Deus mirabilis (Wortlaut)
Deus mirabilis |
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von Papst
Johannes Paul II.
zur 1700-Jahrfeier der Taufe des armenischen Volkes
2. Februar 2001
(Offizieller italienischer Text: AAS 93 [2001] 461-470)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
1. »Du Gott, wunderbar und weise, hast in deiner Voraussicht das Heil der Armenier begründet.«
Liebe Brüder und Schwestern! Der alte liturgische Hymnus, der Gottes Eingreifen in die Evangelisierung Eures edlen Volkes besingt, steigt aus meinem Herzen auf, das voller Dankbarkeit ist bei diesem frohen Anlass, an dem Ihr die 1700-Jahrfeier der Begegnung Eurer Vorfahren mit dem Christentum begeht. Die ganze katholische Kirche freut sich in Erinnerung an die von der Vorsehung gefügte Taufe, durch die sich Eure edle und geliebte Nation endgültig in die Schar der Völker eingereiht hat, die das neue Leben in Christus angenommen haben.
»Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt« (Gal 3,27). Diese Worte des Apostels Paulus verdeutlichen die einzigartige Neuheit, die für den Christen aus der empfangenen Taufe erwächst. Denn in diesem Sakrament wird der Mensch in Christus eingegliedert, so dass er nun sagen kann: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2,20). Diese persönliche und unwiederholbare Begegnung erneuert, heiligt und verwandelt den Menschen und macht ihn zu einem vollkommenen Anbeter Gottes und lebendigen Tempel des Heiligen Geistes. Indem sie den Jünger in den wahren Weinstock einbindet, der Christus ist, macht sie ihn zu einer Rebe, die fähig ist, Frucht zu bringen. Im Sohn zum Sohn gemacht, wird er Erbe der ewigen Glückseligkeit, die seit den Anfängen der Welt bereitet ist.
Jede Taufe ist also ein Ereignis der Liebe, in dem Christus, der Herr, im Geheimnis der Freiheit und Wahrheit der menschlichen Person begegnet. Dieses Ereignis enthält auch eine kirchliche Dimension, wie es bei den anderen Sakramenten der Fall ist: Die Eingliederung in Christus bedeutet auch Eingliederung in die Kirche, die Braut des Wortes, die unbefleckte und liebevolle Mutter: Das bekräftigt der Apostel Paulus mit den Worten: »Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen« (1 Kor 12,13 ).
Diese Eingliederung in die Kirche wird in der Geschichte mancher Völker besonders deutlich, wenn ihre Bekehrung ein gemeinschaftlicher Akt und mit außerordentlichen Ereignissen und Umständen verbunden war. In solchen Fällen spricht man von der »Taufe eines Volkes« .
2. Vor 1700 Jahren, liebe Brüder und Schwestern des armenischen Volkes, wurde diese allgemeine Bekehrung zu Christus für Euch vollzogen. Es handelt sich um ein Ereignis, das Eure Identität tief geprägt hat; nicht nur die persönliche Identität, sondern auch die gemeinschaftliche, so dass man zu Recht von der »Taufe« Eurer Nation sprechen kann, obwohl die Verbreitung des Christentums in Eurem Land schon früher begonnen hatte. Der Überlieferung nach gehen ihre Anfänge auf die Verkündigung und das Wirken der hll. Apostel Taddäus und Bartolomäus zurück.
