Sensus fidei im Leben der Kirche (Wortlaut)

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Schreiben
Sensus fidei im Leben der Kirche

Internationale Theologische Kommission
unseres Heiligen Vaters
Franziskus
5. März 2014

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite - Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller).
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Einführung

1. Durch die Gabe des Heiligen Geistes, „des Geistes der Wahrheit, der vom Vater ausgeht“ und Zeugnis für den Sohn ablegt (vgl. Joh 15, 26), haben alle Getauften teil am prophetischen Amt Jesu Christi, „des treuen und zuverlässigen Zeugen“ (vgl. Offb 3, 14). Sie sollen in der Kirche und in der Welt Zeugnis für das Evangelium und den apostolischen Glauben ablegen. Der Heilige Geist salbt und rüstet sie für diese hohe Berufung, indem er ihnen eine ganz persönliche, tiefe Kenntnis des kirchlichen Glaubens überträgt. Im ersten Brief des heiligen Johannes wird den Gläubigen gesagt: „Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und ihr alle wisst es“, „Die Salbung, die ihr von ihm [Christus] empfangen habt, bleibt in euch und ihr braucht euch von niemand belehren zu lassen. Alles, was seine Salbung euch lehrt, ist wahr“ (1 Joh 2, 20.27).

2. Demzufolge haben die Gläubigen einen Instinkt für die Wahrheit des Evangeliums, der ihnen ermöglicht, echte christliche Lehre und Praxis zu erkennen und zu befürworten sowie zurückzuweisen, was falsch ist. Dieser übernatürliche Instinkt, der zutiefst mit der Gabe des Glaubens verbunden ist, die in der Gemeinschaft der Kirche empfangen wird, wird „Sensus fidei“ genannt, und er erlaubt den Christen, ihre prophetische Berufung zu erfüllen. In seiner ersten Angelusansprache zitierte Papst Franziskus die Worte einer einfachen alten Frau, der er einmal begegnet war: „Wenn der Herr nicht alles vergäbe, gäbe es die Welt nicht“; und er bemerkte bewundernd: „Das ist die Weisheit, die der Heilige Geist gibt.“<ref>Papst Franziskus, Angelusansprache, 17. März 2013.</ref> Die Einsicht dieser Frau ist eine eindrucksvolle Manifestation des „Sensus fidei“, der sowohl zu einem gewissen Unterscheidungsvermögen hinsichtlich der Dinge des Glaubens befähigt als auch wahre Weisheit fördert und – wie hier – zur Verkündigung der Wahrheit führt. Es ist daher klar, dass der „Sensus fidei“ eine lebendige Ressource für die Neuevangelisierung ist, zu der die Kirche in unserer Zeit zutiefst verpflichtet ist.<ref>Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (2013), Nrn. 119–120.</ref>

3. Als theologisches Konzept bezieht sich der „Sensus fidei“ auf zwei Wirklichkeiten, die zwar verschieden, aber eng miteinander verbunden sind: die eine hat die Kirche zum Gegenstand, „die Säule und das Fundament der Wahrheit“ (1 Tim 3, 15),<ref>Die Bibelzitate sind der Einheitsübersetzung entnommen. Die Konzilsdokumente werden wie folgt zitiert: Apostolicam actuositatem (AA), Ad gentes (AG), Dei Verbum (DV), Gaudium et spes (GS), Lumen gentium (LG), Perfectæ caritatis (PC), Sacrosanctum Concilium (SC). Denzinger- Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, wird mit DH angegeben. KKK steht für Katechismus der Katholischen Kirche und PL für Patrologia Latina.</ref> die andere den einzelnen Gläubigen, der durch die Sakramente der Initiation zur Kirche gehört und der – besonders durch die regelmäßige Feier der Eucharistie – an ihrem Glauben und ihrem Leben teilhat. Auf der einen Seite bezieht sich der „Sensus fidei“ auf die persönliche Fähigkeit des Gläubigen, innerhalb der Gemeinschaft der Kirche die Wahrheit des Glaubens zu erkennen. Auf der anderen Seite bezieht sich der „Sensus fidei“ auf eine gemeinschaftliche und kirchliche Wirklichkeit: den Instinkt des Glaubens der Kirche selbst, durch den sie ihren Herrn erkennt und sein Wort verkündet. Der „Sensus fidei“ in diesem Sinn spiegelt sich darin, dass die Getauften im grundlegenden Festhalten an einer Glaubenslehre oder einem Element der christlichen Praxis übereinstimmen. Diese Übereinstimmung („Consensus“) spielt eine entscheidende Rolle in der Kirche: der „Consensus fidelium“ ist ein sicheres Kriterium um zu entscheiden, ob eine bestimmte Lehre oder Praxis zum apostolischen Glauben gehört.<ref>In ihrem Dokument Die Interpretation der Dogmen hat die Internationale Theologische Kommission über den „Sensus fidelium“ als jenes „innere Gespür“ gesprochen, „durch welches das Volk Gottes … in der Verkündigung nicht das Wort von Menschen, sondern Gottes Wort erkennt, bejaht und unverbrüchlich festhält“. (C, II, 1). Das Dokument hat auch die Rolle des „Consensus fidelium“ in der Interpretation der Dogmen hervorgehoben (C, II, 4).</ref> Im vorliegenden Dokument benutzen wir den Ausdruck „Sensus fidei fidelis“, um uns auf die persönliche Fähigkeit des Gläubigen zu beziehen, in Sachen des Glaubens ein richtiges Urteil zu treffen, und den Ausdruck „Sensus fidei fidelium“, um uns auf den der Kirche eigenen Instinkt des Glaubens zu beziehen. Je nach Kontext bezieht sich „Sensus fidei“ entweder auf das Erstere oder auf das Letztere, und in letzterem Fall wird der Begriff „Sensus fidelium“ ebenfalls benutzt.

4. Die Bedeutung des „Sensus fidei“ im Leben der Kirche wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil stark hervorgehoben. Das Konzil verdrängte das Zerrbild, es gäbe eine aktive Hierarchie und passive Laien – vor allem die Vorstellung von einer strengen Trennung zwischen einer lehrenden Kirche (Ecclesia docens) und einer lernenden Kirche (Ecclesia discens) – und lehrte, dass alle Getauften auf ihre jeweils eigene Weise an den drei Ämtern Christi als Prophet, Priester und König teilhaben. Im Besonderen lehrte es, dass Christus sein prophetisches Amt nicht nur durch die Hierarchie, sondern auch durch die Laien vollzieht.

5. In der Rezeption und Anwendung der Konzilslehren über dieses Thema ergeben sich jedoch viele Fragen, vor allem in Bezug auf Kontroversen, die verschiedene Punkte der Lehre oder der Moral betreffen. Was genau ist der „Sensus fidei“ und wie kann er festgestellt werden? Welches sind die biblischen Quellen dieses Begriffs und wie wirkt der „Sensus fidei“ in der Tradition des Glaubens? In welcher Beziehung steht der „Sensus fidei“ zum kirchlichen Lehramt des Papstes und der Bischöfe sowie zur Theologie?<ref> In ihrem kürzlich erschienenen Dokument mit dem Titel Theologie heute: Perspektiven, Prinzipien und Kriterien (2012) hat die Internationale Theologische Kommission den „Sensus fidei“ als einen grundlegenden locus oder Bezugspunkt für die Theologie bezeichnet (Nr. 35).</ref> Welches sind die Bedingungen für eine authentische Ausübung des „Sensus fidei“? Ist der „Sensus fidei“ etwas anderes als die mehrheitliche Meinung der Gläubigen zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort und falls ja, wie unterscheidet er sich dann von Letzterem? All diese Fragen erfordern Antworten, wenn der Begriff des „Sensus fidei“ in der heutigen Kirche vollständiger verstanden und mit größerem Vertrauen angewendet werden soll.

6. Der vorliegende Text hat nicht die Absicht, eine vollständige Darstellung des „Sensus fidei“ zu geben, sondern er will einfach einige wichtige Aspekte dieses wesentlichen Begriffs klarstellen und vertiefen, um gewisse Fragen vor allem im Hinblick darauf zu beantworten, wie der wirkliche „Sensus fidei“ in kontroversen Situationen festgestellt werden kann, wenn etwa Spannungen zwischen dem kirchlichen Lehramt und solchen Meinungen bestehen, die behaupten, den „Sensus fidei“ zum Ausdruck zu bringen. Entsprechend werden zuerst die biblischen Quellen für den Begriff des „Sensus fidei“ betrachtet sowie die Art und Weise, wie sich diese Vorstellung in der Geschichte und der Tradition der Kirche entwickelt und dort gewirkt hat (Kapitel 1). Als Nächstes wird das Wesen des „Sensus fidei fidelis“ zusammen mit seinen Manifestationen im persönlichen Leben des Gläubigen betrachtet (Kapitel 2). Das Dokument wird dann über den „Sensus fidei fidelium“ nachdenken, also über den „Sensus fidei“ in seiner kirchlichen Form, und dabei zunächst seine Rolle in der Entwicklung der christlichen Lehre und Praxis und dann seine Beziehung jeweils zum Lehramt und zur Theologie sowie auch seine Bedeutung für den ökumenischen Dialog betrachten (Kapitel 3). Schließlich wird es versuchen, Dispositionen auszumachen, die für eine authentische Teilhabe am „Sensus fidei“ notwendig sind – sie bilden Kriterien für das Erkennen eines echten „Sensus fidei“ – sowie über einige Anwendungen seiner Ergebnisse auf das konkrete Leben der Kirche nachdenken (Kapitel 4).

Kapitel 1: Der „Sensus fidei“ in Schrift und Tradition

7. Der Ausdruck „Sensus fidei“ findet sich weder in der Schrift noch in der offiziellen Lehre der Kirche bis zum Zweiten Vatikanum. Die Vorstellung jedoch, dass die Kirche als Ganzes in ihrem Glauben unfehlbar ist, da sie Leib und Braut Christi ist (vgl. 1 Kor 12, 27; Eph 4, 12; 5,21–32; Offb 21, 9) und dass alle ihre Glieder eine Salbung haben, die sie lehrt (vgl. 1 Joh 2, 20.27), da sie mit dem Geist der Wahrheit ausgestattet sind (vgl. Joh 16, 13), ist vom Beginn der Christenheit sichtbar. Das vorliegende Kapitel wird die Hauptlinien der Entwicklung dieser Vorstellung zunächst in der Heiligen Schrift und dann in der späteren Geschichte der Kirche umreißen.

1. Biblische Lehre

a) Glaube als Antwort auf das Wort Gottes

8. Im gesamten Neuen Testament ist der Glaube die fundamentale und entscheidende Antwort der Menschen auf das Evangelium. Jesus verkündet das Evangelium, um die Menschen zum Glauben zu bringen: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 15) Paulus erinnert die frühen Christen an seine apostolische Verkündigung über den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, um ihren Glauben zu erneuern und zu vertiefen: „Ich erinnere euch, Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündet habe. Ihr habt es angenommen; es ist der Grund, auf dem ihr steht. Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet, wenn ihr an dem Wortlaut festhaltet, den ich euch verkündet habe. Oder habt ihr den Glauben vielleicht unüberlegt angenommen?“ (1 Kor 15,1–2) Das Verständnis des Glaubens im Neuen Testament wurzelt im Alten Testament und vor allem im Glauben Abrahams, der vollkommen auf Gottes Verheißungen vertraute (Gen 15, 6; vgl. Röm 4, 11.17). Der Glaube ist eine freie Antwort auf die Verkündigung des Wortes Gottes und als solcher eine Gabe des Heiligen Geistes, die von denen empfangen wird, die wahrhaft glauben (vgl. 1 Kor 12, 3). Der „Gehorsam des Glaubens“ (Röm 1, 5) ist die Folge von Gottes Gnade, die die Menschen befreit und sie zu Gliedern der Kirche macht (Gal 5, 1.13).

