Athanasius Schneider: CHRISTUS VINCIT
Aus dem Amerikanischen von Susanne Held, Fe Medienverlag Kißlegg (1. Auflage 2020, ISBN 978-3-86357-269-3), Zur Veröffentlichung genehmigt für Kathpedia von Bischof Athanasius Schneider am 2. Mai 2024; Zuerst erschienen in amerikanischer Sprache unter dem Titel Christus Vincit: Christ's Triumph Over the Darkness of the Age.
Für alle Kleinen in der Streitenden Kirche unserer Tage, die als Bischöfe, Priester, Ordensleute, Familienväter und Familienmütter, junge Leute und Kinder in den vergangenen Jahrzehnten an den Rand gedrängt, gedemütigt und bestraft wurden - allein aufgrund ihrer unerschütterlichen Treue zur Unversehrtheit des Glaubens und der Liturgie der Heiligen Messe.
um die Weisen zu beschämen;
was die Welt für schwach hält, hat Gott erwählt,
um das Starke zu beschämen;
und das Geringe in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt,
um das, was etwas ist, zunichte zu machen,
damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott.
Inhaltsverzeichnis
EINFÜHRUNG
Schon seit mehreren Jahren vermitteln die Äußerungen von Bischof Athanasius Schneider zu den in der Kirche tobenden Auseinandersetzungen den bedrängten und der traditionellen katholischen Lehre folgenden Gläubigen, Klarheit und Hoffnung. Noch nie zuvor trat Bischof Schneider jedoch von seinen konkreten Wortmeldungen einen Schritt zurück, um ausführlich sein eigenes Zeugnis abzulegen von "dem Glauben, der ein für alle Mal den Heiligen überliefert ist" (Judas 3) und der ihm von den Märtyrern der kommunistischen Verfolgung übermittelt wurde. Dieses Buch möchte für die Ratlosen in diesen schweren Zeiten ein Wegbegleiter sein.
Christus Vincit ("Christus siegt") ist das erste Interview in Buchlänge mit Athanasius Schneider, Weihbischof im Erzbistum der Allerheiligsten Jungfrau Maria zu Astana in Kasachstan. Er wurde am 7. April 1961 als Antonius Schneider in Tokmok, Kirgisistan (UdSSR), geboren. Seine frühen Jahre verbrachte er in der sowjetischen Untergrundkirche, bevor er mit seiner Familie nach Deutschland auswanderte. 1982 trat er in Österreich in den im portugiesischen Coimbra gegründeten Orden der Regularkanoniker vom Heiligen Kreuz ein. Am 25. März 1990 wurde er zum Priester geweiht. Papst Benedikt ernannte ihn im Juni 2006 im Alter von 45 Jahren zum Bischof, seine Bischofsweihe fand im Petersdom statt. Bischof Schneider spricht Deutsch, Russisch, Portugiesisch, Spanisch, Englisch, Italienisch und Französisch und versteht Latein und Griechisch.
Die Vorfahren des Bischofs waren Deutsche, die aus dem Elsass nach Odessa an der ukrainischen Schwarzrneerküste ausgewandert waren. Ende des Zweiten Weltkriegs schob der siegreiche Stalin die Familie Schneider in den Krasnokamsk-Gulag im Uralgebirge ab. Maria Schneider, die Mutter des Bischofs, spielte eine Schlüsselrolle in der Untergrundkirche und bot dem seligen Oleksiy Zarytskyj Unterschlupf, einem ukrainischen Priester, der unter der sowjetischen Herrschaft im Jahr 1963 den Märtyrertod starb.
Ebenso wie der heilige Athanasius der Große, sein Namenspatron im 4. Jahrhundert, sagt Bischof Schneider Dinge, die andere nicht sagen, und folgt dabei furchtlos dem Rat des heiligen Paulus: „verkündige das Wort, sei zur Stelle - ob gelegen oder ungelegen -, rede ins Gewissen, ermahne unermüdlich und geduldig belehrend“ (2 Tim 4,2). Viele sind tief beeindruckt von seiner Überzeugungskraft, seinem Eifer, seiner Klarheit und der restlosen Hingabe an seine Berufung zu einem Nachfolger der Apostel. Dieses Buch möchte dem Leser die Möglichkeit geben, Bischof Schneider besser kennenzulernen und einen Eindruck davon zu gewinnen, wie er die Welt, die Kirche und die ständige Spannung zwischen diesen beiden sieht.
Dem Text liegen drei ausgedehnte Interviews zugrunde. Das erste fand an mehreren Tagen im Januar 2018 in München statt, wo Bischof Schneider seine Mutter besuchte, die in der Obhut einer Gemeinschaft von Ordensschwestern lebt. Die zweite Unterredung fand im Mai 2018 in Rom statt; die dritte im März 2019, ebenfalls in Rom, nach dem ad limina-Besuch der Bischöfe Zentralasiens (Ein ad-limina·Besuch - genauer: ad limina apostolorum - ist eine Verpflichtung von Diözesanbischöfen und anderen Prälaten mit territorialer Zuständigkeit, die Schwellen (limina), also die Gräber der Apostel Petrus und Paulus, zu besuchen und den Papst zu treffen, um über die Lage in ihren Diözesen Bericht zu erstatten. Es handelt sich um eine offizielle Reise, die üblicherweise von sämtlichen Bischöfen einer bestimmten Region oder einer katholischen Bischofskonferenz unternommen wird, um mit dem Papst die jeweiligen Themen ihrer Region zu besprechen). Anschließend überarbeitete Bischof Schneider das Manuskript sorgfältig, differenzierte und revidierte seine Überlegungen.
Es ist kaum möglich, nicht von der Liebe des Bischofs zum eucharistischen Herrn betroffen zu sein; von seinem Vertrauen auf den Triumph Christi durch jene, die er als "die Kleinen" bezeichnet, und von seiner Bereitschaft, den guten Hirten nachzuahmen, indem er sein Leben für die Herde Christi dahingibt, sei es durch das tägliche Opfer oder durch den letzten Ernstfall.
Den Titel Christus Vincit hat der Bischof festgesetzt. Die lateinische Formulierung zog ihn besonders deshalb an, weil sie den Gläubigen Hoffnung und Ermutigung vermittelt. Im Lauf unserer Unterhaltung kristallisierte sich heraus, dass im Titel Christus Vincit für ihn auch Christi Wort anklingt von "dem, was die Welt für töricht hält, das die Weisen beschämt" (1 Kor 1,27). Der Untertitel, Der Triumph Christi über die Finsternis dieser Zeit, ist inspiriert von einem Vers aus dem Prolog des Johannesevangeliums: "Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen" (Joh 1,5). Dieser Vers gibt, wie sich zeigen wird, den Bogen der Gespräche wieder sowie den Geist der Hoffnung, den dieser Text atmet.
Das Buch gliedert sich in vier Teile auf, deren Titel jeweils aus dem 24. Kapitel, Vers 29, des Matthäusevangeliums stammen. In seiner ersten Enzyklika E Supremi stellte der heilige Pius X. fest, der aufziehende Sturm des Irrtums zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei so schlimm, dass er nicht überrascht wäre, wenn er hören würde, dass der Antichrist bereits auf dieser Erde eingetroffen ist. Derselbe Papst bezeichnete dann den Modernismus als die Synthese aller Häresien und den Vorboten der Endzeit. Die Kirchenväter geben uns eine geistliche Interpretation der berühmten Worte unseres Herrn: "Gleich nach der Bedrängnis jener Tage wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben; die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels erschüttert werden" (Mt 24,29). Die Bedrängnis, so unterrichtet uns der heilige Augustinus, wird dem großen Abfall vorausgehen. "Diese Dinge werden sich ,nach der Bedrängnis jener Tage' ereignen, nicht, weil sie geschehen werden, wenn die gesamte Verfolgung vorüber ist, sondern weil die Drangsal als Erstes kommt, auf dass der Abfall danach komme" (Ep. 199,39).
Die "Sonne", Christus, wird in den Herzen der Menschen verdunkelt und der "Mond", die Kirche, wird nicht länger aufgrund ihrer Schönheit das Herz der Menschen gewinnen. "In dieser hemmungslosen Wut der bösen Verfolger ist die Kirche nicht mehr sichtbar." Die "Sterne", jene Glieder der Kirche, die verlässliche Grundsteine der Rechtgläubigkeit zu sein schienen, werden vom wahren Glauben und vom sittlichen Lebenswandel abfallen. "Viele, die in der Gnade Gottes zu strahlen schienen, werden ihren Verfolgern nachgeben, und sie werden fallen und sogar die überzeugtesten Gläubigen werden erschüttert", so die Worte des heiligen Augustinus. Und dennoch wird dies - wie der Sturz der abtrünnigen Engel aus dem Himmel - ein Zeichen des kommenden Triumphs Christi sein (Lk 10,18).
Ob die Worte unseres Herrn sich nun auf unsere Gegenwart beziehen oder nicht - ihr Nachklang in der Erfahrung von Bischof Athanasius Schneider und vieler anderer ist unbestreitbar und seine Einsichten in die apokalyptischen Herausforderungen, mit denen sich die Herde Christi gegenwärtig konfrontiert sieht, sind eine lebenswichtige Lektüre für alle Christen, die die Zeichen der Zeit aufmerksam verfolgen.
Ich möchte am Schluss all jenen Personen meinen herzlichen Dank aussprechen, die auf irgend eine Weise zur Entstehung dieses Buchs beigetragen haben. Gott kennt sie und in Seiner Liebe wird er sie sicherlich belohnen. Im Lauf der Arbeit an diesem Buch musste ich immer wieder an die Worte von Gottvater zu der heiligen Katharina von Siena in dem geistlichen Klassiker Dialog über die göttliche Vorsehung denken: "Meine Tochter, es wäre für Mich nicht schwer gewesen, die Menschen, als Ich sie schuf, mit allem auszustatten, was sie für Leib und Seele brauchen, doch Ich wünschte, dass der eine den anderen braucht und dass sie mit Mir mitwirken sollen, um die Gnaden und Gaben zu verwalten, die sie von Mir empfangen haben."
Diane Montagna
3. September 2019, Fest des heiligen Pius X.
und des heiligen Gregors des Großen
1. DIE BEDRÄNGNIS JENER TAGE
1. Guter Boden
Exzellenz, Sie sind Weihbischof von Kasachstan, doch Sie haben einen deutschen Namen, was auf eine sehr interessante Familiengeschichte schließen lässt - eine Geschichte, zu der die Verfolgungen und Bedrängnisse gehören, die diese beiden Länder durchgemacht haben. Auch Sie selbst haben unter den Auswirkungen dieser Verfolgungen gelitten. Bitte erzählen Sie uns etwas von Ihrer Familiengeschichte.
Diese Geschichte reicht Jahrhunderte zurück. Ich gehöre zu den sogenannten Russlanddeutschen. Sie waren Bauern im russischen Reich in zwei großen Ansiedlungen von Deutschstämmigen; sie wurden von den Zaren eingeladen. Sie waren Bauern, die das Land bebauten. Die erste Gruppe umfasste die sogenannten Wolgadeutschen, die bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gekommen waren, vor allem unter Kaiserin Katharina der Großen, einer Deutschen, die sie eingeladen hatte, sich am Fluss Wolga anzusiedeln. Die zweite Gruppe, die sogenannten Schwarzmeerdeutschen, kamen später, in den Jahren 1809-1810, und ließen sich an der Schwarzmeerküste nieder. Ich gehöre zu dieser zweiten Gruppe. Sie kamen aus Südwestdeutschland; meine Vorfahren - aus den letzten zweihundert Jahren kenne ich alle mit Namen - stammten aus Elsass-Lothringen. In dieser Region wurde Deutsch gesprochen, allerdings gehörte sie zeitweise zu Frankreich und zeitweise zu Deutschland. Meine Vorfahren väterlicherseits und mütterlicherseits kamen aus Dörfern im nördlichen Elsass, nördlich von Straßburg.
Wie kommt es, dass Sie die Namen all Ihrer Vorfahren kennen?
Vor ungefähr sechzig Jahren erschien ein Buch von einem deutschen Historiker, der ebenfalls in Russland gebürtig war. Es enthielt die Namen all jener Menschen, woher sie kamen, wo sie sich niederließen und so weiter. Ich kannte meine Großmütter und diese kannten ihrerseits ihre Großmütter. In diesem geschichtswissenschaftlichen Buch fand ich die Familiennamen all derer, die ausgewandert waren, und so konnte ich die Verbindung herstellen. Beide Seiten meiner Familie stammten aus dem Elsass und sie gründeten in ihrer neuen Heimat deutsche Dörfer mit deutschen Namen. So hieß beispielsweise das Dorf meiner Mutter in der Nähe von Odessa Elsass - und es gab Dörfer mit Namen wie Straßburg, Karlsruhe, Mannheim und so weiter. Die deutsche Kultur wurde dorthin übertragen und diese deutschen Bauern waren - Gott sei Dank - zutiefst katholisch. Ihr Glaube war einfach, aber sehr tief; und sie haben uns ihren Glauben weitergegeben. In diesen deutschen Dörfern wurden schöne Kirchen mit allen notwendigen Einrichtungen gebaut. Sie hatten auch ihre eigenen deutschen Priester und sprachen in den Dörfern nur ihre deutschen Dialekte. Im 19. Jahrhundert wurde vom Papst für die Deutschen in der südlichen Ukraine und an der Wolga sogar eine Diözese eingerichtet. Sie hieß Tiraspol. Der Bischof hatte seine Residenz in der Stadt Saratow an der Wolga und dort gab es, bevor die Kommunisten kamen, eine Kathedrale und ein Priesterseminar, sie hatten also auch ihre eigenen Geistlichen.
Und ihr Bischof war ebenfalls Deutscher, ausgewählt aus ihrem Volk?
Ja, aus ihrem eigenen Volk. Der letzte Bischof, Aloysius Kessler, starb im Exil in Deutschland, nachdem die Kommunisten ihn 1922 des Landes verwiesen hatten. Zu Beginn der kommunistischen Ära gab es aus dieser Diözese über zweihundert deutsche Priester. Es ist wunderbar, dass keiner von diesen Priestern vom Glauben abfiel. Nicht ein Einziger. Fast alle von den zweihundert Priestern aus der Diözese mit Ausnahme nur von einigen wenigen wurden umgebracht oder inhaftiert. Es gab also in diesen deutschen Dörfern einen sehr starken, sehr tiefen katholischen Glauben. Ich kannte meine Großmütter und ich bin Gott so dankbar, dass sie und meine Eltern mir den katholischen Glauben vermittelten. Sie lebten dort bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Kommunisten sperrten in den 1920er- und 1930er-Jahren die Priester ein und schlossen die Kirchen. Viele von den schönen Kirchen wurden zerstört oder in Tanzlokale und Ställe umgewandelt oder für andere, ähnliche Zwecke benutzt. Die schlimmen Jahre waren in der Stalin-Zeit die Jahre 1936 bis 1938 - sie werden als die Dunklen Jahre bezeichnet, die Jahre des Terrors, obwohl Stalin sie zynischerweise als Zeit der Reinigung bezeichnete. Es war eine Reinigung, eine "Säuberung", wie Stalin es formulierte. Die Kommunisten brachten vor allem Priester, Wohlhabende und Intellektuelle um, also Menschen, die sie als mögliche Feinde empfanden. Es war ein Völkermord. Und unglaublicherweise schweigt die Geschichtswissenschaft darüber fast vollständig. In diesen beiden Jahren tötete Stalin Millionen und Abermillionen unschuldiger Menschen - Angehörige seines eigenen Volkes, keine Ausländer. Das ist eine bewiesene historische Tatsache.
Stalins Militär verübte diesen Völkermord an seinem eigenen Volk?
Ja. Mein Großvater väterlicherseits war auch ein Opfer, weil er Land besaß; das reichte aus, um ihn auf die schwarze Liste zu befördern.
Wurde er ausgewiesen? Umgebracht?
Er wurde umgebracht. Er war ein junger Mann, 27 Jahre alt - Sebastian Schneider -, und meine Großmutter wurde mit 25 Jahren Witwe, mit zwei kleinen Kindern. Mein Vater war sieben, sein Bruder zwei Jahre alt. Die Kommunisten kamen in der Nacht, mit einem Fahrzeug, in dem bereits lauter Männer saßen, die erschossen werden sollten, und sie nahmen ihn mit. Die Männer wurden zu einem zentralen Ort transportiert und dort umgebracht. Er wurde also in der Nacht abgeholt und meine Großmutter lief hinter ihm her, um ihn zu beschützen. Als er schon auf dem Lastwagen war, sagte er zu meiner Großmutter - sie hieß Perpetua - in seinem einfachen deutschen Dialekt: "Perpetua, bleib, wie du bist!" Meine Großmutter verstand das so, dass er sie bat, nicht wieder zu heiraten - zu bleiben, wie sie war. Sie verstand seine Worte auf der Stelle in diesem Sinn.
Der heilige Paulus sagt den Witwen: "Es ist besser so zu bleiben, wie ihr seid" (vgl. 1 Kor 7,8).
Ja, "wie du bist". Das sagte er ihr. In ihren späteren Jahren hat Großmutter mir allerdings gesagt, er habe sie bitten wollen, die treue Katholikin zu bleiben, die sie war. Sie wurde mit 25 Jahren Witwe und lebte 74 Jahre als Witwe.
Wie die Prophetin Hanna (vgl. Lk 2,36) ...
Sie wurde 99 Jahre alt und starb an ihrem Geburtstag in Deutschland, wo sie bei meinem Onkel, dem jüngeren Bruder meines Vaters, lebte. Und ich habe sie beerdigt. Sie war noch am Leben, als ich Bischof wurde, und sie war noch sehr aufgeweckt. Ich habe in meinem Leben kaum jemanden erlebt, der so viel gebetet hat. Es war unglaublich. Sie betete Tag und Nacht fast ununterbrochen.
Wie haben Sie das wahrgenommen? Hatte sie ständig den Rosenkranz in der Hand?
Ja, den Rosenkranz. Sie hatte ein dickes altes Gebetbuch, mit dem sie betete, und sie erzählte uns: "Heute bin ich um vier Uhr aufgewacht und habe gleich angefangen zu beten." Wir wussten alle, dass sie sehr früh aufwachte. Sie betete morgens mindestens drei Stunden. Dann ging sie an die Arbeit und dann hörte sie wieder auf und betete eine Stunde. Dann nachmittags, und am Abend, betete sie drei Stunden.
Ein geradezu klösterliches Leben ...
Ja! Wir haben das gesehen. Mit ihren Büchern betete sie auf einfache Weise: Litaneien, Novenen, all die Rosenkränze und so weiter. Und so lebte sie immer in der Gegenwart Gottes. Als ich klein war, hat sie mir immer einen Segen gegeben, wie Großmütter es für ihre Enkel zu tun pflegen, indem sie mir ein kleines Kreuz auf die Stirn zeichnete. Nach meiner Weihe zum Bischof im Jahr 2006 besuchte ich sie. Sie begegnete mir zum ersten Mal, seit ich Bischof war, und bat mich, ihr den bischöflichen Segen zu spenden. Ich segnete sie und sagte dann: "Und jetzt, Großmutter, musst du mich segnen." Sie saß (sie konnte nicht mehr gut laufen). Ich kniete vor ihr nieder und dann sagte sie einen Satz, wie sie ihn nie zuvor gesprochen hatte - das war nicht ihr Stil, denn sie war eine ganz einfache Frau, die nur zwei oder drei Jahre in die Schule gegangen war. Als ich niederkniete, wurde sie ganz feierlich und schlug ein Kreuz, nicht so wie damals, als ich ein Kind gewesen war, sondern ein ganz großes Kreuz über mir, wie ein Priester, und ganz feierlich, und sie sagte: "Mit Gott und für Gott sende ich dich in die Welt." Ich schrieb mir das in mein Brevier. Für mich ist dieser Segen außerordentlich wertvoll es ist ein großes, besonderes Geschenk Gottes, diesen Segen von meiner Großmutter empfangen zu haben, die 74 Jahre lang als Witwe lebte.
Um zu der Geschichte Ihres Großvaters zurückzukehren und seiner Festnahme durch die Kommunisten: Wussten die Dorfbewohner, wie etwa Ihre Großmutter, dass ihre Ehemänner, Väter und Söhne abgeholt wurden, um erschossen zu werden?
Ja, natürlich. Wenige Wochen später kam die Polizei, um ihr Haus zu durchsuchen. Sie hatte überall heilige Bilder an der Wand hängen, was während dieser Zeit der "Säuberung" verboten war - die Menschen mussten so leben, wie es der neue kommunistische Lebensstil vorschrieb. Ein Polizist kam herein und fragte sie: "Warum haben Sie diese Bilder? Sie wissen, das ist verboten. Sie müssen diese Bilder abnehmen." Sie gehorchte dem Befehl nicht, deshalb ging der Polizist auf die Wand zu und wollte die Bilder selbst herunterreißen. Da schrie sie den Polizisten an: "Sie haben dieses Bild nicht an die Wand gehängt und Sie haben nicht das Recht, es abzunehmen!" Der Polizist war schockiert, völlig verblüfft. In diesem Augenblick rührte er das Bild nicht an und verließ still das Haus. In dieser Zeit des Terrors hatte jeder Angst. Es war ein Wunder, glaube ich, weil Gott die Witwen und ihre Kleinen beschützt. Außerdem war es überhaupt nicht normal für meine Großmutter, zu schreien, denn sie war von Natur aus eine schüchterne Person und erhob nie ihre Stimme. Nie in meinem Leben habe ich sie schreien gehört, sie war sehr sanftmütig.
Das klingt wie eine Dämonenaustreibung.
Ja. Einige Jahre später musste sie im Kolchosensystem mitarbeiten - "Kolchose" ist eine kommunistische Abkürzung für "Kollektivwirtschaft" im Dorf, wo es keinerlei Privateigentum gibt, und man muss auf den Feldern arbeiten - und es wurde von ihr verlangt, dass sie sonntags arbeitete. Sie weigerte sich, obwohl ihr Ehemann getötet worden und sie selbst eine Frau war, auf die die tyrannischen Autoritäten ein Auge hatten. Der Chef befahl ihr: "Sie müssen in dieser Kolchose am Sonntag arbeiten!" Woraufhin sie antwortete: "Sie können mich umbringen - ich werde an Sonntagen nicht arbeiten." Und daraufhin ließen sie sie in Ruhe. Das halte ich für ein zweites Wunder. Und es ist ein Beispiel für den Boden, aus dem ich stamme.
Was gibt es über die andere Seite Ihrer Familie zu berichten?
Meine Großmutter mütterlicherseits war ebenfalls sehr fromm. Mein Großvater mütterlicherseits wurde von einer Bombe auf seinem Hof während des Zweiten Weltkriegs getötet. Die Eltern meiner Mutter waren Bauern und hatten sieben Kinder. An einem Tag ging mein Großvater zum Kuhstall. Sonst ging er immer mit seinem kleinen Sohn, dem Bruder meiner Mutter, doch dieses Mal sagte er: "Ich gehe allein." Er hatte so ein Gefühl. "Ich gehe allein und du bleibst hier", sagte er. Er ging also zum Stall und dann flog ein deutsches Militärflugzeug über den Hof und warf eine Bombe über dem Stall ab und er war auf der Stelle tot. Meine Großmutter und alle ihre Kinder waren Augenzeugen. Es war entsetzlich für sie. Sie war dann auf dem Hof allein mit sieben Kindern. Der Hof war sehr klein - denn er gehörte zur Kolchose - und die Leute sagten, die Kinder würden sterben, weil es damals nichts zu essen gab. Aber Gott half und sie überlebten alle.
Während des Zweiten Weltkriegs besetzte das deutsche Heer diesen Teil der Ukraine. Als sich die deutschen Soldaten zurückzogen, evakuierten sie alle diese Deutschen nach Ostdeutschland, in die Nähe von Berlin - ungefähr dreihunderttausend Menschen.
Wie wurden sie zurücktransportiert?
Zuerst mit Pferdekutschwagen oder zu Fuß nach Rumänien, dann mit dem Zug nach Berlin. Dann, als die russische Armee Berlin besetzte - sie waren nicht in Berlin, sondern in der Nähe von Berlin -, nahmen sie all diese Deutschen aus Russland fest und brachten sie zurück zur Zwangsarbeit, in Zügen, die normalerweise zum Viehtransport benutzt wurden. Sie wurden an unterschiedlichen Orten wieder angesiedelt.
Transportiert wie diejenigen, die in den Konzentrationslagern endeten?
Genau. Es war dieselbe Form des Transports. Die einen kamen nach Sibirien; andere nach Kasachstan; wieder andere in den Ural. Meine Mutter und mein Vater kamen in den Ural.
Und Ihre Großmütter?
Sie waren mit der ganzen Familie zusammen. Sie wurden hierher mitgenommen.
Wie alt war Ihre Mutter damals?
Sie war fast vierzehn und mein Vater war sechzehn: Sie waren Jugendliche. Zwanzig Prozent der Menschen starben unterwegs - an Hunger, an Krankheiten, an der Kälte. Der Zug meines Vaters (er war nicht im selben Zug wie meine Mutter, sie waren sich noch nicht begegnet) wurde direkt in den Wald gefahren. Im Uralgebirge gibt es sehr breite Flüsse und sie wurden mit Schleppschiffen direkt in den Wald gebracht. Dort mussten sie Bäume fällen, hohe Bäume, ohne die Hilfe von Maschinen. Menschen starben bei dieser Arbeit. Es war eine unmenschliche Arbeit.
Wie kalt war es?
Häufig waren es im Winter vierzig Grad unter Null.
Wie haben sie,das überlebt?
Viele sind gestorben! Sie sind erfroren. Es ist ein Wunder, dass meine Familie überlebt hat. Sie wurden in den Wald gebracht und während des Tages starben einige, weil sie nur sehr wenig zu essen bekamen und den ganzen Tag arbeiten mussten. Die extrem harte Arbeit erschöpfte viele. Sie fielen in den Schnee und erfroren.
Keiner wusste, ob er den Abend noch erleben würde. Die Vertriebenen waren lauter Deutsche. Einige waren katholisch, andere lutherisch. Wenn sie morgens durch den Schnee zu ihrer Arbeit gingen, fingen die deutschen Katholiken laut an den Rosenkranz zu beten - und die Lutheraner schlossen sich ihnen an. Die Lutheraner beteten mit, denn wenn der Tod so gegenwärtig ist, rufen sogar Lutheraner Unsere Liebe Frau an. Meine Mutter wurde in ein deutsches Getto gebracht, wo sie bleiben mussten und kontrolliert wurden. Es gab keine freie Bewegung. Sie mussten in Baracken leben, ganze Familien; sie hatten keine Betten und mussten auf dem Boden schlafen.
Musste die ganze Familie arbeiten? Oder nur die Männer?
Die Frauen mussten auch arbeiten. Meine Mutter musste arbeiten, als sie sechzehn wurde. Jeder musste ab dem sechzehnten Lebensjahr arbeiten, auch die Mädchen.
Bäume fällen im Uralgebirge?
Sie war in der Stadt am Fluss und sie hatte die Aufgabe, mit einem Seil große Baumstämme aus dem Fluss zu holen - harte Arbeit auch für einen Mann; und sie musste das mit sechzehn Jahren machen. Manchmal war das Wasser gefroren und sie musste diese Bäume durch den Schnee schleppen, bei Temperaturen, die manchmal bis dreißig, vierzig Grad unter null fielen; dabei hatte sie nur drei Stück Brot zu essen, für den ganzen Tag, nicht mehr. Morgens richtete ihr ihre Mutter diese Brotscheiben mit Butter und nichts sonst. Sie hatte sie in ihren Taschen, und während sie arbeitete, gefror das Brot! Sie hatten den ganzen Tag über nur dreißig Minuten Pause und sie musste das Brot mit ihrem Atem aufwärmen, um es essen zu können. Sie hatten so wenig zu essen! Es waren sieben Kinder, sie war die mittlere, und es gab noch drei jüngere Geschwister. Um sie musste sie sich auch kümmern.
Gab es überhaupt einen Priester in der Gegend?
Unglückseligerweise mussten sie zehn Jahre lang mehr oder weniger ohne Priester auskommen. Doch der Glaube wurde innerhalb der Familien weitergegeben und sie beteten jeden Tag. Beispielsweise kamen in der Fastenzeit an den Freitagen, abends nach dieser harten Arbeit, Nachbarsfamilien zusammen und beteten zusammen in einem Zimmer den Kreuzweg. Auch nach einem erschöpfenden Tag beteten sie in der Fastenzeit den Kreuzweg. Und dann kamen heimlich Priester. Vor allem gab es einen ukrainischen Priester, der in Karaganda im Exil lebte, den seligen Pater Oleksiy (Alexij) Zarytskyj, der eine Strecke von zweitausend Kilometern ins Uralgebirge zurücklegte.
Warum war er in Karaganda?
Es gab in Kasachstan einen Gulag, eines der fürchterlichsten Konzentrationslager in der Sowjetunion. Dort war er im Gulag gewesen, dann wurde er freigelassen und unter eine Art Hausarrest gestellt. Er durfte die Stadt nicht verlassen, doch er brach trotzdem aus und reiste, um Katholiken aufzusuchen; er wusste, wenn man ihn finden würde, würde er wieder in den Gulag kommen. Er kam zu meinen Eltern im Ural, heimlich. Er war so ein heiliger Mann. Mein Vater und meine Mutter, beide haben uns immer wieder vom seligen Pater Oleksiy Zarytskyj erzählt. Beide sagten, sie hätten in ihrem ganzen Leben nicht einen so heiligen Priester kennen gelernt. Er gab sich wirklich vollständig hin. Nachts hörte er Beichten, denn sie hatten zehn Jahre lang keinen Priester gehabt. Er zelebrierte die Messe und teilte die heilige Kommunion aus und so weiter. Manchmal aß er zwei Tage lang nichts, denn der Strom der Menschen, die zu ihm kamen, riss nicht ab Tausende Deutsche, die katholisch waren. Sie kamen heimlich, um zu beichten.
Wurde er je gefasst?
Einmal fing Pater Oleksiy an, die heilige Messe zu zelebrieren, und plötzlich rief jemand aus: "Die Polizei kommt!" Meine Mutter, die auch bei der Messe war, sagte zum Priester: "Pater, ich kann Sie verstecken; kommen Sie, wir fliehen!" Meine Mutter brachte den Priester in ein Haus außerhalb des deutschen Gettos und versteckte ihn in einem Zimmer, brachte ihm etwas zu essen und sagte: "Pater, jetzt können Sie endlich essen und sich ein bisschen ausruhen, und wenn es dunkel wird, dann fliehen wir in eine Stadt in der Nähe." Pater Oleksiy war traurig, weil er zwar allen die Beichte abgenommen hatte, sie aber jetzt keine heilige Kommunion empfangen konnten; die heilige Messe, die gerade angefangen hatte, war ja durch die Polizei unterbrochen worden. Meine Mutter sagte: "Pater, alle Gläubigen werden geistlich kommunizieren, mit großem Glauben und viel Hingabe, und wir hoffen, dass Sie wiederkommen können, um uns die heilige Kommunion zu geben."
Als es dann Abend wurde, bereitete man seine Flucht vor. Meine Mutter ließ meinen ältesten Bruder, Josef, der zwei Jahre alt war, und meine älteste, damals gerade sechs Monate alte Schwester Maria bei meiner Großmutter. Sie wandte sich an Pulcheria Koch, die Tante meines Vaters. Die beiden Frauen gingen mit Pater Oleksiy zwölf Kilometer durch den Wald, in Schnee und Kälte, bei dreißig Grad unter null. Als sie bei dem kleinen Bahnhof ankamen, kauften sie für Pater Oleksiy eine Fahrkarte und setzten sich mit ihm in den Wartesaal; der Zug sollte erst in einer Stunde kommen. Plötzlich ging die Tür auf. Ein Polizist kam herein und sprach Pater Oleksiy direkt an:
"Wohin fahren Sie?" Der Priester konnte nicht antworten, aus Furcht - nicht um sein eigenes Leben, sondern um das Leben und Schicksal meiner Mutter. Meine Mutter antwortete dem Polizisten: "Das ist unser Freund und wir begleiten ihn. Sehen Sie, hier ist seine Fahrkarte", und sie reichte dem Polizisten die Fahrkarte. Der Polizist schaute sich die Fahrkarte an und sagte zu dem Priester: "Steigen Sie nicht in den letzten Waggon ein, denn der wird beim nächsten Bahnhof vom Rest des Zuges abgekoppelt. Gute Reise!" Und der Polizist verließ den Wartesaal. Pater Oleksiy schaute meine Mutter an und sagte: "Gott hat uns einen Engel geschickt! Ich werde nie vergessen, was Sie für mich getan haben. So Gott will, werde ich wiederkommen und euch allen die heilige Kommunion spenden und in jeder Messe werde ich für Sie und Ihre Kinder beten."
Ihre Eltern waren also schon verheiratet, bevor sie Pater Oleksiy begegneten. Wie haben Ihre Eltern sich kennengelernt?
Das ist eine interessante Geschichte. Sie haben 1954 geheiratet. Meine Großmutter mütterlicherseits - sie hatte fünf Töchter und zwei Söhne - sagte: "Meine Töchter, macht euch keine Sorgen wegen eurer zukünftigen Ehemänner. Gott hat bereits für jede von euch einen Ehemann bestimmt. Ihr müsst bloß beten." Meine Großmutter Melania Trautmann machte ihren Söhnen und Töchtern klar, dass sie ihre zukünftigen Ehepartner nicht bei Tanzabenden finden würden. Sie fand, dass es sich für einen Katholiken nicht ziemte, nach einem zukünftigen Ehepartner bei Tanzabenden Ausschau zu halten, und die Kinder gehorchten. Meine Eltern begegneten sich während der Zeit, da sie im Uralgebirge arbeiten mussten. Josef und Maria - mein Vater ist Josef, meine Mutter Maria - heirateten dann am 31. Mai, dem letzten Tag des Marienmonats, im Jahr 1954. Meine Eltern trafen den seligen Pater Oleksiy ein Jahr später. Er kam oft zu meinen Eltern und war ihr Beichtvater.
Wer zelebrierte bei der Hochzeit Ihrer Eltern?
Sie heirateten in Übereinstimmung mit dem Kirchenrecht. Wenn einen Monat kein Priester anwesend ist, können die Leute trotzdem heiraten.
Erforderlich ist die beiderseitige Zustimmung ...
Ja, und Zeugen. Sie sagten, es sei sehr schön gewesen. Eine ältere Dame nahm ein Buch und sie sprachen ihre Ehegelübde wie in der Kirche, vor zwei Trauzeugen. Meine Eltern sprachen ihre Ehegelübde genauso, wie es in dem deutschen Gebetbuch geschrieben stand. Sie mussten daher nicht noch einmal heiraten.
1960 zogen sie nach Kirgisistan um, wo das Wetter und das Klima besser sind. Ich wurde dort am 7. April 1961 geboren. Wir waren vier Kinder - mein älterer Bruder, Josef; dann kam Maria, meine Schwester; dann meine Schwester Erika und ich bin der Jüngste. Dann kam der selige Pater Oleksiy nach Kirgisistan, heimlich, und er fand unser Haus und zelebrierte eine heimliche Messe. Ich war ein Jahr alt.
Wer hat Sie getauft?
Zuerst noch eine sehr nette Geschichte. Ich war bereits getauft und war ein Jahr alt, als der selige Pater Oleksiy kam, um bei uns daheim die Messe zu zelebrieren. Er zelebrierte die Messe heimlich und meine Mutter legte mich in die Wiege an der Seite des Tisches, wo der Pater zelebrierte. Ich war also als Einjähriger schon Ministrant! Es gab keine Priester in Kirgisistan und es kam auch nur ganz selten ein Priester heimlich vorbei. Meine Mutter konnte mich nicht ungetauft lassen, das war für sie ausgeschlossen. Daher taufte sie mich eine Woche nach meiner Geburt selbst, denn sie kannte ihren Katechismus und wusste, dass das möglich war.
Ihre Familie kannte sich in Glaubensdingen sehr gut aus.
Wie ich schon sagte, sie haben den Katechismus sogar während der Zwangsarbeit gelesen. Sie wiederholten immer wieder die grundlegenden Inhalte ihres guten alten deutschen Katechismus und sie hatten die wichtigsten katholischen Wahrheiten aufgeschrieben.
Um mich zu taufen, nahm meine Mutter ein Gebetbuch, in dem die Taufformel enthalten war, und Wasser. Ich war eine Woche alt und mein Vater war auch dabei. Sie sprach die Worte, während sie das Wasser über mich goss, und als sie fertig war, schaute sie meinen Vater an und fragte: "Habe ich das richtig gemacht?" Und mein Vater sagte: "Ich weiß es nicht." Und dann sagte sie: "Tja, dann muss ich es wiederholen." Und sie wiederholte die gesamte Zeremonie. Sie goss noch einmal Wasser über mich, während sie die Worte sprach, und dann hatte sie das beruhigende Gefühl, dass alles richtig gemacht war. Ich wurde auf den Namen Antonius getauft, nach dem heiligen Antonius von Padua. Sechs Monate später kam ein Jesuitenpriester aus Litauen, Pater Antonius Šeškevičius, und forderte sämtliche deutschen Mütter auf, die Babys zu ihm zu bringen, die nicht von einem Priester getauft worden waren, denn er wollte ganz sicherstellen, dass wir getauft waren. Meine Mutter brachte mich zu ihm und ich wurde ein drittes Mal "getauft". Über die Gültigkeit meiner Taufe hege ich also keinen Zweifel!
2. Gott ruft
Sie waren das jüngste Kind. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sehr geliebt wurden ...
Ja, ich glaube wohl. Ich glaube, das ist die Gnade Gottes, denn ich war das letzte Kind und hatte nie in meinem Leben psychische Probleme. Ich glaube, das liegt daran, dass ich so viel Liebe erfuhr, von beiden Eltern, die in einer sehr harmonischen Ehe lebten - das bewahrt ein Kind vor ernsthaften psychischen Problemen in seinem späteren Leben -, und dann hatten natürlich alle in der Familie ihren starken katholischen Glauben. Ich wuchs in einem sehr harmonischen Zuhause auf. Mein Vater rauchte nicht einmal! Und er war sehr hingebungsvoll.
Und liebte Ihre Mutter sehr ...
Ja, sehr. Er war so ein guter Mensch.
Ihre Schwester hat einmal gesagt, dass Sie als Kinder alle spürten, dass "das Herz unserer Eltern in der Eucharistie war": (Edward Pentin, "How Bishop Athanasius Schneider Became a Leading Voice for Catholic Truth", National Catholic Register, 17. Januar 2018)
Beide Eltern waren uns Vorbilder für ein Leben im Einklang mit dem katholischen Glauben. Ich kann bestätigen, dass das Herz meiner Eltern in der Eucharistie war. Sie vermittelten uns eine tiefe Verehrung und Liebe zur heiligen Eucharistie. Selbst noch in hohem Alter bestanden sie darauf, die heilige Kommunion immer kniend zu empfangen. Als mein Vater wegen schmerzender Knie nicht mehr knien konnte, bedauerte er es sehr, dass er gezwungen war, die heilige Kommunion stehend zu empfangen.
Sie wuchsen auf gutem Boden auf ...
Genau. Ich habe ja schon von meinen Großmüttern erzählt, die beide für diesen guten Boden sorgten. Eine Sache ist sehr interessant im Zusammenhang mit meinen Urgroßeltern: Meine Urgroßmutter mütterlicherseits wurde für die frömmste Frau im Dorf gehalten; ihr Name war Gertrude Volk. Alle sprachen gut über sie. Sie war die frömmste Frau des Dorfes, wirklich fromm.
Was bedeutet "fromm" für Sie?
"Fromm", das bedeutet für mich, den Glauben ganz tief, bewusst, vertrauensvoll zu leben und ihn intensiv zu praktizieren. In der Bibel wird das als "gerecht" bezeichnet. Meine Urgroßmutter ging jeden Tag zur Messe, sie hielt sich an die Gebote, sie war freundlich, sie war gerecht. Sie war die frömmste Person im Dorf, die ihren Glauben am intensivsten praktizierte. Und gleichzeitig - meine Eltern kamen nämlich nicht aus demselben Dorf, sie trafen sich erst in den Lagern im Uralgebirge - war im Dorf meines Vaters sein Großvater Josef Schneider der frömmste Mann im Dorf. So war es tatsächlich.
Gott hat durch Ihre Familie auf ganz besondere Weise gewirkt.
Ja, genau. Ein weiteres Beispiel: Mein Urgroßvater Josef Schneider und mein Großvater Bernhard Trautmann waren immer als Messdiener für die Priester tätig, trotz der Gefahr, denn das war bereits während der Zeit der Verfolgung. Es war die lateinische Messe.
Was sind Ihre schönsten Erinnerungen an Ihre Kindheit?
Eine meiner schönsten Erinnerungen aus meiner Kindheit sind die Familiengebete an den Sonntagen.
Wie alt waren Sie damals? Und woran erinnern Sie sich?
Ich war acht Jahre alt, in Kirgisistan, und ich erinnere mich genau. An den Sonntagen verschlossen wir alle Türen, zogen die Vorhänge zu und knieten nieder - meine Eltern mit uns vier Kindern - und wir weihten den Tag dem Herrn, denn es gab ja keinen Priester, keine Messe. Wir mussten den Tag des Herrn heiligen, wir beteten also morgens den Rosenkranz, eine Litanei, Gebete und dann machten wir die geistige Kommunion, um uns geistlich mit der Messe zu vereinen, die irgendwo zu dieser Zeit zelebriert wurde und an der wir - außer geistlich nicht teilnehmen konnten. Und wir luden den Herrn ein, zu uns zu kommen, und vollzogen den Akt der Reue. So sah unser Sonntagsgottesdienst als Familie aus, bei uns zuhause, in der Hauskirche. Dann kam manchmal heimlich ein Priester und das war jedes Mal eine sehr tiefe, stille Freude.
Wie kam er zu Ihnen nach Hause?
Die Priester besuchten mehrere Häuser: das meines Onkels und andere. Wir gingen zu meinem Onkel und nahmen an der Messe teil und es war alles ganz still. Ich erinnere mich noch, als ich ein Kind war, und der Priester war da, dann mussten wir alle ganz leise sprechen. Ich war ein achtjähriges Kind, konnte also nicht wissen, was die Katakomben waren, aber heute stelle ich fest, dass es eine regelrechte Katakombenatmosphäre war.
Ein achtjähriger Junge, der all das in sich aufnimmt ...
Diese Messen habe ich noch ganz lebhaft vor Augen: die heimliche Messe mit dem Priester, eine ganz stille Feierlichkeit. Wir beichteten, wir nahmen an der heiligen Messe teil und dann musste der Priester fliehen. Von den Früchten dieser Messe lebten wir, bis der Priester das nächste Mal kam. Und das gab uns die Kraft, dem katholischen Glauben inmitten der atheistischen kommunistischen Propaganda treu zu bleiben.
Wie oft kam ein Priester?
Das war unterschiedlich. Manchmal alle sechs Monate, manchmal einmal im Jahr. Es hing immer von den Priestern ab. Manchmal waren sie im Gefängnis, manchmal standen sie unter Hausarrest, es war also eine sehr schwere Zeit. Aber ich machte damals Erfahrungen, die zu den tiefsten meines Lebens gehören: die Sonntagsgottesdienste in der Familie und die geistigen Kommunionen. Es gab Jahre, in denen wir gar keine heilige Kommunion empfingen. Und heute leben die sogenannten Geschiedenen und Wiederverheirateten objektiv gegen das Gebot Gottes, im Widerspruch zur Unauflöslichkeit der Ehe ... und Priester und Bischöfe verlangen, dass sie die Kommunion empfangen dürfen. Für solche Paare wäre es besser, wenn sie ohne Kommunion leben und ihre Lebenslage demütig eingestehen. Aber das gehört zu einem anderen Thema.
Gibt es noch weitere Kindheitserinnerungen?
Ich erinnere mich oft an Weihnachten. Weihnachten war ein normaler Arbeits- und Schultag, wir mussten also abends feiern, am Weihnachtsabend. In unserer Stadt in Kirgisistan gab es viele deutsche Katholiken und meine Eltern organisierten immer die Gebete, die Zusammenkunft am Weihnachtsabend, obwohl es verboten war.
Wie war das organisiert? Wurde Ihre Familie je geschnappt?
Am Weihnachtsabend kamen alle Deutschen zu uns nach Hause. Ich erinnere mich, damals, als ich ein Kind war, da war unser Haus voll - einige standen sogar draußen - und wir sangen all die wunderschönen Weihnachtslieder, alle auf Deutsch. Ich mochte als sieben- oder achtjähriges Kind am liebsten das Lied, das wir dann am folgenden Tag sangen: Adeste fideles, auf Deutsch "Herbei all ihr Gläubigen" mit seinem Refrain "Kommt, lasset uns anbeten". Ich habe dann das Lied am nächsten Tag öfters allein gesungen. Dieses Lied hat mich am tiefsten beeindruckt. Wie haben wir das geschafft? Es war offiziell verboten, solche Zusammenkünfte zu organisieren, doch unser bester Freund, Anatoli, ein Russe, war einer der leitenden Polizeibeamten der Stadt und er lebte gegenüber von uns, auf der anderen Straßenseite. Er hatte keine Kinder und wir vier Kinder hatten das Glück, dass er uns sehr gern hatte. Er war für uns wie ein Onkel und er war mit meinem Vater gut befreundet. Er kam häufig zu uns herüber und sie spielten Schach. (Kartenspiele gab es in meiner Familie nicht. Es war verboten! Meine Eltern fanden, es zieme sich nicht für einen Katholiken, Karten zu spielen, und meine Großeltern waren derselben Meinung. Wir hatten Schach und Dame und andere schöne Spiele.)
Eines Abends sagte mein Vater zu Anatoli: "Du weißt ja, dass wir Katholiken sind, und heute Abend ist Weihnachten und wir müssen alle zusammen beten." Anatoli antwortete: "Das ist verboten, aber ich werde dafür sorgen, dass heute Abend kein Polizist vorbeikommt. Das garantiere ich euch." Er beschützte uns also. So konnten wir in Ruhe und Frieden den Weihnachtsabend feiern.
Dann zogen wir von Kirgisistan nach Estland um. Ich war acht Jahre alt.
Warum Estland?
Meine Eltern wollten mit dem Umzug nach Estland unsere Auswanderung nach Deutschland erleichtern. Mein Vater lehnte aufgrund seiner Erfahrungen das kommunistische Regime ab - nicht nur, weil sie seinen Vater umgebracht hatten. Er sagte deshalb zu uns Kindern: "Ihr seid Deutsche und Katholiken. Ich will nicht, dass ihr, wenn ihr größer seid, Kommunisten werdet." Zu Hause haben wir nur Deutsch gesprochen. Draußen und in der Schule sprachen wir natürlich Russisch. Aber meine Eltern sprachen nie Russisch mit uns, obwohl sie die russische Sprache beherrschten, sie mussten ja arbeiten.
Mein Vater wollte also nach Deutschland auswandern, um uns unsere deutsche Identität und den katholischen Glauben zu bewahren, damit wir nicht später vom Glauben abfielen. Das war seine Hauptsorge. Deshalb wollte er fliehen und uns von den Kommunisten entfernen. Estland war westlicher zumindest lag es geografisch näher an der Westgrenze der Sowjetunion. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass die dortigen Behörden aufgeschlossener waren gegenüber Deutschen, die nach Deutschland auswandern wollten.
Wir zogen also nach Estland um. Das Erste, was meine Eltern taten: Sie schauten sich nach einer katholischen Kirche um. Sie erfuhren, dass es in der hundert Kilometer entfernten Stadt Tartu mitten in Estland eine katholische Kirche gab. Wir lebten im südlichen Estland, an der Grenze zu Lettland.
Wie hieß die Stadt?
Unsere Stadt hieß Valga; sie lag an der Grenze. Es gab dort diese Zwillingsstädte: Valga und Valka - Valka ist lettisch und Valga ist die estnische Stadt. Während der Zeit der Sowjetunion war es praktisch eine Stadt, doch die Leute sprachen unterschiedliche Sprachen: Lettisch und Estnisch.
Meine Eltern hielten Ausschau nach einer katholischen Kirche in Tartu; sie suchten dort fast den ganzen Tag und schließlich hatten sie eine gefunden: eine alte katholische Kirche im gotischen Stil. Die Regierung hatte erlaubt, dass sie geöffnet blieb, und es gab dort einen Priester. Sie kamen heim und sagten zu uns: "O Kinder, wir sind so glücklich! Wir haben eine Kirche so nahe. Nur hundert Kilometer weit weg!" Daran erinnere ich mich gut: "So nahe. Nur hundert Kilometer weit weg!" Wir waren alle überglücklich.
Wie sah der sonntägliche "Kirchgang" Ihrer Familie dann aus?
Wir nahmen immer den Zug. Wir brachen morgens um sechs Uhr auf, wenn es noch dunkel war. Damals waren wir ja noch nicht erwachsen und Minderjährigen war es verboten, in die Kirche zu gehen.
Das ist ja merkwürdig: Minderjährige durften nicht die Messe besuchen?
Nein, es war ihnen verboten und die Buben durften nicht ministrieren. Wir brachen morgens auf, als es noch dunkel war, und kamen spät abends zurück, wenn es Abend geworden und wieder dunkel war. Sie gehören auch zu meinen schönsten Erinnerungen: diese sonntäglichen Reisen zur Messe. Ich erinnere mich daran ganz genau.
Mussten andere Familien auch so lange Wege zurücklegen?
Wir hatten den längsten Weg. Alle anderen Messbesucher lebten nicht so weit weg von der Stadt. Es war eine sehr schöne gotische Kirche. Sie war ganz und gar traditionell, die Liturgiereform war noch nicht umgesetzt, obwohl das alles nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil geschah, in den Jahren 1969 oder 1970. Und es gab dort einen heiligmäßigen Priester, einen Kapuzinerpriester aus Lettland, Pater Janis Pavlovskis. Er hatte während der stalinistischen Zeit sieben Jahre im Karaganda-Gulag in Kasachstan gelebt. Als er freigelassen wurde, ging er erst nach Lettland und dann nach Estland.
Exzellenz, bevor wir fortfahren: Sie haben den Karaganda-Gulag sowohl im Zusammenhang mit dem seligen Pater Oleksiy Zarytskyj erwähnt und jetzt auch wieder mit Pater Janis Pavlovskis. 1973 veröffentlichte der russische Schriftsteller und Historiker Alexander Solschenizyn sein dreibändiges Werk Der Archipel Gulag, in welchem er die Gräuel beschrieb, die die Gefangenen in den Zwangsarbeitslagern in Karaganda durchmachten. Es heißt, Hitler habe sich an Stalins Karaganda-Gulag als Vorbild für seine Konzentrationslager orientiert. Können Sie uns mitteilen, was die Gefangenen im Karaganda-Gulag unter der kommunistischen Sowjetregierung zu erdulden hatten? Wie viele Menschen starben dort? Wie viele Priester?
Der Karaganda-Gulag - abgekürzt " Karlag" - war Teil des "Gulag". Der "Gulag", eine Abkürzung für "Ghivnoye Upravleniye Ispravitelno-trudovykh Lagerey" (Russisch für "Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager"), war die Regierungsbehörde, die für das sowjetische System von Zwangsarbeitslagern verantwortlich war, das unter Vladimir Lenin eingerichtet wurde und während der Herrschaft Josef Stalins von den 1930er bis in die 1950er-Jahre seinen Höhepunkt erreichte. Das System wurde als "Sklavenstaat" bezeichnet. Der Karaganda-Gulag erstreckte sich über ein Areal, das ungefähr demjenigen des heutigen Frankreich entspricht. In den 28 Jahren seiner Existenz (1931-1959) wurden über eine Million Menschen in den Karlag eingeliefert. Die Ersten, die unter der Unterdrückung zu leiden hatten, waren Priester, religiöse Politiker, Intellektuelle, Adlige, Offiziere und Bauern. Sie wurden als "Feinde des Volks" bezeichnet. Sie wurden in Viehwaggons aus der ganzen Sowjetunion nach Kasachstan transportiert. Dort erwartete sie mörderisch harte Arbeit, Folter, Hunger und Tod.
Mehrere hundert Priester und Gläubige starben im Karlag. Heute steht im Zentrum dieser früheren Hölle, in der Ortschaft Dolinka in der Nähe der Stadt Karaganda, das Museum zum Gedenken an die Opfer politischer Repressionen. 1997 führte der erste Präsident von Kasachstan, Nursultan Nazarbayev, den 31. Mai offiziell als jährlichen Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen ein, und um das Andenken an die Opfer lebendig zu halten. Jedes Jahr finden in Kasachstan an diesem Tag Veranstaltungen statt, die sich mit der Thematik dieses Tages befassen. Die Regierung bittet Vertreter der wichtigsten Religionen, an diesem Tag für die Seelen der Opfer vom Karlag zu beten. Die älteren Leute, die die schrecklichen Zeiten der Unterdrückung selbst durchgemacht haben und sich an sie erinnern, sagen, dass die Erde um Karaganda mit den Tränen und dem Blut zahlloser Menschen getränkt ist. Der verstorbene russisch-orthodoxe Patriarch von Moskau, Alexij, sagte anlässlich eines Besuchs von Karaganda, dass das Gebiet von Karaganda symbolisch als ein "Antimension" bezeichnet werden könne - eine Art "Corporale" im byzantinischen Ritus, in das Reliquien von Märtyrern eingenäht sind.
Und schon in Ihren Knabenjahren sind Sie zwei Priestern begegnet, die in Karaganda eingesperrt gewesen waren?
Ja, der erste war der selige Pater Oleksiy Zarytskyj. Er starb 1963 im Gulag. Der Gemeindepriester in Estland, in Tartu, Pater Janis Pavlovskis, der auch dort gefangen gehalten worden war, war ein heiliger Mann. Er strahlte Heiligkeit aus. Er war ruhig, diskret, sehr gebildet, sehr freundlich. Keine kalte Distanziertheit, sondern eine sehr vornehme Distanziertheit, mit echter Güte. Deshalb hat er mich sehr beeindruckt, sein Gesicht, seine Ruhe. Er nahm mir die erste Beichte ab, als ich zehn Jahre alt war, und bei ihm empfing ich meine erste heilige Kommunion. Meine Mutter bereitete mich auf die Erstkommunion vor, sie war meine Katechetin. Sie hat mich gut vorbereitet.