Durch die »Taufe« der armenischen Gemeinschaft, an ihrer Spitze die bürgerlichen und militärischen Führer, ist eine neue Volksidentität entstanden, die zu einer untrennbaren Komponente des Wesenskerns des Armeniers wird. Von da an ist es nicht mehr denkbar, dass der Glaube an Christus nicht als Wesensmerkmal zu dieser Identität gehört. Die ganze armenische Kultur hat durch die Botschaft des Evangeliums einen außerordentlichen Anstoß bekommen: Der »armenische Wesenszug« hat dieser Botschaft eine tiefe charakteristische Prägung verliehen. Für gewisse Zeit ist diese Botschaft ein starker Antrieb zu einer bisher nie dagewesenen kulturellen Entwicklung der Nation. Auch die Erfindung des armenischen Alphabets, ein entscheidender Schritt zur Stabilität und endgültigen Festigung der kulturellen Identität des Volkes, ist eng mit der »Taufe« Armeniens verbunden und wurde als wahres und eigentliches Instrument der Evangelisierung gewollt und verstanden, noch bevor es ein Mittel der Kommunikation von Begriffen und Nachrichten wurde. Das neue Alphabet wurde vom hl. Mesrop Maschtoz in Zusammenarbeit mit dem hl. Katholikos Sahak erstellt und ermöglichte es den Armeniern, das Beste der geistlichen, theologischen und kulturellen Strömungen der Syrer und Griechen einzufangen und alles mit dem Beitrag des eigenen charakteristischen Geistes in großartiger Weise zu verschmelzen.
3. Die Bekehrung Armeniens, die zu Beginn des 4. Jahrhunderts vollzogen und von der Tradition auf das Jahr 301 festgelegt wurde, verlieh Euren Vorfahren die Überzeugung, das erste offiziell christliche Volk zu sein, lange bevor das Römische Kaiserreich das Christentum als seine eigene Religion anerkannt hat.
Es ist vor allem der Geschichtsschreiber Agathangelos, der in einer symbolreichen Erzählung ausführlich die Einzelheiten schildert, die der gemeinschaftlichen Bekehrung Eures Volkes der Tradition nach zugrundeliegen: Die Erzählung beginnt mit der von der Vorsehung gewollten dramatischen Begegnung der beiden Helden, von denen die Ereignisse ausgehen sollten: Gregorios, Sohn des Parthers Anak, aufgezogen in Cäsarea in Kappadozien, und der armenische König Tiridates III. Anfänglich handelte es sich um eine Auseinandersetzung. Gregorios widersetzte sich entschieden dem Befehl des Königs, der Göttin Anahit zu opfern, indem er erklärte, dass nur einer der Schöpfer des Himmels und der Erde sei: der Vater unseres Herrn Jesus Christus. Gregorios wurde daraufhin grausam mißhandelt und gefoltert, aber gestärkt durch die Kraft Gottes beugte er sich nicht. Als der König sah, dass Gregorios dennoch an seinem christlichen Bekenntnis festhielt, ließ er ihn in eine tiefe, enge und finstere Höhle werfen, die voller Schlangen war und in der zuvor kein Mensch hatte überleben können. Aber Gregorios blieb lange Jahre in der Höhle, ohne zu unterliegen, dank der mitleidigen Hilfe einer Witwe, die ihm, von der Vorsehung geführt, Nahrung brachte. In der Erzählung wird dann vom römischen Kaiser Diokletian berichtet, der inzwischen alles versucht hatte, um die heilige Jungfrau Rhipsime zu verführen. Um dieser Gefahr zu entgehen, floh sie mit ihren Gefährtinnen von Rom nach Armenien. Die schöne junge Frau zog die Aufmerksamkeit Tiridates auf sich, der sich in sie verliebte und sie besitzen wollte. Angesichts der entschiedenen Weigerung Rhipsimes wurde der König zornig und ließ sie und ihre Gefährtinnen foltern und hinrichten. Der Überlieferung nach wurde Tiridates zur Strafe für das furchtbare Verbrechen in ein Wildschwein verwandelt und konnte seine menschlichen Züge erst wiedererlangen, nachdem er, einer Weisung des Himmels gehorchend, Gregorios aus der Höhle befreit hatte, in der dieser dreizehn Jahre verbracht hatte. Als Tiridates durch die Fürbitte des Heiligen wieder Menschengestalt angenommen hatte, begriff er, dass der Gott des Gregorios der wahre Gott ist, und entschloß sich zusammen mit seiner Familie und dem Soldatenheer zur Bekehrung und zur Evangelisierung des ganzen Landes.
