tiefe Mitgefühl und erklärt "Mitleid hilft niemanden - entweder tu etwas, oder, wenn man nichts machen kann, verliere deine Zeit nicht mit Gefühlen". Für ihn ist nur das Nützliche anziehend. Jede zarte Affektivität ist in ihm erstickt, er kennt nur die energiegeladene, wie Ehrgeiz und Zorn. Kontemplation erscheint ihm als Höhepunkt des Unnützen, als vollendete Zeitvergeudung.

Eine weitere Form geschädigter Affektivität auf Grund einer utilitaristischen Mentalität ist der "metaphysische Bürokrat" (vergl. Wahre Sittlichkeit und Situationsethik). Für diesen fossilen "Beamten-typ" zählen nur die juristischen Realitäten. Seine Gefühle beschränken sich auf die Befriedigung, die er empfindet, wenn er alles bis auf den Buchstaben nach rechtlichen Vorschriften ausgeführt hat.

Die Ödigkeit und Plattheit dieser utilitaristischen Gefühls-Eunuchen brauchen wir wohl nicht weiter zu beschreiben. Was fangen diese Menschen mit der Trauer Davids über den Tod Absalons an? Welchen Sinn haben für sie die Worte des Psalmisten "An den Wassern Babylons saßen wir und weinten, da wir Sions gedachten" (Ps 137,1). Um die Schrecklichkeit dieser affektiven Atrophie zu begreifen, brauchen wir nur die Atmosphäre, in der sich diese seelisch verkrüppelten Menschen bewegen, mit der Welt zu vergleichen, die uns umgibt, wenn wir den Bericht des Edelmannes an Kent über die Tränen der Cordelia im "König Lear" lesen:

Geduld und Kummer stritten,
wer ihr den stärksten Ausdruck lieh. Ihr saht
Regen :zugleich und Sonnenschein: ihr Lächeln
und ihre Tränen war wie Frühlingstag ...
Der Gram würd' als ein Schatz gesucht, wenn jeden

Er also schmückte. (4. Akt, 4. Szene)

oder die Worte des sterbenden Enobarbus in: Antonius und Cleopatra:

"Wirf mein Herz wider den harten Marmor meiner Schuld!
Gedörrt von Gram zerfall' es dann in Staub,
mit ihm der böse Sinn! 0 Marc Antonius,
Erhabner, als mein Abfall schändlich ist
Vergib Du mir in Deinem eignen Selbst."
(4. Akt, 9. Szene)

Oder Gretchens Gebet:

"Ach neige Du Schmerzensreiche."

Wir brauchen uns nur in irgend eine Seite der Bekenntnisse des hl. Augustinus zu vertiefen oder die Klagelieder des Jeremias in den Trauermetten der Karwoche und vor allem die Worte unseres Herrn zu hören, und sie mit der Atmosphäre zu vergleichen, in der der utilitaristische Krüppel lebt, um zu verstehen, dass auch für ihn im übertragenen Sinn die Worte des Psalmisten gelten: "Sie haben Ohren und hören nicht, sie haben eine Nase und riechen nicht. Mit ihren Händen greifen sie nicht. Mit ihren Füßen gehen sie nicht. Sie bringen keinen Laut aus der Kehle." (Ps 115, 6-7)

Ein dritter Typ affektiver Atrophie ist auf eine Überentwicklung des Willens zurückzuführen. Hier ist die affektive Sphäre meistens mit voller Absicht im Zwergmaß gehalten. Diesen Typ finden wir in den Menschen, die das sittliche Ideal Kants verkörpern: sie misstrauen jeder affektiven Antwort, weil sie die Integrität ihres sittlichen Standes beeinträchtigen könnte oder halten sie zumindest für überflüssig. Der Wille weist bewusst jede Affektivität ab und bringt das Herz zum Schweigen. Das gleiche tut der Stoiker, der nach apatheia - Gleichmut - strebt und in der Unterdrückung aller Gefühle ein Endziel des Weisen sieht. Diese Einstellung kommt auch bei Menschen vor, die ihr Herz verschließen - gleichsam versiegeln -, weil sie vor der Affektivität Angst haben. Auf Grund eines missverstandenen religiösen Ideals betrachten sie alle Gefühle mehr oder weniger als Leidenschaften oder sie fürchten das in jeder Affektivität liegende Wagnis und jedes "Hingerissensein". So ersticken sie die Stimme ihres Herzens und halten ein Scherbengericht über es. Obwohl diese ängstliche, auf einen falschen religiösen Ideale beruhende Unterdrückung des Herzens zweifellos eine schwere Selbstverstümmelung ist, kommt sie unglücklicherweise nicht selten bei frommen Menschen mit den besten Absichten vor.

Haben wir die Schrecklichkeit affektiver Impotenz verstanden und uns die volle Bedeutung der Affektivität und ihres Mittelpunktes, des Herzens bewusst gemacht, dann sehen wir, dass der innere Reichtum und die Fülle eines Menschen weitgehend von seiner Gefühlspotenz und vor allem von der Qualität seines affektiven Lebens abhängt. In "Liturgie und Persönlichkeit" haben wir die ungeheure Bedeutung der Werterkenntnis für die Größe und Fruchtbarkeit einer Persönlichkeit betont. Diesen Faktor kann man gewiss nicht hoch genug einschätzen. Die Welt, in der ein Mensch lebt, wird durch die Höhe, Tiefe und Differenziertheit seines Werterfassens bestimmt. Wir müssen zuerst die Größe und Herrlichkeit des Kosmos sehen, seine Geheimnisse ebenso wie seine tragischen Züge, seinen Charakter als Tal der Tränen. Werterkenntnis ist die unerlässliche Voraussetzung für die Durchdringung der Seele mit dem Licht der Werte und für die Befruchtung des Geistes. Wenn wir hier die Stellung des Herzens hervorheben, bestreiten wir die grundlegende Funktion der Erkenntnis, zu der das Werterfassen als kognitiver Akt gehört, in keiner Weise. Aber dieses setzt bereits ein großes und tiefes Herz voraus. Der Mensch soll als Person an der Fülle und Glorie der Welt über ihm teilhaben, zu der ihm das Werterfassen die Tore öffnet. Dafür aber ist es unerlässlich, dass er von ihnen "affiziert" werde und affektive Antworten gebe. Eine Person kann den ganzen geistigen Reichtum und die Tiefe, zu der sie gerufen ist, nur dann wachsend entfalten, wenn sie von den Werten, die sie aufnimmt, durchtränkt ist, wenn ihr Herz von ihnen ergriffen und entzündet wird und in Antworten der Freude, Begeisterung und Liebe entbrennt.

In dieser affektiven Schicht, im Herzen sind die Schätze des persönlichsten Lebens des Menschen aufbewahrt. Im Herzen liegt das Geheimnis der menschlichen Person; hier wird ihr innerstes Wort gesprochen.

6. KAPITEL: HERZLOSIGKEIT

Herzlosigkeit im eigentlichen Sinn muss von affektiver Impotenz oder verstümmelter Affektivität abgegrenzt werden. Sie hat eine stärkere sittliche Mitbedeutung als die letzte. Da es sich jedoch nicht um einen rein sittlichen Begriff handelt, wird uns die Analyse der verschiedenen Arten von Herzlosigkeit näher zum Wesen des Herzens im eigentlichsten Sinn hinführen.

Herzlosigkeit bedeutet die Verkrüppelung eines Zentrums in der menschlichen Seele. Sowohl dies Zentrum wie seine Missgestaltung stehen zweifellos mit der sittlichen Sphäre in Beziehung, da viele Akte von hohem sittlichen Wert nur von diesem Zentrum ausgehen können. Ein herzloser oder hartherziger Mensch ist einer wirklichen Liebe, eines echten Mitleides, einer vollen Reue solange unfähig, als sein Herz nicht wiedererstanden ist. Daher schließt dieses Verstummen des Herzens unverkennbar einen sehr einschneidenden sittlichen Defekt und ebenso einen unmoralischen Willen ein. Auf der anderen Seite garantiert die Tatsache, dass das Herz nicht zum Schweigen gebracht oder verhärtet ist noch keinen hohen sittlichen Stand. Denn es gibt viele sittliche Übel, die mit einem warmen Herzen koexistieren können und viele andere sittlich schlechte Haltungen, die sogar indirekt aus ihm stammen. Es gibt sogar spezifische Verfälschungen des warmen Herzens, mit denen wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen werden.

Wenn wir uns daher mit dem verstummten und erfrorenen Herzen befassen, so geht es uns nicht um ein sittliches Zentrum - wie das wertantwortende Zentrum, das die Antithese zu Hochmut und Begehrlichkeit bildet - sondern um das Herz als Mittelpunkt wahrer Affektivität.

Wie schon gesagt, ist das Herz im engeren Sinne der intimste, persönlichste Kern der "zarten Affektivität". Offenbar besitzt auch der Herzlose dieses Zentrum; es ist nur unterdrückt und gelähmt. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, die Beziehung zwischen dem Herzen in diesem engeren Sinn und der sittlichen Sphäre zu verstehen. Wir müssen die verschiedenen Weisen kennenlernen, in denen sittliche Unordnung das Herz verschließen kann.

Zunächst ist das Herz notwendig in jedem Menschen verstummt, der so von Hochmut und Begehrlichkeit beherrscht ist, dass die Sittlichkeit keinen Platz in seinem Leben hat. Von diesem kann man zu Recht sagen: "Er hat kein Herz", mag es nun Kain oder Jago, Richard III., Don Giovanni oder Don Rodrigo in Manzonis Verlobten sein. Sie alle sind klassische Beispiele für Menschen, deren gesamte Einstellung zum Leben ausschließlich von Hochmut und Begehrlichkeit bestimmt ist, und für die es nur auf eines ankommt: diese beiden zu befriedigen. Wir würden umsonst an ihr Herz appellieren, es zu erschüttern oder ihr Mitleid zu erwecken suchen. Diese Menschen sind nicht etwa affektive "Krüppel", wie die utilitaristischen Pragmatiker, noch Opfer einer intellektuellen Hypertrophie. Sie besitzen vielmehr eine starke, wilde, dunkle Affektivität. Aber ihr Herz ist verschüttet. Sie sind unfähig zur Liebe, selbst zu der in der Sphäre vitaler Werte beheimateten, wie die Liebe des Don José zu Carmen. Sie vermögen nicht die Wärme der "intentio benevolentiae" aufzubringen, die in jeder Liebe enthalten ist. Sie können sexuelle Leidenschaften haben, aber Liebe ist ein unbekanntes Wort für sie. (Es ist in dieser Hinsicht sehr erhellend, dass Alberich in Wagners Rheingold nur dann das Gold, das ihm alle Macht gibt, erringen kann, wenn er der Liebe entsagt. Doch es wird nicht von ihm verlangt, auf sexuellen Genuss zu verzichten). Solche Menschen sind von der Liebe ausgeschlossen, weil diese immer die Hingabe des Herzens im engeren Sinn des Wortes erheischt.

Ebenso sind sie außerstande, wahren Schmerz zu fühlen. Selbstverständlich haben sie alle Arten von negativen Gefühlen: Sie können von Ärger und Zorn zerrissen werden, oder verwundet sein wie ein wildes Tier. Sie können von der entsetzlichsten Disharmonie gepeinigt und von Angst gefoltert werden. Aber sie können nicht wahrhaft trauern. Denn wirkliches Leiden, in dem das Herz verwundet wird, schließt ein Schmelzen des Hochmutes ein, ein sich Ausliefern, das mit dem Grundzug der Härte unvereinbar ist.

Aber nicht nur die totale Unsittlichkeit verschließt das Herz und bringt es zum Schweigen. Auch in einem nicht vollständig von Hochmut und Begehrlichkeit beherrschten Menschen können bestimmte Leidenschaften wie Ehrgeiz, Machtgier, Habsucht und Geiz die gleichen Verheerungen anrichten. Wir haben es hier also mit einem zweiten möglichen Einfluss der sittlichen Sphäre zu tun: das Herz kann nicht nur durch vollständige Unsittlichkeit, sondern auch unter dem Einfluss bestimmter Leidenschaften, denen man sich ausliefert, erdrückt werden.

Gewiss verhärten die Auswüchse des Hochmutes das Herz im allgemeinen mehr als die der Begehrlichkeit. Doch gewisse Formen der Begehrlichkeit (Habgier und Geiz) haben ähnliche Folgen: sie ersticken das Herz. Es scheint also, dass einige, in der Begehrlichkeit wurzelnde Leidenschaften für das Herz verhängnisvoller sind als andere. Der Geiz drosselt es mehr ab als Unzucht. Der Lebemann vermag, auch wenn er gierig und unrein ist, sich noch mehr Herz zu bewahren als der Geizhals. Eugénie Grandet's Vater in Balzacs Roman ist typisch herzlos, während Tom Jones in Fieldings gleichnamigen Werk, obwohl er sich der Wollust hingibt, viel Herz hat.

Ein seinem Laster ganz ausgelieferter Trinker, der nicht einmal mehr den Versuch macht, es zu überwinden, hat vielleicht dessen ungeachtet ein feinfühliges Herz. Er ist imstande, Mitleid und wahren Schmerz zu fühlen; er kann noch lieben. Seine beklagenswerte Schwachheit verschließt oder verhärtet sein Herz nicht unbedingt, wie wir deutlich an Marmeladow sehen, einer Gestalt in Dostojewskis "Schuld und Sühne". Auch der Jähzornige ist nicht notwendig herzlos, obwohl seine schrecklichen Ausbrüche das Herz momentan ganz verstummen lassen.

Nicht selten haben Menschen mit hitzigen Temperament ein gutes Herz, so Pierre, der warmherzige Held in Tolstois "Krieg und Frieden", der liebes-, leidens- und mitleidsfähig ist, obwohl ihn seine Wutanfälle übermannen. Alexander der Große tötete seinen besten Freund Kleitos in einem Zornausbruch, obwohl er nicht hartherzig war. Herzlosigkeit als solche ist ein habituelles Kennzeichen eines Charakters. Sie braucht darum keine dauernde Eigenschaft jähzorniger Menschen zu sein, deren Wut ihr Herz für Augenblicke verstummen lässt und sogar verhärtet.

Ferner muss ein Dieb nicht hartherzig sein. Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit verschließen das Herz nicht notwendig, solange sie aus Schwäche entstehen. Soweit all diese Laster sich nicht mit Zynismus paaren, kann ihr Träger noch "ein Herz haben".

Wir sollten aber sehen, dass ein Laster unweigerlich das Herz verschließt und zum Schweigen bringt, sobald Zynismus sich einschleicht. Während alle Laster, die Folgen der Schwachheit sind, das Herz nicht unbedingt verhärten und verstummen lassen, geschieht dies immer im zynisch gewordenen Sünder.

Kurz, der zweite Typ von Herzlosigkeit kann aus gewissen, das Herz verhärtenden oder erstickenden Leidenschaften, wie Ehrgeiz und Geiz entstehen, oder aus anderen, die sich mit Zynismus verbinden. Die Wirkung ist in beiden Fällen die gleiche. Da aber nicht alle Laster diese Folgen haben, so zeigt sich klar, dass weder Hartherzigkeit inhaltsgleich mit Unsittlichkeit ist, noch die Sensibilität des Herzens schon Sittlichkeit bedeutet.

Ein dritter Typ von Hartherzigkeit ist der verfeinerte Ästhet. Wir denken hier an den Menschen, der die ganze Welt nur vom Standpunkt ästhetischen Genusses betrachtet. Sein Herz ist nicht so sehr verhärtet, als völlig kühl. Eiseskälte weht uns aus einem solchen Menschen entgegen. Wenn er eine Feuersbrunst miterlebt, kommt es ihm nur auf deren ästhetische Qualität an. Die Menschenleben, die in Gefahr sind, interessieren ihn nicht. Er ist völlig in Anspruch genommen von der Freude an der Schönheit dieses entfesselten Elementes. In jeder Situation bleibt er bloßer Zuschauer. Sein Herz ist taub und stumm, kühl und empfindungslos. Auch er hat "kein Herz".

Eine puritanische Moral führt oft zu einem anderen Typ von Herzenshärte: dem des Fanatikers. Dieser betrachtet die Stimme des Herzens als eine Versuchung, der man widerstehen muss. Was er für das Sittengesetz hält, muss getan werden, ungeachtet der Leiden, die daraus für andere entstehen mögen. In seinen Augen ist Mitleid eine erbärmliche Schwäche. Ein treffendes Beispiel dieser schrecklichen Herzlosigkeit ist der Großvater von Chris in William Faulkners Roman: "Licht im August". Dieser Typus findet sich noch ausgesprochener in vielen Formen von Idealismus, denen kein sittliches Ideal zugrunde liegt, etwa in der Idolisierung des Staates in Sparta. Die Unterdrückung des Herzens erreicht jedoch ihren Höhepunkt in den totalitären Staaten, in denen Loyalität nur der Partei gegenüber erlaubt ist. Hier ist Nächstenliebe Hochverrat und das Herz ist vollständig erstickt.

Es gibt noch einen anderen, sogar weiter verbreiteten Typus: den Verbitterten. Das Herz dieses Menschen ist nicht durch seine Leidenschaften, sondern vielmehr durch große Enttäuschungen, durch ihm zugefügte Wunden verschlossen und verstummt. Er hatte ein feinfühliges Herz, aber das erlebte Trauma hat es verbittert und verhärtet.

Wer einmal von einem Menschen, den er glühend liebte, betrogen wurde, wer nach Liebe hungerte und dürstete und nie der Güte, nach der es sich sehnte, begegnete, sondern nur auf demütigende Gleichgültigkeit stieß, dessen Herz kann verbittern. Statt wie eine menschliche Person, wurde er womöglich wie ein Werkzeug behandelt. Vielleicht bewirkten unzählige Heimsuchungen in seinem Herzen solche Bitterkeit, vielleicht auch eine ununterbrochene Kette von Missgeschicken, oder ein dauerndes Unglück, etwa eine Verkrüppelung durch Krankheit. Welches auch ihre Ursache sei, diese Bitterkeit unterscheidet sich von allen anderen Formen der Herzenshärte. Sie hat einen tragischen Charakter. Dies ist kein hartes, sondern ein "hart gewordenes" Herz, das die Narben der Wunden gefühlsarm gemacht haben. Es ist leichter, die um dieses Herz errichteten Wälle zu durchstoßen, als jene Mauern böser Leidenschaften, zwischen denen das Herz erstickte.

7. KAPITEL: DAS TYRANNISCHE HERZ

Wir haben schon von der Verirrung des Herzens gesprochen, das Vernunft und Willen beherrschen will (4. Kap.). Dann weigert es sich, den Intellekt entscheiden zu lassen, was nur er bestimmen kann oder hindert das freie Personzentrum, in Gebieten, die dem Willen vorbehalten sind, mit einem Willensakt einzugreifen. Diese Unordnung, die wir schon bei der Untersuchung des Herzens im weiteren Sinn feststellten, zeigt sich auch beim Herzen im engeren Sinn. Denn anstatt eine Situation mit unserer Vernunft zu prüfen, um die Tatsachen und die hier thematischen sittlich bedeutsamen Werte zu erfassen, anstatt intensiv zu fragen, was wir tun, wie wir antworten sollten, ob wir der Neigung unseres Herzens folgen dürfen, nehmen wir manchmal den Drang des Herzens als den einzig wahren und zuverlässigen Führer. Wir lassen uns von seinen Eingebungen verleiten, anstatt Gott zu gehorchen und mit unserem Willen den jeweiligen sittlich bedeutsamen Werten zu entsprechen.

Das tyrannische Herz macht sich auch in einer gewissen Schwäche aus ungeordneter Gutmütigkeit bemerkbar. Wir denken hier an Menschen, die nicht imstande sind, eine Bitte abzuschlagen, solange sie nicht eindeutig sündig ist. Wenn ein Trinker sie z. B. um ein weiteres Glas Alkohol ersucht, bringen sie es nicht fertig, nein zu sagen. Sie machen sich nicht klar, dass wahre Liebe von uns verlangt, an das objektiv Gute für unseren Nächsten zu denken und nicht einfach jeden Wunsch zu erfüllen. Sie übersehen, dass bei vielen Anlässen ein "Nein" weit mehr der Ausdruck echter Liebe sein kann als ein "Ja". Sie verstehen nicht, dass ihr Wille sich dem objektiven Gut für die andere Person konformieren muss, obwohl ihr Herz bedauern soll, dass es nicht "ja" sagen darf und betrübt ist, einem andern Leiden zufügen zu müssen. Diese Schwäche ist eine irregeleitete Nächstenliebe und kann in jeder menschlichen Beziehung, nicht nur in der zu besonders geliebten Personen, vorkommen.

Dieses "zu gute Herz" (wie man missverständlich zu sagen pflegt) muss jedoch klar von der allgemeinen Schwäche unterschieden werden, die jedem dynamischen Einfluss erliegt. Jemand, der einfach nicht imstande ist, dem starken Willen anderer zu widerstehen, der daran gewöhnt ist, jedem Druck zu weichen, ist nicht notwendig besonders gütig oder warmherzig. Diese allgemeine Schwäche ist eindeutlich etwas völlig anderes als das Nachgeben aus ungeordnetem Mitleid.

Eine schwerer wiegende Verirrung des Herzens zeigt sich in einem gewissen Typ von Ungerechtigkeit. Eine Mutter liebt eines ihrer Kinder mehr als die anderen. Dies wäre in sich noch kein Unrecht, doch es wird dazu, wenn sie das Lieblingskind anders behandelt, ihm alle mögliche Wohltaten erweist, die anderen Kinder aber leer ausgehen lässt oder - noch ärger - sie für jede Ungezogenheit verantwortlich macht, um ihren "Liebling" zu entschuldigen. Diese Ungerechtigkeit ist die Folge einer ungeordneten Liebe - oder vielmehr einer Willkür des Herzens. Etwas stimmt nicht in dieser Liebe. Sie enthält ein Element des Egoismus, ihr fehlt der Charakter reinen, wertantwortenden Sichverschenkens. Weil die Mutter dieses Kind mehr liebt, scheint es ihr gerechtfertigt, dass es allein alle Vorteile genießen solle. Sie folgt nicht nur dem Drang ihres Herzens, ohne es mit ihrer Vernunft zu prüfen und mit ihrem freien Willen zu berichtigen, sondern die Liebe selbst hat einen nur parteiischen Charakter; sie enthält ein ungütiges, anmaßendes, egozentrisches Element. Dieses willkürliche Herz ist von Hochmut und Begehrlichkeit angesteckt.