Was haben Sie von Ihrer Erstkommunion noch in Erinnerung?
Meine Erstkommunion war so wunderschön. Die Vorbereitung war hervorragend. Für meine erste Beichte zeigte mir der heilige Priester, wie ich beichten musste, wohin ich kommen sollte, wo ich mich hinknien musste. Er sagte: "Das ist ein Beichtstuhl"; "hier werde ich sitzen"; "du gehst dorthin, dort wirst du dich hinknien"; alles mit so viel Freundlichkeit. Ich war ein Kind und man muss Kindern diese Dinge sehr konkret erklären und zeigen.
Als ich meine erste heilige Kommunion empfing, waren wir eine Gruppe von Kindern und der Priester ordnete alles sehr schön an. Wir gingen durch das Altargitter zum Hochaltar, auf die oberste Stufe, und dort empfingen wir die heilige Kommunion vom Hochaltar, kniend, so wie der Diakon auf der obersten Stufe kniet: Dort empfing ich meine erste heilige Kommunion. Es war für mich so schön - und bleibt unvergesslich.
Meine Mutter und der Priester haben uns wunderbar vorbereitet. Sie sagten: "Du wirst deinen Heiland und Gott in dieser kleinen Hostie empfangen. Und er lebt dort." Daran erinnere ich mich: "Er lebt. Sei achtsam, Er lebt und das ist dein Herr!" Seit damals ist es für mich immer so geblieben: Er lebt dort! Ich dachte, als ich den Herrn empfing, Er lebt und Er tritt in mich ein. Für mich ist die Hostie so heilig, weil dort mein Gott ist - so haben es mir meine Mutter und der Priester gesagt.
Wenn an den Sonntagen die Messe zu Ende war, wie verbrachte Ihre Familie den Rest des Tages?
Da wir den Abendzug abwarten mussten, sagte der Priester zu meinen Eltern: "Weil Sie den weitesten Weg haben, kommen Sie in mein Zimmer, halten Sie sich dort auf, dann müssen Sie nicht am Bahnhof sitzen." Dorthin gingen wir also nach der Messe. Es führte ein schmaler Pfad von der Kirche zum Haus, es war nicht weit, nur ein kurzer Weg, und in diesem Haus hatte der Priester nur ein Zimmer. Keine Wohnung (es lebten noch andere Leute in dem Haus), nur ein Zimmer, ein kleines. In diesem Zimmer verbrachten wir die Zeit nach der Messe. Wir konnten Tee kochen, etwas trinken und essen und sitzen, lesen, reden. Dann machten wir uns langsam auf den Weg zum Bahnhof.
Während wir uns in dem Zimmer dieses heiligen Priesters aufhielten, war er in der Kirche und sprach mit Leuten oder besuchte jemanden und wir konnten als Familie unter uns sein.
Welche Erinnerungen haben Sie von diesem kleinen Zimmer?
Was mich als Jungen sehr beeindruckte, als ich in dieses Zimmer kam, waren die vielen, vielen Bücher. Er war ein sehr gebildeter und gelehrter Mann. Er verfasste einen katholischen Katechismus in russischer Sprache, einen sehr guten, traditionellen Katechismus, und ein sehr gutes Buch über Kirchengeschichte. Er hatte Bücher, Bücher, Bücher. Das beeindruckte mich. Und dann gab es da ein Buch, das mich besonders beeindruckte. Er sagte zu uns Kindern: "Ihr dürft es euch anschauen. Das ist ein Buch über Rom, mit Bildern." Es gab darin ein Bild von den Katakomben. Ich fragte ihn: "Was ist das?" "Das sind die Katakomben", sagte er. Und ich fragte: "Was sind Katakomben?" Er antwortete: "Das waren Verstecke, in denen die ersten Christen sich verstecken mussten, wenn sie verfolgt wurden, und manchmal wurden sie dort auch getötet." Dieser Satz beeindruckte mich und ich bewahrte ihn in meiner Seele.
Können Sie dazu noch mehr sagen ...
Als er das mir und meinen Geschwistern sagte, erfüllte mich das mit einem Gefühl der Bewunderung für Menschen, die wegen ihres Glaubens getötet werden. Für mich war das etwas sehr Erhabenes. Etwas Edles. Das spürte ich als Junge in meiner Seele.
War Ihnen damals schon etwas von Ihrer eigenen Familiengeschichte bekannt und davon, was sie erlitten hatten?
Nein, aber was ich über die Katakomben erfuhr, beeindruckte mich.
Haben Sie besonders lebhafte Erinnerungen an einzelne Momente aus dieser Zeit?
Ich erzähle Ihnen eine ungewöhnliche Begebenheit, die mir immer noch ganz frisch in Erinnerung ist. Ich war zehn Jahre alt. Ich glaube, es war nach meiner Erstkommunion in Tartu, und gewöhnlich gingen wir nach der Messe auf dem kleinen Weg zu dem Haus, in dem der Priester lebte, und da ich der Jüngste war, ging ich neben meiner Mutter. Wie Kinder das so machen, stellten wir viele Fragen, einfach nur aus Neugier.
Mir kam die Idee, meine Mutter zu fragen, wie man Priester werden kann, einfach nur aus Neugier. Damals hatte ich weder den Plan noch die Absicht, Priester zu werden.
Ich fragte, weil Pater Pavlovskis mich beeindruckte, und ich wollte einfach wissen, wie man Priester werden kann.
Meine Mutter blieb stehen und sagte zu mir: "Um Priester zu werden, muss Gott einen rufen." Mehr sagte sie nicht. Diese Worte sind mir noch ganz frisch in Erinnerung.
Ich kann nach Estland gehen und genau den Ort finden, wo ich meine Mutter fragte, wie man Priester werden kann. Ich war im Jahr 2016 tatsächlich in Tartu und ich zelebrierte dort die traditionelle Messe in dieser Kirche, am Hochaltar, wo ich meine erste heilige Kommunion empfangen hatte. (1977 ging Pater Pavlovskis nach Kasachstan und baute dort eine Kapelle und kümmerte sich um die Katholiken in der Stadt Taras im südlichen Kasachstan. 1991 ging er nach Riga in Lettland und wurde Gemeindepriester in der Kirche St. Albert. Er starb in Riga im Jahr 2000. Als Estland 1991 unabhängig wurde, kamen katholische Missionare aus dem Ausland und stellten unglücklicherweise einen Tisch zur Zelebration versus populum in dieser Kirche auf. - AS)
Als ich nach der heiligen Messe die Kirche verließ, ging ich als Erstes zu der Stelle auf dem Weg, wo ich mit meiner Mutter über die Priesterberufung gesprochen hatte. Ich blieb dort stehen und dankte Gott für meine Berufung zum Priestertum. Als meine Mutter mir sagte: "Gott muss einen rufen", konnte ich diese Worte nicht verstehen - ich war ja erst zehn Jahre alt. "Was bedeutet es, dass Gott ruft?", dachte ich bei mir. Ich erinnere mich, dass ich während des Gesprächs mit meiner Mutter in den Himmel hinaufschaute, und in meinem kindlichen Verstand malte ich mir aus, dass eine Stimme an meine Ohren dringen, mich rufen würde, da meine Mutter doch gesagt hatte: "Gott muss rufen." Und da kam keine Stimme vom Himmel. Deshalb war es so unverständlich für mich; ich konnte die Worte nicht verstehen.
Waren Sie darüber traurig?
Nein, ich verstand es einfach nicht. Ich konnte nicht begreifen, dass keine Stimme vom Himmel kam. Ich habe dann später nie wieder jemanden gefragt, wie man Priester wird - und doch wurde ich Priester. Und ich habe auch nie mit meiner Mutter oder mit meinem Vater über das Priestertum gesprochen. Doch diese Antwort ist mir noch ganz frisch im Gedächtnis. "Gott muss rufen."
Ihre Familie ist dann nach Deutschland ausgewandert. Wie alt waren Sie damals?
Als wir nach Deutschland umzogen, war ich zwölfeinhalb Jahre alt. Bevor wir aufbrachen, segnete uns Pater Pavlovskis und sprach dann zu uns diese Worte, die ich nie vergessen werde: "Wenn ihr nach Deutschland kommt, nehmt euch in Acht. Es gibt dort Kirchen, in denen man die Kommunion in die Hand austeilt." Als wir das hörten, sahen wir uns an und meine Mutter und mein Vater sagten spontan: "Wie fürchterlich!" Wir konnten uns überhaupt nicht vorstellen, wie das Heiligste vom Heiligsten, der lebendige Gott, in die Hand genommen werden konnte. Für mich war das tatsächlich einfach unfassbar. Der Pater sagte zu uns: "Geht bitte nicht in solche Kirchen." Und wir versprachen, zu tun, wie er uns aufgetragen hatte.
Was geschah, als Sie in Deutschland ankamen?
Als wir nach Deutschland kamen, in eine kleine Stadt im Südwesten, gab es dort drei Kirchen. Wir gingen in die erste Kirche, allerdings nicht zur Kommunion, weil wir gerade erst von einer langen Reise kamen. Wir konnten nicht zur Kommunion gehen; wir mussten uns durch die Beichte vorbereiten. In Estland pflegten wir jeden Monat zur Beichte zu gehen, auch wenn wir keine Todsünde begangen hatten, denn wir hielten es für notwendig, jeden Monat zu beichten, um die heilige Kommunion würdig empfangen zu können.
Am ersten Sonntag nach unserer Ankunft in Deutschland empfingen wir also die heilige Kommunion nicht und konnten beobachten, wie die Kommunion ausgeteilt wurde. Es war schrecklich für uns: Fast alle Leute empfingen die Kommunion in die Hand. Und sie wurde schnell ausgeteilt - die Leute standen Schlange, wie in einer Cafeteria.
In welchem Jahr war das?
Ende 1973. Als wir nach der Messe heimkamen, sagte ich zu meiner Mutter: "Mama, heute war es in der Messe genauso wie damals, als wir in der Schule Kekse bekamen." Wir mussten uns dazu in einer Schlange aufstellen und man legte uns Kekse in die Hand. Das war es, woran ich denken musste. Meine Mutter sagte: "In diese Kirche gehen wir nie wieder."
Am nächsten Sonntag, in der nächsten Kirche, war es dasselbe und in der dritten Kirche erlebten wir wieder die gleiche Situation. Als wir heimkamen, war meine Mutter ganz traurig. Sie schaute uns an, weinte und sagte: "Ach Kinder, ich verstehe das nicht, ich kann das nicht verstehen! Wie können die Leute unseren Herrn nur so behandeln? Wie bringen die Leute es über sich, unseren Herrn so zu behandeln ... ?" Diese Erfahrung bewegte mich dazu, mein Buch Dominus Est über die heilige Kommunion zu schreiben - diese schmerzliche, unvergessliche Situation, als wir nach Deutschland kamen und meine Mutter über diesen Anblick der Austeilung der heiligen Kommunion in die Hand weinte.
Als Junge bekamen Sie eine große Verehrung für die heilige Messe und das Allerheiligste Sakrament vermittelt. Wann empfingen Sie Ihre Berufung zum Priestertum?
Ich begann bei der Messe zu ministrieren (damals in der Sowjetunion durften Kinder nicht ministrieren) und nach der ersten Messe, bei der ich ministrierte, spürte ich in meiner Seele, dass ich Priester werden muss. Ich kann das nicht beschreiben. Ich spürte es in meiner Seele und dann erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter: "Um Priester zu werden, muss Gott einen rufen." Seit damals habe ich nie an meiner Berufung gezweifelt. Nie. Die Überzeugung war ganz tief. Ich war in meiner Seele so zutiefst überzeugt, dass ich nicht das Bedürfnis hatte, mit irgendjemandem über das Priestertum zu sprechen. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen. Es war völlig klar für mich und in gewisser Weise war es auch ganz und gar persönlich.
Wie sah Ihre weitere-Ausbildung in Deutschland aus, nachdem Ihre Familie sich hier niedergelassen hatte?
Ich verbrachte die nächsten beiden Jahre in einem Internat mit Ordenspriestern.
Was für Priester waren das?
Pallottiner- Patres. Sie waren ziemlich liberal.
Warum waren Sie dann dort?
Weil ich von einer russischen Schule gekommen war. Und die deutsche Regierung bot den Jungen, die aus der Sowjetunion kamen, die Möglichkeit, zwei Jahre lang eine Vorbereitungsschule zu besuchen, um ihnen den Wechsel in eine deutsche Schule zu erleichtern.
Sie mussten also diese zwei Jahre in diesem Internat verbringen, um sich auf den Eintritt ins Gymnasium vorzubereiten?
Ja, denn es war ein anderes Schulsystem. Ich musste auch mein Deutsch verbessern, denn ich sprach zwar Deutsch, aber nur Dialekt. Ich musste korrekt sprechen lernen, "Hochdeutsch" und diese Vorbereitung half mir dabei.
Mussten Sie dort leben?
Ja, fast zwei Jahre lang.
Wie alt waren Sie?
Dreizehn und vierzehn. Ich lebte dort zwei Jahre lang mit anderen Jungen, die auch aus kommunistischen Ländern kamen: Polen, Rumänien oder aus der Sowjetunion. Die Priester trugen keine Soutane, auch kein Ordensgewand. Das war ein Schock für mich. Ich fragte einen Priester ganz direkt: "Pater, warum tragen Sie keine Soutane?" Und er antwortete: "Du kleiner Kerl wirst mich nicht belehren!"
Und wie haben sie die Messe zelebriert?
Auf eine Weise, wie ich es noch nie erlebt hatte. "warum zelebrieren Sie die Messe auf diese Weise? In der Sowjetunion hatten wir eine sehr feierliche und fromme Messe", fragte ich die Priester. Und sie machten ein paar Witzchen. Ich sprach völlig angstfrei. Ein Kind sagt, was es denkt. Ich war überzeugt, dass ich Priester werden wollte, und ich ging jeden Tag in die heilige Messe - ich war der Einzige in der Schule, der täglich die Messe besuchte; wir mussten nur einmal unter der Woche in die Messe gehen und am Sonntag. Ich ging jeden Morgen, denn es gab dort Ordensschwestern, die um sieben Uhr zur Messe kamen, vor dem Frühstück und vor der Schule, und ich habe in dieser Messe ministriert. Die Pallottinerpriester haben also schon verstanden, dass ich die Absicht hatte, Priester zu werden.
Damals spürte ich nicht nur, dass ich Priester werden sollte, sondern auch, dass ich Ordenspriester werden sollte. Im Internat fing ich damit an, viele Lebensbeschreibungen von Heiligen zu lesen. Und zuerst las ich das Leben des heiligen Franziskus von Assisi. Sich vollständig Gott zu weihen - das beeindruckte mich so sehr, dass ich überzeugt war, ein Ordenspriester werden zu müssen.
Wie ging es nach den beiden Jahren am Internat weiter?
In einer anderen Stadt gab es ein von Pallottinern geleitetes Gymnasium. Es war ein Jungeninternat und sie wollten, dass ich dort eintrat. Aber es war zu liberal. Ich war damals vierzehn Jahre alt und ich sagte zu ihnen: "Nein, da gehe ich nicht hin." Also kehrte ich nach Hause zurück, um bei meinen Eltern zu leben. Auch als ich zur Schule ging, besuchte ich jeden Tag die Messe. Seit ich dreizehn Jahre alt war, konnte ich mir nicht vorstellen, einen Tag ohne Messe zu beginnen. Ich nahm jeden Tag an der Messe teil. Als ich im Gymnasium war, fing ich sogar an, wenn möglich, zweimal am Tag zu gehen, morgens und abends. Für mich war es in diesem Alter ein Bedürfnis, häufig an der heiligen Messe teilzunehmen. Ich spürte dieses Bedürfnis in meiner Seele. Ich verbrachte auch viel Zeit in eucharistischer Anbetung.
Wohin gingen Sie zur eucharistischen Anbetung?
In der Nähe unserer Pfarrei gab es eine Kirche, in der zweimal wöchentlich eine Messe zelebriert wurde, und nach der Messe wurde eine Stunde lang das Allerheiligste ausgesetzt: stille Anbetung. Das war für mich die schönste Zeit. Ich blieb im Hintergrund der Kirche, in der letzten Bank, verborgen, während das Allerheiligste eine Stunde lang ausgesetzt blieb, und es war für mich so überaus schön.
Woran erinnern Sie sich aus dieser Zeit der Anbetung als Jugendlicher?
Für mich war es einfach der Friede in der Gegenwart des Herrn. Ich glaubte daran, dass Jesus anwesend war. Das war genug für mich: Ich glaubte, dass Jesus da war, und daher empfand ich diese Art von Frieden und Stille. Damals liebte ich die Stille sehr. Und ich betete meinen Rosenkranz und andere Gebete.
Haben Sie eine früheste Erfahrung von der Gegenwart Marias in Ihrem Leben?
Als Kind liebte ich Maria auf eine einfache Weise. Da waren die Bilder, die meine Mutter mir gab, es ergab sich ganz von selbst. Als ich dreizehn oder vierzehn war, begann ich, tiefer, intensiver geistlich zu leben, und fing an, Unsere Liebe Frau inniger und bewusster zu lieben. Ich könnte kein besonderes, außerordentliches Ereignis in meinem Leben nennen. Es war einfach normal für mich, Maria zu lieben. Seit meiner Kindheit war sie immer da, aber nicht auf außergewöhnliche Weise.
Wie entwickelte sich dann Ihr Wunsch weiter, ein Ordenspriester zu werden?
Als ich fünfzehn oder sechzehn war, schaute ich mir einen Film über die Kartäuser an, und wie sie lebten. Ich erinnere mich sehr gut daran und ich war so begeistert, dass ich bei den Kartäusern eintreten wollte. Mein tiefster Wunsch war, mich ganz und gar Gott zu weihen, und dann fragte ich meinen Herrn: "Wo kann ich ein guter Priester werden?" Die offiziellen Strukturen der deutschen Kirche waren damals liberal, dasselbe galt für die Orden. Von dem Boden her, wo ich aufgewachsen war, von meinen Eltern, meinen Großeltern, jenem heiligen Bekenner- und Märtyrerpriester her gab es in meiner Seele diesen Instinkt gegen Modernismus und Liberalismus in der Kirche. Ich bat daher den Herrn, mir den Weg zu zeigen.
Und wie hat Er Ihnen geantwortet?
In unserer Nachbarschaft wohnte eine Dame, die uns manchmal religiöse Zeitschriften brachte, und in einer Zeitschrift war ein Informationsblatt von den Regularkanonikern in Österreich, mit Bildern und Fotos und ihrem täglichen Tagesablauf. Sie trugen Soutane, das Ordensgewand. In dem Informationsblatt gab es auch Fotos von der Aussetzung des Allerheiligsten in einer wunderschönen Monstranz; die Kanoniker hatten ein traditionelles, streng geregeltes Horarium und ihr Lebensstil wurde beschrieben, der sehr traditionell und genau war: Anbetung des Allerheiligsten, Verehrung der Gottesmutter, der heiligen Engel, des heiligen Kreuzes und so weiter. Es war auch eine Adresse angegeben und die behielt ich und sagte mir: "Wenn ich fertig bin mit dem Gymnasium, trete ich dort ein." Das war bereits entschieden. Ich war fünfzehn, als ich das beschloss.
Einige Monate, ungefähr sechs Monate später, hatte ich meinen üblichen sonntäglichen Ministrantendienst in meiner Pfarrei beendet und ich ging dann in die Kirche einer anderen Pfarrei, um aus Frömmigkeit einer zweiten Messe beizuwohnen. Das war für mich ein "Bedürfnis". Bei der zweiten Messe war ich fast in der letzten Bank und kniete die ganze Messe hindurch, rein betrachtend. Ich antwortete nicht, ich wollte einfach nur in der Messe sein.
Hinter mir war ein Mann, er muss es wohl merkwürdig gefunden haben, dass ein Junge die ganze Messe hindurch kniet und nicht antwortet; er beobachtete mich von hinten. Als die Messe vorüber war, blieb ich noch ein bisschen und er wartete draußen auf mich. Als ich herauskam, ging er auf mich zu, stellte sich vor und fragte: "Möchtest du Exerzitien mit guten Priestern machen?" Und ich sagte: "Ja. Wenn es gute Priester sind, gern." Dann gab er mir seine Telefonnummer und ich sagte ihm, ich müsse meine Eltern fragen, und meine Eltern erlaubten es. Dann organisierte er eine Busfahrt. Ich reiste zu einem Exerzitienhaus, es war hundert Kilometer weit weg, und machte dort dreitägige Schweigeexerzitien. Der Bus war voller Leute und wir kamen in diesem Exerzitienhaus an und die Messe dort wurde ad Deum - zum Herrn hin zelebriert. Das war im Jahr 1976, Ende Oktober, drei Tage vor dem Fest Allerheiligen. Die Messe wurde ad Deum zelebriert, allerdings auf Deutsch. Es gab eine Kommunionbank und der Kanon war auf Lateinisch, der Rest jedoch auf Deutsch. Ich nahm an dieser Messe teil und es war so wunderschön für mich. Das war es, was ich mir immer gewünscht hatte.
Der Priester, der die Exerzitien hielt, trug immer Soutane. Ich fragte ihn: "Woher kommen Sie?" Er sagte: "Aus Österreich, von den Regularkanonikern. " Und ich sagte: "Ich habe ein Informationsblatt von Ihnen!" Es war die zweite Bestätigung einer Berufung, das zweite Zeichen des Herrn. Als ich daher das Gymnasium beendet hatte, trat ich bei den Regularkanonikern vom Heiligen Kreuz in Österreich ein.
Die Kanoniker ... können Sie mehr über diesen Orden erzählen?
Ursprünglich waren es die Kanoniker von Coimbra in Portugal, zu denen der heilige Antonius gehörte, bevor er Franziskaner wurde. Er war Kanoniker in Coimbra und wurde dort zum Priester geweiht. Doch dieser Orden vom Heiligen Kreuz wurde von der freimaurerischen Regierung Portugals im 19. Jahrhundert aufgehoben. Dann, in den 1970er- Jahren, gelang mehreren portugiesischen und österreichischen Priestern mit Erlaubnis der Heiligen Stuhls eine Wiederbelebung des Ordens, deshalb haben sie diese Beziehung zu Portugal.
Wann haben Sie Ihren Eltern von Ihrer Entscheidung erzählt, bei den Regularkanonikern einzutreten?
Nachdem ich an diesen ersten Exerzitien teilgenommen hatte, kamen auch meine Eltern regelmäßig zweimal im Jahr zu den Einkehrzeiten, die die Regularkanoniker von Österreich abhielten. Meine ganze Familie nahm teil. Meine Eltern schätzten diese Priester sehr. Im Sommer besuchte ich ihr Kloster in Österreich und blieb dort mehrere Wochen. Als ich mit dem Gymnasium fast fertig war, eröffnete ich meinen Eltern, dass ich dort eintreten wollte, aber ich bin sicher, dass sie das schon gespürt hatten. Wir hatten nicht darüber gesprochen. Die Vorstellung, dass ich bei den Kanonikern eintreten würde, war für meine Eltern ganz natürlich.
3. Athanasius
Wo haben Sie Ihr Noviziat gemacht?
Mein Noviziat machte ich in Portugal, von 1982 bis 1983. Dann kam im Jahr 1983 ein Bischof aus Brasilien, Bischof Manuel Pestana, aus der Diözese Anápolis. Er bat unseren Orden, bei der Ausbildung von Priestern in seiner Diözese zu helfen, das Seminar zu leiten. Wir hatten in Brasilien ein weiteres Kloster, in der Nähe von São Paolo, und er kannte die dortigen Priester und schätzte unseren Orden sehr. Er war eigens nach Rom gekommen, um uns zu besuchen und den Generalrat des Ordens zu bitten, in seiner Diözese ein neues Haus zu eröffnen und das Seminar zu leiten, ja sogar eine theologische Fakultät zu eröffnen. Dann kam er nach Portugal und besuchte uns. Bischof Manuel Pestana war ein heiliger, demütiger Mann. Er starb 2011.
Wahrscheinlich haben Sie 1983 angefangen zu studieren. Wohin hat der Orden Sie entsandt?
1983 war ich in Rom. Der Orden schickte uns zum Studieren ans Angelicum. Ich begann im Oktober 1983 mit Philosophie.
Woran erinnern Sie sich im Zusammenhang mit dem Besuch von Bischof Manuel in Rom im Jahr 1983?
Bischof Manuel war ein kleiner Mann - nicht größer als ein Junge -, klein und pummelig, aber ein heiliger Mann. Und ein brillanter Denker. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen Mann getroffen, der so kultiviert und gleichzeitig so schlicht war. Wenn man ihn sah, hielt man ihn für einen Dorfpfarrer. Die Einfachheit seines Verhaltens war mit großer Würde verbunden. Als Brasilianer war er sehr warmherzig, gleichzeitig aber hoch gebildet und kultiviert. Er hatte eine Privatbibliothek, die um die 20 000 Bände umfasste. Er war ganz und gar traditionell eingestellt. Ich meine das im eigentlichen, katholischen Sinn. Seine Diözese war von der Befreiungstheologie zerstört worden, bevor er dort eintraf. Es war ein vollständiger geistlicher Zusammenbruch. Es gab kein Seminar. Die Beichte wurde abgeschafft, es gab nur noch die Generalabsolution. Keine Aussetzung des Allerheiligsten. Nur Befreiungstheologie, Soziologie und so weiter. Deshalb bat er uns, zu kommen und ihm zu helfen, die katholische Priesterausbildung wiederherzustellen. Und das wurde dann beschlossen. Ich war in der ersten Gruppe, die im März 1984 von Rom nach Brasilien geschickt wurde.
Aber Sie waren damals doch noch ein Student ...
Ja! Aber die Oberen sagten, wenn sie eine theologische Fakultät einrichten sollten, dann mussten sie Studenten haben, also schickten sie ihre eigenen Studenten hin. Brasilianer kamen auch. So hatten wir eine Fakultät aus Professoren und Studenten, mit der man anfangen konnte. Der Bischof war überglücklich. Wir gingen also nach Brasilien und ich studierte dort; ich machte weiter mit Philosophie und Theologie.
Waren Sie glücklich darüber, dass Sie nach Brasilien kamen?
Ja, das war ich. Junge Menschen mögen Abenteuer. Ich war ein junger Mann und liebte Abenteuer und es war für mich eine gute Erfahrung. In meiner Gruppe waren wir insgesamt zu zwölft. Sogar der Bischof unterrichtete uns. Unterrichten war sein Hobby; er hatte große Freude daran. Er lehrte im Seminar, er war also auch mein Lehrer. Er hatte als Bischof in seiner Diözese viel zu tun, trotzdem fand er noch Zeit zum Unterrichten. Bischof Manuel weihte mich zum Priester. Ich zähle es zu einer der großen Gnaden in meinem Leben, dass ich Bischof Manuel Pestana als Lehrer hatte und als Bischof, der mich zum Priester weihte.
Erzählen Sie mir über den Tag, an dem Sie geweiht wurden.
Es war der 25. März - das Fest der Verkündigung des Herrn - im Jahr 1990. Bischof Manuel Pestana weihte mich in Brasilien, in der Kirche unseres Klosters in Anápolis. Er war. ein heiliger Mann - ein sehr sanftmütiger Mann, aber ein Krieger. Ein Journalist einer Zeitung in Säo Paolo bezeichnete ihn als den "Athanasius von Brasilien". Er trug immer seine Soutane. Keiner sah ihn je ohne Soutane. Selbst wenn er weltweit unterwegs war, trug er immer die Soutane. Das war für mich ein Beispiel. Ich ahme ihn auch in dieser Hinsicht nach.
Was ging Ihnen durch den Sinn, als der Bischof Ihnen die Hände auflegte und Sie zum Priester weihte?
Als Bischof Manuel Pestana mir die Hände auflegte, spürte ich in meiner Seele, dass ich von diesem Moment an in eine neue geistliche Wirklichkeit eintrat: dass ich für immer mit Christus vereint war. Ich spürte, dass Christus mich in Sein Priestertum aufnahm. Es ist schwer, das mit Worten zu beschreiben, aber Gott schenkte mir die Gnade, in jenem Moment geistlich die Erfahrung des unauslöschlichen Merkmals der Priesterweihe zu machen.
Und nach der Weihe, was ging Ihnen durch den Sinn, als Sie Ihre erste heilige Messe zelebrierten?
Während der Feier meiner ersten heiligen Messe - auf Latein - wurde ich zutiefst berührt von den Wandlungsworten: "Hoc est enim Corpus Meum" ("Denn dies ist Mein Leib"). Der zweite gnadenerfüllte Augenblick während jener heiligen Messe war die Doxologie, mit den Worten "Per Ipsum et cum Ipso et in Ipso est Tibi Deo Patri omnipotenti in unitate Spiritus Sancti omnis honor et gloria" ("Durch Ihn und mit Ihm und in Ihm ist Dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Herrlichkeit und Ehre"). Ich verstand, dass die schönste und höchste Bedeutung, das schönste und höchste Ziel des Erlösungsopfers Christi am Kreuz die Ehre und Verherrlichung Gottes, der Heiligsten Dreifaltigkeit, ist und dass die gesamte Bedeutung, das Ziel des Lebens eines jeden Geschöpfes, vor allem aber des Lebens eines Priesters, die Herrlichkeit und Ehre des dreifaltigen Gottes ist. Und dann fielen mir meine Lieblingszeilen aus den Psalmen ein: "Non nobis, Domine, non nobis, sed nomini Tuo da gloriam" ("Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen gib die Ehre").
Haben Sie den Namen Athanasius gewählt? Oder wurde er für Sie gewählt?
In unserer Kongregation veränderten wir damals, zu meiner Zeit, bei der Gelübdeablegung den Namen. Der Obere teilte unserer Gruppe damals mit - ich glaube, wir waren zu acht -, dass wir dem Oberen drei Namen vorschlagen konnten und dass er dann einen von diesen Namen wählen würde. Ich sagte: "Ich habe keinen Vorschlag. Ich kann Ihnen nichts vorschlagen. Ich überlasse es Ihnen, auszuwählen, was Ihnen beliebt." Und ich fügte noch hinzu: "Obwohl ich meinen Taufnamen Antonius liebe, aber wenn Sie wollen, können Sie auch einen anderen Namen wählen." Und als dann der Augenblick meiner Profess da war, sagte er zu mir: "Ihr Name wird Athanasius sein." Ich hätte mir im Leben nie diesen Namen vorstellen können: Athanasius.
Sie wussten natürlich, wer Athanasius war?
Ich kannte ihn als Heiligen, weil ich die Lebensbeschreibung der Heiligen insgesamt gelesen hatte, aber die Kirchenväter und Kirchengeschichte hatte ich noch nicht im Einzelnen studiert. Und ich kannte Athanasius aus dem Brevier.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie hörten, dass man Sie Athanasius nennen würde?
Ich weiß nicht - ich habe jedenfalls angefangen, mehr über ihn zu lesen, weil er ja mein neuer Schutzheiliger war. Ich begann, seine Werke zu lesen und mich mit der Geschichte der Zeit zu beschäftigen, in der er lebte.
Bitte erzählen Sie mir mehr über Ihre Erfahrung als junger Ordensmann in Brasilien.
Ich war in Brasilien sehr glücklich, arbeitete eng mit den Armen in jener Diözese. Es stimmt nicht, wenn Liberale zu uns sagen: "Ach Ihr, Ihr beschäftigt euch nur mit der Lehre und so weiter und vergesst die konkreten Menschen und die Armen." Das ist ungerecht und es ist nicht wahr. Ich lebte in Brasilien, in jener Diözese, und wir kümmerten uns intensiv um die Armen, um konkrete Personen. Wir suchten Missionsstationen auf und feierten dort die Messe für die Menschen. Meine Zeit in Brasilien war eine im eigentlichen Sinn missionarische Erfahrung. Wir kamen zu den Missionsstationen in unseren Soutanen gekleidet und die Leute mochten das. Wir halfen ihnen materiell und dann lehrten wir sie den Katechismus und Gebete und den Rosenkranz und auch das liebten sie.
Haben Sie für sie die Messe zelebriert?
Ich war damals Seminarist und dann Diakon. Aber nach meiner Priesterweihe wurde ich in ein anderes Kloster in São Paolo geschickt, in der Nähe von Aparecída, und damals hatten wir fünf kleine Dörfer um das Kloster herum und waren für deren Seelsorge zuständig. In den ersten Jahren meines priesterlichen Dienstes war ich für fünf kleine Landgemeinden verantwortlich, die um das Kloster herum lagen - rund zehn Kilometer vom Kloster entfernt -, in ganz ländlichen Gebieten. Es gab keine Straßen, nur Wege, und manchmal musste ich ein Pferd besteigen, um den Kranken, den Armen die heilige Kommunion zu bringen, oder auch wenn es regnete und man nicht mit dem Auto fahren konnte.
Die ersten Jahre meines Priesterlebens waren für mich mit die schönsten bisher. Diese bescheidenen, ländlichen, einfachen, frommen Katholiken, die es dort gab und denen ich helfen konnte. Und ich lebte in einem Kloster, das ich sehr gern hatte, und wir hatten dort Ewige Anbetung.
Tatsächlich Ewige Anbetung?
Ja, in diesem Kloster in Brasilien. Dort befand sich auch das Noviziat und ich war der Spiritual, der Beichtvater, der Novizen. Am Wochenende - und unter der Woche, manchmal abends - zelebrierte ich die Messe in diesen Landgemeinden.
Nachdem ich ein Jahr dort gearbeitet hatte, rief mich mein Oberer aus Rom an. "Geht es Ihnen gut in Brasilien?", fragte er mich. "Ja, sehr gut", antwortete ich. Er sagte: "Wir haben jedoch beschlossen, dass Sie Brasilien verlassen und nach Rom kommen müssen, um dort das Doktorat zu machen, weil wir für unsere theologische Fakultät in Brasilien Lehrer brauchen. Ich gebe Ihnen drei Tage, um darüber nachzudenken." Drei Tage. Ich sagte zu ihm: "Pater, ich brauche keine drei Tage, um nachzudenken. Ich habe das Gelübde des Gehorsams abgelegt. Ich komme sofort."
Kurz darauf ging ich nach Rom und ich fragte mich dort: "Was werde ich wohl studieren?" Der Obere sagte zu mir: "Sie werden Patrologie studieren." Sie haben entschieden, nicht ich. Ich musste gar nichts wählen. Sie wählten für mich.
Was hielten Sie von dieser Entscheidung?
Nun, ich schätzte die Kirchenväter natürlich sehr. Ich machte mein Doktorat am Patristischen Institut Augustinianum.
Waren Sie ein guter Student?
Ich hatte in meinem ganzen Leben nie Schwierigkeiten in der Schule. Es ist eine Gabe Gottes. Meine Mutter war auch immer gut in der Schule, ich habe diese Gabe vielleicht von meiner Mutter. Mein Vater war eher praktisch begabt.
Aber diese Begabung haben Sie doch auch, nicht wahr?
Ich habe von meinem Vater einen praktischen Sinn für die Realität. Meine Mutter hatte diesen praktischen Sinn auch. Meine beiden Eltern wuchsen als Bauernkinder auf. Als ich mit dem Lizenziat fast fertig war - vor meiner Priesterweihe hatte ich lediglich das Bakkalaureat -, wurde ich zum Generalrat des Ordens gewählt. Ich war 32 Jahre alt. Als ich gewählt wurde, war ich von meinem Leben in Rom nicht mehr sonderlich begeistert. Rom war mir zu laut. Aber mein Oberer sagte: "Sie werden natürlich Ihre Amtszeit beenden und dann gehen Sie nach Brasilien zurück."
Haben Sie Brasilien vermisst?
Ich hatte Heimweh nach Brasilien. Ich habe Brasilien sehr geliebt. Der Obere sagte: "Sie sollen studieren, damit Sie dort an unserer Fakultät als Professor tätig sein können - und an den Wochenenden können Sie seelsorglich tätig sein." Ich dachte, ich würde nach Brasilien zurückkehren, am Seminar als Fakultätsmitglied unterrichten und an den Wochenenden die Dörfer besuchen und als Seelsorger tätig sein. Und während der Woche ein klösterliches Leben führen. Wunderbar. Ich konnte mir kein schöneres Leben vorstellen.
Was war das Thema Ihrer Doktorarbeit?
"Der Hirte von Hermas: Kirchenlehre und Buße." Es ging um die Verbindung zwischen der Kirche und der Vergebung der Sünden. Es war ein praktisches Thema von tiefer theologischer Bedeutung.
Noch bevor ich mein Doktorat abgeschlossen hatte, kam ein Priester aus Kasachstan. Ich war noch nie in Kasachstan gewesen, obwohl ich in Kirgisistan gelebt hatte. Jemand hatte mir diesen Priester vorgestellt. Er sagte: "Sprechen Sie noch Russisch?" Ich antwortete: "Ja, ich habe das Russische nicht vergessen." "Dann kommen Sie bitte nach Kasachstan und helfen Sie uns dort mit der priesterlichen Ausbildung. Wir haben gerade ein Priesterseminar in Karaganda gegründet und wir brauchen Professoren", sagte er.
"Ich bin Ordenspriester. Ich kann das nicht entscheiden", antwortete ich. "Sie müssen sich an meinen Oberen wenden." Daraufhin schrieb der Bischof von Karaganda an meinen Oberen und der Obere sagte: "Ja, ich erlaube es. Aber nur für sechs Wochen. Nicht länger. Denn ich brauche ihn in Rom; er ist Generalrat und später muss er nach Brasilien zurück." Ich ging also im Jahr 1999 zum ersten Mal nach Karaganda, für sechs Wochen.
Dann ging mir plötzlich auf, dass der selige Pater Oleksiy Zarytskyj in Karaganda gestorben war, der Priester, der mich gesegnet hatte, als ich ein Jahr alt war und er die Messe bei uns zuhause zelebrierte, und den meine Mutter gerettet hatte. Und Pater Pavlovskis, von dem ich die erste Kommunion empfing, war in dieser Stadt im Gefängnis gewesen. Und die Vorsehung hatte mich hierhergeschickt, um Priester auszubilden. Mich bewegte dieses Zeichen der göttlichen Vorsehung sehr.
Als ich 2001 zurückging, sagte der Bischof von Karaganda: "Wir brauchen Pater Athanasius hier ständig, als Spiritual für die Seminaristen." Er war in Rom und er sagte zu mir: "Pater, bitte kommen Sie." Und ich sagte: "Exzellenz, ich möchte das wohl gerne tun, aber ich bin Ordensmann, ich kann das nicht selbst entscheiden." Er antwortete: "Wenn ich an Ihren Oberen schreibe, dann wird er mir antworten: ,Nur sechs Wochen lang', ich brauche Sie aber auf Dauer." Dann sagte er: "Aber ich werde morgen eine Audienz beim Papst - Johannes Paul II. - haben. Ich werde morgen den Papst fragen, ob er sich nicht einschalten kann, damit Sie für mich frei werden, für Kasachstan." Ich sagte zu ihm: "Ja, das können Sie tun, Sie sind Bischof." Und er machte es.
Er ist Pole, daher sprach er mit dem Papst in derer beiden Muttersprache. Nach einigen Tagen rief der päpstliche Sekretär meinen Generaloberen an und sagte: "An den Heiligen Vater wurde vom Bischof von Karaganda die Bitte herangetragen, dass Sie Pater Athanasius dafür freistellen, auf Dauer nach Kasachstan zu gehen." Mein Oberer war einverstanden und schickte mich auf Dauer dorthin, zusammen mit einem anderen Priester aus meinem Orden.
Haben Sie vor Ihrer Zeit in Rom Johannes Paul II. schon einmal getroffen?
Ja, tatsächlich, das habe ich. Es war eine nette Erfahrung. Als ich neunzehn Jahre alt war - es war das letzte Jahr am Gymnasium für mich -, unternahm Johannes Paul II. im November 1980 seinen ersten apostolischen Besuch in Deutschland. Er besuchte Fulda, in der Nähe von Frankfurt; wir lebten damals in Süddeutschland.
Weil ich noch zur Schule ging, musste ich den Schulleiter bitten, mir schulfrei zu geben, weil es ein Schultag war, ein Werktag. Er fragte mich, wozu ich diesen einen schulfreien Tag brauchte. Ich sagte ihm, weil ich den Papst treffen wollte. Meine Klassenkameraden hörten das und sagten zu mir: "Ach, du wirst den Papst treffen?" Ich sagte: "Ja, ich werde den Papst treffen."
Ich war Oberministrant in meiner Pfarrei und es gab einen weiteren jungen Mann, der aus der Sowjetunion stammte; er ist später auch in meinen Orden eingetreten. Er wurde mit mir nach Kasachstan geschickt. Er heißt Pater Viktor.
Der Pfarrer sagte zu Viktor und mir: "Der Papst wird nach Fulda kommen, wir wollen hinfahren und vielleicht treffen wir ihn, denn er wird sich mit Priestern und Seminaristen treffen. Obwohl ihr noch keine Seminaristen seid, seid ihr meine bei den ältesten Ministranten und ich kann euch Soutane und Chorrock geben und erklären, dass ihr eine Art Seminaristen seid."
Wir suchten zur Messe den Dom von Fulda auf. Wir fanden keinen Sitzplatz und standen daher hinten, an der Seite. Der Dom war voller Priester und Seminaristen. Wir trugen Soutane und Chorrock. Ich war neunzehn und Viktor achtzehn - arg junge "Seminaristen" - und unser Pfarrer war dort bei uns. Ich hatte zuvor im Programm gelesen, dass der Papst sich nach der Messe im Gebäude des Priesterseminars mit deutschen Bischöfen treffen wollte. Das Seminar grenzte unmittelbar an den Dom an und man konnte durch die Sakristei direkt dorthin kommen. Wir waren mehrere Stunden zuvor angekommen, ich hatte das also von außen sehen können. Als die Messe zu Ende war, schauten wir uns an. "Aber wir haben den Papst nicht getroffen", sagten wir. "Er war hier, und jetzt geht er ins Seminar." Ich sagte: "Wie können wir heimfahren, ohne den Papst getroffen zu haben?" Ich sagte zu unserem Pfarrer: "Lassen Sie uns doch ins Seminar gehen. Wir müssen den Papst treffen!" Also gingen wir dorthin, durch die Masse der Priester hindurch. Da wir Soutane und Chorrock trugen, hielt uns keiner auf, denn sie dachten wahrscheinlich, dass wir zur Belegschaft des Seminars gehörten oder einen liturgischen Dienst zu versehen hatten. Wir gingen durch die Sakristei. Dort hielt uns auch keiner auf, denn es war ein riesiges Gedränge, massenhaft Priester und Bischöfe.
Ich kannte das Gebäude nicht, weil ich noch nie dort gewesen war, aber von außen sah ich, dass es drei Stockwerke hatte. Ich sagte: "Schnell jetzt! Wir müssen den Papst treffen." Und ich ging voraus, der Pfarrer hinter mir, er folgte mir und wir rannten praktisch durch die Sakristei. Dann öffnete ich eine Tür und wir sahen, dass wir uns im Seminargebäude befanden, aber ich wusste nicht, auf welchem Stockwerk der Papst war. Ich sagte: "Schnell, wir müssen gehen!" Also gingen wir die Treppen hoch. Ich blieb im zweiten Stock stehen - ich hatte das Gefühl, dass er im zweiten Stock sein musste, nicht im dritten, nicht im ersten, sondern im zweiten -, also blieb ich stehen und machte die erste Tür auf. Vor uns lag ein langer Gang und am Ende des Ganges sah ich einige rote Scheitelkäppchen und ich sagte: "Wenn da rote Scheitelkäppchen sind, dann kann der Papst nicht weit sein."
Wir gingen den Gang hinunter, es gab dort mehrere verschlossene Türen und in einem dieser Räume war der Papst. Am Ende des Ganges befand sich ein großer Hörsaal. Sämtliche Bischöfe der Deutschen Bischofskonferenz warteten auf den Papst, auf die Begegnung mit ihm. Vor der Tür standen einige Kardinäle und redeten miteinander. Wir gingen den Gang hinunter, direkt an der Tür des Zimmers vorbei, in dem der Papst war, was wir aber nicht wussten. Wir gingen auf die Kardinäle zu - ich erinnere mich, dass Kardinal Casaroli und Kardinal König dort waren und ein anderer Bischof, an den ich mich nicht erinnere -, die entspannt miteinander plauderten. Sie sahen uns, reagierten aber nicht. Vielleicht meinten sie, dass wir zu den Sekretären gehörten, denn es waren ja so viele Bischöfe da. "Bleibt hier", sagte ich zu meinem Pfarrer und zu Viktor, "wir gehen nicht weg. Der Papst muss hier vorbeikommen, denn dort ist der Hörsaal, den er gleich betreten wird." Ich wusste nicht, dass wir an der Tür des Raums vorbeigegangen waren, in dem der Papst war. Und dann, plötzlich, geht diese Tür auf und Papst Johannes Paul II. kommt heraus und geht in unsere Richtung, weil er in den Hörsaal musste. Wir sahen, wie der Papst mit seinem Sekretär und seinem Leibwächter den Gang hinunter näher kam, und ich rannte auf ihn zu. Dann gab mir der Leibwächter ein Zeichen, einige Meter vor dem Papst, dass ich stehen bleiben sollte. Da rief ich laut auf Russisch: "Heiliger Vater!" Der Papst blieb stehen, als er Russisch hörte, und winkte mich zu sich und da konnte der Leibwächter mich nicht aufhalten, weil mich ja der Papst aufforderte zu kommen. Ich ging zu ihm und gab ihm die Hand und sagte auf Russisch zu ihm: "Heiliger Vater, ich komme aus der Sowjetunion, bitte segnen Sie alle Gläubigen in der Sowjetunion. " Und dann kniete ich nieder und er fragte mich: "Kommst du aus Kasachstan?" Ich sagte: "Nein, Heiliger Vater, aber ich bitte Sie, alle Gläubigen in der Sowjetunion zu segnen!" Warum er mich nach Kasachstan fragte, erfuhr ich erst später: Der Grund war, dass einer seiner Priester aus seiner Diözese Krakau, zu der Zeit, als er Kardinalerzbischof von Krakau war, heimlich in Kasachstan arbeitete. Er wurde 2016 seliggesprochen, der selige Wladyslaw Bukowiński, und er war Kardinal Wojtyla sehr nahegestanden. Deshalb fragte er mich gleich nach Kasachstan.
Der Papst segnete mich sehr feierlich auf Russisch und alle Kardinäle hörten das und der Leibwächter verhielt sich mir gegenüber dann sehr vornehm. Ich stand auf, und als der Papst auf die Aula zuging, gab er meinem Pfarrer und Viktor die Hand. Der Papst ging in den Hörsaal hinein und die Türen wurden verschlossen. Dann war niemand mehr im Gang außer uns dreien. Und wir waren uns einig: "Jetzt müssen wir uns aber beeilen, dass wir zum Bahnhof kommen, sonst verpassen wir unseren Zug!" Wir gingen also zum Bahnhof, bestiegen den Zug und fuhren nach Hause zurück.
Als ich in die Schule zurückkam, fragte mich die ganze Klasse gleich als Erstes: "Hast du den Papst getroffen?" Und ich sagte: "Ja, ich habe ihn getroffen." Das war meine erste Begegnung mit dem Papst.
Und wann sind Sie ihm dann das nächste Mal begegnet?
Das zweite Mal war damals, als Papst Johannes Paul II. über seinen Sekretär darauf hinwirkte, dass ich auf Dauer nach Kasachstan geschickt wurde, im Jahr 2001. Ich traf ihn dann wieder, als er Kasachstan besuchte, später im selben Jahr. Ich traf Anfang September dort ein und er kam Ende desselben Monats zu einem apostolischen Besuch. Er traf sich mit sämtlichen Priestern aus Kasachstan in der Kathedrale von Astana [Nur-Sultan], wo ich jetzt Weihbischof bin. Ich ging also wieder auf ihn zu und sagte zu ihm: "Heiliger Vater, Sie haben mich hierhergeschickt. "
Davor habe ich zweimal bei der Morgenmesse des Heiligen Vaters konzelebriert, in seiner Privatkapelle. Ich war zweimal an seiner Seite. Sein Sekretär ließ mich zweimal das Lavabo für den Papst durchführen. Ich habe also Papst Johannes Paul II. öfter getroffen.
Es heißt, er habe nach der Messe lange Zeit im stillen Gebet verbracht.
Auch vor der Messe, ja. Ich hatte den Eindruck, dass er ein zutiefst geistlicher Mann war, verbunden mit Gott.
Nachdem Papst Johannes Paul II. Sie nach Karaganda geschickt hat, wie haben Sie dort Ihre ersten Jahre als Priester erlebt?
Als ich in Karaganda war, war ich Spiritual im Priesterseminar. Und ich war Kanzler der Diözesankurie, Hauptredakteur der katholischen Zeitung und Gemeindepriester. In den ersten Jahren, bevor ich zum Bischof ernannt wurde, habe ich als Priester so viel gearbeitet wie noch nie zuvor.
Es klingt sehr heftig.
Mir gefiel es, aber es war tatsächlich sehr herausfordernd. Eine große Belastung. Es war alles Seelsorge. Ich suchte die Gemeinden in der Steppe auf. Ich gründete drei neue Gemeinden. Ich fing an, Kapellen für die Menschen zu bauen und Katechesen zu organisieren. Dazu kam die Ausbildung der Seminaristen, die Unterstützung des Bischofs in der Kurie und so weiter.
Und dann wurden Sie zum Bischof ernannt.
Ende März 2006, als ich in Karaganda war, rief mich der Nuntius von Astana aus an und bat mich, in die Nuntiatur zu kommen. Er wollte mit mir sprechen, ich fragte ihn also: "Warum möchten Sie mit mir sprechen?" Er sagte: "Das kann ich Ihnen telefonisch nicht sagen. Sie müssen herkommen." Ich war verantwortlich für das akademische Programm des Priester-seminars; der Nuntius hatte mich gebeten, es auszuarbeiten und über die Nuntiatur dafür die Zustimmung von Rom zu erwirken. Daher meinte ich, er wolle das Studienprogramm mit mir besprechen.
Ich traf bei ihm ein und er fragte mich, ob ich einen Kaffee wollte, und ich bejahte es. Als ich den Kaffee trank, sagte er zu mir: "Der Heilige Vater, Papst Benedikt XVI., hat Sie zum Bischof ernannt." Ich sagte zum Nuntius: "Der Papst hat mich zum Bischof ernannt und ich wusste vorher nichts davon?" "Sie durften im Vorfeld nichts davon wissen", antwortete der Nuntius. Dann fragte ich ihn: "Haben Sie die Priester, die mit mir leben, nach ihrer Meinung gefragt?" "Ja, ich habe sie gefragt." "Haben Sie die anderen Bischöfe gefragt?" "Ja, ich habe sie gefragt." Dann sagte ich nichts mehr. Ich antwortete nichts. Und dann sagte der Nuntius: "Sie müssen wissen, dass Ihre Ernennung eine persönliche Entscheidung von Papst Benedikt XVI. war. Ich muss Ihnen das sagen." Als ich diese Worte hörte, war ich überzeugt, dass diese Ernennung der Wille Gottes für mich war. Ich war überzeugt. Aber ich war nicht glücklich. Eine Art Traurigkeit legte sich auf meine Seele. Ich bin nicht melancholisch veranlagt, aber in diesem Augenblick ergriff eine Art Sorge meine Seele. Ich spürte, dass eine sehr schwere Last auf mich zukam. Ich merkte, dass ich meine Freiheit verlieren würde. So war mein Gefühl: "Ich werde nicht mehr so frei sein wie ein Priester."
Obwohl Sie ja schon sehr viel arbeiteten.
Es war eine andere Art von Last. Die Last eines Priesters war manchmal auch eine körperliche Last - ich war körperlich müde von so viel Arbeit und davon, meine kleinen Gemeinden in der Steppe aufzusuchen -, aber diese Ernennung zum Bischof bedeutete eine andere Last, eine geistliche Last.
Ich hatte nicht offiziell "Ja" gesagt. Der Nuntius sagte lediglich: "Bitte unterschreiben Sie auf diesem Blatt Papier, dass Sie einverstanden sind." Ich gestehe, dass ich nicht einmal gelesen habe, was da geschrieben stand. Ich unterzeichnete den Brief, ohne gelesen zu haben, was ich da unterzeichnete.
Was stand in dem Brief?
Ich weiß es nicht! Aber ich nehme an, es war das Annahmeschreiben, das ein Nuntius in solchen Fällen nach Rom schicken muss. Aber mit meiner Stimme habe ich nicht "Ja" gesagt. Ich schwieg. Innerlich sagte ich natürlich " Ja". Ich sagte zu mir in meinem Herzen: "Das ist der Wille Gottes."
Dann sagte der Nuntius: "Jetzt steht es Ihnen frei, den Termin Ihrer Weihe, den Ort und drei Konsekratoren zu wählen. Wenn Sie sich entschieden haben, geben Sie mir Bescheid." Ich ging dann heim und legte einen Termin fest und dass die Weihe hier in Karaganda stattfinden sollte, denn Karaganda war wichtig für mich: Der selige P. Oleksiy und mein Gemeindepriester in Estland, P. Pavlovskis, waren hier beide inhaftiert gewesen.
Ein paar Tage später rief der Nuntius mich an und fragte mich, ob ich mich schon entschieden hätte. "Ja", antwortete ich. Der Nuntius sagte zu mir: "Der Staatssekretär, Kardinal Angelo Sodano, sagte, er wolle Sie zum Bischof weihen im Petersdom in Rom, zusammen mit dem neuen Bischof von Kirgisistan. Sie können frei entscheiden, aber der Kardinal würde sich freuen." Ich sagte: "wenn es für den Kardinal eine Freude ist, dann bin ich einverstanden." Ich bestimmte also weder den Termin noch den Ort noch die Konsekratoren für meine Bischofsweihe. Andere hatten für mich entschieden.
