Neo-Modernismus: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 3. Februar 2021, 10:27 Uhr
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Mit dem Begriff Neo-Modernismus wird von konfessionellen Randgruppen das theologische Bemühen bezeichnet, einige Teilaspekte des Modernismus als Ansätze für eine Reform von Theologie und Kirche aufzugreifen. So sagte Jacques Maritain, ungeachtet dessen, dass er das Wort "Modernismus" für antiquiert hielt, im Jahr 1966:
"Das neo-modernistische Fieber: Das ist eine sehr ansteckende Krankheit, wenigstens für so genannte Intellektuelle. Der Modernismus zur Zeit Pius X. war dagegen nur ein harmloser Heuschnupfen.... Unredlicherweise hat man sie zuweilen dem Geist des Konzils zur Last gelegt, sogar dem "Geist Johannes XXIII." Wir wissen zu genau, wer der Vater dieser Lügen ist, und es ist nur gut für den Menschen, wenn dies ihn ein wenig entlastet.... Zum Beispiel die Erbsünde: Ist es nicht eine unserer wichtigsten Aufgaben, den ganzen Schuldkomplex abzuschaffen? ...Wahrheit als solche, was heißt das schon? Quid est veritas? Pilatus hat Recht gehabt und war ganz modern.... Andererseits darf man nicht übersehen, dass der zügellose Modernismus von heute unrettbar zweideutig ist.... Man sieht auch, wie sehr viele Anhänger dieses Neo-Modernismus eine gewaltige Anstrengung unternehmen, um für diesen Glauben so etwas wie ein verzweifeltes Zeugnis abzulegen." (Der Bauer von der Garonne, dt. 1969, S. 14)
Inhaltsverzeichnis
Modernitätsproblem
Außerhalb des Katholizismus wurden beispielsweise von Luther 1524 als Modernisten die bezeichnet, die der (nominalistischen) via moderna folgten. Auch später war es vornehmlich die orthodox-altprotestantische Polemik, die Innovationen als Modernismus ablehnte. Wegen des fehlenden sakramental verankerten Lehramts ist der Protestantismus seinem Ursprung nach weniger anpassungsfähig als die Kirche, die von Episkopat und Papsttum angeleitet wird. Mehr oder weniger wurde im Wirkungskreis der Reformation jede Modernisierung mittelbar oder unmittelbar von der Staatspolitik erzwungen.
Auf katholischer Seite sprach mutmaßlich der belgische Nationalökonom Charles Périn 1881 erstmals (gegen Lamennais) von Modernismus, ihm folgend 1883 die Civiltà Cattolica; in Deutschland Carl Braig 1882 (gegen Schleiermacher). Umberto Benigni nannte 1904 alle Bestrebungen modernistisch, die nach Autonomie von der kirchlichen Autorität streben.
Hans Urs von Balthasar mahnte bereits 1966 (in "Cordula", S. 130 f.), es sei alles einzusetzen, um eine Emigration auch der Progressisten aus der Kirche zu verhindern, aber auch eine Sezession der von ihm so genannten Neokatholiken. Das ist dem damaligen Papst Paul VI. und seinen Nachfolgern, trotz großer personeller Verluste in Klerus und Ordensleben, auch im Wesentlichen gelungen.
Meist wird der Begriff Neo-Modernismus von aggressiv traditionsbetonten Theologen in kritischer Absicht verwendet, um die Nähe jeder Anstrengungen um Erneuerung (nicht etwa des "Progressismus" sondern auch der Reform) zum 1907 päpstlicherseits verurteilten Modernismus zu behaupten (alle Nachfolger bestätigten diese Verurteilung). Die Anklage, ein Neo-Modernismus beherrsche heute den Katholizismus im europäisch geprägten Milieu, richtet sich insbesondere auf drei Konfiktfelder, "vorkonziliar", im jüngsten Konzil und "nachkonziliar". Wie das Aufkommen des Modernismus um 1900 vom damaligen wissenschaftlichen Weltbild abhängig war, so bleibt auch die Zukunft ähnlicher, zeitbedingter Auffassungen vom Erkenntnisstand der Wissenschaft und bestimmten philosophischen Aspekten aber nicht unbeeinflusst.
Nouvelle Théologie
Manche katholische Theologen sehen eine Kontinuität vom Modernismus, den Papst Pius X. 1907-1909 erfolgreich bekämpfte, zur so genannten "Schule von Lyon" und der Nouvelle Théologie. Als deren Mittelpunkt gelten der Jesuit und Konzilstheologe Henri de Lubac und der Dominikaner Yves M.-J. Congar, die beide von Papst Johannes Paul II. später zu Kardinälen ernannt wurden.