So kam es, dass die Armenier getauft wurden und das Christentum als offizielle Religion der Nation auferlegt wurde. Gregorios, der in der Zwischenzeit in Cäsarea die Bischofsweihe empfangen hatte, und Tiridates zogen durch das Land, zerstörten die Kultstätten der Götzen und errichteten an deren Stelle christliche Gotteshäuser. Infolge einer Vision des eingeborenen menschgewordenen Gottessohnes wurde dann eine Kirche in Vagharshapat erbaut, die von diesem wundersamen Ereignis den Namen Etschmiadzin erhielt, das heißt »Ort, an dem der eingeborene Sohn herniedergestiegen ist«. Die heidnischen Priester erhielten Unterweisung in der neuen Religion und wurden Diener des neuen Gottesdienstes, während ihre Söhne den Kern des Klerus und des nachfolgenden Mönchtums bildeten. Gregorios zog sich bald als Eremit in die Wüste zurück, und der jüngste Sohn Aristakes wurde zum Bischof geweiht und als Haupt der armenischen Kirche eingesetzt. In dieser Rolle nahm er am Konzil von Nizäa teil. Der unter dem Namen Mosè von Corene bekannte armenische Geschichtsschreiber bezeichnet Gregorios als »unseren Stammvater und Vater gemäß dem Evangelium«.<ref> Storia dell ’Armenia, Venezia 1841, S. 265. </ref> Um die Verbindung zwischen der apostolischen Evangelisierung und der des Erleuchters aufzuzeigen, berichtet er, dass Gregorios einer alten Überlieferung nach besonders ausgezeichnet und nahe der heiligen Memoria des Apostels Taddäus empfangen worden sei.
Im frühesten Kalender der noch ungeteilten Kirche wurde er im Orient und Okzident zugleich als unermüdlicher Apostel der Wahrheit und Heiligkeit gefeiert. Der hl. Gregorios tritt als Vater im Glauben des ganzen armenischen Volkes auch heute noch vom Himmel her für alle Söhne und Töchter Eurer großen Nation ein, damit sie sich endlich um den einen von Christus, dem göttlichen Hirten der einen Herde, bereiteten Tisch versammeln.
4. Diese traditionelle Erzählung enthält neben der Legende auch bedeutende geistliche und moralische Elemente. Die Verkündigung des Evangeliums und die Bekehrung Armeniens gründen zutiefst auf dem Blut der Glaubenszeugen. Die Leiden des Gregorios und das Martyrium der Rhipsime und ihrer Gefährtinnen zeigen, dass die Ersttaufe Armeniens die Bluttaufe war.
Das Martyrium ist ständiger Bestandteil der Geschichte Eures Volkes. Sein Glaube bleibt unlöslich mit dem Blutzeugnis verbunden, das für Christus und das Evangelium abgelegt wurde. Die ganze Kultur und selbst die Spiritualität der Armenier sind durchzogen von dem stolzen Bewußtsein dieser höchsten Auszeichnung: der Hingabe des Lebens im Martyrium. Darin ist der Widerhall der Schmerzensschreie aufgrund der Leiden zu vernehmen, die in Gemeinschaft mit dem Opferlamm für das Heil der Welt ertragen wurden. Beispielhaft dafür ist der Opfertod des Vardan Mamikonian und seiner Gefährten, die in der Schlacht von Avarayr (451 n. Chr.) gegen den Sassaniden Iazdegerd II., der dem Volk die mazdaische Religion aufzwingen wollte, ihr Leben hingaben, weil sie Christus treu bleiben und den Glauben der Nation verteidigen wollten. Vor der Schlacht, so erzählt der Geschichtsschreiber Eliseos, wurden die Soldaten mit folgenden Worten zur Verteidigung des Glaubens ermutigt: »Wer glaubte, das Christentum sei für uns ein Kleid, wird jetzt erfahren, dass er es uns nicht nehmen kann, so wie er uns unsere Hautfarbe nicht nehmen kann.«<ref>Storia di Vartan e della guerra degli Armeni contro i Persiani, Kap. V, Venezia 1840, S. 121. </ref> Das ist ein deutlicher Beweis des Mutes, von dem diese Gläubigen beseelt waren: Für Christus sterben hieß für sie, an seinem Leiden teilzuhaben durch die Bekräftiung der Gewissensfreiheit. Es durfte nicht zugelassen werden, dass der christliche Glaube, den das Volk als höchstes Gut empfand, verleugnet wurde.