Eine ganz andere, vielgestaltige Verfälschung im Reich der Affektivität ist die Mittelmäßigkeit des Herzens. Eine ihrer Formen, die Sentimentalität, haben wir schon bei der Besprechung der unechten Gefühle erwähnt. Wir wollen hier noch verschiedene andere Abarten behandeln.

Eine von ihnen ist die kleinliche Egozentrik, die jede, das eigene Ich betreffende Lappalie, sehr ernst nimmt. Menschen mit solch mediokrem Herzen bewegen sich in einer öden, engen Welt. Ihr Glücksstreben ist ausgesprochen mittelmäßig. Konventionelle, beschränkte Winkeladvokatentriks nehmen sie ganz in Anspruch. Ihre Affektivität ist hohl und steht in keinem Verhältnis zu den Gütern, um die es geht. Periphere Einzelheiten spielen für ihr Herz eine größere Rolle als große, tiefe Themen.

Diese Entstellung ist eine Karikatur der wahren Affektivität. Sie tritt nicht im Rahmen der energiegeladenen, sondern nur innerhalb der zarten Affektivität auf. Solche Menschen sind die Gefangenen ihres eigenen, nur auf Geringfügigkeiten und unwichtige Nebensachen antwortenden Herzens. Dessen Entartung zeigt sich in einer jeder Größe, jeder Glut, jeder wahren Dynamik beraubten Affektivität. Ihr Herz ist von der Welt der objektiven Werte abgeschnitten, ist unfähig, sich hinzugeben; seine Antworten entsprechen nicht der Hierarchie der Güter.

Diese Personen sind häufig intellektuell schwach begabt, töricht und engstirnig. Doch weder schützen geistige Gaben das Herz vor Mediokrität und Geschmacklosigkeit, noch wird es unvermeidlich mittelmäßig, wenn diese fehlen. Manche Leute sind engherzig und seicht in ihren Gefühlen und doch geistig auf einem speziellen Gebiet begabt, ja außergewöhnlich talentiert. Sie können sich über Lappalien beunruhigen, wollen vor allem ihre kleinliche Eitelkeit befriedigen und vergeuden ihre Zeit, indem sie um eingebildete Beleidigungen kreisen. Andererseits brauchen einfache Menschen mit geringen Gaben durchaus kein mittelmäßiges Herz haben. Sobald sie mit ihrer bescheidenen Intelligenz eine anspruchslose Einfachheit und eine gewisse Demut verbinden, kann ihr Herz frei von jeder Geschmacklosigkeit sein. Sie können die Gabe ursprünglicher und tiefer Affektivität besitzen. Der geistesschwache Mr. Dick in David Copperfield hat ganz gewiss kein enges Herz.

Es gibt noch eine weitere Art von Egozentrik. Gewiss ist die Liebe die Stimme des Herzens im eigentlichen Sinn; gewiss ist der Wunsch, geliebt zu werden, gleichfalls eine Äußerung des Herzens. Nun kann sich aber die allgemeine menschliche Gefahr der Ichbezogenheit sowohl in einer entarteten, sentimentalen Form der Liebe wie in einem ungeordneten Verlangen, geliebt zu werden, äußern. Menschen die an dieser zweiten Ungeordnetheit leiden, sind meistens überempfindlich gegenüber Kränkungen. Sie fühlen sich ständig unbeachtet, ausgeschlossen, zurückgesetzt, isoliert und missverstanden. Ihre Reaktion gegen diese wirklichen oder eingebildeten Kränkungen ist nicht hart und gereizt, wie bei dem ständig auf seine Ehre erpichten Typ, vielmehr ein weiches, mit Selbstmitleid gepaartes sich Abschließen und Zurückziehen von anderen.

Diese Leute sind gewöhnlich gar nicht willens, ihre Vernunft zu befragen, ob sie tatsächlich lieblos behandelt wurden. Weil sie sich beleidigt fühlen, sind sie sicher, sie hätten genügend Grund, beleidigt zu sein. Diese Egozentrik des Herzens macht sie "unobjektiv". Sie neigen dazu, jede Haltung als gegen sie gerichtet auszulegen und betrachten viele Äußerungen als unhöflich, unfreundlich, ungütig, die es gar nicht sind.

8. KAPITEL: DAS HERZ ALS DAS WAHRE SELBST

Wer das Wesen des Herzens verstehen will, muss sich bewusst machen, dass es in vielen Hinsichten mehr das wahre Selbst der Person verkörpert als Vernunft oder Wille.

In der sittlichen Sphäre spricht der Wille das letzte, gültige Wort. Hier gilt die Stimme unseres freien, geistigen Personenzentrums vor allen anderen und hier finden wir das wahre Selbst primär im Willen. In vielen anderen Bereichen ist jedoch das Herz und nicht der Wille oder der Intellekt die innerste Schicht, das Mark, das eigentliche, wirkliche Ich. So ist es im Reich der menschlichen Liebe: der ehelichen, der Freundes-Liebe, der Eltern- und Kindesliebe. Hier ist das Herz nicht nur das wahre Selbst, weil Liebe wesenhaft eine Stimme des Herzens ist, sondern ebenso, weil sie sich in besonderer Weise an das Herz des Geliebten wendet. Der Liebende will seine Liebe in das Herz des Geliebten ergießen, es berühren, es mit Glückseligkeit erfüllen. Nur dann wird er fühlen, dass er den Geliebten, sein tiefstes Selbst wirklich erreicht hat.

Überdies möchten wir, wenn wir einen Menschen lieben und uns nach der Erwiderung seiner Liebe sehnen, eben das Herz des anderen unser eigen nennen. Solange er nur bereit ist, uns zu lieben, nur mit seinem Willen unseren Wünschen entspricht, werden wir nie glauben, wir "besäßen" sein wahres Selbst. So sehr uns vielleicht die Anpassung seines Willens an unsere Erwartungen, seine freundlichen Blicke, seine vom Willen veranlassten Aufmerksamkeiten vom ethischen Standpunkt rühren mögen, so würden wir doch fühlen, dass sein wahres Selbst uns entgleitet, uns nicht "gehört". So lange seine Wohltaten, seine Rücksicht, seine Opfer für uns nur von seinem guten, großmütigen Willen eingegeben sind, wissen wir, dass der Geliebte nicht wirklich unser eigen ist, weil wir nicht sein Herz besitzen. Solange daher der Geliebte nur mit seinem Willen die Liebe erwidert, aber alle Bezeugungen des Herzens fehlen, fühlt der Liebende, dass ihm die Seele des Geliebten nicht geschenkt wurde.

Ist hingegen das Herz des Geliebten bis zum Rand mit Sehnsucht nach dem Liebenden, mit Freude an seiner Gegenwart, mit Verlangen nach geistiger Einheit mit ihm erfüllt, dann ist der Liebende befriedigt; er fühlt, dass ihm die Seele des Geliebten zu eigen wurde.

Auch in der Frage nach dem wahren Glück zeigt sich das Herz als das Mark des Selbst. Wenn jemand nur glücklich sein will, oder sich mit seiner Vernunft klar macht, er müsse sich objektiv für glücklich halten, so ist er noch nicht glücklich. Wir sagten schon: nur das Herz kann Glück erfahren. Nun gilt es zu sehen, dass das Herz auch hier - mehr als Wille oder Vernunft - denn innersten Kern der Person darstellt.

Allerdings ist es eine erstaunliche Tatsache, dass etwas, das spontan und geschenkhaft in der Seele aufsteigt, im höheren Maße das eigentliche Selbst einer Person bekunden solle, als eine Äußerung ihres freien Zentrums. In der sittlichen Sphäre scheint die Sachlage viel begreiflicher zu sein. Das Wort der Person, dieses gültige, letzte Wort, in der ihr Selbst mehr als in irgend etwas anderem lebt, ist das "Ja" oder "Nein" ihres Willens. Ihre freie Intention, die Aktualisierung ihres freien geistigen Zentrums, das ist sie selbst.

Wenn wir bedenken, dass die Freiheit eines der tiefsten Merkmale der Person ist, in dem sich das Wesen des Menschen als Ebenbild Gottes und sich selbst besitzendes Seiendes in besonderer Weise offenbart, dann setzen wir unverkennbar stillschweigend voraus, dass der Wille, mehr als alles andere, das wahre Selbst der Person ist.

Des ungeachtet müssen wir anerkennen, dass in den menschlichen Beziehungen, in der Antwort auf traurige oder erfreuliche Ereignisse, in allen Situationen, in denen ein frui (Verkosten) thematisch wird, das Herz unser wahres Selbst ist. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, aus dem Wesen der Freiheit zu folgern, unser Wille müsse immer das letzte Wort unseres wahren Selbst sprechen. Die Wirklichkeit lehrt uns vielmehr, dass das Herz in vielen Bereichen mehr unser innerstes Wesen verkörpert als der Wille. Diese Tatsache sollten wir hinnehmen. Wollen wir nun verstehen, wie dies möglich ist, so gilt es, in unserer Analyse des Menschen noch tiefer vorzudringen.

Zu allererst müssen wir uns klarmachen, dass die Frage, ob ein Erlebnis innerhalb oder außerhalb unseres Freiheitsraumes liege, nicht einfach zum Maßstab für den Rang dieses Erlebnisses gemacht werden kann. Gewiss ist die Freiheit ein Wesensmerkmal der Person als Ebenbild Gottes. Jedoch kann auch der ausgeprägte Geschenkcharakter einer geistigen Wirklichkeit ihren spezifisch hohen Rang anzeigen.

Dies gilt selbstverständlich in erster Linie für den Bereich der Gnade, die ein absolut unverdienbares und unserem Willen völlig unzugängliches Geschenk ist; aber es betrifft nicht nur sie. Auch in der natürlichen Sphäre hat vieles den Charakter einer Gabe Gottes, die oberhalb der Dinge liegt, die wir selbst erreichen können. Alle großen künstlerischen Talente sind als solche reine Geschenke. Gewiss ist unermüdliche, andauernde Hingebung unerlässlich, soll ein Genie Meisterwerke hervorbringen, aber die Genialität selbst bleibt reines Geschenk. Niemand kann nur durch eigene Anstrengung, so groß und aufopfernd sie sei, ein Michelangelo, Shakespeare oder Beethoven werden. Dasselbe gilt von bedeutenden geistigen Begabungen: niemand vermag durch seinen freien Willen allein die Einsichten eines Platon oder eines Augustinus zu erlangen. Diese oberhalb der Verfügungsgewalt des Menschen liegenden Geschenke, die gerade durch ihre Unerreichbarkeit seine geschöpfliche Begrenztheit augenscheinlich machen, umfassen jedoch nicht nur außergewöhnliche Geistesgaben, sondern das eine, nach dem sich alle Menschen sehnen: das Glück. Denn das Glück ist ein Geschenk und es bleibt reines Geschenk, so sehr wir auch den Boden für es bereiten. Es tropft wie Tau auf unser Herz, fällt unverdient wie ein Sonnenstrahl in unsere Seele.

Das gleiche gilt von vielen affektiven Antworten: tiefer Reue, der Gabe der Tränen, großer, glühender Liebe, von der Ergriffenheit beim Hören sublimer Musik oder beim Miterleben eines Aktes überströmender Liebe. Diese Erlebnisse vollziehen sich im höheren, geistigen Teil der affektiven Sphäre und sind ebenso wie eine tiefe Einsicht unserer Vernunft eine Gabe von oben.

Wir sollten verstehen, dass wir uns im Reich der Affektivität auf zwei verschiedenen Ebenen bewegen. In der einen wohnen die Gefühle, die niedriger stehen, als alle Akte in der unmittelbaren Reichweite unserer Freiheit. Es ist die Schicht der bloßen affektiven Zustände; der körperlichen, wie Müdigkeit, der psychischen, wie gute Laune oder Depression. Es ist auch der Bereich aller Leidenschaften im engeren Sinne, ja vieler affektiver, nicht von Werten motivierter Antworten, z. B. der Freude über einen finanziellen Gewinn. Diese Erlebnisse stehen ontologisch tiefer als ein Akt des Versprechens, ein Vertragsabschluss, eine Handlung im genauen Sinn, oder jede Arbeit und Tat.

Aber es gibt auch eine höhere Schicht innerhalb der affektiven Sphäre. In mancher Hinsicht liegt sie über den Willensakten, jedoch nicht über dem Willen selbst. Dieser Bereich hat den Charakter einer Gabe von oben und ist die "Stimme" des Herzens im engeren Sinn des Wortes. Diese affektiven Antworten kommen aus der innersten Tiefe der menschlichen Seele, einer Tiefe, die deutlich von dem Unterbewussten unterschieden werden muss. Sie ist voller Geheimnisse und wir "besitzen" sie nicht in derselben Weise, wie die in unserer unmittelbaren Macht stehenden Handlungen und Akte.

Es ist kennzeichnend für die Geschöpflichkeit des Menschen, dass in seiner Seele eine Tiefendimension lebt, die nicht, wie seine Willensakte, in seine Gewalt gegeben ist. Der Mensch ist größer und tiefer als jener Bereich von Dingen, die er mit seinem freien Willen zu beherrschen vermag. Sein Wesen reicht in geheimnisvolle Tiefen, die weit über das hinausgehen, was er zeugen oder schaffen kann. Vielleicht drückt nichts diese Tatsache adäquater aus, als die Wahrheit, dass Gott uns näher ist, als wir uns selbst sind. Dies trifft nicht nur für den übernatürlichen Bereich zu, sondern analog schon für die natürliche Sphäre.

So sind diese höheren Gefühle wahrhaft Geschenke, natürliche Gaben Gottes, die der Mensch sich nicht aus eigener Kraft verleihen kann. Da sie aus der inneren Tiefe seiner Person aufsteigen, sind sie in besonderer Weise Stimmen seines wahren Selbst, Stimmen seines vollen personalen Seins.

Es wird nun verständlicher, warum das Herz in einem bestimmten Bereich mehr das wahre Selbst ist als der Wille. Jedoch erfordert die Entfaltung der vollen Stimme des Herzens die Mitwirkung des freien, geistigen Personenzentrums.

In unserer "Christlichen Ethik" zeigten wir, dass die tiefste Bezeugung unserer Freiheit in der mitwirkenden Freiheit liege. Wie groß und bewundernswert auch der freie Wille als Herr und Meister unserer Handlungen ist, so bleibt dessen ungeachtet die freie Mitwirkung mit den "Geschenken" von oben, die nur indirekt unserem freien Eingreifen zugänglich sind, die tiefste Aktualisierung und die höchste Berufung unserer Freiheit.

Das große Wort, das Sinn und Wesen der mitwirkenden Freiheit in ihrer sublimsten Form enthält, ist das "Siehe ich bin eine Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort".

Die mitwirkende Freiheit erreicht ihre höchste Ausprägung im Sanktionieren: im "ja" unseres freien, geistigen Zentrums, das unser Affiziertwerden von den Werten und vor allem unsere affektiven Antworten auf sie von innen her formt. In ihrem genauesten Sinn ist diese Sanktion nur bei affektiven Antworten auf Gott oder auf sittlich bedeutsame Werte möglich. Darüber haben wir in der "Christlichen Ethik" eingehend gesprochen. Doch gibt es viele Analogien zu diesem Sanktionieren im strikten Sinn, z. B. das "Ja" unseres freien geistigen Zentrums in der ehelichen Liebe oder in der Freundschaft. Eine andere Analogie ist unser Affiziertwerden von großen Kunstwerken.

In diesem Zusammenhang gilt es zu verstehen, dass diese affektiven Erlebnisse, als Gaben von oben, nur dann voll und ganz die "unsrigen" sind, d. h. letztlich gültiger Ausdruck unserer ganzen Person, wenn sie von unserem freien, geistigen Zentrum sanktioniert werden. Unsere tiefe Liebe zu einem anderen Menschen ist ein Geschenk von oben - wir können sie uns nicht selbst geben. Doch nur, wenn wir dieser Liebe mit dem "ja" unseres freien Person-Zentrums zustimmen, wird sie zu einem vollen sich selbst Schenken. Dann bestätigen wir diese Liebe nicht nur, sondern machen sie durch dieses "ja" zu unserem eigenen vollen, ausdrücklichen Wort. Dieses "ja" setzt eine Stimme unseres Herzens voraus, die in sich ein Geschenk von oben ist. Wir können es nur sprechen, wenn uns ein hohes affektives Erlebnis zuteil wird.

II. TEIL

1. KAPITEL: DIE AFFEKTIVITÄT DES GOTTMENSCHEN

Wir untersuchten das Wesen des Herzens und entdeckten dabei dessen zentrale Rolle im Leben des Menschen. Jetzt wollen wir versuchen, in das Mysterium des heiligsten Herzens Jesu einzudringen. Aber nur, wenn wir seiner heiligen Menschheit in letzter Ehrfurcht und Sammlung nahen, können wir hoffen, die Stimme des heiligsten Herzens Jesu zu vernehmen und die unsagbare Heiligkeit seiner Äußerungen zu erfassen.

Die Person Christi ist der Mittelpunkt der Offenbarung des Neuen Testaments, denn Christus ist nicht nur der Erlöser, Er ist auch die Epiphanie Gottes. Durch Seine heilige Menschheit ist Er die Selbstoffenbarung Gottes: "denn in dem Geheimnis des fleischgewordenen Wortes ist das Licht Deiner Herrlichkeit den Augen unseres Geistes neu aufgeleuchtet." (Präfation von Weihnachten).

Christus spricht vor allem von den Geboten Gottes, von der übernatürlichen Wahrheit, der Erlösung, der Notwendigkeit, wieder geboren zu werden. Er spricht von dem, was Gott wohlgefällig ist, von dem, was wir tun und lassen sollen, von unserer Berufung, vom Reich Gottes, von dem, was wir erhoffen dürfen, wenn wir Ihm nachfolgen. Aber jedes Wort, jedes Gleichnis, jede Seiner Taten stellt uns auch Seine hl. Menschheit vor Augen und offenbart in ihr Seine Gottheit. Und wiederum, wenn Christus von Sich als Menschensohn spricht, von Seiner Mission, von Seiner Einheit mit dem Vater, so werfen auch diese Worte ein Licht auf die Person Christi und auf Seine hl. Menschheit.

Unsere Analyse des Wesens des Herzens und seiner Rolle im Leben des Menschen wird uns helfen, in der Kontemplation der hl. Menschheit Christi die Stimme Seines Hl. Herzens zu erlauschen. Wir haben in verschiedenen früheren Werken versucht, die Wesenszüge der "neuen" Kreatur, der neuen Sittlichkeit der Heiligen, die Merkmale der Heiligkeit herauszuarbeiten (1). Aber dieses ganze sublime geistliche Leben, diese Fülle der Heiligkeit ist nur ein Abbild der hl. Menschheit Christi. Wir müssen uns klarmachen, dass auch das heilige, affektive Leben, das wir in der "neuen" Kreatur finden, nur ein Abbild des heiligen affektiven Lebens im Gottmenschen selbst ist. Wir müssen die Augen unseres Geistes weit öffnen, um den unfassbaren Reichtum des hl. Herzens Jesu, die gänzlich neue Qualität des affektiven Lebens zu ahnen, das in der hl. Menschheit Jesu Christi lebt. Wir müssen uns jedoch hüten, dabei auf eine uns wohl vertraute natürliche Affektivität zurückzugreifen und vor allem davor, an das Leben des heiligsten Herzens Jesu mit rein natürlichen, manchmal sogar billigen Kategorien heranzutreten. Nur wenn wir unser Herz emporheben, können wir hoffen, einen Blick in das hl. Leben des Herzens des Gottmenschen zu tun.

Wir müssen versuchen, Schritt für Schritt dem Wesen Seines heiligsten Herzens näher zu kommen, indem wir gewisse Worte und Gleichnisse kontemplieren, in denen sich diese heilige Affektivität offenbart. Wir werden auch versuchen, mehr und mehr in das Geheimnis des Heiligsten Herzens Jesu einzudringen, indem wir diejenigen Taten und Haltungen Christi betrachten, in denen sich diese neue, heilige Affektivität kundtut. Wenn es auch wahr ist, dass jedes Wort, jedes Gleichnis, jede Tat Christi Seine hl. Menschheit offenbart, so gibt es doch gewisse Gebote, Taten und Gleichnisse, die eine besondere Beziehung zu dem Heiligen Herzen Jesu besitzen, bestimmte Stellen, in denen die göttliche, übernatürliche Affektivität sich offenbart und durch diese die Qualität des heiligen Herzens.

Endlich werden wir jene Stellen im Evangelium betrachten, in denen der Herr Sein Heiligstes Herz direkt enthüllt. Denn wahrlich, manchmal erschließt Jesus Sein Herz. Er offenbart uns das Leben Seines Herzens in der Beziehung zu Seinem göttlichen Vater und auch in der Beziehung zu den Menschen. In diesen Abschnitten ist der Schleier dieses hl. Geheimnisses gleichsam "gelüftet", so - dass wir gewürdigt werden, einen Blick in die intimsten Äußerungen des heiligen Herzens zu tun.

Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.

Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land als Erbe erhalten.

Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.

Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Selig die Friedensstifter; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.

Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich. (Mt 5,3-10). (2)

Wer "Ohren hat zu hören", kann diese Worte nicht vernehmen, ohne in den Bann des Heiligen Herzens Jesu gezogen zu werden. Worte, die wie ein göttliches Licht die Welt mit ihrem übernatürlichen Glanz erleuchten; Worte, die so mild sind und doch die Welt aus ihren Angeln heben. Sie zeigen uns nicht nur den Weg, der zur ewigen Seligkeit führt, sie lassen uns einen himmlischen Duft atmen und uns etwas von dieser Seligkeit verkosten. Obgleich der Herr nicht von Sich selbst spricht, sondern von den Gott wohlgefälligen Haltungen, die wir erstreben sollen, offenbaren diese Worte doch in überwältigender Weise die hl. Menschheit Christi und in ihr die einzigartige Qualität seines heiligen Herzens.

Herz Jesu, Sohn des Ewigen Vaters, erbarme Dich unser !

Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: "Tor", soll dem Hohen Rat verfallen sein. Wer aber sagt: "Gottloser", soll der Feuerhölle verfallen sein (Mt 5, 21-22).