Vor einigen Ansichten dieser neueren Richtung, insbesondere vor einer übereilten Übernahme moderner philosophischer Positionen, warnte bereits Papst Pius XII. in seiner Enzyklika Humani Generis (1950). Auch Papst Paul VI. billigte dem Thomismus, anstatt moderner Philosophie, weiterhin eine Sonderstellung in der Priesterbildung als ratio recta zu (vgl. Apostolisches Schreiben Summi Dei Verbum vom 4. November 1963). Aber eine Alleinstellung für eine bestimmte Lesart der Scholastik hat kein neuerer Papst je ausgesprochen.
Nach eigener Auffassung wandten sich die Urheber der neuen Theologie auch nicht gegen den Hl. Thomas von Aquin und sein Werk, das zuletzt Papst Leo XIII. wieder stark gefördert hatte (so gen. Neuscholastik), wohl aber gegen eine als zu eng empfundene Schultheologie, die sich auf die Neuscholastik berief. Die existenzielle Umdeutung des Depositum fidei durch manche moderne Theologen wird übrigens mitunter auch von Atheisten als Flucht vor der Wahrheitsfrage empfunden.
In der weiteren Ausweitung der neuen Ansätze (insb. wider das päpstliche Credo des Gottesvolkes von 1968) wurde dann aber eine anthropozentrische Vereinfachung der katholischen Lehre populär, wie sie z.B. im so gen. Holländischen Katechismus von 1966 (dt. 1968) ihren Ausdruck fand. Dagegen ist zwar eine besondere Kardinalskommission eingeschritten, doch konnten deren Bemühungen die "neue Lehre" nicht mehr aufhalten. Diese ist heute, jedenfalls in Europa, in etliche religionspädagogische Materialien eingeflossen, ohne bisher neue Akzeptanz für die Theologie als Wissenschaft erzielt zu haben.
Von deutschen Sympathisanten eines gemäßigten "Neo-Modernismus" wie Werner Löser S.J., Peter Hünermann oder Peter Neuner wird die historisch-wissenschaftliche Relativierung des Dogmas jedoch, besonders unter ökumenischen Aspekt, nach wie vor für unausweichlich erachtet. Dabei wird auch bewusst die Nähe zu Irrlehren und Häresien in Kauf genommen.
"Konzilstheologie"
Aus der Sicht einiger Kritiker dieser neuen Ansätze sollte sogar die Erweiterung der vorkonziliaren Theologie um ältere theologische Ansichten (bestimmter Kirchenväter und Theologen des ersten christlichen Jahrtausends) im Ergebnis nur die Klarheit der Dogmatik schwächen. Motiv dieser Rückbesinnung auf ältere Traditionen sei ein unfruchtbarer Archäologismus, der die Kirche für moderne, subjektive Wahrheitskriterien öffnen soll. Die theologischen Arbeiten des I. Jahrtausends würden nur "unter dem Vorwand ihres hohen Alters" wieder ans Licht geholt, um mit solchen Zitaten den Neo-Modernismus zu verhüllen.
Die Konzilsmehrheit der Befürworter, der vom Konzil gewollten Öffnung (siehe: Aggiornamento), hin zu einer größeren Bandbreite theologischer Erörterung, hält eine legitime Pluralität theologischer Konzepte jedoch für eine Bereicherung, die vielen Menschen überhaupt erst einen Zugang zur Religion ermöglicht habe. Diese Öffnung ist längst unumkehrbar. Die Kritik an den (wenigen) "Antimodernisten" wirft diesen wiederum vor, mit ihrem Weltbild ihrerseits nur ein antiquiertes religiöses Bewusstsein widerzuspiegeln, anstatt den eigentlich verbindlichen Leitaussagen der Kirche zu folgen.
Der Verzicht des Konzils auf Lehrverurteilungen markiert nicht die Absicht, ihm etwa einen niedrigeren, nur "pastoralen" Rang zuzuweisen. Diese Methode wirkt darauf hin, über die bloß formelhafte Abhandlung von Lehrsätzen (der so genannten Schultheologie) zu einer Gesamtschau des Glaubensguts zu gelangen. Dies ist kein Neo-Modernismus, sondern vielmehr die eigentliche Antwort an die Moderne und so der mühsame, aber unumgängliche Weg zur Überwindung der Krise des Humanismus. Konzilspapst Johannes XXIII. war selbst kein Vertreter moderner theologischer Konzeptionen, sah jedoch die Notwendigkeit ein, das traditionelle Dogma in einer Sprache zu erläutern, die im heutigen Verstehenshorizont einleuchtet; vgl. Konzilsansprache Gaudet mater ecclesia vom 11. Oktober 1962. Ob diese legitime Absicht jedoch durch die für den Neo-Modernismus charakteristische Relativierung von Dogmen erreicht wird, ist zweifelhaft.