9. Das Evangelium ruft den Glauben hervor, weil es nicht einfach die Vermittlung von religiöser Information ist, sondern die Verkündigung des Wortes Gottes und die „Kraft Gottes, die jeden rettet“, die wahrhaft empfangen werden muss (Röm 1,16–17; vgl. Mt 11, 15; Lk 7,22 [Jes 26, 19; 29, 18; 35,5–6; 61,1–11]). Es ist das Evangelium von der Gnade Gottes (Apg 20, 24), die „Offenbarung jenes Geheimnisses“ Gottes (Röm 16, 25) und „das Wort der Wahrheit“ (Eph 1, 13). Das Evangelium hat einen wesentlichen Inhalt: das Kommen des Reiches Gottes, die Auferstehung und Verherrlichung des gekreuzigten Jesus Christus, das Geheimnis der Erlösung und Glorifizierung durch Gott im Heiligen Geist. Das Evangelium hat einen starken Inhalt: Jesus selbst, das Wort Gottes, der seine Apostel und ihre Jünger aussendet, und es nimmt die direkte Form durch Worte und Taten inspirierter und autorisierter Verkündigung an. Das Evangelium zu empfangen, erfordert eine Antwort der ganzen Person, „mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“ (Mk 12, 31). Das ist die Antwort des Glaubens, der bedeutet: „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Heb 11, 1).

10. „Glaube ist sowohl ein Akt des Vertrauens als auch des Bekennens. ,Fides quae‘ und ,Fides qua‘ sind untrennbar miteinander verbunden; denn Vertrauen ist die Zustimmung zu einer Botschaft mit einem klaren Inhalt, und das Bekenntnis kann nicht auf ein reines Lippenbekenntnis reduziert werden, sondern muss aus dem Herzen kommen.“<ref>Theologie heute, Nr. 13.</ref> Das Alte und das Neue Testament zeigen deutlich, dass Form und Inhalt des Glaubens zusammengehören.

b) Die persönliche und die kirchliche Dimension des Glaubens

11. Die Heilige Schrift zeigt, dass die persönliche Dimension des Glaubens in die kirchliche Dimension eingebunden ist; es finden sich sowohl Formen der ersten Person Plural als auch der ersten Person Singular: „wir glauben“ (vgl. Gal 2, 16) und „ich glaube“ (vgl. Gal 2,19–20). In seinen Briefen begreift Paulus den Glauben der Gläubigen sowohl als persönlich als auch als kirchlich. Er lehrt, dass jeder, der bekennt, „,Jesus ist der Herr!‘ … aus dem Heiligen Geist redet“ (1 Kor 12, 3). Der Heilige Geist gliedert jeden Gläubigen in den Leib Christi ein und gibt ihm oder ihr eine besondere Rolle zum Aufbau der Kirche (vgl. 1 Kor 12,4–27). Im Brief an die Epheser ist das Bekenntnis des einen und einzigen Gottes mit einem Glaubensleben in der Kirche verbunden: „Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist“ (Eph 4,4–6).

12. In seiner persönlichen und kirchlichen Dimension hat der Glaube die folgenden wesentlichen Aspekte:

I.) Glaube erfordert Buße. In der Verkündigung der Propheten Israels und Johannes des Täufers (vgl. Mk 1, 4) sowie in der Verkündigung der Frohen Botschaft durch Jesus selbst (vgl. Mk 1,14 f.) und in der Sendung der Apostel (Apg 2,38–42; 1 Thess 1,9f.) bedeutet Buße das Bekennen seiner Sünden und den Beginn eines neuen Lebens, das in der Gemeinschaft des Bundes mit Gott gelebt wird (vgl. Röm 12,1 f.).

II.) Glaube wird sowohl durch Gebet als auch durch Gottesdienst („leiturgia“) gestärkt und ausgedrückt. Das Gebet kann verschiedene Formen annehmen – Bitten, Flehen, Lobpreis, Danksagung –, und das Bekenntnis des Glaubens ist eine besondere Form des Gebets. Liturgisches Gebet und besonders die Feier der Eucharistie war von jeher wesentlich für das Leben der christlichen Gemeinschaft (vgl. Apg 2, 42). Das Gebet findet sowohl in der Öffentlichkeit statt (vgl. 1 Kor 14) als auch privat (vgl. Mt 6,5 f.). Für Jesus bringt das Vaterunser (Mt 6,9–13; Lk 11,1–4) das Wesen des Glaubens zum Ausdruck. Es ist ein „kurzer Inbegriff des ganzen Evangeliums“.<ref> Tertullian, De oratione, I, 6.</ref> Bezeichnenderweise benutzt es die Worte „wir“, „uns“ und „unser“.

III.) Glaube bringt Wissen. Derjenige, der glaubt, vermag die Wahrheit Gottes zu erkennen (vgl. Phil 3,10 f.). Dieses Wissen entspringt dem Nachdenken über die Gotteserfahrung, die auf der Offenbarung gründet und in der Gemeinschaft der Gläubigen geteilt wird. Das bezeugt die Weisheitstheologie sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments (Ps 111, 10; vgl. Spr 1, 7; 9, 10; Mt 11, 27; Lk 10, 22). IV.) Der Glaube führt zum Bekenntnis („marturia“). Beseelt durch den Heiligen Geist wissen die Gläubigen, wem sie Glauben geschenkt haben (vgl. 2 Tim 1,1 2), und vermögen, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt (vgl. 1 Petr 3, 15), dank der prophetischen und apostolischen Verkündigung des Evangeliums (vgl. Röm 10,9 f.). Sie tun das in ihrem eigenen Namen; doch sie tun es aus der Gemeinschaft der Gläubigen heraus.

V.) Glaube bedingt Vertrauen. Auf Gott vertrauen heißt, sein ganzes Leben auf Gottes Verheißung zu gründen. In Heb 11 werden viele Gläubige des Alten Testaments als Glieder eines langen Festzugs durch Zeit und Raum zu Gott im Himmel erwähnt, der von Jesus, dem „Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12, 2), angeführt wird. Christen sind Teil dieses Festzugs, sie teilen dieselbe Hoffnung und Überzeugung (Hebr 11, 1) und sind bereits von „einer solchen Wolke von Zeugen umgeben“ (vgl. Hebr 12, 1).

VI.) Glaube schließt Verantwortung ein und vor allem Nächstenliebe und Dienst („Diakonia“). Die Jünger werden „an ihren Früchten“ erkannt werden (Mt 7, 20). Die Früchte gehören wesentlich zum Glauben, denn der Glaube, der vom Hören auf das Wort Gottes kommt, erfordert Gehorsam gegenüber Seinem Willen. Der Glaube, der gerecht macht (Gal 2, 16), ist Glaube, „der in der Liebe wirksam ist“ (Gal 5, 6; vgl. Jak 2,21–24). Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern ist das Beurteilungskriterium für die Liebe zu Gott (1 Joh 4, 20).

c) Das Vermögen der Gläubigen, die Wahrheit zu erkennen und zu bezeugen

13. In Jeremias wird ein neuer Bund verheißen, der die Verinnerlichung von Gottes Wort mit sich bringen wird: „Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, Klein und Groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr“ (Jer 31,33–34). Das Volk Gottes wird neu geschaffen werden, einen „neuen Geist“ empfangen, damit es in der Lage sein wird, das Gesetz zu erkennen und ihm zu folgen (Ez 11,19–20). Diese Verheißung wird im Dienst Jesu und im Leben der Kirche durch die Gabe des Heiligen Geistes erfüllt. Sie wird vor allem in der Eucharistiefeier erfüllt, in der die Gläubigen den Kelch empfangen, der der „Neue Bund“ im Blut des Herrn ist (Lk 22, 20; 1 Kor 11, 25; vgl. Röm 11, 27; Hebr 8,6–12; 10,14–17).

14. In seiner Abschiedsrede beim Letzten Abendmahl verheißt Jesus seinen Jüngern den „Beistand“, den Geist der Wahrheit (Joh 14, 16.26; 15, 26; 16,7–14). Der Geist wird sie an die Worte Jesu erinnern (Joh 14, 26), sie befähigen, Zeugnis für das Wort Gottes abzulegen (Joh 15,26–27), „die Welt überführen (und aufdecken), was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist“ (Joh 16, 8) und die Jünger „in die ganze Wahrheit führen“ (Joh 16, 13). All dies geschieht dank der Gabe des Heiligen Geistes durch das österliche Geheimnis, das im Leben der christlichen Gemeinschaft und besonders in der Eucharistie gefeiert wird, bis der Herr kommt (vgl. 1 Kor 11, 26). Die Jünger haben ein ihnen eingegebenes Gespür für die immer aktuelle Wahrheit des in Jesus menschgewordenen Wortes Gottes und seiner Bedeutung für heute (vgl. 2 Kor 6, 2), und das drängt das Volk Gottes, geleitet vom Heiligen Geist, in der Kirche und in der Welt Zeugnis für seinen Glauben abzulegen.

15. Mose wünschte, dass das ganze Volk zu Propheten würde, indem der Herr seinen Geist auf sie alle legte (Num 11, 29). Dieser Wunsch wurde durch den Propheten Joël zu einer eschatologischen Verheißung, und an Pfingsten verkündet Petrus die Erfüllung dieser Verheißung: „In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein“ (Apg 2, 17; vgl. Joël 3, 1). Der Geist, der verheißen war (Apg 1, 8), wird ausgegossen und befähigt die Gläubigen, „Gottes große Taten“ (Apg 2, 11) zu verkünden.

16. Die erste Beschreibung der Gemeinschaft von Gläubigen in Jerusalem verbindet vier Bestandteile: „Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten“ (Apg 2, 42). Das treue Befolgen dieser vier Bestandteile bekundet auf machtvolle Weise den apostolischen Glauben. Der Glaube hält fest an der authentischen Lehre der Apostel, die sich an die Lehre Jesu erinnert (vgl. Lk 1,1–4); er lässt die Gläubigen in Gemeinschaft miteinander treten; er wird durch die Begegnung mit dem Herrn beim Brechen des Brots erneuert; und er wird im Gebet gestärkt.

17. Als es in der Kirche Jerusalems zu einem Streit zwischen Hellenisten und Hebräern über die tägliche Versorgung kam, riefen die zwölf Apostel „die ganze Schar der Jünger“ zusammen und trafen eine Entscheidung, die „den Beifall der ganzen Gemeinde“ fand. Die ganze Gemeinde wählte „sieben Männer von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit“ und brachte sie vor die Apostel, die dann beteten und ihnen ihre Hände auflegten (Apg 6,1–6). Als in der Kirche von Antiochien Probleme bezüglich der Beschneidung und der Praxis der Thora auftraten, wurde der Fall der Mutterkirche von Jerusalem zur Beurteilung vorgelegt. Das darauf folgende Apostelkonzil war von größter Bedeutung für die Zukunft der Kirche. Lukas beschreibt gewissenhaft die Abfolge der Ereignisse. „Die Apostel und die Ältesten traten zusammen, um die Frage zu prüfen“ (Apg 15, 6). Petrus erzählte die Geschichte, dass er vom Heiligen Geist inspiriert worden war, Kornelius und sein Haus zu taufen, obwohl sie nicht beschnitten waren (Apg 15,7–11). Paulus und Barnabas berichteten über ihre missionarische Erfahrung in der Ortskirche von Antiochia (Apg 15, 12; vgl. 15,1–5). Jakobus dachte über diese Erfahrungen im Licht der Schrift nach (Apg 15,13–18) und schlug einen Beschluss vor, der die Einheit der Kirche begünstigte (Apg 15,19–21). „Da beschlossen die Apostel und die Ältesten zusammen mit der ganzen Gemeinde, Männer aus ihrer Mitte auszuwählen und sie zusammen mit Paulus und Barnabas nach Antiochia zu senden“ (Apg 15, 22). Das Schreiben, das den Beschluss mitteilte, wurde von der Gemeinde mit der Freude des Glaubens aufgenommen (Apg 15,23–33). Für Lukas zeigten diese Ereignisse echtes kirchliches Handeln, das sowohl den pastoralen Dienst der Apostel und Älteren einbezieht als auch die Teilnahme der Gemeinde, die durch ihren Glauben zur Mitwirkung berechtigt ist.