Eine neue Welt ist unserem Geist eröffnet; wir hören Worte von übernatürlichem Klang. Die Glorie der göttlichen Liebe erstrahlt vor unserem geistigen Auge. Die Unendlichkeit dieser Liebe leuchtet auf. Jedes Hindernis für die Liebe, jede Begrenztheit und Bedingtheit der Liebe ist hinweg geräumt. Haltungen, die im Rahmen des Natürlichen als berechtigt erscheinen, stehen als unverträglich mit der Liebe, ja als sündhaft vor uns. Das Gebot der Liebe reicht hier in ungeahnte Tiefen. Auf der einen Seite sind nicht nur Taten, die den Nächsten beeinträchtigen, unverträglich mit der Nächstenliebe, sondern sogar Worte, wie: Du bist ein Narr! - Auf der anderen Seite sind wir nicht nur unserem Nächsten, sondern sogar unserem Feind Liebe schuldig. Die Herrschaft der Liebe ist in keiner Weise mehr beschränkt. Sieghaft erstreckt sich ihr Reich über alle natürlichen Grenzen hinaus. Es ist das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, wie die Präfation des Christkönigfestes sagt.

Wenn wir die Worte Jesu hören, überwältigt uns die völlig neue Qualität dieser Liebe die selbst die höchste, rein natürliche Liebe unendlich übertrifft. Vor dieser Liebe, vor ihrer unsagbaren Heiligkeit, versagen alle natürlichen Kategorien. Der hl. Johannes sagt: "Das ist der Sieg, der die Welt überwindet, unser Glaube." Wir können nicht anders als hinzufügen: Diese Liebe ist der Sieg über die Welt.

Es ist die Stimme des hl. Herzens Jesu, die wir hören - es ist die Glorie seines Herzens, die vor uns steht. Das Geheimnis Seines Herzens beginnt sich zu erschließen: so sanft, so glühend, so sieghaft - so jenseits aller Ideale, die ein menschlicher Geist sich erdenken kann.

Herz Jesu, von unendlicher Majestät, erbarme Dich unser !

Jener aber wollte sich rechtfertigen, so fragte er Jesus: Und wer ist mein Nächster? Jesus nahm das Wort und sprach: "Ein Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter Räuber. Diese plünderten ihn aus und schlugen ihn, dann machten sie sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester jene Straße herunter, sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit an den Ort, sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der seines Weges zog, stieß auf ihn, sah ihn und erbarmte sich seiner. Er trat hinzu und verband seine Wunden, Wein und Öl darauf gießend. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Lasttier, brachte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sagte: ,Trag Sorge für ihn, und was du etwa darüber hinaus aufwendest, will ich dir erstatten, wenn ich wieder komme."

"Wer von diesen dreien, meinst du, hat sich dem, der unter die Räuber gefallen war, als Nächster gezeigt?" Jener antwortete: "Der Barmherzigkeit an ihm geübt hat". Da sprach Jesus zu ihm: "Geh hin und tue desgleichen!" (Lk 10, 29-37).

Die Antwort Jesu auf die Frage "Wer ist mein Nächster?" legt alle Wälle nieder, die unser Herz gefangen halten. Wieder stehen wir vor der grenzenlosen Liebe, einer Liebe, die nicht beschränkt ist durch Bande des Blutes oder irgend welche natürliche Gemeinschaften. Derjenige ist mein Nächster, den Gott durch die jeweilige Situation und ihr Thema an mein Herz legt, selbst wenn keinerlei Bindungen der Freundschaft, Familie oder Volksgemeinschaft bestehen. Ein Mensch wird mein Nächster, weil Christus in ihm mich ruft: "Ich war hungrig und ihr habt mich gespeist, ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken."

Dies tritt deutlich in dem Kontrast der Haltung des Samariters mit der Haltung des Priesters oder Leviten hervor. In diesen ist die Liebe gefesselt durch eine natürliche Vorsicht. Es ist, als ob sie sagen würden: "Wer weiß, warum dieser Mann verwundet wurde? Setzen wir uns nicht allen möglichen Gefahren aus, wenn wir uns in Dinge hineinmischen, die wir nicht übersehen können?"

Bei ihnen ist die Liebe auch noch in anderer Hinsicht beschränkt. Sie erkennen nur dann eine Verpflichtung an, sich um andere zu kümmern, wenn diese entweder durch natürliche Bande ihrer Obhut anvertraut sind, oder wenn sie die Fürsorge für sie ausdrücklich in einem Versprechen übernommen haben oder diese ihnen von autoritativer Seite auferlegt wurde. Der Priester und der Levit denken, während sie an dem Verwundeten vorbeigehen: Er ist weder mein Bruder noch mein Verwandter, noch bin ich angestellt worden, mich um ihn zu kümmern. Er ist ein Fremder. Es tut mir leid, dass er dieses Unglück hatte, aber es ist nicht meine Angelegenheit.

Der Samariter kennt solche Begrenzungen nicht. Er hört den Ruf Gottes in dem leidenden Menschen; seine Liebe reicht über alle formalen Verpflichtungen hinaus. Wer erfasste nicht die ganz neue Unbegrenztheit dieser Liebe? Wer fühlte hier nicht die sieghafte Freiheit, die ihr eigen ist? Wer verkostete nicht die völlig neue Qualität der heiligen Güte, die glorreiche Glut in der Liebe des Samaritaners?

Und in dieser Liebe begegnen wir auch der "coincidentia oppositorum", diesem Merkmal des übernatürlichen, dem Zusammenfallen von Gegensätzen, die sich auf der Ebene des Natürlichen auszuschließen scheinen. Einerseits gilt diese Liebe einer individuellen Person. Im Gegensatz zu jeder allgemeinen Menschenliebe besteht hier ein volles Interesse für diesen bestimmten Menschen, der durch diese Situation mein Nächster geworden ist. Was uns hier entgegentritt, hat den voll existentiellen, konkreten Charakter echter Liebe. Andererseits hat es nicht die Ausschließlichkeit, die alle anderen Kategorien der Liebe mehr oder weniger besitzen. Diese Liebe wird jeden umfangen, sobald er durch eine bestimmte Situation mein Nächster wird. So durchdringen sich hier das Blutvolle der Liebe mit einer allumfassenden Weite.

Diese Liebe ist aber auch gänzlich verschieden von dem bloß natürlichen Wohlwollen des Menschen, der wegen seines guten Herzens bereit ist, anderen zu helfen und ihren Wünschen zu willfahren. So erfreulich dieses Wohlwollen auch sein mag, es ist durch eine Welt geschieden von der übernatürlichen Liebe. Natürliches Wohlwollen sieht in dem Nächsten nur ein menschliches Wesen. Die christliche Liebe hingegen bricht zu dem unerhörten Wert einer menschlichen Person durch, die berufen ist, Gott zu lieben und ewig mit Ihm vereint zu sein. Sie sieht in ihm das Ebenbild Gottes, dieses Individuum, das von Christus unendlich geliebt wird und für das Er am Kreuz gestorben ist. Sie findet in geheimnisvoller Weise Christus in ihm. Diese Liebe ragt in ihrer Qualität über die natürliche Welt hinaus. In ihr werden wir in die Welt Christi versetzt, in der uns eine Sicht des Nächsten in dem glorreichen Licht Christi vergönnt ist: "Herz Jesu, voll der Güte und Liebe, erbarme Dich unser !"

Und am dritten Tage fand eine Hochzeit zu Kana in Galiläa statt, und die Mutter Jesu war dort. Es ward aber auch Jesus samt seinen Jüngern zur Hochzeit geladen. Als nun der Wein ausging, sagt die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein. Und Jesus sagt zu ihr: Was habe ich mit dir zu tun, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter sagt zu den Dienern: Was immer er euch sagen mag, das tut!

Es waren aber dort sechs steinerne Wasserkrüge für die bei den Juden übliche Reinigung aufgestellt, die je zwei bis drei Maß fassten. Jesus sagt zu ihnen: Füllt die Krüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis oben hin. Dann sagt er zu ihnen: Schöpft jetzt und bringt es dem Tafelmeister! Sie brachten es ihm.

Als aber der Tafelmeister das zu Wein gewordene Wasser gekostet hatte - und er wusste nicht, woher es kam; die Diener jedoch, die das Wasser geschöpft hatten, wussten es -, ruft der Tafelmeister den Bräutigam und sagt zu ihm: Jedermann setzt zuerst den guten Wein vor und erst, wenn man trunken geworden, den geringeren; du hast den guten Wein bis jetzt aufgehoben.

So machte Jesus den Anfang seiner Wunderzeichen zu Kana in Galiläa und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn (Joh 2, 1-11).

Das erste Wunder unseres Herrn bei der Hochzeit zu Kana ist eines der drei Mysterien, die an Epiphanie gefeiert werden. Das Evangelium sagt: "Er offenbarte Seine Glorie und Seine Jünger glaubten an Ihn". Die Kirche sieht in diesem Wunder vor allem die Offenbarung der Gottheit Christi. Aber es ist zugleich auch eine Offenbarung der grenzenlosen Fülle Seiner göttlichen Liebe. Das erste Wunder Jesu war weder die Heilung eines Kranken, noch das Geschenk eines hohen natürlichen Gutes, etwa das des Augenlichtes für den Blindgeborenen, nicht einmal ein unerlässliches Gut wie bei der Brotvermehrung. Die Verwandlung von Wasser in Wein war weder für das Paar, noch für die Hochzeit als solche unerlässlich. Es diente nur der Erhöhung der Festesfreude. Dabei fehlte der Wein nicht völlig, nur seine Quantität war unzureichend. Göttlicher Überfluss ! Christus, unser Erlöser, der uns ständig ermahnt, nur das "Eine Notwendige" zu suchen, bezeugt ein solches Interesse daran, dass die Hochzeit in ungestörter Freude stattfinde und der Bräutigam nicht gedemütigt werde oder in Unruhe gerate, weil es nicht genug Wein gibt.

Göttliche, grenzenlose Fülle der Liebe! Welcher Abgrund trennt sie von dem harten Eifer mancher frommen Leute, die es nur dann der Mühe wert finden, sich um den Nächsten zu bemühen, wenn es sich um etwas handelt, das für sein ewiges Seelenheil bedeutsam, oder zumindest ein elementares, unerlässliches, natürliches Gut ist; ob es genügend Wein für eine Hochzeitsfeier gibt würde diese "frommen Seelen" als eine Nebensächlichkeit berühren, die ihre Aufmerksamkeit nicht verdient. Sie vergessen, dass die sublimen Worte des hl. Aloisius: "Was bedeutet dies für die Ewigkeit?", nur auf die eigene Person angewandt werden dürfen und nicht auf den Nächsten.

Gewiss, auch für den Nächsten gilt, dass sein ewiges Seelenheil uns nicht nur an erster Stelle beschäftigen, sondern auch in allen unseren Taten der Liebe eine Rolle spielen soll, insofern keine Wohltat dem andern gespendet werden dürfte, die sein ewiges Heil gefährden könnte. Aber die Sorge um das ewige Heil sollte den Strom der Liebe nie begrenzen. Viele fromme Menschen glauben irrtümlicherweise, die Frömmigkeit gebiete ihnen, ihr Interesse für das Wohlergehen ihres Nächsten auf Güter zu beschränken, die entweder dessen Seelenheil betreffen oder unentbehrlich sind für seine Existenz auf Erden. In ihrer Liebe findet sich ein Element von Härte und von utilitaristischer Trockenheit. Ein Abgrund trennt ihre puritanische, sparsame, berechnende moralistische Liebe von der Überfülle der Liebe Christi, die uns in dem Wunder bei der Hochzeit von Kana entgegentritt. Hier lebt diese göttliche Verschwendung, diese "Maßlosigkeit" der Liebe, die bis in die kleinsten Details hineinreicht. Es ist die göttliche Zartheit, die keine Gabe ausschließt, solange es ein objektives Gut für die Person ist - von den höchsten Gütern bis zu den bloß legitim angenehmen. Wahrlich, das Wunder von Kana gestattet uns einen Einblick in die Zartheit, Differenziertheit und Superabundanz (Überfülle) der Liebe Christi: Unser Herr würdigt sich, mit einem Wunder einzugreifen, damit genügend Wein bei der Hochzeitsfeier da sei. Diese Liebe unseres Herrn, in der wir ein Interesse für etwas finden, das eine unbedeutende Kleinigkeit scheinen mag, widerspricht seiner Anforderung, zuerst das "eine Notwendige" zu suchen, in keiner Weise. In Kana war Freude das Thema. Freude gehört zum Thema jedes Festes und besonders eines Hochzeitsfestes. Wein ist ein Symbol dieser freudigen Feier und darum erhielt die Frage, ob genügend Wein da sei, einen thematischen Charakter, obgleich der Wein nicht unerlässlich für die Feier war. In Situationen, in denen es sich um ein anderes Thema handelte, würde unser Herr diejenigen getadelt haben, die sich über eine solche Kleinigkeit Sorge machen.

Indem wir uns in die Überfülle dieser Liebe mit ihrer unerhörten Zartheit vertiefen, erschließt sich uns das Heiligste Herz Jesu mehr und mehr in seiner göttlichen Qualität. Herz Jesu, brennender Feuerherd der Liebe, erbarme Dich unser !

Jedes Wort, das Christus ausspricht, atmet eine übernatürliche, göttliche Atmosphäre. Wenn der Mensch mit seinem Geist zu Gott aufzusteigen versucht, muss er sich auf abstrakte Begriffe beschränken, sonst verfällt er notwendig in Anthropomorphismus. Die Welt Gottes ist uns nie in konkreter Form zugänglich, außer Gott spricht zu uns in der Offenbarung. Darum atmen die Parabeln Christi, auch wenn Er Vergleiche aus der menschlichen Sphäre verwendet, die wohlbekannte klassische Elemente unseres Lebens enthalten, die glorreiche Atmosphäre Gottes. Sie stellen die äußerste Antithese zu allem Anthropomorphismus dar. Die menschlichen, natürlichen Beispiele werden im Mund Christi durchsichtig für die Welt über uns. Wir spüren den Hauch der übernatürlichen Welt in ihrer ganzen lebendigen Wirklichkeit. Das göttliche Licht strahlt in unseren Geist, wenn wir Seine Worte hören. Es ist eine Analogie zu der Epiphanie Gottes in der heiligen Menschheit Christi. Jedes Wort, jede Parabel hat in gewisser Weise teil an dem Mysterium des Wortes, das Fleisch geworden ist.

Das ist geradezu die Umkehr des Vorganges, dem wir im Anthropomorphismus begegnen, der Gott in menschliche Kategorien hinabzieht. Der Versuch des Menschen, konkret in die Welt Gottes aufzusteigen, endet nicht nur damit, dass wir in eine ganz irdische, endliche Welt, sondern in eine verbogene irdische Welt, in eine deprimierende Endlichkeit zurückgeworfen werden.

Die Erde, solange sie in ihrer Endlichkeit gesehen wird, ist erfüllt mit Schönheit und Entzücken. Aber sobald man die irdischen Kategorien in das Absolute projiziert oder das Absolute in endliche Kategorien hineinpressen will, wird man in die Stickluft des Anthropomorphismus zurückgeworfen und man hat ein Gefühl, als ob einem der Hals zugeschnürt würde.

In den Parabeln Christi hingegen werden die bekannten menschlichen Situationen Fenster für die wahre himmlische Welt und lassen uns die geheimnisvolle Glorie der Dinge verkosten, die droben sind, von denen der hl. Paulus sagt: "Quae sursum sunt, sapite".

Er sprach weiterhin: Ein Mann hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sprach zum Vater: Vater, gib mir den Teil vom Vermögen, der mit zufällt! Da teilte er sein Besitztum unter sie. Und nicht viele Tage später packte der jüngere Sohn alles zusammen, ging fort in ein fernes Land, und vergeudete dort sein Vermögen in einem zügellosen Leben. Wie er nun alles durchgebracht hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und er fing an zu darben. Da ging er hin und trat bei einem Bürger jenes Landes in Dienst, und der schickte ihn auf seine Felder, Schweine zu hüten. Und er hätte sich gern den Magen mit den Schoten gefüllt, die die Schweine fraßen, aber niemand gab sie ihm. Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber gehe hier vor Hunger zugrunde! Ich will mich aufmachen, zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Halte mich wie einen deiner Tagelöhner! Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und wurde von Mitleid gerührt. Er lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Da sprach der Sohn zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Der Vater aber sprach zu seinen Knechten: Holt schnell das beste Gewand herbei und zieht es ihm an! Gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe an die Füße! Und holt das Mastkalb und schlachtet es! Wir wollen essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden. Und sie begannen froh zu feiern.

Sein älterer Sohn aber war auf dem Feld. Und als er heimkam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz. Da rief er einen von den Dienern und erkundigte sich, was das bedeuten solle. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb geschlachtet, weil er ihn gesund wieder erhalten hat. Da wurde er zornig und weigerte sich, hineinzugehen. Sein Vater aber kam heraus und bat ihn darum. Er aber gab dem Vater zur Antwort: Siehe, so viele Jahre diene ich dir, und niemals habe ich dein Gebot übertreten, und mir hast du niemals ein Böcklein geschenkt, dass ich mit meinen Freunden feiere. Jetzt aber, da dieser dein Sohn, der dein Gut mit Dirnen verprasst hat, gekommen ist, hast du ihm das Mastkalb geschlachtet! Er aber sprach zu ihm: Kind, du bist allzeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Wir mussten aber feiern und fröhlich sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden (Lk 15, 11-32).

In dem Gleichnis vom verlorenen Sohn leuchtet das Mysterium der Barmherzigkeit auf. Unsere Seelen werden vom Hauch des göttlichen Erbarmens berührt. Dieser sieghafte, erlösende Strom der Barmherzigkeit Gottes lässt alle natürlichen Begriffe von Gerechtigkeit weit hinter sich. Aber auch das einzigartige Wesen und die unvergleichliche Bedeutung der Reue erstrahlt in diesem Gleichnis. Wahrlich die Worte des Vaters: "Denn dieser mein Sohn war tot und lebt nun wieder", erschließen die Auferstehung der Seele, die in der Reue stattfindet. Der Vergleich der zwei Brüder - des reuigen Sünders und des "Gerechten" zeigt uns die geheimnisvolle Tiefe, in welche die Reue hineinführt. Bei dem einen finden wir die tiefe Begegnung mit Gott, die sich in der Reue vollzieht, die innere Befreiung, den einzigartigen Durchbruch; bei dem anderen die Begrenzheit und Enge des Gerechten, der sich für einen nützlichen und guten Knecht Gottes hält. Die Worte des verlorenen Sohnes: "Ich bin nicht länger würdig, dein Sohn zu heißen, halte mich wie einen deiner Tagelöhner", offenbaren die Demut, die in der echten Reue enthalten ist.

Göttliche Barmherzigkeit und Reue des Menschen gehören in geheimnisvoller Weise zusammen. In der wahren Reue finden wir einen Abglanz und eine innere qualitative Affinität zur göttlichen Barmherzigkeit. Denn, wenn auch Reue wesenhaft ein Akt der menschlichen Person ist, so ist sie doch nur möglich als eine Antwort auf Gott, nur möglich in der Seele des Menschen, die von Gott berührt wird. Wahre Reue appelliert an Gottes Barmherzigkeit. Der reuige Sünder ist sich zwar klar, dass er keine Barmherzigkeit verdient, dass er sich demütigen muss, aber trotzdem ruft er Gottes Barmherzigkeit an. "Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner im Haus meines Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber sterbe hier vor Hunger. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor Dir".

Aber die Barmherzigkeit des Vaters eilt sogar der Äußerung der Reue des verlorenen Sohnes, seiner Bitte um Verzeihung, voraus. Als er ihn in der Ferne kommen sah, ging er ihm entgegen, um ihn in seine liebenden Arme aufzunehmen. Weit davon entfernt, dem Sohn nur das zu gewähren, was dieser von ihm erbittet, nimmt er ihn als seinen geliebten Sohn auf und schlachtet ein gemästetes Kalb, um das große Fest seiner Bekehrung zu feiern. Wir hören die Antwort, die er dem älteren Sohn gibt: "Denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden!" Die Glorie des evangelion, der frohen Botschaft umfängt uns. Die göttliche Barmherzigkeit hebt unsere Seelen empor, der unerschöpfliche Reichtum des Gleichnisses vom verlorenen Sohn taucht uns in das Mysterium der Erlösung. Und dieses Gleichnis atmet auch den Hauch einer neuen, verklärten Affektivität, der heiligen Affektivität, die im Herzen Jesu wohnt.

Herz Jesu, Sehnsucht der ewigen Hügel, erbarme Dich unser !

Einer von den Pharisäern aber bat ihn, mit ihm zu essen. Und er ging in das Haus des Pharisäers und begab sich zu Tisch. Und siehe, da kam eine Frau, die in der Stadt als Sünderin lebte. Als sie erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers bei Tisch sei, nahm sie ein Alabastergefäß mit Salböl und trat nun von rückwärts an seine Füße heran und weinte. Mit ihren Tränen begann sie seine Füße zu benetzen und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes ab, küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl. Wie nun der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, sprach er bei sich selbst: Wenn der ein Prophet wäre, wüsste er, wer und welcher Art die Frau ist, die ihn berührt, dass sie eine Sünderin ist. Und Jesus nahm das Wort und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er sagte: Meister, sprich: Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Der eine schuldete ihm fünfhundert Denare, der andere fünfzig. Da sie nicht zahlen konnten, schenkte er beiden ihre Schuld. Wer von diesen wird ihn nun mehr lieben? Simon antwortete: Ich nehme an: der, dem er mehr geschenkt hat. Er sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. Und der Frau sich zuwendend, sprach er zu Simon: Du siehst diese Frau da! Ich kam in dein Haus: du hast mir kein Wasser auf die Füße gegeben, sie aber hat mit ihren Tränen meine Füße benetzt und mit ihren Haaren sie abgetrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben, sie aber hat, seit ich eintrat, nicht aufgehört meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt, sie aber hat mit Salböl meine Füße gesalbt. Eben darum sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, weil sie viel geliebt hat. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt auch wenig. Dann sprach er zu ihr: Deine Sünden sind vergeben. Da begannen die Tischgenossen bei sich zu sprechen: Wer ist dieser, der sogar Sünden vergibt? Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dich gerettet. Geh hin in Frieden! (Lk 7, 36-50).

Gottes Barmherzigkeit ist die Quelle all unserer Hoffnung. Wir leben von Seinem Erbarmen. Schon das ganze Alte Testament ist durchsetzt mit dem Appell an dieses und mit dem Glauben, dass Gott dem reuigen Sünder seine Gnade nicht versagen, dass Er seine Seele wieder aufrichten wird.

Erbarme Dich meiner, o Gott, nach Deiner großen Barmherzigkeit. Besprenge mich mit Hyssop und ich werde rein.