Warum wollte Kardinal Sodano Sie zum Bischof weihen?
Weil ihm viel an Kasachstan lag; ich glaube, das war der Grund. Er war bereits zweimal in Kasachstan gewesen. Es gab zwei Bischöfe, die er aus dieser Region weihen wollte: mich, aus Kasachstan, und den neuen Bischof von Kirgisistan. Es war sonderbar; ich war in Kirgisistan geboren, wurde aber für Karaganda geweiht. Der andere Bischof wurde in Karaganda geboren, wurde aber für Kirgisistan geweiht. Er stammte auch aus einer deutschen Familie. So wurden wir beide am 2. Juni 2006 im Petersdom geweiht.
Sie sagten, Sie hätten gespürt, wie sich eine Last auf Ihre Seele legte, als Sie zum Bischof ernannt wurden. Was ging Ihnen durch den Sinn, als Sie geweiht wurden?
Es war also nicht meine Entscheidung. Es ist besser im Leben, wenn Gott entscheidet. Ich erkenne das in meinem Leben immer deutlicher.
Nachdem ich zum Bischof geweiht wurde, fiel mir das Gebet ein, das meine Eltern mir als Erinnerung an meine Priesterweihe im Jahr 1990 aufschrieben. Seit damals habe ich dieses Gebet als kostbares Geschenk von meinen Eltern in meinem Brevier aufbewahrt. Das Gebet lautet: "O Herr Jesus, schenke mir Liebe, eine starke, glühende Liebe zu Dir und um Deinetwillen zu allen Menschen und zu allem Guten. Gib mir Starkmut, damit ich alle Welt als unbedeutend ansehe, wenn sie sich zwischen mich und Dich stellen will. Gib mir Freude zu meinem Priesterstand, zu dem Du mich erwählt hast, dass ich Deine Gebote treu erfülle, und gib Deine Gnade, recht Vieles und Großes darin zu wirken in tiefer Demut und reiner Absicht."
Ihre Mutter hat Priester gerettet und versteckt. Was hat sie gesagt, als Sie zum Bischof ernannt wurden?
Nach meiner Ernennung zum Bischof kam ein mit der Familie befreundeter Priester zu meiner Mutter und gratulierte ihr zur bischöflichen Berufung ihres Sohnes. Woraufhin sie nur meinte: "Das bedeutet mir nicht sehr viel. Mir ist wichtig, dass mein Sohn Jesus treu bleibt." Jedes Mal, wenn ich meine Mutter anrief, auch nachdem ich Bischof geworden war, sagte sie als Letztes: "Du, bleib Jesus treu! Alles andere ist unwichtig!"
Diese einfache Weisheit einer katholischen Mutter steht weit über dem sterilen Intellektualismus der neuen Pharisäer und Schriftgelehrten, der vom liberalen, neo-modernistischen klerikalen Clan im Leben und in den Strukturen der Kirche unserer Tage vertreten wird.
Wie lautet Ihr bischöfliches Motto?
Kyrie eleison. Als der Nuntius mir sagte, dass ich ein bischöfliches Motto wählen solle, war mir schon auf dem Heimweg klar, dass es "Kyrie eleison" sein würde. Diese Worte kamen mir sofort in den Sinn. Ich dachte, "Kyrie eleison" ist nicht nur ein Gebet, das um Vergebung bittet, es ist auch ein Lobgebet an den Herrn. Er ist der Kyrios, der Herr. Für mich ist es ein Lobgebet und ein Gebet um Erbarmen. Ich dachte: "Was wir alle und die ganze Welt am meisten brauchen, ist die Barmherzigkeit, zum Herrn um Vergebung zu beten. Das ist es, was hilft; das wird die Welt retten."
Dazu kommt, dass Kyrie eleison ein griechischer Ausdruck ist, er kommt aus dem Osten. Ich wurde zu einem Bischof im Osten ernannt. Durch dieses griechische Gebet gibt es eine Verbindung zwischen der griechischen und der lateinischen Kirche.
Ich habe erfahren, dass Sie als Weihbischof in Karaganda eine entscheidende Rolle beim Bau der Kathedrale Unserer Lieben Frau von Fatima gespielt haben, der größten katholischen Kirche Zentralasiens. Was hat Sie dazu inspiriert? Und was können Sie uns über die Erfahrung beim Bau dieser Kirche berichten?
Als ich 1999 nach Karaganda kam, sah ich, dass die Kathedrale in Karaganda ein kleines Gebäude am Rand der Stadt war, erbaut während der Zeit der Verfolgung der Kirche. Ich sah es als pastorale Notwendigkeit an, eine neue Kathedrale zu bauen, die näher an den zentralen Stadtbezirken lag und ein würdiges und leicht erkennbares äußeres Erscheinungsbild einer typischen katholischen Kirche bot. Ich hielt es für wichtig, dass die neue Kathedrale auch als Gedenkmal für die Opfer des "Karlag" dienen sollte und als Ort der Sühne für die schrecklichen Verbrechen gegen Jesus Christus und die Würde des Menschen, die auf dem Boden von Karaganda von einem gottlosen, totalitären Regime begangen worden waren. Die neue Kathedrale ist auch ein sichtbares Zeichen für das Bekenntnis zum katholischen Glauben und ein Werkzeug der Evangelisierung - sozusagen eine "Evangelisierung durch die Steine", eine "Evangelisierung durch Schönheit" und eine "Evangelisierung durch Kultur".
Der Name der Kathedrale - sie ist benannt nach Unserer Lieben Frau von Fatima - hat für diese Region große Bedeutung. Die besondere Bedeutung, die die Botschaft von Fatima in Bezug auf Russland hat, kennt jeder. Der Name "Russland" in der Botschaft von Fatima steht für das politische System eines militanten, gottlosen Materialismus. Eingedenk der Tatsache, dass Menschen aus über hundert unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die alle unter dem kommunistischen Regime zu leiden hatten, in Kasachstan leben, wurde ein zweiter Titel hinzugefügt: "Mutter aller Völker". Es gab sozusagen zwei Motive für den Bau der Kathedrale von Karaganda: den wahren katholischen Glauben durch architektonische und sakrale Schönheit zu predigen; und einen Ort der Erinnerung und der Sühne für die Opfer des "Karlag" zu schaffen. Das sind zutiefst pastorale Motive.
Die Kathedrale, ein wundervolles neugotisches Gebäude aus weißem Sandstein mit zwei hohen Türmen, steht an einem sehr schönen und zentralen Ort in der Stadt. Im Inneren hat die Kirche einen holzgeschnitzten, mit Gold überzogenen Hochaltar und Seitenaltäre im klassischen gotischen Stil. Gefertigt wurden sie von Künstlern aus Südtirol. Die Gruft ist eine Krypta im gotischen Stil, mit zwei monumentalen Skulpturengruppen in den Seitenflügeln. Die eine Gruppe stellt die Geheimnisse der Geburt Christi in mehreren Szenen dar und die andere die Geheimnisse des Leidens Christi; wir ließen auch ein Audiosystem mit Texten und Musik einbauen, die sich auf die einzelnen Szenen beziehen. Am Giebel über der Hauptfassade befindet sich eine hohe weiße Marmorstatue, die Unsere Liebe Frau mit ihrem Unbefleckten Herzen darstellt, es ist dieselbe Darstellung wie an der Fassade der Basilika in Fatima.
Ich könnte mir vorstellen, dass die Kathedrale viel Beachtung findet.
Ja, und dazu gibt es eine nette Geschichte. Zwei ortsansässige Frauen aus muslimischen Familien gingen an der Kathedrale vorbei und die eine Frau fragte ihre Begleiterin: "Was ist das für ein Gebäude?" Ihre Freundin antwortete: "Das ist eine katholische Moschee." Unsere Liebe Frau von Fatima hat schon viele Menschen durch diese schöne Kirche an sich gezogen, darunter auch Nichtchristen. Und das ist eines der Hauptziele eines katholischen Kirchengebäudes: Menschen zu Christus zu bringen.
Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Jahre als Weihbischof von Karaganda - Sie haben die Kathedrale gebaut. Was waren außerdem Ihre Hauptpflichten? Und was war für Sie die wichtigste Lehre aus dieser Zeit?
Meine Hauptaufgabe war für mich, wie es für einen Weihbischof üblich ist, dem Diözesanbischof von Karaganda - damals war das Bischof Jan Pawel Lenga - bei der Ausübung des Hirtenamtes in der Diözese, die ihm anvertraut war, zur Seite zu stehen. Mein normaler bischöflicher Dienst bestand darin, Gemeinden, Missionsstationen und Ordensgemeinschaften zu besuchen, Treffen mit Priestern und Ordensleuten abzuhalten und bei der Organisation von diözesanen Pastoralversammlungen und Exerzitien für die Priester zu helfen. In praktischer Hinsicht half ich außerdem dem Diözesanbischof bei der Arbeit und Verwaltung im bischöflichen Ordinariat. Die Diözese hatte nur ein Minimum administrativer Strukturen. Außer dem Diözesanbischof und dem Weihbischof gab es nur noch einen Priester und eine Ordensschwester, die im bischöflichen Ordinariat arbeiteten. Die Bürokratie war minimal. Und das war sehr segensreich und gesund, weil wir wirklich Zeit hatten für die Arbeit unmittelbarer Evangelisierung.
Außerdem war ich Vorsitzender der Diözesanen liturgischen Kommission und Chefredakteur der monatlich erscheinenden katholischen Zeitung "Credo", dem einzigen katholischen Magazin in Kasachstan. Und ich lehrte Patristik und Liturgie am interdiözesanen Priesterseminar in Karaganda.
Zu meiner großen Freude teilte mir der Diözesanbischof nach meiner Bischofsweihe mit, dass ich mich, wenn ich es wünschte, auch weiterhin um die drei kleinen Missionsgemeinden kümmern durfte, die mir als Priester anvertraut worden waren. Eine der tiefsten Freuden, die ich damals als Weihbischof erleben durfte, waren die Stunden, wenn ich auf den holprigen Straßen der endlosen Steppe fuhr, um die kleinen Gemeinden zu besuchen, die sich mit einem tiefen Glauben danach sehnten, einem Priester zu begegnen. Bei einer Gelegenheit zelebrierte ich die Mitternachtsmesse an Weihnachten in der kleinsten und abgelegensten Gemeinde der Diözese. In jener Nacht betrug die Temperatur draußen minus vierzig Grad Celsius. Nach der Mitternachtsmesse aß ich mit der gesamten Gemeinde; am Tisch war ich umgeben von den kleinsten Kindern auf der einen Seite und von den ältesten Großmüttern, den "Babuschkas", auf der anderen. Damals wurde mir die Wahrheit klarer als je zuvor in meinem Leben, dass Gott Seine Kirche aus reinen, kleinen, schlichten Seelen aufbaut. Es war eines der schönsten Weihnachtsfeste meines Lebens.
Als Weihbischof von Karaganda verfassten Sie auch Dominus Est, in welchem Sie die angemessene innere Haltung und die äußeren Gesten darstellen, um den eucharistischen Herrn würdig zu empfangen. Ist die liturgische Praxis, die heilige Kommunion auf die Zunge zu empfangen, für die Sie sich in diesem Buch einsetzen, in der Diözese Karaganda verbreitet?
Gott sei Dank haben die Gläubigen in Kasachstan die heilige Kommunion immer kniend und auf die Zunge empfangen. Unsere Gläubigen konnten sich nie vorstellen, die heilige Kommunion im Stehen zu empfangen, zu schweigen vom Empfang in die Hand. Sie hatten ein fast instinktives Bedürfnis, das natürlich vom Glauben erleuchtet und genährt war, sich unserem Herrn im Augenblick der heiligen Kommunion auch mit äußeren Gesten tiefer Ehrfurcht und Heiligkeit zu nähern.
Leider kamen Priester aus anderen Ländern zu uns, die den Leuten beibrachten, die heilige Kommunion im Stehen zu empfangen. Sie arbeiteten mit intellektuellen Argumenten, die für den gesunden Menschenverstand und den tiefen Glauben der Menschen kein bisschen überzeugend sind. Zu diesen Argumenten gehörte unter anderem, dass die heilige Kommunion empfangen werden muss, während sich die Menschen in einer Reihe bewegen wie in einer "Prozession"; das ist aber in Wahrheit ein ganz ungenaues und tendenziöses Argument. Als Ausländer Kasachstan besuchten, verlangten sie, dass ihnen die heilige Kommunion in die Hand gegeben wird. Das hat unsere guten einfachen Katholiken empört.
Deshalb habe ich unmittelbar nach meiner Bischofsweihe im Jahr 2006 als Vorsitzender der Liturgischen Kommission der Katholischen Bischofskonferenz von Kasachstan einen Entwurf für einen allgemeinen Erlass vorbereitet. In dem Erlass sind Normen enthalten, die bestimmen, dass im gesamten Territorium von Kasachstan in allen katholischen Kirchen) Kapellen und Ordensgemeinschaften die heilige Kommunion von den Gläubigen kniend (natürlich mit Ausnahme von Gesundheitsbeschwerden) und auf die Zunge empfangen werden muss; und dass der Empfang der Kommunion in die Hand auch für ausländische Katholiken nicht zulässig ist. Diese Normen wurden von der Bischofskonferenz bestätigt und im Jahr 2007 erhielten sie die Anerkennung vom Heiligen Stuhl. Das war für mich eine der ersten und größten Freuden meines bischöflichen Dienstes. Diese Normen wurden dann in der katholischen Kirche in ganz Kasachstan umgesetzt. Es dient der größeren Ehre, der Verteidigung und der Liebe unseres eucharistischen Herrn, der wirklich und wesenhaft in den eucharistischen Gestalten gegenwärtig ist. Für die Seele eines Priesters und Bischofs kann es doch nur eine tiefe Freude bedeuten, wenn unser Herr sichtbar mehr geehrt, verteidigt und geliebt wird.
Und dann wurden Sie nach Astana versetzt?
Ja. Papst Benedikt XVI. hatte mich für Karaganda ernannt, weil der Erzbischof vor Ort sich einen Weihbischof gewünscht hat. 2011, als ich schon seit fünf Jahren Weihbischof in Karaganda gewesen war, wurde ich zum Weihbischof von Astana ernannt. Die fünf Jahre in Karaganda waren eine gute Zeit für mich gewesen. Ich konnte dem Erzbischof helfen und er war dafür dankbar. Als er dann in den Ruhestand ging, sagte der Heilige Stuhl: "Der Erzbischof von Astana hat um einen Weihbischof gebeten; wir wollen Sie zu ihm schicken." Ich habe den Nuntius nach den Gründen für meine Versetzung eigentlich gar nicht gefragt. Für mich ist das nicht wichtig: Den Herrn haben wir überall und das ist das Wichtigste. Überall haben wir die heilige Messe und das Altarsakrament. Mehr brauche ich nicht. Als Priester und Bischof kann man überall dort arbeiten, wohin die Kirche einen schickt. Deshalb ist es nicht wichtig, an welchem Ort ich bin oder welchen Titel ich habe. Es ist mir vollkommen gleichgültig. Ich habe Karaganda im Jahr 2011 verlassen und bin jetzt seit acht Jahren in Astana. Ich bin glücklich. Ich kann hier gute Arbeit machen und manchmal kann ich reisen und Vorträge und Konferenzen auf der ganzen Welt halten und Priestern und Gläubigen, die mich einladen, geistlich helfen. Ich nehme Einladungen an nur mit einer schriftlichen Erlaubnis des jeweils für den geplanten Ort zuständigen Diözesanbischofs und mit der Zustimmung meines eigenen Erzbischofs.
Wurden Sie je abgelehnt?
Ja.
Können Sie sagen, wo das passiert ist?
In den USA, in Deutschland und in Österreich.
Können Sie genauere Einzelheiten geben?
Ich kann es nicht sagen. Mir wurde die Erlaubnis verweigert, weil ich angeblich gegen Papst Franziskus bin. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie für einen Menschen so viel gebetet wie für Papst Franziskus.
In einer Diözese in Deutschland durfte ich keine Pontifikalmesse zelebrieren. Das war ziemlich bizarr. Der Rektor einer Pilgerstätte lud mich ein, eine Pontifikalmesse zu zelebrieren und einen Vortrag zu halten. Ich sagte dem Rektor, dass ich die Einladung nur annehmen könne, wenn er mir die schriftliche Erlaubnis seines Bischofs zeigte. Er schrieb an die Diözese und fragte, ob Bischof Schneider eine Pontifikalmesse in der Wallfahrtsstätte zelebrieren könne. Der Generalvikar der Diözese antwortete: "Die Diözese kann Bischof Schneider die Erlaubnis, eine Pontifikalmesse zu zelebrieren, nicht geben, weil seine Anwesenheit zu Spaltung und Spannungen führt." Und er fuhr fort: "Lieber Pater Rektor, laden Sie in Zukunft nur noch Bischöfe ein, die stark im Glauben sind."
Stark im Glauben ...
Ja, tatsächlich. Stark in welchem Glauben? Vielleicht im protestantischen Glauben dieses Generalvikars? Sicher nicht im katholischen Glauben. Jedenfalls war es bizarr.
Viele Leute fragen sich, warum Sie bei Ihrem Wissen und Ihrer Erfahrung noch Weihbischof sind. Was antworten Sie solchen Leuten - zu denen auch Kritiker gehören -, die Sie fragen, warum Sie nicht zum Bischof einer Diözese ernannt wurden?
Ich glaube, dass das heilige priesterliche und noch viel mehr das bischöfliche Amt nicht an der typisch weltlichen Kategorie einer Berufskarriere gemessen und beurteilt werden sollten. In den Augen Gottes spielt es keine Rolle, auf welcher Ebene der Hierarchie man sich befindet. Entscheidend ist, wie treu man dem katholischen Glauben ist, und wie viel übernatürliche Liebe man in die Erfüllung seiner Pflichten einbringt - welchen Ort auch immer die göttliche Vorsehung für einen bestimmt hat. Es ist ein sichererer und mit mehr Gnaden erfüllter Pfad, sich von der göttlichen Vorsehung leiten zu lassen, als selbst zu wählen.
Exzellenz, um auf einen persönlicheren Aspekt Ihres Lebens als Bischof zu sprechen zu kommen - wie sieht Ihr tägliches Gebetsleben aus?
Der wichtigste Teil des Tages für mich ist die heilige Messe. Sie ist die wichtigste Arbeit. Ich betrachte sie wirklich als Arbeit und das ist die wichtigste Arbeit: die heilige Messe gut, aufmerksam und mit Liebe zu zelebrieren. Das ist das Wichtigste. Ich habe schon meine gesamte Arbeit getan, wenn ich die Messe zelebriert habe. Der Sinn meines Tages, meines Lebens ist die Messe. Natürlich mit der Danksagung nach der Messe. Und dann das Breviergebet. Ich liebe das Breviergebet sehr. Ich bete das alte Brevier, es ist länger als das neue. Es enthält alle 150 Psalmen, und zwar vollständig (Die Liturgie des Stundengebets, wie sie Papst Paul VI. 1970 promulgiert hat, entfernte drei Psalmen vollständig und beschränkte drei andere nur auf bestimmte Zeiten im Kirchenjahr, außerdem wurden über 60 Einzelverse herausgenommen, darunter einige, die schon seit der Zeit der Apostel gebetet wurden). Das Breviergebet ist für mich ein Ausruhen.
Der dritte Teil des Tages ist schließlich der Anbetung des allerheiligsten Sakramentes gewidmet. Ich mache das seit meiner Jugend. In meiner Ordensgemeinschaft wird von uns erwartet, dass wir eine Stunde täglich Anbetung halten, mehr oder weniger. Es ist erstrebenswert, das zu tun. Ich versuche es jeden Tag. Das ist mir am wichtigsten: ein Leben des Gebetes.
Wenn Sie die Bibel lesen, in welcher Sprache tun Sie das?
Meistens nehme ich die Vulgata, die alte Vulgata, sie ist mein normaler Text. Manchmal lese ich das Neue Testament auf Griechisch. Ich habe die zweisprachige Ausgabe; wenn ich also über die Bibel meditiere oder darin lese, dann lese ich sie immer entweder auf Latein oder auf Griechisch.
Können Sie Latein sprechen?
Ich hatte keine Gelegenheit, Latein zu sprechen. Aber ich hatte guten Lateinunterricht im Gymnasium in Deutschland. Ich hatte sieben Jahre lang Latein, fünf Unterrichtsstunden pro Woche. Und natürlich brauchte ich es bei meinen Studien, also bin ich mit Latein gut vertraut. Ich mag die lateinische Sprache. Für das Fach Patrologie habe ich auch Griechisch studiert. Und ich habe Hebräisch studiert, aber nicht so viel. Ich kann die Buchstaben lesen, aber ich habe nur einen kurzen Einführungskurs in Exegese gemacht und hatte keine Gelegenheit, intensiver Hebräisch zu lernen.
Unterrichten Sie noch am Priesterseminar in Karaganda?
Ja, phasenweise unterrichte ich dort noch. Ich bin dort an drei oder vier Tagen und gebe Unterricht in Patrologie und Liturgie. Das macht mir auch deshalb Freude, weil ich in jeder Unterrichtsstunde etwas lerne, obwohl ich unterrichte, seit ich 1993 mein Lizenziat erworben habe. Ich lerne etwas Neues, Tieferes jedes Mal, auch wenn ich eine Vorlesung schon oft gehalten habe.
Haben Sie irgendwelche Hobbys?
Als junger Mann, als ich 15 war, wollte ich Kartäuser werden, aber das war es nicht, was die göttliche Vorsehung wollte. Aber ich lebte schon, bevor ich ins Kloster eintrat, wie ein Mönch. Als ich jünger war, habe ich Klavier gespielt, aber das würde ich nicht als Hobby bezeichnen. Ich kann nicht sagen, dass ich ein Hobby habe. Eine Zeit lang bin ich, als ich jünger war, sehr gern Rad gefahren und geschwommen. In Brasilien bin ich viel geschwommen in den Jahren meiner Ausbildung. Auf dem Grundstück unseres Klosters, in der Klausur, hatten wir einen schönen Teich. Es war ein ausgedehntes Stück Land und das ganze Gebiet stand uns zur ausschließlichen Verfügung. Ich ging also dort jeden Tag schwimmen, und joggte, als ich ein junger Seminarist war. Ich tat es für meine Gesundheit und zur Erholung.
Und haben Sie einen Lieblingskomponisten?
Ja, ich mag Mozart. Er ist meiner Meinung nach einer der harmonischsten Komponisten. Schubert ist auch schön. Was den Gesang betrifft, liebe ich vor allem Palestrina und die klassischen Polyfonie-Komponisten.
Exzellenz, eine letzte Frage zu Ihrem Leben, bevor wir fortfahren. Zu Ihrer Familiengeschichte gehörte großes Gottvertrauen und es gab auch Zeiten großen Leids; und die Jahre Ihrer Kindheit haben Sie in der sowjetischen Untergrundkirche verbracht. Wo waren Sie, als die Berliner Mauer fiel?
1989 war ich Diakon in Anapolis in Brasilien.
Wie haben Sie reagiert?
Für mich kam das sehr überraschend und es war natürlich eine Freude. Ich freute mich zutiefst, dass dieses atheistische System endlich zusammengebrochen war. Allerdings hätte ich mir nicht vorstellen können, dass der Zusammenbruch dieses atheistischen Systems auf eine noch schlimmere Situation in Europa hinauslaufen würde, wie wir sie jetzt vor uns haben: die Diktatur der Gender-Ideologie. Das ist tatsächlich eine Diktatur. Es ist dieselbe Methode wie zu kommunistischen Zeiten.
II. DIE SONNE WIRD SICH VERDUNKELN
4. Säkularismus und die neue Diktatur
Exzellenz, der Säkularismus scheint auf der ganzen Welt auf dem Vormarsch zu sein und wie Sie sagen: Es bildet sich eine neue Diktatur heraus. Welche Gründe liegen dem Säkularismus Ihrer Meinung nach zugrunde und wie kommt es, dass sich der moralische Relativismus im Westen so schnell ausbreitet?
Die tiefste Wurzel dieser Bewegung des Säkularismus in Europa, einer Bewegung, die damit begann, dass eine Welt ohne Gott konstruiert wurde und man lebte, als gäbe es keinen Gott, ist der Anthropozentrismus. Säkularismus versucht, Jesus Christus aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Säkularismus ist verbunden mit Relativismus, denn wenn der Mensch sagt: "Ich bestimme, was wahr ist", dann kann das für eine Generation stimmen, und wenn die nächste Generation kommt, gibt es dann womöglich eine andere Wahrheit. Die Wahrheit ändert sich also ständig. Das ist Relativismus. Relativismus ist eng verbunden mit Säkularismus und Anthropozentrismus. Relativismus ist Flucht vor der Wirklichkeit.
Was steht hinter dieser Bewegung?
Letztlich steht Satan dahinter. Es gab vor dem sogenannten Jahrhundert der Aufklärung eine Tendenz in diese Richtung. Ich denke, es begann im 15. Jahrhundert mit dem Humanismus. Man sprach auch von Renaissance. Ihr Ziel war es, den Menschen ins Zentrum zu stellen, der Mensch sollte der Maßstab der Wahrheit sein. Im 15. Jahrhundert war das noch nicht im Einzelnen ausformuliert, doch die Tendenz war bereits da die ungesunde Autonomie des Menschen gegenüber Gott, gegenüber der Welt des Übernatürlichen.
Warum die Renaissance?
Renaissance bedeutet Wiedergeburt. Wiedergeburt wovon? Wiedergeburt einer heidnischen Gesellschaft. Zuerst bezog sich der Begriff nur auf eine Wiedergeburt in der Kunst, aber sie vollzog sich auch in der Mentalität der Menschen. Man pries den reinen Naturalismus und Heidentum ist Naturalismus, nicht Supranaturalismus. Man stellte die reine Natur in den Mittelpunkt und schwächte so die übernatürlichen Verbindungen zu Gott, zum menschgewordenen Gott Jesus Christus, der übernatürlich ist. All das spiegelte sich in der Kunst wider.
In mancherlei Hinsicht war die Kunst dieser Zeit sehr fleischlich, nicht geistlich. Sinnliche Kunst ist in meinen Augen nicht menschenwürdig. Wir sind mehr als nur Tiere. Die menschliche Person fast ausschließlich aus naturalistischer, anatomischer Perspektive darzustellen, ist nicht menschenwürdig. Der Mensch ist mehr als das. Wir müssen den Menschen auch als geistiges Wesen darstellen, mit einer übernatürlichen Dimension.
Der Säkularismus begann mit dem Anthropozentrismus und der Katalysator, der dazu beitrug, dass diese Bewegung wuchs und sich ausbreitete, war die protestantische sogenannte Reformation (angestoßen durch Luther im Jahr 1517). Im religiösen Bereich erklärte sich der Mensch zum Mittelpunkt - das ist Subjektivismus. Es war in gewisser Weise ein Hang zum Stolz, der bei Luther sehr klar zum Ausdruck kommt und dann in der Aufklärung. Dann kam die Bewegung des Deismus, sie entstand im 17. Jahrhundert in England. Der Deismus war formal gesehen noch nicht Freimaurerei, aber er entstand aus einer protestantischen Umgebung.
Könnten Sie noch etwas hinzufügen über die Beziehung, die Sie zwischen Säkularismus und Protestantismus sehen?
Säkularismus ist meiner Auffassung nach die notwendige Konsequenz aus dem Protestantismus. Der Subjektivismus ist es, aufgrund dessen der Mensch entscheidet, was wahr ist, und das Subjekt, oder der private Mensch, ist die Autorität, die über die eigentliche Bedeutung der Offenbarung entscheidet. Das hatte zur Folge, dass der Glaube - der objektive Glaube - geschwächt wurde. Für Luther war der Glaube etwas Subjektives. Sola fide: Für ihn ist Glaube eine subjektive Überzeugung ohne Unterwerfung unter den objektiven Inhalt der göttlichen Offenbarung, wie sie in der beständigen Tradition der Kirche überliefert ist. Heute befinden wir uns sogar in der katholischen Kirche in der Gefahr, den objektiven Inhalt von Wahrheit und Offenbarung zu vernachlässigen, unter dem Vorwand, man bringe seine eigene subjektive Überzeugung zum Ausdruck: "Ich glaube an Christus; Christus ist mein Retter", oder unter dem Vorwand einer "Weiterentwicklung der Lehre". Christus zu verkünden, ohne auf den objektiven Inhalt der unveränderlichen Wahrheiten der göttlichen Offenbarung und der von Gott gegebenen Gebote zu verweisen, bedeutet letztlich eine neue subjektive Religion der Emotionalität, die derjenigen vieler protestantischer Gemeinschaften ähnelt. In dieser Haltung kann man meiner Meinung nach eine der tiefsten Wurzeln der Krise in der katholischen Kirche unserer Tage sehen.
Sie sprachen von Deismus. Könnten Sie auf die Grundlagen dieser Bewegung eingehen?
Deismus war ein kulturelles und philosophisches Phänomen, besonders in England, und er vertrat die Theorie, dass Gott unzugänglich ist, dass wir lediglich um die Existenz Gottes wissen können, mehr aber nicht. Für den Deisten ist es unmöglich, irgendetwas über Gott zu wissen - vollkommen unmöglich. Es gibt also keine Beziehung zwischen Gott und Seinen Geschöpfen. Gott erschuf den Menschen und das gesamte Universum, er verlieh der Schöpfung - dem Menschen und dem Universum - vollständige und absolute Unabhängigkeit in jeder Hinsicht und ließ die Schöpfung einfach ihren Gang nehmen, ohne irgendwelchen direkten Einfluss, ohne göttliches und übernatürliches Handeln. Jegliche direkte göttliche Offenbarung ist also aus dieser Sichtweise ausgeschlossen. Es gibt keine Möglichkeit der Offenbarung. Das öffnete der Freimaurerei die Tür, deren wichtigstes Dogma der Deismus ist: die Auffassung, dass es eine vollständige und absolute Unabhängigkeit und Freiheit der Menschen gegenüber Gott gibt - oder dem Schöpfer oder wie auch immer man diesen Gott nennen will. Da Gott vollständig unerkennbar ist, kann man ihn benennen, wie man will. Man kann ihn Allah nennen oder Christus - obwohl die Freimaurer Christus nicht anerkennen -, man kann ihn Schöpfer nennen, Buddha, man kann ihn sogar Satan nennen oder den großen Baumeister der Welt. Diese Bewegung entstand aus Säkularismus und Anthropozentrismus.
Und wo befinden wir uns heute?
Wir haben jetzt einen Gipfel des Säkularismus erreicht, dieser vollständigen Unabhängigkeit des Menschen, eines enormen Anthropozentrismus, wo jeder für sich selbst entscheidet, was wahr, was gut oder böse ist. Dieser Säkularismus schafft eine schreckliche, grausame Gesellschaft. Wir erleben das ja mit es ist grausam. Und was ist das Ergebnis? Egoismus. Säkularismus führt zu Egoismus. Wir haben mittlerweile einen Gipfel des Egoismus erreicht - und Egoismus ist grausam. Was zählt, bin nur ich und keiner sonst.
Es ist die Hölle.
Es ist die Hölle: "Nur ich." Das bedeutet letztlich: "Wenn jemand mich davon abhält oder mich an dem hindert, was ich tun will, dann werde ich ihn umbringen, ich werde ihn vernichten." Also fing man damit an, die Unschuldigen im Leib ihrer Mutter zu töten, denn diese Babys hindern die Frauen daran, das zu erreichen, was sie für ihre Selbstverwirklichung durch Vergnügen halten, nämlich eine falsche Freiheit und einen weltlichen Erfolg. Als Nächstes beseitigen sie kranke Menschen; dann die Behinderten, beispielsweise Menschen mit Down-Syndrom, und so weiter. Das ist der Weg in eine neue Diktatur, geprägt nach dem Muster der Nazidiktatur in Deutschland und der kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion. Dieser Prozess führt letztlich zu einem erbitterten Egoismus, einer grausamen, unmenschlichen Gesellschaft.
Von seinen Wurzeln her bis zu dem Punkt, an dem wir uns heute befinden, hat dieser Prozess zur Gender-Ideologie geführt, in der der Mensch entscheidet, was Natur ist, anstelle von Gott, dem Wort, "durch das alle Dinge geschaffen sind" (vgl. Joh 1,3).
Genau so ist es. Dies führt zum Gipfel, zur logischen Konsequenz der Unabhängigkeit des Menschen. Immerhin haben die Deisten die Natur so akzeptiert, wie sie ist, sie haben akzeptiert, dass sie von Gott geschaffen ist und dass man die Naturgesetze zu respektieren hat, jedenfalls bis zu einem gewissen Ausmaß. Doch in der Folge kam - vor allem mit dem Aufkommen der Freimaurerei - gnostisches Denken dazu und das ist letztlich satanisches Denken, in welchem sich der Mensch an die Stelle des Schöpfers setzt. Der Mensch will Gott werden, er will Gott den Schöpfer und Gott den Erlöser, Jesus Christus, abschaffen. In dieses Vakuum stellt sich der Mensch dann selbst und erklärt sich zum Gott, dem Schöpfer, wenn auch nicht formal, aber um zu zeigen, dass "ich Gott gleich bin, dass ich fähig bin, etwas zu schaffen". Das drückt sich in der sogenannten Gender- Ideologie aus. Aber das führt in den Irrsinn. Die Gesellschaft ist mittlerweile auf einem irrsinnigen, ungesunden Weg des Denkens gelandet, der mit Gotteslästerungen gepflastert ist, denn die Gender- Ideologie und die Homosexualität sind eine enorme Gotteslästerung und eine Auflehnung gegen die Weisheit und Majestät des Schöpfer-Gottes.
Würden Sie sagen, dass eine gute Definition von Irrsinn die Loslösung von der Wirklichkeit ist?
Ja, genau. Das ist eine Loslösung von der Wirklichkeit, weil sie behaupten, dass wir entscheiden, was Wirklichkeit ist, was Schöpfung ist, was der Mensch ist, und so weiter. Sie bemächtigen sich eines Bereichs, der in gewisser Weise der geheimnisvollste Teil der Schöpfung ist: die menschliche Sexualität. Die Sexualität ist ein sehr geheimnisvoller, heiliger Bereich, den Gott als Möglichkeit der Teilhabe an der Weitergabe neuen Lebens geschaffen hat, und das Leben ist ein Geheimnis. Die menschliche Sexualität ist das Mittel, die Menschheit fortbestehen zu lassen, Leben weiterzugeben - Gott schenkt Leben, doch die Eltern geben als Mitwirkende Leben weiter. Die Säkularisten wollen diesen Bereich für sich selber haben. Sie sagen: "Wir - und nicht mehr Gott - sagen jetzt, wer Mann ist und wer Frau." Das ist Gotteslästerung, Rebellion und Irrsinn, alles zugleich.
Der Mensch will auch entscheiden, wer Leben schafft und wie Leben geschaffen wird ...
Angefangen hat man mit der in vitro-Befruchtung. Das war der erste Schritt. Man wollte ganz sichtbar machen, dass wir entscheiden, wer der Mensch ist: Das tut nicht Gott, nicht der Schöpfer - wir entscheiden. In vielen Ländern gibt es jetzt die gültige, legale Ehe zwischen Personen desselben Geschlechts, was natürlich Irrsinn ist und sämtlicher Realität, sämtlicher Evidenz widerspricht. An diesem Punkt sind wir angekommen und die gesamte Bewegung ist ein Auswuchs des Anthropozentrismus und der Verdrängung Gottes aus der Gesellschaft. Wir sind in einer neuheidnischen Gesellschaft angekommen und in gewisser Weise ist sie schlimmer als die heidnischen Gesellschaften der Vergangenheit. In der römischen und griechischen Gesellschaft hat man immerhin noch die Realität als solche anerkannt. Aber nun versucht unsere Gesellschaft, die Offensichtlichkeit zu verändern.
Und die Technologie stellt dem Menschen sehr viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung, grausam zu handeln und die Jugend zu beeinflussen...
Genau. Anthropozentrismus ist intolerant - er toleriert andere nicht. Es ist eine sehr gefährliche Bewegung. In der Kirche müssen wir als Zeugen aufstehen gegen diese neue heidnische Gesellschaft, gegen diesen neuen Atheismus. Wir müssen Licht bringen, klares Zeugnis geben. Unglückseligerweise hat die Krise innerhalb der Kirche die genau entgegengesetzte Wirkung. Statt Zeugnis von der Wahrheit zu geben, von der Wirklichkeit, ist die Kirche angesteckt vom Geist des Anthropozentrismus, der Gender-Ideologie und der Rechtfertigung der Homosexualität.
Sie erwähnten die Rolle der Freimaurerei im Aufkommen des Säkularismus. Haben Sie sich näher damit auseinandergesetzt?
Ein wenig. Es gibt einige fundierte Studien über die Freimaurerei, beispielsweise Henri Delassus, La Conjuration Antichrétienne, mit seinem bemerkenswerten Untertitel Le Temple Maçonnique voulant s´élever sur les ruines de l'Eglise catholique ("Die antichristliche Verschwörung - Der Freimaurertempel und sein Bestreben, sich über den Ruinen der katholischen Kirche zu erheben"); Walton Hannah, Darkness Visible: A Christian Appraisal of Freemasonry; Paolo M. Siano, La Massoneria tra esoterismo, ritualità e simbolismo; und Alberto Bárcena, Iglesia y masonería. Las dos ciudades.
Können Sie mehr über die Rolle der Freimaurerei in der säkularistischen Bewegung sagen?
Freimaurerei ist eine Bewegung, die philosophische Beziehungen zum englischen Deismus hat. Wie ich bereits erwähnte, vertritt der Deismus die Auffassung, dass Gott nichts mit uns zu tun hat, wir also vollständig frei sind. Das war in gewisser Hinsicht die geistige Voraussetzung für die traditionelle Freimaurerei, wie wir sie kennen. Gleichzeitig ist Freimaurerei eine Art Religion - das dürfen wir nicht vergessen. Im Herzen der Freimaurerei findet sich eine Religion, ein Kult, eine Anbetungsform.
Handelt es sich um Satanismus?
Ja, leider steht es dem Satanismus sehr nahe. Nicht jede Freimaurergruppe ist satanisch, doch die Wurzeln sind satanisch und führen in den obersten Rängen der Freimaurerei zu Satanismus.
Freimaurerei ist letztlich eine gnostische Religion. Der Gnostizismus genoss zur Zeit unseres Herrn Jesus Christus eine Blütezeit, genauer im 1. und 2. Jahrhundert in der griechisch-römischen Welt. Diese Bewegung ist gekennzeichnet durch den Glauben an ausgedachte geistige Wesenheiten, die vom Augenschein der handfesten Wirklichkeit losgelöst sind und eine wahre, übernatürliche und historisch verwurzelte göttliche Offenbarung leugnen. Gnostische Mythologie war eine ausschließlich vom Menschen gemachte Konstruktion und sie richtete sich an eine esoterische Elite, nicht an alle Menschen. Das gnostische System bot eine Antwort auf die beiden grundlegenden Fragen, die sich jeder Mensch stellt: Woher kommt das Böse? Also: Warum gibt es das Böse? Und: Wie kann ich gerettet werden? Der Gnostizismus fasste diese beiden grundlegenden Fragen und Sorgen - die Frage nach dem Bösen und die Frage nach der Erlösung - in ein faszinierendes religiöses System.
Die Lösung des Gnostizismus war sehr holzschnittartig. Sie sagt, dass das Böse in uns und außerhalb von uns existiert; dass wir das Böse in der Natur und beispielsweise in Naturkatastrophen beobachten, in Krankheiten und so weiter. Gnostiker schließen daraus, dass jegliche geschaffene sichtbare Natur, beispielsweise unser Körper und unsere Sexualität, notwendig böse sind. Sie sagen, der Schöpfer der sichtbaren Dinge sei böse, ein böser Gott. Und infolgedessen setzen sie ein ewiges und metaphysisches Prinzip des Bösen voraus.
Doch gibt es auf der anderen Seite auch das Gute. Den Gnostikern zufolge muss es, da die sichtbaren Dinge, die wir beobachten, böse sind, ein Prinzip des Guten geben und dieses muss unsichtbar sein. Alles Unsichtbare ist gut, sagen sie, während alles Sichtbare ein Zeichen oder ein Hinweis auf das Böse ist. Die Gnostiker fragen: Wie können wir wissen, dass Gott der Schöpfer ist? Sie sagen, wir wüssten es aus der Bibel. In der Bibel steht geschrieben, dass Gott den Menschen und das gesamte sichtbare Universum geschaffen hat; und dass Gott Mann und Frau geschaffen hat, zwei biologische Geschlechter, und Gott sagte: "Es ist sehr gut." Daher erklärten die Gnostiker, dass der Gott der Bibel der böse Gott ist und dass alles, was in der Bibel als gut bezeichnet wird, in Wahrheit böse und nicht gut ist. Für die Gnostiker sind insbesondere der menschliche Leib und die bei den biologischen Geschlechter böse. Die Gnostiker haben also die Bedeutung der göttlichen Offenbarung in der Bibel verdreht und in ihr Gegenteil verkehrt. Sie verdrehten den offenkundigen Sinn der biblischen Aussagen. Als beispielsweise Gott die Zehn Gebote erließ, sagte Er: "Du sollst nicht ehebrechen. " Die Gnostiker sagen, das sei eine Lüge, es komme vom bösen Gott und der eigentliche Sinn sei, dass es gut ist, Ehebruch zu begehen. Wenn Gott sagt: "Du sollst nicht lügen", dann sagen die Gnostiker: doch, durchaus, du kannst lügen, wenn es dir nützt. "Du sollst nicht töten": Die Gnostiker sagen, es kann gut sein, zu töten, denn das Verbot zu töten stammt von dem bösen Gott der Bibel. Wir sehen also ganz klar, wie diabolisch die gnostische Ideologie ist.
Der Gnostizismus sagt, es gebe zwei gleich ewige Prinzipien des Guten und des Bösen, und sie begründen einen metaphysischen Dualismus. Der gute Gott ist in deinem Geist, er ist unsichtbar. Je besser du denkst, mit je schöneren Theorien du daherkommst, desto näher bist du dem guten Gott. Gnosis ist griechisch und bedeutet "wissen". Je mehr Wissen du im Kopf hast und je mehr Geheimnisse du kennst, desto besser. Dieser Elitezirkel gnostischer Gruppen behauptete, Zugang zum Wissen um den guten Gott zu haben, allerdings nicht durch die Offenbarung der Bibel. Letztlich ist für Gnostiker derjenige, den die Bibel den "Teufel" nennt, der gute Gott.
Diese Hauptelemente des gnostischen Systems sind die Grundprinzipien der freimaurerischen Religion. Die Freimaurer übernahmen den Großteil ihres Gedankengutes vom historischen Gnostizismus.
Aber Sie erwähnten, dass zur Freimaurerei auch ein Anbetungskult gehört.
Keine religiöse Gruppe kann ohne Kult, ohne Anbetung existieren. Die Freimaurer übernahmen ihren Kult von esoterischen Gruppen, vor allem von den Juden, von esoterischen Kabbala-Gruppen. Der gesamte Symbolismus, die ganze Terminologie der Freimaurerei stammt also religiös aus dem Judentum und philosophisch aus dem Gnostizismus. Sie übernahmen ihre Symbole und ihre Begriffe aus dem Alten Testament, ahmten also Teile des Judentums nach; gnostisch wird es dadurch, dass die Gnosis sagt, dass das Alte Testament, das wir lesen, vom bösen Gott stammt. Sie borgen sich deshalb dieselbe Terminologie aus dem Alten Testament - den Bau des Tempels und so weiter -, aber sie sagen: "wir bauen einen neuen Tempel, nicht den sichtbaren, leiblichen, der vom bösen Gott stammt. Wir, die Freimaurer, sind geistige und freie und unabhängige Maurer, wir sind ganz und gar frei von Gott, vom Gott der Bibel." Wir müssen fragen: "Von wem sind die Freimaurer frei?" Sie erklären sich frei vom wahren Gott. Sie sagen: "Unser Gott ist der Große Baumeister der Welt, dieser unbekannte gute Gott, den wir nicht kennen, dessen Werkzeuge wir jedoch sind, und wir bauen einen neuen Tempel der Menschheit auf." Die Freimaurer tun das durch den Einsatz von Symbolen und durch Kult, und vor allem mit einem gedanklichen Programm, das durch die gesamte menschliche Gesellschaft umgesetzt und widergespiegelt werden soll.
Im neuen Tempel der Freimaurer wird der Mensch im Mittelpunkt stehen und zu Gott erklärt werden. Doch in seinem Brief an die Thessalonicher sagt der heilige Paulus vom Antichrist: "Er setzt sich über alles hinweg, was Gott heißt oder Gottesverehrung, und schließlich setzt er sich selbst in den Tempel Gottes und gibt vor, er sei Gott" (2 Thess 2,4). Das ist der Antichrist.
Indem sie diesen neuen Tempel der Menschheit aufbauen, verstehen sich die Freimaurer selbst als die Erwählten. Das ist das völlige Gegenteil der göttlichen Offenbarung in der Bibel und vor allem im Evangelium. Das Ziel der Freimaurer ist es, zu zeigen, dass letztlich der Mensch Gott ist, dass der Mensch derjenige ist, der entscheidet, was gut und was böse ist. Abtreibung, die Gender-Ideologie und die systematische und demagogische Manipulation der Wahrheit in den Massenmedien beispielsweise entsprechen den theoretischen Grundsätzen der Freimaurerei, insofern sie gnostisch sind. Wie wir schon sagten: Die Gnostiker glauben, dass das Verbot von Mord und Lüge und die Erschaffung der zwei biologischen Geschlechter böse sind und dass das Gegenteil davon gut ist. Abtreibung, Lügen und Homosexualität (Androgynie, wie es im Gnostizismus genannt wurde) sind also nach der freimaurerischen Ideologie und Politik gut.
Irgendwie beeinflussen sie die Massen, unbewusst diesen freimaurerischen " Tempel " zu erbauen?
All diese Elemente, die im Widerspruch stehen zur menschlichen Vernunft und zur Offenbarung des wahren Gottes den die Freimaurer als den bösen Gott ansehen -, sind für sie die ideologischen Steine für den Bau des sogenannten neuen Tempels der Menschheit. Beim Bau dieses neuen Tempels der Menschheit besteht der erste Schritt darin, das Christentum zu beseitigen, denn das Christentum ist seinem Wesen nach übernatürlich, theozentrisch und christozentrisch und nicht wesentlich natürlich und anthropozentrisch. Im Christentum steht Christus, Sein Wort und Seine Wahrheit, im Zentrum. Das Christentum zu beseitigen, ist das erste und letzte Ziel der Freimaurerei - Christus als Gott zu beseitigen, als Mensch gewordenen Gott und Retter. Einen ausschließlich menschlichen Christus würden die Freimaurer annehmen können, als einen guten Lehrer, auf ein und derselben Stufe mit Mohammed und Buddha beispielsweise.
Es ist heute sehr gefährlich, ausschließlich von Gott und nicht von Christus als wahrem Gott zu sprechen. Humanistische und freimaurerische Ideologie will diesen neuen Tempel errichten und sie bezeichnen das als den "Fortschritt der Menschheit". Bei diesem Fortschrittsprozess steht der Mensch im Mittelpunkt, nicht Christus. Als Nächstes müssen die natürliche Ehe und Familie beseitigt und ihr Sinn ins Gegenteil verkehrt werden, denn gemäß den Gnostikern und den Freimaurern hat der böse Gott, wie sie ihn nennen, die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau geschaffen. Es war die Freimaurerei, die die Scheidungsgesetzgebung in Europa eingeführt hat. (Schon die Pharisäer förderten die Ehescheidung, ausgehend von einer von Mose zugestandenen Norm. Später war es dann Martin Luther, der theoretisch und praktisch die rechtliche Zulässigkeit der Scheidung auf religiöser Ebene im Christentum des Westens eingeführt hat. Die griechische Ostkirche führte die Ehescheidung praktisch schon zur Zeit des Kaisers Justinian im 6. Jahrhundert ein, begründet auf dem sogenannten Prinzip der oikonomia, einem neu erfundenen, weltlichen Prinzip, das im Hinblick auf das absolute Verbot der Scheidung der Lehre Jesu Christi, der Apostel und der großen Mehrheit der Kirchenväter wesensfremd war, - AS)
Woher wissen Sie das?
Es gibt Dokumente. Die Freimaurer erklären es selbst und sie sind stolz darauf, dass sie unter anderem Scheidung und Abtreibung angestoßen haben.
Haben Sie diese Dokumente gesehen?
Es gibt Studien und Bücher, in denen all das festgehalten ist. Die Freimaurer selbst haben Stellungnahmen und Erklärungen abgegeben, so beispielsweise in der Beilage der französischen Zeitung Le Figaro vom 20./21. Juli 2012. Um die Familie zu vernichten, beginnt man mit der Scheidung. Es folgen "freie Liebe", Feminismus, Empfängnisverhütung und so weiter. Dieser Logik zufolge macht man sich zum Herrn über das Leben.
Mit dem Einsatz von Empfängnisverhütung nimmt ein Ehepaar gewissermaßen Gott in seinen Dienst, anstatt sich selbst in Seinen Dienst der Weitergabe des Lebens zu stellen, Ihn in die Mitte ihres Lebens und ihrer Liebe zu stellen. Wenn wir ein Baby wollen, muss Gott uns zu Diensten sein, und wenn wir keines wollen, verhüten wir.
Genau. Das ist Anthropozentrismus. Wieder ist der Mensch der Mittelpunkt und nicht Gott. Anthropozentrismus ist das Herz der Freimaurerei und ihrer Bestrebungen, einen neuen Tempel der Menschheit zu bauen und sämtliche gesellschaftlichen Wirklichkeiten zu durchsetzen. Das Hauptziel der Freimaurer ist allerdings, die Kirche von innen zu durchdringen. Freimaurer versuchten während der Französischen Revolution die Kirche auf grausame, barbarische Weise zu vernichten. Allerdings merkten sie, dass das die Kirche aufgrund der Märtyrer nur stärker machte. Einige sind der Meinung, Freimaurer hätten bei der Bildung der Sowjetunion ihre Hand im Spiel gehabt, und ihre Rolle bei der Vorbereitung der bolschewistischen Revolution im Jahr 1917 wird von einigen Historikern bestätigt, die diese Frage studiert haben. (B. 1. Norton, "Russian Political Masonry, 1917, and Historians", International Review of Social History, 28,2 (1983): 240-258, Nach Angabe des New York Journal-American vom 3, Februar 1949 investierte Jacob Schiff, Seniorchef von Kuhn, Leob & Co., "ungefahr 20 000 000 Dollar für den endgültigen Triumph des Bolschewismus in Russland").
Wann entstand die Freimaurerei?
Offiziell im Jahr 1717 in London. Die Statuten der Freimaurerloge in London wurden von James Anderson, einem protestantischen Pastor, verfasst. Politische Macht gewann die Freimaurerei während und nach der Französischen Revolution und ihre Logen bereiteten verschiedene Revolutionen im 19. Jahrhundert vor. Heute stellt die Freimaurerei die Französische Revolution ganz unverhohlen als ihr Werk dar. In der Abgeordnetenkammer in Paris erklärte der Marquis de Rosanbo während der Sitzung am 1. Juli 1904: "Die Freimaurerei hat auf verborgene, aber ununterbrochene Weise an der Vorbereitung der Revolution gearbeitet ... Wir sind uns völlig einig in dem Punkt, dass die Freimaurerei der einzige Urheber der Revolution war, und der für mich ungewohnte Beifall, den ich von der Linken erhalte, beweist, meine Herren, dass Sie mir zustimmen, dass die Französische Revolution ein Werk der Freimaurer war." Worauf Mr. Jumel antwortete: "Wir stimmen nicht nur zu, wir verkünden es ausdrücklich." (Mgsr. Henri Delassus, La Conjuration Antichretienne (lilie: Soci!~te Saint Augustin, 1910), 1:146).
Vladimir Lenin war beispielsweise ebenfalls Mitglied einer Freimaurerloge (Lenin war ein Freimaurer 31. Grades [Grand Inspecteur Inquisiteur Commandeur, d. h. Groß-Inspektor, Inquisitor, Kommandeur] und Mitglied der Loge "Art et Travail" in der Schweiz und in Frankreich, Vgl. Oleg Platonov, Russia's Crown of Thorns: The Secret History of Freemasonry [Moskau, 2000], Teil H, S, 417. ). Auch der russische Ministerpräsident Kerenski war ein bekanntes Mitglied des Russischen Freimaurer-Orient; er hatte den Zar abgesetzt und eine Zivilregierung gegründet. Es waren die russischen Freimaurer, die 1917 den Zar absetzten. Die erste Zivilregierung vom Februar bis zur Oktoberrevolution war im Prinzip eine freimaurerische Regierung. Der Freimaurer Kerenski bereitete Lenin den Weg.
Welche Rolle spielte Lenin?
Er war bereits Mitglied mehrerer Terroristengruppen und stand mit den Kommunisten in Verbindung. Die vollständige logistische Unterstützung erhielt er jedoch von der Freimaurerbewegung in Russland selbst, von Kerenski, und von den Freimaurern in Europa, vor allem in Deutschland. Die deutsche Regierung ließ ihn in einem privaten Eisenbahnwaggon nach St. Petersburg transportieren, um dort die Revolution anzustoßen. Die Freimaurer wollten mit den chaotischen Kommunisten durch die Gründung einer vollkommen atheistischen Gesellschaft ein Experiment durchführen - und es ist ihnen gelungen. Allerdings wurde in der Zeit damals das Naturgesetz nicht ausgelöscht. Die heutige Gender-Ideologie wäre unvorstellbar gewesen.
Und dasselbe gilt für die "Homo-Ehe" ...
Zu kommunistischen Zeiten wäre es in Russland absurd gewesen, sich für eine homosexuelle Agenda einzusetzen. Wer in der Sowjetunion homosexuelle Akte beging, wurde bestraft.