18. In seinem Schreiben an die Korinther bezeichnet Paulus die Torheit des Kreuzes als Weisheit Gottes (1 Kor 1,18–25). Bei der Erklärung, wie dieses Paradox zu verstehen ist, sagt er: „Wir aber haben den Geist Christi (1 Kor 2,16; „nos autem sensum Christi habemus“ in der Vulgata). „Wir“ bezieht sich hier auf die Kirche von Korinth in Gemeinschaft mit ihrem Apostel als Teil der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen (1 Kor 1,1–2). Die Fähigkeit, den gekreuzigten Messias als Weisheit Gottes zu sehen, wird durch den Heiligen Geist gegeben; sie ist nicht ein Privileg der Weisen und Schriftgelehrten (vgl. 1 Kor 1, 20), sondern sie wird den Armen, den Ausgegrenzten gegeben und denen, die „töricht“ sind in den Augen der Welt (1 Kor 1,26–29). Dennoch kritisiert Paulus die Korinther, immer noch „irdisch eingestellt“ zu sein, noch nicht bereit für „feste Speise“ (1 Kor 3,1–4). Ihr Glaube muss noch reifen und in ihren Worten und Taten besser zum Ausdruck kommen.

19. In seinem Amt zeigt Paulus sowohl Achtung vor dem Glauben seiner Gemeinden als auch den Wunsch, ihn zu vertiefen. In 2 Kor 1,24 beschreibt er seine Mission als Apostel mit folgenden Worten. „Wir wollen ja nicht Herren über euren Glauben sein, sondern wir sind Helfer zu eurer Freude; denn im Glauben seid ihr fest verwurzelt“, und er ermutigt die Korinther: „Steht fest im Glauben“ (1 Kor 16, 13). An die Thessalonicher schreibt er einen Brief, „um euch zu stärken und in eurem Glauben aufzurichten“ (1 Thess 3, 2), und er betet auf ähnliche Weise für den Glauben der anderen Gemeinden (vgl. Kol 1, 9; Eph 1,17–19). Der Apostel setzt sich nicht nur für eine Zunahme des Glaubens der anderen ein, er weiß, dass sein eigener Glaube dadurch in einer Art Dialog des Glaubens gestärkt wird: „damit wir … miteinander Zuspruch empfangen durch euren und meinen Glauben“ (Röm 1, 12). Der Glaube der Gemeinde ist ein Bezugspunkt für Paulus’ Lehre sowie ein Schwerpunkt für seinen pastoralen Dienst, und er führt zu einem Austausch zwischen ihm und seinen Gemeinden, der für beide Seiten förderlich ist.

20. Im ersten Brief des Johannes wird die apostolische Überlieferung erwähnt (1 Joh 1,1–4) und die Leser werden an ihre Taufe erinnert: „Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und ihr alle wisst es“ (1 Joh 2, 20). In dem Brief heißt es weiter: „Für euch aber gilt: Die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch und ihr braucht euch von niemand belehren zu lassen. Alles, was seine Salbung euch lehrt, ist wahr und keine Lüge. Bleibt in ihm, wie es euch seine Salbung gelehrt hat“ (1 Joh 2, 27).

21. Im Buch der Offenbarung schließlich wiederholt der Prophet Johannes in allen seinen Schreiben an die Gemeinden (vgl. Offb 2–3) die Formel: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2,7 u.a.). Die Mitglieder der Gemeinden werden aufgefordert, das lebendige Wort des Geistes zu beherzigen, es zu empfangen und Gott zu verherrlichen. Durch den Glaubensgehorsam, der selbst eine Gabe des Geistes ist, werden die Gläubigen befähigt, die Lehre, die sie empfangen, wirklich als die Lehre desselben Geistes zu erkennen und den ihnen gegebenen Anweisungen zu folgen.

2. Die Entwicklung des Begriffs und sein Platz in der Geschichte der Kirche

22. Der Begriff des „Sensus fidelium“ wurde zur Zeit der Reformation allmählich herausgearbeitet und auf systematischere Weise verwendet, obgleich die entscheidende Rolle des „Consensus fidelium“ bei der Unterscheidungsfindung und in der Entwicklung der Lehre über Glaube und Sitte bereits in der Patristik und im Mittelalter erkannt worden war. Es war jedoch immer noch notwendig, sich aufmerksamer mit der besonderen Rolle der Laien in dieser Hinsicht zu befassen. Diese Frage wurde vor allem vom neunzehnten Jahrhundert an behandelt.

a) Die Zeit der Patristik

23. Die Kirchenväter und Theologen der ersten Jahrhunderte betrachteten den Glauben der ganzen Kirche als einen sicheren Bezugspunkt, um zu erkennen, was zur apostolischen Überlieferung gehört. Ihre Überzeugung über die Zuverlässigkeit und sogar Unfehlbarkeit der Unterscheidungsfindung der ganzen Kirche in Sachen des Glaubens und der Sitte kam im Kontext von Kontroversen zum Ausdruck. Sie lehnten gefährliche, von Häretikern eingeführte Neuheiten ab, indem sie sie mit dem verglichen, was in allen Kirchen beibehalten und getan wurde.<ref> Yves M.-J. Congar zeigt verschiedene Lehrfragen auf, in denen der „Sensus fidelium“ verwendet wurde, in Jalons pour une Th´eologie du La¨ıcat (Paris: ´Editions du Cerf, 1953), S. 450–53; Appendix II: „Le sensus fidelium chez les P`eres“, S. 465–467.</ref> Für Tertullian (160–225) bezeugt die Tatsache, dass alle Kirchen im Wesentlichen denselben Glauben haben, die Gegenwart Christi und die Führung des Heiligen Geistes; diejenigen, die sich vom Glauben der ganzen Kirche abkehren, kommen vom Weg ab.<ref> Tertullian, De præscriptione hæreticorum, 21 und 28.</ref> Für Augustinus (354–430) legt die ganze Kirche „vom Bischof bis zum geringsten Gläubigen“ Zeugnis für die Wahrheit ab.<ref> Augustinus, De prædestinatione sanctorum, XIV, 27 (PL 44, 980). Er sagt das über die Kanonizität des Buchs der Weisheit.</ref> Die allgemeine Übereinstimmung von Christen funktioniert als eine sichere Regel, um über den apostolischen Glauben zu entscheiden: „Securus judicat orbis terrarum [Das Urteil der ganzen Welt ist sicher]“.<ref>Augustinus, Contra epistolam Parmeniani, III, 24 (PL 43, 101). Vgl. De baptismo, IV, xxiv, 31 (PL 43, 174) (in Bezug auf die Taufe von Kindern): „Quod universa tenet Ecclesia, nec conciliis institutum, sed semper retentum est, nonnisi auctoritate apostolica traditum rectissime creditur.“</ref> Johannes Cassian (360–435) erklärte, dass die universale Übereinstimmung der Gläubigen ein ausreichendes Argument ist, um Häretiker zu widerlegen,<ref>Cassian, De incarnatione Christi, I, 6 (PL 50, 29–30): „Sufficere ergo solus nunc ad confutandum haeresim deberet consensus omnium, quia indubitatae veritatis manifestatio est auctoritas universorum.“</ref> und Vinzenz von Lérins (gestorben 445) schlug als Norm den Glauben vor, an dem überall, immer und von jedem festgehalten wurde („quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est“).<ref>Vinzenz von Lérins, Commonitorium II, 5 (CCSL, 64, S. 149).</ref>

24. UmStreitfragen unter den Gläubigen zu klären, beriefen sich die Kirchenväter nicht nur auf den gemeinsamen Glauben, sondern auch auf die fortwährende Überlieferung der Praxis. Hieronymus (345–420) beispielsweise fand die Rechtfertigung für die Verehrung von Reliquien, indem er auf die Praxis der Bischöfe und der Gläubigen hinwies,<ref>Hieronymus, Adversus Vigilantium 5 (CCSL 79C, S. 11–13).</ref> und Epiphanius (315–403) fragte zur Verteidigung der bleibenden Jungfräulichkeit Mariens, ob jemand jemals gewagt hätte, ihren Namen ohne den Zusatz „die Jungfrau“ auszusprechen.<ref>Epiphanios von Salamis, Panarion haereticorum, 78, 6; Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, Epiphanius, Bd 3, S. 456.</ref>

25. Das Zeugnis der patristischen Periode betrifft hauptsächlich das prophetische Zeugnis des Gottesvolks als Ganzem, etwas, das einen gewissen objektiven Charakter hat. Das glaubende Volk als Ganzes könne in Dingen des Glaubens nicht irren, wurde behauptet, weil es eine Salbung von Christus erfahren habe, den verheißenen Heiligen Geist, der es ausrüste, die Wahrheit zu erkennen. Einige Kirchenväter dachten auch über die subjektive Fähigkeit von Christen nach, die vom Glauben beseelt sind und denen der Heilige Geist innewohnt, die wahre Lehre in der Kirche zu bewahren und Irrtümer zurückzuweisen. Augustinus etwa machte darauf aufmerksam, als er erklärte, dass Christus, „der innere Lehrer“, die Laien ebenso wie ihre Hirten befähige, nicht nur die Wahrheit der Offenbarung zu empfangen, sondern auch sie anzunehmen und weiterzugeben.<ref> Augustinus, In Iohannis Evangelium tractatus, XX, 3 (CCSL 36, S. 204); Ennaratio in psalmum 120,7 (PL 37,1611).</ref>

26. In den ersten fünf Jahrhunderten erwies sich der Glaube der Kirche als Ganzer als entscheidend bei der Bestimmung des Schriftkanons und bei der Definition der wichtigsten Dogmen, wie zum Beispiel der Gottheit Christi, der bleibenden Jungfräulichkeit und Gottesmutterschaft Marias sowie der Verehrung und Anrufung der Heiligen. In einigen Fällen spielte, wie der selige John Henry Newman (1801–1890) feststellte, vor allem der Glaube der Laien eine entscheidende Rolle. Das auffälligste Beispiel war die berühmte Kontroverse mit den Arianern im vierten Jahrhundert, welche beim Konzil von Nicäa (325) verurteilt wurden, wo die Gottheit Christi definiert wurde.Von diesem Konzil bis zum Konzil von Konstantinopel (381) herrschte jedoch weiterhin Unsicherheit unter den Bischöfen. Während dieser Periode „wurde die der unfehlbaren Kirche übertragene göttliche Überlieferung weitaus mehr von den Gläubigen als vom Episkopat verkündet und beibehalten“. „Es gab eine zeitweise Ungewissheit über die Aufgaben der ,Ecclesia docens‘. Das Bischofsgremium scheiterte mit seinem Bekenntnis des Glaubens. Sie sprachen uneinheitlich, einer gegen den anderen; nach Nicäa gab es fast sechzig Jahre kein festes, beständiges, konsequentes Zeugnis.“<ref> John Henry Newman, On Consulting the Faithful in Matters of Doctrine, herausgegeben mit einer Einführung von John Coulson (London: Geoffrey Chapman, 1961), S. 75–101; S. 75 und 77. Siehe auch sein The Arians of the Fourth Century (1833; 3. Ed. 1871). Congar bringt gewisse Vorbehalte hinsichtlich der Verwendung von Newmans Analyse dieser Frage zum Ausdruck; siehe Congar, Jalons pour une Th´eologie du La¨ıcat, S. 395.</ref>