Aber was als Hoffnung im Alten Testament lebt, findet seine Erfüllung in Christus. Christus ist die menschgewordene Barmherzigkeit. In seiner Haltung zu Maria Magdalena erstrahlt die ganze Glorie der unendlichen Barmherzigkeit Gottes. Das Drama des gefallenen Menschen vor dem unendlich heiligen Gott entfaltet sich vor unserem Geist. Die Reue Maria Magdaleneas ist das Urbild aller wahren, brennenden Reue. Und alles, mit dem sie ihrer Reue Ausdruck verleiht, atmet ihre glühende Liebe zu Jesus. Jesus weist auf diese Äußerungen der Reue hin als Zeichen für den Grad ihrer Liebe zu Ihm. Wir hören die beseligenden Worte von unergründlicher Tiefe, in denen der Primat der Liebe vor allem anderen erstrahlt: "Ihre Sünden sind ihr vergeben, weil sie viel geliebt hat". Es ist das große Gastmahl göttlicher Barmherzigkeit, das Schauspiel der göttlichen Liebe, die zu uns herabsteigt. Die unsagbare Heiligkeit, die menschgewordene Reinheit nimmt die zärtlichen Äußerungen der überströmenden Liebe des demütigen, reuigen Sünders liebend an. Jesus, derselbe, der in heiligem Zorn die Geldwechsler aus dem Tempel treibt, derselbe, der unerbittlich die Heuchelei der Pharisäer entlarvt, erlaubt der reuigen Sünderin, ihn zu berühren, seine Füße zu küssen. Und mit den Worten: "Dein Glaube hat dich gerettet, gehe in Frieden", entlässt er sie in wiedererstandener Reinheit, erfüllt mit dem neuen Leben der Gnade.

In den Worten "weil sie viel geliebt hat" werden die Rolle des Herzens und seine Würde in glorreicher Weise enthüllt. Denn wahrlich, in allen Bezeugungen der liebenden Reue und reuigen Liebe Maria Magdalenas vernehmen wir die Stimme ihres Herzens. Aber vor allem gestatten uns die Worte des Herrn, Seine Sanftmut, Seine Milde, Seine Barmherzigkeit gegenüber Maria Magdalena, einen Blick in das Mysterium Seines heiligsten Herzens. Herz Jesu, Quell des Lebens und der Heiligkeit, erbarme Dich unser !

Jesus aber begab sich auf den Ölberg. In der Frühe ging er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm; da setzte er sich und lehrte sie. Die Schriftgelehrten aber und die Pharisäer bringen eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war, stellen sie in die Mitte und sagen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt worden. In dem Gesetz aber hat uns Moses geboten, solche zu steinigen; was sagst du denn dazu? Das sagten sie aber nur, um ihn zu versuchen, damit sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie jedoch immer weiter fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als erster einen Stein auf sie. Dann bückte er sich wieder nieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das gehört hatten, gingen sie weg, einer nach dem anderen, angefangen von den Ältesten; und er blieb allein zurück und die Frau, die in der Mitte stand. Da richtete sich Jesus auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat keiner dich verurteilt? Sie sagte: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht; geh, von jetzt an sündige nicht mehr! (Joh 8, 1-11).

Wieder strahlt die göttliche Barmherzigkeit in unseren Geist und wieder werden unsere Herzen von dem Hauch des unergründlichen Mysteriums der Barmherzigkeit berührt, die uns in der Haltung Jesu zu Maria Magdalena begegnete. Aber hier erreicht sie noch eine neue Dimension. Maria Magdalena nahte dem Herrn voller Reue und anbetender Liebe. Sie wusch Seine Füße mit ihren Tränen und trocknete sie mit ihren Haaren. Die Ehebrecherin hingegen wurde mit Gewalt vor den Herrn gebracht. Sie steht gedemütigt in ihrer ganzen Schwachheit vor Christus. Das Evangelium sagt nichts von ihrer Reue; die Barmherzigkeit Jesu eilt der Reue voraus. Als sie der unendlichen Reinheit und geheimnisvollen, Ehrfurcht gebietenden Heiligkeit Jesu gegenübersteht, wird ihr Herz von Seiner Barmherzigkeit aufgeschmolzen. Ein neues Leben erblüht in ihrer Seele.

Hier ereignet sich die unerhörte Konfrontierung des Sünders mit Christus. Christus wendet sich anfangs nicht an sie. Er entwaffnet erst ihre pharisäischen Richter mit den Worten: "Wer aus euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie."

Dieses Wort ertönt durch alle Jahrhunderte und Äonen bis zum Ende der Welt und erweckt unser Gewissen, sobald wir versucht sind, unseren Nächsten zu richten. Jesus verharrt im Schweigen, während diejenigen, die sie verurteilen wollten, sich einer nach dem anderen entfernen. Aber in diesem Schweigen ist eine Welt von Barmherzigkeit, Sanftmut und Liebe gegenwärtig. Es ist das Mysterium der Sünde des Menschen und Gottes unendlicher Heiligkeit, das Drama der Begegnung der Reue des Menschen mit Gottes vorauseilender Barmherzigkeit. Christus schreibt in den Sand. Er blickt sie nicht direkt an. Die Begegnung als solche genügt, um das Herz der gedemütigten und beschämten Sünderin zu schmelzen. Indem Christus sich nicht gleich an sie wendet, ja sie nicht einmal direkt anblickt, lässt Er ihr Zeit, gestattet, ohne sie noch mehr zu demütigen, dass der Prozess ihrer Bekehrung sich vollzieht. Das erste Wort, das Er nach diesem heiligen Schweigen an sie richtet, ist eine Frage: "Hat niemand dich verurteilt?" Diese Frage offenbart uns wieder Seine unerschöpfliche Barmherzigkeit. Die milde Vergebung des Herrn, des ewigen Richters, dessen, der allein verurteilen und vergeben kann, ist gleichsam verhüllt in der Frage, ob die, die in Wahrheit kein Recht hatten, sie zu verurteilen, es getan haben; und als sie antwortet: "Niemand, o Herr", antwortet Jesu: "Dann will auch Ich dich nicht verurteilen!" Die Vergebung wird hier mit einer heiligen "Diskretio" gewährt. Erst am Ende ergeht eine Aufforderung an sie, in den selige Hoffnung spendenden Worten: "Geh deines Weges! Und von nun an sündige nicht mehr!" Worte, die sich auf die Zukunft, auf das neue Leben des bekehrten Sünders, der auferstandenen Seele, beziehen. Wahrlich, vor dieser überwältigenden Barmherzigkeit, dieser zarten Schonung, dieser göttlichen Geduld, die im Herzen Jesu leben, müssen wir auf unsere Knie sinken und beten: "Herz Jesu, geduldig und voller Barmherzigkeit, erbarme Dich unser !"

Da trat Petrus heran und sprach zu ihm: Herr! Wie oft soll ich meinem Bruder verzeihen, wenn er sich gegen mich verfehlt? Bis siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: "Nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal" (Mt 18, 21-22).

Diese Worte erheben uns wieder in die "neue Welt" Christi. Vor uns leuchtet der Geist unbegrenzten Verzeihens auf, der von allen bloß natürlichen Tendenzen so verschieden ist. Verzeihen hat eine tiefe Verwandtschaft mit Barmherzigkeit und doch ist es eindeutig von ihr verschieden. Barmherzigkeit ist in ihrem ursprünglichen, buchstäblichen Sinn primär eine göttliche Tugend. Der Mensch vermag nur in einem analogen Sinn barmherzig zu sein. Christus, der Sohn Gottes, ist barmherzig im ursprünglichen Sinn des Wortes, in dem wir nie barmherzig sein können. In Christus fließen Barmherzigkeit und Verzeihen ineinander. Dieses ist ein Ausfluss der göttlichen Barmherzigkeit, das uns im Vergeben der Sünden der Maria Magdalena und der Ehebrecherin entgegentrat.

Aber göttliches Vergeben und menschliches Verzeihen unterscheiden sich noch viel tiefer als göttliche und menschliche Barmherzigkeit. Göttliches Vergeben bezieht sich auf die Sünde, das heißt auf das sittliche Übel als solches, menschliches Verzeihen hingegen nur auf das objektive Übel, das uns angetan wurde. Indem wir ein Unrecht, das uns zugefügt wurde, verzeihen, lösen wir alle Bitterkeit gegenüber dem Menschen auf, der uns verletzte. Wir brechen zu einer liebevollen Haltung ihm gegenüber durch. Aber wir sind uns dabei völlig klar, dass unser Verzeihen sich in keiner Weise auf das moralische Übel bezieht, welches das Unrecht gegen uns einschließt. Die objektive Disharmonie, die durch die Sünde entstanden ist, kann durch unser Verzeihen nicht aufgelöst werden. Dies kann nur durch Gottes Vergeben geschehen. Darum sagen die Pharisäer: "Wer ist dieser Mensch, dass er Sünden vergibt?"

Während göttliches Vergeben und göttliche Barmherzigkeit in Christus ineinander verflochten sind, sind im Menschen Verzeihen und Barmherzigkeit trotz ihrer Verwandtschaft zwei verschiedene Haltungen. Barmherzigkeit veranlasst uns, auf ein Recht zu verzichten, das wir jemand gegenüber haben. Der unbarmherzige Knecht will sein Recht nicht aufgeben, das er dem anderen Knecht gegenüber besitzt. Verzeihen hingegen bezieht sich auf ein Unrecht, das uns zugefügt wurde. Das Gegenteil von Verzeihen ist Rache, das Gegenteil von Barmherzigkeit ist ein Bestehen auf unserem Recht oder unserer Forderung, selbst wenn sie zutiefst lieblos ist. Shylock weigert sich, barmherzig zu sein. In der Barmherzigkeit erlassen wir jemand seine Schuld, wir befreien ihn in Liebe von einer Verpflichtung uns gegenüber. Ebenso ist es Barmherzigkeit, wenn jemand, der die Autorität besitzt, eine Strafe zu verhängen, einen Schuldigen begnadigt. Barmherzigkeit veranlasst auch den, der sich in der stärkeren moralischen Position befindet oder sonst irgendwie überlegen ist, keinen Gebrauch gegenüber dem Schwächeren davon zu machen.

Verzeihen hingegen bezieht sich auf unsere innere Haltung dem gegenüber, der uns verletzt. Jeder Groll, jedes Verlangen sich zu rächen, jede Bitterkeit und Feindschaft werden im Verzeihen aufgelöst. Wir streichen das Schuldkonto in unserer Seele aus, auf dem das Unrecht des anderen gegen uns sorgfältig gebucht war, und verzichten auf jede Vergeltung.

So sehen wir: obgleich Verzeihen und Barmherzigkeit zutiefst zusammenhängen, ist das Verzeihen eine besondere Differenzierung, eine Frucht des einen unendlichen Stromes, der die Mitte der gesamten übernatürlichen Sittlichkeit bildet.

Wieder tritt uns der Kontrast zwischen den Maßstäben des Menschen und denen des Gottmenschen Christus entgegen. Petrus nimmt Christi Gebot, zu verzeihen, mit Ehrfurcht und Liebe auf. In seiner glutvollen Bereitschaft, dem Meister zu gehorchen und in seinem Verlangen, genau zu erfahren, wie er dieses Gebot befolgen soll, sagt er: "Herr, wie oft soll ich meinem Bruder verzeihen? Bis siebenmal?" Trotz all seiner Bereitschaft und seiner brennenden Sehnsucht, die Gebote Christi zu befolgen, trotz seiner Ergebenheit für Christus, verrät doch seine Frage noch die Begrenztheit der menschlichen Natur. Es ist Petrus vor Pfingsten. Und auf dem Hintergrund dieses noch bedingten, eingeschränkten Verzeihens erstrahlt die Antwort Jesu: "Ich sage nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal." Wieder sehen wir, wie das Feuer, das zu bringen Christus auf die Erde gekommen ist, alle Hindernisse und Begrenzungen zerstört. Wir werden hier Zeugen des Einbruches göttlicher Unbedingtheit und Überfülle in die Begrenztheit der Welt. Wir spüren den Hauch des Heiligen Geistes und erneut entfaltet sich die Glorie der heiligen Menschheit Christi vor unserem geistlichen Auge. "Nicht sieben, sondern siebzigmal sieben!", sind Worte des Erlösers, erlösende Worte, erfüllt mit dem Strom unendlicher Liebe. Es ist die Stimme Seines heiligsten Herzens.

Herz Jesu, Zelt des Allerhöchsten, erbarme Dich unser !

Da trat die Mutter der Söhne des Zebedäus mit ihren Söhnen zu ihm, fiel vor ihm nieder und wollte ihn um etwas bitten. Er sprach zu ihr: Was willst du? Sie sagte zu ihm: Sprich, dass diese meine beiden Söhne, einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deinem Reiche sitzen sollen. Jesus erwiderte: Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Sie antworteten ihm: Wir können es. Da sprach er zu ihnen: Meinen Kelch werdet ihr zwar trinken, das Sitzen aber zu meiner Rechten oder zur Linken zu vergeben steht nicht bei mir, sondern es kommt denen zu, denen es von meinem Vater bereitet ist (Mt 20, 20-23).

Die Bitte der Mutter des Johannes und Jakobus zeigt deutlich, dass die Liebe zu ihren Söhnen mit mütterlichem Ehrgeiz durchsetzt war. Wir haben es mit dem Erguss eines Herzens zu tun, das von naivem Egoismus nicht frei ist. Aber Jesus weist sie nicht ab, tadelt sie nicht. In unerhörter Milde antwortet Er: "Ihr wisst nicht, um was ihr bittet." Sogar die Apostel Johannes und Jakobus legen eine naive Übertragung irdischer Kategorien und Maßstäbe in das Reich Gottes an den Tag. Ohne die volle Bedeutung des Kelches zu verstehen, in einer Mischung von Eifer und rührender Bereitschaft einerseits, Ehrgeiz und Selbstsicherheit andererseits, schließen sie sich der Bitte ihrer Mutter an. Aber auch sie tadelt Jesus nicht. Er begnügt sich damit, die Unangemessenheit ihrer Bitte aufzuzeigen.

Die Bitte der Mutter und ihrer beiden Söhne erregt den Zorn der übrigen Apostel. Es ist verständlich, dass sie Ärgernis daran nehmen. Aber ihr Zorn ist auch nicht frei von Ehrgeiz. Sie nehmen nicht nur Ärgernis an der Unangemessenheit der Bitte, sondern sie empören sich vor allem über die Anmaßung der Söhne des Zebedäus und besonders darüber, dass ihre Mutter einen Vorrang für sie in Anspruch nimmt. Die Art ihres Protestes verrät, dass auch sie die Maßstäbe irdischen Glanzes noch nicht ganz überwunden haben.

Doch wiederum, anstatt sie wegen ihres Ärgers zu tadeln, statt sie zu demütigen, offenbart ihnen Christus das neue Gesetz der übernatürlichen Glorie und die wahre Größe der Demut. Wahrhaft, diese göttliche Milde, diese Sanftmut gegenüber Seinen Jüngern gewährt uns einen erneuten Einblick in die heilige Affektivität, die im Heiligsten Herzen Jesu wohnt. Wir fallen auf unsere Knie und beten Ihn an.

Herz Jesu, Haus Gottes und Pforte des Himmels, erbarme Dich unser !

Er sprach aber zu einigen, die voll Vertrauen auf ihre eigene Gerechtigkeit waren und die übrigen verachteten, folgendes Gleichnis: Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und betete bei sich: O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Räuber, Übeltäter, Ehebrecher, oder auch wie der Zöllner dort. Ich faste zweimal in einer Woche, gebe den Zehnten von allem, was ich erwerbe. Der Zöllner aber, weit entfernt stehend, wollte nicht einmal die Augen zum Himmel erheben, sondern schlug an seine Brust und sprach: O Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt nach Hause, jener aber nicht. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden (Lk 18, 9-14).

In dieser Parabel tritt uns eine neue Sittlichkeit entgegen. Christus offenbart das Mysterium der Demut in ihrer ganzen sieghaften Schönheit. Der Sünder, der sich verdemütigt, verlässt gerechtfertigt den Tempel, der hochmütige "Gerechte", der sich erhöht, kehrt ungerechtfertigt zurück. Ohne Demut nützt dem Pharisäer seine ganze Korrektheit, seine Gesetzestreue nichts. Aber die Macht und der Wert der Demut sind solcher Art, dass sie aus sich heraus fähig sind, den Sünder zu rechtfertigen. In dieser Parabel begegnen wir erneut dem unverkennbaren Siegel der Welt über uns. Alle natürlichen Maßstäbe versinken vor den ewigen Worten "Wer sich erhöht, wird erniedrigt, und wer sich erniedrigt, wird erhöht werden."

Diese Worte im Mund Jesu atmen die erlösende Heiligkeit, verkörpern den Einbruch des göttlichen Lichtes in diese Welt. Wahrhaft, wenn wir diese Worte hören, ist es nicht nur Phase des Herrn, es ist das Einströmen Seiner heiligen Wahrheit in diese Welt. Wen das Mysterium der Demut nicht erschüttert, wer nicht versteht, dass die Welt nach dieser Parabel eine neue, eine andere geworden ist, dem ist das Lumen Christi nicht wirklich aufgeleuchtet. Wer die geistige Revolution, die in diesem Wort enthalten ist, nicht erfasst, eine Revolution von oben, die durch die göttliche Offenbarung bewirkt wurde, hat die göttliche Frohbotschaft nicht verstanden. Der Mensch, in dessen Seele diese Worte nicht wie ein Schwert eindringen, dessen Schau der Welt und seiner selbst nicht umgestürzt, nicht gänzlich verändert wird, hat diese Parabel nicht erfasst. Sie erschließt uns die Höhe, Breite und Tiefe der Demut und zieht uns in den Bann des heiligsten Herzens Jesu. Indem Jesus uns in das Mysterium der Demut eintaucht, erschließt sich uns auch die unendliche Heiligkeit, die in dem Herzen des Gottmenschen wohnt, der gesagt hat: "Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen!"

Er trug nun den Geladenen ein Gleichnis vor, da er bemerkte, wie sie sich die ersten Plätze aussuchten. Er sprach zu ihnen: Wenn du von jemand zu einem Hochzeitsmahl eingeladen bist, so setze dich nicht auf den ersten Platz! Es könnte ein Vornehmerer als du von ihm eingeladen sein, und der dich und ihn eingeladen hat, könnte dann kommen und dir sagen: Mach diesem Platz! Und dann müsstest du dich beschämt auf den letzten Platz begeben. Nein, wenn du geladen bist, begib dich auf den letzten Platz, auf dass, wenn er kommt, der dich geladen hat, er dir sage: Freund rücke weiter herauf! Das wird dir dann zur Ehre sein vor all deinen Tischgenossen. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden (Lk 14, 7-11).

Das Thema dieses Gleichnisses ist wieder das glorreiche Mysterium der Demut. Es ist nicht die Bescheidenheit desjenigen, der wenig von sich hält und der darum resigniert im Hintergrund bleibt. So anziehend die Bescheidenheit sein mag, so ist sie doch eine rein natürliche Tugend. Bescheidene Menschen gibt es auch unter Heiden. Bescheidenheit ist die Frucht einer heilsamen Distanz uns selbst gegenüber, die einen Menschen instand setzt, seine Grenzen sowie die Überlegenheit anderer, zu erkennen. Der Bescheidene verdient sicher Lob, aber es ist nicht diese natürliche Tugend, der Christus Erhöhung verspricht. Erhöhung verspricht Er dem Demütigen. Es ist die glorreiche Tugend der Demut, die den Gast veranlasst, den letzten Sitz einzunehmen.

Dieses Gleichnis erschließt uns den geheimnisvollen Aspekt der Demut, der darin besteht, dass wir uns noch unterhalb des Niveaus stellen, auf dem wir natürlicherweise stehen. Es ist die Demut eines heiligen Franziskus, die ihn, den Sohn eines reichen Kaufmanns veranlasst, ein Bettler zu werden. Es ist die Dimension der Demut, die eine ferne Analogie besitzt zu dem großen Mysterium der Herablassung des Gottmenschen selbst, zu Seiner göttlichen Demut. Wir hören des Herrn beseligende Worte, die liebende Erhöhung: "Freund, rücke weiter hinauf", in denen die Barmherzigkeit Gottes und Seine Liebe zur Demut offenbar werden. Wahrhaft, dieselben Worte "Wer sich erhöht, wird gedemütigt werden, wer sich demütigt, wird erhöht werden", in denen die fundamentale Bedeutung der Demut dargelegt ist, haben hier noch einen neuen Inhalt, weil sie eine neue Dimension ihres Wesens offenbaren. Wieder sind wir emporgehoben in das "Reich der Heiligkeit und Gnade" (Regnum sanctitatis et gratiae) und atmen den Hauch der Erlösung. Indem sich die neue Dimension der Demut unserem Geist erschließt, die ein Abglanz des Mysteriums der göttlichen Demut Jesu ist, ahnen wir mehr und mehr die göttliche Fülle, die im heiligsten Herzen lebt.

Herz Jesu, Heil derer, die auf Dich hoffen, erbarme Dich unser.

Jesus rief sie darum zu sich und sprach: "Ihr wisst, die Herrscher gebieten über ihre Völker und die Großen lassen sie ihre Macht fühlen. Unter euch soll es nicht so sein. Wer vielmehr unter euch groß sein will, der sei euer Knecht, und wer unter euch der Erste sein will, sei euer Sklave. So ist auch der Menschensohn nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und Sein Leben hinzugeben als Lösepreis für viele" (Mt 20, 25-28).

Diese Worte entthronen alle natürlichen Kategorien von Ehre, Ruhm und Herrschaft. Während die Worte: "Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden", sich auf jeden Menschen beziehen, offenbaren uns die Worte: "Wer der Erste unter euch sein will, sei euer Knecht", die Haltung, die der Mensch einnehmen soll, der berufen ist, andern vorzustehen. Aber dieses Dienen ist nicht etwa ein Mittel, um eine Herrschaftsstellung im Sinne der Heiden zu erlangen. Es ist eine ganze neue Auffassung von Herrschaft, deren Seele das Dienen ist. Derjenige, den Gott zur Führung, zum Befehlen, bestimmt, der die erste Stelle einnehmen soll, muss vor allem den anderen dienen. Das ist das Gesetz des Neuen Testaments. In ihm tritt der Gegensatz zwischen der Welt und ihren Gesetzen und dem Reich Gottes deutlich zutage, der Abgrund, der die zwei Civitates (Städte) des heiligen Augstinus, die himmlische und die irdische von einander trennt. Aber dieses Gesetz des Neuen Testaments ist nicht nur die Antithese zu der Welt im Sinne der Heiligen Schrift, es entthront auch alle gültigen, aber rein natürlichen Kategorien, indem es sie glorreich überschreitet. Der geheimnisvolle, befreiende Hauch des übernatürlichen umweht uns, während wir diese Worte hören.