Interreligiöser Dialog
Als Beweis für einen fortschreitenden Neo-Modernismus in der katholischen Kirche sieht die konzilskritische Richtung allerdings auch den interreligiösen Dialog an, dessen sinnfälliger Ausdruck die Weltgebetstreffen für den Frieden in Assisi 1986 und 2002 waren. Hier zeige sich, dass auch das päpstliche Lehramt den Paradigmenwechsel hin zum Subjektivismus und Naturalismus mitvollzogen habe. Die gemeinsame Aktion verschiedener Religionen sei dazu geeignet, die Wahrheit (und auch die Wahrnehmung von Wahrheit in der Öffentlichkeit) zu relativieren.
Papst Benedikt XVI. hingegen hat in einer Grußadresse zum 20. Jahrestag von Assisi im September 2006 sorgfältig unterschieden zwischen der Notwendigkeit eines authentischen Dialogs und den abirrenden Tendenzen, ohne damit eine Vermischung der Kulte zu billigen. Auch in Neapel hat sich der Papst am 21. Oktober 2007 für die Fortsetzung interreligiöser Bemühungen ausgesprochen und wieder vor amerikanischen Vertretern des Judentums am 12. Februar 2009.
Gott und die Wissenschaft
Die Vertreter einer modernen Theologie wenden gegen die Kritik seitens des Traditionalismus ein, dass, wer die jüngeren Anstrengungen von Theologie und Kirche um ein vertieftes Verständnis des modernen Menschen, und insbesondere des atheistischen Humanismus, nur in den Kategorien des Modernismusstreits zu deuten verstehe, seinerseits die tiefgreifende Veränderung des modernen Weltbildes (auch in Folge der humanitären Katastrophen des 20. Jh.) kaum zur Kenntnis genommen habe. Nicht selten bekenne sich als wertkonservativ, wer eigentlich doch nur in persönlicher Nostalgie oder sogar Ideologie verharre. Inwieweit die teifgreifenden Veränderungen des modernen Weltbildes hingegen zwangsläufig eine Veränderung der katholischen Glaubenslehre erfordern, wurde bislang nicht untersucht.
Wegen der heute allgemein anzutreffenden "Wissenschaftsfrömmigkeit" wird mit einer Wirkung der neuesten wissenschaftlichen Selbstbeschränkung auf das Verhalten breiterer Kreise in Europa jedoch nicht so bald zu rechnen sein. Für die mittlere Sicht halten manche, etwa Jean Guitton, es aber für sicher, dass sich die kirchliche Selbstbesinnung im Zweiten Vatikanum als unerwartet erfolgreich erweisen wird. Manche erwarten sogar neue Anerkennung für den Thomismus, jedenfalls was seine eigentlichen Anliegen betrifft.
Einem etwaigen Neo-Modernismus bietet die neueste Wissenschaft jedoch keine Perspektive mehr. Eine im wissenschaftsgläubigen Sinne modernistische Theologie scheitert heute an der Weigerung der Wissenschaften, ihre Prämissen zu stützen. Bildlich gesprochen, dreht sich heute, da die moderne Physik den Beobachter voraussetzt, also die Sonne wieder um die Erde. Mit der Erledigung des Modernismus als "Sammelbecken aller Irrtümer" (omnium haereseon collectum) wird spätestens auch der ideologische Anti-Modernismus sich erübrigen (vgl. Benedikt XV., Antrittsenzyklika 1914: Non nova, sed noviter!) und einer vernünftigen Erneuerung inmitten der Kirche Platz machen. Auch der bisweilen noch vertretene Führungsanspruch wissenschaftlicher Theologie gegenüber dem kirchlichen Amt wäre dann allerdings obsolet; vgl. Instruktion Donum veritatis der Glaubenskongregation (vom 24. Mai 1990).
Literatur
- Werner Post, Antimoderne und Antimodernismus. Zur politischen Herkunftsgeschichte der Priesterbruderschaft St. Pius X., in: Die Orientierung 73 (2009), S. 51 f.
- Peter Neuner, 100 Jahre nach der Modernismusenzyklika, in: Stimmen der Zeit Heft 9/2007, S. 579-592.
- Peter Hünermann, Dogmatische Prinzipenlehre, Münster 2003.
- Manfred Lütz, Gott. Eine kleine Geschichte des Größten, München 2007.
- David Berger (Hg.), Die Enzyklika Humani generis Papst Pius XII., Köln 2000.
- Claus Arnold, Katholizismus als Kulturmacht, Paderborn 1999.
- Jean Guitton, Dieu et la science, Paris 1991.
- Rudolf Graber: Kirche nach dem Konzil. Veritas Verlag Wien-Linz-Passau (1967 herausgegeben unter dem Titel: Zur nachkonziliaren Situation der Kirche. Unterteilt ist das 32 Seiten und DIN 5 Heft in drei Kapitel: I. Die zweite Reformation; II. Die zweite Aufklärung; III: Der Neo-Modernismus; mit kirchlicher Druckerlaubnis).