b) Die Zeit des Mittelalters

27. Newman bemerkte auch: „In einer späteren Zeit, als die gelehrten Benediktiner in Deutschland [vgl. Rabanus Maurus, 780–856] und Frankreich [Ratramnus, gest. 870] eine gewisse Unsicherheit bei der Verkündung der Lehre über die Realpräsenz zeigten, wurde Paschasius (790–860) von den Gläubigen in seinem Festhalten an ihr unterstützt.“<ref>Newman, On Consulting the Faithful, S. 104.</ref> Etwas Ähnliches geschah hinsichtlich des von Papst Benedikt XII. in der Konstitution „Benedictus Deus“ (1336) bestimmten Dogmas über die Gottesschau, derer sich die Seelen bereits nach dem Fegefeuer und vor dem Jüngsten Gericht erfreuen:<ref>Siehe DH 1000.</ref> „Die Überlieferung anhand derer die Definition entstand, wurde im ,Consensus fidelium‘ mit einer Klarheit festgestellt, die die Nachfolge der Bischöfe – obgleich viele ,Sancti Patres ab ipsis Apostolorum temporibus‘ waren – nicht erbrachte.“ „Dem ,Sensus fidelium‘ wurde große Achtung gezollt; um ihre Meinung und ihren Rat wurde nicht gefragt, doch ihr Zeugnis wurde gehört, ihre Gefühle konsultiert, und man fürchtete, hätte ich beinahe gesagt, ihre Ungeduld.“<ref>Newman, On Consulting the Faithful, S. 70.</ref> Die anhaltende Entwicklung unter den Gläubigen des Glaubens an die Unbefleckte Empfängnis der Allerseligsten Jungfrau Maria und ihrer Verehrung trotz des Widerstands einiger Theologen gegenüber dieser Lehre ist ein anderes wichtiges Beispiel für die Rolle, die der „Sensus fidelium“ im Mittelalter gespielt hat.

28. Die Kirchenlehrer der Scholastik erklärten, dass die Kirche, die „Congregatio fidelium“, in Glaubensfragen nicht irren kann, weil sie, vereint mit Christus ihrem Haupt, von Gott belehrt wird und der Heilige Geist ihr innewohnt. Thomas von Aquin etwa nimmt dies als Prämisse, mit der Begründung, dass die universale Kirche vom Heiligen Geist regiert wird, der, wie Jesus, der Herr, verheißen hat, sie „die ganze Wahrheit“ lehren würde (Joh 16, 13).<ref> Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa–IIae, q.1, a.9, s.c.; IIIa, q.83, a.5, s.c. (in Bezug auf die Messliturgie); Quodl. IX, q.8 (in Bezug auf die Heiligsprechung). Vgl. auch Bonaventura, Commentaria in IV librum Sententiarum, d.4, p.2, dub. 2 (Opera omnia, vol.4, Quaracchi, 1889, S. 105): „[Fides Ecclesiae militantis] quamvis possit deficere in aliquibus personis specialiter, generaliter tamen numquam deficit nec deficiet, iuxta illud Matthaei ultimo: ,Ecce ego vobiscum sum usque ad consumationem saeculi’”; d.18, p.2, a. un. q.4 (S. 490). In der Summa theologiae, IIa–IIae, q.2, a.6, ad 3, bringt der heilige Thomas die Unvergänglichkeit der universalen Kirche in Verbindung mit Jesu Versprechen an Petrus, dass sein Glaube „nicht erlischt“ (Lk 22, 32).</ref> Er wusste, dass der Glaube der universalen Kirche auf maßgebliche Weise von ihren Würdenträgern ausgedrückt wird,<ref>Summa theologiæ, IIa IIæ, q.1, a.10 ; q.11, a. 2, ad 3.</ref> doch er war auch besonders am persönlichen Glaubensinstinkt jedes einzelnen Gläubigen interessiert, den er in Verbindung mit der theologischen Tugend des Glaubens untersuchte.

c) Reformation und postreformatorische Zeit

29. Die durch die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts gestellte Herausforderung machte es erforderlich, sich erneut mit dem „Sensus fidei fidelium“ zu befassen, und das Ergebnis war die Erstellung einer ersten systematischen Abhandlung. Die Reformatoren hoben den Primat des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift (Scriptura sola) sowie das Priestertum der Gläubigen hervor. Ihrer Ansicht nach gibt das innere Zeugnis des Heiligen Geistes allen Getauften die Fähigkeit, Gottes Wort von sich aus zu interpretieren; diese Überzeugung entmutigte sie jedoch nicht, bei Synoden zu lehren und Katechismen für die Unterweisung der Gläubigen zu verfassen. Ihre Lehre stellte unter anderem die Rolle und den Status der Tradition, die Lehrautorität des Papstes und der Bischöfe sowie die Unfehlbarkeit der Konzile infrage. Als Antwort auf ihre Behauptung, dass das Versprechen der Gegenwart Christi und der Führung des Heiligen Geistes der ganzen Kirche gegeben worden war – nicht nur den Zwölfen, sondern jedem Gläubigen –,<ref>Siehe Martin Luther, De captivitate Babylonica ecclesiæ præcludium, WA 6, 566–567; und Johannes Calvin, Institutio christianæ religionis, IV, 8,11; die Verheißungen Christi finden sich in Mt 28,19 und Joh 14, 16.17.</ref> wurden katholische Theologen veranlasst, genauer zu erklären, wie die Hirten dem Glauben des Gottesvolkes dienen. Dabei befassten sie sich zunehmend mit der Lehrautorität der Hierarchie.

30. Theologen der katholischen Reform nahmen, aufbauend auf vorhergehenden Bemühungen, eine systematische Ekklesiologie zu entwickeln, die Frage der Offenbarung, ihrer Quellen und ihrer Autorität auf. Zunächst reagierten sie auf die Kritik der Reformatoren an einigen Lehren, indem sie sich auf die Unfehlbarkeit der ganzen Kirche – Laien und Klerus gemeinsam „in credendo“ – beriefen.<ref>Siehe Gustave Thils, L’Infaillibilit´e du Peuple chr´etien „in credendo“: Notes de th´eologie post-tridentine (Paris, Descl´ee de Brouwer, 1963).</ref> Das Konzil von Trient hat sich bei seiner Verteidigung umstrittener Punkte der katholischen Lehre in der Tat wiederholt auf das Urteil der ganzen Kirche berufen. Sein Dekret über das Sakrament der Eucharistie (1551) etwa berief sich besonders auf „die allgemeine Auffassung der Kirche [universum Ecclesiae sensum]“.<ref>DH 1637; siehe auch DH 1726. Für äquivalente Ausdrücke siehe Yves M.-J. Congar, La Tradition et les traditions, II. Essai th´eologique (Paris, Fayard, 1963), S. 82–83.</ref>

31. Melchior Cano (1509–1560), der am Konzil teilnahm, sorgte für die erste ausführliche Untersuchung des „Sensus fidei fidelium“ und verteidigte die katholische Wertschätzung der als Beweis dienenden Kraft der Tradition in theologischen Diskussionen. In seiner Abhandlung „De locis theologicis“ (1564)<ref>De locis theologicis, Ed. Juan Belda Plans (Madrid, 2006). Cano zählt zehn Loci theologici auf: Sacra Scriptura, traditiones Christi et apostolorum, Ecclesia Catholica, Concilia, Ecclesia Romana, sancti veteres, theologi scholastici, ratio naturalis, philosophi, humana historia.</ref> interpretiert er die vorliegende allgemeine Übereinstimmung der Gläubigen als eines von vier Kriterien, um zu entscheiden, ob eine Lehre oder Praxis zur katholischen Tradition zählt.<ref>De locis theol., IV, 3 (Plans ed., S.117). „Si quidquam est nunc in Ecclesia communi fidelium consensione probatum, quod tamen humana potestas efficere non potuit, id ex apostolorum traditione necessario derivatum est.“</ref> In einem Kapitel über die Autorität der Kirche hinsichtlich der Lehre vertrat er die Auffassung, dass der Glaube der Kirche nicht fehlen kann, weil sie die Braut (Hos 2, 1; 1 Kor 11, 2) und der Leib (Eph 5) Christi ist und weil der Heilige Geist sie führt (Joh 14, 16.26).<ref>De locis theol., I, 4 (S. 144–46).</ref> Cano merkte auch an, dass das Wort „Kirche“ manchmal die Gesamtheit der Gläubigen einschließlich der Hirten bezeichnet und manchmal ihre Führer und Hirten („principes et pastores“), denn auch sie besitzen den Heiligen Geist.<ref>De locis theol., I, 4 (S. 149): „Non solum Ecclesia universalis, id est, collectio omnium fidelium hunc veritatis spiritum semper habet, sed eundem habent etiam Ecclesiae principes et pastores.“ In Buch VI bestätigt Cano die Autorität des Papstes, wenn er eine Lehre ex cathedra verkündet.</ref> Er verwendete das Wort in ersterem Sinne, als er erklärte, dass der Glaube der Kirche nicht fehlen kann, dass die Kirche im Glauben nicht getäuscht werden kann und dass Unfehlbarkeit nicht nur der Kirche vergangener Zeiten angehört, sondern auch der Kirche, wie sie sich gegenwärtig darstellt. Er verwendete „Kirche“ in zweiteren Sinne, als er lehrte, dass ihre Hirten bei der Abgabe maßgeblicher Lehrurteile unfehlbar sind, weil ihnen der Heilige Geist bei dieser Aufgabe beisteht (Eph 4, 1; 1 Tim 3).<ref>De locis theol., I, 4 (S. 150–51): „Priores itaque conclusiones illud astruebant, quicquid ecclesia, hoc est, omnium fidelium concio teneret, id verum esse. Haec autem illud affirmat pastores ecclesiae doctores in fide errare non posse, sed quicquid fidelem populum docent, quod ad Christi fidem attineat, esse verissimum.“</ref>

32. Robert Bellarmin (1542–1621) nahm bei der Verteidigung des katholischen Glaubens gegen seine reformatorischen Kritiker die sichtbare Kirche, die „Gesamtheit aller Gläubigen“ zum Ausgangspunkt. Für ihn ist alles, was die Gläubigen für „de fide“ hielten, und alles, was die Bischöfe als zum Glauben gehörend lehrten, notwendigerweise wahr und zu glauben.<ref>Robert Bellarmin, De controversiis christianae fidei (Venice, 1721), II, I, lib. 3, cap. 14: „Et cum dicimus Ecclesiam non posse errare, id intelligimus tam de universitate fidelium quam de universitate Episcoporum, ita ut sensus sit eius propositionis, ecclesia non potest errare, idest, id quod tenent omnes fideles tanquam de fide, necessario est verum et de fide; et similiter id quod docent omnes Episcopi tanquam ad fidem pertinens, necessario est verum et de fide“ (S. 73).</ref> Er erklärte, dass die Kirchenkonzile nicht fehlen könnten, weil sie den „Consensus Ecclesiae universalis“ besitzen.<ref>De controversiis II, I, lib. 2, cap. 2: „Concilium generale repraesentat Ecclesiam universam, et proinde consensum habet Ecclesiae universalis; quare si Ecclesia non potest errare, neque Concilium oecumenicum, legitimum et approbatum, potest errare“ (S. 28).</ref>

33. Weitere Theologen der Zeit nach dem Tridentinum fuhren fort, die Unfehlbarkeit der „Ecclesia“ (unter der sie die ganze Kirche verstanden, einschließlich ihrer Hirten) „in credendo“ zu bekräftigen, doch sie begannen, die Rollen der „lehrenden Kirche“ und der „lernenden Kirche“ ziemlich klar voneinander zu unterscheiden. Die frühere Betonung der „aktiven“ Unfehlbarkeit der „Ecclesia in credendo“ wurde allmählich durch eine Betonung der aktiven Rolle der „Ecclesia docens“ ersetzt. Es wurde gebräuchlich zu sagen, dass die „Ecclesia discens“ nur eine „passive“ Unfehlbarkeit habe.

d) Neunzehntes Jahrhundert

34. Das neunzehnte Jahrhundert war eine entscheidende Periode für die Lehre des „Sensus fidei fidelium“. Es erlebte in der katholischen Kirche – teilweise als Reaktion auf Kritik von Vertretern der modernen Kultur und von Christen anderer Traditionen und teilweise aus innerer Reifung heraus – das Zunehmen eines historischen Bewusstseins, ein Wiederaufleben des Interesses an den Kirchenvätern und an mittelalterlichen Theologen sowie eine erneuerte Untersuchung des Mysteriums der Kirche. In diesem Zusammenhang befassten sich katholische Theologen wie Johann Adam Möhler (1796–1838), Giovanni Perrone (1794–1876) und John Henry Newman erneut mit dem „Sensus fidei fidelium“ als einem „Locus theologicus“, um zu erklären, wie der Heilige Geist die ganze Kirche in der Wahrheit bewahrt, und um Entwicklungen in der kirchlichen Lehre zu rechtfertigen. Die Theologen hoben die aktive Rolle der ganzen Kirche und vor allem den Beitrag der gläubigen Laien bei der Bewahrung und Vermittlung des kirchlichen Glaubens hervor; das Lehramt bestätigte diese Einsicht auf implizite Weise in dem Prozess, der zur Definition der Unbefleckten Empfängnis führte (1854).