Doch wenn Christus sagt: "So ist auch der Menschensohn nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen", so stehen wir nicht nur vor dem Gesetz des Neuen Testaments, sondern vor dem Mysterium der Menschwerdung selbst. Diese Worte spricht der Gottmensch Christus, derselbe Herr, der gesagt hat: "Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden." Das Mysterium der göttlichen Liebe und der göttlichen Demut leuchten auf vor unserem Geist. Dienen ist ein Ausfluss der Liebe und der Demut. In den Worten "Der Menschensohn ist gekommen, sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele", erreichen die göttliche Liebe und göttliche Demut, die das Mysterium der Erlösung verkörpert, ihren höchsten Ausdruck. Und da Christus von Sich selbst spricht, ist uns dabei ein noch unmittelbarerer Einblick in Sein Heiligstes Herz gewährt.

Herz Jesu, Wohlgefallen des Vaters, erbarme Dich unser.

Noch einmal sage ich euch: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als ein Reicher in das Himmelreich (Mt 19, 24).

Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Dirnen werden eher in das Reich Gottes eingehen als ihr (Mt 21,31).

Darum, wenn dein rechtes Auge dir Anlass zur Sünde gibt, so reiß es aus und wirf es von dir (Mt 5, 29).

Ich aber sage euch: Widersteht nicht dem Bösen! Vielmehr, wenn einer dich auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin! (Mt 5, 39).

Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Sohn zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter (Mt 10, 34-35).

Die Furcht erregende Stärke dieser Worte ist ein Abglanz der göttlichen Unbegrenztheit. Es wäre ein tiefgehendes Missverständnis, wollte man in diesen Worten Christi den bloßen Ausdruck einer natürlichen Emphase sehen, wie sie etwa in einem leidenschaftlichen Tadel liegt. Dieser natürliche Nachdruck hat immer den Charakter einer vorübergehenden, momentanen Erregung. Die erschütternde Strenge und Unbedingheit, die in diesen Worten Christi liegt, ist weder das Resultat einer augenblicklichen Erregung, noch hat sie in ihrer Qualität und Natur irgendetwas mit nur natürlicher Grenzenlosigkeit gemein.

Doch es kommt vor allem darauf an, den Kontrast zwischen der göttlichen Unbegrenztheit und der natürlichen Grenzenlosigkeit zu erkennen, die das Ideal des prometheischen Typus darstellt. In der Literatur und im Leben stoßen wir oft auf dieses Ethos. Prometheische Menschen verbinden mit ihrer Abneigung gegen alle Begrenztheit auch eine Verachtung für den großen Wert des Maßes. Sie sehen in jedem Maßhalten sogar ein Element des Pharisäerturns. Sie lieben die Grenzenlosigkeit um ihrer selbst willen. Sie preisen eine heroische, moralische Haltung nicht wegen ihres sittlichen Wertes, sondern wegen ihres heroischen Charakters. Die Unbegrenztheit, die in diesen Worten Christi vor uns steht, bildet hingegen keinen Gegensatz zu dem wahren Wert des Maßes. Sie enthält "per eminentiam" alle Werte des wahren Maßhaltens, aber sie geht unendlich über diese hinaus. Im Gegensatz zu der natürlichen Grenzenlosigkeit lebt sie nicht von dem Feuer, das dem dionysischen Dynamismus oder dem prometheischen Exzess eigen ist. Sie ist nicht eine überdimensionierte natürliche Affektivität. Alle natürliche Grenzenlosigkeit scheint ja nur unermesslich, unbegrenzt dadurch, dass sie in ihrer Dynamik jedes Messen unmöglich macht und in ihrem überfließen etwas Unbestimmtes hat. Dieser unbestimmte Dynamismus ist aber in Wahrheit typisch begrenzt. Es ist ein Versuch, Unbegrenztheit durch bloße Quantität zu erreichen.

Die göttliche Unbegrenztheit in den Worten Christi hingegen ist weder rein dynamisch noch unbestimmt. Der letzte Ernst der Sünde, der Beleidigung Gottes, die letzte Bedeutung der Berufung des Menschen und seiner Heiligung finden in diesem Ethos ihren Ausdruck. Es ist die unbegrenzte Tragweite des Gehorsams gegenüber Gott, der Verherrlichung Gottes, der Erlösung, die uns Christus darbietet.

Das in diesen Worten liegende Ethos ist grenzenlos, weil die Dinge Gottes unbegrenzt sind. Es ist ein Teil der Unendlichkeit Gottes, Seiner unendlichen Liebe, Seiner unendlichen Barmherzigkeit, Seiner unendlichen Heiligkeit. Die natürlichen Dimensionen sind mit dem Einbruch des göttlichen Feuers unendlich überschritten. Dieser heroische Überfluss, den wir bei jedem der Heiligen finden, ist nur möglich in Christus. Jeder Versuch, Unbegrenztheit auf natürlicher Ebene, das heißt aus der reinen Natur zu erreichen, muss notwendigerweise scheitern.

Die Unbegrenztheit dieser Affektivität, dieses Ärgernis für die Verehrer des Maßes, ist für unsere Natur ein Schwert, das Geist und Seele trennt. Aber gerade diese Tatsache offenbart uns die glorreiche Überfülle, die siegreich alle Kategorien hinter sich lässt und unsere Seelen mit dem Hauch der Unendlichkeit berauscht.

Diese ganze hinreißende Unbegrenztheit ist mit heiliger Nüchternheit durchsetzt, es ist die Sobrietät, von der die Liturgie singt: "voll Freude trinken wir die nüchterne Trunkenheit des Heiligen Geistes".

Diese Superabundanz der Affektivität Christi, Seine Liebe ohne Maß, Seine unbegrenzte Demut, Seine unerschöpfliche Barmherzigkeit, Seine glorreiche, göttliche Majestät, sie alle offenbaren den Pulsschlag des göttlichen Herzens.

Herz Jesu, Abgrund aller Tugenden, erbarme Dich unser !

2. KAPITEL: DAS MYSTERIUM DES HEILIGSTEN HERZENS

Wir vertieften uns in sehr verschiedene Stellen des Evangeliums und versuchten, die unerschöpfliche Fülle im Heiligsten Herzen Jesu zu entdecken und die Qualität Seiner heiligsten Affektivität zu erahnen. Jetzt wollen wir uns in die Stellen des Evangeliums versenken, in denen der Herr Sein Herz direkt zu öffnen scheint, diese sublimen Stellen, die uns einen Einblick in das heiligste und intimste Geheimnis gewähren. Wir dürfen einen Blick tun in die Wunden, welche die Untreue Seiner Jünger, die Blindheit Jerusalems und Seines auserwählten Volkes in Seinem Herzen schlagen. Wir werden gewürdigt, Seine zärtliche Liebe für Seine Jünger, Seinen Ausblick auf das Kreuzesopfer, Seine Ängste, Seine Verlassenheit zu ahnen. Es ist uns sogar vergönnt, in ein noch viel intimeres Geheimnis Seines Herzens zu blicken: die Regungen Seines Herzens, die Seinem himmlischen Vater gelten, Seine Hingabe an Gott, Sein höchstes Opfer, Seine unendliche Liebe.

Diese intimen Offenbarungen Seines Herzens sind gewiss ein besonderer Ausdruck der menschlichen Natur Christi und doch steht hier ein großes Geheimnis vor uns, dass sich gerade in dieser Kundgabe Seiner heiligen Menschheit Seine Gottheit in einer einzigartig intimen Weise offenbart. Es ist das Mysterium, das sich Sein Herz substantiell mit der zweiten Person der heiligsten Dreifaltigkeit vereint.

Wir versuchten im vorigen Kapitel, die heilige Affektivität, die im Herzen Jesu lebt, zu erahnen. Indem wir uns in die Epiphanie Gottes in der heiligen Menschheit Christi versenkten, versuchten wir, mehr und mehr in das Geheimnis des heiligsten Herzens Jesu einzudringen. Wenn wir uns jetzt auf solche Abschnitte des Evangeliums konzentrieren, in denen Jesus einen letzten Einblick in das Wesen Seines Heiligsten Herzens gewährt, so ist es vor allem die Wirklichkeit Seiner vollen menschlichen Natur, die sich uns erschließt. Es ist die Realität des "homo factus est" - und doch sind alle diese Äußerungen des Heiligsten Herzens gleichzeitig mit der Heiligkeit erfüllt, die diese auch zu einer Epiphanie Gottes macht. Die unsagbare qualitative Sublimität dieser Äußerungen Seines Herzens einerseits, wie ihr wahrhaft menschlicher Charakter anderseits, legen Zeugnis ab von dem Mysterium der Inkarnation. Es ist die geheimnisvolle Spannung, die der Menschwerdung eigen ist, die diesen Stellen des Evangeliums einen einzigartigen dramatischen Charakter verleiht. Wahrlich, wenn der Herr uns das Geheimnis Seines Herzens offenbart, Seine Verwundbarkeit, Sein Ungeschütztsein, Seine menschliche Liebe, können wir nicht anders als Ihn anbeten. Denn alle spezifisch menschlichen Züge sind ja nur eine Frucht, ein Ergebnis, ein Ausdruck Seiner unendlichen göttlichen Liebe und Seiner herablassenden göttlichen Demut. Je mehr Seine Menschlichkeit hervortritt (immer im Rahmen Seiner unaussprechlich heiligen Menschheit), um so glorreicher erstrahlt das Mysterium der unendlichen, göttlichen Liebe. Gerade in diesen Augenblicken, in denen das Geheimnis der Menschwerdung uns aufleuchtet, müssen wir in die Knie sinken und Ihn anbeten mit dem heiligen Apostel Thomas: "Mein Herr und mein Gott !"

Der Menschensohn wird in die Hände der Menschen überliefert werden, und sie werden ihn töten, aber am dritten Tage wird er auferweckt werden. Da wurden sie sehr betrübt (Mt 17, 22-23).

In allen Voraussagen der Passion findet sich ein Ton tiefen Schmerzes; Jesus erschließt Sein verwundbares, Sein liebendes Herz. Gewiss, jedes Mal wird mit der Voraussage der Passion stets auch die glorreiche Auferstehung verkündet. Und doch überwiegt in dem Zeitpunkt der Voraussage der sublime Schmerz und seine tragische Note. Denn die Glorie der Auferstehung wird gleichsam verdeckt durch das vorangehende Gethsemane und den Tod am Kreuz. Der Klang der Stimme verrät dieses überwiegen des Schmerzes.

In der überraschend strengen Zurückweisung des heiligen Petrus nach der ersten Voraussage tritt diese tragische Note klar hervor. "Da nahm Petrus ihn beiseite und fing an, es Ihm auszureden, indem er sprach: ,Fern sei es von Dir, Herr, dass Dir dies widerfahre.' Da wandte Er sich um und sprach: ,Geh weg von mir, du Satan, du bist Mir zum Ärgernis. Denn du denkst nicht an die Dinge Gottes, sondern an die der Menschen' " (Mt 16,22-23).

Die Worte Petri waren Worte der Liebe, der Hoffnung, dass diese Voraussage sich nie erfülle. Aber es steckte in dem Vorwurf, den er dem Herrn machte, auch der Wunsch, kein Ärgernis zu geben. Aus seinen Worten ging hervor, dass er das Mysterium der Passion noch nicht verstanden hatte und die nachdrückliche Zurückweisung des Herrn zeigt, dass in diesem Augenblick die bevorstehende Passion das beherrschende Thema bildet. Darum hören wir hier die Stimme des unbewehrten Herzens Jesu, das sich Gott für die Erlösung der Menschen darbietet.

Herz Jesu, Sühneopfer für unsere Sünden, erbarme Dich unser !

Und als Er näher kam und die Stadt erblickte, weinte Er über sie und sprach: Wenn doch auch du an diesem Tage es erkenntest, was dir zum Frieden dient ! (Lk 19, 41-42).

Wieder erschließt Jesus Sein Herz, als er in Jerusalem weint. Tränen, besonders Tränen des Schmerzes sind eine Sprache des Herzens, eine sehr intime. Tränen des Menschensohnes müssen uns bis ins Mark erschüttern. Derselbe, von dem das Credo singt: "Gott von Gott, Licht, wahrer Gott vom wahren Gott", vergießt Tränen. Das Mysterium der hl. Incarnation, der Vereinigung des Wortes mit der menschlichen Natur steht vor uns in diesen heiligen Tränen, in diesem persönlichen, intimen Ausdruck des Herzens Jesu.

Herz Jesu, höchsten Lobes würdig, erbarme Dich unser !

Da schickten die Schwestern zu ihm und ließen ihm sagen: Herr, sieh, der, den du lieb hast, ist krank. Als Jesus das hörte, sagte er: Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde. Jesus liebte aber Martha und ihre Schwester und den Lazarus (Joh 11, 3-5).

Doch in der Erweckung von Lazarus gewährt uns Jesu einen unvergleichlich intimeren Einblick in Sein Heiligstes Herz. Schon die Worte: "Der, den Du liebst ist krank", und "Jesus liebte aber Martha, ihre Schwester und Lazarus", enthalten eine einzigartige Offenbarung Seines Herzens. Zweifellos ist hier nicht nur gemeint, dass Er ihnen die göttliche Liebe entgegenbrachte, mit der Er jeden Menschen umfasste, sondern eine besondere Liebe zu Larzarus und seinen Schwestern. Gewiss, auch in der göttlichen Liebe und der Caritas gibt es Gradunterschiede. Gott liebt nicht alle mit gleichem Maß, nicht einmal jeden Heiligen in der Glorie, aber Er liebt jeden unendlich. Gott liebt die heilige Jungfrau mehr als alle anderen Heiligen. Aber es ist nicht nur ein Gradunterschied zwischen der Liebe zu Lazarus, Martha und Maria und der Liebe, mit der Er jedem Sünder begegnet. Diese Liebe enthält eine besondere persönliche Note, sie ist ein Ausfluss Seines Herzens. Der heilige Johannes berichtet uns in diesen Worten etwas Intimes und Persönliches, etwas, das nicht in der Offenbarung der unendlichen erlösenden Liebe Christi enthalten ist. Andernfalls würde Johannes es nicht ausdrücklich als ein Merkmal der Beziehung Jesu zu ihnen nennen. Es ist eine ähnliche Bemerkung, wie die über die Beziehung zu dem Apostel Johannes selbst. Dieser galt ja auch als "der Jünger, den der Herr liebte".

Mit einem zitternden Herzen und tiefster Ehrfurcht hören wir von dieser menschlichen, persönlichen, intimen Regung des Heiligsten Herzens Jesu, in dem alle Fülle der Gottheit wohnt. Wir können die unergründliche Kostbarkeit dieser menschlichen Liebe Jesu nur ahnen und fassen, wenn wir uns unablässig klar sind, dass es der Sohn Gottes ist, das Wort, mit dem diese menschliche Natur substantiell verbunden ist. Nur auf diesem Hintergrund kann die überwältigende Süße und der geheimnisvolle Glanz dieser menschlichen Liebe in dem Heiligsten Herzen Jesu sich uns erschließen.

Herz Jesu, König und Mittelpunkt aller Herzen, erbarme Dich unser !

Doch die weitere Erzählung der Erweckung des Lazarus im Evangelium gewährt uns einen noch tieferen Einblick in das heiligste Herz Jesu.

"Sobald Maria an den Ort kam, wo Jesus war, und Ihn sah, fiel sie Ihm zu Füßen mit den Worten: ,Herr, wenn Du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht gestorben.' Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, seufzte Er in seinem Geist und erschauerte. Und Er sprach: ,Wo habt ihr ihn hingelegt?' Sie sagte ihm: ,Herr, komm und sieh.' Und Jesus weinte. Da sagten die Juden: seht, wie Er ihn liebte!" (Joh 11, 32-36).

Jesus seufzte in Seinem Geist und erschauerte, als Er Maria weinen sah und ihren Schmerz gewahrte über die furchtbare Wirklichkeit des Todes. Er, der wusste, dass Er Lazarus erwecken und ihn seinen Schwestern wiedergeben würde, stöhnte und erschauerte. Die Fülle Seines Herzens, die volle Antwort auf den menschlichen Aspekt des Todes, die zarte persönliche Liebe zu Maria und Lazarus offenbaren die volle Menschheit Christi, die Tatsache, dass Er dem Menschen in allem gleicht, außer in der Sünde.

Und Jesus weinte. Diese Tränen sind eine noch intimere Äußerung Seines Heiligstens Herzens als die Tränen über Jerusalems Schicksal. Sie sind der Ausdruck einer noch persönlicheren Liebe. Wahrhaft, in der Erweckung von Lazarus steht das Herz des Gottmenschen in geheimnisvoller Weise unverhüllt vor uns. Erst gewahren wir den Ausdruck Seiner menschlichen Liebe zu Maria, Martha und Lazarus, Seines Schmerzes, Seines Mitleides, und das volle Erlebnis des menschlichen Aspektes und des Todes, mit all seinem Grauen. Und dann hören wir die Worte Jesu, die uns die Dankbarkeit Seinem himmlischen Vater gegenüber offenbart: "Vater, ich danke Dir, dass Du mich erhört hast. Doch ich wusste, dass Du mich immer erhörst" (Joh 11,41-42).

In Erweckung von Lazarus offenbart sich wieder die Gottheit Christi in überwältigender Weise.

Unfassbares Mysterium der Menschwerdung, unaussprechliche Erhabenheit und Heiligkeit des Heiligen Herzens des Gottmenschen. Derselbe, der durch Sein Wort Lazarus zum Leben erweckte, erschauerte in Seinem Geiste und weinte, als Er Maria weinen sah. Unergründliche Heiligkeit, die in Seiner menschlichen Fülle und Seiner Verwundbarkeit mit dem Wort substantiell vereinigt ist. Tiefer Ausdruck des Mysteriums der Inkarnation, der Spannung zwischen göttlicher und menschlicher Natur in Christus, und gleichzeitig in der Qualität Seiner Menschlichkeit, in der verklärten Heiligkeit eine Epiphanie Gottes.

Herz Jesu, in dem die Fülle der Gottheit wohnt, erbarme Dich unser !

Maria nun nahm ein Pfund echten, kostbaren Nardenöls, salbte Jesu Füße und trocknete seine Füße mit ihren Haaren ab; das Haus wurde ganz erfüllt vom Duft des Salböls. Da sagt Judas, der Iskariot, einer von seinen Jüngern, sein künftiger Verräter: Warum wurde dieses Salböl nicht für dreihundert Denare verkauft und der Erlös den Armen gegeben? Das sagte er aber nicht, weil ihm etwas an den Armen lag, sondern weil er ein Dieb war und als Kassenführer die eingehenden Spenden unterschlug. Da sagte Jesus: Lass sie! Sie soll das für den Tag meines Begräbnisses aufbewahren. Die Armen habt ihr nämlich allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit (Joh 12, 3-8).

In den Worten: "Denn Arme habt ihr allezeit, mich aber habt ihr nicht allezeit", hören wir den Klang der schmerzerfüllten Liebe.

Wir möchten hier nicht auf die fundamentale Bedeutung dieser Worte eingehen, die auf den Primat der Liebe zu Christus gegenüber der Nächstenliebe hinweisen. Wir wollen nur auf die Stimme des Herzens Jesu lauschen, die sich in diesen Worten vernehmen lässt. Sie haben eine persönliche Note, sie sind eine Enthüllung Seines Herzens. Es ist das Heiligste Herz, das ungeschützt aller Feindschaft und allem Hass der Welt ausgesetzt ist. Es ist das Heiligste Herz in seinen unbegrenzten Leiden, in seiner unendlichen Liebe. In diesen Worten lebt die Liebe zu Seinen Jüngern und der Schmerz über den bevorstehenden Abschied.

"Indem sie dieses Salböl auf meinen Leib gegossen hat, hat sie es für mein Begräbnis getan (Mt 26, 12).

Der Ton des Schmerzes, der in den Voraussagen Seines Leidens lag, ist hier noch ausgesprochener. Je mehr wir uns dem Leiden und Kreuzestod des Herrn nähern, um so tiefer enthüllt sich das Heiligste Herz, um so mehr werden wir der Ausstrahlung des Herzens Jesu gewürdigt.

Herz Jesu, heiliger Tempel Gottes, erbarme Dich unser !

Und er sprach zu ihnen: Sehnlich habe ich verlangt, dieses Paschamahl mit euch zu halten, bevor ich leide. Denn ich sage euch: Ich werde es nicht mehr halten, bis es seine Erfüllung findet im Reiche Gottes (Lk 22, 15-16).

Im allgemeinen spricht der Herr zu Seinen Jüngern, um ihnen die göttliche Wahrheit zu offenbaren, die sie dieser Welt vermitteln sollen. Er spricht zu ihnen in Gleichnissen. Er ermahnt sie und gibt ihnen Gebote, Er verleiht ihnen die Gewalt, zu binden und zu lösen, Er setzt sie als seine Apostel ein.

Gewiss, an vielen Stellen findet Seine Liebe zu den Aposteln einen indirekten Ausdruck, aber in diesen Worten enthüllt Jesus Sein Herz in einzigartiger Weise. Eine zarte persönliche Liebe, von dem Schmerz der Ihm bevorstehenden Trennung durchzittert, lebt in diesen Worten. Derselbe Christus, der meist nur Seine Mission erwähnt, wenn Er von sich selbst spricht, erschließt jetzt in diesem feierlichen Moment, was in Seinem Heiligsten Herzen vor sich geht: ein persönliches Verlangen, eine Frucht der Liebe, die in Seinem Herzen wohnt.

Herz Jesu, aus dessen Fülle wir alle empfangen haben, erbarme Dich unser !

Als es Abend geworden war, begab er sich mit den Zwölfen zu Tisch. Und während sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage euch: Einer aus euch wird mich verraten. Da wurden sie sehr betrübt und begannen einer nach dem anderen zu ihm zu sprechen: Ich bin es doch nicht, Herr? Er aber antwortete: Der mit mir die Hand in die Schüssel taucht, der wird mich verraten. Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Besser wäre es für jenen Menschen, wenn er nicht geboren wäre. Da sprach Judas, sein Verräter: Ich bin es doch nicht, Meister? Er sprach zu ihm: Du hast es gesagt (Mt 26, 20-25).

Aus den Worten: "Aber Ich sage euch, einer von euch wird mich verraten", tönt die Stimme des Herzens Jesu. In ihnen lebt der Schmerz über die Beleidigung Gottes, der Schmerz über Judas Iskariot, den Er liebte. Sie offenbaren die Verwundung Seines Herzens durch die Undankbarkeit, die Untreue, die Feindseligkeit des Judas, den Er zu Seinem Apostel erwählt hatte. Und diese Verwundung gewährt uns einen Einblick in das große Geheimnis, das das Herz des Gottmenschen ist.