Exzellenz, seit über zwei Jahrhunderten verurteilt die Kirche die Freimaurerei, beginnend mit Clemens XII. (1738), über die vielen Äußerungen Leos XIII. im späten 19. Jahrhundert, bis hin zur Glaubenskongregation (1983). Sogar in unserer Zeit hat Papst Franziskus mehrmals den Einsatz der Kirche gegen die Freimaurerei angesprochen (beispielsweise in seiner Ansprache an junge Menschen in Turin im 21. Juni 2015). Könnten Sie einige Hinweise geben, was die Päpste gegen diese Geheimgesellschaft gesagt haben?
Seit Beginn des öffentlichen Auftretens der Freimaurerei im Jahr 1717 hat die Kirche sie als eine gefährliche und antichristliche Sekte verurteilt. In seiner apostolischen Konstitution In Eminenti charakterisierte Papst Clemens XII. die Freimaurerei mit folgenden markanten Worten: "Männer jeglicher Religion oder Sekte, denen der Anschein natürlicher Rechtschaffenheit ausreicht, schließen sich entsprechend den Gesetzen und den für sie aufgestellten Statuten zusammen, durch ein strenges, unauflösliches Band, das sie sowohl durch einen Eid auf die Bibel als auch durch eine Vielzahl schwerer Strafen zu ,einem unverbrüchlichen Schweigen über alles verpflichtet, was sie im Geheimen miteinander tun ... Würden sie nichts Böses tun, dann hätten sie keinen so großen Hass auf das Licht." Die nächste denkwürdige Verurteilung der Freimaurerei nahm 1751 Papst Benedikt XlV. mit der apostolischen Konstitution Providas Romanorum vor, in welcher der Papst mehrere Gründe für die Unvereinbarkeit des katholischen Glaubens mit der Freimaurerei aufzählt, so etwa die religiös indifferente Haltung und den lehrmäßigen Relativismus; den Okkultismus ihrer Riten; die Weigerung, das natürliche Moralgesetz anzuerkennen; und die Unterstützung von Unmoral.
1766 verwies Papst Clemens XIII. in seiner Enyzklika Christianae Reipublicae Salus auf die vier Grundirrtümer der Freimaurerei: Materialismus, Naturalismus, Deismus und Atheismus - letzterer wird durch ihren Schlüsselbegriff "Großer Baumeister des Universums" raffiniert verhüllt. Die Vorstellung einer naturalistischen Universalreligion war bereits in den ersten, 1723 in London veröffentlichten "Satzungen" der Freimaurerei grundgelegt.
Papst Pius VIII. lieferte mit seiner 1829 erschienenen Enzyklika Traditi Humilitati Nostrae eine der prägnantesten und genauesten Definitionen von Ideologie und Vorgehensweise der Freimaurerei, indem er feststellte: "Ihr Gesetz ist Unwahrheit, ihr Gott ist der Teufel und ihr Kult ist Schändlichkeit."
Die umfassendste und gründlichste Behandlung der Freimaurerei findet sich in der Enzyklika Humanum genus von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1884. Darin bestätigte Leo XIII. sämtliche Aussagen seiner Vorgänger im Zusammenhang mit der Freimaurerei und gab eine eigene Analyse der Geheimgesellschaft. Die letzte theologisch und kirchenrechtlich wichtigste Erklärung der Kirche über das Wesen der Freimaurerei ist die Erklärung zu freimaurerischen Vereinigungen, erlassen von der Glaubenskongregation am 26. November 1983. Die entscheidende Aussage der Erklärung lautet wie folgt: "Das negative Urteil der Kirche über die freimaurerischen Vereinigungen bleibt daher unverändert, weil ihre Grundsätze immer als unvereinbar mit der Lehre der Kirche betrachtet wurden und deshalb der Beitritt zu ihnen verboten bleibt. Die Gläubigen, die freimaurerischen Vereinigungen angehören, befinden sich im Stand der schweren Sünde und können nicht die heilige Kommunion empfangen."
Jahrhundertelang hat sich die Kirche der Freimaurerei widersetzt, allerdings ist dieser Widerstand heute von vielen vergessen. Damit erhebt sich jedoch eine fundamentalere Frage: Was ist eigentlich die Quintessenz der Freimaurerei?
Das Wesen der Religion der Freimaurer ist die Perversion, die Umkehrung der von Gott gestifteten Ordnung. In der Überschreitung der Gesetze Gottes sehen die Hochgrad-Freimaurer den wahren Fortschritt der Menschheit, den geistigen Aufbau des Tempels der Menschheit. Göttliche Offenbarung wird durch freimaurerische Geheimhaltung ersetzt und letztlich macht sich der Mensch zu Gott. Historiker haben in der Freimaurerei den Keim zum politischen Totalitarismus erkannt (Vgl. A, Cobban, Historia de las Civilizaciones, zitiert in: A, Barcena, Iglesia y Masoneria [Madrid: Ediciones San Roman, 2016], 71). Bereits der bekannte Freimaurer und Philosoph Jean-Jacques Rousseau sagte: "Das Leben des Menschen ist nicht nur ein Geschenk der Natur, sondern auch eine mit Bedingungen verbundene Gabe des Staates." (Der Gesellschaftsvertrag, II, 5).
So erhält etwa der Kandidat des 33. Grades des "Alten und Anerkannten Schottischen Ritus" der Freimaurerei diese Anweisung: "Weder das Gesetz noch Eigentum noch Religion dürfen den Menschen beherrschen; und da sie den Menschen zerstören, indem sie ihn seiner kostbarsten Rechte berauben, sind das Gesetz, Eigentum und Religion Mörder und wir haben geschworen, an ihnen die schrecklichste Rache zu nehmen; sie sind Feinde, gegen die wir einen unerbittlichen Krieg um jeden Preis geschworen haben. Von diesen drei verruchten Feinden muss die Religion das ständige Ziel unserer tödlichen Angriffe sein. Wenn wir die Religion zerstört haben, stehen uns Gesetz und Eigentum zur Verfügung und wir können die Gesellschaft neu bilden, indem wir Religion, Gesetz und Eigentum des Freimaurertums aufbauen." (M. Tirado y Rojas, La Masoneria en Espafza, Ensayo Histórico [Madrid: Imprenta de Enrique Maroto y Herrnano, 1892], 1:170).
Dass die Freimaurerei die Antikirche ist, geht klar aus dem erstaunlich freimütigen Zeugnis von Giuliano Di Bernardo hervor, dem Großmeister der Freimaurerloge Gran Loggia Regolare d'Italia, das er während seines Fernsehauftritts am 11. April 2001 auf dem italienischen Fernsehkanal Rai 2 abgab. Er sagte: "Man wird Freimaurer durch eine Initiation. Initiation ist ein grundlegender Akt, der dem Menschen eine Dimension gibt, die er zuvor nicht hatte. Eine Analogie finden wir in der Taufe. Man wird nicht als Christ geboren, man wird durch die Taufe zum Christen. Und genauso wird man durch die Initiation zum Freimaurer. Das heißt, man bleibt sein Leben lang Freimaurer. Selbst wenn man sich von der Freimaurerei abwendet, bleibt man Freimaurer. Selbst wenn man schläft und selbst wenn man zum Feind der Freimaurerei wird, bleibt man immer ein Freimaurer, weil man die Initiation empfangen hat, und Initiation ist ein heiliger Akt."
Wir müssen auch an die folgenden schockierenden Worte erinnern, die vom katholischen Schriftsteller Antonio Fogazzaro, einem führenden italienischen Modernisten, in einem 1905 erschienenen Buch geschrieben wurden: "Wir wollen unsere ganze Aktion zielstrebig organisieren. Eine katholische Freimaurerei? Ja, eine Freimaurerei der Katakomben. [ ... ] Man muss auf eine Reform des römischen Katholizismus in einem progressiven, theosophischen Sinn hinarbeiten, durch einen Papst, der von diesen Ideen überzeugt ist." (Vgl. Il Santo (Mailand: Baldini e Castoldi, 1905),44 und 22).
Stellen wir das in die Perspektive der Heilsgeschichte, dann sehen wir: Als Jesus Christus in die Welt kam und die Apostel das Evangelium predigten, wurde die Welt von einer bösen, heidnischen Gesellschaft beherrscht und so ist es heute wieder. Nach rund siebzehnhundert Jahren ist die christliche Gesellschaft in Europa, die mit Konstantin angefangen hat, zusammengebrochen. Wir leben wieder in einer neuheidnischen Gesellschaft, aber in gewissem Sinn ist es schlimmer, weil die gnostische und satanische Erfindung der GenderIdeologie jetzt das Menschenwesen in seiner geschlechtlichen Verfassung zerstört und außerdem auch die Familie zerstört.
In seiner Intervention bei der Familiensynode im Oktober 2015 hat Kardinal Robert Sarah die Gender-Ideologie und ISIS als "zwei apokalyptische Tiere" bezeichnet.
Es ist tatsächlich apokalyptisch und wir müssen dagegen ankämpfen. Aber als Christen müssen wir keine Angst haben.
Exzellenz, sind Sie der Meinung, dass die westliche Zivilisation zusammenbricht?
Ja, natürlich. Die vom Christentum erbaute Zivilisation ist schon zusammengebrochen. Allerdings muss man genau angeben, was unter "westlicher Zivilisation" zu verstehen ist. Die Freimaurer verwenden den Begriff auch, sie sagen: "Wir sind die westliche Zivilisation. Wir brachten Licht nach Europa. " Deshalb bezeichneten sie das 18. Jahrhundert - das Jahrhundert des offiziellen Beginns der Freimaurerei - als das Jahrhundert der "Aufklärung". Aber das Gegenteil ist der Fall: Es war eine Zeit der Verfinsterung, der zunehmenden Dunkelheit, denn die sogenannte "Aufklärung" war ein Versuch, ohne das Licht des übernatürlichen Glaubens zu denken und zu leben.
Würden Sie sagen, dass das in der Europäischen Union zum Ausdruck kommt, die es als politische Körperschaft ablehnt, die christlichen Wurzeln Europas anzuerkennen? Im Jahr 2007 dem fünfzigsten Jahrestag der Gründung der EU - sagte Papst Benedikt XVI. zu den europäischen Bischöfen, dass Europa eine Art "Abfall von sich selbst" vollzieht, indem es seine christliche Identität aufgibt.
Ja, genau. Wenn in der Europäischen Union von "europäischen Werten" die Rede ist, dann sprechen sie über freimaurerische Moral und politische Prinzipien. Diese neuen "europäischen Werte" sind anthropozentrisch und gegen die Offenbarung Gottes gerichtet, deshalb sind sie letztlich auch gegen den Menschen gerichtet. Daraus wird keine echte Zivilisation hervorgehen. Es gibt keine Zivilisation, wenn wir uns von Gott trennen, von der Offenbarung Gottes und vom Naturgesetz, dem Schriftzug Gottes.
Manchmal fragen sich die Menschen, warum es so wichtig ist, Gott in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu stellen. Warum bricht die Zivilisation als solche zusammen, wenn wir uns von Gott oder vom Naturgesetz lösen?
"Zivilisation" kommt vom lateinischen Wort civis, Bürger - es bedeutet Bürger, die eine civitas, eine Stadt, erbauen. In einer Stadt muss es Ordnung, Gesetz, Schönheit, Hierarchie geben. Ohne sie gibt es keine Stadt - nur Anarchie und Chaos. Wenn Sie die Gesetze Gottes ausklammern, entweder das Naturgesetz, das von Gott geschrieben ist, oder das übernatürliche Gesetz, die göttliche Offenbarung der Heiligen Schrift, dann lösen Sie diese schöne Stadt auf und es folgt das Chaos im privaten und öffentlichen Bereich.
Womit wir bei einem weiteren Prinzip der Freimaurer wären, dem Prinzip Chaos. Sie sagen: "Wir müssen gelegentlich in der Gesellschaft Chaos stiften und dann, vom Chaos aus, werden wir unsere Ordnung schaffen." Bezeichnenderweise lautet eines der ideologischen und strategischen Mottos der Freimaurerei: "Ordo ab chao. "
Zivilisation ist nur in Entsprechung zum Gesetz Gottes möglich, entweder zum Naturgesetz oder zum übernatürlichen Gesetz. Das bedeutet aber, dass Gott der eigentliche Gesetzgeber ist, nicht der Mensch. Vor der göttlichen Offenbarung in Christus gab es Zivilisationen, die in gewissem Ausmaß dem Willen Gottes in Übereinstimmung mit dem Naturgesetz folgten. So hat beispielsweise das konfuzianische System in China und Korea einen sehr hohen Standard für eine hervorragende Zivilisation im moralischen Sinn aufrechterhalten, beispielsweise im Prinzip des Zusammenlebens in gegenseitigem Respekt und in Harmonie. Es beruhte auf dem Naturgesetz, also auf Gott, dem Schöpfer, und nicht allein auf dem Menschen.
Wir müssen zur Wertschätzung und Beachtung des Naturgesetzes zurückkehren und von da aus, als einem ersten Schritt, eine Zivilisation aufbauen. Die europäische Gesellschaft ist keine Zivilisation mehr. Sie hat keine Zivilisation, weil die Menschen sich vom Naturgesetz und von der göttlichen Offenbarung abgewandt haben. Die gegenwärtige europäische sogenannte Zivilisation besteht aus Hässlichkeit, Chaos und Grausamkeit. Das können wir nicht als Zivilisation bezeichnen. Wie kann man von Zivilisation sprechen, wenn man Massenmord an unschuldigen Menschen im Schoß ihrer Mütter begeht, was außerordentlich grausam ist und was es in diesem Ausmaß in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben hat - unschuldige Menschen umbringen, die eigenen Babys, in einem ungeheuren Ausmaß? Für mich ist Abtreibung in einer Gesellschaft bereits ein Hinweis darauf, dass es sich nicht um eine wirkliche Zivilisation handelt. Es gibt Technologie, aber keine Zivilisation. Wahre Zivilisation wird durch die Förderung von Unsittlichkeit zerstört, durch die Zerstörung der Familie. Denn die Familie ist eine kleine Stadt, und wenn man die Miniatur zerstört, dann zerstört man die eigentliche Stadt und dann die gesamte Zivilisation.
Wie man Zellen im Körper vernichtet.
Genau. Wir müssen die Familie wiederherstellen - also die Familie im Sinne des Naturgesetzes, mit einem Ehemann und einer Ehefrau und ihren Kindern. Während die christliche europäische Zivilisation zusammenbricht, wird sie durch kalte Technologie ersetzt. Reine Technologie ist geistig kalt, deshalb sind die Menschen nicht glücklich, sie sind leer, sie suchen ständig nach Vergnügungen, um der inneren Leere zu entkommen. Um der Hässlichkeit, dem Irrsinn auszuweichen, haschen die Menschen nach neuen Vergnügungen, neuen Technologien und in ihrer Seele werden sie kalt, egoistisch und grausam.
Wir müssen die Zivilisation wiederherstellen, indem wir das Naturgesetz und die natürliche Familie wiederherstellen. Und dann müssen wir Christus, den König, wieder in die Gesellschaft einführen. Das wäre die schönste Zivilisation, in welcher Christus als König der Gesellschaft herrscht, bis hinein in die Parlamente und Schulen. Europa hatte im christlichen Mittelalter eine wunderbare Zivilisation, bis die protestantische Revolution seine Einheit zu zerstören begann.
Könnten Sie noch etwas mehr über diese Geschichtsperiode sagen?
Zunächst einmal: Es war Konstantin, der die Türen für Christus in der Gesellschaft geöffnet hat. Das war eine sehr verdienstvolle Tat dieses Herrschers; deshalb wird er in der orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt und er erhielt den Titel "Der Apostelgleiche", zusammen mit seiner Mutter, der heiligen Helena. Die katholische Kirche sieht allerdings keinen Heiligen in ihm, denn er führte kein beispielhaftes Leben, da gab es Mord, Ehebruch und so weiter. Erst auf dem Totenbett empfing er die Taufe, und zwar von einem arianischen, häretischen Bischof.
Doch wir müssen seine Verdienste anerkennen: Er öffnete in der Gesellschaft die Türen für Christus. Er öffnete die Tür und langsam und allmählich begann Christus in der Gesellschaft zu herrschen. Als Folge davon wuchs dann eine echte Zivilisation heran - so organisch, wie ein Garten wächst. Diese Zivilisation erreichte den Gipfelpunkt ihrer Schönheit im Mittelalter: vom 4. Jahrhundert bis zum Höhepunkt im 13. oder 14. Jahrhundert - also über fast tausend Jahre hinweg. In jenen Zeiten herrschte Christus wahrhaftig im gesamten öffentlichen und sozialen Leben. Deshalb war es eine echte Zivilisation.
Aber doch auch alles andere als ideal ...
Selbst damals gab es viele Sünden in der Gesellschaft. Das war unvermeidlich, weil sich die Folgen der Erbsünde und der persönlichen Sünde auswirkten. Wir müssen die schlechten Beispiele einiger christlicher Kaiser, Päpste und Bischöfe unterscheiden vom objektiv heilsamen Einfluss der Lehre Christi auf die Gesetze und öffentlichen Sitten der europäischen Gesellschaft. Das öffentliche Leben und die Gesetze an sich spiegelten die Weisheit und die Schönheit von Gottes Offenbarung wider. So war es beispielsweise Konstantin, der als Erster die Brandmarkung von Sklaven auf der Stirn abschaffte, wie man es bei Tieren zu machen pflegte, weil das, wie er sagte, der Würde des Menschen widerspricht, der, wie es die Bibel sagt, nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist. Konstantin verfügte auch, dass Sonntage Tage der Ruhe zu Ehren der Auferstehung Jesu Christi, dem Retter der Menschheit, sein sollten. Später wurden Gladiatorenkämpfe verboten und so weiter - Schritt für Schritt.
Die Gesellschaft wurde humaner, weil sie christlicher wurde, weil sie den göttlichen Lehren Christi auch im öffentlichen Bereich, auf einer objektiven Ebene, gehorchte.
Die Herrschaft Christi in der Gesellschaft muss neben anderen Maßnahmen durch die Gesetzgebung eingeführt werden. Heute geht man jedoch allgemein davon aus, dass Kirche und Staat getrennt bleiben müssen und dass Religion in der Politik keinen Platz hat.
Diese Vorstellung ist eine Illusion, denn wenn die Religion keinen Platz in der Politik hat, dann fehlen der Politik Maßstab und Orientierung. Dann werden die Politik und der Staat zu einer Art Gott und sie entfernen sich von der Weisheit und dem Gesetz Gottes. Wenn daher jemand meint, die Religion habe keinen Platz in der Politik, dann sagt er damit, dass Gott nichts mit dem öffentlichen Leben der Menschen zu tun hat und dann haben wir eine atheistische Gesellschaft, mit atheistischen, also anti-menschlichen politischen Vorstellungen. Die menschliche Gesellschaft ist als solche ebenfalls von Gott geschaffen und wurde auf Christus hin erdacht und geschaffen (vgl. Kol 1,16-17). Alle Dinge sind auf Christus hin erschaffen, sogar die Politik und die Gesellschaft. Natürlich hat die Politik ihren eigenen Handlungsbereich und die Kirche sollte sich nicht dort einmischen, wo es um die Organisation zeitlicher Angelegenheiten geht. Die Kirche ist für den geistlichen Bereich zuständig. Gott vereint in Christus das Zeitliche und das Geistliche, das Ewige, das Übernatürliche. Beide aber sollen Christus verehren und ihm gehorchen: die Herrscher der Gesellschaft und die Hirten der Kirche.
Könnten Sie noch etwas sagen zur angemessenen Rolle der Kirche im Bereich des Zeitlichen?
Zeitliche Angelegenheiten gehören nicht zum eigentlichen, vorrangigen Handlungsbereich der Kirche. Sie hat nicht die Autorität, die rein zeitlichen Angelegenheiten der menschlichen Gesellschaft zu regeln. Gott hat der Kirche diese Aufgabe und diese Mission nicht übertragen. Christus sagte zu den Aposteln: "Geht und verkündet das Evangelium und lehrt die Menschen, alles zu halten, was ich euch geboten habe" (vgl. Mt 28,20).
Die Beziehung zwischen der Kirche und der politischen und menschlichen Gesellschaft entspricht der Beziehung zwischen Seele und Leib. Die Kirche steht für das Ewige und Übernatürliche, also für die Seele. Diese Wahrheit steht jedoch nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass die gläubigen Laien in der Organisation zeitlicher Angelegenheiten ihre Rolle spielen sollten. Die sozialen und politischen Autoritäten und Einrichtungen repräsentieren das Zeitliche und Natürliche, also den Leib. Aber man kann die Seele vom Leib nicht trennen; man hätte sonst einen Leichnam. Deshalb wird eine menschlich-politische Gesellschaft keinen wahren Fortschritt, keinen Wohlstand erfahren, wenn sie den Einfluss und die Herrschaft Christi über sich ausklammert. In dieser Lage befinden wir uns heute. Ohne Christus den König wird die menschliche Gesellschaft allmählich in sittlicher und geistiger Hinsicht zu einem Leichnam, weil die Seele fehlt.
Die Kirche steht höher, denn sie ist die Seele. Doch der Leib hat seine eigenen Gesetze und die Seele muss die Gesetze des Leibes respektieren. Der Leib hat seine Gesetze: Beispielsweise braucht der Leib eine bestimmte Anzahl an Stunden Schlaf. Was geschieht, wenn die Seele sagt: "Ich will die ganze Nacht beten?" Wenn die Seele eingreifen und dem Leib den Schlaf, den er braucht, verweigern würde, dann würde Chaos ausbrechen, denn irgendwann wären wir nicht mehr dazu in der Lage, zu denken und zu arbeiten, und wir würden krank werden. Im Sinne dieser Analogie muss die Kirche auf die rein zeitlichen, technischen Zuständigkeiten des Staates Rücksicht nehmen.
Doch es ist unsere Aufgabe, alles in Christus wiederherzustellen: "instaurare omnia in Christo", wie der heilige Paulus sagt (vgl. Eph 1,10). Es gibt keinen anderen Weg. Mit dem Humanismus in der Renaissance begann der Mensch, sich selbst zum Maß aller Dinge zu machen. Und dann kam die Revolution Luthers und die freimaurerische Revolution im Jahr 1789 (die sogenannte "Französische Revolution"). Wir haben es heute mit deren Folgen zu tun: Die Gesellschaft, vor allem in Europa, hat letztlich Christus von sich gewiesen. Wir müssen also damit anfangen, wenigstens das Naturgesetz wiederherzustellen, und dann beginnen, auch die Herrschaft Christi wiederherzustellen. Seine heilsamen göttlichen Lehren sollen nicht nur in einzelnen Seelen herrschen, sondern auch in Schulen, Universitäten und Parlamenten.
Wir haben einen mühsamen Weg vor uns. Wie sieht der Pfad konkret aus, auf dem Christus in die Gesellschaft des Westens wiedereingeführt werden kann?
Obwohl die meisten unserer Politiker keine Christen mehr sind und es Zeit brauchen wird, Christus wieder als den König der Gesellschaft auf den Thron zu erheben, muss sich die Kirche ganz klar erneut dieses Ziel setzen - so wie es Papst Pius XI. in seiner Enzyklika Quas primas im Jahr 1925 so schön zum Ausdruck gebracht hat. Wir müssen katholische, christliche Familien schaffen und sie müssen langsam wieder das politische, soziale und kulturelle Leben durchdringen. Wir müssen unsere christliche Kultur wieder aufbauen, denn es gibt in Europa keine authentische Kultur mehr. Wir leben heute in Europa in einer Kultur der Hässlichkeit. Wir müssen schönes christliches Theater schaffen, Film, Malerei, Musik und so weiter. Doch solche christliche Kunst ist eine Frucht des Glaubens, wir müssen also mit dem vollständigen katholischen Glauben beginnen. Ohne das wird es uns nicht gelingen, eine neue Zivilisation aufzubauen. Es wird einige Generationen dauern, möglicherweise auch Jahrhunderte. Aber es ist der Mühe wert.
Man sieht einen Vorschein dieses Wiederaufbaus in der Homeschooling- Bewegung - an all jenen Orten, wo sich diese Bewegung entfalten kann. Es ist ein stiller Garten, der beispielsweise in den USA wächst und auch in anderen Teilen der Welt. Hier in Europa, in Ländern wie Deutschland, ist es schwieriger - in Deutschland ist Homeschooling gesetzlich verboten.
Das ist eine Diktatur. Im Kommunismus in der Sowjetunion war der Unterricht in der Familie ebenfalls verboten und auch im Naziregime. Das Verbot des Homeschooling ist ein diktatorisches Gesetz.
Wir stehen vor dieser Herausforderung und Pflicht, die Zivilisation und die Herrschaft Christi in unseren Familien, in unseren Gesellschaften wieder herzustellen. Letztlich hält Gott nicht nur die Kirche in seinen Händen, sondern auch die Weltgeschichte. Er lässt viel Böses zu, damit das Gute heller zum Vorschein kommt. Es wird also immer eine Schlacht sein, ein Kampf - das dürfen wir nicht vergessen. Dann wird Gott das letzte Ziel der Schöpfung in der neuen Stadt, dem Neuen Jerusalem, vollenden - mit einer ewig andauernden Zivilisation. Damit müssen wir schon hier auf Erden beginnen. Das ist unser Auftrag als Christen.
5. Der Islam und die Entchristlichung Europas
Exzellenz, wie besorgt sind Sie als katholischer Bischof in einem überwiegend muslimischen Land angesichts des Zustroms von Muslimen nach Europa und Europas Islamisierung, vor allem im Licht Ihrer Bemerkungen zum Säkularismus?
Wir haben jetzt bereits seit mehreren Jahren einen massiven Zustrom erlebt und die Anwesenheit des Islam und seine Auswirkung hinsichtlich der Verdrängung und teilweise sogar offenen Gegnerschaft zu dem, was von der christlichen europäischen Kultur noch übrig ist. Dieses Phänomen setzte schon vor einigen Jahrzehnten ein - vor rund fünfzig Jahren - in einem mit heute verglichen geringeren Umfang, doch die Anwesenheit von Muslimen in Europa fing damals an. Vielleicht war es das Ergebnis der Ankunft von Arbeitern, die vor allem in Frankreich, Deutschland und Großbritannien arbeiten wollten. Seit dem letzten Krieg in Syrien war der Zustrom von Muslimen nach Europa zumindest teilweise von denen organisiert' die Europa zu einem islamischen Land machen wollen. Und Islamisierung Europas bedeutet faktisch, das Christentum in dieser Region zu zerstören, Europa zu entchristlichen.
Die Pläne vieler Weltmächte sind klar: Es geht um die Entchristlichung Europas.
Das war schon immer ein erklärtes Ziel der Freimaurerei. Das schlagendste Beispiel dafür ist die Französische Revolution. Die Freimaurer veränderten während der Diktatur der Jakobiner, die als "Terrorherrschaft" bezeichnet wurde, sogar die Tages- und Monatsnamen, um jegliche Spur christlicher Tradition auszutilgen. Es gelang ihnen allerdings nicht und Europa erlebte eine Restauration. Doch die Versuche, die Entchristlichung Europas zu betreiben, wurden - mit anderen Mitteln - fortgesetzt: durch anti-christliche Gesetzgebung, die Moral und Familie zerstört. So kann man das Christentum in großem Umfang zerstören. Und das haben mächtige Einflussnehmer in europäischen Regierungen seit der Zeit der Französischen Revolution bis in unsere Tage im Zeitlupentempo getan.
Die kommunistische Revolution war ein sehr geeignetes Instrument in der Hand der Mächte, die die Welt entchristlichen wollten. Die kommunistische Revolution mit ihrer weltweiten Auswirkung bot also der Freimaurerei eine wirksame Möglichkeit, die gesamte Menschheit noch weiter zu entchristlichen und ihrem Gott einen neuen Tempel zu bauen also einen Tempel für die Vergöttlichung und Anbetung des Menschen, was letztlich zur Anbetung Satans führt.
Aber der Kommunismus ist ja doch zusammengebrochen ...
Wir kennen nicht alle genauen Gründe für diesen Zusammenbruch, allerdings schließe ich die Möglichkeit eines strategischen Einflusses der Weltmächte nicht aus.
Aber Papst Johannes Paul II., Präsident Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien arbeiteten doch zusammen, um den Kommunismus zu Fall zu bringen.
Gewiss, das ist eine berechtigte Perspektive, aber sie erklärt für mich diesen bemerkenswerten Zusammenbruch nicht in seiner Gesamtheit. Natürlich ist in jedem bedeutenden Augenblick der Geschichte auch Gott am Werk. Der Glaube, durch die Gebete zu Unserer Lieben Frau von Fatima und die Bemühungen von Papst Johannes Paul II. sei der Ostblock geschwächt worden, ist lobenswert. Aber man kann nicht beweiskräftig zusätzliche geopolitische Faktoren ausschließen, die am Zusammenbruch des Ostblocks mitbeteiligt waren.
Wollen Sie andeuten, dass einige Weltmächte wussten, dass der Kommunismus untergehen würde und bereits einen Plan ausgearbeitet hatten?
Man kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es auch einen Plan gab, die letzte Phase des Kommunismus umzusetzen: also den Zusammenbruch des Klassischen, unverhohlen atheistischen Systems der Sowjetunion, wie es sich bis zum damaligen Zeitpunkt entwickelt hatte, und die Saat für die letzte, aggressivste Phase des Marxismus auszustreuen, die sich jetzt in Europa durchgesetzt hat.
In die Grundsubstanz und die Vision der Europäischen Union, wie wir sie heute kennen, ist der soziale und politische Mechanismus hineinverwoben, der als Mittel benutzt werden kann, diese letzte Phase oder Periode des Marxismus umzusetzen. Die vorletzte Phase ist die Gender- Ideologie und die vollständige Zerstörung der Familie von ihrer Wurzel her. Die letzte Phase wird die Anbetung Satans sein, des Götzen, und das vollständige und ausdrückliche Verbot der Anbetung Christi. Ich bin kein Prophet, aber man kann die Methode, die Mittel und den Hebel erkennen, mit denen diese letzte Phase erreichbar ist. Leider gibt es im Mainstream der amerikanischen und europäischen Gesellschaft bereits Anzeichen, die uns eine konkrete Grundlage dafür liefern, in solchen Begriffen zu denken.
Satanismus, das Okkulte, und eine makabre Faszination am Tod werden in westlichen Gesellschaften heute immer wichtiger. Die Gender-Ideologie ermöglicht es, Menschen auf einer sehr tiefen Ebene zu kontrollieren, wohingegen im Kommunismus, wenn man an seinem Glauben festhielt, selbst wenn man keine Religionsfreiheit hatte, man immer noch den Glauben hatte und innerlich frei war. Heute werden Menschen - sogar Kinder - in einer so tiefen Schicht verwundet und sittlich verdorben, dass es dann sehr leicht wird, die Massen zu manipulieren.
Glaube setzt die Natur voraus - gratia supponit naturam -, wenn also die Natur verdorben und zerstört wird, dann hat der Glaube kein Fundament, auf dem er sich aufrichten kann, und das ist die Strategie des Feindes. Allerdings ist das nicht ausreichend für jene, die solche teuflischen globalen Pläne hegen. Antichristliche Kräfte suchen unerbittlich nach konkreten Mitteln, wie sie Europa zerstören können, und die Islamisierung kann als nützliches Mittel in ihren groß angelegten Plänen angesehen werden. Sie wissen, dass mächtige Kräfte im Islam bereits danach trachten, sich auszudehnen und ganz gezielt das Christentum an den Rand zu drängen. Erst dann wird der Islam immer mehr Macht gewinnen. Die Anzahl der Muslime in Europa nimmt ständig zu. Wenn sie politische Macht erhalten würden und das Gesetz der Scharia einführen, dann würden sämtliche anderen Religionen benachteiligt. Das kann man in Europa bereits beobachten; und es war die Grundlage für die Ausbreitung eines militanten Islam.
Diese islamische "Option" - und mag sie auch noch so unbeständig und selbstzerstörerisch gewesen sein - blieb den Freimaurern nicht verborgen. Und man kann den raffinierten Einsatz freimaurerischer Bemühungen unter dem Vorwand von Barmherzigkeit und Mitleid erkennen: Die Themen werden gefühlsmäßig aufgeladen, man beschwört uns, Flüchtlinge aufzunehmen, wie Christus ein Flüchtling war, und weil die Kirche Fremden gegenüber immer barmherzig war. Das ist Propaganda, die das christliche Europa verdrängen soll. Wir befinden uns also mitten in einem Prozess und das wird noch intensiver werden. Ich lebe in einem islamischen Land, wo der Islam - Gott sei Dank - keine politische Macht hat. Die Mitglieder unserer Regierung in Kasachstan sind überwiegend ethnisch gesehen Muslime, aber viele praktizieren den Islam nicht. Die Muslime haben allerdings auf indirekte Weise die Unterstützung der Regierung, beispielsweise, wenn Regierungsbehörden sie dabei unterstützen, Moscheen zu bauen oder Imame zu ernennen. Eine säkulare Regierung muss diese islamischen Strömungen kontrollieren, weil der Islam von seinem Wesen her dazu neigt, ein politisches System entsprechend dem Gesetz der Scharia zu werden, das ausdrücklich intolerant gegenüber allen nicht-islamischen Völkern ist, die als Bürger zweiter Klasse behandelt werden.
Glauben Sie, dass der Islam eine Religion des Friedens ist, oder halten Sie ISIS für das wahre Gesicht des Islam?
Gewalt gegen sogenannte "Ungläubige" wird im Koran ganz offen gerechtfertigt, doch ich glaube, dass ISIS nicht die wahre Form des Islam ist. Es handelt sich um einen politischen Missbrauch des Islam. Allerdings wird ISIS von einigen politischen Machthabern als Werkzeug angesehen, das benutzt werden kann, um antichristliche Absichten voranzubringen.
Nicht lange nach der Wahl von US-Präsident Donald Trump war das amerikanische Militär schnell zur Stelle, um ISIS zu besiegen und ihnen ihren Landbesitz wegzunehmen.
Ja, Gott sei Dank, der neue Präsident und das Kabinett in den USA unterstützen ISIS nicht. Wenn wir jedoch zurückdenken - woher haben ISIS ihre Waffen, die schwere Artillerie und ihre fortgeschrittene Technologie? Das sind offensichtliche, verstörende Fragen, über die man nachdenken muss.
Ich sage dies nur im Zusammenhang mit der Islamisierung Europas, die wir aus unterschiedlichen Blickwinkeln anschauen müssen. Ich glaube, die Geschichte wird letztlich die Wahrheit des Ganzen offenbaren, doch die harte Erkenntnis des französischen Schriftstellers Honore de Balzac fällt einem in solchen Zusammenhängen ein: "Es gibt zwei Arten von Geschichte: die offizielle Geschichte, die lügende Geschichte, die sie in den Schulen lehren, Geschichte ad usum delphini (für Kinder bearbeitet); und die geheime Geschichte, in welcher sich die wahren Gründe der Ereignisse finden, die bloßstellende Geschichte." (Honoré de Balzac, La Comédie humaine, "Scenes from Parisian Life" (New York, 1899), 364). Sie wissen ja, dass ich eine der übelsten, systematischsten geopolitischen Bewegungen der Geschichte - den Kommunismus - überlebt habe, wo die offizielle "Wahrheit" routinemäßig eine Lüge war.
Ich möchte nicht näher auf dieses politische Thema eingehen, aber nur noch hinzufügen, dass wir zwischen dem muslimischen Volk und dem Islam unterscheiden müssen. In meinem Land sind muslimische Menschen nicht gewalttätig, sie wollen friedlich leben und lassen andere glauben, was sie wollen. Ich habe muslimische Freunde, aber sie sagen: ,Wir sind Muslime, weil unsere Eltern und Großeltern Muslime waren, und wir glauben an Gott" - ob sie jetzt "Allah" sagen oder einfach "Gott". Sie kennen vielleicht die eine oder andere Aussage des Korans, aber den Koran kennen sie nicht. Meiner Meinung nach sind die meisten muslimischen Menschen einfach und friedfertig und kennen den Koran oder die Scharia nicht gut und sie leben eine Religion natürlichen Glaubens an einen Gott als Schöpfer und Richter. Das ist natürlich, es ist eingeschrieben in die Seele eines jeden menschlichen Wesens. Wenn jedoch einige von ihnen anfangen, ihre Kenntnis des Korans und der Scharia zu vertiefen, dann werden sie radikalisiert und neigen zu gewalttätiger Vernunftlosigkeit. Das Christentum hängt sowohl vom Glauben als auch von der Vernunft ab, wie von den beiden Flügeln eines Vogels, wie Johannes Paul II. es so schön in seiner Enzyklika Fides et Ratio erklärt hat. Im Islam gibt es keinen übernatürlichen Glauben und der Aspekt der Vernunft im Hinblick auf religiöse Angelegenheiten ist sogar auf einer natürlichen Ebene mangelhaft.
Und dem Islam zufolge ist Gottes Wille willkürlich.
Ja. Man kann nicht sagen, dass es sich hier um den Glauben handelt! Islam ist an sich kein Glaube.
Warum ist es kein Glaube?
Es ist kein Glaube, weil der einzige Glaube im Christentum gegeben ist. Glaube ist definitionsgemäß die theologische Tugend, aufgrund derer der Mensch, mit Hilfe des Geschenks der göttlichen Gnade, an Gott glaubt und alles glaubt, was Er gesagt und offenbart hat, und alles, was uns die heilige Kirche zu glauben vorlegt (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1814). Zum Glauben gehört der verstandesmäßige Akt, durch die Gnade Gottes die übernatürliche Welt anzuerkennen, die durch Jesus Christus, den menschgewordenen Gott, göttlich geoffenbart ist, obwohl das bereits im Alten Testament vorbereitet wurde. Es gibt nur eine Offenbarung: Das Alte Testament und das Neue Testament bilden eine unteilbare Einheit, die in Christus erfüllt ist.
Glaube ist nur auf den Glauben an die Heilige Dreifaltigkeit anwendbar: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Nur wenn ein Mensch das anerkennt, kann man sagen, dass er den Glauben hat. Wenn jemand nicht an die Heilige Dreifaltigkeit glaubt, dann hat er keinen Glauben, sondern lediglich natürliche Religion. Mit natürlicher Religion kann man zur Kenntnis des einen Gottes, des Schöpfers und Richter gelangen.
Viele Leute irren sich, indem sie annehmen, die natürliche Kenntnis Gottes sei ausreichend für die Erlösung. Es gibt mehrere - im Internet und in Büchern beschriebene - Fälle der Bekehrung muslimischer Personen zum Christentum, die dann von ihren eigenen Familien verfolgt wurden, und nicht nur verfolgt, sondern von ihren eigenen Vätern, ihren eigenen Müttern getötet wurden. Das ist der klare Beweis eines blinden Fanatismus, wo der Gesichtspunkt der Vernunft fehlt oder stark mangelhaft ist.
Sind Sie der Meinung, dass die Regensburger Rede von Papst Benedikt Ihre Gedanken über den Islam bestätigt?
Wir haben die Reaktionen auf die Rede gesehen. Die Reaktionen zeigten, dass das wahr ist.
Was war Ihrer Meinung nach das Wichtigste in der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI.?
Er sagte: Wenn die Vernunft fehlt, dann fangen die Menschen an zu glauben, dass Gottes Wille blind und willkürlich ist. Das spiegelt sich dann in unserem Leben wider - wir sind blind und lassen uns nur von unserer Willkür leiten. Der Islam muss immer politisch kontrolliert werden. Wenn er nicht politisch kontrolliert wird, wird der Islam von Natur aus gewalttätig und unterdrückt durch die Anwendung des Scharia-Gesetzes systematisch alle Nichtmuslime.
In Kasachstan wird der Islam durch die Regierung kontrolliert. Die Regierung Kasachstans fördert ein Klima gegenseitiger Toleranz unter den Religionen und setzt sich für das Ideal von gesellschaftlicher Harmonie und inter-ethnischem und inter religiösem Frieden ein. Diese Politik wird teilweise durch häufige Kongresse und Symposien, durch Gesprächsrunden und Diskussionen auf unterschiedlichen Ebenen umgesetzt. Ich halte das für sehr wichtig. Es könnte für Amerikaner und Europäer nützlich sein, sich das System sozialer Harmonie in Kasachstan anzuschauen und sich dafür einzusetzen, vor allem in diesen Zeiten, in denen es so viele Konflikte gibt.
Papst Franziskus hat mehrere Absätze seines apostolischen Schreibens Evangelii Gaudium aus dem Jahr 2013 dem Verhältnis der Kirche zum Islam gewidmet. Ich würde gerne von Ihnen hören, was Sie zu einigen Schlüsselpassagen zu sagen haben. Die erste wäre: "In dieser Zeit gewinnt die Beziehung zu den Angehörigen des Islam große Bedeutung, die heute in vielen Ländern christlicher Tradition besonders gegenwärtig sind und dort ihren Kult frei ausüben und in die Gesellschaft integriert leben können. Nie darf vergessen werden, dass sie sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird'" (Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Lumen Gentium, Nr. 16) (EG, Nr. 252).
Festzustellen, wie es das Konzil in Lumen Gentium, Nr. 16, tat, dass die Muslime mit uns den einen Gott anbeten ("nobiscum Deum adorant"), ist eine theologisch äußerst missverständliche Aussage. Es stimmt nicht, dass wir Katholiken mit den Muslimen den einen Gott anbeten. Wir beten nicht mit ihnen an. Im Akt der Anbetung beten wir immer die Heilige Dreifaltigkeit an, wir beten nicht einfach "den einen Gott" an, sondern bewusst die Heilige Dreifaltigkeit - den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Der Islam weist die Heilige Dreifaltigkeit zurück. Wenn die Muslime anbeten, dann beten sie" nicht auf der übernatürlichen Glaubensebene an.
Dann ist sogar unsere Art der Anbetung völlig anders.
Sie ist grundsätzlich anders - eben, weil wir uns an Gott wenden und Ihn als Seine Kinder anbeten, gegründet auf der unaussprechlichen Würde göttlicher Annahme an Kindes statt, und wir tun das mit übernatürlichem Glauben. Die Muslime hingegen haben keinen übernatürlichen Glauben. Ich sage es noch einmal: Sie haben eine natürliche Kenntnis von Gott. Der Koran ist nicht die Offenbarung Gottes, sondern eine Art Gegenoffenbarung Gottes, denn der Koran leugnet ausdrücklich die göttliche Offenbarung der Menschwerdung, der ewigen Göttlichkeit des Gottessohnes, des heilbringenden Opfers Christi am Kreuz, er leugnet also die Wahrheit Gottes, der Heiligen Dreifaltigkeit. Diese missverständliche Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils muss richtiggestellt werden. Diese Aussage ist nicht unfehlbar und sie war vom Konzil auch nicht so beabsichtigt.
In gewisser Weise können wir die Aussage von Lumen Gentium hinnehmen, doch müssen wir eine ausführliche Erklärung hinzufügen. Natürlich - wenn eine Person wirklich aufrichtig zu Gott, dem Schöpfer, betet - und ich nehme an, dass die Mehrheit der einfachen muslimischen Menschen das tut -, dann betet sie Gott in einem natürlichen Akt der Verehrung an, der auf der natürlichen Erkenntnis Gottes als dem Schöpfer beruht. Jede nichtchristliche, nicht getaufte Person, auch ein Muslim, kann Gott auf der Ebene der natürlichen Erkenntnis der Existenz Gottes anbeten. Sie beten in einem natürlichen Akt der Anbetung denselben Gott an, den wir in einem übernatürlichen Akt und mit übernatürlichem Glauben an die Heilige Dreifaltigkeit anbeten. Das sind jedoch zwei grundlegend unterschiedliche Anbetungsakte: Der eine ist ein Akt der natürlichen Erkenntnis, der andere ein Akt des übernatürlichen Glaubens.
Die Akte der Anbetung und die Akte der Erkenntnis, auf denen sie beruhen, sind wesensmäßig verschieden, obwohl das Objekt insofern dasselbe ist, als es derselbe Gott ist. Die Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils hätte präziser formuliert werden müssen, um Missverständnisse zu vermeiden. Vielleicht hätte man so formulieren können: "Die Muslime beten Gott in einem Akt natürlicher Verehrung an und somit auf eine wesensmäßig andere Weise als wir Katholiken, da wir Gott mit übernatürlichem Glauben anbeten." Wenn der Satz so oder ähnlich formuliert worden wäre, hätte man falsche Anwendungen im interreligiösen Dialog sowie falsche Lehren in sehr vielen theologischen Fakultäten und Priesterseminaren unserer Tage vermieden.
Um auf den fraglichen Abschnitt zurückzukommen: Der subjektive Akt der Anbetung der Muslime ist auch deswegen anders, weil ihr Gottesverständnis sich von dem unseren unterscheidet. Wir sollten die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass Muslime, indem sie Aussagen über Gott hinnehmen, die nicht göttlichen Ursprungs sind, in der Gefahr stehen, selbst auf der natürlichen Ebene eine falsche Gottesverehrung zu praktizieren. Diejenigen, die dem Islam folgen, sehen Gott als entferntes Wesen, bar jeder persönlichen Beziehung zu den Menschen, und das ist eine ganz verkehrte Vorstellung von Gott. Ein beträchtlicher Teil der Muslime hat ein verzerrtes, falsches Bild von Gott als einem Wesen, das unfähig ist, persönlich mit uns in Verbindung zu stehen, und den wir nicht wahrhaft und persönlich als unseren Vater und als unseren Erlöser lieben können.
Trifft es zu, dass die Muslime denselben Gott wie die Juden anbeten?
Wie ich bereits sagte: Vom Standpunkt einer einfachen Naturreligion haben viele einfache Muslime eine natürliche Erkenntnis von der Existenz Gottes und beten Ihn in einem Akt natürlicher Religion an. Die Juden hingegen empfingen die übernatürliche Offenbarung Gottes. Diese Offenbarung, die die Juden im Alten Testament erhielten, wurde allerdings nur im Blick auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus gegeben und nicht um ihrer, d. h. der Juden, selbst willen. Der Heilige Geist sagt durch den Apostel Paulus in der Heiligen Schrift: "Christus ist das Ende des Gesetzes" (Röm 10,4) und: "Das frühere Gebot ist aufgehoben, weil es schwach und nutzlos war" (Hebr 7,18). Die Juden beten also wegen der göttlichen Offenbarung im Alten Testament mit uns Gott an. Jene Juden allerdings, die heute Christus ablehnen und damit den immerwährenden Bund Gottes, beten Ihn in treuloser Weise an, in einer Weise, die Gott nicht wohlgefällt, da sie die wahre Bedeutung Seines Bundes mit ihnen zurückweisen, die im Neuen und Ewigen Bund in Jesus Christus besteht. Seit den ersten Jahrhunderten, seit der Zeit der Kirchenväter und Kirchenlehrer, nannte die Kirche die Juden "treulos" (Die alte römische Karfreitagsliturgie enthielt die folgende Gebetsaufforderung: "Oremus et pro perfidis Judaeis" (Lasset uns auch beten für die treulosen ungläubigen Juden). Die Kirche sprach dieses Gebet ungefähr seit dem 3. Jahrhundert bis 1959. ). Diese Wendung bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass sie den Glauben an die Menschwerdung Gottes und an das Erlösungswerk Jesu Christi zurückwiesen. Vor Christus beteten alle Gerechten des Alten Testaments Gott auf eine getreue Art an, da sie implizit den Neuen und Ewigen Bund in Jesus Christus annahmen. Doch insofern die Juden Anhänger der Pharisäer und der talmudischen Rabbis sind, die Christus zurückwiesen, beten sie Gott jetzt auf eine mangelhafte, treulose Weise an.
Schauen wir uns den nächsten Absatz aus Evangelii Gaudium an. Da heißt es: "Die heiligen Schriften des Islam bewahren Teile der christlichen Lehre; Jesus Christus und Maria sind Gegenstand tiefer Verehrung und es ist bewundernswert zu sehen, wie junge und alte Menschen, Frauen und Männer des Islam fähig sind, täglich dem Gebet Zeit zu widmen und an ihren religiösen Riten treu teilzunehmen. Zugleich sind viele von ihnen tief davon überzeugt, dass das eigene Leben in seiner Gesamtheit von Gott kommt und für Gott ist. Ebenso sehen sie die Notwendigkeit, ihm mit ethischem Einsatz und mit Barmherzigkeit gegenüber den Ärmsten zu antworten" (Nr. 252).
Und unmittelbar nach dem, was Sie gerade zitiert haben, sagt Papst Franziskus, dass wir "von ihren Schätzen profitieren können". Es ist schon richtig: Wir können von allen Menschen lernen, sogar von Heiden, denn wenn etwas an sich gut ist, dann kann es von allen angenommen werden. Der Papst erwähnt beispielsweise, dass sie zutiefst davon überzeugt sind, dass ihr ganzes Leben von Gott und für Gott ist. Wir haben dieselbe Überzeugung. Sie verrichten treu über den Tag hin ihre Gebete. Wenn eine falsche Religion Treue zum Gebet zeigt, dann haben wir umso mehr Grund dafür, treu im Gebet zu sein. Das kann man annehmen. Allerdings ist die Treue zum Gebet bei den Muslimen nicht dem Islam als solchem zuzuschreiben, sondern dem Umstand, dass Treue zum Gebet oder die treue Erfüllung einer Pflicht an sich gut ist und insofern nicht von einer falschen Religion abhängt.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die muslimische Vorstellung von Jesus eine Ablehnung der christlichen Idee ist: Der Koran behauptet, Gott könne keinen Sohn haben, daher lehnen sie die Menschwerdung ab, selbst wenn sie die Jungfrauengeburt annehmen. Deshalb ist es ungenau, ihre Verehrung Jesu mit unserer Anbetung Jesu gleichzusetzen, da wir Jesus als den menschgewordenen Gott und Erlöser der Menschheit anbeten; und ihre Marienverehrung ist nicht dieselbe wie unsere, die sich auf Maria als die Mutter Gottes und die Mittlerin aller Gnaden bezieht. Wir können also von ihnen nicht lernen, wie wir uns angemessen zu Jesus und Maria verhalten.
Darüber hinaus haben sie einen anderen Begriff davon, was es heißt, "für" Gott zu leben, denn Jesus lehrte, dass Gott unser Vater ist, dass wir für ihn leben, um in unserer Liebe zu Ihm zu wachsen und mit Ihm auf immer glücklich zu sein, wohingegen ihre Vorstellung eines Lebens für Gott derjenigen eines Sklaven entspricht, der einem mächtigen Herrn dient. Und schließlich ist die muslimische Vorstellung von Barmherzigkeit anders als die christliche, denn wir sind barmherzig, wie Gott, unser Vater, uns gegenüber barmherzig war, indem Er Seinen Sohn sandte, der für uns gestorben ist, während wir noch Seine Feinde waren, was die Muslime leugnen.
Im nächsten Abschnitt von Evangelii Gaudium schreibt Papst Franziskus: "Um den Dialog mit dem Islam zu führen, ist eine entsprechende Bildung der Gesprächspartner unerlässlich, nicht nur, damit sie fest und froh in ihrer eigenen Identität verwurzelt sind, sondern auch, um fähig zu sein, die Werte der anderen anzuerkennen, die Sorgen zu verstehen, die ihren Forderungen zugrunde liegen, und die gemeinsamen Überzeugungen ans Licht zu bringen. Wir Christen müssten die islamischen Einwanderer, die in unsere Länder kommen, mit Zuneigung und Achtung aufnehmen, so wie wir hoffen und bitten, in den Ländern islamischer Tradition aufgenommen und geachtet zu werden. Ich ersuche diese Länder demütig darum, in Anbetracht der Freiheit, welche die Angehörigen des Islam in den westlichen Ländern genießen, den Christen Freiheit zu gewährleisten, damit sie ihren Gottesdienst feiern und ihren Glauben leben können!" (EG Nr. 253).
Der Papst sagt, wir sollen muslimische Immigranten, die in unsere Länder kommen, mit Zuneigung und Achtung aufnehmen, so wie wir hoffen würden, in ihren Ländern aufgenommen zu werden. Ich kann dem theoretisch zustimmen. In der gegenwärtigen historischen Situation ist es allerdings naiv, das zu übernehmen, denn man denke doch nur an das, was gerade vor unseren Augen durch die sogenannten Immigranten geschieht. Tatsächlich werden Immigranten überwiegend als Werkzeuge eines politisch gelenkten Prozesses der Islamisierung Europas verwendet. Wir dürfen nicht so naiv sein. Wenn Muslime im politischen Bereich noch fester "in ihrer eigenen Identität verwurzelt" werden, dann werden sie intoleranter gegenüber Nichtmuslimen. Die Sure 9,29 fordert die Muslime auf: "Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Allah und nicht an den Jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Allah und Sein Gesandter verboten haben, und nicht die Religion der Wahrheit befolgen - von denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde -, [kämpft], bis sie den Tribut [Dschizyal aus der Hand entrichten und gefügig sind!"
Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass der Islam und der katholische Glaube nicht auf einer Ebene liegen. Für einen gläubigen Katholiken ist der Islam nicht die wahre Religion; der katholische Glaube ist die einzige wahre Religion. Wir können sie nicht auf eine Ebene stellen. Und daher, wenn es sich um eine katholische Gesellschaft handelt, dann müssen deren Regierungen es so veranlassen, dass muslimische Immigranten und Flüchtlinge, die wirklich in Not sind, zuerst von islamischen Ländern aufgenommen werden. Es wäre auch für die Muslime selbst natürlicher und harmonischer, in islamische Länder integriert zu werden. Wenn wir sie hierher holen, wird es einen Zusammenstoß der Kulturen geben und der Islam wird sich ausbreiten; irgendwann sind dann die zukünftigen Generationen islamisch. Dieses Ergebnis können wir nicht hinnehmen, wenn wir das Wenige erhalten wollen, was von der europäischen Kultur noch übrig ist.
Der Zusammenstoß der Kulturen verursacht Chaos.