Seither gab es immer wieder ähnliche Ereignisse bis hin zu den Greueltaten, welche die Armenier im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlitten haben. Höhepunkt waren die traurigen Ereignisse von 1915, als das armenische Volk unerhörte Gewaltakte erdulden musste, deren schmerzliche Folgen heute noch in der Diasporasitutation zu erkennen sind, in die viele seiner Söhne und Töchter getrieben wurden. Die Erinnerung daran darf nicht verloren gehen. Im Laufe des soeben beendeten Jahrhunderts haben meine Vorgänger wiederholt den armenischen Christen, die durch Gewalt umgekommen sind, die Ehre erweisen wollen.<ref>Vgl. Benedikt XV., Ansprache beim Heiligen Konsistorium (6. Dezember 1915): AAS VII (1915), 510; Brief an die Regierenden der kriegführenden Völker (1. August 1917): AAS IX (1917), 419; Pius XI., Ansprache an das Konsistorium anläßlich der Seligsprechung von Giovanni Bosco und Cosma da Carboniano (21. April 1929): Discorsi II, 64; Enzyklika Quinquagesimo ante (23. Dezember 1929): AAS XXI (1929), 712; Pius XII., Ansprache an die armenischen Gläubigen (13. März 1946): Discorsi e messaggi VIII, 5 –6. </ref> Ich selbst wollte die von Eurem Volk erlittenen Leiden in Erinnerung rufen: Sie sind Leiden der Glieder des mystischen Leibes Christi.<ref>Homilie während der Göttlichen Liturgie im armenischen Ritus (21. November 1987), 3: Insegnamenti X/3 (1987), 1177; Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung Roma-Armenia (25. März 1999), 2: L’Osservatore Romano, 26. März 1999, S. 4; Ansprache anläßlich des Besuches Seiner Heiligkeit Karekin II. (9. November 2000): L’Osservatore Romano, 11. November 2000, S. 5. </ref>
Die blutigen Geschehnisse hinterließen tiefe Spuren in der Seele Eures Volkes und veränderten mehrmals sein geographisches Bild, indem sie es zur ständigen Migration in aller Welt zwangen. Äußerst bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Armenier, wo immer sie sich ansiedelten, den Reichtum ihrer moralischen Werte und kulturellen Strukturen mitbrachten, die mit den kirchlichen unlöslich verbunden waren. Von der zuversichtlichen Gewissheit der göttlichen Hilfe geführt, haben die armenischen Christen das Gebet des hl. Gregorios von Nareg immer noch fest auf ihren Lippen behalten: »Wenn ich aufschaue und am Horizont die doppelte Gefahr am Tag der Heimsuchung erkennen werde, dann lass mich dein Heil sehen, o göttliche Hoffnung! Wenn ich den Blick zur Höhe auf den furchterregenden Weg richten werde, der alles verschlingt, dann komme mir huldvoll dein Engel des Friedens entgegen!«.<ref>Il libro della lamentazione, Parola II, b, ed. Studium, 1999, SS. 164 –165. </ref> In der Tat war der christliche Glaube auch in den dramatischsten Augenblicken der armenischen Geschichte die Triebkraft, die den Anfang zur Wiedergeburt des leidgeprüften Volkes setzte.