Die Verwundung des Herzens Jesu erschließt sich aber noch mehr in der Voraussage der Verleumdung Petri. "In dieser Nacht werdet ihr alle Ärgernis an Mir nehmen". Da rief Petrus und sprach zu Ihm: "Wenn auch alle an Dir Ärgernis nehmen, so werde ich niemals an Dir Ärgernis nehmen" (Mt 26, 31 und 33). Auf dem Hintergrund der glühenden Liebe und Treue des Petrus, seiner kühnen Versicherung, dass ihn nichts von Christus trennen könne, enthüllt die Antwort des Herrn, die Verwundung des Herzens Jesu durch die Untreue, den Mangel an Ausdauer, die Anfälligkeit selbst des liebendsten, treuesten, ergebensten aller Apostel. "Wahrlich, Ich sage dir, noch ehe der Hahn kräht, wirst du Mich dreimal verleugnen" (Mt 26, 34.

Es ist, als ob uns Schritt für Schritt eine tiefere Schicht im Herzen des Gottmenschen offenbart wird. Der Verwundung durch den Verrat des Judas folgt die Verleumdung des Apostelfürsten, desjenigen, zu dem Jesus gesprochen hat: "Du bist Petrus und auf diesem Felsen will Ich meine Kirche bauen."

Gewiss, in sich ist der Verrat von Judas eine unvergleichlich größere Beleidigung Gottes, er war auch für Judas ein unvergleichlich größeres Übel, als die Verleumdung für Petrus. Daher sagte der Herr: "Es wäre ihm besser, er wäre nie geboren." Aber die Verwundung des Heiligsten Herzens Jesu durch die Verleugnung dessen, den Er zum Fürsten der Apostel bestimmt, von dem Er so glühend geliebt wurde, hat noch einen viel persönlicheren und intimeren Charakter.

Vor uns erheben sich die zwei Aspekte des "Mysterium iniquitatis": der Abfall des Bösen und das Versagen dessen, der Gott liebt, der sich sicher fühlt, Ihm nie untreu zu werden. Der Schmerz Jesu, der sich hier offenbart, unterscheidet sich in der Qualität radikal von allen Leiden selbst des edelsten Menschen. Und doch ist dieses Leiden zutiefst menschlich. Es ist die Stimme des Herzens des Menschensohnes, aber auch die Stimme des Herzens des Gottmenschen.

Herz Jesu, von Schmach gesättigt, erbarme Dich unser !

Wiederum eine neue Tiefendimension des Herzens Jesu wird uns in Gethsemane offenbart. "Und er nahm den Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus mit sich und fing an zu trauern und zu zagen. Dann sprach er zu ihnen: ,Meine Seele ist tief betrübt bis zum Tod. Bleibt hier und wacht mit mir!' Und er ging ein wenig weiter, fiel auf sein Angesicht, betete und sprach: ,Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber! Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst'" (Mt 26, 37-39).

Hier handelt es sich nicht mehr nur um den Klang der Stimme, die den tiefen Schmerz verrät; es ist auch nicht mehr die Mitteilung einer Tatsache, durch die wir die Wunde Seines Herzens erfassen. Diese Worte sind eine ausgesprochene, direkte Enthüllung Seines Herzens. Jesus spricht von Sich und dem, was in Seiner Seele vorgeht. Er lüftet den Schleier von dem persönlichen, intimen Geheimnis Seines Herzens.

Wir stehen vor einer "coincidentia oppositorum", vor dem Mysterium der Inkarnation. Auf der einen Seite ist die Betrübnis bis zum Tod eine fundamentale Manifestation der menschlichen Natur Christi - auf der anderen Seite ist die Qualität dieser Betrübnis, ihre geheimnisvolle Sublimität, ihre sühnende Kraft, ihre innige Verknüpfung mit der unendlichen göttlichen Liebe Christi ein Teil der Epiphanie Gottes in der heiligen Menschheit Christi. Und wiederum ist das unbegrenzte Leiden Jesu in Gethsemane nur möglich in dem Gottmenschen; denn dies Leiden enthält das Meer aller edlen Tränen aller Menschen, die je gelebt haben und je leben werden bis ans Ende der Welt. In diesem Leiden spiegelt sich alle Disharmonie, die durch den Sündenfall entstanden ist. Die Dimension dieses Leidens übersteigt alle menschlichen Kategorien, obgleich nur ein menschliches Wesen leiden kann.

Wenn Jesus in den Worten: "Meine Seele ist betrübt bis in den Tod" Sein Herz unmittelbar enthüllt, so gewährt Er uns einen noch tieferen Einblick in Sein Heiligstes Herz in den Worten: "Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an Mir vorüber, aber nicht wie Ich will, sondern wie Du willst." Dies ist die tiefste geheimnisvollste Seite Seines Wesens, die Stimme Seines Herzens, die sich zu Gott Vater erhebt.

Aber erst im Licht der letzten Hingabe an Gott in den Abschlussworten: "Aber nicht, wie Ich will, sondern wie Du willst", erhält die vorhergehende Bitte ihre volle Bedeutung, ihr wahres Gesicht. Und nur durch die vorhergehende Bitte erhalten die abschließenden Worte ihre blutvolle Wirklichkeit, ihre glorreiche Wahrheit. Auch die Aufeinanderfolge der beiden Worte Jesu gewährt uns einen überwältigenden Einblick in das Heiligste Herz.

Herz Jesu, verwundet durch unsere Missetaten, erbarme Dich unser !

Im Gegensatz zu allen Lehren des Herrn, im Gegensatz zu der Offenbarung Seiner Mission ist das Thema der Worte am Kreuz weder Offenbarung göttlicher Wahrheit, noch Selbstoffenbarung. In diesen Worten enthüllt Jesus auch nicht ausdrücklich Sein Heiligstes Herz wie in den Worten: "Sehnsüchtig habe Ich danach verlangt, dieses Osterlamm mit euch zu essen (Desiderio desideravi hoc pascha manducare vobiscum).

Das Thema ist hier die welterlösende Passion. Viele dieser Worte Christi sind darum an Seinen himmlischen Vater gerichtet. Wir sind gewürdigt, diesem sublimsten, geheimnisvollen Geschehen im Geist beizuwohnen, dieser intimsten gott-menschlichen Handlung, in der die Erlösung der Welt durch die Passion Christi allein Thema ist. Aber hier, im Mysterium des Leidens, in der völligen Entäußerung, im Gehorsam bis zum Tod öffnet sich uns Sein Heiligstes Herz in gewisser Hinsicht mehr als in irgendeinem Wort, das Christus ausdrücklich an uns richtet. In diesem Augenblick, in dem die Erlösungstat das alleinige Thema ist, wird uns die intimste Enthüllung Seines Herzens gewährt.

In der Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu spielt die Passion des Herrn eine entscheidende Rolle, denn es besteht eine tiefe und wesenhafte Beziehung zwischen dem Herzen und der Fähigkeit, zu leiden. Und so ist die ganze Passion eine besondere Enthüllung Seines Heiligsten Herzens. "Vater, verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23, 34). In diesem höchsten Augenblick, in dem Christus Gott bittet, Seinen Mördern zu vergeben, spricht Er als der Menschensohn, im Unterschied von all den Situationen, in denen Er als der Sohn Gottes selbst den Sündern vergibt.

Aber in der an Gott gerichteten Bitte, Seinen Feinden zu vergeben, verzeiht auch Christus ihnen das Unrecht, das sie Ihm zugefügt haben. Dies ist das menschliche Verzeihen, das Christus auch uns gebietet. Doch vor allem steht hier Seine letztlich barmherzige Liebe vor uns. Christus bittet nicht nur Gott, Seinen Mördern zu vergeben, Er entschuldigt sie auch, indem Er sagt: "Sie wissen nicht, was sie tun." Der Menschensohn streckt gleichsam Seine schützenden Arme über Seine Mörder aus. Das Heiligste Herz erstrahlt in der Glorie der barmherzigen Liebe und des sublimen Verzeihens.

Herz Jesu, Quelle jedes Trostes, erbarme Dich unser !

"Wahrlich, Ich sage dir, heute noch wirst du mit Mir im Paradies sein (Lk 23, 43). In diesen Worten spricht Christus vor allem als Gott, als der Herr, der Sünden vergeben und dem guten Schächer das Paradies versprechen kann. Aber auch hier können wir die Stimme Seines Heiligsten Herzens erkennen. Ein Klang heiliger Freude ist in diesen Worten vernehmbar. Die überwältigende Antwort auf diesen einen Appell des bekehrten Schächers an Seine Barmherzigkeit ist ja nicht nur ein Vergeben, sondern die Zusicherung sofortiger Seligkeit. In dieser Hinsicht übertrifft es die Worte, die Christus zu Maria Magdalena und der Ehebrecherin spricht. Gewiss, sie sind zu einem Mann am Kreuz gesprochen, der unmittelbar vor dem Tod steht, während Maria Magdalena und die Ehebrecherin noch ein Leben vor sich hatten und darum noch fallen konnten. Aber trotzdem ist die Antwort unseres Herrn an den guten Schächer mehr als die Manifestation der grenzenlosen Barmherzigkeit Gottes. Sie enthüllt auch die Freude im Herzen Jesu über diesen Menschen, der die Gottheit des Gekreuzigten in demselben Moment erkennt, in dem die Apostel meinen, alle ihre Hoffnungen seien begraben.

Herz Jesu, überreich für alle, die Dich anrufen, erbarme Dich unser !

Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. Als nun Jesus die Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er lieb hatte, sagt er zur Mutter: Frau, das ist dein Sohn. Darauf sagt er zu dem Jünger: Das ist deine Mutter. Und von jener Stunde an nahm der Jünger sie ganz zu sich (Joh 19, 25-27).

Hier spricht Christus wieder in erster Linie als Menschensohn und nicht als Herr und Erlöser. Auch diese Worte sind die Stimme Seines Herzens, der Ausdruck seiner Liebe zu der heiligen Jungfrau und dem heiligen Johannes. In ihnen lebt der Schmerz der Trennung, mit ihnen vertraut Er seine Mutter dem heiligen Johannes an. Diese Worte sind aber auch die feierliche Einsetzung der Heiligen Jungfrau als Mutter Aller. Als solche entstammen sie der heiligen Autorität des Erlösers und des Sohnes Gottes. Der Charakter eines sublimen Testaments des Menschensohnes, der Hauch der Liebe zu Seiner heiligen Mutter und zu dem heiligen Johannes geben diesen Worten eine besondere Intimität.

Herz Jesu, im Schoß der jungfräulichen Mutter vom Heiligen Geist geschaffen, erbarme Dich unser !

Hierauf, da Jesus wusste, dass bereits alles vollbracht war, sagt er, damit die Schrift vollends erfüllt werde: Mich dürstet! (Joh 19, 28).

In diesem Wort, das der Todesnot Seines Leidens Ausdruck verleiht, ist indirekt auch eine Bitte enthalten, Seinen Durst zu stillen, eine Bitte, die an Seine Henker gerichtet ist. Wenn das "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?", den tiefsten Abstieg in den unergründlichen Abgrund des Leidens darstellt, die Verlassenheit der Seele, so ist das "sitio - Mich dürstet" in einer anderen Dimension der tiefste Abstieg, nämlich der in die menschliche Gebrechlichkeit, die Abhängigkeit des Menschen von seinem Körper. Vor uns steht das Geheimnis der göttlichen Demut Dessen, "der Sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm".

Die Rolle, die der Körper in diesem höchsten Augenblick spielt, stellt einen Höhepunkt der Spannung dar, die das Mysterium der Inkarnation enthält. Der Herr, der sonst nie ein körperliches Leiden erwähnt, spricht in diesem äußersten Augenblick von Seinem "Durst". Nur Johannes der Evangelist spricht in dem Evangelium der Samariterin von der Müdigkeit des Herrn und Matthäus sagt im Evangelium der Versuchung Christi etwas über Seinen Körper aus. Aber hier reicht die menschliche Hilflosigkeit so weit, dass Er an die Barmherzigkeit Seiner Scharfrichter appelliert. Mysterium der göttlichen Demut! Der Herr, der immer gibt, der Wasser in Wein verwandelt, der die Fünftausend mit fünf Broten nährt, der dem Blinden das Augenlicht verleiht, der Lazarus vom Tod auferweckt, spricht von Seinem Durst in dem Augenblick des Opfers. In diesem Wort ist die Offenbarung noch weniger Thema als in irgend einem anderen der am Kreuz gesprochenen Worte. Die Tatsache, dass es ein Appell an Menschen ist, macht es geradezu zu einer Antithese der Offenbarung, zu einem reinen Ausdruck Seines Leidens. Und doch enthüllt es uns ein großes Geheimnis Seiner Passion. Diese Bitte ist ja nicht an Seine Jünger gerichtet, sondern an die unbarmherzigen Soldaten. Dadurch wird dieser Appell an ihre Barmherzigkeit der dramatischste Ausdruck Seines Leidens und Seiner Verlassenheit, des Sichbegebens aller göttlichen Macht und Glorie.

Diese Bitte tönt durch die ganze Geschichte der Menschheit in ihrer geheimnisvollen Tiefe. Sie durchbohrt unsere Herzen, sie lässt uns unserer Schuld innewerden und unsere Herzen in Liebe aufschmelzen.

Herz Jesu, dem Wort Gottes wesenhaft vereint, erbarme Dich unser !

Von der sechsten Stunde an aber kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Um die neunte Stunde aber rief Jesus mit lauter Stimme: Eli, Eli, lama sabacthani, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mt 27, 45-46).

An dieser Stelle erreicht das Mysterium der Menschwerdung seinen außerordentlichsten Ausdruck. Er, der Sünden vergibt, der Herr, der zur Rechten des Vaters sitzen wird, spricht hier, als ob Er aller Gottheit beraubt wäre, als der Menschensohn in äußerster Einsamkeit und Verlassenheit. Hier erreicht die Spannung von wahrem Gott und wahrem Menschen in Jesus einen Grad, an dem die menschliche Natur gleichsam die göttliche zu verdecken scheint. Und doch ist gerade dieser Augenblick eine unerhörte Offenbarung des Mysteriums der Inkarnation und der Erlösung, wenn er im Licht der nachfolgenden Auferstehung in der Kontinuität der gesamten Epiphanie Gottes in Christus gesehen wird. Hier enthüllt Christus Sein Herz mehr denn je. Er erlaubt uns einen Einblick in diesen Abstieg, in den unermesslichen Abgrund des Leidens. Es ist die höchste Verlassenheit Dessen, von Dem die Kirche singt: "Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!". Das Leiden, das wir hier ahnen dürfen, überschreitet alle menschlichen Dimensionen und doch ist es zutiefst menschlich. In ihm ist alle Qual der Menschheit auf einmal enthalten und überwunden.

Herz Jesu, gehorsam bis zum Tod, erbarme Dich unser !

Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sagte er: Es ist vollbracht! (Joh 19, 30).

Diese Worte sind nicht mehr der Ausdruck vollkommener Verlassenheit. Der Sieg, der in ihnen zu leuchten beginnt, stellt uns schon das ganze Mysterium der Erlösung vor Augen. Die Worte: "Eli, Eli, lama sabacthani" verkörpern das Mysterium äußersten Leidens, zu dem es gehört, dass Christus sich Seiner Mission, die Welt durch den Tod am Kreuze zu retten, nicht mehr bewusst ist. Dass Er Sich von Seinem himmlischen Vater verlassen fühlt, schließt ja ein, dass Er Seine Passion nicht mehr in ihrem vollen Sinne als die Mission des Menschensohnes sieht. Diese Worte sind gleichsam der Innenaspekt der Passion des Herrn.

In dem "consummatum est" ("Es ist vollbracht") hingegen, wird die Passion wieder in ihrem objektiven Aspekt gesehen, in ihrer Ganzheit, in dem Sinne, den sie nach den Absichten Gottes besitzt. Vor uns steht der Übergang von dem unendlichen Leid zum Sieg, ein Augenblick, der ein unfassbares Geheimnis des Herzens Jesu enthüllt und zugleich der Höhepunkt des Ereignisses aller Ereignisse ist.

Herz Jesu, unser Friede und unsere Versöhnung, erbarme Dich unser !

Und mit lauter Stimme rufend sprach Jesus: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist (Lk 23, 46).

Wir hören die letzten Worte Christi vor Seinem Tod, die Worte, von denen der heilige Lukas sagt: ,Und als Er sie gesprochen hatte, verschied Er." Wieder ist nicht die Offenbarung das Thema, sondern ausschließlich der Tod unseres Herrn am Kreuz. Es ist die Übergabe Seiner irdischen Existenz an Seinen himmlischen Vater. Es ist der äußerste Ausdruck absoluter Hingabe, Geborgenheit und göttlichen Friedens. In einem gewissen Sinn sind diese Worte die allerintimsten, denn sie bringen den Gestus zum Ausdruck, in dem Christus Seine Seele dem Vater zurückgibt, in einem reinen Ich-Du-Gespräch mit Gott. Aber diese sublime Übergabe an Gott ist auch die letzte Verlautbarung Seines leidenden Herzens, in der Seine kommende Glorie ahnungsvoll aufleuchtet.

Wenn die Worte der Heiligen Jungfrau: "Siehe, ich bin eine Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort", das Urwort unserer irdischen Existenz darstellen, so ist das Wort Jesu: "Vater, in Deine Hände empfehle Ich meinen Geist", das letzte Wort der Menschheit, das Wort, in dem der status viae seinen Abschluss findet. Dieses Wort Christi ist das Urvorbild des Gestus, den der Mensch in diesem letzten Augenblick vollziehen soll. Und doch richtet es Christus nicht an uns, es ist uns vielmehr vergönnt, durch die Worte, die Christus ausschließlich zu Gott, dem Vater spricht, Zeugen des Mysteriums Seines Herzens zu werden. In ihnen spiegelt sich das Mysterium der Menschwerdung. Der "logos", die zweite Person der Heiligsten Dreifaltigkeit, der Herr, der Erlöser, spricht als Menschensohn die Worte aus, die die Vollendung der irdischen Existenz aller Menschen darstellen.

Herz Jesu, Hoffnung derer, die in Dir sterben, erbarme Dich unser !

In den Erscheinungen des auferstandenen Herrn steht eine neue Stufe der Epiphanie Gottes vor uns. Die Auferstehung als solche offenbart uns nicht nur die Gottheit Christi in überwältigender Weise, sie ist nicht nur die Krönung und der Höhepunkt der Epiphanie. Die Gottheit Christi wird uns hier auch qualitativ in neuer Weise offenbart. In dem Auferstandenen ist die Gottheit gleichsam noch transparenter. Jesus erschließt sie uns in einer neuen Epiphanie.

Auch nach der Auferstehung lüftet Jesus den Schleier von Seinem Heiligsten Herzen, indem Er Maria Magdalena erscheint. Wir werden gewürdigt, einen Blick in die Regungen Seines Heiligsten Herzens zu tun. Er gibt sich Maria Magdalena mit dem einen Wort "Maria" zu erkennen. Dieser Anruf in dieser Situation ist auch eine Enthüllung Seines Herzens. Eine zarte Liebe und eine glorreiche Freude sind in dem sich zu Erkennengeben gegenwärtig. Unaussprechlich ist die Intimität und Glorie dieser Situation. Auf der einen Seite die sehnsüchtigste Liebe Maria Magdalenas, ihre Verzweiflung über den Tod des Herrn, ihr liebendes Verlangen, wenigstens den Leichnam Jesu zu finden. Auf der anderen Seite Jesus, der sich ihr zu erkennen gibt und ihr, noch vor den Aposteln, Seine Auferstehung offenbart. Indem Er sich ihr als der Auferstandene zeigt, lüftet Jesus durch den Klang Seiner Stimme und durch den Anruf mit ihrem Namen den Schleier vor Seinem Herzen.

Die geheimnisvollen Worte "noli me tangere" ("Berühre Mich nicht") offenbaren die ganz neue Existenzform des auferstandenen Christus. Dieselbe Maria Magdalena, der es erlaubt war, Seine Füße mit ihren Tränen zu waschen und zu küssen, durfte den auferstandenen Herrn nicht berühren. Wiederum leuchtet in den Worten: "Ich fahre auf zu Meinem Vater und zu eurem Vater" die heilige Freude Seines Herzens auf.

Herz Jesu, unser Leben und unsere Auferstehung, erbarme Dich unser !

"Simon Petrus, liebst du Mich? Liebst du Mich mehr als diese?" Dreimal wiederholt der auferstandene Gottrnensch Christus, der Erlöser, der wiederkommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten, diese Worte. Aber in ihnen vernehmen wir auch die Stimme Seines Herzens. Der Appell an die Liebe des Petrus offenbart das unergründliche Geheimnis, dass Christus unsere Liebe sucht. Er will nicht nur, dass wir Ihm gehorchen, sondern auch, dass wir Ihn lieben. Diese Worte sind erfüllt von verklärter, sanfter Glut. Sie sind eine Offenbarung Seines Herzens und erhalten durch die dreifache Wiederholung und die Tatsache, dass sie zu den letzten Worten Christi gehören, eine besondere, geheimnisvolle Eindringlichkeit. Sie stehen am Ende des Evangeliums nach St. Johannes, nach allen anderen Erscheinungen des auferstandenen Herrn. Wenn die Worte: "Mir ist alle Gewalt gegeben", unmittelbar vor der Himmelfahrt die letzte Offenbarung der Gottheit Christi, die Kundgabe Seiner glorreichen Herrschaft darstellen, so sind diese Worte die letzte Äußerung Seines Heiligsten Herzens. Sie atmen eine unsagbare Sanftmut und glorreiche, zarte Liebe, und in dem göttlichen: "Weide Meine Lämmer!" zittert die Liebe für alle, die Ihm gefolgt sind, für alle, die jemals Ihm folgen werden.

In den Worten: "Liebst du Mich? Weide Meine Lämmer!" wird uns gleichsam eine letzte Offenbarung der Person Christi geschenkt. Und in dieser vollen Offenbarung Seiner heiligen Menschheit steht Sein Heiligstes Herz im Mittelpunkt.

Herz Jesu, Du Seligkeit aller Heiligen, erbarme Dich unser !

III. TEIL

1. KAPITEL: DAS HERZ DES WAHREN CHRISTEN

Wir sind stufenweise in das Geheimnis des Heiligsten Herzens Jesu eingeführt worden und haben versucht, seine göttliche Wesensart und zugleich die Widerspiegelung des Inkarnationsgeheimnisses in ihm zu erfassen.