35. Um den katholischen Glauben gegen den Rationalismus zu verteidigen, versuchte der Tübinger Gelehrte Johann Adam Möhler die Kirche als lebendigen Organismus darzustellen und die Prinzipien zu erfassen, die die Entfaltung der Lehre beherrschten. Seiner Ansicht nach ist es der Heilige Geist, der die Gläubigen als eine Gemeinschaft in Christus beseelt, führt und vereint und in ihnen ein kirchliches „Bewusstsein“ des Glaubens („Gemeingeist“ oder „Gesamtsinn“) herbeiführt, etwas, das dem „Volksgeist“ oder einem nationalen Geist ähnlich ist.<ref>J. A. Möhler, Die Einheit in der Kirche oder das Prinzip des Katholizismus [1825], Ed. J. R. Geiselmann (Köln und Olten: Jakob Hegner, 1957), 8 ff., 50 ff.</ref> Dieser „Sensus fidei“, der die subjektive Dimension der Tradition darstellt, schließt notwendigerweise ein objektives Element – die Lehre der Kirche – ein, denn das christliche „Gespür“ der Gläubigen, das in ihrem Herzen lebt und praktisch gleichbedeutend mit der Tradition ist, wird nie von seinem Inhalt geschieden.<ref>J. A. Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten, nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften [1832], Ed. J. R. Geiselmann (Köln und Olten, Jakob Hegner, 1958), § 38. Gegen das protestantische Prinzip der privaten Interpretation machte er die Bedeutung des Urteils der ganzen Kirche geltend.</ref>

36. John Henry Newman untersuchte den „Sensus fidei fidelium“ zunächst, um seine Schwierigkeiten in Bezug auf die Entwicklung der Lehre zu lösen. Er war der Erste, der eine ganze Abhandlung über dieses Thema verfasste – „An Essay on the Development of Christian Doctrine“ (1845) – und die Eigenschaften treuer Entwicklung genau erklärte. Um zwischen wahren und falschen Entwicklungen zu unterscheiden, übernahm er Augustinus’ Regel – die allgemeine Übereinstimmung der ganzen Kirche, „Securus judicat orbis terrarum“ –, doch er sah, dass eine unfehlbare Autorität notwendig ist, um die Kirche in der Wahrheit zu bewahren.

37. Mittels der Ansichten von Möhler und Newman<ref> 1847 traf Newman Perrone und sie diskutierten Newmans Gedanken über die Entwicklung der Lehre. Newman verwendete in diesem Kontext den Begriff „Sensus ecclesiae“. Vgl. T. Lynch, Ed., „The Newman-Perrone Paper on Development“, Gregorianum 16 (1935), S. 402–447, bes. Kap. 3, Nrn. 2, 5.</ref> belebte Perrone erneut das patristische Verständnis des „Sensus fidelium“, um auf den weit verbreiteten Wunsch nach einer päpstlichen Erklärung der Unbefleckten Empfängnis Mariens einzugehen; er fand in der einmütigen Zustimmung oder „Conspiratio“ der Gläubigen und ihrer Hirten eine Garantie für den apostolischen Ursprung dieser Lehre. Er erklärte, dass die bedeutendsten Theologen dem „Sensus fidelium“ Beweiskraft zuschrieben und dass die Stärke eines „Werkzeugs der Tradition“ den Mangel eines anderen – zum Beispiel „das Schweigen der Kirchenväter“ – ausgleichen kann.<ref>Ioannis Perrone, De Immaculato B. V. Mariae Conceptu an Dogmatico Decreto definiri possit (Romae, 1847), 139, 143–145. Perrone kam zu dem Schluss, dass die gläubigen Christen „zutiefst empört“ wären, wenn die Unbefleckte Empfängnis Marias „auch nur ansatzweise in Frage gestellt“ würde (S. 156). Er fand weitere Beispiele, in denen sich das Lehramt für seine lehramtlichen Erklärungen auf den „Sensus fidelium“ stützte, z. B. die Lehre, dass sich die Seelen der Gerechten schon vor der Auferstehung der Toten der unmittelbaren Gottesschau erfreuen (S. 147–148).</ref>

38. Der Einfluss von Perrones Untersuchung auf die Entscheidung von Papst Pius IX., mit der Erklärung der Unbefleckten Empfängnis fortzufahren, wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass der Papst vor der Erklärung die Bischöfe auf der ganzen Welt bat, ihm schriftlich über die Verehrung zu berichten, die Klerus und Laien der Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau entgegenbrachten.<ref> Siehe Papst Pius IX., Enzyklika, Ubi primum (1849), Nr. 6.</ref> In dem Apostolischen Schreiben „Ineffabilis Deus“ (1854), in der die Erklärung enthalten ist, sagte Papst Pius IX., dass er, obwohl er bereits wusste, was die Bischöfe über diese Frage dachten, sie eigens gebeten hatte, ihn über die Frömmigkeit und die Verehrung ihrer Gläubigen in dieser Hinsicht zu informieren, und er schloss, dass „die Heilige Schrift, die ehrwürdige Überlieferung, die ständige Überzeugung der Kirche [„perpetuus Ecclesiae sensus“], die einzigartige Übereinstimmung der katholischen Bischöfe und der Gläubigen [„singularis catholicorum Antistitum ac fidelium conspiratio“], die denkwürdigen Entscheidungen und Verordnungen Unserer Vorgänger die Lehre auf ganz wunderbare Weise illustrieren und kundtun“.<ref> Papst Pius IX., Apostolisches Schreiben, Ineffabilis Deus (1854).</ref> So verwendete er die Sprache von Perrones Abhandlung, um das gemeinsame Zeugnis der Bischöfe und der Gläubigen zu beschreiben. Newman hob das Wort „Conspiratio“ hervor und kommentierte: „Beide, die lehrende Kirche und die lernende Kirche, werden zusammengefügt als zwei Zeugnisse, die einander erläutern und nie getrennt werden dürfen.“<ref> Newman, On Consulting the Faithful, S. 70–71.</ref>

39. Als Newman später „On Consulting the Faithful in Matters of Doctrine“ (1859) schrieb, wollte er damit zeigen, dass die Gläubigen (in der Unterscheidung von ihren Hirten) ihre eigene, aktive Rolle bei der Bewahrung und Vermittlung des Glaubens zu spielen haben. „Die apostolische Tradition“ wird „der ganzen Kirche in ihren verschiedenen Bestandteilen und Funktionen ,per modum unius‘ übergeben“, doch die Bischöfe und die gläubigen Laien legen auf verschiedene Weise Zeugnis dafür ab. Die Tradition, so sagt er, „zeigt sich auf unterschiedliche Weise zu unterschiedlichen Zeiten: manchmal durch die Bischöfe, manchmal durch die Theologen, manchmal durch die Gläubigen, manchmal durch die Liturgie, Riten, Zeremonien und Bräuche, durch Ereignisse, Diskussionen, Bewegungen und all jene anderen Erscheinungen, die im Namen der Geschichte enthalten sind“.<ref> Newman, On Consulting the Faithful, S. 63, vgl. S. 65. Newman unterscheidet normalerweise zwischen „Hirten“ und „Gläubigen“. Manchmal fügt er die „Gelehrten“ (Theologen) als eigene Klasse von Zeugen an, und er schließt den niederen Klerus bei den „Gläubigen“ mit ein, wenn er nicht eigens von den „gläubigen Laien“ spricht.</ref> Für Newman „gibt es etwas in der ,pastorum et fidelium conspiratio‘, das sich nicht allein bei den Hirten findet“.<ref>Newman, On Consulting the Faithful, S. 104.</ref> In dieser Arbeit zitiert Newman ausführlich aus den Argumenten, die Giovanni Perrone mehr als ein Jahrzehnt früher zugunsten der Erklärung der Unbefleckten Empfängnis vorgelegt hatte.<ref> Newman, On Consulting the Faithful, S. 64–70; vgl. oben, § 37.</ref>

40. Die dogmatische Konstitution „Pastor Aeternus“ des Ersten Vatikanischen Konzils, in der das unfehlbare Lehramt des Papstes erklärt wurde, ließ den „Sensus fidei fidelium“ keineswegs unberücksichtigt; es setzte ihn vielmehr voraus. Die ursprünglich konzipierte Konstitution „Supremi Pastoris“, aus der sie sich entwickelte, enthielt ein Kapitel über die Unfehlbarkeit der Kirche (Kapitel neun).<ref> Mansi, III (51), 542–543. Hier wird festgestellt,dass sich die Unfehlbarkeit der Kirche auf die ganze offenbarte Wahrheit erstreckt, in der Schrift und in der Tradition – d. h. auf das Depositum des Glaubens –, sowie auf alles, was notwendig ist, um sie zu schützen und zu bewahren, auch wenn es nicht offenbart wurde.</ref> Als die Tagesordnung geändert wurde, um die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit zu klären, wurde die Diskussion auf dieser Grundlage jedoch verschoben und niemals wieder aufgenommen. In seiner Relatio über die Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit erklärte Bischof Vinzenz Gasser jedoch, dass der besondere Beistand, der dem Papst gegeben wird, ihn nicht von der Kirche abhebt und Konsultation und Kooperation nicht ausschließt.<ref> Mansi, IV (52), 1213–14.</ref> Die Erklärung der Unbefleckten Empfängnis war das Beispiel eines Falles, sagte er, „der so schwierig war, dass der Papst es für seine Information als notwendig erachtete, die Bischöfe – als normale Mittler – zu befragen, was die Kirchen darüber dachten“.<ref> Ebd., 1217. Gasser fügt hinzu: „sed talis casus non potest statui pro regula“.</ref> In einem Satz, der die Absicht hatte, den Gallikanismus auszuschließen, erklärte „Pastor Aeternus“, dass Lehrerklärungen des Papstes über Glauben und Sitten „ex cathedra“ „aus sich, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich (sind) [ex sese non autem ex consensu ecclesiae],<ref> DH 3074. Einer der „Vier Artikel“ der gallikanischen Position erklärte, dass das päpstliche Urteil „noch reformiert werden kann, solange die Kirche ihm nicht die Zustimmung erteilt“. </ref> doch das macht den „Consensus Ecclesiae“ nicht überflüssig. Was ausgeschlossen wird, ist die Theorie, dass eine solche Erklärung den Konsens vorher oder nachher als Bedingung erfordert, um maßgeblich zu sein.<ref> Siehe Gasser, in Mansi, 52, 1213–14.</ref> Als Antwort auf den Modernismusstreit bekräftigte ein Dekret des Heiligen Stuhls, „Lamentabili“ (1907), die Freiheit der „Ecclesia docens“ gegenüber der „Ecclesia discens“. Das Dekret verurteilte eine Proposition, derzufolge die Hirten nur das lehren dürften, was die Gläubigen bereits glaubten.<ref> Die verurteilte Proposition lautet: „Bei der Definition von Wahrheiten wirken die lernende und die lehrende Kirche so zusammen, dass der lehrenden Kirche nichts übrig bleibt, als die allgemeinen Meinungen der lernenden zu bestätigen.“ (DH 3406).</ref>

e) Zwanzigstes Jahrhundert

41. Katholische Theologen im zwanzigsten Jahrhundert untersuchten die Lehre des „Sensus fidei fidelium“ im Kontext einer Theologie der Überlieferung, einer erneuerten Ekklesiologie und einer Theologie der Laien. Sie hoben hervor, dass „die Kirche“ nicht mit ihren Hirten identisch ist; dass die ganze Kirche durch das Wirken des Heiligen Geistes Gegenstand oder „Organ“ der Tradition ist; und dass die Laien eine aktive Rolle bei der Vermittlung des apostolischen Glaubens haben. Das Lehramt befürwortete diese Entwicklungen sowohl in der Konsultation, die zur Erklärung der glorreichen Aufnahme der Allerseligsten Jungfrau Maria in den Himmel führte, als auch in der Neubelebung und Bestätigung der Lehre über den „Sensus fidei“ im Zweiten Vatikanischen Konzil.