So war die Kirche, indem sie ihre durch die Welt pilgernden Söhne und Töchter auf der Suche nach Frieden und Freude begleitete, ihre wahre moralische Stärke und wurde in vielen Fällen die einzige Instanz, an die sie sich wenden konnten, der einzige gültige Bezugspunkt, der ihre Anstrengungen unterstützt und ihr Denken inspiriert hat.
5. Ein zweites, wertvolles Element Eurer Leidensgeschichte, liebe armenische Brüder und Schwestern, ist die Beziehung zwischen Evangelisierung und Kultur. Die Bezeichnung »Erleuchter«, wie der hl. Gregorios genannt wird, macht seine Doppelrolle in der Bekehrungsgeschichte Eures Volkes deutlich. »Erleuchtung« ist der traditionelle Ausdruck im christlichen Sprachgebrauch, um auszusagen, dass der von Gott aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufene Jünger (vgl. 1 Petr 2,9) vom strahlenden Glanz Christi überflutet wird, der das »Licht der Welt« ist (Joh 8,12). In Ihm findet der Christ den tiefen Sinn seiner Berufung und seiner Sendung in der Welt.
Aber der Ausdruck »Erleuchtung« hat nach armenischem Verständnis noch eine weitere Bedeutung, denn er deutet auch die Verbreitung der Kultur durch die Lehrtätigkeit an, die besonders den Mönchen und Lehrern übertragen wurde, die nach Gregorios die Predigt des Evangeliums fortsetzten. Wie der Geschichtsschreiber Koriun betont, hat die Evangelisierung Armeniens die Unwissenheit besiegt.<ref>Vgl. Storia della vita di san Mesrob e dell ’inizio della letteratura armena, Venezia 1894, SS. 19–24. </ref> Durch die Verbreitung der Alphabetisierung und der Kenntnis der Regeln und Gebote der Heiligen Schrift war es dem Volk endlich möglich, in kluger und vorausschauender Weise eine Gesellschaft in Gerechtigkeit aufzubauen. Auch Agathangelo weist darauf hin, dass die Bekehrung Armeniens zur Überwindung der heidnischen Kultes geführt hat, der dem Volk nicht nur die Glaubenswahrheiten verborgen hielt, sondern es auch im Zustand der Unwissenheit ließ.<ref>Vgl. Agatangelo, Storia, 2, Venezia 1843, SS. 196 –198. </ref>
Aus diesem Grund hat die armenische Kirche die Förderung der Kultur und des Nationalbewußtseins als Teil seines Sendungsauftrags betrachtet und sich immer bemüht, diese Synthese lebendig und fruchtbar zu erhalten.
6. Die traditionelle Erzählung, in der über die Ereignisse berichtet wird, die mit der Bekehrung der Armenier verbunden sind, regt noch zu einer weiteren Reflexion an. In dem hl. Gregorios dem Erleuchter und den heiligen Jungfrauen zeigt sich die mächtige Kraft des Glaubens, die dazu anspornt, den Versuchungen seitens der Welt nicht nachzugeben, und sie befähigt dazu, den grausamsten Leiden wie auch den verlockendsten Schmeicheleien Stand zu halten. An König Tiridates kann man erkennen, welche Folgen die Gottferne hat: Der Mensch verliert seine Würde und erniedrigt sich, so dass er Gefangener seiner eigenen Begierde wird. Aus der ganzen Erzählung geht eine tiefe Wahrheit hervor: Es gibt keine absolute »Sakralität« der Macht, und es ist nicht gesagt, dass sie in allem, was sie vollbringt, gerechtfertigt ist. Man muß die persönliche Verantwortung für die eigenen Entscheidungen übernehmen. Wenn sie falsch waren, bleiben sie es, auch wenn ein König sie getroffen hat. Der ganzheitliche Mensch wird wiederhergestellt, wenn der Glaube die Sünde entlarvt, wenn der Sünder umkehrt und Gott und seine Gerechtigkeit wiederfindet.