Angesichts der wahren Herrlichkeit des Heiligsten Herzens "das alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft enthält" werden die groben Entstellungen in so vielen "frommen" Liedern nur allzu sichtbar. Sie verfehlen den Worten wie der Melodie nach nicht nur vollständig jenen göttlichen, verklärten Charakter des Heiligsten Herzens, "in dem die Fülle der Gottheit wohnt"; sie stellen es sogar wie ein mittelmäßiges, sentimentales menschliches Herz dar. Diese Verzerrung hat bei vielen Menschen eine begreifliche aber zu weit gehende Opposition hervorgerufen, denn sie setzt die Verfälschung mit der Herz-Jesu-Verehrung als solcher gleich. Man meint nämlich, diese Verehrung führe unvermeidlich zu solchen Verirrungen, und erfasst nicht ihr wahres Wesen wie es sich in den Messtexten des Festes und in der wunderbaren Litanei darstellt.

Um diese Einwände zu widerlegen, versuchten wir den göttlichen Charakter des Heiligsten Herzens durch die Betrachtung einiger Evangeliumstexte hervorzuheben. Zuerst müssen wir das Heiligste Herz in seiner wahren Glorie zu verstehen suchen, dann erst können wir das Wesen und die Tiefe dieser Verehrung in ihrer klassischen, liturgischen Gestalt erfassen und die entstellende Unechtheit so mancher ihrer populären Formen entlarven, die ihren Niederschlag in gewissen Liedern und sogar in einigen Gebeten fand.

Es ist in sich ein überaus bedeutsamer, hoher Wert, das Heiligste Herz tiefer, wacher, näher, persönlicher zu verstehen, Seine unaussprechliche Herrlichkeit zu sehen und anzubeten. Dies ist auch unerlässlich zum Verständnis alles dessen, was das Gebet "forme unser Herz nach Deinem Herzen" in sich schließt. Wollen wir die Umgestaltung in Christus begreifen, zu der unsere Herzen gerufen sind, dann müssen unsere geistigen Augen vorher das Heiligste Herz Jesu in Seiner Verklärung, als Epiphanie Gottes gesehen haben.

Die Umgestaltung unseres Ethos hängt davon ab, ob wir ein echtes Bild von Christus und seinem Heiligsten Herzen haben. Solange wir unsere eigene Mittelmäßigkeit und Kleinlichkeit auf das Heiligste Herz projizieren und uns von diesem Bild nähren, bleiben wir in diese Mittelmäßigkeit eingekerkert, werden nicht umgewandelt und über uns selbst hinausgehoben. Hier stehen wir - wie in vielen anderen Fällen - vor der großen Gefahr, die Offenbarung unseren engen Gesichtskreis anzupassen und sie in solchem Maße zu entstellen, dass der Aufruf, uns umgestalten zu lassen, ungehört verhallt. Anstatt diesen zu begreifen und das wahre Antlitz Christi in uns aufzunehmen, anstatt uns von der Liebe des Gottmenschen emporheben zu lassen, verfehlen wir die Konfrontation mit der Epiphanie Gottes.

Es handelt sich hier nicht um Ungehorsam oder Auflehnung gegen Gott, sondern vielmehr um die Qualität des Ethos und um die Gefahr, dass diese Qualität von Christus unberührt bleibt. Dann würde man selbst mit guten Absichten niemals das verklärte Ethos erreichen, das die Heiligen verkörpern und ausstrahlen. Daher können wir erst jetzt, nachdem wir das Heiligste Herz selbst betrachtet haben, einiges über die Umgestaltung unseres eigenen Herzens sagen.

Wir müssen jedoch gleich zu Beginn den richtigen Sinn des Bittgebetes: "Forme unser Herz nach Deinem Herzen" (Fac cor nos trum secundum Cor tuum) herausstellen. Das "nach" (secundum) bedeutet, unser Herz sollte mit der heiligen Affektivität erfüllt werden, die aus den oben angeführten Worten, Gleichnissen und Taten Christi spricht. Es sollte von diesem heiligen Ethos durchdrungen sein, das alle Heiligen beseelte: von der sieghaften Liebe, der Sanftmut, der Barmherzigkeit, der Demut, die Christus verkörpert. Aber die Nachfolge Christi meint niemals eine Gleichartigkeit mit dem Herzen des Gottmenschen, das Er selbst uns entschleierte. Dieses einzigartige Mysterium des Heiligsten Herzens, das wesenhaft mit dem Wort Gottes vereint ist, (substantialiter unitum Verbo Dei) kann sich in keinem Heiligen wiederholen; es ist unlösbar mit der Menschwerdung Gottes verbunden.

Das Gebet: "Forme unser Herz nach Deinem Herzen" bezieht sich auf alles, was im Sinn der Nachfolge Christi liegt. Die Umgestaltung in Christus, in der diese Nachfolge enthalten ist, richtet sich darauf, heilig zu werden, die volle Entfaltung des göttlichen Lebens zu erlangen, das wir in der Taufe mit der Eingliederung in den mystischen Leib Christi empfangen.

Manchmal hört oder liest man: "Verhalte dich in jeder Situation so, wie es Christus getan hätte". Das ist jedoch eine falsche Beschreibung der Nachfolge Christi. Denn Jesus, der Gottmensch, der gesagt hat: "Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden" hat in vielen Fällen in einer Weise gehandelt und würde so handeln, dass eine Nachahmung für uns eine blasphemische Erhöhung im biblischen Sinn dieses Wortes wäre. Die Nachfolge Christi sollte vielmehr so ausgedrückt werden: "Verhalte dich in einer Weise, die vor der Konfrontation mit Christus bestehen kann, die Ihm wohlgefällig ist, die in voller Übereinstimmung mit Christus steht" oder "verhalte dich immer dem Geist Christi gemäß". Die similitudo Dei (die Ähnlichkeit mit Gott, dem finis primarius ultimus, dem höchsten Endziel) des Menschen, ist gleichbedeutend mit der Heiligung (sanctificatio), von der der hl. Paulus sagt: dies ist der Wille Gottes. Doch sie ändert nichts an unserer Geschöpflichkeit, hebt keineswegs den unendlichen Unterschied zwischen Gott und Mensch auf.

Uns geht es hier um die Früchte der Gnade in dem "neuen Geschöpf" und nicht um das Geheimnis der Teilhabe an Christus, die in dem Empfang der heiligmachenden Gnade begründet ist. Wir beschäftigen uns hier nicht mit dem Geheimnis, das die Worte: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben" aussprechen, obwohl auch für dieses gilt, was oben über die Heiligung gesagt wurde. Wir sind die Reben, niemals können wir der Weinstock werden. Entsprechend haben wir den Sinn der Umgestaltung unserer Herzen nach dem Heiligsten Herzen zu verstehen. Sie bedeutet, dass wir zu dem wahren christlichen Ethos, zu der heiligen Affektivität gelangen, die im Herzen Jesu lebt. Aber sie bezieht sich nicht auf das einzigartige Mysterium des Heiligsten Herzens, das von der Menschwerdung nicht zu trennen ist.

An dieser Stelle müssen wir wiederholen, dass das Herz eine andere Funktion innehat, als der Wille und Gott dem Herzen ein unersetzliches Wort zu "sprechen" anvertraut hat, das manchmal von dem Wort, zu dem der Wille gerufen ist, abweicht. Es wäre verhängnisvoll, diese Tatsache zu übersehen und zu meinen, das Herz müsse stets dasselbe Wort wie der Wille sprechen. Bestreitet man dieses gottgewollte, eigene Wort des Herzens, so meint man schließlich, das zum Schweigen-Bringen des Herzens sei ein religiöses Ideal.

Dem Ruf Gottes an unseren Willen haben wir zu gehorchen, was immer unser Herz fühlen oder einwenden mag. Aber das bedeutet nicht, das Herz müsse sich so weit dem Willen fügen, dass es das gleiche Wort wie er spricht.

Abraham musste mit seinen Willen "ja" sagen, als er das Gebot Gottes vernahm, seinen Sohn zu opfern. Aber sein Herz musste bluten und mit dem größten Schmerz antworten. Sein Gehorsam wäre nicht vollkommener gewesen, wenn sein Herz freudig zugestimmt hätte. Im Gegenteil, dies wäre ein ungeheuerliches Verhalten gewesen. Nach Gottes Willen erforderte das Opfer seines Sohnes den tiefsten Schmerz als Antwort des Herzens. Aber ungeachtet seines widerstrebenden Herzens war Abraham verpflichtet, dieses furchtbare Leid auf sich zu nehmen und seinen Willen Gottes Befehl zu unterwerfen.

Diese gottgewollte Verschiedenheit von Herz und Wille in manchen Situationen darf man jedoch nicht als eine Bestätigung der kantischen Ansicht deuten, eine Spannung zwischen Willen und Herz erhöhe den sittlichen Wert des Willensaktes. In allen Konflikten zwischen den beiden Bedeutsamkeitskategorien, die wir den Wert und das subjektiv Befriedigende nannten, ist es sittlich vorzuziehen, wenn nicht nur der Wille, sondern auch das Herz eine positive Wertantwort gibt. Vom sittlichen Standpunkt aus ist es z. B. unvergleichlich wünschenswerter, uns zu freuen, einem anderen helfen zu können, als dass wir es nur mit unserem Willen, aber widerstrebenden Herzens tun. Weit besser ist es, unser Herz fließt über von Nächstenliebe, als wir tun den anderen mit gleichgültigem Herzen Gutes.

Doch geht es uns jetzt nicht um die Fülle, in denen sich die Forderungen eines typischen, sittlich bedeutsamen Wertes erhebt. Wir denken vielmehr an Situationen, in denen ein Gut mit hohen Werten geopfert werden muss. Fragen wir uns z. B., welches die Gott wohlgefällige Haltung beim Sterben eines geliebten Menschen sei, so antworten wir: wir sollen mit unserem freien, geistigen Zentrum unser "fiat" sprechen und das uns auferlegte, furchtbare Kreuz annehmen. Diese Annahme ist ein Willensakt, aber von Gott als ein Kreuz für uns bestimmt. Und damit ist gesagt, dass unser Herz dabei blutet. Das Kreuz hätte in unserem Leben keinen Platz, wenn unser Herz in dem Sinne mit dem Willen Gottes übereinstimmte, dass alle Seine Fügungen unser Herz nur erfreuen könnten. Die große und tiefe Mission des Kreuzes würde vernichtet, wenn Heiligkeit bedeutete, sobald etwas Schmerzliches geschieht und daher zumindest von Gott zugelassen ist, dürfte unser Herz sich nicht mehr darüber betrüben. So würde nicht nur die Stellung des Kreuzes, sondern das volle personale Wesen des Menschen zerstört. Der Mensch ist kein bloßes Instrument; er ist eine Person, der Gott sich zuwendet, die Er als Person behandelt, denn es hängst von seiner freien Willensentscheidung ab, ob er sein ewiges Heil erreicht oder nicht. Gott will auch, dass der Mensch sein eigenes individuelles Leben führe, mit seinem Herzen Stellung nehme, Gott im Gebet um legitime hohe Güter in seinem Leben bitte. "Gott will gebeten werden". Wir beten ja auch "Unser tägliches Brot gib uns heute".

Die Kirche bittet nicht ausschließlich für das ewige Heil des Menschen. Sie betet auch um den Besitz echter Güter und um die Bewahrung vor großen Übeln: "Von Hungersnot, Seuchen und Krieg bewahre uns, o Herr" (Allerheiligenlitanei). Der Mensch wäre eine bloße Marionette, er besäße kein spezifisches Eigenleben mehr, alle ihm während seines Lebens verliehenen Gottesgaben würden ihn nicht wirklich treffen, er hätte keine echte Geschichte, keine einzigartige unwiederholbare Existenz mehr, wenn sein Herz nicht auf alle wahren Güter mit Dankbarkeit, Sehnsucht, Hoffnung und Liebe antwortete.

Der Mensch könnte kein volles menschliches Leben mehr führen, wenn sein Herz in all den Situationen, in denen die Gefährdung eines hohen Gutes oder sein Verlust eine besondere Antwort des Herzens verlangt, dasselbe "fiat" wie der Wille spräche. Wir betonen hier die Gleichheit des "fiat", denn auch das Herz spricht - im Gegensatz zu jedem Murren - sein bestimmtes "fiat". Auch es unterwirft sich dem Göttlichen Willen, birgt sich gleichsam in den liebenden Armen Gottes, aber es hört darum nicht auf, zu leiden. Wir brauchen nur an die Worte unseres Herrn im Garten Gethsemane zu denken: "Mein Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen" (Mt 26,39).

Nachdem wir die besondere Sendung des Herzens herausstellten, gilt es nun, uns klarzumachen, dass die Umwandlung unseres Herzens keineswegs eine Ächtung der Affektivität einschließt, die das Herz verstummen ließe. Im Gegenteil, die Umgestaltung in Christus bedeutet, dass das Herz unvergleichlich sensibler, glühender wird und nun von einer vorher unerhörten Affektivität beseelt ist. Gleichzeitig wird es von allen illegitimen Gefühlen, jeder Antwort, die nicht von einem Wert oder von einem hohen objektiven Gut für die Person motiviert ist, gereinigt. Darüber hinaus wird es mit einer verklärten Affektivität beschenkt, die nicht nur sittlich legitim ist, sondern das Siegel des Geistes Christi trägt, eine gänzlich neue Sublimität und zugleich eine unvergleichbar größere, tiefere Glut besitzt.

Dieser Punkt kann nicht genug betont werden, denn in bestimmten, alten und neuen katholischen Strömungen machen sich gewisse stoische und östliche Einflüsse bemerkbar. Man ist der Überzeugung, die Nachfolge Christi bewirke das Verstummen unseres Herzens und nur Vernunft und Wille bleiben bestehen.

In diesem östlichen, manchmal sogar stoischen Tendenzen müssen drei Stufen unterschieden werden. Die erste, radikalste Form will die gesamte Affektivität ächten und durch Vernunft und Willen ersetzen. Man überbetont Erkenntnis und Willensakte und lässt dem Herzen keinerlei Raum. Das Strömen des Herzens wird als etwas tief unter dem Ideal, auf einer niederen Stufe der Vollkommenheit Stehendes betrachtet, das überwunden werden soll.

In der zweiten Form anerkennt man zwar die Rolle des Herzens, aber meint, das Ideal sei, unsere affektiven Antworten und besonders die Liebe, ausschließlich auf Gott zu richten. Kein Geschöpf sollte der Gegenstand unserer Liebe und Freude sein. Eine gewisse Tendenz dieser Art findet sich noch in den frühen Schriften des hl. Augustinus, in denen er erklärt, kein geschöpfliches Gut solle je Gegenstand des frui (des Verkostens), sondern nur des uti (des Gebrauchens) werden. Diese Thesen hat er später weitgehend geändert.

Die dritte Form gestattet der Affektivität des neuen Menschen, dass sich seine Liebe auch auf den Nächsten erstreckt. Dem in Christus umgestalteten Herzen sind nicht nur die affektiven Antworten auf Gott erlaubt, sondern auch die Nächstenliebe und Mitleid, Freude und Hoffnung in ihrem Gefolge. Aber selbst hier bleiben die Gefühle gegenüber den Geschöpfen auf die Nächstenliebe beschränkt. Es gilt als vollkommener, wenn unser Herz außer ihr keine affektiven Antworten kennt. Eine besondere Liebe zu einem Kind, einer Mutter, einer Schwester, einem Bruder, einem Freund ist zwar nicht unerlaubt, aber doch weniger vollkommen als die Nächstenliebe ohne andere Gefühle für die Geschöpfe. Gewiss bestreiten solche Menschen nicht, dass alle mit diesen Beziehungen zusammenhängenden Verpflichtungen erfüllt werden sollten. Aber die eigentliche Liebe selbst, die volle affektive Antwort, das Entzücken am Geliebten, all dies wird als mehr oder weniger unvereinbar mit der vollen Hingabe an Christus betrachtet.

2. KAPITEL: IN GOTT LIEBEN (AMARE IN DEO)

Die eben besprochenen stoischen Elemente sind für die echte Affektivität eindeutig schädlich. Ihnen entgegentretend möchten wir betonen, dass keine spezifische Form der Liebe, sei es Eltern- oder Kindes-, Freundes- oder Gattenliebe mit der vollen und gänzlichen Hingabe an Christus unvereinbar ist, vorausgesetzt jedoch, dass diese Liebe in unsere Liebe zu Christus inkorporiert und vom Geist Christi durchdrungen ist. Diese Umgestaltung in Christus beraubt die verschiedenen Liebesarten keineswegs ihres vollen affektiven Charakters. Ferner ist es ein Irrtum, zu meinen, es sei vollkommener und eine umfassendere Nachfolge Christi, keine andere als die Gottes- und Nächstenliebe zu kennen. Wie wir sehen, liebte unser Herr selbst Lazarus, Martha und Maria mit einer Liebe, die wir nicht als Nächstenliebe deuten können. Ebenso nennt die Heilige Schrift den heiligen Johannes Evangelist den Jünger, den der Herr liebte.

Vielleicht wird man einwenden, im Evangelium ständen auch die folgenden Worte: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter und Frau und Kinder und Brüder und Schwestern und dazu auch sein eigenes Leben hasst, so kann er mein Jünger nicht sein." (Lk 14, 26). Sagen sie nicht, die Bande der natürlichen Liebe seien ein Hindernis für die volle Nachfolge Christi? Können wir nicht aus ihnen schließen, es sei vollkommener, nur die Gottes- und Nächstenliebe zu vollziehen?

In Wirklichkeit berechtigen diese Worte unseres Herrn keineswegs zu einer solchen Folgerung. Sie weisen auf den absoluten Primat der Gottesliebe hin, die unsere Bereitschaft erheischt, auf ein großes objektives Gut, wie das Glück persönlicher Beziehungen zu verzichten, falls Gott uns dieses Opfer auferlegt. Diese Worte ermahnen uns, dass kein Band menschlicher Liebe je ein Hindernis für unsere unbedingte Hingabe an Christus werden darf; aber sie leugnen damit nicht die Gutheit, Gültigkeit und Vereinbarkeit der menschlichen Liebe mit der Liebe zu Gott. Darauf weist das Wort des hl. Augustinus hin: "Ich sage nicht, liebe deine Frau nicht, sondern liebe Christus noch mehr" (Sermo 3, 49, VII, 7).

Dieser Primat der Gottesliebe gilt nicht nur für unsere Beziehungen zu anderen Menschen, sondern auch zu jedem schöpferischen Werk, sei es wissenschaftlich oder künstlerisch. Diese Tätigkeiten sollten nie das erste und höchste Thema des menschlichen Lebens werden. Die Regel des hl. Benedikt bestätigt mit den Worten: "Sie sollen Christus durchaus nichts vorziehen" (Christo omnino nihil praeponant ca. 72), dass wir unbedingt bereit sein müssen, alles aufzugeben, wenn Gott es verlangt. Aber gewiss wird niemand behaupten, die Neigung zu künstlerischen, wissenschaftlichen oder philosophischen Schaffen sei in sich ein Hindernis für unsere Umgestaltung in Christus, für unser volles Christus Gehören. Wären etwa der hl. Thomas oder der selige Fra Angelico vollkommener gewesen, wenn sie ihre philosophischen bzw. künstlerischen Arbeiten aufgegeben hätten? Weiterhin müssen wir uns klarmachen, dass die biblische Rede vom "Hassen" der Geschöpfe niemals als ein Gebot den Vater, die Mutter oder den Gatten zu hassen, verstanden werden darf, denn das ganze Evangelium ist im Gegenteil von dem Gebot niemanden zu hassen, erfüllt. "Hassen" bedeutet hier einfach die Bereitschaft jedes menschliche Band aufzulösen, das uns daran hindert, Christus nachzufolgen, vor allem wenn wir vor der Alternative stehen, Christus zu folgen oder uns einer menschlichen Bindung wegen Seinem Ruf zu versagen.

Der erste Schritt zur Umgestaltung des Herzens ist die Überwindung jeder Hartherzigkeit. Jede Spur von Härte, woher sie auch kommen mag, muss unter dem Liebesstrahl des Heiligsten Herzens aufgeschmolzen werden. Die Gleichgültigkeit unseres Herzens gegen so viele echte Werte, gegenüber dem Heil unseres Nächsten, gegenüber den Beleidigungen und der Verherrlichung Gottes, diese Indifferenz, welche die Tragödie zahlloser Menschenleben ist, diese Stumpfheit und Schalheit des Herzens muss durch die von allen Seiten auf uns eindringende, unendliche Liebe Christi vertrieben werden. "Heute, wenn ihr Seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht" (Hebr 3,15).

Der zweite Schritt ist die Reinigung des Herzens von allen Befleckungen, die es schwächen und versklaven. Wir müssen um die Befreiung unseres Herzens aus den Fängen des Hochmutes und der Begehrlichkeit ringen. Durch Jesus und in Jesus sollten wir alle Ichbezogenheit und jede "Tyrannei des Herzens" überwinden.

Diese Umgestaltung muss jedoch über die Reinigung von allen schlechten Elementen hinausgehen. In manchen Kirchengebeten des liturgischen Jahres bitten wir, "dass wir lernen, die irdischen Dinge zu verachten und die himmlischen zu lieben" (terrena despicere et amare coelestia) (1). Dieses Gebet bezieht sich deutlich sowohl auf die rechte Willensrichtung wie auf die Antworten unseres Herzens. Um zu verstehen, welche Haltung die Kirche hier erbittet, müssen wir zunächst klären, welche Güter mit dem Wort terrena (irdisch) gemeint sind.

In einem anderen Buch haben wir die besondere Bedeutung dieses Begriffes schon untersucht: "Offenbar bezieht sich der Ausdruck "terrena" (irdisch) nicht auf etwas Böses und Sündiges. Irdisch ist nicht die Antithese zum sittlichen Guten, sondern meint Dinge, die, ohne in sich sündig zu sein, als "irdische" den "himmlischen" entgegenstehen. Es wäre genau so falsch, "irdisch" mit natürlich gleichzusetzen. Da das Gebet uns empfiehlt, die "irdischen" Dinge zu verachten, zeigt es uns, dass wir noch zwischen irdischen und natürlichen Gütern unterscheiden müssen.

Manche irdischen Güter dürften wir nie geringschätzen: die Schönheit der Natur und Kunst, die Wahrheit in der Philosophie und in allen Wissenschaften und vor allem Freundschaft und Ehe. Es ist also überaus wichtig, den hier gemeinten Sinn von "irdisch" zu erhellen.