42. 1946 sandte Papst Pius XII. dem Beispiel seines Vorgängers folgend eine Enzyklika „Deiparae Virginis Mariae“ an alle Bischöfe der Welt und bat sie, ihn über die „Verehrung des Klerus und des Gottesvolks hinsichtlich der Aufnahme der Allerseligsten Jungfrau Maria in den Himmel (unter Beachtung ihres Glaubens und ihrer Frömmigkeit)“ zu informieren. So bestätigte er erneut die Praxis der Konsultation der Gläubigen vor der Abfassung einer dogmatischen Erklärung, und in der apostolischen Konstitution „Munificentissimus Deus“ (1950) führte er die „fast vollständige Einmütigkeit“ der Antwort an, die er erhalten habe.<ref> Pius XII., Apostolisches Schreiben Munificentissimus Deus, 12.</ref> Der Glaube an die Aufnahme Marias in den Himmel wurzelte in der Tat „tief im Herzen der Gläubigen“.<ref> Munificentissimus Deus, 41.</ref> Papst Pius XII. bezog sich auf „die einhellige Auffassung des ordentlichen kirchlichen Lehramtes und den einmütigen Glauben des christlichen Volkes“ und sagte – nun im Hinblick auf den Glauben an Marias Aufnahme in den Himmel so wie Papst Pius IX. im Hinblick auf den Glauben an ihre Unbefleckte Empfängnis –, es gebe eine „singularis catholicorum Antistitum et fidelium conspiratio“. Er fügte hinzu, die „Conspiratio“ zeige „mit völliger Sicherheit und ohne jeden Irrtum“, dass die Aufnahme Marias in den Himmel „eine von Gott geoffenbarte Wahrheit und in dem göttlichen Glaubensgut enthalten ist, das Christus seiner Braut anvertraut hat, damit sie es in Treue bewahre und ohne Irrtum darlege“.<ref> Munificentissimus Deus, 12.</ref> In beiden Fällen bestätigten die päpstlichen Erklärungen den tief verwurzelten Glauben der Gläubigen.

43. Yves M.-J. Congar (1904–1995) hat maßgeblich zur Entwicklung der Lehre des „Sensus fidei fidelis“ und des „Sensus fidei fidelium“ beigetragen. In „Jalons pour une Théologie du Laïcat“ (1953) untersuchte er diese Lehre in Bezug auf die Teilhabe der Laien am prophetischen Amt der Kirche. Congar war mit Newmans Arbeit vertraut und übernahm dasselbe Schema (also das dreifache Amt der Kirche und den „Sensus fidelium“ als Ausdruck des prophetischen Amts), ohne dies jedoch direkt auf Newman zurückzuführen.<ref> Siehe Congar, Jalons pour une Th´eologie du La¨ıcat, Kapitel 6. Das Schema findet sich im Vorwort der dritten Edition von Newmans Via Media (1877).</ref> Er beschrieb den „Sensus fidelium“ als eine Gabe des Heiligen Geistes, die „der Hierarchie und dem ganzen Leib der Gläubigen gemeinsam geschenkt“ ist, und er unterschied die objektive Realität des Glaubens (die die Tradition darstellt) vom subjektiven Aspekt, der Gnade des Glaubens.<ref> Congar, Jalons pour une Th´eologie du La¨ıcat, S. 398. </ref> Wo frühere Autoren die Unterscheidung zwischen der „Ecclesia docens“ und der „Ecclesia discens“ hervorgehoben hatten, war Congar bemüht, ihre organische Einheit zu zeigen. „Die liebende und glaubende Kirche, also der Leib der Gläubigen, ist unfehlbar im lebendigen Besitz des Glaubens, nicht in einem besonderen Akt oder Urteil“, schrieb er.<ref> Jalons pour une Th´eologie du La¨ıcat, S. 399.</ref> Die Lehre der Hierarchie steht im Dienst der Gemeinschaft.

44. Auf mancherlei Weise spiegelt die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils Congars Beitrag wider. Das erste Kapitel von „Lumen gentium“ über „Das Mysterium der Kirche“ lehrt: „Der Heilige Geist führt die Kirche in alle Wahrheit ein (vgl. Joh 16, 13), eint sie in Gemeinschaft und Dienstleistung, bereitet und lenkt sie durch die verschiedenen hierarchischen und charismatischen Gaben und schmückt sie mit seinen Früchten (vgl. Eph 4,11–12; 1 Kor 12, 4; Gal 5, 22).<ref> LG 4.</ref> Das zweite Kapitel behandelt dann die Kirche als Ganzes, als „Das Volk Gottes“, vor der Unterscheidung in Laien und geweihte Personen. Der Absatz (LG 12), der den „Sensus fidei“ erwähnt, lehrt: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2, 20.27), kann im Glauben nicht irren.“ Der „Geist der Wahrheit“ weckt und nährt einen „übernatürlichen Glaubenssinn (supernaturali sensu fidei)“, der sich dann kundtut, wenn „das ganze Volk … von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien ... allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert“. Durch den „Sensus fidei“ empfängt „das Gottesvolk unter der Leitung des heiligen Lehramtes (,Magisterium‘) in dessen treuer Gefolgschaft nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes (vgl. 1 Thess 2, 13)“. Dieser Beschreibung zufolge ist der „Sensus fidei“ eine aktive Fähigkeit oder ein Empfinden, durch die es fähig ist, „den einmal den Heiligen übergebenen Glauben (vgl. Jud 3)“ zu empfangen und zu verstehen. Dadurch hält das Volk nicht nur „unverlierbar“ am Glauben fest, sondern „durch ihn dringt es mit rechtem Urteil immer tiefer in den Glauben ein und wendet ihn im Leben voller an“. Er ist das Mittel, durch welches das Volk am „prophetischen Amt Christi“ teilnimmt.<ref> LG 12. An einigen anderen Stellen spricht das Konzil vom „Sinn“ der Gläubigen oder der Kirche auf analoge Weise wie vom „Sensus fidei“ von LG 12. Es spricht vom „Sensus Ecclesiae“ (DV 23), „Sensus apostolicus“ (AA 25), „Sensus catholicus“ (AA 30), „Sensus Christi et Ecclesiae“, „Sensus communionis cum Ecclesia“ (AG 19), „Sensus christianus fidelium“ (GS 52) und vom „integer christianus sensus“ (GS 62).</ref>

45. Lumen gentium beschreibt dann jeweils im dritten und vierten Kapitel, wie Christus sein prophetisches Amt nicht nur durch die Hirten der Kirche, sondern auch durch die gläubigen Laien ausübt. Es wird gelehrt, dass der Herr sein Amt „bis zur vollen Offenbarung der Herrlichkeit ... nicht nur durch die Hierarchie, die in seinem Namen und in seiner Vollmacht lehrt, sondern auch durch die Laien“ erfüllt. Hinsichtlich Letzterer heißt es weiter: „Sie bestellt er deshalb zu Zeugen und rüstet sie mit dem Glaubenssinn und der Gnade des Wortes [,sensu fidei et gratia verbi instruit‘] aus (vgl. Apg 2,17–18; Offb 19, 10), damit die Kraft des Evangeliums im alltäglichen Familien- und Gesellschaftsleben aufleuchte.“ Gestärkt durch die Sakramente „werden die Laien gültige Verkünder des Glaubens an die zu erhoffenden Dinge (vgl. Hebr 11, 1)“; „Daher können und müssen die Laien … eine wertvolle Wirksamkeit zur Evangelisation der Welt ausüben“.<ref> LG 35.</ref> Hier wird der „Sensus fidei“ als Gabe Christi an die Gläubigen dargestellt und nochmals als aktive Fähigkeit beschrieben, durch welche die Gläubigen vermögen, die Wahrheiten der göttlichen Offenbarung zu verstehen, zu leben und zu verkünden. Er bildet die Grundlage für ihre Evangelisierungsarbeit.

46. Der „Sensus fidei“ wird auch in der Konzilslehre über die Entwicklung der Lehre im Zusammenhang mit der Vermittlung des apostolischen Glaubens in Erinnerung gerufen. In „Dei Verbum“ heißt es, dass die apostolische Überlieferung „in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt“ kennt. „Es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte“, und das Konzil macht drei Weisen aus, auf die dies geschieht: „durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2, 19.51)“, „durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt (,ex intima spiritualium rerum quam experiuntur intelligentia‘)“ und „durch die Verkündigung derer (der Bischöfe), die … das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben“.<ref> DV 8.</ref> Obwohl dieser Abschnitt den „Sensus fidei“ nicht erwähnt, sind das Nachsinnen, das Studium, die Erfahrung der Gläubigen, auf die er verweist, alle klar mit dem „Sensus fidei“ verbunden, und die meisten Kommentatoren stimmen darin überein, dass sich die Konzilsväter bewusst auf Newmans Theorie über die Entwicklung der Lehre berufen haben. Wenn dieser Text im Licht der Beschreibung des „Sensus fidei“ in Lumen gentium 12 als durch den Heiligen Geist geweckter übernatürlicher Glaubenssinn gelesen wird, durch den das Gottesvolk unter der Leitung seiner Hirten unverlierbar am Glauben festhält, dann ist leicht zu sehen, dass hier die gleiche Idee ausgedrückt wird. Wenn Dei Verbum von dem „einzigartigen Einklang“ spricht, der in der Praxis und Verkündigung des von den Aposteln weitergegebenen Glaubens zwischen den Bischöfen und den Gläubigen bestehen sollte, verwendet es den Ausdruck „singularis fiat Antistitum et fidelium conspiratio“, der sich in der Erklärung beider Mariendogmen findet.<ref> DV 10; vgl. Ineffabilis Deus, 18, und Munificentissimus Deus, 12.</ref>