In den christlichen Bauten, die an den Stätten errichtet wurden, wo man die Götzen verehrt hatte, scheint die wahre Identität des Christentums auf: Es sammelt das, was für die Religiosität der Menschheit natürlichen Wert hat, und bietet zugleich die Neuheit eines Glaubens an, der keine Kompromisse kennt. Indem es das Volk Gottes aufbaut, trägt es auch zum Entstehen einer neuen Gesellschaft bei, in der die wahrsten Werte des Menschen sublimiert werden.
7. Während der 1700-Jahrfeier der Bekehrung Armeniens steigt mein Gebet auf zu Gott, dem Herrn des Himmels und der Erde, dem ich im Namen der ganzen Kirche Dank sagen möchte dafür, dass er im armenischen Volk einen so festen und mutigen Glauben erweckt und sein Zeugnis immer gestützt hat.
Ich schließe mich diesem bedeutsamen Gedächtnis an, um mit Euch, liebe Brüder und Schwestern, die große Schar von Heiligen zu betrachten, die aus dieser gesegneten Erde hervorgegangen ist und jetzt in der Herrlichkeit des Vaters erstrahlt. Diese Gestalten, die einen großen Reichtum für die Kirche bilden, sind Märtyrer, Bekenner des Glaubens, Mönche und Nonnen, Söhne und Töchter, die durch die Fruchtbarkeit des Wortes Gottes wieder geboren wurden. Zu den bekanntesten zählt Gregorios von Narek, der den tiefsten Punkt menschlicher Verzweiflung durchlebte und in ihr zugleich das durchdringende Licht der Gnade erblickte. Des weiteren der heilige Katholikos Nerses Snorhali, der eine außerordentliche Liebe für ein Volk und dessen Tradition mit einer weitblickenden Offenheit gegenüber den anderen Kirchen verband und sich besonders für eine verstärkte Suche nach der Gemeinschaft in der vollen Einheit einsetzte.
Ich möchte dem armenischen Volk meinen besonderen Dank für seine lange geschichtliche Treue aussprechen: eine Treue, die Verfolgung und Martyrium kennengelernt hat. Die Söhne und Töchter des christlichen Armeniens haben ihr Blut für den Herrn vergossen, aber die ganze Kirche ist gewachsen und hat sich kraft ihres Opfers gefestigt. Wenn der Westen heute frei seinen Glauben bekennen darf, dann schuldet er es auch denen, die sich aufgeopfert und die mit dem eigenen Leib die christliche Welt geschützt haben bis zu ihren entferntesten Nachkommen. Ihr Tod war der Preis für unsere Sicherheit: Jetzt erstrahlen sie in weißen Gewändern und lobpreisen das Lamm in der Seligkeit des Himmels (vgl. Offb 7,9 –12). Das Glaubensgut und Kulturerbe des armenischen Volkes hat die Menschheit mit Kunst- und Geisteswerken bereichert, die über die ganze Erde verbreitet sind. Die 1700 Jahre der Evangelisierung machen dieses Land zu einer Wiege der christlichen Zivilisation, die alle Jünger des göttlichen Meisters bewundern und hochschätzen.
Die Armenier gingen als arbeitsame Friedensboten in die Welt und haben durch die schwere Arbeit ihrer Hände vielfach dazu beigetragen, sie zu verändern und dem Liebesplan des Vaters ähnlicher zu machen. Das christliche Volk freut sich über ihre hochherzige und treue Präsenz und hofft, dass die Armenier immer und überall in der Welt auf Sympathie und Verständnis stoßen.
8. Ein besonderes Wort möchte ich nun an all diejenigen richten, die sich dafür einsetzen, dass Armenien nach so vielen leidvollen Jahren des totalitären Regimes wiederersteht. Das Volk erwartet sich konkrete Zeichen der Hoffnung und Solidarität. Ich bin sicher, dass die dankbare Erinnerung an die eigenen christlichen Ursprünge für jeden Armenier ein Grund des Trostes und des Ansporns ist. Ich vertraue darauf, liebe treue Armenier, dass das lebendige Gedächtnis der von Gott für Euch vollbrachten Wunder Euch hilft, die volle Würde des Menschen, jedes Menschen in jeder Lage, wiederzufinden, und Euch anspornt, dem Wiederaufbau des Landes eine geistliche und moralische Grundlage zu geben.