Ja, genau. Daher ist es nicht klug, in diesem gewaltigen Ausmaß muslimische Immigranten aufzunehmen, wie Europa es derzeit tut. Vielleicht könnten doch der Heilige Stuhl und der Papst dabei Hilfe leisten, islamische Länder zu finden, die dazu in der Lage wären, Immigranten aufzunehmen - es gibt ja solche Länder durchaus -, oder es könnten europäische Länder solche Länder finanziell unterstützen, die islamische Migranten aufnehmen. Doch müsste eine solche Unterstützung mit der Bedingung verknüpft werden, dass die islamischen Länder Christen dieselbe Religionsfreiheit gewähren, die wir momentan Muslimen in westlichen Ländern zugestehen. Das ist eine Forderung des gesunden Menschenverstands.
Der eben zitierte Abschnitt von Evangelii Gaudium fährt fort: "Angesichts der Zwischenfälle eines gewalttätigen Fundamentalismus muss die Zuneigung zu den authentischen Anhängern des Islam uns dazu führen, gehässige Verallgemeinerungen zu vermeiden, denn der wahre Islam und eine angemessene Interpretation des Koran stehen jeder Gewalt entgegen" (Nr. 253).
Mit allem schuldigen Respekt - ich kann dem Papst nicht zustimmen, wenn er sagt, dass eine angemessene Interpretation des Koran jeder Art von Gewalt entgegengesetzt ist. Erstens gibt das allein schon die einfache Lektüre des Koran nicht her. Die späteren Suren des Koran sind gegenüber Nichtmuslimen sehr gewalttätig, sie rufen zur gewalttätigen Besetzung nichtmuslimischer Länder auf. Muslime wissen genau, dass dies die legitime Methode ist, den Koran zu lesen. Außerdem sind sich Muslime darin einig, dass die späteren (gewalttätigeren) Suren mehr Autorität besitzen. Normalerweise verstehen Muslime den Koran wörtlich, weil sie keine geistliche oder allegorische Auslegung kennen. Die Muslime haben keine Autorität, die Streitigkeiten mit weltweiter Autorität beilegen könnte; sie haben kein Lehramt. Vielleicht tun das einige Ausnahmepersonen, einige gute islamische Gelehrte, aber sie sind nicht repräsentativ für den Islam an sich. Sie haben keine letztgültige Autorität. Es gibt keine zentrale Autorität im Islam, die Fragen der Lehre für alle Muslime entscheiden könnte.
Exzellenz, wie kann die Kirche Ihrer Meinung nach am besten auf die Islamisierung Europas reagieren?
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Ein junger Kasache - er studierte Englisch - sah mich eines Tages in der Nähe der Kirche in Kasachstan. Da ich immer Soutane trage, erkannte er mich als katholischen Priester und er wollte mit mir sprechen. Wir sprachen fast eine Stunde miteinander. Er war sehr intelligent und auf der Suche nach Gott. Er sagte mir, er sei in einer praktizierenden, streng muslimischen Familie aufgewachsen, doch habe er angefangen, Gott zu suchen, weil er als Muslim sich nach Gott sehnte, der die Liebe ist. Und Gott als Liebe wird von der islamischen Religion abgelehnt.
Ewig geliebt zu werden: Diese Sehnsucht wird durch Gottes Gnade wachgerufen. Dieser junge Mann kam häufig in unsere Kirche, und nachdem er hinten in der leeren Kirche gesessen war, kam er heraus und sagte, er habe immer einen tiefen Frieden verspürt, den er in einer Moschee noch nie empfunden habe. Er suchte Gott und las auch schon im Evangelium, obwohl seine Mutter es ihm verbot. Aber er las die Bibel im Internet auf Englisch. Und er sagte zu mir: "Ich schaue häufig Fernsehsendungen und Beiträge im Internet aus Europa. " Er informierte sich, weil er Gott suchte. Und er sagte: "Die Art von Christentum, die ich in Europa sehe, zieht mich nicht an, denn sie haben keinen Eifer, keine Überzeugungen. Der Islam ist anziehend für junge Menschen aufgrund seiner Entschiedenheit, seiner Einsatzbereitschaft, seiner Kompromisslosigkeit. Das zieht junge Menschen an. Die Form von Christentum, wie ich sie in Europa sehe, zieht mich nicht an."
Welch ein Zeugnis von einem Nichtchristen! Er konnte dieses lockere Christentum nicht ernst nehmen.
In den letzten Jahren hörte ich immer wieder den Satz: "Wir müssen uns nicht vor einem starken Islam in Europa fürchten, sondern vor einem schwachen Christentum." Das ist genau unser Problem. Dieser junge Kasache bemerkte, dass unsere Antwort auf den Islam darin bestehen muss, dass wir unser Überzeugtsein vom katholischen Glauben verstärken müssen, ein tugendhaftes, keusches Leben führen müssen, den Glauben an die Einzigartigkeit Christi pflegen müssen, an die Wahrheit, dass es außerhalb der Kirche keinen Weg zum Heil gibt und dass alle, die keine Christen, die islamisch sind, Christus kennen und Ihn durch Gottes Gnade aus freien Stücken annehmen müssen. Es ist unsere Pflicht, ihnen das mit Liebe nicht mit Gewalt zu vermitteln; mit Liebe, und mit Überzeugung. Wir müssen zutiefst überzeugte Christen sein. Wir müssen in uns den Geist des Martyriums pflegen und nähren und die Schönheit eines keuschen, tugendhaften Lebens fördern. Eines der besten und wirkungsvollsten Mittel zur Ausstrahlung des katholischen Glaubens und zur Evangelisierung besteht darin, dass unsere jungen Menschen, unsere Familien, unsere Priester die Integrität des sittlichen Lebens ausstrahlen.
Das ist es, was Muslime anziehen wird: unsere Überzeugung, unser kompromissloser Glaube und die Reinheit eines sittlichen Lebens in unseren Familien, bei den jungen Menschen und bei den Priestern. Darin besteht der einzigartige historische Beitrag des Zweiten Vatikanischen Konzils: Aufruf zur Heiligkeit, der an alle gerichtet ist - ein Aufruf, den wir alle sehr ernst nehmen sollen. Ehescheidung in der Kirche zuzulassen und stillschweigend gutzuheißen, wie es viele pastorale Handreichungen zu Amoris Laetitia bereits tun, widerspricht diesem Aufruf zur Heiligkeit. Ehebrecherische Akte in einer zweiten Vereinigung zu begehen, ist nicht Heiligkeit. Zur Kommunion zu gehen ohne die feste Absicht, solche Sünden zukünftig zu unterlassen, ist nicht Heiligkeit. Es gibt keine Umstände, die auch nur einen einzigen ehebrecherischen Akt rechtfertigen würden, oder einen sexuellen Akt außerhalb einer gültigen Ehe. Damit befindet man sich immer im Widerspruch zu Gott und beleidigt Gott. Die falsche und missverständliche Umsetzung von Amoris Laetitia ist kein Aufruf zur Heiligkeit! Im Gegenteil - der Aufruf zur Heiligkeit bedeutet einen langen Weg, einen schwierigen Weg, der Opfer und Geduld erfordert. Doch ist das der einzige Weg, der zum Glück führt.
Sie sagen, die Botschaft der Kirche müsse herausfordernd sein.
Wir müssen das jedem sagen, auch den Menschen, die geschieden sind und in einer zweiten Verbindung leben: "Wir werden euch mit liebevollem Verständnis begleiten, doch wir werden euch, meine Lieben, auch sagen, dass eure unkeuschen Handlungen Gott beleidigen. Aber wir werden euch helfen, mit aller Geduld, damit ihr Gott nicht länger beleidigt." Und wir werden junge Menschen unterweisen und mit ihnen sprechen, ihnen helfen, vor der Hochzeit keusch zu leben. Und wir werden den Priestern sagen, dass sie keusch und zölibatär leben sollen, Pornografie und so weiter vermeiden und ein Leben des Gebets führen sollen, einer grundlegenden Askese, des Eifers für die Rettung der Seelen.
Mit dem Papst und den Bischöfen als eifrigen Verkündern der Einzigartigkeit des Heils in Christus müssen wir mit Liebe und Überzeugung einen neuen missionarischen Eifer ad gentes, gegenüber Nichtchristen, erwecken. Wir müssen ihnen Christus und den katholischen Glauben vorstellen. Das ist überhaupt kein "Proselytismus". Das Zeugnis unseres christlichen Lebens, die Schönheit unseres christlichen Lebens und unserer Liturgie wird Muslime sicherlich anziehen. Der heilige Paulus sagt den Korinthern, wenn ein Ungläubiger oder ein Ungebildeter zu ihnen kommt und sieht, dass sie Gott wirklich anbeten, dann "wird er sich niederwerfen, er wird Gott anbeten und bekennen: Wahrhaftig, Gott ist unter euch" (vgl. 1 Kor 14,24-25). Wenn wir Schönheit, wahrhaft ehrfürchtige und ehrwürdige und erhabene Liturgien wiederherstellen, eine christozentrische Schönheit und Sakralität, dann wird das andere, vor allem Muslime, stark anziehen. Ihre Seelen sind von einem natürlichen Ehrfurchtsgefühl durchdrungen, teilweise sogar tiefer als bei manchen Christen. So muss unser Weg aussehen. Die Überwindung der Krise der Kirche wird sich auch missionarisch auf die Anziehung von Nichtkatholiken und Nichtchristen zur Kirche auswirken.
6. Religiöse Gleichgültigkeit
Exzellenz, ich möchte über die Beziehung der Kirche zu nichtchristlichen Religionen sprechen und über das Problem des religiösen Indifferentismus, also der Auffassung, dass religiöse Glaubensunterschiede im Wesentlichen unwichtig sind. In unserer Diskussion des Islam meinten Sie, es könne für Amerikaner und Europäer nützlich sein, sich das in Kasachstan praktizierte System für gesellschaftliche Harmonie anzuschauen. Halten Sie diese Art von interreligiösem Dialogfür wirksam?
In unserem Land ist er wirksam, ja. Wir sprechen nicht über religiöse Themen, sondern über die Notwendigkeit, friedlich und respektvoll in der Gesellschaft zusammenzuleben, Harmonie im sozialen Leben aufrechtzuerhalten und Religion nicht als Vorwand für die Anwendung körperlicher Gewalt im Gemeinwesen zu missbrauchen. Religiöse Toleranz hat immer zur kirchlichen Lehre gehört, auch schon vor dem Konzil. Katholiken können sich allerdings nicht dafür aussprechen, dass die Irrtümer anderer Religionen verbreitet werden, denn alle Religionen, die nicht katholisch sind, sind falsch und Gott billigt sie nicht, sie stehen also im Widerspruch zum Willen Gottes. Sie enthalten in sich geistliches Gift. Es ist klar, dass wir nicht zulassen können, dass sich in der Gesellschaft geistliches Gift ausbreitet.
Deshalb müssen Katholiken andere Religionen tolerieren, aber sie dürfen sie nicht fördern. Mehr als sechzehnhundert Jahre lang, seitdem die Kirche unter Konstantin ihre Freiheit erhielt, hat das kirchliche Lehramt ununterbrochen gelehrt, dass es nicht erlaubt ist, dass sich religiöse Irrtümer in der Gesellschaft ungehindert ausbreiten. Bürgerliche Autoritäten hatten daher die Pflicht, der Ausbreitung solcher geistiger Krankheiten vorzubeugen, und die Kirche gab der Regierung dazu Anweisungen, denn die bürgerliche Autorität hat keine Kompetenz, Fragen der religiösen Wahrheit zu entscheiden.
Können Sie in diesem Kontext den Unterschied zwischen Toleranz und Zustimmung erklären?
Katholiken müssen um des Gemeinwohls willen auch irrende Religionen tolerieren. Ein katholischer Staat garantiert anderen Religionen Toleranz, sodass sie existieren können, dass sie ihre eigenen Kirchen oder Gebetshäuser und Schulen haben können. Eine offiziell katholische Gesellschaft und ein katholischer Staat können aber falschen Religionen nicht dieselben Rechte zugestehen, die der wahren katholischen Religion geschuldet sind. Sonst würde sich die falsche Religion unter der katholischen Bevölkerung ausbreiten und junge und schwache Personen zu einer falschen Religion hinführen.
Viele Menschen sagen, diese Auffassung sei nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht mehr zeitgemäß, nicht mehr haltbar.
Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Kirche immer die Toleranz gegenüber anderen Religionen bis zu einem bestimmten Grad gelehrt. Mit Dignitatis Humanae, der Konzilserklärung über religiöse Freiheit, fand allerdings meiner Meinung nach ein einschneidender Wandel im Verhältnis zum vorigen und allgemeinen kirchlichen Lehramt statt, welches immer daran festgehalten hat, dass der Irrtum nicht dasselbe Recht hat, verbreitet zu werden, wie die Wahrheit. Es gibt kein Recht auf Irrtum, ebenso wenig, wie wir von Natur aus ein Recht haben zu sündigen. Gott hat dem Menschen seine Freiheit nicht gegeben, auf dass er etwas sittlich Böses (die Sünde) oder etwas verstandesmäßig Böses (den Irrtum) begeht.
Je mehr wir in Übereinstimmung mit Gottes Willen leben, mit der Wahrheit, desto freier sind wir - und desto stärker nimmt unsere Freiheit zu. Dignitatis Humanae nahm eine Veränderung vor, die nur schwer mit dem immerwährenden kirchlichen Lehramt zu vereinbaren ist. Man könnte aus diesem Dokument leicht ableiten, dass Wahrheit und Irrtum von Natur aus dieselben Rechte haben, indem behauptet wird, dass die Wahl des Irrtums, die Wahl einer falschen Religion dem Menschen als ein natürliches Recht zusteht. Es gibt Leute, die sagen: "Mein Gewissen diktiert mir, dass ich eine satanische Kirche gründen muss, um Satan anzubeten. Das ist erlaubt aufgrund der Gewissens- und Religionsfreiheit."
Wo würden Sie das Problem in dem Dokument festmachen? Worin besteht der "Wandel"?
Der Text von Dignitatis Humanae sagt, dass die Freiheit, eine Religion zu wählen, ein Recht ist, das in der Natur der menschlichen Person begründet ist (Nr. 2: "in ipsa eius natura fundatur"), innerhalb der gebührenden Grenzen, falls eine Gefahr für die öffentliche Ordnung davon ausgeht. Allerdings hat der Mensch nicht von Natur aus das Recht, eine Sünde zu begehen oder sich einen Irrtum anzueignen. Es gibt kein natürliches Recht, Gott zu beleidigen und zu schmähen, und eine götzendienerische Religion und jede falsche Religion ist eine Schmähung Gottes. Wir können Sünde und Irrtum tolerieren, aber sie sind kein natürliches Recht; das wäre eine Verdrehung der von Gott geschaffenen Ordnung, denn Gott schuf alle Menschen für das eine einzige Ziel, nämlich Gott, die Allerheiligste Dreifaltigkeit, ausdrücklich zu erkennen und zu verehren. Die Schöpfung und das natürliche Recht sind auf die göttliche Offenbarung hingeordnet. Deshalb kann es nicht einmal ein natürliches Recht geben, lediglich ein "höchstes Wesen" anzubeten, wie es in Dignitatis Humanae, Nr. 4, formuliert wird. In der göttlichen Offenbarung befiehlt Gott jedem Menschen ausdrücklich, nur den wahren Gott anzubeten, das heißt Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Außerdem ist die Idee eines "höchsten Wesens" in sich unklar und wird von nichtchristlichen Religionen, sogar von den Muslimen, auf unterschiedliche Weise verstanden, häufig auch in einer entstellten Weise. Und schließlich spricht der Originaltext von Dignitatis Humanae Nr. 4 nicht von einem "ens supremum" (höchsten Wesen), sondern stattdessen von einem "numen supremum", was gewöhnlich "höchste Gottheit" bedeutet. Andere offizielle Übersetzungen dieses Ausdrucks sind genauer, beispielsweise "la divinite supréme" (Französisch), "suprema divinità" (Italienisch), "la Divinidad" (Spanisch). Diese Ausdrücke sind sehr zweideutig, denn in götzendienerischen Religionen gibt es - inmitten eines Pantheons sogenannter "Gottheiten" - ebenfalls eine "höchste Gottheit".
Es widerspricht mit Sicherheit der offenbarten Wahrheit zu sagen, dass Gott ausdrücklich die Anbetung lediglich eines "höchsten Wesens" will und dass der Mensch dazu ein natürliches ("in ipsa eius natura fundatur") Recht haben sollte. Das einzige Recht, das Gott dem Menschen verleiht, besteht darin, den einen wahren Gott, die Allerheiligste Dreifaltigkeit, zu erkennen und zu verehren.
Gab es ein berechtigtes Anliegen vonseiten der Verfasser von Dignitatis Humanae, welches sie zu diesen Formulierungen bewegte?
Die Frage religiöser Freiheit wurde durch die konkrete historische Situation verändert. Wir leben heute in einer vollständig säkularisierten, nichtchristlichen Gesellschaft und es gibt faktisch in Europa nur atheistische Regierungen. Wir befinden uns in einer neuen Situation, die mit derjenigen der Christen vergleichbar ist, die in der heidnischen, römischen Gesellschaft lebten. Wir treten in eine Art neuer Verfolgungssituation ein.
Wir können allerdings nicht die Prinzipien verändern. Ein Prinzip besteht darin, dass nur die Wahrheit Rechte hat; ein anderes, dass jede menschliche Gesellschaft und auch die Regierungen Christus anerkennen und ihn anbeten sollten. Diese Wahrheiten sind unveränderbar; es handelt sich um offenbarte Wahrheiten, wie Papst Pius XI. es in Quas Primas darlegt. Natürlich soll der Staat sich nicht in kirchliche Angelegenheiten einmischen. Allerdings müssen die Regierenden als Vertreter des Volkes Christus, den wahren Gott, öffentlich verehren sowie die wahre Religion praktizieren, und das ist nur die katholische Religion. Das ist die beständige katholische Wahrheit, die keine kirchliche Autorität in ihr Gegenteil verkehren kann. Die konkrete, praktische Anwendung dieser Wahrheit in einer veränderten historischen Situation ist eine andere Frage.
Wie meinen Sie das?
Die gesellschaftliche historische Situation hat sich in dem Sinn verändert, dass wir die Regierung genau wie während der römischen Verfolgung fragen müssen: "Bitte, gebt uns die Freiheit, Gott zu verehren." Wir können jedoch einer atheistischen Regierung nicht sagen, dass nur wir über die wahre Religion verfügen - sie sind ja atheistisch, würden uns auslachen und ein solches Argument zurückweisen. Wir können lediglich ein zivilrechtliches Argument verwenden: "Gewährt uns religiöse Freiheit!" Als Bürger, die einer atheistischen oder nichtchristlichen Regierung unterstehen, haben sämtliche Personen, ohne Ansehen ihrer Religionszugehörigkeit, ein Recht, ihren Überzeugungen entsprechend Gott zu verehren; sie haben hinsichtlich der Religion dieselben bürgerlichen Rechte.
Aber diese Regierungen könnten ja sagen, dass das Christentum für das Allgemeinwohl schädlich ist und unterdrückt werden muss, damit sie die Gesellschaft und die Welt so aufbauen können, wie sie es sich vorstellen.
Das können sie sagen und womöglich tun sie es. Die heidnischen Römer verhielten sich so, denn sie hielten das Christentum für eine geistige Krankheit und für eine Bedrohung des Allgemeinwohls. Während dieser Zeit galt bereits der Name "Christ" als Verbrechen.
Eine traditionelle Auslegung des vom Zweiten Vatikanischen Konzil vorgelegten Dokuments über die Religionsfreiheit könnte sagen, wir Katholiken können Anspruch auf unsere religiöse Freiheit erheben, weil wir Bürger sind - als Bürger haben wir dieselben Rechte wie die Angehörigen anderer Religionen. Allerdings hoffe ich, dass in Zukunft die Aussage des Konzildokuments über das natürliche Recht, eine falsche Religion zu wählen, abgeändert wird, denn die Behauptung, dass "religiöse Freiheit ein natürliches Recht" sei, ist in ihrer jetzigen Formulierung theologisch nicht korrekt und irreführend. Das Konzil sagt, das Recht auf religiöse Freiheit, das letztlich auch die Wahl einer falschen (von Gott allerdings ausdrücklich verbotenen) Religion einschließt, ist "in ihrem [Sc. der Person] Wesen selbst" begründet (Dignitatis Humanae, Nr. 2). Leider relativiert diese Behauptung die richtige Feststellung im selben Dokument, die sagt, dass der Mensch "durch eine moralische Pflicht gehalten [ist], die Wahrheit zu suchen". Nur die Wahl der wahren Religion, das heißt der katholischen Religion, ist ein natürliches Recht, das Gott ausdrücklich wünscht. Gott ist der Schöpfer der natürlichen Rechte, er kann also nicht ausdrücklich die Verschiedenheit der Religionen oder die Verehrung lediglich eines "höchsten Wesens" wollen.
Ich habe ein natürliches Recht, Gutes zu tun und die Wahrheit zu erkennen, und die Wahrheit ist die katholische Religion. Ich habe ein Recht auf die wahre Religion. Nicht jede Religion kann von Natur aus der Gegenstand dieses Rechts sein. Wir haben nicht von Natur aus das Recht, Götzen anzubeten. Einige Religionen verehren ebenfalls ein "höchstes Wesen", und da sie keine göttliche Offenbarung haben, kann ihre Vorstellung des "höchsten Wesens" falsch sein, götzendienerisch und daher eine Beleidigung Gottes. Götzendiener dürfen als Bürger nur ein Bürgerrecht haben. Als Bürger - sei es als Katholik, als Muslim und so weiter - haben wir dasselbe Recht zu leben, ein Recht auf gerechte Entlohnung und andere Dinge dieser Art. Rechtliche Angelegenheiten müssen in dem Sinn dieselben sein, dass diese religiösen Gemeinschaften schlicht bürgerliche Vereinigungen sind, und bürgerliche Vereinigungen haben alle dieselben Rechte. Wir leben bereits in einer neuheidnischen Gesellschaft, aber wir können die beständigen traditionellen theologischen Grundsätze nicht ändern.
Ich möchte Ihre Argumentationslinie hinterfragen, denn es klingt, als würden Sie sagen: "Die beständige Lehre der Kirche ist x, doch angesichts der besonderen, konkreten geschichtlichen Veränderungen müssen wir aus praktischen Gründen unsere Herangehensweise und die Art, wie wir diese Lehre umsetzen, verändern." Das klingt nach dem Argument, das in der Debatte um Amoris Laetitia eingebracht wurde: "Wir behalten die Lehre bei, doch aus pastoralen Gründen - weil die historischen Umstände sich verändern - müssen wir sie anpassen."
Diesen Einwand habe ich auch erwogen. Im Fall der Zulassung zur heiligen Kommunion von Geschiedenen, die in einer zweiten Verbindung wie Eheleute (more uxorio) zusammenleben, befinden sie sich in derselben Lage wie alle Katholiken, die vor ihnen lebten. Wir hatten immer geschiedene Personen und es gibt keine im eigentlichen Sinn neue Situation. Wir können beispielsweise nicht sagen, dass wir uns in unserer Gegenwart gesellschaftlich in einer besonderen Situation befinden und deshalb jetzt Menschen, die in einer ehebrecherischen Beziehung leben, in einigen Fällen zur heiligen Kommunion zulassen sollen. Das Gebot, keinen Ehebruch zu begehen, gehört zu den sogenannten negativen Vorschriften der Gebote Gottes, wie etwa auch du sollst nicht lügen, stehlen, Ehebruch begehen und so weiter. Diese Gebote dürfen keinesfalls übertreten werden. Keine Autorität in der Kirche, nicht einmal der Papst, hat die Macht, von diesen göttlichen Geboten zu entbinden, und seien die Umstände noch so außerordentlich.
Das Problem der Religionsfreiheit ist eine andere Frage, denn es geht nicht darum, ein Prinzip zu leugnen, das die Kirche immer gelehrt hat. Vielmehr ist es in einer atheistischen Gesellschaft oder unter einer atheistischen Regierung praktisch einfach unmöglich zu fordern, dass sie der katholischen Kirche Privilegien zugestehen müssen, die sie anderen Religionen vorenthalten; und dass sie andere Religionen daran hindern, ihre Irrtümer zu verbreiten. Das ist keine Ausnahme eines Prinzips, sondern es handelt sich um einen Fall, in welchem ein Prinzip ohne unser Verschulden nicht umsetzbar ist.
Unmittelbar anschließend an die Bemerkungen zum Islam in Evangelii gaudium, über die wir bereits gesprochen haben, folgt ein Abschnitt über nichtchristliche Religionen im Allgemeinen. Wie denken Sie über den folgenden Text: "Die Nichtchristen können, dank der ungeschuldeten göttlichen Initiative und wenn sie treu zu ihrem Gewissen stehen, ,durch Gottes Gnade gerechtfertigt' (Internationale Theologenkommission, Das Christentum und die Religionen (1996j, 72) und auf diese Weise ,mit dem österlichen Geheimnis Christi verbunden werden' (ebd.). Aber aufgrund der sakramentalen Dimension der heiligmachenden Gnade neigt das göttliche Handeln in ihnen dazu, Zeichen, Riten und sakrale Ausdrucksformen hervorzurufen, die ihrerseits andere in eine gemeinschaftliche Erfahrung eines Weges zu Gott einbeziehen (vgl. ebd., 81-87). Sie haben nicht die Bedeutung und die Wirksamkeit der von Christus eingesetzten Sakramente, können aber Kanäle sein, die der Geist selber schafft, um die Nichtchristen vom atheistischen Immanentismus oder von rein individuellen religiösen Erfahrungen zu befreien. Derselbe Geist erweckt überall Formen praktischer Weisheit, die helfen, die Unbilden des Lebens zu ertragen und friedvoller und harmonischer zu leben. Auch wir Christen können aus diesem durch die Jahrhunderte hindurch gefestigten Reichtum Nutzen ziehen, der uns hilfreich sein kann, unsere besonderen Überzeugungen besser zu leben" (Nr. 254).
Die Formulierung, dass "Nichtchristen, dank der ungeschuldeten göttlichen Initiative, wenn sie treu zu ihrem Gewissen stehen ... , durch Gottes Gnade gerechtfertigt werden" und auf diese Weise "mit dem österlichen Geheimnis Christi verbunden werden" können, kann zu einer Relativierung des einzigartigen und verbindlichen Charakters des konkreten Weges zum Heil führen, der die Kirche ist, der mystische Leib Christi, also der Weg zum Heil, den Gott uns gegeben hat.
Dürfen Katholiken von einer "sakramentalen Dimension der heiligmachenden Gnade" in nichtchristlichen Religionen sprechen?
Es ist falsch zu sagen, dass Gott mit seiner heiligmachenden Gnade durch eine "sakramentale Dimension" wirkt. Wenn Gott in Nichtchristen wirkt, dann tut er das mit anderen Mitteln, die nur er kennt, die uns jedoch verschlossen bleiben. "Zeichen und Riten" als sakrale Ausdrucksformen, die Gott wohlgefallen, gibt es nur im Neuen und Ewigen Bund in der Kirche, die Gott selbst gegründet hat. Außerhalb der Kirche gibt es keine heilbringenden und religiösen Riten, die Gott wohlgefallen. Das erste Gebot, dass der Mensch keine anderen Götter anbeten soll, also eben keine "Zeichen, Riten und sakralen Ausdrucksformen" benutzen soll, die sich auf andere Götter beziehen, bleibt immer gültig.
Der Papst spricht über "Zeichen, Riten und sakrale Ausdrucksformen" in nichtchristlichen Religionen. Doch diese sind objektiv falsche Zeichen falscher Religionen. Bereits die Existenz solcher Religionen steht im Widerspruch zum Willen Gottes. Mit solchen Formulierungen wie den soeben angeführten werden andere Religionen letztlich auf dieselbe Ebene gestellt wie die Kirche. Es ist ein Irrtum, zu sagen: "Die Kirche ist ein Weg mit eigenen Zeichen und Riten und nichtchristliche Religionen sind ein anderer Weg und diese nichtchristlichen Religionen haben ihre eigenen Zeichen und Riten, die ihrerseits eine gemeinschaftliche Erfahrung eines Weges zu Gott vermitteln können." Das würde bedeuten, dass Gott die Verschiedenheit der Religionen ausdrücklich wünscht. Das aber ist sehr relativistisch und verwirrend. Wir können das nicht hinnehmen. Die Apostel und die gesamte Kirche haben dergleichen nie gelehrt. Es führt zu einem Relativismus im Hinblick auf die Einzigartigkeit und Sichtbarkeit des Wegs zum Heil, der sich in Christus und Seiner Kirche findet. Selbst im Fall des "unbekannten Gottes" der Athener, den der heilige Paulus als die Heilige Dreifaltigkeit erkannte, ermutigte der Apostel nicht zur Beibehaltung dieses Altars; er rief die Athener zur Umkehr auf und zum Glauben an Christus (Apg 17,22-33).
Ich dachte, "die Götter der Heiden sind Dämonen'; wie es in der Vulgata heißt (Ps 95,5)?
Der Altar des "unbekannten Gottes" war ein Beispiel einer natürlichen Religion; das war kein gefallener Engel, sondern Gott selbst. Die restlichen Götter sind Dämonen und ihre Riten sind eine falsche Gottesverehrung. Der Heilige Geist spricht durch den heiligen Apostel Paulus: "Was Heiden opfern, das opfern sie Dämonen, nicht aber Gott" (1 Kor 10,20). In der Offenbarung des Johannes tadelt der Heilige Geist einige der Mitglieder der Kirche von Pergamon, weil sie "Götzenopferfleisch" essen (Offb 2,14). Der Heilige Geist tadelt dann auch den Bischof der Kirche von Thyatira, weil er eine Lehre zuließ, nach welcher es zulässig ist, "Götzenopferfleisch zu essen" (Offb 2,20). In gewisser Weise lehrte der Bischof von Thyatira, dass die Unterschiedlichkeit der Religionen legitim und von Gott gewollt ist. Damals stellten Speiseopfer für heidnische Gottheiten und deren Verzehr objektiv "Zeichen und Riten, sakrale Ausdrucksformen" einer nichtchristlichen Religion dar. Unser Herr Jesus Christus und Seine heiligen Apostel würden die Aussage verabscheuen, nach der Gottes Wirken in der heidnischen Religion ihrer Zeit die Tendenz habe, "Zeichen und Riten, sakrale Ausdrucksformen hervorzubringen, die anderen eine gemeinschaftlichen Erfahrung eines Weges zu Gott vermitteln können", wie es Papst Franziskus im oben erwähnten Absatz behauptet.
Aber es trifft doch zu, dass Nichtchristen, "wenn sie treu zu ihrem Gewissen stehen, ... durch Gottes Gnade gerechtfertigt werden können"?
Ja, tatsächlich, jemand, der seinem Gewissen in unüberwindbarem Unwissen folgt, kann durch das Blut Christi - auf eine Weise, die nur Gott kennt - gerettet werden. Papst Pius IX. hat uns zu diesem Thema eine klare Lehre hinterlassen: "Es ist wohlbekannt, dass jene, die schuldlos unsere heilige Religion nicht kennen, aber das Naturgesetz und seine von Gott in die Herzen aller Menschen eingeprägten Gebote beobachten und bereit sind, Gott zu gehorchen und ein rechtschaffenes, aufrechtes Leben zu führen, das ewige Leben durch die wirkende Kraft des göttlichen Lichtes und der Gnade erlangen können. Denn Gott wird in Übereinstimmung mit seiner unendlichen Güte und Barmherzigkeit nicht zulassen, dass jemand, der nicht einer willentlichen Verfehlung schuldig ist, ewige Bestrafung erleidet" (Enzyklika Quanto Conficiamur Moerore: DS 2866). Die Behauptung jedoch, dass Menschen durch "Zeichen und Riten, sakrale Ausdrucksformen" und "gemeinschaftliche Erfahrungen" einer nichtchristlichen Religion ein Weg zu Gott vermittelt werden kann, ist theologisch falsch und widerspricht eindeutig den Worten der Heiligen Schrift, den Worten der Apostel und der beständigen zweitausendjährigen Lehre der Kirche.
Nichtchristen sind mit ihren "Riten" und ihren "gemeinschaftlichen Erfahrungen" nicht unterwegs zu Gott. Im Gegenteil: Aufgrund objektiv abwegiger religiöser Zeichen bewegen sie sich von Gott weg. Das haben die Apostel den heidnischen Gesellschaften und anderen Religionen immer gepredigt. Die Kirche hat das immer gelehrt, seit zweitausend Jahren.
Wir lesen dann weiter in dem von Ihnen angeführten Absatz: "Sie haben nicht die Bedeutung und die Wirksamkeit der von Christus eingesetzten Sakramente, können aber Kanäle sein, die der Geist selber schafft, um die Nichtchristen vom atheistischen Immanentismus ... zu befreien." Solch eine Behauptung ist ein Bruch mit der unveränderten Lehre der Kirche und der Apostel selbst. Diese "Riten" können keine "Kanäle für den Heiligen Geist" sein, denn sie stehen in sich dem Willen Gottes entgegen. Sämtliche nichtkatholischen Religionen und ihre religiösen Zeichen sind per se im Widerspruch zum Willen Gottes. Insofern können sie keine Kanäle des Heiligen Geistes sein. Es gibt keine Religionsvielfalt oder eine Vielfalt nichtchristlicher religiöser Riten, die von Gott positiv gewollt ist.
Wie steht es dann aber mit der naturgegebenen Neigung des Menschen, wie sie von seinem Schöpfer beabsichtigt ist, Gott in dem Maße anzubeten, wie er Ihn erkennt? Ist das nicht etwas Gutes und Positives, das von Gott gewollt ist?
Wir sprechen hier nicht von natürlicher Religion, sondern von anderen und deshalb falschen Religionen. Der natürliche Akt der Gottesanbetung ist ein individueller Akt des Gewissens, nicht aber Teil eines bestimmten religiösen Systems. Die natürliche Gotteserkenntnis ist normalerweise individuell: Ein Mensch weiß in seiner Seele, dass es einen Gott gibt, unabhängig, welcher Religion er angehört. Es ist nicht ausgeschlossen, dass einige Angehörige anderer Religionen - beispielsweise einfache Muslime, die in der Moschee beten - in ihrer Seele entsprechend ihrer natürlichen Erkenntnis den einen wahren Gott anbeten. In diesem äußerlichen Ritual betet er vielleicht tatsächlich Gott wahrhaft an, allerdings dann nicht wegen dieses Rituals, sondern weil er in seiner Seele, entsprechend seiner Vernunft, Gott erkennt und verehrt. Diese Rituale können ihn vielleicht daran erinnern, Gott anzubeten, aber er betet zu Gott in diesem Augenblick entsprechend seiner natürlichen Erkenntnis, in seinem Herzen.
Ein solcher Fall wäre beispielsweise eine unschuldige heidnische Person, die den einen Gott anbeten möchte, den sie aufgrund ihrer Vernunft erkennt, wobei sie allerdings an den Riten und Symbolen ihrer eigenen heidnischen Religion (beispielsweise am Opfern von Tieren) teilnimmt. Diese unschuldige heidnische Person kann in ihrer Seele den wahren Gott anbeten, allerdings nicht wegen der heidnischen Riten, sondern wegen ihrer Vernunft und ihrer reinen Absicht. Nichtchristliche Riten als solche hingegen - beispielsweise das Tieropfer der Heiden oder das Gebetsritual in Moscheen sind Gott nicht wohlgefällig. Da das nicht die Weise ist, die Gott verlangt, können diese Rituale als solche nicht Kanäle des Heiligen Geistes sein. Das ist unvereinbar mit der Lehre des Evangeliums und der beständigen Lehre der Kirche.
Um einmal die Rolle des "Advocatus Diaboli" einzunehmen wäre es für einen Menschen nicht besser, sich einer ausgeprägten falschen Religion anzuschließen, wenn ein solcher Schritt "Nichtchristen vom atheistischen Immanentismus oder von rein individuellen religiösen Erfahrungen befreien" würde?
Diese Formulierung ist ebenfalls verkehrt. Es ist falsch, eine Person zum Mitglied einer götzendienerischen Religion zu machen, damit sie kein Atheist mehr ist. Warum ist das falsch? Weil diese Person Gott dann auf falsche Weise anbeten würde, also aufgrund ihres Götzendienstes Gott beleidigen würde.
Gott hat Seine eigenen Wege, einen Atheisten an sich zu ziehen. Jeder Mensch verfügt über Vernunft und Gott hat sein natürliches Gesetz in das Herz eines jeden Menschen geschrieben. Eine falsche Religion aber kann sogar dieses natürliche Gesetz im Herzen eines Menschen entstellen. Es ist besser, dass eine solche Person eine individuelle religiöse Erfahrung entsprechend dem natürlichen Gesetz macht, das Gott in ihr Gewissen und in ihre Seele eingeschrieben hat, als dass sie eine götzendienerische Religion praktiziert oder an Riten teilnimmt, die Gott objektiv missfallen. Wir haben nicht das Recht, etwas zu tun, das Gott objektiv missfällt, um zu einem angeblich guten Ziel zu gelangen.
Natürlich kann Gott Situationen benutzen, die objektiv Seinem Willen zuwiderlaufen, um Seelen mit Seiner Barmherzigkeit zu berühren und sie aus diesen Situationen herauszuführen, auf dass sie zur Wahrheit und Tugend gelangen mögen. Gott wird Seelen, die aufrichtig die Wahrheit suchen, nicht in falschen Religionen belassen. Allerdings bewirkt Gott das auf eine Weise, die nur Er allein kennt. Diese Sätze von Papst Franziskus in Evangelii Gaudium leisten dem Relativismus Vorschub und banalisieren die Einzigartigkeit des Weges zum Heil: des Weges, der Christus ist und Seine Kirche, die katholische Kirche, außerhalb derer es keine Wege, keine Religionen, keine religiösen Riten und keine religiösen Zeichen gibt, die Gott wohlgefallen. Sämtliche religiösen Riten und Zeichen außerhalb der katholischen Kirche nämlich, die Gott tatsächlich wohlgefallen, können nur Riten und Zeichen nichtkatholischer Christen sein, denn insofern sie wahr sind, gehören sie zur katholischen Kirche. Nach dem heiligen Augustinus haben nichtkatholische Christen, als sie die Kirche verließen, das, was sie der Kirche gestohlen hatten, zu ihrem Eigentum gemacht (vgl. Sermo 97,2).
Der natürliche Akt der Anbetung und der Erkenntnis Gottes, den Er in das Herz des Menschen eingeschrieben hat, ist Gott ebenfalls wohlgefällig, weil Er der Schöpfer des natürlichen Lichtes der Vernunft ist. Doch entsprechend dem ausdrücklichen Willen Gottes reicht das für die Erlösung nicht aus. Es kann kein natürliches Recht geben, Gott nur mit den Riten und Zeichen natürlicher Gottesverehrung zu verehren. Gott beruft jeden Menschen dazu, über die natürliche Anbetung und die natürliche Erkenntnis hinauszugehen und ausdrücklich mit übernatürlichem Glauben Seine Offenbarung und Seinen Sohn Jesus Christus als den einzigen Retter der Menschheit anzunehmen.
Häufig wird von den Leuten die Lehre des heiligen Märtyrers Justin angeführt: von den "Samen des Wortes", als sei damit gesagt: Gottes Wahrheit lasse sich überall finden, nicht ausschließlich in der christlichen Religion.
Aber dann hören Sie doch, was der heilige Justin tatsächlich sagte: "Damit wir jene Dinge befolgen können, die Gott wohlgefällig sind, und sie mittels der Fänigkeiten der Vernunft wählen, die er selbst uns verliehen hat, überzeugt uns Gott und führt uns zum wahren Glauben" (1 Apol., 10). Von Anfang an hat die Kirche immer unterschieden zwischen den Wahrheiten, die die Menschen durch die natürliche Vernunft erlangen können, wie beispielsweise viele gesunde Elemente, die sich bei nichtchristlichen Philosophen finden; und den heidnischen Religionen als solchen. Der heilige Justin vermittelte das mit seiner Lehre von den "Samen des Wortes" (logoi spermatikoi), die sich bei jedem nichtchristlichen Denker finden, wenn er sagte: "Alle Dinge, die je von Menschen zutreffend formuliert wurden, sind Eigentum von uns Christen" (2 Apoi., 13). Aus eben diesem Grund waren für den heiligen Justin die Riten und Zeichen heidnischer Religionen nicht nur sinnlos, sondern sie stellten sogar eine Beleidigung Gottes dar. Er war der Meinung, sie seien überwiegend von Dämonen erfunden, um die Menschheit zu versklaven (cf. 1 Apoi., 14). Für den heiligen Justin ist das Christentum "die einzige sichere und wertvolle Philosophie" (Dial., 8).
Am 4. Februar 2019 unterzeichnete Papst Franziskus während eines interreligiösen Treffens in Abu Dhabi die "Erklärung zur Geschwisterlichkeit aller Menschen'; zusammen mit Ahmad AITayyeb, dem Großimam der ägyptischen AI-Azhar-Moschee. Die gemeinsame Erklärung löste eine Kontroverse aus, weil sie einen Passus enthielt, in welchem viele den Kern eines religiösen Indifferentismus erkannten. Es heißt da: "Der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache entsprechen dem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat." Während einer Pressekonferenz auf seinem Rückflug aus den Vereinigten Arabischen Emiraten klärte Papst Franziskus die Journalisten auf, das Dokument bewege sich "nicht einen Millimeter über das Zweite Vatikanische Konzil hinaus': Wie beurteilen Sie diese Behauptung?
Die Wurzel der gegenwärtigen religiösen Gleichgültigkeit oder der Theorie der angeblichen Gottgewolltheit anderer Religionen findet sich in einigen zweideutigen Formulierungen der Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils - vor allem in seiner Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate. So stellt beispielsweise das Konzil mit Blick auf den Buddhismus unkritisch fest, dass damit "ein Weg gelehrt [wird], auf dem die Menschen mit frommem und vertrauendem Sinn entweder den Zustand vollkommener Befreiung zu erreichen oder - sei es durch eigene Bemühung, sei es vermittels höherer Hilfe - zur höchsten Erleuchtung zu gelangen vermögen" (Nr. 2). Papst Benedikt XVI. hat selbst auf die Schwäche dieses Konzilsdokuments hingewiesen: Der Text "spricht von Religion nur positiv und lässt dabei die kranken und gestörten Formen von Religion beiseite" (Schreiben von Papst Benedikt XVI. zum 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Vatikanischen Konzils). Ebenfalls zweideutig ist die bereits erwähnte Aussage von Lumen Gentium Nr. 16, in der es heißt, wir Katholiken und die Muslime würden zusammen den einen Gott anbeten ("nobiscum Deum adorant").
Die andere Wurzel, die wir ebenfalls bereits erwähnt haben, findet sich in der Behauptung von Dignitatis Humanae, dass auch die Wahl einer falschen Religion - wozu auch die Anbetung der "höchsten Gottheit" (Dignitatis Humanae, Nr. 4) gehört - ein natürliches Recht des Menschen ist ("in ipsa eius natura": Dignitatis humanae, Nr. 2). Das natürliche Recht des menschlichen freien Willens besteht allerdings nur in der Wahl dessen, was moralisch und intellektuell gut ist, also in der Wahl der Tugend und der einen wahren Religion, und nicht lediglich der "höchsten Gottheit". Der Missbrauch des freien Willens als solcher, das Böse (Sünde) und den Irrtum (eine falsche Religion) zu wählen, ist von Gott niemals ausdrücklich gewollt. Daher kann die Wahl einer Sünde oder eines Irrtums, wie etwa einer falschen ReligIon, nie Ausdruck eines natürlichen Rechts sein ("in ipsa eius natura). Sonst müsste man sagen, Ehebruch, homosexuelle Akte, Mord, Lüge, Götzenverehrung, Gotteslästerung seien ein natürliches Recht des Menschen. Es gibt kein natürliches Recht, Jesus Christus zu schmähen und zu lästern, wie es beispielsweise in bestimmten "Zeichen und Riten" nichtchristlicher und sogar auch monotheistischer Religionen geschieht. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an die Worte von Papst Pius VI., der im Jahr 1794 die zweideutige Sprache der sogenannten Synode von Pistoia verurteilte. Er stellte fest, dass Mehrdeutigkeit "in einer Synode nicht geduldet werden kann, deren Lob ja besonders darin besteht, dass sie beim Lehren jene klare Weise des Ausdruckes einhalte, welche keine Gefahr des Anstoßes mehr zurücklässt" (Bulle Auctorem fidei).
Die von Papst Johannes Paul II. abgehaltenen interreligiösen Begegnungen in Assisi trugen stark zu einem weiteren Wachstum und zur Verbreitung eines religiösen Indifferentismus bei und sogar innerhalb der Kirche zu der Auffassung, dass alle Religionen letztlich gleich sind. Diese interreligiösen Begegnungen in Assisi fanden ihre logische Fortsetzung im interreligiösen Dokument von Abu Dhabi vom 4. Februar 2019, unterzeichnet von Papst Franziskus, in welchem es heißt, dass "der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache ... dem weisen göttlichen Willen [entsprechen] ".
In den Vorbereitungsdokumenten zur bevorstehenden Bischofssynode über die Amazonasregion (die vom 6.-27. Oktober 2019 im Vatikan stattfindet) wird großer Wert darauf gelegt, auf die "Stimme" der eingeborenen Völker zu hören. Einige gehen so weit zu sagen, dass sie einfach aufgrund ihres sozialen Miteinanders vom Heiligen Geist bewegt sind. Außerdem wurde formuliert, ihre Kulturen als solche seien "epiphanisch" und müssten Katholiken evangelisieren. Vor dem Hintergrund Ihrer mehrjährigen Erfahrung pastoraler Arbeit in Brasilien und aus der Perspektive des katholischen Glaubens - halten Sie solche Feststellungen für gefährlich?
Wir dürfen die Tatsache nicht vergessen, dass heidnische Religionen als solche sowie Kulturen, die auf Götzenanbetung gründen, kein Keim und auch keine Frucht göttlicher Offenbarung sein können, denn Götzenanbetung, Animismus und Zauberei, die in Eingeborenenkulturen im Amazonasgebiet eine große Rolle spielen, sind geistige Trugbilder, die die Evangelisierung und das ewige Heil ihrer Anhänger ausschließen. Unser Herr hat den Ausdruck "Evangelisierung" selbst geprägt (vgl. Mt 11,5; Mk 16,15; Lk 4,18) und ihm eine genaue Bedeutung gegeben: Es ist der Auftrag, Seine göttliche Offenbarung an die Menschen aller Kulturen und Religionen weiterzugeben (vgl. Mk 13,10; Mt 28,19). Das ist seit je der Auftrag der Kirche und er darf nicht verändert werden. Kulturen und Religionen, die die göttliche Offenbarung und den Auftrag Christi nicht empfangen haben, sind nicht dazu in der Lage, die Kirche zu "evangelisieren".
Natürlich können allgemeine, vernünftige menschliche Werte und dementsprechendes Verhalten aus jeder Kultur auch uns Katholiken belehren. Ich erinnere mich an eine bewegende Erfahrung aus meiner seelsorglichen Erfahrung in Brasilien. Eines Tages kam eine fromme einheimische Katholikin zu mir; weinend erzählte sie mir von ihrem Leid. Sie erzählte mir, in ihrem Stamm sei es Sitte, dass man einen vornehmen Gast mit vorher gewaschenen Händen empfängt. Sie hatte das immer so gehalten, wenn ein solcher Gast in ihr Haus kam. Einige Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatte ihr Pfarrer, ein europäischer Missionar, eine Ankündigung gemacht; er sagte, ab dem nächsten Sonntag "müsst ihr alle die Kommunion in die Hand empfangen, denn die Kirche will es so". Diese fromme einheimische Frau war völlig schockiert, denn sie konnte sich - aufgrund ihrer Erfahrungen in ihrer Kultur - nicht vorstellen, dass jemand unseren Herrn während der heiligen Kommunion mit ungewaschenen Händen empfängt. Sie suchte den Pfarrer also auf und erklärte ihm ihren Kummer, sie sagte: "Hochwürden, ich kann unseren Herrn nicht in meine Hand empfangen, denn das steht im Widerspruch zu den kulturellen Bräuchen meines Stammes." Der Pfarrer erwiderte darauf: "Du musst wissen, dass unser Herr die heilige Kommunion nie auf die Zunge gab." Die Frau fragte: "Hochwürden, wo steht das geschrieben?" Er antwortete: "Du kennst ja die Bibel nicht! Beim Letzten Abendmahl gab unser Herr die heilige Kommunion den Aposteln in die Hand." Die gute Frau erwiderte: "Hochwürden, ich gehöre aber nicht zur Schar der AposteL" Worauf er sagte: "Ich akzeptiere dein Argument nicht, das sich auf deine Stammesbräuche stützt. Ich werde dir die heilige Kommunion nur in die Hand geben."
Dieser europäische Priester, der sich in anderen Fällen dafür aussprach, dass es nötig ist, gewisse Elemente der Spiritualitäten der heidnischen Kulturen der Amazonasvölker zu übernehmen, wies auf despotische Weise - als ein wahrer neuer Pharisäer und Pelagianer - dieses Zeichen eines in der Kultur authentisch verwurzelten Glaubens zurück. Ich hoffe, die bevorstehende Synode wird in der Lage sein, auf jene Elemente der Kulturen des amazonischen Volks zu hören, die die Wahrheit des katholischen Glaubens, den wahren übernatürlichen Geist und die tiefe Ehrfurcht in der Liturgie fördern werden, so wie sie in der Kirche von Menschen aller Kulturen gelebt wurden.
Wie kann die Kirche am besten auf den zunehmenden religiösen Indifferentismus reagieren?
Wir müssen alle Nichtchristen auf den einen wahren Weg zu Gott rufen und das ist die katholische Kirche. Die Apostel und die gesamte Kirche lehrten das seit zweitausend Jahren. Die Kirche kann sich nicht zweitausend Jahre lang geirrt haben.
Die echte Gefahr religiöser Gleichgültigkeit und eines dogmatischen Relativismus sollte uns tatsächlich zu denken geben. Gleichgültigkeit und Relativismus werden durch einen falschen Ökumenismus und zweideutige interreligiöse Aussagen gefördert. Aus der Lektüre unterschiedlicher Bücher sind mir vor allem die beiden folgenden Passagen in Erinnerung geblieben.
1862 notierte sich Eliphas Levi - geboren als Alphonse Louis Constant, ein vom Glauben abgefallener katholischer Diakon, der später Freimaurer und Okkultist wurde - folgenden Traum: "Es kommt der Tag, an welchem der Papst, inspiriert vom Heiligen Geist, erklären wird, dass sämtliche Exkommunikationen aufgehoben, sämtliche Kirchenbannsprüche zurückgenommen werden; der Tag, an welchem alle Christen in der Kirche vereinigt sein werden, an welchem die Juden und Muslime gesegnet und zur Kirche zurückgerufen werden. Die Kirche wird zwar die Einheit und Unantastbarkeit ihrer Dogmen beibehalten, doch wird sie sämtlichen Sekten erlauben, sich ihr schrittweise zu nähern, und sie wird die gesamte Menschheit in der Gemeinschaft ihrer Liebe und ihrer Gebete umarmen. Dann wird es keine Protestanten mehr geben. Denn gegen wen könnten sie noch protestieren? Der Papst wird dann der wahre König der religiösen Welt sein und er wird mit allen Völkern der Erde tun, was ihm beliebt. Es ist nötig, dass dieser Geist universaler Liebe verbreitet wird" (Cours de philosophie occulte d'Eliphas Levi, 21. Januar 1862. Der Text wurde in der Zeitschrift Initiation et Science 58 [Juli-September 1963] veröffentlicht). An anderer Stelle schrieb Levi: "Wann wird dem Papst die Krone zurückgegeben? Wenn er sich mit dem Fortschritt versöhnt hat. Das Kreuz wird geschnitzt im Spiel der Messer. Die Märtyrer werden die Welt anbeten. Durch wen wird das Ende unserer Nöte kommen? Durch einen großen Papst, der von einem großen König unterstützt wird, und gemeinsam bringen sie Fortschritt und Glauben." (Philosophie occulte. Première série. Fables et symboles avec leur explication (Paris, 1862),471-472).
Levis Traum erinnert mich an eine höchst bedenkenswerte Darstellung in dem apokalyptischen Roman Juana Tabor 666, verfasst 1942 von Gustavo Adolfo Martínez Zuviria (alias Hugo Wast) , einem argentinischen Romancier und frommen Katholiken. Eine der Hauptfiguren des Romans, Fray Simon, ein Ordenspriester aus Buenos Aires, will unbedingt Papst werden. Dafür lässt er sich sogar von Juana Tabor helfen, der mächtigsten Frau des antichristlichen Weltbundes. In seiner Klosterzelle in Buenos Aires führt Fray Simon folgendes Selbstgespräch: "Ich trage in mir all die Kräfte eines neuen Glaubens. Es ist meine Mission, die Religionen auf dem Gebiet von Dogma, Politik und Gesellschaft auf den neuesten Stand zu bringen. Ich fühle mich bis ins Mark als Priester, allerdings habe ich vom Herrn ein göttliches Geheimnis empfangen: Die Kirche von heute ist nichts weiter als das Samenkorn der Kirche der Zukunft, einer Kirche, in der es drei Kreise geben wird: Zum ersten Kreis werden Katholiken und Protestanten gehören; zum zweiten Juden und Muslime; zum dritten Götzenanbeter, Heiden, ja sogar Atheisten. Ich selbst werde in meiner Person das vollkommene Reich Gottes beginnen lassen ... Ich bin der erste Sohn eines neuen Bundes."
Vorhin erwähnten Sie die Treffen in Assisi. Meinen Sie, dass in ihnen die Visionen von Eliphas Levi und Hugo Wast zum Leben erweckt wurden?