47. Seit dem Konzil hat das Lehramt entscheidende Punkte der Konzilslehre über den „Sensus fidei“ wiederholt<ref> Siehe etwa die Lehre von Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Christifideles laici (1988), dass alle Gläubigen am dreifachen Amt Christi teilhaben, sowie sein Verweis auf die Laien, die „des übernatürlichen Glaubenssinnes der Kirche („Sensum fidei supernaturalis Ecclesiae“) [teilhaftig werden], der ,im Glauben nicht irren’ kann [[[LG]] 12]“ (Nr. 14); siehe auch bezüglich der Lehre von LG 12, LG 35und DV 8 die Erklärung der Glaubenskongregation Mysterium ecclesiae (1973), Nr. 2.</ref> und auch eine neue Frage angesprochen, dass es nämlich wichtig ist, nicht anzunehmen, die öffentliche Meinung außerhalb (oder innerhalb) der Kirche sei notwendigerweise mit dem „Sensus fidei fidelium“ gleichzusetzen. In seinem postsynodalen Apostolischen Schreiben „Familiaris consortio“ (1981) betrachtete Papst Johannes Paul II. die Frage, in welchem Zusammenhang der „übernatürliche Glaubenssinn“ mit der „Übereinstimmung der Gläubigen“ und der durch soziologische und statistische Forschungen bestimmten mehrheitlichen Meinung steht. Der „Sensus fidei“, so schrieb er, „besteht jedoch nicht nur oder notwendigerweise in der Übereinstimmung der Gläubigen“. Die Hirten der Kirche müssen „den Glaubenssinn in allen Gläubigen fördern, die Echtheit seiner Ausdrucksformen verbindlich abwägen und beurteilen und die Gläubigen zu einer immer reiferen Unterscheidung im Licht des Evangeliums erziehen“.<ref> Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben, Familiaris consortio (1981), Nr. 5. In ihrer Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen, Donum veritatis (1990), warnte die Glaubenskongregation davor, „die Meinung einer großen Zahl von Christen“ mit dem „Sensus fidei“ gleichzusetzen: der „Sensus fidei“ ist „eine Eigenart des theologalen Glaubens“ und eine Gabe Gottes, die den Christen befähigt, „das persönliche Ja zur Wahrheit“ zu sagen, sodass das, was er oder sie glaubt, das ist, was die Kirche glaubt. Da nicht alle Meinungen der Gläubigen vom Glauben herkommen und da viele Menschen von einer öffentlichen Meinung beeinflusst werden können, ist es notwendig, die „unauflösliche Beziehung zwischen dem ,Sensus fidei‘ und der Anleitung des Volkes Gottes durch das Lehramt der Hirten“ hervorzuheben, wie das Konzil es getan hat. (Nr. 35).</ref>

Kapitel 2: Der „Sensus fidei fidelis“ im persönlichen Leben des Gläubigen

48. Dieses zweite Kapitel konzentriert sich auf das Wesen des „Sensus fidei fidelis“. Es verwendet vor allem den Rahmen der von der klassischen Theologie angebotenen Argumente und Kategorien, um darüber nachzudenken, wie der Glaube in den einzelnen Gläubigen wirksam ist. Obwohl die biblische Sicht des Glaubens weiter gefasst ist, beleuchtet das klassische Verständnis einen wesentlichen Aspekt: die Zustimmung des Verstandes – durch Liebe – zur geoffenbarten Wahrheit. Dieser Glaubensbegriff dient heute noch dazu, das Verständnis des „Sensus fidei fidelis“ zu klären. In diesem Rahmen betrachtet das Kapitel auch einige Erscheinungsformen des „Sensus fidei fidelis“ im persönlichen Leben der Gläubigen, wobei klar ist, dass die persönlichen und kirchlichen Aspekte des „Sensus fidei“ nicht voneinander getrennt werden können.

1. Der „Sensus fidei“ als Instinkt des Glaubens

49. Der „Sensus fidei fidelis“ ist eine Art geistlicher Instinkt, der den Gläubigen befähigt, spontan zu beurteilen, ob eine besondere Lehre oder Praxis mit dem Evangelium und mit dem apostolischen Glauben übereinstimmt oder nicht. Er ist untrennbar mit der Tugend des Glaubens selbst verbunden; er entspringt dem Glauben und ist eine seiner Eigenschaften.<ref> Der „Sensus fidei fidelis“ setzt im Gläubigen die Tugend des Glaubens voraus. Tatsächlich ist es die lebendige Erfahrung des Glaubens, die den Gläubigen befähigt zu unterscheiden, ob eine Lehre zum Depositum des Glaubens gehört oder nicht. Daher kann die für den anfänglichen Glaubensakt notwendige Unterscheidungsfindung nur in allgemeiner und abgeleiteter Form dem „Sensus fidei fidelis“ zugeordnet werden.</ref> Er wird mit einem Instinkt verglichen, weil er nicht in erster Linie das Ergebnis einer vernünftigen Erwägung ist, sondern vielmehr eine Form von spontanem und natürlichem Wissen, eine Art Wahrnehmung („Aisthesis“).

50. Der „Sensus fidei fidelis“ entsteht vor allem aus der Konnaturalität, die die Tugend des Glaubens zwischen dem Gläubigen als Subjekt und dem authentischen Objekt des Glaubens, nämlich der in Jesus Christus offenbarten Wahrheit Gottes, herstellt. Allgemein gesprochen bezieht sich die Konnaturalität auf eine Situation, in der eine Einheit A eine so vertraute Beziehung zu einer anderen Einheit B hat, dass A am natürlichen Wesen von B teilhat, als wäre es sein eigenes. Konnaturalität erlaubt eine besondere und tiefe Form des Wissens. Das führt etwa dazu, dass wenn ein Freund mit einem anderen verbunden ist, er oder sie fähig wird, spontan zu beurteilen, was zum anderen passt, weil er oder sie die Neigungen des anderen teilt und so durch Konnaturalität versteht, was gut oder schlecht für den anderen ist. Mit anderen Worten: dieses Wissen ist von anderer Art als objektives Wissen, das über Begriffsbestimmung und logisches Denken vorgeht. Es ist ein Wissen durch Einfühlungsvermögen oder ein Wissen des Herzens.

51. Jede Tugend konnaturalisiert ihr Subjekt, mit anderen Worten, denjenigen, der sie besitzt, mit ihrem Objekt, das heißt, einer gewissen Art von Handeln. Hier wird unter Tugend die feste Bereitschaft (oder „Habitus“) einer Person verstanden, sich verstandesmäßig oder sittlich auf eine gewisse Weise zu verhalten. Tugend ist eine Art „zweiter Natur“, durch die der Mensch sich selbst gestaltet, indem er frei und in Übereinstimmung mit der rechten Vernunft die in die menschliche Natur eingeschriebene Dynamik verwirklicht. Dadurch gibt sie der Aktivität der natürlichen Eigenschaften eine fest umrissene, stabile Orientierung; sie lenkt Letztere zu einem Verhalten, das der tugendhafte Mensch von nun an „freiwillig“, mit „Leichtigkeit, Sicherheit und Freude“ tut.<ref>KKK 1804.</ref>

52. Jede Tugend hat einen zweifachen Effekt: zunächst macht sie den Menschen, der sie besitzt, auf natürliche Weise einem Objekt (einer gewissen Art des Handelns) geneigt und zweitens entfernt sie ihn spontan von allem, was diesem Objekt entgegenstehen könnte. Ein Mensch etwa, der die Tugend der Keuschheit gestärkt hat, besitzt eine Art „sechsten Sinn“, handelt „gleichsam instinktiv“,<ref>PC, 12.</ref> was ihn befähigt, sogar in den schwierigsten Situationen den rechten Weg zu erkennen, wie er sich verhalten muss, indem er spontan erfasst, was zu tun und was zu lassen angemessen ist. Ein keusch lebender Mensch nimmt daher instinktiv die richtige Haltung ein, wo die begriffliche Argumentation des Moralisten zu Ratlosigkeit und Unentschlossenheit führen könnte.<ref>Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa–IIae, q.45, a.2. </ref>

53. Der „Sensus fidei“ ist die Form, die der Instinkt, der jede Tugend begleitet, im Fall der Tugend des Glaubens annimmt. „Denn wie durch andere Zustände von Tugenden der Mensch das schaut, was ihm gemäß jenem Zustande zukömmlich ist; so wird durch den Zustand des Glaubens der menschliche Geist hingeneigt, um zuzustimmen dem, was dem rechten Glauben entspricht und nicht etwas Anderem.“<ref>Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa-IIae, q.1, a.4, ad 3. Vgl. IIa–IIae, q.2, a.3, ad 2.</ref> Glaube, als theologische Tugend, befähigt den Gläubigen, an dem Wissen teilzuhaben, dass Gott von sich selbst und von allen Dingen hat. Im Gläubigen nimmt es die Form einer „zweiten Natur“ an.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum, III, d.23, q.3, a.3, qla 2, ad 2: „Habitus fidei cum non rationi innitatur, inclinat per modum naturae, sicut et habitus moralium virtutum, et sicut habitus principiorum; et ideo quamdiu manet, nihil contra fidem credit.“</ref> Durch Gnade und die theologischen Tugenden erhalten die Gläubigen „an der göttlichen Natur Anteil“ (2 Petr 1, 4) und werden gewissermaßen Gott konnaturalisiert. Als Folge davon reagieren sie intuitiv auf der Grundlage dieser Teilhabe an der göttlichen Natur, auf dieselbeWeise, in der Lebewesen instinktiv auf das reagieren, was ihrer Natur entspricht oder nicht.

54. Im Gegensatz zur Theologie, die als „Scientia fidei“ beschrieben werden kann, ist der „Sensus fidei fidelis“ kein reflektierendes Erkennen der Glaubensgeheimnisse, das Begriffe entwickelt und vernünftige Methoden anwendet, um seine Schlüsse zu ziehen. Wie der Name („Sensus“) anzeigt, ist er eher einer natürlichen, unmittelbaren und spontanen Reaktion ähnlich und einem vitalen Instinkt oder einer Art „Gespür“ vergleichbar, durch das der Gläubige intuitiv an dem festhält, was mit der Glaubenswahrheit übereinstimmt, und meidet, was ihr entgegensteht.<ref>Vgl. J. A. Möhler, Symbolik, § 38: „Der göttliche Geist, welchem die Leitung undBelebung der Kirche anvertraut ist, wird inseiner Vereinigung mit dem menschlichen ein eigenthümlich christlicher Tact, ein tiefes, sicher führendes Gefühl, das, wie er in der Wahrheit steht, auch aller Wahrheit entgegenleitet.“</ref>

55. Der „Sensus fidei fidelis“ ist in sich unfehlbar im Hinblick auf sein Objekt: den wahren Glauben.<ref> Aufgrund der unmittelbaren Beziehung zu seinem Objekt irrt der Instinkt nicht. In sich selbst ist er unfehlbar. Tierischer Instinkt ist jedoch nur innerhalb des Kontextes einer bestimmten Umgebung unfehlbar. Wenn sich der Kontext ändert, kann sich der tierische Instinkt als schlecht angepasst erweisen. Geistlicher Instinkt auf der anderen Seite hat mehr Spielraum und Feinsinnigkeit.</ref> Im aktuellen geistigen Universum des Gläubigen jedoch können die richtigen Intuitionen des „Sensus fidei“ mit den verschiedenen rein menschlichen Meinungen oder sogar mit Irrtümern, die mit den engen Grenzen eines bestimmten kulturellen Kontextes verbunden sind, vermischt werden.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa–IIae, q.1, a.3, ad 3.</ref> „Wenn sich daher der theologale Glaube als solcher nicht irren kann, so kann doch der Gläubige irrige Meinungen haben, weil nicht alle seine Gedanken vom Glauben herkommen. Die im Volk Gottes umlaufenden Ideen stimmen nicht alle mit dem Glauben überein.“<ref> Donum veritatis, 35.</ref>

56. Der „Sensus fidei fidelis“ entspringt der theologischen Tugend des Glaubens. Diese Tugend ist eine innere, durch die Liebe angeregte Bereitschaft, vorbehaltlos der ganzen von Gott offenbarten Wahrheit zuzustimmen, sobald sie als solche wahrgenommen wird. Der Glaube impliziert daher nicht notwendigerweise ein explizites Wissen über die offenbarte Wahrheit.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa–IIae, q.2, a.5–8.</ref> Daraus folgt, dass eine gewisse Art des „Sensus fidei“ in jenen sein kann, „die durch die Taufe der Ehre des Christennamens teilhaft sind, den vollen Glauben aber nicht bekennen“.<ref> LG, 15.</ref> Die katholische Kirche muss daher darauf achten, was der Geist ihr wohl durch Gläubige in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sagen mag, die nicht in voller Gemeinschaft mit ihr stehen.