Ich verleihe meiner Hoffnung Ausdruck, dass die Gläubigen ihren Einsatz und ihre schon bemerkenswerten Anstrengungen mutig vorantreiben, damit das Armenien von morgen wiedererwacht entsprechend den menschlichen und christlichen Werten der Gerechtigkeit, der Solidarität, der Gleichheit, der Achtung, der Rechtschaffenheit und der Gastfreundschaft, die die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bilden. Wenn dies geschieht, dann hat die Jubiläumsfeier des armenischen Volkes in Fülle Frucht getragen. Ich bin sicher, dass die 1700. Wiederkehr der Taufe Eurer geliebten Nation ein bedeutsamer und einzigartiger Anlass ist, um auf dem Weg des ökumenischen Dialogs weiterzugehen. Die bisherigen herzlichen Beziehungen zwischen der armenischen apostolischen Kirche und der katholischen Kirche haben in den letzten Jahrzehnten auch durch die Begegnungen zwischen dem Papst und den höchsten Kirchenführern einen entscheidenden Impuls erhalten. Wie könnte man in diesem Zusammenhang die denkwürdigen Besuche beim Bischof und bei der christlichen Gemeinschaft von Rom vergessen, die Seine Heiligkeit Vasken I. im Jahr 1970, der unvergeßliche Karekin I. in den Jahren 1996 und 1999 und Karekin II. vor kurzem abgestattet haben? Auch die Übergabe der Reliquie des Vaters des christlichen Armeniens, die ich bei Seiner Heiligkeit Karekin II. in Anwesenheit des armenisch-katholischen Patriarchen zu meiner Freude selbst als Geschenk für die neue Kathedrale in Eriwan vornehmen konnte, bekräftigt erneut das tiefe Band, das die Kirche von Rom mit allen Söhnen und Töchtern des hl. Gregorios des Erleuchters vereint.
Es ist ein Weg, der mit Zuversicht und Mut weiterzugehen ist, damit wir alle immer dem Gebot Christi treu bleiben: »ut nunum sint!« In dieser Perspektive soll die armenisch-katholische Kirche durch »ihre Gebete, das Beispiel ihres Lebens, die ehrfürchtige Treue gegenüber den alten ostkirchlichen Überlieferungen, eine bessere gegenseitige Kenntnis und Zusammenarbeit sowie brüderliche Wertschätzung des äußeren und inneren Lebens der anderen« einen entscheidenden Beitrag leisten.<ref>II. Ökum. Vat. Konzil, Dekret über die Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum, 24. </ref>
Mit den Armeniern und für die Armenier werde ich in wenigen Tagen einer Eucharistiefeier vorstehen, um Gott zu loben und für das Geschenk des von ihnen empfangen Glaubens zu danken, und ich werde darum bitten, dass der Herr »alle Völker zur Einheit in seiner heiligen Kirche zusammenrufe, die auf dem Fundament der Apostel und der Propheten entstanden ist, und sie unbefleckt bewahre bis zum Tag seiner Wiederkunft«.<ref>Alter »Cantico per tutte le feste di Santa Maria Vergine«, in Laudes et hymni ad SS. Mariae Virginis honorem ex Armeniorum Breviario excerpta, Venezia 1877, XVII, 118. </ref> Bei dieser Feier werden an dem einen Tisch des Brotes des Lebens die Brüder und Schwestern stehen, die schon in voller Gemeinschaft mit dem Stuhl Petri leben und auf diese Weise die katholische Kirche mit ihrem unersetzlichen eigenen Beitrag bereichern. Aber es ist meine lebhafte Hoffnung, dass die heilige Danksagung geistig alle Armenier umfängt, wo immer sie sein mögen, um einstimmig den Dank eines jeden an Gott für das Geschenk des Glaubens im heiligen Friedenskuss zum Ausdruck zu bringen.