Seit dem Konzil entstand aus dem interreligiösen Dialog eine der größten Gefahren innerhalb der Kirche. Die Art, wie dieser Dialog geführt wurde, vor allem in den Assisi - Treffen von Johannes Paul II. und Benedikt XVI., war - bedenkt man ihre Ergebnisse - Ausdruck einer Relativierung der Einzigartigkeit von Christus und Seiner Kirche für das ewige Heil der Seelen. Es handelt sich um eine Relativierung der biblischen Wahrheit, dass Christus der einzige Retter ist und dass alle, die keine Christen sind, Christus als ihren Gott und Retter anerkennen und Ihn anbeten müssen, um gerettet zu werden. Die Pflicht und unaufgebbare Sendung der Kirche ist es, diese Wahrheit sämtlichen Nichtchristen ganz offen und klar zu verkünden. Diese Pflicht wurde jedoch relativiert. Kleriker in der Kirche unserer Tage begehen meiner Meinung nach eine große Unterlassungssünde, indem sie es versäumen, sämtlichen Nichtchristen - so wie die Apostel es taten - Christus zu verkünden. Interreligiöse Begegnungen wie diejenigen in Assisi vermitteln der gesamten Welt die Botschaft, dass die katholische Religion mit anderen Religionen auf einer Ebene steht, als Mitglied einer Art "Parlament der Weltreligionen". 1893 fand in Chicago zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums ein interreligiöses Treffen von Führern der Weltreligionen unter der Bezeichnung "Parlament der Weltreligionen" statt. Am Schluss dieses Treffens missbilligte Papst Leo XIII. die Teilnahme von Katholiken an dergleichen Zusammenkünften und verbot für die Zukunft Aktivitäten ähnlicher Art.
Auf dem Areopag in Athen sprach der heilige Paulus zu den Heiden über Christus. Er sprach von Umkehr und von der Auferstehung Christi. Und wie sah die Reaktion aus? Sie lachten ihn aus, sie verspotteten ihn und andere sagten zu ihm: "Darüber wollen wir dich bei anderer Gelegenheit anhören" (Apg 17,32). So sieht die Reaktion der Welt aus. Doch Paulus - wie auch alle Apostel - hörte nicht auf, den Ungläubigen Christus zu predigen. Mit demselben Eifer müssen auch wir den anderen Religionen Christus predigen, mit Liebe natürlich, ohne Druck. Das ist kein Proselytismus. Wenn ich mit Respekt und Liebe darüber predige, dass Christus der einzige Erlöser ist, dass Er gemäß dem Willen Gottes der einzige Weg ist zum ewigen Heil, dann betreibe ich keinen Proselytismus. Wir müssen diese Wahrheit allen Nichtchristen verkündigen: zuerst den Juden, dann den Muslimen, den Buddhisten, allen und jedem.
Die Art von interreligiösem Dialog, wie sie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil üblich ist, erweckt den Eindruck, dass wir alle auf parallelen Bahnen zum selben Gott unterwegs sind, dass wir alle dasselbe Ziel erreichen werden und dass wir darüber nicht besorgt sein müssen, wenn es immer noch Menschen anderer Religionen gibt, die Christus nicht kennen oder nicht annehmen wollen. Wir müssen nur nett und tolerant miteinander umgehen und Ziele verfolgen wie "Menschliche Brüderlichkeit für den Weltfrieden und das Zusammenleben".
Aber eine so kleinmütige Haltung ist ein Verrat am Evangelium. Wir müssen die Methode des interreligiösen Dialogs verändern. Wenn die Apostel so vorgegangen wären, hätten sie nicht so viele Menschen zu Christus bekehrt. Sie wären nicht als Märtyrer, sondern in ihren Betten gestorben.
Wie würden Sie die Methode der Kirche für interreligiösen Dialog verändern?
Erstens würde ich die Formulierung "interreligiöser Dialog" vermeiden. Diese Formulierung ist irreführend. Sie wirkt relativierend. Die offiziellen Beziehungen zu und Begegnungen mit nichtchristlichen Religionen sollten unter dem Aspekt der Kultur stattfinden, wie Kardinal Joseph Ratzinger es einmal gefordert hat. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass mehrere nichtchristliche Religionen Götzen verehren und Kultformen haben, die Gott beleidigen. Faktisch haben sämtliche nichtchristlichen Religionen falsche Kultformen, die Gott missfallen, abgesehen nur von jenen Individuen, die Gott aufgrund ihrer natürlichen Vernunft und nicht aufgrund ihrer falschen Religion verehren. Wir haben das bereits angesprochen. Und dennoch ist es nicht der Wille Gottes, dass sie Ihn nur mit ihrer Vernunft verehren. Gott will, dass sie Ihn als den dreieinen Gott anbeten, als die Heilige Dreifaltigkeit, mit dem übernatürlichen Glauben an Seine Offenbarung.
Nur jene, die getauft sind, glauben an die Heilige Dreifaltigkeit.
Oder jene, die die Taufe suchen und sie begehren.
Wir müssen also zuerst das Problem des sogenannten interreligiösen Dialogs klären und einen neuen missionarischen Eifer anfachen, um Christus den Juden, den Muslimen, den Buddhisten, den Hindus zu predigen - allen, die Ihn noch nicht kennen. Und zweitens, wenn wir in einen ernsthaften Dialog mit Nichtchristen eintreten, dann müssen wir uns gut darauf vorbereiten. Wir sollten uns nicht nur einfach so treffen, eine gemeinsame Erklärung abgeben und den Eindruck vermitteln, dass wir die Einzigartigkeit Christi und Seiner Kirche relativieren. Wir sollten sagen: Wir wollen uns treffen, um uns mit Respekt und Liebe gegenseitig die Wahrheit vorzustellen, an die jeder von uns glaubt; wir wollen über die gemeinsamen moralischen und kulturellen Werte sprechen, um eine Gesellschaft zu schaffen, die der Menschenwürde wahrhaft angemessen ist.
Das wäre fruchtbar.
Ich würde mich für Begegnungen mit Vertretern anderer Religionen aussprechen, um Angelegenheiten des menschlichen Lebens zu besprechen, des Naturgesetzes, des harmonischen Zusammenlebens auf der bürgerlichen Ebene. In Kasachstan machen wir das. Kürzlich organisierte beispielsweise unsere Regierung einen Runden Tisch zum Thema der Unsittlichkeit der Korruption im öffentlichen Leben und lud dazu Vertreter der unterschiedlichen Religionen ein. Ich habe an diesem Treffen teilgenommen. Wir haben über das Übel der Korruption gesprochen und im Blick auf dieses Thema stimmten wir hundertprozentig überein. Zu meinem Erstaunen zitierten die muslimischen Regierungsbeamten, die dem Treffen vorstanden, in ihren Beiträgen die Bibel, ja sogar das Neue Testament. Sicherlich können wir über dergleichen Themen interreligiöse Begegnungen abhalten.
Über Themen wie Familie, Abtreibung ...
Genau - und damit könnten wir alle einen wertvollen Beitrag leisten - und nicht indem wir uns auf einen interreligiösen Dialog einlassen, der Christus relativiert; das stiftet nur Verwirrung. Es wäre besser, Studienbegegnungen anzubieten. Wir könnten auch einen Nichtchristen einladen, an einer katholischen Universität Katholische Theologie zu studieren, damit er mit der katholischen Religion vertrauter werden kann, sie tiefer verstehen lernt. Allerdings müssten wir bei der Auswahl der Universität Vorsicht walten lassen - es müsste eine Universität sein, die noch die Unversehrtheit der katholischen Lehre und Liturgie aufrechterhält. Wir könnten sagen: "Bitte, liebe muslimische oder buddhistische oder hinduistische Freunde, kommt, wir helfen euch gerne, zu erfahren, was katholische Religion ist." In einigen Fällen, wenn jemand aufrichtig die Wahrheit sucht, könnten wir vielleicht sogar ein Stipendium anbieten.
Wir müssen jede Möglichkeit ergreifen, Christus zu verkünden. So wurde es in der katholischen Kirche seit der Zeit der Apostel und der großen heiligen Missionare der vergangenen zweitausend Jahre immer gehalten. Wir sollten eine aufrichtige Freundschaft mit nichtchristlichen Bürgern in unseren jeweiligen Heimatländern pflegen. Natürlich müssen wir jeden Anschein von Synkretismus oder Relativierung vermeiden. Wir würden uns also nicht mit ihnen auf gemeinsame Gebete oder dergleichen einlassen. Das widerspricht unserem Glauben, denn sie beten nicht zur Heiligen Dreifaltigkeit, wir hingegen beten immer zur Heiligen Dreifaltigkeit.
Was halten Sie vom gemeinsamen Gebet mit den Juden?
Praktizierende Juden, geistige Nachfahren der Pharisäer und der talmudischen Rabbis, lehnten Jesus als Messias ab und tun das noch heute und sie lehnen ausdrücklich die Heilige Dreifaltigkeit ab. Als Christen beten wir immer zur Heiligen Dreifaltigkeit. Man kann nicht sagen: "Heute bete ich nur zu dem Einen Gott des Alten Testaments oder zum Schöpfer." Das wäre Glaubensabfall. Das zentrale Geheimnis unseres Glaubens sagt, dass die drei göttlichen Personen unaussprechlich miteinander vereint sind. Jede der drei Personen ist gegenwärtig und lebt jeweils in den beiden anderen. Die katholische Theologie bezeichnet diese Wahrheit als die "circumincessio" der drei göttlichen Personen. Jedes Gebet, das wir sprechen, beginnen wir mit dem Zeichen des Kreuzes und der Anrufung der Heiligen Dreifaltigkeit. Deshalb können wir nicht mit den Juden beten, die die Heilige Dreifaltigkeit und das Kreuz ablehnen. Wir könnten vielleicht ausnahmsweise, beispielsweise bei einem Unglück oder einer Naturkatastrophe, die Psalmen mit ihnen rezitieren, die wir ja gemeinsam haben. Wir könnten zusammenkommen und zu Gott beten mit einem entsprechenden Psalm, mit dem wir um die Barmherzigkeit und Hilfe Gottes bitten.
Auf der Grundlage Seines Bundes mit ihnen rief Gott die Juden dazu auf, Christus, Seinen göttlichen Sohn, anzunehmen. Gott ist Seinem Bund mit den Juden weiterhin treu, immer noch ruft Er sie dazu auf, die Erfüllung dieses Bundes im Neuen und Ewigen Bund Seines Sohnes anzunehmen. Die göttliche Offenbarung erklärt durch den Mund des heiligen Apostels Paulus, dass der Erste Bund nur ein "Erzieher" war (vgl. Gal 3,23-25) und dass "durch Werke des Gesetzes, des Alten Testaments, niemand gerechtfertigt wird, denn die Rechtfertigung vor Gott kommt durch den Glauben an Jesus Christus, offenbart für alle, die glauben, denn es gibt keinen Unterschied" (vgl. Röm 3,20-22). Das gesamte Alte Testament, der Erste Bund, war der typus futuri, Typus und Vorausbild des zukünftigen Neuen und Immerwährenden Bundes, wie der heilige Ambrosius es ausdrückte. Der heilige Leo der Große übermittelte dieselbe Lehre der Apostel, indem er erklärte, dass sich mit dem Tod unseres Herrn Jesus Christus eine Übertragung vom Gesetz auf das Evangelium ereignete, von der Synagoge auf die Kirche, von vielen Opfern zum Einen Opfer (vgl. Serm. 68,3).
Prägnant formulierte der heilige Thomas von Aquin dieselbe Wahrheit, wenn er sagte: "Wie also jener schwer sündigen würde, der da sagte, Christus werde noch geboren werden, obwohl die alten Väter es als eine Wahrheit aussprachen; so würde schwer sündigen, wer jetzt jene Zeremonien beobachtete, welche die Väter pflichtgemäß beobachteten" (Summa theologiae I-II, q. 103, a. 4). Das Konzil von Florenz streicht die unwandelbare und immerwährende Lehre des Evangeliums heraus, indem es feststellt, dass nach dem Leiden Christi niemand seine Hoffnung in die Gesetzesvorschriften des Alten Testaments setzen und sich ihnen als Heilsnotwendigkeiten unterwerfen kann. Wenn ein Mensch nach der Verkündigung des Evangeliums nicht an Christus glaubt und sich stattdessen an die Gesetzesvorschriften des Alten Testaments hält, geht er des ewigen Heils verlustig (vgl. Eugen IV., Bulle Cantate Domino), (Dieses Dokument sagt sogar: "Sie [die Kirche ] lehrt also, dass alle, die nach diesem Zeitpunkt die Beschneidung, den Sabbat und die übrigen Gesetzesbräuche beachten, vom Glauben an Christus ausgeschlossen sind und keineswegs des ewigen Heiles teilhaftig sein können.«). Pius XII. brachte dieselbe immerwährende Lehre zum Ausdruck: "Das Neue Testament trat an die Stelle des alten Gesetzes, das aufgehoben wurde" (Enzyklika Mystici corporis, 29).
Die heutigen Juden sind Gottes Bund nicht treu, wenn sie weiterhin dessen Ziel und Ende ablehnen: den Bund Seines Sohnes Jesus Christus. Die Worte des heiligen Stephanus, des Erzmärtyrers, die er an die Juden seiner Zeit richtete, welche es ablehnten, an Jesus Christus zu glauben, bleiben gültig und beziehen sich auch auf die heutigen Juden: "Ihr Halsstarrigen, unbeschnitten an Herzen und Ohren! Immerzu widersetzt ihr euch dem Heiligen Geist, eure Väter schon und nun auch ihr. Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Sie haben jene getötet, die die Ankunft des Gerechten geweissagt haben" (Apg 7,51-52).
Ich möchte doch noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob Katholiken mit Juden zusammen beten können. Könnten Sie sich eine Gebetszusammenkunft mit Juden vorstellen, in welcher Psalmen und Lesungen aus dem Alten Testament sowie Lesungen aus dem Neuen Testament vorgetragen werden?
Das wäre verwirrend und relativierend, weil wir damit zum Ausdruck brächten, dass es parallele Wege zum Heil gibt. Aber es gibt keine parallelen Wege zum Heil. Die gesamte Bedeutung des Alten Testaments lag in der Erfüllung in Christus, im Neuen Testament. Es war der Wille Gottes, dass das gesamte Volk Gottes zu Seinem Neuen und Ewigen Bund überwechselte: zu dem Bund Gottes, der noch immer Bestand hat; Gott ruft alle Juden auf, den neuen Bund anzunehmen. Das Alte Testament hat noch Gültigkeit als Offenbarung Gottes, die sich im Neuen Testament erfüllt hat. Deshalb trifft es nicht zu, dass die Juden, die Christus ablehnen, noch immer im Bund mit Gott leben. Nein: Sie haben die göttliche Erfüllung des Bundes mit Gott abgelehnt, sie waren dem Willen und Ruf Gottes ungehorsam, wurden Seinem Bund untreu, denn der alte und der neue Bund können nicht voneinander getrennt werden und bilden - wie es ja auch der göttlichen Offenbarung entspricht - letztlich nur einen einzigen Bund. Wir müssen das mit aller Klarheit und Liebe feststellen. Und deshalb sollten Katholiken nicht in der Art, wie Sie es beschreiben, mit Juden zusammen beten.
Ich hatte eine Gebetserfahrung bei einer Veranstaltung mit der jüdischen Gemeinde in Kasachstan. Am Holocaust-Gedenktag organisierte die israelische Botschaft in Astana im Theater eine Gedenkveranstaltung. Während der Veranstaltung wurden historische Aufnahmen vom Holocaust gezeigt und mehrere Reden gehalten. Daran schloss sich ein Gebet für die Opfer des Holocaust an. Die Botschaft bat mich, das Gebet für die Opfer zu leiten. Ich war einverstanden und wählte Psalm 129, das De Profundis, ein Gebet für die dahingeschiedenen Seelen, und Psalm 42 Iudica me Deus. Es war eine weltliche Veranstaltung, doch hatte sie auch ein religiöses Moment. Es war kein gemeinsames Gebet. Ich rezitierte die Psalmen allein und sprach ein Gebet für den ewigen Frieden der Seelen der Verstorbenen.
In dieser Situation war es ganz klar, dass Sie jüdische und christliche Gottesverehrung nicht vermischten. Jeder wusste, wer Sie sind, und Sie haben Ihre Worte mit Bedacht gewählt, sodass sie nichts aussagten, was mit dem Katholizismus unvereinbar gewesen wäre.
So ist es.
Die Verwirrung, die sich wegen unangemessener interreligiöser Veranstaltungen und Diskussionen ausbreitet, ist eine der tiefsten Krisen in der heutigen Kirche. In gewisser Weise handelt es sich um einen Verrat an Christus. Praktisch - und hoffentlich nicht absichtlich - wird Christus mit anderen Religionen auf ein und dieselbe Ebene gestellt. Damit verliert man den echten missionarischen Eifer, der die Apostel, die Kirchenväter und die großen heiligen Missionare inspiriert hat. Wir müssen unbedingt zu diesem missionarischen Eifer zurückkehren. Der Mangel an Eifer ist eine tiefe Wunde in der Kirche. Das ist die Frage aller Zeiten: entweder Christus oder nichts. Die Einzigartigkeit Christi und Seiner Kirche ist das Herz des gesamten Evangeliums. Wir müssen dringend zum katholischen missionarischen Eifer aller Zeiten zurückkehren.
III. DER MOND WIRD KEIN LICHT MEHR GEBEN
7. Verlust des Übernatürlichen
Man gewinnt den Eindruck, dass viele Probleme in der Kirche und in der Gesellschaft von heute auf einen Verlust hinauslaufen - Verlust nicht nur eines Gespürs für die Natur, was wir bereits angesprochen haben, sondern auch eines Gespürs für die Gnade, für das Übernatürliche; ja sogar Verlust der Unterscheidung zwischen Natur und Gnade.
Ich glaube, die tiefste Wurzel der Probleme und der Krise in der Kirche ist die Schwächung des Übernatürlichen und in gewissen Fällen auch dessen gänzlicher Verlust. Man kann sagen, die schwerwiegendste Folge der Erbsünde, der ersten Sünde des Menschen - Adams und Evas -, kommt in einer Flucht vor Gott zum Ausdruck. Adam und Eva flohen. Wenn Sie aus der Gegenwart Gottes fliehen, dann geben Sie das Übernatürliche auf - das innerste Wesen Gottes ist übernatürlich. Gott ist übernatürlich. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Gott und der Schöpfung oder den Geschöpfen ist diejenige zwischen Übernatürlich und Natürlich.
Die gefährlichste Täuschung, die wesentlichste Lüge, die der Teufel, der Vater der Lüge, in den Geist Adams und Evas säte, bestand darin, dass er ihnen sagte: "Ihr werdet wie Gott sein." Worin besteht die Täuschung? Wie Gott sein, entsprechend der Versuchung des Teufels, bedeutet den Versuch, wie Gott ohne Gott zu sein. Das ist die Täuschung und die Gefahr.
In einer seiner hinterlassenen Audio- Predigten beschrieb Erzbischof Fulton Sheen die Täuschung und die Gefahr, in welche die Menschheit seit der Renaissance langsam zu versinken begann, ganz offenkundig dann mit dem radikalen Säkularismus der Französischen Revolution. "Von nun an werden sich die Menschen in zwei Religionen spalten, verstanden wiederum als Hingabe an ein Absolutes. Der Konflikt der Zukunft ergibt sich zwischen einem Absoluten, das der Gott-Mensch ist, und einem Absoluten, das der Mensch-Gott ist; zwischen dem Gott, der Mensch geworden ist, und dem Menschen, der sich selbst zu Gott macht; zwischen Brüdern in Christus und Genossen im Antichrist" (Audio- Predigt "Signs of Our Times" über den Antichrist, im Rahmen des Radioprogramms "Light Your Lamps", ausgestrahlt am 26. Januar 1947).
Christus schenkte uns den einzigen Weg, wie Gott zu sein: das heißt, mit Gott, entsprechend dem Weg Gottes und ausschließlich diesem Weg Gottes entsprechend - das ist die Einladung zum Heil, zur Gnade, zum Übernatürlichen. Wir können Gott ähnlich werden, nicht wie Gott, aber "vergöttlicht", wie es die Kirchenväter, beispielsweise der heilige Athanasius, betont haben. Der Teufel, Satan, betrog unsere Ureltern, indem er ihnen vorspiegelte, sie könnten ohne Gott wie Gott sein.
Der Verlust des Übernatürlichen besteht darin, dass versucht wird, eine Unterscheidung aufzuheben, die zwischen Gott und den Geschöpfen nicht aufgehoben werden kann. Sämtliche Versuche, diese Unterscheidung zu verharmlosen oder zu verwischen, führen zu einem Verlust des Übernatürlichen. Zu erklären, die Natur und endliche Wirklichkeiten seien Gott, ist Heidentum und Pantheismus. Das heißt, es gibt überhaupt nichts Übernatürliches. Die Schöpfung, die Natur, die Erde werden als übernatürlich bezeichnet, aber das ist eine Lüge und hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Vor diese Versuchung sah sich der Mensch in seiner gesamten Geschichte immer wieder gestellt. Sämtliche Vorstöße des Heidentums und der Götzenanbetung haben mit der Gleichsetzung des Übernatürlichen mit dem Natürlichen zu tun - entweder indem das Übernatürliche abgeschafft oder die Natur für göttlich erklärt wird. Naturalismus erhebt auf unangemessene Weise die Schöpfung oder den Menschen, sodass er Gott wird, Herr wird, anstelle des Einzigen, der Gott und Herr ist. Wie wir bereits gesagt haben, ist Säkularismus ein Versuch, die Verbindung zwischen dem menschlichen Leben und der übernatürlichen Ordnung zu durchtrennen und jegliche Unterwerfung unter das Übernatürliche zurückzuweisen. Unabhängigkeit, Eigenständigkeit, falsche Eigenständigkeit: Das nahm seinen Anfang mit dem Humanismus in der Renaissance und setzte sich mit Martin Luther fort, insofern als Luther natürliche und endliche Realitäten unangemessenerweise unabhängig vom Leben der Gnade machte - so bezeichnete er etwa die Ehe als "ein weltlich Ding".
Luther war auch der Meinung, die menschliche Natur sei von Grund auf verderbt ...
Er verachtete die Natur. Und indem er mit seiner Lehre von der sola gratia die Natur verachtete, zerstörte er das Fundament der Gnade. Die Gnade hat ihre Grundlage in der Natur. Die Gnade macht die Natur schön, verwandelt sie von innen, erhöht sie und bringt sie zur Vollendung. Wir sehen darin einen grundlegenden Irrtum in Luthers Denken: Indem er die Natur verachtete, verachtete er letztlich die Wirklichkeit der Menschwerdung und die objektive Macht der Sakramente.
Die Bewegung des Herabstiegs, des Hineintretens, des Verwandelns und des Erhöhens entspricht genau der Bewegung der erlösenden Menschwerdung Christi.
Ja, das stimmt. Eine Form des Protestantismus, welche die Natur verachtet, verachtet eigentlich die Menschwerdung - unter dem Vorwand, mit den Grundsätzen sola fide und sola gratia nur das Übernatürliche zu betonen. Das zielt nicht auf das Übernatürliche, sondern auf ein entstelltes Übernatürliches. Die Entstellung des Übernatürlichen zeigt sich in den subjektiven Theorien, die Luther und andere protestantische Gemeinschaften im Hinblick auf die religiöse Welt entwickelt haben.
Der protestantische Weg nimmt nicht die gesamte göttliche Offenbarung und das offizielle Lehramt der Kirche zur Kenntnis' also den "inkarnatorischen" Weg, was bedeutet, dass die Zeichen des Übernatürlichen in der Natur vorhanden sind, so wie Jesus Christus Selbst, in Seiner heiligen Menschheit und in den Sakramenten und in allen Einzelheiten der Liturgie, natürliche Wirklichkeiten als Werkzeuge oder Träger der Gnade benutzt. Protestantismus wird so zu einer Art Gnosis, was bedeutet, dass man sich seine eigene geistige Welt aus religiösen Vorstellungen baut, die im eigentlichen Sinn nicht übernatürlich ist. Ich sage nicht, dass ein normaler Protestant ein Gnostiker ist. Was ich sagen möchte: Der Protestantismus geht immer mit Subjektivismus einher und mit dem Subjektivismus ist die Tendenz zur Gnosis verbunden.
Man darf also Natur und Gnade nicht verwechseln - aber gibt es zwischen ihnen nicht auch eine Spannung?
Im Katholizismus haben wir natürlich den heiligen Augustinus, den Lehrer der Gnade, der - gegen die Irrlehre des Pelagius - die Existenz des Übernatürlichen und der Gnade stark betonte. Der Pelagianismus schaffte die Unterscheidung zwischen Gnade und Natur ab, er wertete die Natur in einem solchen Ausmaß auf, dass er die Natur selbst zur Gnadenspenderin erklärte. Das ist eine Irrlehre und die Kirche hat sie verurteilt. Der heilige Augustinus kämpfte gegen diese Irrlehre an und betonte dabei das Übernatürliche so stark, dass stellenweise der Eindruck entsteht, dass er die Gnade zum Nachteil der Natur herausgestellt hat; eine leichte Tendenz ist tatsächlich vorhanden. Die Kritiker des Augustinus warfen ihm vor, er zerstöre die Natur, um die Gnade oder das Übernatürliche zu retten, aber wir müssen auf die Gesamtheit der Schriften des heiligen Augustinus schauen.
Der katholische und göttliche Weg besteht in einem et ... et, "sowohl ... als auch". Es geht um die Verbindung: Natur und Gnade - Natürliches und Übernatürliches - das Geschöpf und Gott. Natürlich gebührt auf diesem Weg Gott die Vorrangstellung - Gott, der übernatürlich, der die Quelle der Gnade ist. Durch die Gnade haben wir teil an Seinem göttlichen Leben, das Er unseren Seelen einflößt, um uns zu Seiner übernatürlichen Welt zu erheben. Gnade ist Seine göttliche übernatürliche Hilfe, die uns ständig unterstützt. Wir können ohne diese Unterstützung nicht in unsere himmlische Heimat gelangen. Wir sind zu schwach und wir brauchen ständig die Unterstützung durch die Gnade, diese göttliche Hilfe für unsere Seele und unseren Geist, auf dass unser Geist gereinigt und erhoben werde, auf dass unser Wille und unsere Neigungen gestärkt und mit dem Guten in Übereinstimmung gebracht werden, auf dass unsere Liebe wächst.
Wie empfangen wir Gnade?
Das wichtigste Mittel, um Gnade zu empfangen, ist das Gebet, denn wir sind keine willenlosen Marionetten. Gott respektiert auf eine sehr geheimnisvolle, erhabene Weise unsere Freiheit und Würde als freie Personen. Deshalb zwingt Er uns Seine Gnade, Seine göttliche Hilfe nicht auf. Er wartet darauf, dass wir Ihn darum bitten. Zu Beginn, wenn wir Ihn um Gnade bitten, hat Gott unseren Willen bereits auf geheimnisvolle Weise dazu bewegt, um Gnade zu bitten. Gott gießt Seine Gnade in unsere Seele ein entsprechend unserer Aufnahmebereitschaft und entsprechend unseren Gebeten, ohne unsere Freiheit zu verletzen. Deshalb müssen wir beten. Das ist unsere grundlegende und erste Pflicht - nicht nur das Bittgebet, mit dem wir Gnaden erbitten, sondern das Gebet der Anbetung. Die erste Aufgabe aller geschaffenen Wesen ist die Anbetung Gottes, die Anerkennung Seiner Göttlichkeit, Seiner Majestät, Seiner Größe. Der Mensch muss das anerkennen und sich Gott unterwerfen. Anbetung ist immer - im christlichen Verständnis - unsere ehrerbietige, ehrfurchtsvolle Unterwerfung als Geschöpfe und die Anerkennung der unermesslichen Majestät Gottes - in liebevoller, kindlicher Weise. Aufgrund dieser besonderen Liebe und kindlichen Beziehung zu Gott unterscheidet sich die christliche Anbetung grundlegend etwa von muslimischer oder heidnischer Anbetung.
Wir haben bereits den Islam angesprochen. Könnten Sie vielleicht in diesem Kontext noch näher ausführen, inwiefern sich das christliche Verständnis von Anbetung vom islamischen Verständnis unterscheidet?
Islam ist die Unterwerfung in knechtischer Furcht, wir Christen unterwerfen uns in kindlicher Ehrfurcht und Liebe. Wir bleiben Geschöpfe und Diener Gottes - obwohl wir durch die Taufe die Würde von angenommenen Söhnen Gottes haben. Wir müssen die Natur anerkennen, die wir nicht abschaffen können und die uns darüber belehrt, dass wir Seine Geschöpfe sind, dass wir Knechte - dass wir nichts sind; aber ebenso sagt uns der Glaube, dass wir durch die Taufe geliebte Kinder Gottes in Christus sind.
In dem geistlichen Klassiker Der Dialog sagt Gottvater zur heiligen Katharina von Siena: "Weißt du, Tochter, wer du bist und wer ich bin? Wenn du diese beiden Dinge weißt, wird dich der Teufel nicht angreifen können und du hast die Seligkeit greifbar nahe: ,Du bist die, die nicht ist, und Ich bin Der, Der ist."
Genau. Die Schöpfung ist ex nihilo und wir sind pulvis - Staub und Asche - und das ist unsere Wirklichkeit. Wir müssen das anerkennen und gleichzeitig Hoffnung und Liebe haben im Glauben, dass wir Gottes Kinder sind. Obwohl wir nichts sind - wir sind Knechte - aufgrund unserer Natur, sind wir erhoben in den Stand von Kindern Gottes, auf dass wir Ihn mit Ehrfurcht und kindlicher Hingabe lieben und anbeten.
Diese Art von Anbetung zerstört unsere Natur nicht und sie sollte nicht in einer knechtischen Haltung erfolgen, sondern mit Ehrfurcht, Liebe und Andacht - in der Erkenntnis, dass "ich nicht Gott bin". Ich bin ein Kind Gottes, aber doch auch ein Geschöpf und ich werde auf immer ein Geschöpf bleiben. Wir finden dafür ein bewegendes Beispiel in der Offenbarung des Johannes: Die Erwählten, die Heiligen, die vierundzwanzig Ältesten nehmen ihre Kronen ab, legen sie auf den Boden und werfen sich in der Gegenwart des Lammes nieder. Das Lamm ist Christus und das Lamm bedeutet auch das Geheimnis der Eucharistie.' Das ist bereits die Anbetungshaltung des Himmlischen Jerusalem, die für alle Ewigkeit andauern wird: vollkommene Hingabe, Ergebenheit, Ehrfurcht, Liebe und Anbetung.
Und in diesen Kreis treten wir während der heiligen Messe ein, auch wenn wir ihn mit unseren Augen nicht erblicken.
Sehr richtig. Um auf unser Thema des Übernatürlichen zurückzukommen: Der heilige Augustinus und die Kirche verurteilten den Pelagianismus, der eine Art Naturalismus darstellt. Seit der Zeit der Apostel hat die Kirche immer auf den Vorrang der Gnade, des Übernatürlichen Wert gelegt. Festzuhalten ist: Gott ist wichtiger, die Ewigkeit ist wichtiger als das Geschöpf und die zeitlichen Wirklichkeiten, so wie ja auch die Seele an sich wichtiger ist als der Leib, denn die Seele ist unsterblich. Und das Gebet ist wichtiger als Aktivität. Unser Herr Jesus Christus hat uns diese Wahrheit gelehrt, als Er zu der aktiven Marta sagte, dass ihre kontemplative Schwester "den besseren Teil erwählt [hat], der ihr nicht genommen werden kann" (Lk 10,42).
Säkularismus hängt mit einer Leugnung des Übernatürlichen zusammen - einer Leugnung der Möglichkeit, dass Gott, der das Übernatürliche ist, in diese Welt, in die Seelen durch die wirksame Macht der Sakramente eingreifen kann. Säkularismus, die Philosophie des Naturalismus und der gesamte Einfluss der Freimaurerbewegung auf die Kirche hat sich in der katholischen Kirche in der Bewegung des Modernismus ausgedrückt. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die Kirche in hohem Maße dem Einfluss von Säkularismus und Naturalismus ausgeliefert.
Der Modernismus ist eigentlich eine Leugnung oder eine Schwächung des Übernatürlichen, insofern als er erklärt, dass die reine Vernunft und lediglich die Geschichte die letzten Kriterien der Wahrheit sind. Das ist letztlich Hegelianismus. Kant war es, der durch die Vorrangstellung der reinen Vernunft und durch die Idee von der Unmöglichkeit, Zugang zum Metaphysischen und Übernatürlichen zu haben, den Weg für den Hegelianismus bereitet hat. All das fand in die katholische Welt Eingang und hat sich in religiöser Sprache als Modernismus umbenannt.
Die modernistische Bewegung, die es seit dem 19. Jahrhundert in der Kirche gibt, benutzte das Zweite Vatikanische Konzil als Katalysator für seine Ausbreitung. So wurde die Kirche nach dem Konzil in eine tiefe, durch Naturalismus gekennzeichnete Krise gestürzt. Es hat bis zu einem gewissen Grad den Anschein, als habe im Leben der Kirche in vieler Hinsicht das Natürliche über das Übernatürliche gesiegt. Dabei kann es sich aber nur um einen Scheinsieg handeln, denn die Kirche kann von den Kräften der Hölle nicht überwunden werden. Vorübergehend erleben wir jedoch eine Verfinsterung, eine Ausblendung des Übernatürlichen, des Vorrangs Gottes, der Ewigkeit, des Vorrangs der Gnade, des Gebets, der Heiligkeit und der Anbetung. All diese Zeichen des Übernatürlichen wurden im seelsorgerlichen Leben und in der Liturgie der Kirche unserer Tage stark eingeschränkt. Weltweit besteht die tiefste Krise der Kirche in der Schwächung des Übernatürlichen. Sie offenbart sich in einer Umkehrung der Ordnung, sodass die Natur, zeitliche Dinge und der Mensch die Vorrangstellung vor Christus, vor dem Übernatürlichen, vor dem Gebet, vor der Gnade und so weiter einnehmen. Das ist unser Problem. Jesus sagte jedoch: "Ohne mich könnt ihr nichts tun" (Joh 15,5). Die gesamte Krise in der Kirche, wie wir sie nach dem Konzil erlebten, zeigte sich in einer ungeheuerlichen Inflation frenetischer menschlicher Aktivität, um die Leere, das Vakuum von Gebet und Anbetung zu füllen, das durch die Preisgabe des Übernatürlichen entstanden ist.
Was eine Leere ist, die niemals gefüllt werden kann …
Natürlich. Trotzdem wurden Bemühungen unternommen, diese Leere zu füllen, beispielsweise mit dauernden Kirchentreffen und Zusammenkünften auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formen - ständigen Synoden. Häufig handelt es sich dabei um eine fieberhafte Tätigkeit unter einer sehr frommen Maske. Es ist Geldverschwendung; es ist Verschwendung von Zeit, die für Gebet und unmittelbare Evangelisierung genutzt werden könnte. Das Phänomen ständiger Treffen, Versammlungen und Synoden auf unterschiedlichen Ebenen ist eine Art Parlamentarisierung des Lebens der Kirche, ist also letztlich weltlich, wenn auch verschleiert mit dem eindrucksvollen Wort "Synodalität". Es gibt Bischofstreffen auf kontinentaler, regionaler und nationaler Ebene, auf subnationaler Ebene, auf diözesaner Ebene und so weiter. Wir werden mit andauernden Zusammenkünften erwürgt und jede Zusammenkunft muss Texte produzieren. Wir werden von einer gewaltigen Papierflut buchstäblich überschwemmt. Das aber ist reiner, fieberhafter Pelagianismus. Es verschlingt nicht nur Geld und Zeit, die für Evangelisierung und Gebet sinnvoller eingesetzt wären; es ist darüber hinaus auch eine außerordentlich raffinierte Methode Satans, die Nachfolger der Apostel und die Priester von Gebet und Evangelisierung abzuhalten - unter dem Vorwand einer sogenannten "Synodalität".
Es gibt lediglich eine einzige Parallele in der Geschichte der Kirche zu diesen exzessiven Bischofszusammenkünften, und das ist das 4. Jahrhundert, eben damals, als die arianische Häresie vorherrschte. Damals traf man sich auch und hielt Zusammenkünfte ab und damals sagte der heilige Gregor von Nazianz: "Ich habe mich entschieden, jedes Bischofstreffen zu vermeiden, denn ich habe nie erlebt, dass eine Synode zu einem guten Ende gekommen ist und Unordnungen berichtigt, sondern sie vielmehr noch verschlimmert hat" (Ep. 130 ad Procopium).
Heutzutage würde man den heiligen Gregor als Pessimist bezeichnen und für seinen unkollegialen Geist wahrscheinlich maßregeln.
Ich muss ehrlich sagen, dass mich Bischofsversammlungen und Synoden langweilen. So sehr ich meine Brüder im Bischofsamt liebe und so gerne ich mit ihnen zusammentreffe diese Methode von ständigen Synoden und Versammlungen, die häufig von einem hektischen Aktivismus geprägt sind, ist vom Geist des Pelagianismus und des Modernismus beeinflusst. Diese Veranstaltungen sind häufig steril und vermitteln den Eindruck einer enormen Zurschaustellung klerikaler Eitelkeit.
Was würden Sie stattdessen tun?
Es wäre viel segensreicher - persönlich, psychologisch, pastoral und kirchlich -, mit den einfachen katholischen Gläubigen zusammenzutreffen. Wir Bischöfe wären besser beraten, wenn wir uns mit jungen Menschen und jungen Familien mit ihren Kindern treffen würden, die nach der Schönheit Gottes dürsten, der Schönheit der katholischen Wahrheit und des katholischen Lebens, und nach der Schönheit der katholischen Liturgie: ihnen begegnen, mit ihnen beten, sie unterweisen, aber auch als Bischof von ihnen zu lernen. Ich lerne auch als Bischof von ihnen, von ihrem Beispiel, wenn ich den Glauben dieser schönen katholischen jungen Familien beobachte, einer beispielhaften katholischen Jugend. Auch katholische Kinder haben mich häufig tief beeindruckt und auferbaut. Für mich persönlich sind solche Begegnungen mit den Kleinen in der Kirche unvergleichlich viel fruchtbarer und geistlich bereichernder als die Teilnahme an Synoden oder an offiziellen Bischofstreffen, jedenfalls in der Form, wie sie in unserer Zeit abgehalten werden.
Manchmal kommt es mir so vor, als seien solche Treffen mehr oder weniger Zusammenkünfte von Bürokraten. Ich möchte damit nicht sagen, dass jeder Bischof in diesen Treffen wie ein Bürokrat handelt oder denkt. Allerdings erwecken sie den Eindruck, bürokratische Ereignisse zu sein, die keine echte Klärung in der Lehre bringen oder eine Verbesserung der kirchlichen Disziplin, also einen echten Fortschritt in der Heiligkeit im Leben der Kirche.
Ich bin nicht gegen Synoden oder andere Bischofsversammlungen an sich, vorausgesetzt, sie finden nicht häufig statt, dauern nicht lang, sind mit möglichst wenig Bürokratie verbunden und haben eine transparente und faire Geschäftsordnung; vor allem aber: vorausgesetzt, sie garantieren die Unversehrtheit der Lehre und Disziplin in den Diskussionsvorlagen und im Schlussdokument. Jedes Mitglied einer Synode oder einer anderen wichtigen Bischofsversammlung sollte verpflichtet sein, jedes Mal einen klar formulierten Treueeid zu den unveränderlichen Glaubens- und Sittenlehren abzulegen sowie zu jenen Normen des Kirchenrechts und der Sakramentendisziplin, die in der apostolischen Tradition wurzeln und folglich immerwährend gültig sind.
Könnten Sie noch etwas mehr über Ihre Begegnungen mit gläubigen Katholiken erzählen? Was begegnet Ihnen da?
Ja, ich hatte tatsächlich sehr viele schöne Begegnungen mit den einfachen Menschen in der Kirche. Ich bezeichne sie als "die Kleinen", wobei das nicht immer dem Lebensalter entspricht, das sich aus ihrem Pass ablesen lässt. Die "Kleinen" in der Kirche sind jene Menschen jeden Alters, die den reinen, tiefen katholischen Glauben haben und in der Kirche keine Macht ausüben. Das sind für mich die Kleinen. Es können Kinder sein, junge Menschen, Familien, auch ältere Leute; das Alter spielt keine Rolle, eher die geistlichen Merkmale.
Ein bestimmtes Erlebnis werde ich nie vergessen. Ich war in den Vereinigten Staaten in einer Gemeinde und feierte dort ein schönes Pontifikalamt in der traditionellen Form. Es gab viele Ministranten aller Altersstufen und nach der Messe - ich trug mein Chorgewand - wollte ein kleiner Ministrant allein mit mir fotografiert werden. Die ganze Gemeinde in der Halle schaute also auf uns - auf mich in meinem Chorgewand und den kleinen Jungen neben mir. Es war ein hübsches Bild. Ich glaube, das war ein heiliges Kind, denn es strahlte so viel Unschuld aus. Ich nehme an, er war ungefähr neun Jahre alt. Jeder machte Fotos. Dann riefen aus der Menge einige Gemeindemitglieder dem Jungen zu: "Du wirst sicher mal Bischof!" Er aber antwortete ganz ernst: "Ich möchte ein Heiliger werden!" Die Erfahrung mit diesem Kind berührte mich tiefer als die Teilnahme an einer zwei oder drei Wochen dauernden Bischofssynode, die wahrscheinlich praktisch keinen konkreten Einfluss auf die Heiligung und Evangelisierung der Menschen und die Verherrlichung Gottes haben wird.
Ich dachte über die Worte des kleinen Ministranten nach. Man konnte seine Worte durchaus so verstehen, als habe er das Heilig-Sein als einen Gegensatz zum Bischof-Sein gesehen! Ich glaube nicht, dass er das wirklich sagen wollte, aber für mich war es kurios, es klang wie: "Ich möchte kein Bischof, sondern vielmehr ein Heiliger werden." Als wolle er sagen, wenn man Bischof wird, dann riskiert man, kein Heiliger zu werden, oder es ist ein Widerspruch dazu. Manchmal kommt es einem ja so vor, vor allem in unseren gegenwärtigen Zeiten.
Ist es nicht ironisch, dass eine der Botschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils ein allgemeiner Aufruf zur Heiligkeit war - ein Aufruf an jedes Mitglied der Kirche, seiner Taufberufung durch das eigene Leben zu entsprechen -, und dann haben wir genau zur selben Zeit einen tiefen und weitverbreiteten Verlust des Gespürs für das Übernatürliche erlebt?
Darin besteht genau das Wesen des Modernismus, der während des Konzils sehr stark an Kraft zugenommen hat. Nach dem Konzil besetzten vom Geist des Modernismus geprägte Personen zunehmend die Verwaltungsstrukturen der Kirche. Modernismus ist eine Art Naturalismus, der häufig mit der Verdrängung des Übernatürlichen einhergeht.
Ich habe als Beispiel diese dauernden Zusammenkünfte genannt. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Einmal nahm ich an einem Treffen für die asiatischen Bischöfe in Manila teil. Sie bereiteten ein sehr langes Dokument vor, ich sagte deshalb: "Wir müssen dieses Dokument um die Hälfte kürzen und selbst dann wird es keiner lesen." Und die Bischöfe lachten. In privaten Unterhaltungen mit mehreren Bischöfen gaben diese ehrlich zu, dass sie bis jetzt die bei diesen Treffen produzierten Dokumente tatsächlich nicht gelesen hatten; obwohl sie ihnen zugeschickt worden waren.
Ich nahm an mehreren anderen Treffen mit meinen Bischofsbrüdern teil, und nachdem die Dokumente gutgeheißen worden waren, fragte ich mehrere von ihnen: "Haben Sie das Schlussdokument gelesen?" Einige antworteten mir: "Ehrlich gesagt nein." Eines dieser Treffen dauerte eine Woche und heraus kam ein Dokument, das zumindest in unserer Region keiner gelesen hat. Später erhielten wir den Finanzbericht für dieses Treffen. Das Treffen hatte 250 000 Dollar aus Kirchenmitteln gekostet. Stellen Sie sich das vor! Im Grund waren es 250 000 zum Fenster herausgeworfene Dollar. Wirklich, zum Fenster herausgeworfen. Wir hatten kaum Zeit für das Gebet. Ist das die "Kirche der Armen", von der während des Zweiten Vatikanischen Konzils und danach ständig die Rede war? Die fortwährenden Treffen und Versammlungen der Bischöfe: Sie geben so viel Geld dafür aus, es ist unglaublich. Wenn wir die Häufigkeit dieser Treffen drastisch verringern würden, dann könnten wir jedes Jahr Millionen Dollar an die Armen auf der ganzen Welt verteilen. Für mich ist das eine Sünde, die von den Kirchenmännern heute begangen wird. Auch wenn man einmal einen Moment von den Problemen mit diesen ausufernden Treffen absieht, die letztlich eine Ausdrucksform von Pelagianismus sind und die das Übernatürliche untergraben - gar nicht zu reden vom Problem des fast unaufhörlichen Stroms von lehrmäßig zweideutigen Dokumenten, die sie produzieren -, selbst abgesehen davon ist es, meine ich, sündhaft, so viel Geld auszugeben, das wir den Armen unserer Welt geben könnten. Wir müssen damit aufhören. Aber offenbar steigert sich nur noch die Häufigkeit solcher Synoden und Treffen unter dem Vorwand einer sogenannten "Synodalitäf'.
Unter dem gegenwärtigen Pontifikat werden Vatikansynoden mittlerweile jährlich abgehalten.
Ja, die Anzahl der Treffen nimmt zu. Für mich ist das ein Zeichen: Wenn es am Glauben mangelt und an der Sehnsucht nach dem Übernatürlichen, wenn es keine Liebe für das Gebet, für Werke der Buße und unmittelbaren Evangelisation gibt, dann stürzen sich die Bischöfe und jene, die im Vatikan das Sagen haben, in frenetische Aktivitäten: Synoden, Dokumente, ständig neue Veranstaltungen.
Passierte das nicht auch im Ordensleben nach dem Konzil? Ordensgemeinschaften, die ein aktives Apostolat hatten, deren Leben aber doch noch primär kontemplativ war, wenn auch nicht klausuriert, orientierten sich neu in Richtung Aktivismus.
Dieses Phänomen ist in das gesamte Leben der Kirche eingedrungen und hat es angesteckt. Es ähnelt der Situation, in der man sich befindet, wenn man ein Fahrrad hat, und die Kette fällt ab und man tritt einfach nur auf der Stelle und kommt von seinem Ausgangspunkt nicht weg. Man tritt auf der Stelle - äußerlicher Aktivismus, verbunden mit geistlicher Trägheit und Passivität.
Eines der Mittel, um aus der Krise herauszukommen, das auch die Krise heilen wird, ist die Wiederentdeckung des Übernatürlichen: Wir müssen dem Übernatürlichen im Leben der Kirche den ersten Platz einräumen. Das bedeutet, sich Zeit zu nehmen für das Gebet und die eucharistische Anbetung, Zeit für die Schönheit der heiligen Messe und der Liturgie, für die Praxis leiblicher Buße, für die Verkündigung der übernatürlichen Wahrheit über die Letzten Dinge und die Wahrheit des Evangeliums. Wir müssen Christus und Seine übernatürliche Offenbarung wieder in die Mitte stellen, denn nur das vermag die gesamte Menschheit zu heilen.
8. Vaticanum II
Das Zweite Vatikanische Konzil hatte eine unabsehbare Wirkung auf die Kirche und die Welt, am bedeutendsten wohl auf das Gebetsleben der Katholiken. Bekanntermaßen nahm ein Komitee unter Paul VI. nach dem Konzil radikale Veränderungen an der Liturgie vor. Kritiker sagen, das Konzil und seine Nachwirkungen hätten zu einer Untergrabung der Lehre und der Moral geführt. Was waren Ihre Erfahrungen mit den "Früchten des Konzils"?
Nach zwei Jahren im Internat kehrte ich nach Hause zu meinen Eltern zurück und besuchte ein deutsches Gymnasium. Nie habe ich die heilige Kommunion stehend und in die Hand empfangen. Das war für mich undenkbar. Häufig war ich in der Kirche der Einzige, der kniete - meine innere Überzeugung erlaubte es mir nicht, den Herrn stehend zu empfangen. Ich kann das nicht erklären. Diese Überzeugung war ganz tief in meiner Seele verankert. In jenen Jahren - den 1970ern - waren die Priester zwar sehr liberal, aber sie verweigerten mir die Kommunion nicht, wenn ich kniete, denn sie wussten, dass ich aus der Untergrundkirche kam, aus der verfolgten Kirche. Das hat mich in gewisser Weise geschützt. Sie wagten es nicht, mich öffentlich zu demütigen, indem sie mich aufforderten, aufzustehen. Das war also eine Art Schutz für mich und auch für meine Familie.
Als ich fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, fing ich damit an, mehr über die gegenwärtige Situation im Leben der Kirche zu lesen. Ich fing an, über die Krise in der Kirche nachzudenken, als ich das erste Mal von Erzbischof Lefebvre erfuhr. Das war 1976. Ich war damals fünfzehn. In jenem Jahr wurde Erzbischof Lefebvre von Paul VI. öffentlich suspendiert.
Damals zelebrierte Erzbischof Lefebvre mehrere Messen mit riesigen Menschenmengen und im Jahr 1976 fand eine Messe bei uns in der Nähe statt, in der Nähe vom Bodensee. Die Bischöfe sämtlicher umgebenden Diözesen - es waren fünf - veröffentlichten einen gemeinsamen Hirtenbrief, in welchem sie den Leuten warnend davon abrieten, die Messe von Erzbischof Lefebvre zu besuchen. Der Brief wurde während einer Messe in meiner Heimatpfarrei verlesen. In diesem Brief sagten die Bischöfe, Erzbischof Lefebvre sei ungehorsam, er sei ein Rebell und stelle sich gegen das Konzil und den Papst. Ich fing an, mich für die Sache zu interessieren. Dann begann ich, Rundbriefe von der Priesterbruderschaft St. Pius X. zu empfangen. Eine Nachbarin schickte sie zu uns. Ich habe sie immer gelesen. In meiner Seele tat sich ein Zwiespalt auf. Einerseits stellte ich fest, dass in diesen Briefen viel Wahres stand, vor allem wenn ich Texte über das Thema der heiligen Messe las und die liturgischen Feiern sah, die in herrlichen Fotos festgehalten waren. Meine Intuition als 16-jähriger Jugendlicher sagte mir, dass das, was Erzbischof Lefebvre sagte, grundsätzlich richtig war. Aber ich befand mich in einer Zwickmühle, weil ich eine tiefe Verehrung für den Papst hatte. Ich sah einerseits die Wahrheit und die Schönheit des katholischen Glaubens und vor allem der heiligen Messe, wie sie Erzbischof Lefebvre darstellte; andererseits war er vom Papst verurteilt worden. Ich war dem Papst tief ergeben, ich konnte das also nicht verstehen. Das war sehr schwer für mich. Dann begann ich, intensiver über das Zweite Vatikanum zu lesen.
Haben Sie als junger Mann die Konzilsdokumente gelesen?
Ich habe sie nicht vollständig gelesen. Es gab gute konservative Leute, die, ausgehend von den Konzilsdokumenten, sehr gute Texte verfassten, um die Tradition gegen die radikalen Liberalen in der Kirche zu verteidigen. Es gab ein Buch, eine Art "Katechismus des Konzils", mit Zitaten daraus, das sehr klar war und die Tradition des Glaubens verteidigte. Es war verfasst von einem Priester, Dr. Ingo Dollinger (Er starb 2017. Er lebte in Wigratzbad und war mein Professor für Moraltheologie in Brasilien. Er war Priester der Diözese Augsburg. - AS). In den 1970er- Jahren veröffentlichte er mehrere Bücher als Verteidigung der Lehre der Kirche gegen die liberalen Moraltheologen, wobei er die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils benutzte. Ich habe diese Bücher gelesen, daher hatte ich keine Sorge oder einen Verdacht, dass die Texte des Konzils problematisch sein könnten.
Gleichzeitig las ich die Texte von Erzbischof Lefebvre, in denen er darlegte, dass es durchaus Probleme in den Texten des Konzils gab, vor allem hinsichtlich der Religionsfreiheit. Das war seine größte dogmatische Sorge und ebenso das Thema der Kollegialität. Ich glaubte als junger Mann weiterhin, dass es kein grundsätzliches Problem mit den Konzilstexten gab. Einerseits beobachtete ich, dass die Konzilstexte von den Liberalen missbraucht wurden, und andererseits kam es mir in jenen Jahren so vor, als sei die Kritik von Erzbischof Lefebvre überzogen. Für mich war die Vorstellung einfach ausgeschlossen, dass ein Konzil oder ein Papst überhaupt einen Fehler machen kann. Implizit hielt ich jedes Wort des Konzils und des Papstes für unfehlbar oder jedenfalls für irrtumsfrei.
Frei von jeglicher Art von Irrtum?
Für mich handelte es sich dabei um eine Art unbewusster und vollständiger "Unfehlbarmachung" (Infallibilisierung) des Konzils und sämtlicher Verlautbarungen der Päpste - unbewusst, wie gesagt, nicht auf theoretischer Ebene. Mir war unbehaglich, wenn es Kritiker gab, und ich wollte mich diesen Kritikern nicht anschließen oder sie studieren, denn ich hatte Angst davor, in eine Richtung zu gehen, die treulos gegenüber der Kirche und meiner Ergebenheit dem Papst gegenüber wäre. Instinktiv unterdrückte ich jedes vernünftige Argument, das auch nur andeutungsweise als Kritik an den Konzilstexten dienen konnte. Heute ist mir klar, dass ich meine Vernunft "abgeschaltet" habe. Das ist allerdings keine gesunde Haltung und es widerspricht der Tradition der Kirche, wie wir sie bei den Vätern, den Kirchenlehrern und den großen Theologen der Kirche im Verlauf von zweitausend Jahren sehen können.
Wie hat sich Ihr Eintritt ins Seminar auf Ihre Ansichten ausgewirkt?