57. Da der „Sensus fidei fidelis“ eine Eigenschaft der theologischen Tugend des Glaubens ist, entwickelt er sich proportional zur Entwicklung der Tugend des Glaubens. Je mehr sich die Tugend des Glaubens im Herzen und im Geist der Gläubigen verwurzelt und ihr tägliches Leben durchdringt, desto mehr entwickelt und verstärkt sich der „Sensus fidei fidelis“ in ihnen. Nun, da der als eine Form von Wissen verstandene Glaube auf der Liebe gründet, bedarf es der Nächstenliebe, um ihn zu beseelen und zu prägen und ihn zu einem lebenden und lebendigen Glauben zu machen („Fides formata“). Daher hängt die Stärkung des Glaubens in den Gläubigen vor allem vom Wachsen der Nächstenliebe in ihnen ab, und der „Sensus fidei fidelis“ entwickelt sich deshalb proportional zur Heiligkeit des Lebens. Der heilige Paulus lehrt: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5, 5), und daraus folgt, dass die Entwicklung des „Sensus fidei“ im Geist des Gläubigen besonders auf dem Wirken des Heiligen Geistes beruht. Als Geist der Liebe, der dem menschlichen Herzen Liebe einflößt, öffnet der Heilige Geist den Gläubigen die Möglichkeit, Christus, die Wahrheit, auf der Grundlage einer liebenden Vereinigung tiefer und genauer zu erkennen: „Die Wahrheit zu zeigen, ist eine Eigenschaft des Heiligen Geistes, denn Liebe führt zur Offenbarung von Geheimnissen.“<ref> Thomas von Aquin, Expositio super Ioannis evangelium, c.14, lect. 4.</ref>

58. Die Nächstenliebe ermöglicht, dass die Gaben des Heiligen Geistes in den Gläubigen aufblühen, was sie zu einem besseren Verständnis der Glaubensdinge „in aller Weisheit und Einsicht“ (Kol 1, 9) führt.<ref> Vgl. Internationale Theologische Kommission, Theologie heute, §§ 91–92.</ref> Tatsächlich können die theologischen Tugenden ihr volles Maß im Leben des Gläubigen nur dann erreichen, wenn der Gläubige dem Heiligen Geist erlaubt, ihn zu leiten (vgl. Röm 8, 14). Die Gaben des Geistes sind die unbegründeten und eingegossenen inneren Dispositionen, die als Grundlage für das Wirken des Geistes im Leben des Gläubigen dienen. Durch diese Gaben des Geistes, vor allem die Gaben der Einsicht und der Erkenntnis, werden die Gläubigen befähigt, „durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt“,<ref> DV, 8. In der Theologie der Gaben des Heiligen Geistes, die der heilige Thomas entwickelt hat, vervollkommnet vor allem die Gabe der Erkenntnis den „Sensus fidei fidelis“ als Fähigkeit, zu unterscheiden, was geglaubt werden soll. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa–IIae, q.9, a.1 co. et ad 2.</ref> zu einem tieferen Verständnis zu gelangen, und jede dem Glauben entgegenstehende Interpretation zurückzuweisen.

59. In jedem Gläubigen besteht eine grundlegende Wechselbeziehung zwischen dem „Sensus fidei“ und dem Glaubensleben in den verschiedenen Umfeldern seines persönlichen Lebens. Auf der einen Seite erleuchtet und leitet der „Sensus fidei“ die Art und Weise, wie der Gläubige seinen Glauben verwirklicht. Auf der anderen Seite gewinnt der Gläubige dadurch, dass er die Gebote bewahrt und den Glauben verwirklicht, ein tieferes Glaubensverständnis: „Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind“ (Joh 3, 21). Den Glauben in der konkreten Realität der Lebenssituationen zu verwirklichen, in denen die Gläubigen durch die Familie, durch berufliche und kulturelle Verbindungen stehen, bereichert ihre persönliche Erfahrung. Es befähigt sie, klarer den Wert und die Grenzen einer bestimmten Lehre zu erkennen und Möglichkeiten vorzuschlagen, ihre Formulierung weiterzuentwickeln. Aus diesem Grund sollten diejenigen, die im Namen der Kirche lehren, der Erfahrung der Gläubigen ihre volle Aufmerksamkeit zuwenden, vor allem den Laien, die sich bemühen, die Lehre der Kirche in den Bereichen ihrer eigenen spezifischen Erfahrungen und Zuständigkeiten zu verwirklichen.

2. Erscheinungsformen des „Sensus fidei“ im persönlichen Leben der Gläubigen

60. Drei Haupterscheinungsformen des „Sensus fidei fidelis“ im persönlichen Leben der Gläubigen können hervorgehoben werden. Der „Sensus fidei fidelis“ befähigt die Gläubigen:

1.) zu unterscheiden, ob eine besondere Lehre oder Praxis, die sie in der Kirche antreffen, mit dem wahren Glauben, den sie in der Gemeinschaft der Kirche leben, übereinstimmt oder nicht (s. u. §§ 61–63);

2.) in dem, was verkündet wird, zwischen Wesentlichem und Zweitrangigem zu unterscheiden (§ 64); und

3.) das Zeugnis für Jesus Christus, das sie in dem besonderen historischen und kulturellen Kontext, in dem sie leben, ablegen sollen, auszumachen und in die Praxis umzusetzen (§ 65).

61. „Liebe Brüder, traut nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt hinausgezogen“ (1 Joh 4, 1). Der „Sensus fidei fidelis“ überträgt den Gläubigen die Fähigkeit, zu unterscheiden, ob eine Lehre oder Praxis mit dem wahren Glauben, nach dem sie bereits leben, übereinstimmt oder nicht. Wenn einzelne Gläubige diese Übereinstimmung wahrnehmen oder „spüren“, geben sie spontan ihr inneres Einverständnis zu diesen Lehren oder setzen sie persönlich um, gleich, ob es sich dabei um bereits explizit gelehrte Wahrheiten oder noch nicht explizit gelehrte Wahrheiten handelt.

62. Der „Sensus fidei fidelis“ befähigt einzelne Gläubige auch, jede Disharmonie, jede Inkohärenz oder jeden Widerspruch zwischen einer Lehre oder Praxis und dem authentischen christlichen Glauben, nach dem sie leben, wahrzunehmen. Sie reagieren wie ein Musikliebhaber gegenüber falschen Noten bei der Darbietung eines Stückes. In solchen Fällen wehren sich die Gläubigen innerlich gegen die entsprechende Lehre oder Praxis und nehmen sie nicht an oder haben nicht an ihnen teil. „Der ,Habitus‘ des Glaubens besitzt eine Fähigkeit, dank derer der Gläubige davon abgehalten wird, dem zuzustimmen, was dem Glauben entgegensteht, so wie die Keuschheit vor allem schützt, was im Gegensatz zu ihr steht.“<ref> Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q.14, a.10, ad 10; vgl. Scriptum, III, d.25, q.2, a.1, qla 2, ad 3.</ref>

63. Gewarnt durch ihren „Sensus fidei“ können einzelne Gläubige sogar der Lehre ermächtigter Hirten ihre Zustimmung verweigern, wenn sie in dieser Lehre die Stimme Christi, des Guten Hirten, nicht erkennen. „Die Schafe folgen ihm [dem Guten Hirten]; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen“ (Joh 10,4–5). Nach Meinung des heiligen Thomas kann, ja muss sich ein Gläubiger, selbst wenn er nicht über theologische Kompetenz verfügt, kraft des „Sensus fidei“ seinem Bischof widersetzen, wenn dieser eine Irrlehre verkündet.<ref> Thomas von Aquin, Scriptum, III, d.25, q.2, a.1, qla 4, ad 3: „[Der Gläubige] darf einem Priester, der etwas gegen den Glauben verkündet, nicht zustimmen ... Der Untergebene wird durch sein Unwissen nicht vollständig entschuldigt. Tatsächlich warnt ihn der Habitus des Glaubens vor solcher Verkündigung, weil dieser Habitus lehrt, was zum Heil führt. Da man nicht jedem Geist allzu leichtfertig Glauben schenken sollte, sollte man einer seltsamen Verkündigung nicht zustimmen, sondern weitere Informationen suchen oder sich einfach Gott anvertrauen, ohne zu versuchen, ohne sich, seine eigenen Fähigkeiten übersteigend, in die göttlichen Geheimnisse vorzuwagen.“</ref> In solch einem Fall sieht sich der Gläubige nicht als letzten Maßstab der Wahrheit des Glaubens, doch angesichts einer „autorisierten“ Verkündigung, die er als verstörend empfindet, ohne genau erklären zu können, warum, zögert er mit seiner Zustimmung und appelliert innerlich an die höhere Autorität der universalen Kirche.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Scriptum, III, d.25, q.2, a.1, qla 2, ad 3; Quaestiones disputatae de veritate, q.14, a.11, ad 2.</ref>

64. Der „Sensus fidei fidelis“ befähigt die Gläubigen auch, in dem, was gepredigt wird, zwischen dem zu unterscheiden, was für den echten katholischen Glauben wesentlich ist, und dem, was – ohne ausdrücklich gegen den Glauben zu sein – nur nebensächlich oder sogar ohne Interesse im Hinblick auf den Kern des Glaubens ist. Einzelne Gläubige könnten etwa kraft ihres „Sensus fidei“ gewisse besondere Formen der Marienverehrung relativieren, gerade weil sie Anhänger einer echten Verehrung der Jungfrau Maria sind. Sie könnten sich auch von einer Verkündigung distanzieren, die christlichen Glauben und parteipolitische Entscheidungen auf unangemessene Weise miteinander vermischt. Indem der „Sensus fidei fidelis“ den Geist des Gläubigen auf diese Weise auf das ausrichtet, was für den Glauben wesentlich ist, gewährleistet er echte christliche Freiheit (vgl. Kol 2,16–23) und trägt zu einer Läuterung des Glaubens bei.

65. Dank des „Sensus fidei fidelis“ und gestärkt durch die übernatürliche Klugheit, die der Heilige Geist überträgt, vermag der Gläubige in neuen historischen und kulturellen Kontexten zu spüren, was der angemessenste Weg sein könnte, um authentisches Zeugnis für die Wahrheit Jesu Christi abzulegen und sich überdies entsprechend zu ihr zu verhalten. Der „Sensus fidei fidelis“ erwirbt auf diese Weise eine vorausblickende Dimension, sodass er den Gläubigen auf der Grundlage des bereits gelebten Glaubens befähigt, eine Entwicklung oder eine Erklärung christlicher Praxis zu antizipieren. Durch die wechselseitige Verbindung zwischen der Praxis des Glaubens und dem Verstehen seines Inhalts trägt der „Sensus fidei fidelis“ auf diese Weise zum Sichtbarwerden und zur Erleuchtung von Aspekten des katholischen Glaubens bei, die vorher implizit darin enthalten waren; und durch die wechselseitige Verbindung zwischen dem „Sensus fidei“ des einzelnen Gläubigen und dem „Sensus fidei“ der Kirche als solcher, also dem „Sensus fidei fidelium“, sind solche Entwicklungen niemals rein privater, sondern immer kirchlicher Natur. Die Gläubigen stehen in der Gemeinschaft der Kirche immer in Verbindung untereinander sowie mit dem Lehramt und den Theologen.

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

<references />