9. Meine Aufmerksamkeit ist jetzt auf die »Mutter des Lichtes, Maria, die heilige Jungfrau« gerichtet, die »dem Fleisch nach das Licht geboren hat, das vom Vater ausgeht, und die Morgenröte der Sonne der Gerechtigkeit geworden ist«.<ref>Katholikos Isaak III., Inno per la festa della Santa Croce, in Laudes et hymni ad SS. Mariae Virginis honorem ex Armeniorum Breviario excerpta, Venezia 1877, XIII, 88 –89. </ref> Sie wird mit tiefer Liebe unter dem Titel »Astvazazin« [Mutter Gottes] verehrt und ist zu allen Zeiten in der Leidensgeschichte dieses Volkes gegenwärtig. Vor allem die Liturgie und Homiletik sind reich an Texten der Marienverehrung, die die kindliche Anhänglichkeit der Armenier an die Magd des großen Geheimnisses der Erlösung verGöttlichen Liturgie und im göttlichen Stundengebet, sondern auch an vielen Festtagen des Jahres gedenkt die Kirche des Marienlebens und seiner großen Geheimnisse. Die Gläubigen wenden sich vertrauensvoll an sie und bitten um ihre Fürsprache bei dem Sohn: »Tempel des Lichtes ohne Schatten, erhabene Wohnstatt des Wortes, du hast den schweren Fluch der Mutter Eva aufgehoben, bitte deinen eingeborenen Sohn, der uns mit dem Vater versöhnt hat, dass er uns vor jeder Verwirrung bewahre und uns den Frieden des Herzens schenke.«<ref>S. Nerses Shnorhali, Inno in onore di S. Maria Vergine, in tempo di Quaresima, in: Laudes et hymni ad SS. Mariae Virginis honorem ex Armeniorum Breviario excerpta, Venezia 1877, IX, 81. </ref> Maria, die Jungfrau und Helferin, wird als die Königin Armeniens verehrt.
In der himmlischen Herrlichkeit ragt aus der Schar der armenischen Heiligen zweifellos der Vardapet [Kirchenlehrer] der armenischen Kirche, hervor, den ich auch in der Enzyklika Redemptoris Mater erwähnt habe.<ref>vgl. Nr. 31: AAS 79 (1987), 404. </ref> Er grüßt die heilige Jungfrau als »nach dem Willen der ungeschaffenen Gottheit auserwählten Sitz«.<ref>Discorso panegirico alla B. V. Maria, Venezia 1904, S. 16; 24. </ref> Durch seine Worte steige das Bittgebet der Kirche empor, damit dieses Jubiläum der Taufe Armeniens Grund zur Wiedergeburt und Freude werde:
»Nimm an den Lobgesang unserer Lippen und würdige dich, dieser Kirche die Gaben und Gnaden von Zion und Betlehem zu gewähren, damit wir würdig werden, an der Erlösung teilzuhaben an dem Tag, an dem dein eingeborener Sohn, der unsterbliche Erlöser, in der unzerstörbaren Herrlichkeit erscheint.«<ref>Ebd. </ref>
Ich rufe auf das ganze armenische Volk und die kommenden Feierlichkeiten die Fülle der göttlichen Gnaden herab und mache mir die Worte des Historikers Agathangelos zu eigen: »Zum Schöpfer sollen sie sagen: ›Du bist unser Herr und Gott.‹ Und er soll zu ihnen sagen: ›Ihr seid mein Volk‹«,<ref>Storia, 2, Venezia 1843, S. 200. </ref> zur Ehre der Heiligsten Dreifaltigkeit, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
IOANNES PAULUS II PP.
Anmerkungen
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