Ich trat in die Kongregation des Heiligen Kreuzes, der Regularkanoniker, ein, die der Lehre der Kirche sehr treu waren - und es noch immer sind. Sie zelebrieren die Liturgie sehr ehrfürchtig, auch die neue Messe, aber ad orientem, mit knieendem Empfang der heiligen Kommunion, auf die Zunge. Ich erinnere mich an die Erfahrung einer Art blinder Verteidigung alles dessen, was vom Konzil gesagt wurde, was manchmal eine gewisse mentale Akrobatik verlangte, eine "Quadratur des Kreises". Selbst heute noch entspricht die allgemeine Mentalität guter, frommer Katholiken meiner Meinung nach faktisch einer vollständigen Unfehlbarmachung (Infallibilisierung) alles dessen, was das Zweite Vatikanische Konzil sagte oder auch was der gegenwärtige Papst sagt und tut. Diese Art eines extremen Ultramontanismus, einer ungesunden Papst-Zentrierung, zeigte sich bei Katholiken schon seit mehreren Generationen. Auch ich wurde in dieser Haltung erzogen. Allerdings kam Kritik innerhalb der Tradition der Kirche immer vor und war auch erlaubt, denn es geht um die Wahrheit und die Treue zur göttlichen Offenbarung und Überlieferung, die wir suchen müssen, wozu der Gebrauch der Vernunft und die Vernünftigkeit gehört und das Vermeiden abwegiger Gedankenakrobatik. Einige Erklärungen gewisser offensichtlich mehrdeutiger und irriger Formulierungen, die in den Konzilstexten enthalten sind, kommen mir heute künstlich und nicht überzeugend vor, vor allem wenn ich darüber auf ausgeglichene und intellektuell redliche Weise nachdenke.
Wann kam Ihnen zum ersten Mal der Gedanke, dass es Klugheitsfehler oder theologische Irrtümer im lediglich ordentlichen Lehramt entweder der Päpste oder des Zweiten Vatikanums geben könnte?
Ich glaube, das geschah, als ich vor dreizehn Jahren Bischof wurde, denn die Aufgabe eines Bischofs ist es, Lehrer zu sein. Das Studium der Kirchenväter war mir ebenfalls eine große Hilfe. Ich habe seit 1993 Patrologie unterrichtet. Fast jedes Jahr habe ich Vorlesungen in Patrologie gegeben, entweder in Brasilien oder dann seit 1999 in Kasachstan. Ich musste also auch weiterhin die Texte der Kirchenväter lesen. Eine Zeit lang fiel mir auf, dass einige Formulierungen des Konzils sich nicht ohne Weiteres mit der beständigen Lehrtradition der Kirche vereinbaren ließen. Ich stellte fest, dass einige Lehren man denke nur an Themen wie Religionsfreiheit, Kollegialität, das Verhältnis zu nichtchristlichen Religionen und die Einstellung zur Welt - sich nicht in einer organischen Kontinuität mit der voraufgehenden Tradition befanden.
Die Krise in der Kirche hat sich, wie Sie wissen, in den letzten Jahren verschärft, vor allem mit dem Pontifikat von Papst Franziskus. Das hat mich dazu gezwungen, alles noch einmal tiefer zu durchdenken. Als mich der Heilige Stuhl vor fast vier Jahren damit beauftragte, die Priesterbruderschaft St. Pius X zu visitieren, musste ich mich darauf vorbereiten und die Probleme genauer studieren, die Argumente prüfen. Mir ging damals auf, dass wir die Einwände von Erzbischof Lefebvre ernster nehmen müssen. Ich sah, dass der Heilige Stuhl all diese Einwände abgelehnt hatte und seine eigene Art der Interpretation durch die Methode der sogenannten "Hermeneutik der Kontinuität" darstellte. Leider nahm der Heilige Stuhl die Argumente von Erzbischof Lefebvre nicht ernst. Die Vertreter des Heiligen Stuhls sagten zur Piusbruderschaft einfach nur: "Ihr irrt euch, unsere Einstellung ist die einzig richtige und sie steht für die Kontinuität mit der vorherigen Tradition der Kirche." Das war ein Argument aufgrund von Autorität, das aber nicht in tieferer theologischer Begründung wurzelte und nicht zum Kern der Argumente vordrang. So nahm ich es wahr.
Mit der zunehmenden Krise in der Kirche, vor allem in der Situation, die durch die beiden Familiensynoden und durch die Veröffentlichung von Amoris Laetitia entstanden ist; mit der Zustimmung von Papst Franziskus zu den pastoralen Richtlinien der Bischöfe der Region Buenos Aires (die unter anderem die Zulassung unbußfertiger Ehebrecher zur heiligen Kommunion vorsehen); und mit der Erklärung über die Verschiedenheit der Religionen, die er in Abu Dhabi unterzeichnet hat - angesichts alles dessen wurde mir klar, dass wir die Argumente der Piusbruderschaft ernster nehmen müssen.
Sehen Sie heute dasselbe Muster einer Herangehensweise von oben nach unten, ohne Gegenmeinungen zu befragen oder in Erwägung zu ziehen?
Ja. Häufig werden Vorschriften aufgrund von Verwaltungsmacht erlassen. Es gibt kein Argument. Das Argument ist Macht.
Willenskraft?
Ja, es scheint eine Art Willenskraft zu sein, nach dem Motto: "Wir haben die Autorität und deshalb haben wir immer recht." Ich stellte fest, dass vonseiten des Heiligen Stuhls kein Wille da ist, sich auf den eigentlichen Kern der von Erzbischof Lefebvre gestellten Fragen wirklich tiefer einzulassen. Vielleicht ist da eine unbewusste Angst, dass die Zeit eines blinden Ultramontanismus, der an die Stelle der Rechtgläubigkeit getreten ist, zu Ende gehen könnte, wenn man bereit ist zuzugeben, dass einige der nicht-definitiven Lehren des Konzils einen Bruch mit der beständigen voraufgehenden Überlieferung der Kirche darstellen. Eine ehrliche Untersuchung zeigt, dass es in einigen Formulierungen der Konzilstexte einen Bruch gibt mit der voraufgehenden, beständigen Überlieferung des Lehramts. Wir dürfen nicht die Tatsache vergessen, dass das Hauptziel des Konzils ein pastorales war und dass das Konzil nicht die Absicht hatte, eigene definitive Lehren vorzulegen.
Wie lauteten die Hauptargumente gegen Erzbischof Lefebvre und gegen Kritiker des Zweiten Vatikanums?
Es hieß: "Ihre Ansicht leitet sich nur von einigen wenigen Päpsten ab, von Gregor XVI., Pius IX., Pius X., Pius XI., Pius XII.; wohingegen unsere Ansicht diejenige der vergangenen zweitausend Jahre ist. Sie sind nur auf die sehr kurze Zeitspanne des Gedankenguts des 19. Jahrhunderts fixiert." Das war im Wesentlichen das Argument des Heiligen Stuhls gegen Erzbischof Lefebvre und gegen jene, die verschiedene berechtigte Fragen über zweifelhafte Stellen in den Konzilstexten stellten.
Allerdings trifft das nicht zu. Die Verlautbarungen der Päpste vor dem Konzil, auch derjenigen im 19. und 20. Jahrhundert, geben treu und ohne Bruch ihre Vorgänger und die beständige Überlieferung der Kirche wieder. Man kann in den Lehren dieser Päpste (Gregor XVI. und so weiter) durchaus nicht von irgendwelchen Brüchen im Hinblick auf das vorangegangene Lehramt sprechen. Wenn es beispielsweise um das Thema des sozialen Königtums Christi und die objektive Falschheit nichtchristlicher Religionen geht, dann gibt es da keinen wahrnehmbaren Bruch zwischen der Lehre der Päpste von Gregor XVI. bis zu Pius XII. einerseits und der Lehre von Papst Gregor dem Großen (6. Jahrhundert) und seinen Vorgängern und Nachfolgern andererseits. Man stellt vielmehr eine durchgehende Linie ohne jeglichen Bruch von der Zeit der Kirchenväter bis Pius XII. fest, vor allem zu Themen wie soziales Königtum Christi, Religionsfreiheit und Ökumenismus.
Einige eifrige Verfechter des Zweiten Vatikanums sagen, das Konzil sei ein Mittel, mit dem die Kirche zu den Wurzeln, zum vor-konstantinischen Modell zurückkehren kann.
Mit genau diesem Argument entlarven oder "outen" sie sich und Gott sei Dank sagen sie das. Ich komme auf Ihr Argument zurück, aber lassen Sie mich zuerst noch hinzufügen, dass die Argumente des Heiligen Stuhls gegen Erzbischof Lefebvre üblicherweise besagten, dass die umstrittenen Punkte des Konzils in einem ununterbrochenen Zusammenhang mit der früheren Lehre der Kirche standen. Die Männer, die für den Heiligen Stuhl arbeiteten, haben also stillschweigend Gregor XVI., Pius IX. und alle anderen Päpste bis Pius XII. beschuldigt, ein irgendwie exotisches Phänomen in der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche darzustellen, einen Bruch mit der Zeit vor ihnen.
Eine 150 Jahre währende Unterbrechung, ein Einschub in der Kirchengeschichte ...
Sie haben es nicht ausdrücklich so gesagt, aber faktisch ist das gemeint. Und jetzt sagen sie - Sie erwähnten es gerade -, dass der Einschub nicht nur 150 Jahre dauerte, sondern die Periode seit dem 4. Jahrhundert (mit Konstantin) bis zum Zweiten Vatikan um umfasst - ein Einschub von 1700 Jahren! Aber ein solches Denken ist nun eindeutig nicht katholisch. Im Prinzip ist es die theologische Betrachtungsweise Martin Luthers. Sein Hauptargument lautete, dass die Kirche mit Konstantin vom Pfad der wahren Lehre des Evangeliums abwich, und diese Unterbrechung dauerte an bis zu seinem eigenen Auftauchen im 16. Jahrhundert. Das Argument entspricht genau der Haltung heutiger Liberaler, vor allem auch des Neokatechumenalen Wegs. Eine solche theologische Einstellung ist letztlich protestantisch und häretisch, denn zum katholischen Glauben gehört eine ununterbrochene Tradition, eine ununterbrochene Kontinuität ohne jeglichen wahrnehmbaren lehrmäßigen und liturgischen Bruch.
Möglicherweise zwingt uns die heutige Krise mit Amoris Laetitia und dem Abu Dhabi-Dokument, diese Überlegung noch weiter zu vertiefen. In der Summa Theologiae legt Thomas von Aquin immer Einwände (" videtur quod") und Gegenargumente ("sed contra") vor. Thomas war intellektuell sehr aufrichtig; man muss für Einwände offen sein. Wir sollten seine Methode auf einige der kontroversen Punkte der Konzilstexte anwenden, die seit fast sechzig Jahren im Gespräch sind. Natürlich stellen die meisten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils keinen Bruch dar und stehen ganz klar in Kontinuität mit der beständigen Lehre der Kirche. Es gibt allerdings einige problematische Formulierungen, die uns allen bewusst sind, und diese müssen wir klären.
Dabei kann, so meine ich, die Piusbruderschaft eine Hilfe sein und einen konstruktiven Beitrag leisten. Es kann sein, dass sie in einigen Dingen zu einseitig sind; auch sie müssen anerkennen, dass die Mehrzahl der Konzilstexte in organischer Kontinuität mit dem vorhergehenden Lehramt stehen. Doch letztlich muss das päpstliche Lehramt auf überzeugende Weise die umstrittenen Punkte einiger Formulierungen in den Konzilstexten klarstellen. Sollte es notwendig sein, dann müsste ein Papst oder ein zukünftiges ökumenisches Konzil Erklärungen hinzufügen (eine Art "notae explicativae posteriores") oder sogar Ergänzungen und Korrekturen von einigen jener umstrittenen Formulierungen vornehmen, da sie ja vom Konzil nicht als definitive Lehraussagen vorgestellt wurden.
Meinen Sie, das Konzil war ein Fehler?
Ich glaube, die Geschichte wird uns das aus einigem Abstand sagen. Seit dem Konzil sind nur fünfzig Jahre vergangen. Vielleicht sehen wir in weiteren fünfzig Jahren klarer. Doch global gesehen, aus der Sicht der Tatsachen, der Offenkundigkeit, brachte das Zweite Vatikanum keinen echten geistlichen Fortschritt im Leben der Kirche. Nach dem Konzil kam es auf fast allen Ebenen des kirchlichen Lebens zu Katastrophen. Der Plan und die Absichten des Konzils waren vorwiegend pastoraler Natur, doch trotz dieser pastoralen Zielsetzung schlossen sich katastrophale Folgen an, die wir noch heute sehen.
Natürlich - ich wiederhole es - hatte das Konzil viele schöne und wertvolle Texte. Doch die negativen Folgen und die Missbräuche, die im Namen des Konzils begangen wurden, waren so heftig, dass sie die vorhandenen positiven Elemente in den Schatten stellten.
Welche positiven Elemente sehen Sie im Zweiten Vatikanum?
Vor dem Hintergrund der gesamten Kirchengeschichte kann festgestellt werden, dass erstmals ein ökumenisches Konzil einen feierlichen Aufruf an die Laien richtete, ihre Taufgelübde ernst zu nehmen, das heißt nach Heiligkeit zu streben. Das Kapitel in Lumen Gentium über die Laien ist schön und tief. Die Gläubigen werden dazu aufgerufen, ihre Taufe und Firmung als mutige Glaubenszeugen in einer weltlichen Gesellschaft zu leben. Dieser Aufruf war prophetisch.
Unmittelbar nach dem Konzil wurde dieser Aufruf an die Laien vom progressistischen Establishment in der Kirche missbraucht, außerdem von vielen Funktionären und Bürokraten, die in kirchlichen Büros und Kanzleien tätig waren. Häufig waren die neuen Beamten aus der Laienschicht selbst keine Glaubenszeugen, sondern trugen vielmehr dazu bei, den Glauben in Pfarr- und Diözesanversammlungen und in anderen offiziellen Gremien zu zerstören. Leider wurden diese Laien-Bürokraten häufig vom Klerus in die Irre geführt, von den Bischöfen und Pfarrern.
Es sieht ganz so aus, als habe das Konzil zur Heiligkeit aufgerufen, und stattdessen haben wir mehr Mitarbeiter auf Gehaltslisten, mehr künstliche "Ämter" und mehr Komitees, die dem Priester sagen, was zu tun ist.
Nie zuvor in der Geschichte hatte die Kirche so viele Verwaltungsstrukturen wie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die römische Kurie, die bischöflichen Ordinariate und die Büros der Orden waren noch nie so bürokratisiert wie in der nachkonziliaren Zeit und dieser Umstand hat in unserer Gegenwart einen Höhepunkt erreicht. Die Bürokratisierung des Lebens der Kirche brachte einen starken weltlichen Geist mit sich und erstickte ein echtes geistliches Leben, die übernatürliche Sicht und den missionarischen Eifer für die Rettung der Seelen. In der Zeit nach dem Konzil hatte man den Eindruck, eine der bemerkenswertesten Früchte des Konzils sei Bürokratisierung gewesen. Es stimmt zwar, dass die Kirche wie jede menschliche Gesellschaft Regeln braucht und eine Ordnung und ein genau formuliertes Handbuch des Kirchenrechts, doch diese weltliche Bürokratisierung in den Jahrzehnten nach dem Konzil lähmte den geistlichen und übernatürlichen Eifer in beträchtlichem Ausmaß und statt des verheißenen Frühlings brach eine Zeit weitverbreiteter geistlicher Unfruchtbarkeit an, ein geistlicher Winter. Bekannt und unvergessen bleiben die Worte, mit welchen Paul VI. ehrlicherweise den geistigen Gesundheitszustand der Kirche diagnostizierte: "Wir dachten, nach dem Konzil würde ein Sonnentag für die Geschichte der Kirche anbrechen. Stattdessen kam ein Tag der Wolken, der Stürme, der Dunkelheit" (Predigt am 29. Juni 1972).
In diesem Kontext war es vor allem Erzbischof Lefebvre (wobei er nicht der Einzige war), der damit begann, mit einem Freimut, der an die großen Kirchenväter erinnerte, gegen die Zerstörung des katholischen Glaubens und der heiligen Messe zu protestieren, die sich in der Kirche zutrugen und die sogar von hochrangigen Autoritäten des Heiligen Stuhls unterstützt oder jedenfalls zugelassen wurden. In einem an Papst Johannes Paul II. zu Beginn von dessen Pontifikat adressierten Brief beschrieb Erzbischof Lefebvre realistisch und treffsicher in einer kurzen Zusammenfassung das wahre Ausmaß der Kirchenkrise. Ich bin noch immer beeindruckt von der Klarsicht und dem prophetischen Charakter folgender Feststellungen: "Die Flut an Neuerungen in der Kirche, die von den Bischöfen hingenommen und ermutigt werden, eine Flut, die alles in ihrem Lauf verwüstet - den Glauben, die Moral, die kirchlichen Einrichtungen -, konnte die Existenz eines Hindernisses, eines Widerstandes nicht hinnehmen. Wir standen vor der Wahl, uns mitreißen zu lassen von der verheerenden Strömung und zu der Katastrophe beizutragen oder Wind und Wellen Widerstand zu leisten, um unseren katholischen Glauben und das katholische Priestertum zu bewahren. Wir durften nicht zögern. Die Trümmer der Kirche türmen sich auf: Atheismus, Unmoral, die Aufgabe von Kirchengebäuden, das Verschwinden der Berufungen zum Priester- und Ordensstand haben ein Ausmaß angenommen, dass die Bischöfe so langsam aufwachen" (Brief vom 24. Dezember 1978). Heute sind wir Zeugen des Höhepunkts dieser geistiger Katastrophe im Leben der Kirche, auf die Erzbischof Lefebvre vor bereits vierzig Jahren so nachdrücklich hingewiesen hat.
Offensichtlich ist das Konzil nach wie vor umstritten. Wie schaffen wir es, über grob vereinfachende oder einseitige Auffassungen hinwegzukommen?
Im Umgang mit Fragen im Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und seinen Dokumenten muss man gekünstelte Interpretationen oder die Methode einer "Quadratur des Kreises" vermeiden, unter Beibehaltung natürlich aller geschuldeten Achtung und des Denkens mit der Kirche (sentire cum ecclesia). Das Prinzip der "Hermeneutik der Kontinuität" darf nicht einfach blind angewandt werden, um unhinterfragt offenkundig vorliegende Probleme auszuklammern. Tatsächlich würde ein solches Vorgehen auf künstliche und nicht überzeugende Weise die Botschaft vermitteln, dass jedes Wort des Zweiten Vatikanischen Konzils unfehlbar ist und in vollkommener Kontinuität mit dem vorangegangenen Lehramt steht. Solch eine Methode wäre eine Verletzung der Vernunft, der Offenkundigkeit und der Aufrichtigkeit und es würde der Kirche keine Ehre machen, denn früher oder später (vielleicht nach hundert Jahren) wird die Wahrheit, wie sie wirklich ist, festgestellt werden. Es gibt Bücher mit dokumentierten und nachprüfbaren Quellen, die historisch realistischere und wahre Einblicke bieten in die Tatsachen und Folgen hinsichtlich des Ereignisses des Zweiten Vatikanums selbst, in die Erstellung seiner Dokumente und in den Prozess der Auslegung und Anwendung seiner Reformen in den vergangenen fünf Jahrzehnten. Ich empfehle beispielsweise folgende Bücher, die man mit Gewinn lesen kann: Romano America, Iota Unum: eine Studie über die Veränderungen in der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert (2000); Roberto de Mattei, Das Zweite Vatikanische Konzil: eine bislang ungeschriebene Geschichte (2012); Alfonso Galvez, Ecclesiastical Winter (2012).
Sie sagten, Sie glauben, eines der Glanzlichter des Zweiten Vatikanischen Konzils sei der allgemeine Aufruf zur Heiligkeit gewesen. Was geschah bei den besorgten Laien zur Zeit des Konzils? Und fangen wir heute an, die Früchte davon zu sehen?
Damals entstand unter den Laien eine Bewegung, die sagte: "Wir protestieren gegen die Verwässerung des Glaubens und gegen die Banalisierung der heiligen Messe. Was wir beobachten, ist nicht der Glaube, der immer und überall durch unsere Vorfahren überliefert wurde." Diese Laienbewegung innerhalb der Kirche wuchs auch unabhängig von der Arbeit von Erzbischof Lefebvre und heute nimmt sie - als Reaktion auf das Pontifikat von Papst Franziskus - an Stärke und Zahl weiter zu. Ich glaube, dass aufgrund der ungeheuerlichen, so fast noch nie dagewesenen inneren Krise in der Kirche, die wir heute durchmachen, die Stunde der Laien gekommen ist. Auch sie fühlen sich verantwortlich für die Bewahrung und Verteidigung des Glaubens. Die wahre Absicht und Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Laien wird heute in unseren Tagen immer klarer in vielen verdienstvollen und mutigen Laien-Initiativen zur Verteidigung des katholischen Glaubens umgesetzt. Wir sind in die groteske Situation geraten, dass die Schafe beginnen, die eingedrungenen Wölfe in Schafskleidung zu demaskieren, das heißt die ungläubigen, vom Glauben abgefallenen und verkommenen Kardinäle, Bischöfe und Priester.
Ist das Internet ein wichtiges Mittel für die Laien bei der Verteidigung des Glaubens?
Ganz gewiss. Ich sehe im Internet und in den sozialen Medien Werkzeuge der Vorsehung, die den Laien, die ihren Glauben verteidigen wollen, eine einzigartige Möglichkeit bieten, sich miteinander zu verbinden. Vor dreißig Jahren war das noch nicht möglich. Ich sehe jetzt, dass Laien - Männer und Frauen - den Mut fassen, ihrem Pfarrer oder ihrem Bischof oder sogar dem Papst zu sagen: "Bitte, wir machen uns Sorgen wegen dieser Dinge. Das entspricht nicht dem Glauben unserer Väter. Wir wollen den Glauben unserer Mutter, der Kirche, verteidigen." Doch das kirchliche liberale Establishment - ich bezeichne es als die "kirchliche Nomenklatura" (Die "Nomenklatura" waren kommunistische Bürokraten, die entscheidende Verwaltungsposten besetzten und sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens bestimmten.) - wirft den Laien jetzt Einmischung vor; sie sagt zu ihnen: "Das ist nicht eure Aufgabe, haltet den Mund!"
Das sieht doch sehr nach Klerikalismus aus, meinen Sie nicht auch?
Ja, die Haltung dieser Geistlichen gegenüber den gläubigen Laien zeugt von einem gewaltigen Klerikalismus. Doch die gläubigen Laien müssen diesen arroganten Klerikern die Stirn bieten. Genau das hat das Zweite Vatikanum über die Pflicht der Laien gelehrt: den Glauben zu bezeugen und zu verteidigen. Sie können diesen Klerikern sagen: "wenn euch am Zweiten Vatikanum so viel liegt, dann solltet ihr zulassen, dass wir euch kritisieren! Lasst es zu, dass wir aufstehen und uns in der Kirche in Verteidigung des Glaubens unserer Väter frei äußern. Wir haben das Recht, unsere Sorgen sogar dem Papst gegenüber zur Sprache zu bringen, denn wir sind alle eine Familie." In dieser neuen, mutigen Haltung vieler Laien erkenne ich eine Umsetzung der Absicht des Zweiten Vatikanischen Konzils. Gott ließ die Übel nach dem Konzil zu und benutzt sie, um daraus ein größeres Gut entstehen zu lassen.
Meinen Sie, dass man in fünfzig Jahren in einem Rückblick das Konzil als einen Schritt in Richtung der Beseitigung der modernistischen Häresie in der Kirche verstehen wird, weil es unbeabsichtigt die Verseuchung durch diese Häresie klar zum Vorschein kommen ließ, sie als das zeigte, was sie in Wahrheit ist?
Ja, das wollte ich auch ansprechen. Gott benutzt immer negative Erscheinungen, um ein je größeres Gut entstehen zu lassen.
Die gegenwärtige wachsame und engagierte Beteiligung traditionell denkender Laien am Leben der Kirche bringt die wahre Bedeutung des Zweiten Vatikanums im Blick auf die Laien zum Ausdruck. In den schweren Zeiten der Verfolgung unter dem Kommunismus waren es überwiegend die Laien, die den reinen katholischen Glauben weitergegeben haben. Ich habe den Glauben in der Untergrundkirche von Laien empfangen, von meinen Großeltern, von meiner Mutter und meinem Vater und von anderen Laien-Personen, Männern und Frauen. Unsere jetzige Zeit ist die Zeit der katholischen Familien, kinderreicher Familien. Tatsächlich war ein sehr positiver Beitrag des Konzils die schöne Lehre von der Familie als einer Hauskirche. Wir finden diesen Gedanken bereits bei den Kirchenvätern, etwa beim heiligen Augustinus, doch durch das Konzil wurde er noch einmal erneuert. Ich meine, die wahre Frucht des Konzils wird in der Zukunft zum Tragen kommen, wenn die Krise vorüber ist: in erneuerten katholischen Familien, in Hauskirchen und im mutigen Glaubenszeugnis durch die Laien.
Ich möchte noch einen weiteren positiven Beitrag erwähnen: das Kapitel über Unsere Liebe Frau in Lumen Gentium. Zum ersten Mal sprach ein ökumenisches Konzil so ausführlich und so tief über die Rolle Mariens in der Kirche und in der Heilsgeschichte. Der Titel "Mutter der Kirche", Mater Ecclesiae, den Papst Paul VI. der Mutter Gottes während des Konzils gegeben hat, beruhte auf der Lehre in Lumen Gentium. Seit der Zeit des heiligen Irenäus wurde Maria als "die neue Eva" bezeichnet. Papst Benedikt XVI. lehrte: "Maria ist die geistliche Mutter der ganzen Menschheit, weil Jesus am Kreuz sein Blut für alle vergossen hat und vom Kreuz aus alle ihrer mütterlichen Sorge anvertraut hat" (Predigt, 1. Januar 2007) .Ihre Rolle als geistliche Mutter der Menschheit erweist sich durch diese besonderen mütterlichen Funktionen, wenn sie mitwirkt "beim Werk des Erlösers ... zur Wiederherstellung des übernatürlichen Lebens der Seelen" (Lumen Gentium, Nr. 61), als Mittlerin der Gnaden, die Gnaden Christi austeilend, und als Fürsprecherin mit der Macht ihrer Fürbitte.
Diese Punkte - der allgemeine Ruf zur Heiligkeit, die Rolle der Laien in der Verteidigung und Bezeugung des Glaubens, die Familie als Hauskirche und die Lehre über Unsere Liebe Frau - sind das, was ich als wahrhaft positive und bleibende Beiträge des Zweiten Vatikanischen Konzils ansehe.
Begann das Konzil nicht am (später abgeschafften) Fest der Mutterschaft der allerseligsten Jungfrau Maria?
Ja, genau. Und der Schutzpatron des Konzils war der heilige Josef. Trotz der katastrophalen Folgen müssen wir vor diesem Ereignis Achtung haben - immerhin war es ein ökumenisches Konzil.
Die Kirche definierte sich beim Zweiten Vatikanum erstmals als "Dienerin des Wortes':
Wenn man hingegen die Fotos aus der Zeit damals anschaut, dann kommt einem das Zweite Vatikanum wie eine große Zurschaustellung eines klerikalen Triumphalismus vor. Ich fühle mich nicht wohl dabei. Das Motto "Wir sind die Kirche" hinterlässt den Eindruck eines gewaltigen Triumphalismus. Man beobachtet hier einen Mangel an Bescheidenheit. Wenn ich mir die historischen Bilder und Berichte vom Konzil anschaue, habe ich den Eindruck, dass sich die Bischöfe gewissermaßen ins Zentrum rücken. Dabei sind wir doch nur Knechte.
Das Lehramt wurde in den vergangenen 150 Jahren mit einem ungesunden Ultramontanismus so überladen, dass daraus eine Atmosphäre einer "Ekklesiozentrik" entstand, die ihrerseits eine verborgene Anthropozentrik ist, und das war nicht zuträglich. Das Konzil, das leider eine Darstellung einer sehr seltenen "Ekklesiozentrik" und "Magisteriozentrik" war dieses Konzil hat ja selbst eine wunderbare Beschreibung vom Wesen des Lehramts gegeben, wie sie in der Geschichte der Kirche noch nie zuvor gegeben worden war. Sie findet sich in Dei Verbum, Nr. 10; dort heißt es: "Das Lehramt steht nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm." Das ist schön. Ich habe das noch in keinem Text eines anderen Konzils gelesen.
Paul VI. wurde vorgeworfen, er missbrauche die päpstliche Macht mit seiner Umsetzung des Zweiten Vatikanums. Kritiker sagen, dass er eigenmächtig die Liturgie auf eine Art und Weise verändert hat, wie das noch nie zuvor geschehen ist. Damit wird ja bestätigt, was Sie gerade über einen offensichtlichen Triumphalismus erwähnten, mit dem die Bischöfe und der Papst zu viel Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkten. Was hat die Tür zu dieser Übertreibung, diesem Übermaß der Macht geöffnet? Fehlte da die Zentriertheit auf den Herrn?
Ja, das ist genau das, was ich unter "Ekklesiozentrik" und "Magisteriozentrik" verstehe. Ich will sagen, dass die menschlichen und verwaltungstechnischen Elemente ins Zentrum des Lebens der Kirche gestellt, der beständigen Überlieferung der Kirche vorgeordnet wurden. Die Liturgiereform Pauls VI. ist dafür ein schlagendes Beispiel. In gewisser Weise hat Paul VI. sich über die Tradition gesetzt - nicht über die dogmatische Tradition (lex credendi), sondern über die große liturgische Tradition (lex orandi), die mit der Lehre untrennbar verknüpft ist. Paul VI. wagte es, eine echte Revolution in der lex orandi anzustoßen. Und in gewissem Ausmaß handelte er damit im Widerspruch zur Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils in Dei Verbum Nr. 10, die festhält, dass das Lehramt nur der Diener der Tradition ist. Wir müssen Christus in den Mittelpunkt stellen: das Übernatürliche, die Unveränderlichkeit der Lehre und der Liturgie und all der Wahrheiten des Evangeliums, die Christus uns gelehrt hat.
Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil fing die Kirche an, sich der Welt zu präsentieren, mit der Welt zu kokettieren, und sie brachte einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Welt zum Ausdruck. Aber Kleriker, vor allem die Bischöfe und der Heilige Stuhl, müssen der Welt Christus zeigen - nicht sich selbst. Das Zweite Vatikanum vermittelte den Eindruck, die katholische Kirche bettle jetzt um die Sympathie der Welt. Das setzte sich in den nachkonziliaren Pontifikaten fort. Die Kirche bettelt um die Sympathie und Anerkennung der Welt; das ist ihrer nicht würdig und wird ihr nicht den Respekt derer einbringen, die Gott wahrhaft suchen. Wir müssen Christus, Gott, den Himmel um Sympathie bitten.
Einige Kritiker des Konzils sagen, dass es zwar gute Aspekte gab, aber dass es an einen Kuchen erinnert, der ein bisschen Gift enthält und deshalb ganz weggeworfen werden muss.
Ich habe diesen Vergleich vonseiten der Piusbruderschaft gehört. Wir können das nicht hinnehmen, denn das Zweite Vatikanische Konzil war eine Veranstaltung der gesamten Kirche. Gegenüber einer so wichtigen Sache müssen wir, auch wenn es negative Punkte gab, eine respektvolle Haltung bewahren. Wir müssen alles zur Kenntnis nehmen und schätzen, was wirklich und in Wahrheit gut ist in den Konzilstexten, ohne Irrationalität und ohne dass wir unaufrichtig die Augen der Vernunft vor dem verschließen, was in einigen Texten objektiv und offensichtlich zweideutig, ja sogar falsch ist. Man darf nicht vergessen, dass es sich bei den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht um das inspirierte Wort Gottes handelt, und es gibt auch keine definitiven dogmatischen Urteile oder unfehlbare Aussagen seitens des Lehramts, denn das Konzil selbst hatte diese Absicht nicht.
Wir müssen uns beispielsweise daran erinnern, dass das Ökumenische Konzil von Florenz in seinem Dekret für die Armenier, das nicht als ein definitives dogmatisches Urteil gedacht war, einen objektiven lehrmäßigen Irrtum beging, indem es sagte, dass die Materie des Weihesakraments in der "Überreichung der Geräte" besteht. Entsprechend der längeren und vorhergehenden und einmütigen Überlieferung der gesamten Kirche in Ost und West war es jedoch nicht die Überreichung der Geräte, sondern die Auflegung der Hände, die als entscheidendes Element (Materie) der Diakonen-, Priester- und Bischofsweihe angesehen wurde. Es entsprach zwar nicht der Absicht des Konzils von Florenz, die traditio instrumentorum als notwendig für die Gültigkeit zu behaupten das führte später Pius XII. aus -, doch das Konzil unterließ es unverständlicherweise, eine erklärende Bemerkung dazu zu machen, die die Absicht verdeutlicht hätte und nicht zu Irrtum und Zweideutigkeiten geführt hätte. In einer so schwerwiegenden Sache wie der offiziellen Lehre über das Wesen der Sakramente muss ein Konzil unbedingt völlig unzweideutig sprechen. Tatsächlich stellte das Konzil einfach fest: "Das sechste ist das Weihesakrament. Seine Materie ist der Gegenstand, durch dessen Überreichung die Weihe vollzogen wird. Das Priestertum wird also gespendet durch die Überreichung eines Kelchs mit Wein und einer Patene mit Brot; das Diakonat durch die Überreichung des Evangeliums." Diese Feststellung ist für sich genommen falsch, unabhängig von der Absicht. Später veranlasste sie einige katholische Theologen in ihren dogmatischen Handbüchern zu behaupten, die traditio instrumentorum sei notwendig für die Gültigkeit. Das geschah sogar durch den Heiligen Stuhl: In einigen Ausgaben des Pontificale Romanum findet sich die Feststellung, wenn die Überreichung der Geräte ausgelassen worden sei, müsse sie, damit die Ordination gültig werde, nachgeholt werden. 1947 hat Papst Pius XII. offiziell den objektiven theologischen Irrtum des Ökumenischen Konzils von Florenz berichtigt - den übrigens auch der heilige Thomas von Aquin begangen hatte -, indem er feststellte, dass die Auflegung der Hände die einzige gültige Materie für die Diakonen-, Priester- und Bischofsweihe ist. Nach der lehramtlichen Intervention von Pius XII. mussten die Dogmatikhandbücher und die Rubriken in einigen Ausgaben des Pontificale Romanum endgültig korrigiert werden.
Um auf den Vergleich zurückzukommen - "ähnlich wie ein Kuchen mit ein bisschen Gift darin" -, ich würde das nicht auf das Zweite Vatikanische Konzil anwenden. In meinen Augen verrät das einen Mangel an übernatürlicher Sicht. Ein anderes Beispiel ist Amoris Laetitia. Darin kommen natürlich viele Punkte vor, die wir objektiv und lehrmäßig kritisieren müssen. Aber es gibt auch sehr hilfreiche Abschnitte, die für das Familienleben sehr gut sind, beispielsweise über ältere Menschen in der Familie: in se sind sie sehr gut.
Ich würde nicht das gesamte Dokument verwerfen, sondern das Gute daraus übernehmen. Dasselbe gilt für die Konzilstexte. Der heilige Thomas von Aquin übernahm viele philosophische Einsichten von Aristoteles, trotz des Umstands, dass nicht alles bei Aristoteles perfekt ist. Einige Dinge übernahm Thomas von Aristoteles nicht und trotzdem zitiert er ihn häufig. Dieses Prinzip gilt umso mehr für jene kirchlichen Dokumente, die unter Umständen manche Unvollkommenheiten enthalten.
Sie erwähnten früher, dass mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine Ära einer neuartigen "Ekklesiozentrik" begann. Stellen Sie diese Erscheinung auch heute noch fest?
Ja. Diese Haltung schlägt sich in der Organisation ständiger klerikaler Treffen, Synoden und fast zahlloser Komitees nieder - die gewaltige Zurschaustellung einer fortwährenden klerikalen Anthropozentrik. Das ist wirklich ungesund.
Sollte nicht, wenn Bischöfe sich treffen, das Gebet an erster Stelle stehen?
Genauso ist es. Die erste Aufgabe der Bischöfe ist es, zu beten. Während der Treffen sollte eine wirklich schöne und würdige Liturgie gefeiert werden, um Gott zu verherrlichen und anzubeten, und ein echtes und aufbauendes brüderliches Teilen von Erfahrungen und Vorschlägen zur Verbesserung des Glaubens und der Disziplin in der Kirche und zur Förderung eines echten geistlichen Lebens stattfinden. Die Begegnungen und Synoden der Bischöfe sollen nicht vor allem Dokumente produzieren und sich vor den Medien selbst darstellen. Ich bin überzeugt, dass die Kirche in der Zukunft, vielleicht in fünfzig Jahren, wenn die Krise vorüber ist, daraus eine Lehre ziehen wird.
Ich würde jetzt aber gern zurückkommen auf Ihren vorigen Kommentar über den Modernismus. Das Konzil war ein Katalysator, der all das zutage förderte, was in der Kirche davor bereits in der Modernismus-Bewegung latent vorhanden war. Papst Pius X. gab eine Enzyklika und einen Eid gegen den Modernismus heraus. Danach kamen jedoch die Modernisten, die sich während seines Pontifikats bedeckt gehalten hatten, vermittels der kirchlichen Personalpolitik langsam aus ihren Schlupflöchern heraus. Während der folgenden Pontifikate ließ man meines Erachtens manchmal bei der Auswahl der Kandidaten für das Bischofs- und Kardinalsamt die nötige Sorgfalt vermissen.
Seit dem Pontifikat von Pius X.?
Es ist kein Geheimnis, dass sein Nachfolger, Benedikt XV., mit dem Pontifikat von Pius X. nicht glücklich war. Das ist eine historische Tatsache. Benedikt XV. war ein Schüler des berühmten Kardinals Rampolla, einer sehr geheimnisvollen Persönlichkeit, die mehr zum politischen Liberalismus neigte und der radikalen anti-klerikalen und freimaurerischen Französischen Republik jener Jahre nahestand. Ich weiß nicht, ob Kardinal Rampolla ein Modernist oder ein Freimaurer war; jedenfalls hatte er ganz klar einen Hang zum politischen Liberalismus. Diese Haltung Rampollas und seiner geistlichen Schüler, allen voran Monsignor Giacomo della Chiesa, der dann Benedikt XV. wurde, zeigte sich in einer neuen Politik gegenüber der Welt. Sie waren überzeugt, dass die Kirche politische Kompromisse mit der Welt eingehen muss. Diese Haltung hatte allerdings im Lauf der Zeit eine weltliche Mentalität bei hochrangigen, einflussreichen Klerikern in der Kirche, vor allem in der römischen Kurie, zur Folge. Benedikt XV. begann, die Politik zu ändern - nicht lehrmäßig, sondern praktisch -, indem er einige Männer in kirchliche Ämter berief, die keine eifrigen Verteidiger des Glaubens waren. Sie mussten zwar alle den Anti-Modernisten-Eid ablegen, doch einige von ihnen taten das mit inneren Vorbehalten, wie spätere historische Tatsachen belegen.
Mit dem Pontifikat Benedikts XV. begann eine langsame, vorsichtige Infiltration von Geistlichen mit einer weltlichen, etwas modernistischen Einstellung in hohe Stellungen in der Kirche. Diese Infiltration vollzog sich besonders unter Theologen, sodass später Papst Pius XII. eingreifen musste durch die Verurteilung bekannter Theologen der sogenannten "nouvelle Theologie" (Chenu, Congar, de Lubac usw.) und die Veröffentlichung der Enzyklika Humani Generis. Doch jedenfalls nahm seit dem Pontifikat Benedikts XV. die modernistische Bewegung verborgen, aber stetig zu. Am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils war daher ein beträchtlicher Teil des Episkopats und der Professoren an theologischen Fakultäten und Seminaren von einer modernistischen Mentalität geprägt, die im Wesentlichen im lehrmäßigen und moralischen Relativismus und in der Verweltlichung, in der Liebe zur Welt, zum Ausdruck kam. Am Vorabend des Konzils haben diese Kardinäle, Bischöfe und Theologen die "Form" - das gedankliche Muster - der Welt geliebt (vgl. Röm 12,2) und wollten der Welt gefallen (vgl. Gal 1,10). Sie legten einen deutlichen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Welt an den Tag.
Papst Johannes XXIII. zeigte ebenfalls eine Art Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Welt. Ich glaube nicht, dass er von seiner Einstellung her Modernist war, allerdings hatte er eine politische Art, die Welt anzuschauen, und bettelte auf seltsame Weise um die Sympathie der Welt. Seine Absichten waren sicher gut. Er berief das Konzil ein, das dann ein Schleusentor für die modernistische, protestantisierende und weltlich gesinnte Bewegung innerhalb der Kirche öffnete. Mich beeindruckt die folgende scharfsinnige Beobachtung, die Charles de Gaulle, französischer Präsident von 1959 bis 1969, über Papst Johannes XXIII. und über den Reformprozess, der mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil begann, machte: "Johannes XXIII. öffnete die Schleusentore und konnte sie nicht mehr schließen. Es war wie ein Dammbruch. Johannes XXIII. wurde überwältigt von dem, was er ausgelöst hatte" (Vgl. Alain Peyrefitte, C'etait de Gaulle [Paris: Gallimard, 1997], 2:19.).
Die Redewendung von der "Öffnung der Fenster" vor und während dem Konzil war eine irreführende Illusion und verursachte Verwirrung. Die Menschen verstanden es in dem Sinn, dass der Geist einer ganz offensichtlich ungläubigen und materialistischen Welt imstande sei, Werte für das Leben der Christen zu vermitteln. Stattdessen hätten die verantwortlichen Personen in der Kirche damals ausdrücklich die wahre Bedeutung der Formulierung "Öffnung der Fenster" erklären sollen, die darin besteht, das Leben der Kirche der frischen Luft der Schönheit göttlicher Wahrheit, der Schätze ewig junger Heiligkeit, der übernatürlichen Erleuchtungen des Heiligen Geistes und der Heiligen zu öffnen. Im Lauf der Zeit, während der nachkonziliaren Jahre und Jahrzehnte, gab das teilweise geöffnete Schleusentor einer verheerenden Flutwelle nach, die enorme Schäden in Lehre, Moral und Liturgie anrichtete. Heute haben die eingedrungenen Fluten eine gefährliche Höhe erreicht. Wir leben auf dem Höhepunkt einer Flutkatastrophe.
Ganz sicher begannen seit Paul VI. liberal-modernistisch eingestellte Geistliche mit einer weltlichen, karriereorientierten Mentalität in den Machtpositionen der Kirche vorzuherrschen. Viele von ihnen waren und sind immer noch durch regelrechte klerikale Seilschaften miteinander verbunden.
Wir haben vorhin über den Modernismus gesprochen und darüber, wie der Modernismus verstandesmäßige Wahrheiten zugunsten eines religiösen Gefühls beiseiteschiebt, das von einer Epoche bis zur nächsten in unterschiedlichen Begriffen ausgedrückt werden kann. Der heilige Pius X. erklärt und verurteilt diese Häresie in seiner Enzyklika Pascendi Dominici gregis. Ist dieses Dokument heute noch von Bedeutung?
Natürlich! Pascendi ist sehr wichtig. Papst Pius X. sagte in Pascendi, der Modernismus sei die gefährlichste Erscheinung in der gesamten Kirchengeschichte. Er sagte, Modernismus ist das Sammelbecken, die "Synthese" aller Häresien aus allen Zeiten, wegen seines Relativismus und Glaubensmangels. Heute erleben wir im Leben der Kirche und in den theologischen Fakultäten das vollständige Überhandnehmen des Modernismus. In gewissem Ausmaß hat der Modernismus sogar in lehramtliche Dokumente Eingang gefunden.
Aber Gott hat das zugelassen. Um also auf Ihre Frage zurückzukommen: Das Gesicht des Modernismus hat sich seit der Zeit des Konzils bis in unsere Tage offenbart. Wir können jetzt genau sehen, was Modernismus ist. Kardinal Christoph Schönborn, der Erzbischof von Wien, hat beispielsweise gesagt, vor Papst Franziskus habe die gesamte Kirche nur eine Seite der Moraltheologie gelehrt, die objektive Seite, und Papst Franziskus habe der Kirche die andere Seite gebracht, die subjektive und individuelle Sicht der Moral. Für mich ist das ein klares Beispiel für einen Bruch, für Modernismus und Relativismus. Zu sagen, wir hätten jetzt eine neue Kategorie, das Subjektive, das für Wahrheitsfragen ausschlaggebend ist, ist falsch. Das entspricht nicht der Wahrheit, die die Kirche seit zweitausend Jahren verkündet hat. Gott gab dem Individuum, dem Subjekt, objektive Normen: "Du sollst nicht töten. Du sollst nicht lügen." Das ist individuell: "Du sollst nicht!" Und die Kirche hat diesen individuellen Aspekt moralischer Wahrheit immer aufrechterhalten. Heute die Kategorie des "Subjekts" einzuführen, um die Sünde abzuschaffen, ist eine unehrliche Vorgehensweise. Das erinnert an die Vorgehensweise der Gnosis, von Martin Luther und letztlich auch an die Ideologie der Freimaurer.
Andere Kardinäle und Bischöfe sprechen von einem "Paradigmenwechsel". Das ist eine sehr hinterlistige Redeweise, um ewige Wahrheiten zu leugnen. Es ist tückisch.
Nun zu Ihrer Beobachtung: Heute hat sich der Schleier gehoben und der Modernismus hat fast sein gesamtes hässliches Gesicht gezeigt. Wenn die Krise in der Kirche vorüber ist, dann steht uns die Aufgabe bevor, all diese Phänomene zurückzuweisen, die heute im Leben der Kirche eine so große Rolle spielen. Und die Kirche wird das tun, denn sie ist göttlich. Sie kann das nicht ungetan lassen. Sie wird es mit Genauigkeit tun und all die Irrtümer richtigstellen, die sich angesammelt haben, angefangen mit einigen mehrdeutigen Formulierungen in den Konzilstexten. Dann wird sie die Irrtümer richtigstellen, die sich bis in unsere Gegenwart ausgebreitet haben.
Der Modernismus ist ein verborgenes Virus, das sich jetzt zeigt und in Zukunft ausgetrieben wird.
Ja, das ist ein guter Vergleich. Nach der Krise, nach dieser schwerwiegenden geistigen Vireninfektion wird die Klarheit und Genauigkeit der Lehre heller leuchten.
Sie haben die "Erklärung der Wahrheiten in Bezug auf einige der häufigsten Irrtümer im Leben der Kirche unserer Zeit" angeregt und waren einer der Hauptbeiträger. Unterzeichnet wurde sie von Ihnen, zwei Kardinälen und zwei Bischöfen am 31. Mai 2019 (Der Text findet sich im Anhang). Hoffen Sie, dass ein zukünftiger Papst oder ein Konzil diesen oder einen ähnlichen Text übernehmen wird?
Ich hoffe nicht nur, dass ein zukünftiger Papst oder ein Konzil etwas in dieser Art veröffentlichen wird; ich bin davon überzeugt, dass die Kirche das in ganz unzweideutiger Weise tun wird, so wie sie es in Zeiten ernsthafter Krisen in Lehre und Moral in den vergangenen zweitausend Jahren stets getan hat. Die Wahrheiten göttlichen Glaubensgutes klar zu lehren, die Gläubigen vor dem Gift des Irrtums in Schutz zu nehmen und sie auf einem sicheren Weg zum ewigen Leben zu führen - das gehört zum innersten Wesen der von Gott übertragenen Aufgabe des Papstes und der Bischöfe. Deshalb, so meine ich, ist das keine Frage des "man sollte". Ein zukünftiger Papst muss das tun, denn die Kirche ist göttlicher Natur und sie hat Irrtümer immer verurteilt. Wie ein guter Arzt, so muss ein zukünftiger Papst eine Diagnose stellen und Medizin reichen, um die Krankheit zu heilen, andernfalls ist er kein guter Arzt.
Vor dem Zweiten Vatikanum war das immer der Grund, warum ein Konzil einberufen wurde, nicht wahr?
Ja, genau. Es war eine geistliche medizinische Behandlung, um die Seelen vor geistlichen Krankheiten zu bewahren. In diesem Sinn glaube ich, dass das Zweite Vatikanische Konzil eine positive Bedeutung hat, insofern als die Lehre geklärt wird und die positiven Punkte des Konzils herausgestrichen werden - also der Aufruf zur Heiligkeit, die Rolle der Laien in der Verbreitung und Verteidigung des Glaubens, die Familie als Hauskirche und Unsere Liebe Frau, die Mutter der Kirche und geistliche Mutter aller Menschen.
Solange wir darauf warten - was geschieht in dieser Zwischenzeit mit den Seelen, die wegen dieser ganzen Verwirrung verloren sind?
Ja, das ist eine sehr wichtige Frage. Ich glaube, dass ein großer Teil der Gläubigen heutzutage von Geistlichen in die Irre geführt wird. Im Evangelium sagt der Herr, dass jene, die mehr empfangen haben, auch strenger zur Rechenschaft gezogen werden. "Jener Knecht aber, der den Willen seines Herrn kannte, nichts vorbereitet oder nach seinem Willen getan hat, wird viele Schläge bekommen. Der jedoch, der ihn nicht gekannt, aber getan hat, was Schläge verdient, wird wenig Schläge bekommen. Wem aber viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert werden; und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man umso mehr verlangen" (Lk 12,47-48). Diese Laien bekommen weniger Schläge, weil sie von denen, die sie eigentlich gut unterrichten sollten, keine Belehrung oder sogar eine verzerrte Belehrung erhalten haben. Daher sind sie meiner Meinung nach weniger verantwortlich. Ich glaube, sie werden von unserem Herrn milder beurteilt als die Geistlichen. Doch je höher der geistliche Rang der Kleriker, desto strenger wird das Urteil ausfallen, denn sie hatten die Aufgabe, wachsam zu sein und die Herde vor Krankheit und Gefahr zu beschützen, und taten es nicht, ja, sie halfen noch, Krankheit und Gefahr zu verbreiten, und verhielten sich wie Wölfe in Schafspelzen.
9. Päpstliche Gewalt
Exzellenz, die katholische Kirche sagt, dass Jesus dem heiligen Petrus, dem ersten Bischof von Rom, besondere Vorrechte verliehen hat und dass jeder Nachfolger Petri der unter göttlichem Schutz stehende Wächter des Glaubens ist, der als oberstes sichtbares Haupt der Kirche eine unvergleichliche Rolle einnimmt. Bedeutet das aber, dass der Papst unbegrenzte Macht hat? Oder würden Sie sagen, dass die päpstliche Macht Grenzen hat?
Das ist eine sehr gute Frage. Sie steht in Verbindung mit unserem vorigen Thema, dem Konzil und dem Lehramt. Die päpstliche Autorität ist ein untergeordnetes Lehramt. Es ist dem in der Heiligen Schrift festgehaltenen Wort Gottes untergeordnet und dem übermittelten Wort Gottes in der heiligen Tradition, außerdem der immerwährenden Lehre aller Vorgänger des Papstes entsprechend dem beständigen Glaubenssinn der gesamten Kirche (perennis sensus ecclesiae). Päpstliche Autorität ist daher wesentlich stellvertretender Natur. Der Papst ist eigentlich in der Kirche die Person mit der wenigsten Freiheit, weil seine Autorität sehr beschränkt ist, denn er ist nur der Verwalter von etwas, das nicht ihm, sondern Christus gehört. Der Papst ist der Letzte in der Kirche, der sagen könnte: "Jetzt werde ich tun, was ich will!"
Seit der Zeit des heiligen Gregor des Großen haben die Päpste den Titel servus servorum Dei übernommen. Servus bedeutet nicht Minister, sondern Knecht oder Sklave. Servus drückt eine sehr niedrige Stellung aus. Ein servus muss die Befehle seines Herrn ausführen. Der Papst ist aber nicht der Herr, trotz der Bezeichnung Sanctissimus Dominus. Er muss sich ständig bewusst bleiben, dass er ein servus, ein Sklave, ein Knecht ist, also eine Haltung einnehmen muss wie Unsere Liebe Frau zum Zeitpunkt der Menschwerdung. In ihrer Antwort an den Engel gab die selige Jungfrau Maria allen Menschen, besonders aber den Geistlichen, das vollkommene Beispiel dafür, ein "Knecht" des Herrn zu sein: Ecce ancilla Domini ("Ich bin die Magd des Herrn"). Die Haltung des Papstes, der Bischöfe und der Priester muss vor allem dieser Haltung Marias entsprechen.
Ein anderer Titel des Papstes ist Vicarius Christi, "Stellvertreter" oder "Vertreter" Christi.
Ich habe einmal einen amüsanten Witz über die Bedeutung des lateinischen Wortes vicarius gehört. Wenn man" vicarius" vertikal schreibt, kann man den Buchstaben folgende Wörter zuordnen:
V (vir, Mann);
I (inutilis, unnützer);
C (carens, entbehrend);
A (auctoritate, Autorität);
R (raro, selten);
I (intelligens, verstehend);
U (umbra, Schatten);
S (superioris, des Oberen).
Die nützlichste Eigenschaft in diesem Witz ist die Bezeichnung "umbra superioris" - der Schatten des Oberen, seines Vorgesetzten. Das sollte die innerliche Haltung jedes Priesters und Bischofs und auch des Papstes selbst sein, denn ihr Vorgesetzter ist Jesus Christus. Der Papst soll ständig auf den Herrn verweisen und selbst abnehmen, so wie Johannes der Täufer es tat. Der Papst sollte den Herrn mit seinen Handlungen nicht verdunkeln, er soll vielmehr der Schatten seines Oberen sein, umbra superioris, der Christus ist.