Zuallererst muss alles Illegitime oder subjektiv Befriedigende, das an Hochmut oder Begehrlichkeit appelliert, ausgeschlossen werden. Aber auch unter den objektiven Gütern für die Person gilt es zwischen denen zu unterscheiden, die einen Wert tragen und jenen, die uns nur angenehm sind. Zu dem ersten Typ gehören die Schönheit in Natur und Kunst, die Wahrheit, Freundschaft, Ehe, künstlerische Talente und jede edle Begabung. Hingegen erfreuen uns gutes Essen, Reichtum, eine einflussreiche Stellung, Berühmtheit, Ehren nicht um ihres Wertes willen, sondern weil sie uns angenehm sind.

Alle werttragenden Güter sind in ihrem Wert ein Widerschein Gottes, Seiner unendlichen Güte, Schönheit und Heiligkeit. Sie sind natürliche, aber gewiss nicht "weltliche" Güter. Zugegeben, jedes geschaffene Gut kann missbraucht und daher zu einer Gefahr für uns werden. Dennoch bleibt ein Wesensunterschied zwischen Gütern, die in sich einen "weltlichen" Charakter haben, und den natürlichen Gütern, die im Gegensatz zu jenen auf eine "Welt über uns", eine jenseitige Wirklichkeit hinweisen. Sie künden uns von Gott und von der Ewigkeit. Obgleich irdisch in dem Sinne, dass ihre gegenwärtige Form zu unserer irdischen Existenz relativ ist, strahlen diese Güter doch einen Wert aus, der eine Botschaft von oben enthält. Sobald wir ihren Sinn richtig verstehen, ziehen sie uns in die Tiefe unserer Seele und vermehren unseren Durst nach den himmlischen Gütern. Wenn wir diesen Unterschied zwischen den weltlichen und irdischen Gütern innerhalb der natürlichen Güter betonen, wollen wir ganz gewiss nicht die Verschiedenheit zwischen den edelsten, irdischen und den ewigen Gütern verringern. Auch im Vergleich mit den höchsten natürlichen Werten kann man den vollkommen neuen, einzigartigen Charakter der übernatürlichen Welt und der Qualität der Heiligkeit nicht genug hervorheben. Von ihm spricht der hl. Paulus, wenn er uns auffordert: "Sinnt, was droben ist, nicht das, was auf Erden ist" (Kol 3, 2). Nichtsdestoweniger bleibt die Unterscheidung zwischen "weltlichen" und "irdischen" Gütern für das christliche Leben fundamental bedeutsam. Die Haltung des echten Christen zu den "weltlichen" und zu den nicht weltlichen, natürlichen Gütern, die jedoch irdisch und nicht himmlisch sind, sollte eine jeweils andere sein. Weltliche Güter sollte der Christ nicht suchen. Werden sie ihm aber verliehen, ohne dass er sie erstrebte, so sollte er sie gebrauchen, stets der in ihnen liegenden Gefahr gewärtig, wissend, dass sie, sobald wir uns an ihnen um ihrer selbst willen freuen, die Tendenz haben, unsere ungeteilte Zuwendung zu Christus zu vereiteln. Weil die spezifische Qualität dieser Güter eine Antithese zur übernatürlichen Welt enthält, macht es dieser ihr "weltlicher" Charakter unmöglich, sie ohne eine gewisse Entfremdung von Christus zu begehren.

Die natürlichen Güter mit hohen Werten erfordern hingegen eine andere Antwort. Werden sie richtig verstanden, so sind ihre Werte eine Botschaft von Gott, ein Widerschein Seiner unendlichen Schönheit. Darum braucht unsere Freude an ihnen um ihrer selbst willen, unser Gebet um sie, durchaus nicht unvereinbar mit der vollen Sehnsucht nach den ewigen Gütern zu sein. (Not as the world giveth, P. 70/72).

Es scheint also, dass wir innerhalb der natürlichen Güter eine wichtige Unterscheidung machen müssen, und dass sich die Verachtung der terrena, ausschließlich auf die "weltlichen" nicht aber auf die hohen Werte tragenden, natürlichen Güter beziehe.

Ferner gilt es den Unterschied zu verstehen zwischen dem Verlangen nach einem Gut und seiner dankbaren Würdigung, wenn Gott es uns gibt. Der Wunsch wohlhabend zu sein ist z. B. vom religiösen Standpunkt aus etwas ganz anderes als die Dankbarkeit für ein ererbtes oder geschenktes Vermögen. Die dankbare Würdigung besagt zugleich, dass uns das betreffende Gut nicht völlig gleichgültig ist. Natürlich kann eine besondere Berufung zur Armut an uns ergangen sein; dann müssten wir das empfangene Geld an die Armen verteilen. Besteht aber keine Berufung dieser Art, dann ist unsere dankbare Freude über dieses Geschenk durch die zahlreichen Güter mit echten Werten gerechtfertigt, die uns der Reichtum zugänglich macht. Offenbar liegt jedoch eine breite Kluft zwischen der dankbaren Freude über den Reichtum und dem Verlangen nach ihm.

Aber das Verachten des Weltlichen (despicere terrena) fordert mehr von uns als die Abwesenheit eines solchen Begehrens. Vor allem darf der Reichtum nicht als ein Gut in sich betrachtet werden. Überflüssig zu sagen, dass viele Menschen der entgegengesetzten Ansicht sind. Tatsächlich sind die durch ihn gegebene soziale Stellung, die Sicherheit und Unbelastetheit von Sorgen, das Lebensgefühl, das er verleiht, lauter Elemente, die den Reichtum zu einem Gut in sich machen, falls wir jede illegitime Befriedigung, etwa ein Auskosten der Macht, vermeiden. Der Besitz von Vermögen kann sehr anziehend sein, aber für die Umgestaltung unseres Herzens darf er uns als solcher nicht mehr verlocken. Wir können ihn jedoch als ein Geschenk betrachten, weil er ein Mittel zur Erlangung vieler werttragender Güter ist. So gibt er uns die Möglichkeit, unseren Nächsten zu helfen, den Menschen, die wir lieben, Wohltaten erweisen, bedeutsame Vorhaben zu unterstützen. Er macht uns auch viele Güter für uns selbst zugänglich, etwa Reisen in schöne Länder, oder den Besitz eines schönen, künstlerisch gestalteten Heimes usw.

Aber auch diese Haltung reicht noch nicht aus, denn die Umgestaltung in Christus erfordert vor allem, dass wir gegenüber solchen "weltlichen" Gütern wie Reichtum, die volle, mit ihrem Besitz verbundene Verantwortung anerkennen. Gerade das oben erwähnte Lebensgefühl des Vermögenden, das Bewusstsein der Sicherheit und der sozialen Stellung muss durch ein zitterndes Herz ersetzt werden. Das Herrentum sollte der Haltung des Dienenden weichen. Das gleiche gilt für andere weltliche Güter wie eine hohe Stellung oder Berühmheit. Von ihnen allen muss unser Herz einen inneren Abstand wahren; sie dürfen ihm nur im Geist des hl. Paulus zu eigen sein: "Nichts habend und doch alles besitzend" (nihil habentes, omnia autem possidentes. 2 Kor 6,10).

Gegenüber den natürlichen, aber nicht "weltlichen" Gütern, die Werte tragen und daher eine qualitative Botschaft von oben enthalten, erfordert die Umgestaltung unserer Herzen eine andere Haltung. Hier kann keine Rede von "verachten" sein. Hier ist die Umgestaltung vielmehr durch das amare in Deo, das Lieben aller Dinge in Gott, gekennzeichnet. Diese Haltung bedeutet nicht nur, dass wir Christus über alles lieben, sondern dass unsere Liebe zu allem anderen in Christus inkorporiert werde. So sollten wir uns an der Schönheit in Natur und Kunst in Christus freuen. Das besagt nicht, wir dürften die jeweilige Schönheit nur als Ausgangspunkt unserer Meditation über Christus sehen, sondern vielmehr, dass diese voll gewürdigte Schönheit selbst uns "in conspectu Dei" (im Blick Gottes) zieht, dass wir in der ihr eigenen Qualität einen Strahl der unendlichen Schönheit Gottes finden und die Stimme Christi in ihr vernehmen. Das gleiche gilt für die Erkenntnis der natürlichen Wahrheit. Wir sollten sie in Gott suchen und ist sie gefunden, in Gott verkosten.

Die in beiden Fällen erheischte Haltung weicht auch insofern von der Haltung gegenüber weltlichen Gütern ab, als die Sehnsucht und das Verlangen nach ihnen in keiner Weise der Umgestaltung in Christus widerspricht. Gewiss muss auch dieses in unsere Gesamtbeziehung zu Gott eingegliedert sein und dem primären Streben nach den caelestia, d. h. nach unserer Heiligung und ewigen Vereinigung mit Gott untergeordnet werden. Der ordo amoris, "die Ordnung der Liebe" erfordert, dass unsere Wünsche, Sehnsüchte und Begehren der objektiven Hierarchie der Güter gemäß sind. Doch nicht nur dies Verlangen ist legitim, auch unser Gebet, diese Güter verkosten zu dürfen, steht keineswegs unserer vollen Hingabe an Christus entgegen.

Der Wunsch nach solchen edlen Gütern sollte jedoch immer in die Hingabe an Gottes Willen eingesenkt sein. Ferner ist es wesentlich, in diesen Gütern, denen wir uns in Sehnsucht zuwenden, den Widerschein der unendlichen Schönheit Gottes zu sehen. Sie sollten uns über die "weltlichen" Güter hinausheben und zu Gott emporziehen. Schließlich enthält die geschaffene Welt eine indirekte Offenbarung Gottes, die die Worte der Liturgie bezeugen: "Himmel und Erde sind erfüllt von Deiner Herrlichkeit." Diese, hohe Werte tragenden, irdischen Güter sollten nicht als eine bloße Gelegenheit zur Abtötung betrachtet werden. Sie haben eine positive Sendung an den Menschen. Aber niemals sollten sie idolisiert, niemals von Gott getrennt, niemals von ihrer inneren Verbindung mit Gott abgeschnitten werden. Nie sollten wir ihre von Gott kündende Botschaft überhören.

Ein ähnliches Merkmal sollte unsere Haltung gegenüber den höchsten irdischen, geschaffenen Gütern auszeichnen, nämlich unsere Liebesgemeinschaften mit anderen Menschen: die Liebe zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden und vor allem zwischen Mann und Frau. Auch hier kann nicht die Rede von einer Verachtung solch hoher und edler Güter sein. Auch hier ist die gottgewollte, christliche Haltung das "amare in Deo" (in Gott lieben), jetzt in buchstäblichstem Sinne des Wortes. Im ersten Teil dieses Buches untersuchten wir den großen Wert der affektiven Wertantworten, des Ergriffenwerdens von hohen und edlen Gefühlen. Wir sahen auch die der gefallenen menschlichen Natur anhaftende Gefahr, von einer intensiven, affektiven Wertantwort in den wilden Strudel der Leidenschaft hinabstürzen. Nun aber müssen wir betonen: diese Gefahr kann nur in Christus und durch Ihn überwunden werden. Es gehört zu den charakteristischen Früchten unserer Umgestaltung in Christus, dass wir das wahre Hingerissensein von etwas Größeren als wir selbst zu erleben vermögen und zugleich vor dem Herausfallen aus der "religio" bewahrt bleiben. Nur wenn unser gesamtes affektives Leben in Christus gegründet und von Seiner Liebe durchdrungen ist, nur wenn unser Herz in der liebenden Anbetung Seines Heiligsten Herzens verwundet wurde, kann dieser Zustand des Hingerissenseins von einem Geschöpf von der Gefahr bewahrt werden, vom "heiligen Wahnsinn" in ein leidenschaftliches von Sinnen sein abzugleiten. Wir sagten oben, die Affektivität selbst könne nie zu stark, zu intensiv sein. Nun müssen wir hinzufügen: das gilt in Christus, gilt für den Menschen, dessen Herz von Christus umgestaltet wurde. Auf ihn finden die Worte des heiligen Augustinus ihre volle Anwendung: "Dilige, et quod vis fac" ("Liebe, dann tue was du willst". In Epist. Joan. ad Parthos VII, 8).

Die Umgestaltung in Christus schenkt uns eine neue Freiheit. Wer das süße Joch Christi annimmt, wird auch insofern befreit, als er nicht mehr fürchten muss, die Fülle der Affektivität werde ihn in die Gefahr schwerer Verirrungen bringen. Wer ein Gefangener Christi, ein Sklave der Liebe Christi wurde, gewinnt die Freiheit, im vollen Strömen einer sanktionierten Liebe zu einem Geschöpf nicht mehr gehindert und gehemmt zu sein. Er braucht sich nicht mehr vor dem Hingerissenwerden fürchten, er ist frei von der Notwendigkeit, die gesegnete Fülle seiner Liebe zu begrenzen.

Dies darf jedoch nicht so verstanden werden, als erreichten wir durch den Akt der Hingabe an Christus einen Zustand, in dem wir einfach der immanenten Logik unserer Liebe zu einem Geschöpf folgen könnten. Nein, die Vereinigung mit Christus muss ständig erneuert werden. Doch ist unser Verbleiben in der "religio" nicht durch eine Zurückhaltung garantiert, die versucht, unsere Liebe nach außen unter Kontrolle zu bringen, indem sie mit der Vernunft Dämme errichtet. Das alles führt nur dazu, uns unfähig für die Hingerissenheit in der Liebe zu einem Geschöpf zu machen.

Im Gegenteil, die stets erneuerte Konfrontation mit Christus, in der unsere Herzen wieder und wieder von Seinem Geist, von den Strahlen Seines Heiligsten Herzens durchdrungen werden, schenkt uns die Seligkeit, in Liebe hingerissen zu werden, ohne aus der "religio" zu fallen.

Wir haben über das Wesen der Umgestaltung unseres Herzens durch Christus und die Kontemplation des Heiligsten Herzens gesprochen. Aber in diesem Buch war das Mysterium des Heiligsten Herzens selbst unser Hauptthema. Darum möchten wir es beschließen, indem wir wiederholen, was wir schon in der Einleitung hervorhoben: Die Anbetung des Heiligsten Herzens lässt sich nicht von der Heiligsten Menschheit Christi trennen. Wir wollen uns voll bewusst machen, wie das Leben, nein die ganze Welt sinnvoller, schöner, herrlicher werden, wenn ein weiterer Aspekt der Heiligsten Menschheit Christi - der immer implizit in der Offenbarung enthalten war von der Kirche ausdrücklich entfaltet wird. Deutlichkeit ist ein großes Geschenk.

Im Heiligsten Herzen stehen wir vor dem innersten Kern der Menschheit Christi und durch sie vor dem tiefsten Geheimnis der Inkarnation, der Vereinigung der göttlichen und der menschlichen Natur im Gottmenschen.

Betrachten wir das Heiligste Herz Jesu, dann erfüllt Dankbarkeit, nie endende Dankbarkeit unser Herz. So können wir uns nur der Stimme der Kirche in der Präfation des Herz-Jesu-Festes vereinen: "Es ist in Wahrheit würdig und recht, gebührend und heilbringend, Dir immer und überall Dank zu sagen, heiliger Herr, allmächtiger Vater, ewiger Gott. Du wolltest, dass Dein Eingeborener am Kreuz von des Soldaten Lanze durchbohrt werde, damit Sein geöffnetes Herz, dieses Heiligtum göttlicher Freigebigkeit, Ströme des Erbarmens und der Gnade auf uns ergieße. Dies Herz, in dem die Glut der Liebe zu uns nie erlischt, sollte den Frommen eine Stätte der Ruhe werden, den Büßenden aber als rettende Zuflucht offen stehen."

Anmerkungen

I. TEIL

1 Im Verlauf dieser Arbeit werden wir uns wiederholt auf unsere anderen Bücher beziehen und dann jeweils nur den Titel zitieren. Darum geben wir an dieser Stelle die notwendigen bibliographischen Hinweise:

  • Christliche Ethik, deutsche Ausgabe von Karla Mertens, Düsseldorf, (Patmos) 1959;
  • Craven Images, New York, (David Mc Kay) 1957; Reinheit und Jungfräulichkeit, 3. Aufl., Einsiedeln, (Benziger) 1950;
  • Liturgie und Persönlichkeit, 2. Aufl., Graz, (Styria) 1955; Not as the World Giveth, Chicago, (Franciscan Herald Press) 1962;
  • Umgestaltung in Christus, 3. Aufl., Einsiedeln, (Benziger) 1955;
  • Wahre Sittlichkeit und Situationsethik, übers. von Heinrich Stephan, Düsseldorf, (Patmos) 1957;
  • What is Philosophy?, Milwaukee, (Bruce) 1960).

2 Liturgie und Persönlichkeit S. 161/162.

3 de civ. Dei IX, 5, deutsche Übersetzung v. C. J. Perl, Salzburg 1952, S. 70.

4 Mit dem Ausdruck "intentional" bezeichnen wir hier eine bewusste sinnvolle Beziehung zwischen der Person und einem Gegenstand ... Das Wesen dieser Intentionalität haben wir im 17. Kapitel unserer "Christlichen Ethik" analysiert.

5 Wir möchten nachdrücklich betonen, dass der Ausdruck "hysterisch" hier nicht in der gleichen Bedeutung gebraucht wird, den er oft in der Medizin, besonders in der Psychatrie hat. Wir denken an einen spezifisch psychologischen Typus, an eine scharf umrissene Entartung, die sich im personalen Leben des Menschen zeigt.

6 Ansprache an Neuvermählte v. 23. Okt. 1940. Aus: Ansprachen Pius XII. an Neuvermählte, übersetzt v. DDr. F. Zimmermann, Habbel Verlag Regensburg 1950.

7 In "Christliche Ethik", 17. Kap. Düsseldorf 1959, haben wir auf die Gefahr der Aquivokation bei zu weitem Gebrauch des Wortes "Willen" hingewiesen. Wir zeigten, dass dies weder für ein klares Verständnis der wahren Natur des Wollens noch der der affektiven Antworten günstig ist. Eine deutliche Untersuchung zwischen beiden ist vielmehr unerlässlich.

8 Dies gilt vor allem vom Alten Testament. Dort ist der Ausdruck Herz zwar fast inhaltsgleich mit der ganzen Seele - und diese ihm übertragene Stellvertretung ist durchaus kein Zufall, sondern beleuchtet die Eigenart des Herzen; im spezifischen Sinne.

9 Für weiteres Studium dieser verschiedenen Bedeutungen möchten wir auf das ausgezeichnete Sammelwerk: Le Coeur; Etudes CarmeIitaines 29, Paris, Desdee de Brouwwer 1950, bes. pp. 41-102 verweisen).

10; Coeur. 49.

11 Vergl. Christliche Ethik, Kap. 17, S. 251 u. f.

12 Wenn wir in diesem Buch von Vernunft, Wille und Herz als den drei fundamentalen Fähigkeiten oder Wurzeln im Menschen sprechen, die jede ihr eigenes Reich von Erlebnissen beherrschen, so wollen wir damit nicht behaupten, jedes menschliche Erlebnis, jede Tätigkeit oder Eigenschaft könne in einem dieser Bereiche eingeordnet werden. Der geheimnisvolle Reichtum des menschlichen Seins hat so viele Aspekte, dass solches Einreihenwollen notwendig die Gefahr einer Vergewaltigung der Wirklichkeit mit sich bringen würde. Ferne sei es von uns, einem derartigen Hang nachzugeben, der statt den Geist für die spezifische Eigenart eines gegebenen Erlebnisses zu öffnen, schon im voraus dessen Stelle festlegt. Wie auch immer viele Erlebnisse beschaffen sein mögen, diese drei Bereiche spielen eine überragende Rolle im Menschen und wir können mit vollem Recht von drei grundlegenden Zentren sprechen. In einem weiteren Buch "Methaphysik des Herzens" möchten wir die verschiedenen Erlebnisse aufführen, die keinem der drei Bereiche zugehören.

13 Wir brauchen die Instinkte und körperlichen Triebe nicht als eigene Gruppe aufführen. Gewiss unterscheidet sich Durst und andere Instinkte in vielen Hinsichten von den typischen Körpergefühlen, wie Schmerzen und Wohlbehagen. Aber sie werden nichts desto weniger auch gefühlt und gehören daher zu den leiblichen "Gefühlen". Da auch sie das Merkmal haben, auf das es hier ankommt, können wir sie in dieser Übersicht unter die "Körpergefühle" zählen.

14 Es gibt außer den Körpergefühlen noch einen anderen Typus leiblicher Erlebnisse: Tätigkeiten des Körpers wie gehen, kauen, schwimmen, springen, schlucken, das Innervieren unserer Muskeln, etwa beim Händeklatschen, beim Aufheben eines schweren Dinges, oder beim Drücken oder Pressen von etwas. Alle diese Tätigkeiten sind mehr oder weniger von Gefühlen begleitet, aber das Erlebnis oder die Bewegung dieses Tuns unterscheidet sich als solches von dem Fühlen im eigentlichen Sinn des Wortes. Daher können wir in unserem Zusammenhang hiervon absehen.

15 Vergl. 1. Kap. Anmerkung 1 u. Christliche Ethik, a. O. Kap. 17.

16 Der Ausdruck "überrational" meint hier selbstverständlich nicht ein übernatürliches Licht, im Sinne des Glaubens, den wir, im Gegensatz zu der Irrationalität des Aberglaubens, überrational nennen.

17 Unsere Übersicht beansprucht nicht, alle hier wichtigen Typen affektiver Erlebnisse aufgezählt zu haben. Wir hoffen, dies in einem weiteren Werk tun zu können.

18 Antworten, die von sittlich bedeutsamen Werten motiviert werden, bedürfen einer Sanktion im engeren Sinn des Wortes. Aber alle Wertantworten verlangen eine Sanktion im weiteren Sinn. (Vergleiche: Graven Images, New York, (Mc Kay, 1957, chapter 11).

19 Mit der Hervorhebung dieser Tendenz in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg wollen wir nicht sagen, die ganze Periode sei von ihr geprägt worden.

20 Vergleiche hierzu unser Werk: Methaphysik der Gemeinschaft, 2. Aufl., Habbel Verlag Regensburg 1955, I. Teil, 5. Kap.

II. TEIL

1 Dies war das Thema in "Umgestaltung in Christus" und der Höhepunkt in "Christliche Ethik", "Wahre Sittlichkeit und Situationsethik" und "Graven Images".

2 Diese und die folgenden Schriftstellen sind mit kleinen Abweichungen nach der Echter-Bibel (Echter-Verlag Würzburg) zitiert.

III. TEIL

1 Postcommunio des Herz Jesu Festes. Vgl. die Kirchengebete am Fest des hl. Petrus Damiani, des hl. Kasimir, des hl. Paulinus von Nola, des hl. Franziskus von Assisi, der hl. Elisabeth von Thüringen.