Das ist die Aufgabe des Lehramts und des Papstes: treue Verwalter zu sein. Im Evangelium sagt unser Herr: "Wer ist also der treue und kluge Knecht, den der Hausherr über sein Gesinde gesetzt hat, um ihnen zur rechten Zeit Nahrung zu geben?" (Mt 24,45). Die gewaltige Versuchung bei Geistlichen besteht darin, sich selbst als Herrn zu sehen und sich wie ein solcher zu verhalten, nicht aber als Verwalter. Je höher der kirchliche Rang, desto gefährlicher ist diese Versuchung. Deshalb muss vor allem der Papst bei jeder lehramtlichen Aussage größte Vorsicht walten lassen, aber auch in seinen Gesten und Handlungen. Der Papst muss jedes Wort, das er spricht, sorgfältig erwägen. Ich glaube, in Zukunft muss es einen Papst geben, der ausdrücklich und offiziell den ungesunden Ultramontanismus und die Papolatrie korrigiert, die in den letzten Jahrhunderten das Leben der Kirche angesteckt und gegenwärtig ihren Höhepunkt erreicht haben.
Wahrscheinlich wird er das sowohl auf lehramtliche wie auf pastorale Weise tun müssen.
Natürlich. Ich bin der Meinung, dass Päpste wenig sprechen sollten, teilweise weil die Inflation von Äußerungen des Papstes de facto das Lehramt der Bischöfe verdunkelt. Durch seine ständigen Äußerungen wurde der Papst zum Dreh- und Angelpunkt des täglichen Lebens der Kirche. Dabei sind doch die Bischöfe die von Gott eingesetzten Hirten ihrer Herde. In gewisser Weise werden sie durch einen ungesunden Papst-Zentrismus geradezu gelähmt. Das widerspricht auch der ständigen Überlieferung der Kirche, wie sie die Kirchenväter und vor allem der heilige Papst Gregor der Große bezeugen. Die Kirchenväter, die beinahe alle Bischöfe waren, unterstrichen nachdrücklich die Wichtigkeit des Bischofsamtes. Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben die Bischöfe ihre Lehrfunktion in Form von Hirtenbriefen ernster genommen. Diese Briefe waren meistens dogmatisch sehr klar und pastoral nützlich.
Ist das nicht ironisch? Heute gewinnen wir einerseits den Eindruck, dass die Bischöfe für Wichtiger gehalten werden und mehr tun, aber dabei scheinen sie eher passiv und wirkungslos zu sein.
Das Zweite Vatikanische Konzil legte großen Wert auf die sogenannte bischöfliche Kollegialität. Andererseits können wir in den letzten Jahrzehnten beobachten, dass diese Lehre und ihre Umsetzung in die Praxis einige Zweideutigkeiten und Gefahren enthalten. Die Gefahr besteht darin, dass kollegiale Organismen, vor allem Bischofskonferenzen, häufig die durch Gott eingesetzte Autorität einzelner Diözesanbischöfe verdunkeln und begrenzen. Die Kollegialität und die sogenannte "Synodalität" sind in ihrer Anwendung dann mangelhaft, wenn sie der durch Gott begründeten Struktur der Kirche schaden.
Der extreme Papst - Zentrismus in der heutigen Kirche hat es für Bischöfe fast unmöglich gemacht, öffentlich, brüderlich und natürlich mit allem gebotenen Respekt den Papst zu ermahnen, wenn er offenkundig von der beständigen Lehre all seiner Vorgänger und von der unveränderlichen sakramentalen Praxis der Kirche abweicht. In den zugegeben sehr seltenen Fällen, wenn ein Papst durch seine nicht definitiven Lehren oder durch seine Unterlassungen der Klarheit und Unversehrtheit der Glaubenslehre und der Sakramentendisziplin beträchtlich schadet, gibt es für die Bischöfe die Möglichkeit, nicht nur privat, sondern auch öffentlich den Papst brüderlich zurechtzuweisen. Wenn ein solcher Akt brüderlicher Zurechtweisung nicht als Ärgernis erregend angesehen würde und wenn Bischöfe, die eine Ermahnung aussprachen, keine Vergeltungsmaßnahmen befürchten müssten und wenn ihr Vorgehen nicht fälschlich als "schismatisch" abgetan würde, dann würde der wahre Geist der Kollegialität, den das Zweite Vatikanum theoretisch anstrebte, auch praktisch umgesetzt - grundsätzlich und ausschließlich zum allgemeinen geistlichen Wohl der Seelen.
Ich meine, dass ein zukünftiger Papst ein Dokument über das Papstamt selbst herausbringen müsste, in welchem er die Irrtümer der Papolatrie (der übertriebenen Papstverehrung) richtigstellt, aber auch zum Ausdruck bringt, dass es manchmal möglich und nötig ist, dass Bischöfe - natürlich mit Respekt und Klugheit - den Papst öffentlich ermahnen, wenn er von der ununterbrochenen und beständigen Überlieferung der Kirche abweicht; und dass ein solcher Akt nicht als respektlos, ungehorsam oder schismatisch angesehen werden sollte. Ich denke beispielsweise an den Fall, als im Jahr 2016 vier Kardinäle die an Papst Franziskus gerichteten Dubia veröffentlichten - ein Akt, der alles andere als respektlos, ungehorsam oder schismatisch war.
Meinen Sie, dass die gegenwärtige Krise zu einer Korrektur der Papolatrie, also dieser übertriebenen Papstverehrung, führen wird?
Ja, ich nehme an, dass die Kirche nach dieser Krise die Situation korrigieren wird. Sie haben nach der Rolle des Papstes gefragt. In Kasachstan habe ich recht häufig Kontakt mit den Orthodoxen, die 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ich habe Kontakt mit einigen orthodoxen Bischöfen und Priestern. Kürzlich habe ich einen orthodoxen Priester besucht. Er ist mir sehr wohlgesonnen und hat mich mehrmals zum Abendessen mit seiner Familie eingeladen. Bei diesem einen Besuch war auch ein orthodoxer Theologe dabei. Dieser sagte zu mir: "Ich glaube an das Dogma vom Primat des Papstes." Und er fuhr fort: "Wir als Orthodoxe könnten allerdings nie ein Papsttum in der Form akzeptieren, wie es momentan von Papst Franziskus gelebt und praktiziert wird. Das ist für uns ein unglaublicher Fall von Papst-Zentrismus und von Papolatrie." Der orthodoxe Priester und der Theologe sagten zu mir: "wir könnten sogar das Erste Vatikanum akzeptieren, den Primat und die Unfehlbarkeit, jedoch in der Form, wie sie beispielsweise von Leo dem Großen und Gregor dem Großen konkret gelebt wurden."
Wobei man ja sagen muss, dass es nicht erst mit Papst Franziskus anfing, dass der Papst wie ein Rockstar behandelt wird.
Wie gesagt: Das geht auf eine Bewegung im 19. Jahrhundert zurück, den sogenannten "Ultramontanismus". Damals gab es noch kein Fernsehen, kein Internet, nicht einmal Radio. Hätten diese Medien im 19. Jahrhundert jedoch existiert, dann wäre Papst Pius IX. womöglich ein Star gewesen - und vielleicht sogar Pius X., ich weiß es nicht. Diese extreme Papst-Zentriertheit geschah aus guter Absicht, denn als die Feinde der Kirche in der Französischen Revolution dazu ansetzten, den Fels Petri anzugreifen, fingen die Gläubigen ihrerseits instinktiv an, ihren gemeinsamen Vater zu verteidigen. Und der Fels Petri war während dieser Pontifikate ein echter Fels. Ich bin also der Meinung, dass es eine Sache des geschichtlichen Zusammenhangs ist.
Papst Johannes Paul II. sagte bereits in seiner Enzyklika Ut Unum Sint über den Ökumenismus, dass seine Brüder ihm helfen sollten, "eine Form der Primatsausübung zu finden" (n. 95), die angemessener wäre für die Einheit der Kirche. Die Korrektur der Papolatrie muss der Papst jedoch selbst vornehmen, zuerst durch sein Beispiel, vor allem aber durch ein Dokument. Das Beispiel reicht nicht aus. Ein Papst stirbt und es folgt ein anderer nach. Wenn jedoch ein päpstliches Dokument über das Petrusamt verfasst würde, in dem auch diese praktischen Aspekte berücksichtigt sind, dann gäbe es einen konkreten Bezugspunkt für zukünftige Fälle offensichtlichen und objektiven Missbrauchs des Petrusamtes.
Sehen Sie das gegenwärtige Pontifikat von Papst Franziskus als das Ergebnis des Zweiten Vatikanums?
Dieses Pontifikat ist eine logische Folge des sogenannten "Geists des Konzils" und der missverständlichen Elemente in einigen Konzilstexten. In den letzten fünfzig Jahren wurden viele Aussagen des Konzils falsch interpretiert und umgesetzt, häufig gegen die eigentlichen Absichten der Konzilsväter. Heute haben wir den Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht, vor allem auf dem Gebiet der Morallehre, im Zusammenhang mit dem Thema der Geschiedenen und bürgerlich Wiederverheirateten und im Hinblick auf die sogenannte "Verschiedenheit der Religionen". Fast auf jeder kirchlichen Ebene hat ein lehrmäßiger, moralischer und liturgischer Relativismus um sich gegriffen. Vor gar nicht langer Zeit hat beispielsweise der Vizepräsident der Deutschen Bischofskonferenz öffentlich festgestellt, dass die Kirche ernsthaft darüber nachdenken muss, homosexuelle Verbindungen zu segnen. Der Vizepräsident einer Bischofskonferenz sagt so etwas öffentlich und der Heilige Stuhl unternimmt nichts! Noch schlimmer ist, dass in den vergangenen Jahren Bischöfe zu Kardinälen und Priester zu Bischöfen gemacht wurden, von denen man wusste, dass sie in ihrem Privatleben Homosexualität praktizierten, und die sich gleichzeitig öffentlich für die moralische Zulässigkeit homosexueller Handlungen aussprachen.
Aber wie kommt man aus diesem Sumpf wieder heraus?
Ich glaube, es ist gut, dass diese Kleriker jetzt aus ihren Schlupflöchern herauskommen und ihre Gesichter zeigen. Die göttliche Vorsehung hat das zugelassen. Ich finde, der nächste Papst sollte ein Papst sein, der bereit ist, für die Verteidigung Christi, für die Verteidigung der Wahrheit sein Leben hinzugeben. Der Papst sollte einen häretischen Bischof oder Kardinal öffentlich dazu auffordern, seine Irrtümer zurückzunehmen, und wenn ein Bischof oder Kardinal sich weigert' dann müsste er abgesetzt werden. Wenn ein Papst so vorgehen würde, dann würden es Bischöfe und Kardinäle nicht wagen, lehramtliche Irrtümer und Häresien zu äußern oder zu lehren und damit die Gläubigen geistlich zu vergiften.
Wissen Sie, woran viele Bischöfe und Kardinäle, sogar die liberalen, am meisten hängen?
Woran?
Mehr als alles in der Welt lieben sie ihren Stuhl, d. h. ihre Karrierestellung, die sie einnehmen. Ja, das ist es, was sie mehr lieben als ihr Leben. Um dieser Position willen würden sie sogar das Opfer bringen, ihre Häresien zu widerrufen - einfach um ihre Stellung zu behalten.
Haben Sie den Eindruck, dass die Kirche verweltlicht wird, und würden Sie sagen, der gegenwärtige Papst fördert das?
Ja, das erleben wir heute. Der Säkularismus ist sehr stark, weil Papst Franziskus überwiegend - und meiner Meinung nach in übertriebener Weise - Themen anspricht, die an sich nicht zur Aufgabe der Apostel, der Nachfolger der Apostel gehören, denn er fördert überwiegend rein weltliche Belange.
Wie beispielsweise ...
Zum Beispiel den Klimawandel, die Umwelt, das Achtgeben auf die Plastikmüllentsorgung, die Einwanderung. Das sind keine spezifisch kirchlichen Kompetenzbereiche; ,sie gehören in den Verantwortungsbereich der Regierung. Vor dem Konzil haben die Liberalen oder die Welt häufig die Kirche beschuldigt, sich unrechtmäßig in Angelegenheiten eingemischt zu haben, die eigentlich in den Aufgabenbereich der weltlichen Macht fallen. Heute findet das tatsächlich statt, durch die übertriebene Sorge des Papstes um weltliche und zeitliche Angelegenheiten. Der Papst mischt sich in Dinge ein und beschäftigt sich mit Aufgaben, die in den Bereich der weltlichen Macht gehören.
Wenn wir in die Geschichte schauen, dann finden wir dort durchaus Beispiele von Päpsten, die sich hauptsächlich mit weltlichen Angelegenheiten befassten. Ich denke etwa an Papst Julius II., der einen großen Teil seiner Zeit mit Kriegsführung zubrachte - zu Pferd und gekleidet wie ein Heereskommandant; oder Leo X., der seine Zeit überwiegend mit Kunst und Vergnügungen zubrachte und sich nicht um den gefährlich zunehmenden Flächenbrand der lutherischen Häresie im Heiligen Römischen Reich kümmerte, vor allem in Deutschland und in Nordeuropa.
Es könnte auch sein, dass - im Fall des Klimawandels beispielsweise - weltliche Instanzen in die Kirche eindringen und sie benutzen, um sich moralische Autorität zu verschaffen und ihr eigenes Programm zu verfolgen.
Sehr richtig. Wenn die Bischöfe und der Papst die übernatürlichen Realitäten und die vorrangige Sorge um die Seelen vernachlässigen, dann wenden sie sich manchmal der Sorge um leibliche Dinge zu. Die Apostel verweigerten sich dem, wie wir im sechsten Kapitel der Apostelgeschichte lesen können. Der heilige Petrus, der erste Papst, sagte, es ist nicht recht für sie, "an den Tischen zu dienen", das heißt sich um die leiblichen und zeitlichen Bedürfnisse der Menschen zu kümmern, während sie das Gebet und den Dienst am Wort und die Verkündigung der geoffenbarten Wahrheiten vernachlässigen. Ich würde der Beobachtung zustimmen, dass gegenwärtig im Leben der Kirche und in der Politik des Heiligen Stuhls ein sehr starker Säkularisierungsprozess stattfindet.
Wird die Kirche auch protestantisiert?
Die Protestanten trennten den geistlichen Bereich sehr streng vom weltlichen Bereich. Sie sagten: "Ich lebe meinen Glauben subjektiv, und was da draußen geschieht, kümmert mich nicht." Geschichtlich gesehen hatten die meisten Protestanten keine starke Laienbewegung, die Christus in der Gesellschaft vergegenwärtigt, Christus und das Evangelium im öffentlichen Leben verteidigt hätte. Heutzutage gibt es aber Gott sei Dank protestantische Gruppen, die öffentlich gegen Abtreibung, Homosexualität usw. protestieren.
Eine Protestantisierung vollzieht sich in der Kirche durch den Modernismus, denn der Modernismus ist aus einem protestantischen Geist geboren. Luther sagte: "Ich interpretiere jetzt die gesamte Tradition auf eine neue Weise." Die katholischen Modernisten sagen ebenfalls, dass sie die Tradition auf eine neue Weise interpretieren. Die Denkweise des Modernismus ist letztlich protestantisch. Mit der Förderung von Relativismus und Modernismus in der Kirche von heute werden auch der Protestantismus und seine subjektivistischen Prinzipien gefördert. Wir können das ganz deutlich an den Problemen ablesen, die im Zusammenhang mit dem päpstlichen Dokument Amoris Laetitia aufkamen. Viele pastorale Richtlinien zur Umsetzung des Dokuments erlauben die Kommunion für unbußfertige Ehebrecher aufgrund subjektiver Einsicht und Gewissensentscheidung. Das ist schlichtweg ein protestantisches Prinzip.
Um zu einem anderen Aspekt päpstlicher Gewalt zu kommen: Wie sehen Sie das Verhältnis von Heiligsprechungen zur päpstlichen Unfehlbarkeit?
Zur Veranschaulichung dieser Thematik möchte ich zunächst auf das historische Beispiel der Stellung der heiligen Philomena zu sprechen kommen, der Lieblingsheiligen des heiligen Johannes Maria Vianney - einem der größten Heiligen überhaupt. Er wirkte Wunder und diese Wunder schrieb er der heiligen Philomena zu; er hatte sogar mehrere Visionen von dieser Heiligen. Das Grab der heiligen Philomena wurde in den Katakomben zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckt und ihre Verehrung breitete sich sehr schnell aus. Allerdings gab es fast keine historischen Dokumente über ihr Leben. Trotzdem erhielt sie von Papst Pius IX. im Jahr 1855 eine eigene Messe und ein eigenes Offizium und ihre Verehrung wurde durch Leo XIII. und Pius X. mit päpstlichen Begünstigungen überschüttet. Papst Johannes XXIII, ließ sie dann später aus jeglichem liturgischen Kalender entfernen. Mit dieser Maßnahme wurde die Verehrung einer beliebten Heiligen unterdrückt. Sie wurde nahezu zweihundert Jahre als die heilige Philomena verehrt und dann hat sie sich einfach in Luft aufgelöst. Im Rahmen eines öffentlichen cultus war sie als Heilige anerkannt und dann war sie weg. Ob wir nun diesen Entscheidungen zustimmen oder nicht - jedenfalls war es eine historische Beweisführung, durch die sie in den liturgischen Kalender aufgenommen wurde, und es war eine historische Beweisführung, die sie daraus wieder entfernte. Die Heiligsprechung war also nicht unfehlbar, sondern abhängig von historischen Informationen.
Heiligsprechungen geschehen auf unterschiedliche Weisen: Namen werden in die Liste der Heiligen aufgenommen entweder durch eine Verfügung des Papstes ohne einen vorangegangenen kanonischen Heiligsprechungsprozess oder durch einen offiziellen Prozess der Seligsprechung und anschließender Heiligsprechung. Im 16. Jahrhundert wurden einige Namen von Heiligen durch Kardinal Caesar Baronius, den Redakteur des Martyrologium Romanum, einfach eingefügt. So haben wir dank Kardinal Baronius viele Heilige im Martyriologium, für die der Papst gar keinen Heiligsprechungsprozess angeordnet hatte. Der Papst übernahm einfach die von Kardinal Baronius vorgeschlagenen Namen und gab ihnen seine päpstliche Zustimmung.
Wie die Geschichte des Martyrologiums zeigt, wenn wir also auf zweitausend Jahre Geschichte blicken, dann sehen wir, dass Seligsprechungen und sogar Heiligsprechungen keinen definitiven dogmatischen Wert von unfehlbaren päpstlichen ex cathedra- Entscheidungen in dem Sinne haben, wie sie das Erste Vatikanische Konzil definiert hat.
Wenden wir uns von den Heiligen im Himmel zur Kirche hier auf Erden zu: Was halten Sie für die angemessene Rolle päpstlicher Jurisdiktion in der Kirche und in welcher geistlichen Beziehung sollte der Papst zu den Bischöfen und den Gläubigen stehen?
Der Papst ist der Stellvertreter Christi und der oberste Hirte in der Kirche. Er hat die Jurisdiktion über den Klerus und die Gläubigen. Doch unser Herr sagt im Evangelium, als die Jünger darüber diskutierten, wer der Erste sei: "Wer unter euch der Erste sein will, soll euer Knecht sein" (Mt 20,27). Damit ist der Papst gemeint. Er muss seinen Brüdern dienen. Unmittelbar davor sagt unser Herr zu den Aposteln: "Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterjochen und die Großen Gewalt an ihnen verüben. Bei euch soll es nicht so sein" (Mt 20,25). Er sagt das im größeren Zusammenhang der Frage, wer der Erste unter ihnen sein würde, das war also ein Hinweis für den Papst. Ich meine, daran sollte der Papst immer denken: "Ich soll mich nicht zum Herrn über meine Brüder Bischöfe machen."
Es ist eine bedauerliche Tatsache, dass mit der Zunahme der politischen Macht der römischen Päpste als der zeitlichen Herrscher des Kirchenstaats diese im Lauf der Zeit auch das Auftreten eines weltlichen Monarchen angenommen haben, und das sogar in ihrer Beziehung zu ihren Brüdern, den Bischöfen. Solch eine weltlich-politische Haltung hatte manchmal Merkmale eines päpstlichen Absolutismus, unter dem Motto: "Ich bin die Kirche" - in Anlehnung an das politische Motto von König Ludwig XIV, von Frankreich: "L´Etat c'est moi." In Fällen, wo die Päpste vom Geist des weltlichen Absolutismus angesteckt wurden, nahm die Beziehung zwischen dem Papst und den Bischöfen häufig den Charakter der Beziehung zwischen einem Chef und seinen Angestellten an. Eine solche Beziehung steht im Widerspruch zu den Worten unseres Herrn und zum Wesen des Petrusamtes.
Daher war die Absicht des Zweiten Vatikanischen Konzils, auf das von Gott gegründete Amt der Bischöfe und auf die bischöfliche Kollegialität eigens hinzuweisen. Allerdings ist die Feststellung in Lumen Gentium Nr. 22, dass es zwei oberste ständige Autoritäten für die Leitung der gesamten Kirche gibt - einerseits den Papst und andererseits das gesamte Bischofskollegium mit dem Papst -,lehrmäßig zweideutig und bedarf einer weiteren Klarstellung.
Die orthodoxen Kirchen fürchten sich vor einem päpstlichen Absolutismus nach weltlicher Manier. Sie befürchten, der Papst werde sie nach der Art weltlicher Herrscher dominieren und unterjochen, wenn sie seine pastorale Autorität anerkennen. Natürlich muss der Papst Autorität ausüben, wenn beispielsweise Bischöfe und Priester Häresien, Sakramentenmissbrauch und sittliche Ärgernisse verbreiten. Wenn jedoch ein Bischof mit hohem moralischem Niveau sich mit Eifer für die Unversehrtheit der Lehre und Disziplin in seiner Diözese einsetzt, dann soll der Papst solchen Bischöfen freie Hand lassen, denn sie leisten gute Arbeit. Der Papst sollte solche Bischöfe nicht behindern, sondern ermutigen. Das ist seine Aufgabe.
Die Aufgabe des Papstes betrifft die gesamte Herde und alle Gläubigen. Er muss der gute Hirte sein, der die Herde vor den Wölfen verteidigt. Der Papst muss der erste Verteidiger gegen die Wölfe sein. Er muss wachsam sein und die Wölfe vertreiben, die sich - manchmal verkleidet als Kardinäle, Bischöfe und Priester - in die Kirche eingeschlichen haben. Der Papst muss die Kirche vor den Wölfen verteidigen, bis zur Hingabe seines Lebens, wie es ja auch Jesus sagt: "Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe" (Joh 11,11).
Natürlich kann ein Papst sein Leben als Opfer hingeben, indem er bis zum Ende unerschütterlich standhält und in seinem Bett stirbt. Ich glaube jedoch, dass unser Herr eher meinte, dass ein Hirt seine Herde verteidigen und auch bereit sein muss, sich töten zu lassen, wenn es unvermeidlich ist. Der Papst gibt auch dann sein Leben für seine Herde, wenn er moralisch angegriffen oder verleumdet wird. Sein Name "Petrus" bedeutet, dass er ein Fels sein muss, der fest stehen bleibt und nicht wankt. Der Papst hat keine Vollmacht, die Lehre zu ändern; er darf nur weitergeben, was er empfangen hat. Das ist es, was mit dem "Stärken" der Brüder im Glauben und in der Wahrheit gemeint ist, denn das ist die Macht, die er hat: lediglich "stärken"; er hat keine Macht, die Wahrheit zu verändern oder eine neue Wahrheit zu erfinden. Die wahre Ehre eines Papstes kommt zum Ausdruck in dem, was der heilige Paulus sagt: "Tradidi quod et accepi': "Ich habe euch weitergegeben, was ich selbst empfangen habe." Ich mag dieses Zitat vom heiligen Paulus sehr gern (vgl. 1 Kor 11,23). Der Satz steht auch auf dem Grabstein von Erzbischof Marcel Lefebvre.
10. Die Priesterbruderschaft St. Pius X.
Am Schluss unseres letzten Gesprächs erwähnten Sie Erzbischof Marcel Lefebvre. Wenden wir uns also nun eigens der Priesterbruderschaft St. Pius X. zu. Sie wurden im Jahr 2015 zu einem der Visitatoren der Piusbruderschaft gewählt. Warum, meinen Sie, hat man Sie ausgewählt?
Ich kenne die Gründe nicht. Die päpstliche Kommission Ecclesia Dei bat mich, mehrere Häuser der FSSPX zu besuchen, um theologische Gespräche mit einer Gruppe von Priestern und mit dem Generaloberen Bischof Bernard Fellay zu führen (Nachdem dieses Interview stattgefunden hatte, löste Papst Franziskus die päpstliche Kommission Ecclesia Dei auf und übertrug ihre Aufgaben einer Abteilung innerhalb der Glaubenskongregation). Vielleicht fiel die Wahl auf mich, weil ich öffentlich die überlieferte Messe zelebriere. Es wäre ratsam, einen solchen Bischof zur Piusbruderschaft zu entsenden und nicht unbedingt Kardinal Kasper oder Kardinal Marx ...
Was hatten Sie nach Ihrer Visitation für Eindrücke von der Piusbruderschaft?
Im Großen und Ganzen hatte ich einen positiven Eindruck. Ich lebte den gesamten Tagesablauf der Seminaristen und der Priester mit. Ich nahm an den Gebeten teil, an den Mahlzeiten im Refektorium, an der Rekreation. Auf ihre Bitte hin sprach ich auch mit einzelnen Seminaristen und Priestern und natürlich unterhielt ich mich lange mit Bischof Fellay und anderen Oberen der Piusbruderschaft. So hatte ich eine breite Erfahrungsbasis, um die Situation der Piusbruderschaft angemessen auswerten zu können. Natürlich gibt es negative Punkte in jeder Gemeinschaft, sonst wären wir bereits im Himmel. Doch insgesamt hatte ich einen positiven Eindruck. Menschlich gesprochen erfuhr ich eine angenehme Atmosphäre. Ich traf mit Priestern und Seminaristen zusammen, die ausgeglichen und normal waren. Sie empfingen mich als Bischof mit Respekt. Ich sah sogar ein Foto von Papst Franziskus an der Wand. In der Sakristei sah ich Namensschilder mit dem Namen von Papst Franziskus und dem Diözesanbischof - nicht jedoch den Namen von Bischof Fellay. Das ist ekklesiologisch gesehen korrekt. Ich glaube, die meisten Leute wären schockiert, wenn sie hören würden, dass in den Häusern der Piusbruderschaft das Bild des gegenwärtigen Papstes an der Wand hängt sowie die Namensschilder des gegenwärtigen Papstes und des Diözesanbischofs in der Sakristei.
Als ich das den Priestern der Piusbruderschaft gegenüber ansprach, sagten sie zu mir: "Wir haben das Bild von Papst Franziskus nicht erst aufgehängt, bevor Sie gekommen sind."
Haben Sie viele Fotos von Erzbischof Lefebvre oder Bischof Pellay gesehen?
Von Bischof Fellay habe ich in den Sakristeien kein einziges Bild gesehen, sondern nur den Namen und manchmal sogar das Bild des Papstes und des Ortsbischofs. Natürlich gab es Fotos von Erzbischof Lefebvre und dem heiligen Pius X.
Und welche Erkenntnisse gewannen Sie aus der Untersuchung der Bruderschaft? Die Leute sagen, dass sie mittlerweile sehr reich ist und dass es womöglich Fälle von Korruption gibt. Ist Ihnen etwas in der Art aufgefallen?
Die Häuser, die ich besucht habe, hatten eine gute religiöse Observanz und Treue und zeigten Eifer im Gebet. Ich habe an den von mir besuchten Orten keinen Luxus festgestellt. In einigen Seminaren und bischöflichen Ordinariaten in Deutschland und den USA habe ich durchaus Reichtum und Luxus erlebt. In den Häusern der Piusbruderschaft hingegen nicht. Ich habe das Generalatshaus in Menzingen in der Schweiz besucht, es war schön und einfach. Wo ich gewesen bin, habe ich keinen Reichtum, keinen Luxus gesehen.
Und wie verliefen Ihre theologischen Diskussionen?
In den theologischen Diskussionen bemerkte ich eine Haltung von Misstrauen gegenüber Rom, gegenüber anderen, die nicht zur Bruderschaft gehören. Aber diese Haltung ist ja psychologisch verständlich. Seit vierzig Jahren hat die Bruderschaft keine offiziellen kanonischen Beziehungen mit Rom und mit den Ortsbischöfen. Eine solche Situation bringt eine Gefahr mit sich, das habe ich Bischof Fellay und den anderen Priestern zu verstehen gegeben. Ich sagte: "Ihre Gefahr ist, dass Sie im Lauf der Zeit einen Geist kirchlicher Selbstständigkeit und eine Art Getto-Mentalität entwickeln werden." Ich schlug vor, dass sie doch um kanonische Anerkennung durch den Heiligen Stuhl nachsuchen sollten. Ich habe es vermieden, von "Versöhnung" zu sprechen, ich sagte stattdessen "Anerkennung". Ich sagte: "Sie haben ein Recht darauf, von der Kirche anerkannt zu werden, denn Sie bilden Seminaristen aus, predigen, geben Katechese und feiern die Sakramente, so wie die Kirche es schon immer getan hat."
In den Häusern, die ich besucht habe - das Generalatshaus in Menzingen (in der Schweiz), die Seminare in Flavigny (Frankreich), in Winona (USA) und in Zaitzkofen (Deutschland) -, nahm ich an den Gebeten während der feierlichen Aussetzung des Allerheiligsten Altarsakraments teil. Ich war berührt, als ich das feierliche, gregorianisch gesungene Gebet für den Papst hörte: Oremus pro pontifice nostro Francisco. In vielen Seminaren und Kirchen der katholischen Welt wird das feierliche Gebet für den Papst nicht gesungen - die Piusbruderschaft hingegen singt es durchaus. Einmal habe ich eine Gruppe von Familien getroffen, die zum Apostolat der Piusbruderschaft gehören, und die Eltern erzählten mir, dass ihre Kinder den Rosenkranz für Papst Franziskus beten. Wie kann man solche Haltungen und Handlungen für diejenigen von Schismatikern halten?
Meinen Sie, sie werden zur vollen Gemeinschaft zurückkommen, was immer das heißen mag?
"Volle Gemeinschaft" ist meiner Ansicht nach nicht der richtige Ausdruck. Sie befinden sich bereits in Gemeinschaft mit der Kirche, weil sie den gegenwärtigen Papst anerkennen, sie erwähnen ihn im Kanon, beten öffentlich für ihn und beten auch für den Ortsbischof. Die Piusbruderschaft hat vom Papst die Erlaubnis erhalten, das Bußsakrament zu spenden, und die Priester der Bruderschaft können auch vom Diözesanbischof oder vom Pfarrer die Erlaubnis erhalten, kanonisch bei Hochzeiten zu assistieren.
"Regularisiert"?
Ja, regularisiert ist besser. Volle Anerkennung ist besser als der Ausdruck "volle Gemeinschaft", denn die Mitglieder der Piusbruderschaft sind nicht exkommuniziert. Ich ermutigte sie nachdrücklich dazu, den Papst darum zu bitten, ihnen die kanonische Anerkennung zu geben.
Wir sprachen auch über ihre Behauptung, dass die neue Messe "böse" oder "schlecht" ist. Ich sagte zu meinen Gesprächspartnern von der Piusbruderschaft: "Sie sollten sich so nicht äußern." Ich sagte ihnen, dass ich mit der neuen Messe auch nicht glücklich bin. Ich schlug vor, dass sie sagen: "Die neue Messe hat Mängel, aber sie ist nicht etwas Böses." Und ich sagte ihnen auch: "Wenn Sie sagen, die neue Messe sei böse, dann beschuldigen Sie mich, Böses zu tun, eine Sünde zu begehen, denn ich zelebriere auch die neue Messe." Ich sagte zu ihnen: "Sie müssen Ihre Kritikpunkte niederschreiben und vorlegen, das ist gut, aber drücken Sie sich behutsamer aus." Die Priester, mit denen ich sprach, bewiesen eine gute theologische Ausbildung. Aber sie müssen auch objektiv zur Kenntnis nehmen, was am Konzil gut ist - das heißt nicht, dass sie das gesamte Konzil gutheißen müssen. Was in se wahr und gut ist, könnte angenommen werden - und das gilt sogar für die neue Messe.
Meiner Meinung nach sollte die Piusbruderschaft anerkannt werden. Wenn das geschähe, wäre es eine echte geistliche und pastorale Hilfe für die gesamte Kirche, um die Lehre und Überlieferung in der Kirche zu stärken. Die Piusbruderschaft bietet eine gute priesterliche Ausbildung.
Was halten Sie von dem letzten Versuch einer Versöhnung?
Es gab im Juni 2017 sehr zweideutige Zeichen aus Rom. Kardinal Müller stellte ihnen eine Einigungsformel vor, die nicht angenommen werden konnte. Während unserer Visitation bemühten sich die anderen Bischöfe und ich, eine realistischere, stärker pastoral ausgerichtete Formel zu finden. Meines Wissens hat sich die päpstliche Kommission Ecclesia Dei für meinen Vorschlag eingesetzt. Leider wurde die Formulierung verändert und ich weiß nicht, wie momentan die Lage ist.
Im November 2017 sagte Erzbischof Pozzo, sie hätten alles getan, was in ihrer Macht stand, und nun sei der Ball in der Hälfte der Bruderschaft.
Das stimmt, aber der Heilige Stuhl legte die letzte Formulierung im Jahr 2017 vor und jeder wusste, dass sie für die Piusbruderschaft nicht annehmbar war. Rom hätte sich pastoral sensibler und großzügiger zeigen müssen.
Eine der Forderungen war, dass dem Papst drei Namen für die Ernennung eines Bischofs vorgelegt werden und dass er aus diesen dreien einen Namen auswählt. Das lässt die Sorge aufkommen, dass Männer sich so verhalten, dass sie eher der Vorstellung von Papst Franziskus als derjenigen der Bruderschaft entsprechen, und dann kommen diese Männer an die Spitze und das wird im Lauf der Zeit die Bruderschaft schwächen.
Das kann sein, aber Papst Franziskus bleibt nicht ewig. Ich sagte zu ihnen: "Sie dürfen Ihre jetzige Situation nicht auf dieses eine Pontifikat festnageln und sie davon abhängig machen. Das ist zu menschlich gedacht; Sie brauchen die übernatürliche Sichtweise: dass Gott Seine Kirche lenkt."
Wenn die Piusbruderschaft anerkannt würde und Rom sie anschließend dazu verpflichten würde, lehrmäßige und liturgische Veränderungen vorzunehmen, die ihrem Charisma widersprechen, dann müsste die Bruderschaft solche Veränderungen ablehnen, selbst auf das Risiko hin, ihren kanonischen Status wieder zu verlieren, was ja 1975 bereits einmal passiert ist. In diesem hypothetischen Fall würde die Piusbruderschaft lediglich den kanonischen Status verlieren und zu der Situation davor zurückkehren.
Traditionellerweise hatten Ordensgemeinschaften deshalb einen Kardinalprotektor. Er hatte die Aufgabe, sie vor der Welt, aber auch vor dem Heiligen Stuhl davor zu beschützen, dass in ihr Leben auf eine Art und Weise eingegriffen wird, die nicht angemessen ist.
Entsprechend den vorgeschlagenen Statuten einer Personalprälatur St. Pius X. würde der Prälat vom Papst aus einer Liste von drei Priestern ernannt, die Mitglieder der Bruderschaft sind und von ihren Oberen vorgeschlagen wurden.
Theoretisch könnte die römische Kurie versuchen, sich in das Leben einer zukünftigen Piusbruderschaft-Prälatur einzumischen. Wir haben das Beispiel des Malteserordens: eine extreme Einmischung in einen souveränen Staat, und der Papst setzte letztlich das Staatsoberhaupt ab - natürlich unter dem Vorwand, dass dieses Staatsoberhaupt auch ein Ordensmann ist, der das Gehorsamsgelübde abgelegt hat. Theoretisch könnte es passieren, dass nach der Errichtung der Prälatur Rom einen Vorwand finden könnte zu sagen: "wir setzen den Prälaten ab und ernennen einen Apostolischen Administrator und er wird die Prälatur mit voller Autorität im Namen des Papstes leiten." Aber das sind menschliche politische Möglichkeiten und Vermutungen und wir müssen diese Haltung überwinden: mit einem stärker übernatürlichen Vertrauen in die Vorsehung Gottes und in die Führung, die Er Seiner Kirche angedeihen lässt.
11. Die vierte große Krise
Sie haben über die drei großen Krisen in der Kirche gesprochen. Wie würden Sie sie zusammenfassen?
Die erste tiefe Krise in der Geschichte der Kirche - die arianische Krise - trug sich im 4. Jahrhundert zu. Diese schreckliche Krise erreichte nahezu universale Ausmaße, denn der gesamte Episkopat arbeitete der Häresie zu, die das Geheimnis der Heiligsten Dreifaltigkeit leugnete, indem sie die wahre Gottheit des ewigen Gottessohnes und des Heiligen Geistes leugnete. Während fast sämtliche Bischöfe, aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichem Ausmaß, diese Häresie stützten - die Anzahl der treu gebliebenen Bischöfe konnte man an einer Hand abzählen -, blieb die große Mehrzahl der Laien dem wahren Glauben an die Heilige Dreifaltigkeit treu, jenem Glauben, den sie in der Taufe empfangen hatten. Diese erste Krise dauerte rund sechzig Jahre.
Dann kam die schreckliche Krise des sogenannten "Dunklen Jahrhunderts" - des saeculum obscurum - im 10. Jahrhundert, als der päpstliche Stuhl von sehr schlechten, unmoralischen römischen Familienclans besetzt war. Sie setzten ihre sittlich verdorbenen Söhne auf den Papstthron.
Die dritte Krise war das Exil in Avignon, das zum großen abendländischen Schisma führte. Diese Krise dauerte rund siebzig Jahre lang und fügte der Kirche großen Schaden zu, denn in gewisser Weise bereitete sie den Weg für die weltliche Gesinnung und die allgemein bekannte Sittenlosigkeit der Renaissance- Päpste. Die tiefe moralische Krise des Papsttums zur Zeit der Renaissance war einer der Faktoren - sicher kein entscheidender Faktor, aber doch jedenfalls ein Faktor -, die zur protestantischen Revolution im 16. Jahrhundert beitrugen.
Steht uns nun die vierte große Krise bevor?
Ja - es herrscht ein bestürzender Zustand der Verwirrung hinsichtlich der Lehre, der Moral und der Liturgie. Die Kirche unserer Tage ist mit dem Virus eines egoistischen Naturalismus infiziert und einer Anpassung an den Geist der glaubenslosen Welt. Die Geistlichen in verantwortlichen Ämtern beugen ihr Knie vor der Welt. Die folgende Beobachtung stellte der heilige Gregor von Nazianz über das Verhalten eines großen Teils der Bischöfe seiner Zeit an und sie lässt sich durchaus auf unsere Zeit übertragen: "Wir dienen den Zeiten und den Anforderungen der Massen. Wir überlassen unser Schiff dem Wind, der gerade bläst, und wie Chamäleons wissen wir, wie wir unserem Wort viele Farben verleihen können" (De vita sua = Carmina 2,1,11).
Die gegenwärtige Krise ist meiner Meinung nach die tiefste und gefährlichste, weil sie in sich eine Leugnung der immerwährenden Geltung jeglicher Wahrheit zum Ausdruck bringt: der dogmatischen, der moralischen und der liturgischen Wahrheit. Der religiöse Relativismus und die Indifferenz, der zufolge Gott positiv die Verschiedenheit der Religionen will, beinhaltet letztlich die Ablehnung des feierlichen und verbindlichen göttlichen Gebots Christi, den Menschen ausnahmslos aller Nationen und Religionen das Evangelium zu predigen. Das gehört zum Kern der gegenwärtigen Kirchenkrise. Wir befinden uns bereits seit über fünfzig Jahren in dieser Krise. Vielleicht ist Gott uns gnädig und die Krise wird in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren allmählich zu einem Ende kommen. Gott weiß es und Er wird zur rechten Zeit eingreifen, wie Er es in der Geschichte schon so oft getan hat.
John Henry Newman hat einmal geschrieben, dass während der großen arianischen Krise im 4. Jahrhundert es eher der Glaube der Laien als der Glaube der Bischöfe gewesen sei, der die Kirche gerettet hat.
Ich würde die Worte Newmans über den Beitrag der Laien zur Bewahrung der Unversehrtheit des Glaubens durchaus auch auf die gegenwärtige Situation anwenden. Ich erinnere mich an die folgenden anschaulichen Worte des heiligen Hilarius von Poitiers - dem Athanasius des Westens -, mit denen er die Treue der einfachen Gläubigen vor dem Hintergrund des Verrats am Glauben unterstrich, der von der Mehrheit der Bischöfe während der arianischen Krise verübt wurde: "Die Ohren des gläubigen Volkes sind heiliger als die Lippen der Bischöfe" (Contra Arianos vel Auxentium, 6). Und in dieselbe Richtung geht die eindrucksvolle, sinnige Beobachtung von Erzbischof Fulton J. Sheen: "Wer wird unsere Kirche retten? Nicht unsere Bischöfe, nicht unsere Priester und Ordensleute. Es ist an euch, dem Volk. Ihr habt den Geist, die Augen, die Ohren, um die Kirche zu retten. Es ist eure Mission, darauf zu schauen, dass sich eure Priester wie Priester verhalten, eure Bischöfe wie Bischöfe und dass eure Ordensleute sich wie Ordensleute verhalten" (Ansprache vor den Columbus-Rittern, Juni 1972).
Auch heute tragen die gläubigen Laien - die "Kleinen" mit ihrem einfachen und reinen Glauben die Kirche auf ihren Schultern. Mir fallen immer wieder die folgenden Worte des heiligen Ambrosius ein, die im Brevier vorkommen: "maior ambitioso eloquentiae mendacio simplex veritatis fites", das heißt: "Der einfache Glaube an die Wahrheit ist größer als die ehrgeizige Lüge der Beredsamkeit" (De Abraham, 1,2). Wenn hochrangige Kleriker augrund ihrer ehrgeizigen, falschen Beredsamkeit in ihrem Eifer für Christus und Seine göttliche Wahrheit nachlässig werden, dann treten die "Kleinen" in die Bresche. Was die heilige Birgitta von Schweden einst aus dem Mund Christi vernahm, ist mit Sicherheit übertragbar auf den liberalen, weltlichen Klerus unserer Gegenwart. Er sagte zu ihr: "Sie würden eher hundert Wörter der Welt zuliebe reden als ein einziges zu meiner Ehre. Sie würden sich eher hundertmal für ihren eigenen Vorteil und den der Welt einsetzen als ein einziges Mal für meine Ehre" (Buch der Offenbarungen, I, 48).
Meinen Sie, die gegenwärtige Krise in der Kirche wurde in gewissem Ausmaß vom Heiligen Stuhl selbst verursacht?
Es ist eine Tatsache, dass der Heilige Stuhl eine Reihe von Maßnahmen angeordnet hat, die die Unversehrtheit des Gesetzes des Gebets (lex orandi), des Gesetzes des Glaubens (lex credendi) und des Gesetzes des Lebens (lex vivendi) beträchtlich geschwächt haben. Die drastische Veränderung des jahrtausendealten Messritus, die Papst Paul VI. verfügt hat, hat ganz zweifellos den wesentlich opferorientierten, christozentrischen und latreutischen Charakter der Messe geschwächt und ihn in Richtung eines brüderlichen Mahls und eines Gebetstreffens verschoben, in welchem die Gemeinde im Mittelpunkt steht. All das ähnelt insgesamt eher protestantischen Gebetsgottesdiensten.
Inwieweit bildet eine Vernachlässigung des ersten Gebots die Mitte der gegenwärtigen Kirchenkrise?
Ihre Frage ist sehr berechtigt. Unsere erste Pflicht besteht darin, Gott, die Heilige Dreifaltigkeit und den menschgewordenen, eucharistischen Gott im Sakrament der Eucharistie anzubeten. Ich würde auf unsere Situation die Worte des Propheten Jeremia anwenden: "Sie haben mir den Rücken zugekehrt und nicht ihr Gesicht" (Jer 32,33). Tatsächlich haben viele Hirten der Kirche ihrer obersten Pflicht den Rücken zugekehrt: Sie haben sich abgewendet vom Gebet und von der Verkündigung Christi. Diese Worte des Propheten stellen in gewisser Weise ein Bild der heutigen Kirche dar und der Art und Weise, wie die neue Messe normalerweise gefeiert wird: Sie haben sich vom Herrn weggewendet. Die Apostel sagten: "Wir werden weiter beim Gebet und beim Dienst am Wort bleiben" (Apg 6,4). Die Apostel sagten, dass es nicht gut für sie ist, wenn sie sich mit zeitlichen Angelegenheiten befassen zum Nachteil ihrer vorrangig geistlichen Pflichten.
Gibt es ein spezielles Bild, das Sie verwenden würden, um den Zustand der Kirche in der jetzigen Krise zu beschreiben?
Herzschwäche - ein kränkliches, schwaches Herz. Die Kirche ist der mystische Leib Christi und die Eucharistie ist das Herz. Das Herz gibt dem Leib Blut und Energie. Das Konzil liegt über fünfzig Jahre zurück. Speziell mit der neuen Form der Messe, die mit ihrer unbestimmten, offenen Struktur die Tür für eine Vielzahl subjektivistischer Zelebrationen öffnete, und vor allem mit der Praxis der Kommunionausteilung in die Hand leiden wir in der Kirche an einer Art geistlicher Herzkrankheit. Wenn das Herz schwach ist, dann gibt es dafür einen medizinischen Ausdruck: Herzversagen, Herzschwäche. Die Kirche unserer Tage leidet an einer starken eucharistischen "Kardiopathologie", deshalb ist der gesamte Leib blutarm und energielos.
Noch nie in der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche wurden so entsetzliche Vergehen gegen das Allerheiligste Sakrament begangen, so viele Banalisierungen des Messopfers vonseiten des Klerus und vonseiten der Gläubigen, wie in unserer Gegenwart. Die "Reform" der Liturgie und ihre Umsetzung wirkte sich als Entheiligung und Schwächung des Glaubens an die Realpräsenz und an den Opfercharakter der Messe aus. Wir sehen das vor allem an der Gewohnheit, die heilige Kommunion im Stehen in die Hand zu empfangen, was diese tiefste Wunde und Krankheit im Leben der Kirche heutzutage offenbar macht.
Bei einer Konferenz in Paris habe ich vor mehreren Jahren fünf Wunden im liturgischen Leben der Kirche aufgezählt (Vortrag "The Extraordinary Form and the New Evangelization" während der "Reunicatho"-Konferenz in Paris, 15. Januar 2012. Der Text kann abgerufen werden auf http://www.revue-item.com/13442/histoire-de-la - messe- interdite- 231). Diese fünf Wunden sind ein Ausdruck der eucharistischen Herzkrankheit der Kirche. Wir müssen anfangen, das Herz der Kirche wieder zu erneuern, also den eucharistischen Kult - das heißt, wir müssen unseren eucharistischen Herrn ernst nehmen und die Art und Weise der Verehrung und der heiligen Messfeier erneuern, und wie wir die Eucharistie behandeln, unseren Herrn selbst, vor allem im heiligen, intimen Moment der heiligen Kommunion.
Die Kirche lebt zwar, ist aber nicht ganz und gar lebendig?
Menschen, die an Herzschwäche leiden, werden das nachvollziehen können. Die Kirche ist in vielen ihrer Glieder und vor allem in ihrer Hierarchie schwach, sie hat keine Energie, da ihr Herz, der eucharistische Kult, schwach ist.
Stattdessen engagiert sie sich in hektischen äußerlichen Aktivitäten, beispielsweise Synoden, Krisen- und Dringlichkeitssitzungen, Auseinandersetzungen mit Themen wie Klimaschutz und Migration und so weiter.
Vor über hundert Jahren (1899) hat Papst Leo XIII. - in einem Dokument, das an die katholische Hierarchie der USA gerichtet war - die Kirche vor der Gefahr des "Aktivismus" gewarnt. Er bezog sich vor allem auf ein Phänomen, das er "Amerikanismus" nannte. Nach dem Konzil breitete sich besonders in Ordensgemeinschaften mit einem aktiven Apostolat ein Geist des Aktivismus aus. In welchem Ausmaß trägt Aktivismus zur gegenwärtigen Krise in der Kirche bei und wie weit hat er sich ausgebreitet?
Es ist offensichtlich, dass seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Leben der Kirche von einem hektischen Aktivismus beherrscht wird, der ganz richtig als "Häresie der Aktion" bezeichnet werden kann (Manchmal auch "Häresie des Aktivismus"). Sie sagen ja zu Recht, dass die "Häresie der Aktion" bereits von Papst Leo XIII. in seinem päpstlichen Schreiben Testem Benevolentiae verurteilt wurde. In diesem Brief widerlegte Papst Leo XIII. den Irrtum jener Kleriker, die auf der praktischen Ebene den aktiven Tugenden und zeitlichen und natürlichen Gegebenheiten die erste Stelle einräumten, zum Nachteil der übernatürlichen Wirklichkeiten - also der Gnade, dem Gebet und der Buße. Um zu unserem Gespräch über den Verlust des Übernatürlichen zurückzukommen - diese "Häresie der Aktion" ersetzt praktisch den Vorrang des Handelns Gottes durch den Vorrang des Menschen und seiner Handlungen.
Gibt es in der Kirche einen Ort, wo Sie eine besonders gefährliche Ausprägung dieser " Häresie der Aktion" erkennen?
Heute hat die "Häresie der Aktion" fast auf jeder Ebene des kirchlichen Lebens einen Höhepunkt erreicht. Allerdings prägte sie sich am markantesten in dem kürzlich unternommenen, unglaublichen Angriff auf das kontemplative Klausurleben von Nonnen aus. Dieser Angriff ging nicht von Feinden der Kirche aus, sondern vom Heiligen Stuhl selbst, und zwar durch die Instruktion Cor Orans, die klausurierte Nonnen dazu verpflichtet, sich bereits bestehenden Föderationen anzuschließen oder eine eigene Föderation zu gründen. Sie haben recht: Nach dem Konzil wurde diese Häresie von vielen aktiven Ordensgemeinschaften übernommen, vor allem im Westen.
Nun wird jedoch die "Häresie der Aktion" auf das streng klausurierte kontemplative Leben von Nonnen übertragen, diese wahre Perle der Kirche, wo das Gebet absoluten Vorrang hat.
Das Dokument Cor Orans verbürokratisiert das klausurierte Ordensleben, da föderative Strukturen Verwaltungs- und Finanzarbeit erforderlich machen. Nonnen müssen regelmäßig wegen Föderationsversammlungen und vorgeschriebenen Ausbildungstreffen ihr Kloster verlassen. Das führt zu häufigen Reisen, die immer Zerstreuung und einen Verlust der Sammlung und Zurückgezogenheit mit sich bringen, außerdem beträchtliche finanzielle Kosten, was dem Geist der Armut von klausurierten Nonnen zuwiderläuft. Die vormals streng abgeschiedenen Nonnen werden dadurch in eine Art Wandernonnen oder reisende Nonnen verwandelt und sind nur noch dem Namen nach "klausuriert" oder "kontemplativ". Die Uniformität, die dem klausurierten Leben der Nonnen aufgedrängt wird, wäre schädlich für den Reichtum der echten katholischen Vielfalt und der unterschiedlichen Weisen, ein eifriges Ordensleben zu führen. Die Tradition der Kirche hat immer die Inspiration Gottes respektiert, die sich in der reichen Vielfalt der religiösen Orden ausdrückt. Von Menschen gemachter und heimtückisch aufgezwungener "Uniformismus" - wie man ihn im Fall von Cor Orans vor sich hat - ist verschieden von der notwendigen Einheit im Glauben.
Das klingt, als würden die Nonnen vom Heiligen Stuhl in ein "Umerziehungslager" geschickt ...
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Feinde der katholischen Kirche das radikale und ausschließlich klausurierte kontemplative Ordensleben immer gehasst haben. Der erste dieser Gegner war Martin Luther, der eine Propagandatour durch die Klausurorden Deutschlands unternahm und die Nonnen aufforderte, ihr Kloster zu verlassen. Dann gab es den naturalistisch eingestellten Kaiser Joseph II. von Österreich Ende des 18. Jahrhunderts, der viele Klausurklöster aufhob. Eine Art Todesstoß für das klausurierte religiöse Leben kam mit der sogenannten "Säkularisation" im Jahr 1803. Dadurch wurden fast alle Klausurabteien und Frauenklöster im Heiligen Römischen Reich (Deutschland) aufgelöst. Vor 1803 schloss die Französische Revolution die Klausurklöster von Nonnen und duldete gerade noch das öffentliche wohltätige Wirken der Töchter der christlichen Liebe (Vinzentinerinnen) des heiligen Vinzenz von Paul. Ein historisches Beispiel für den blinden Hass des freimaurerischen tyrannischen Direktoriums gegen klausurierte Nonnen war die öffentliche makabre Hinrichtung der unbeschuhten Karmelitinnen des Karmels von Compiegne auf der Guillotine in Paris, im Jahr 1794.
In Zeiten großer Krisen war die Kirche durch das radikal kontemplative, klausurierte und eremitische Ordensleben geistlich gestützt. Während der Zeit der arianischen Krise im 4. Jahrhundert gab es die Wüstenmönche und während des Ikonoklasmus im 8. Jahrhundert die sogenannten "nicht schlafenden" (akoimetai) Mönche des Studion - Klosters in Konstantinopel, die durch ihr Gebet und ihre Buße dazu beitrugen, dass das geistliche Übel dieser Häresie besiegt wurde. Zur Zeit der Pseudoreform Martin Luthers und seiner protestantischen Gefolgsleute gab Gott Seiner Kirche, ausgehend vom Werk und der Mission der großen heiligen Kirchenlehrerin Teresa von Avila, das Geschenk eines neuen, radikalen Klausurlebens des Gebets und der Buße mit den reformierten "unbeschuhten" Karmelitinnen. Sie hätte unter gar keinen Umständen irgendeine Schwächung des klausurierten, gesammelten, einsamen, von Gebet und Buße geprägten Ordenslebens ihrer Schwestern geduldet. Seit damals hat das Leben von Nonnen, die in strenger Klausur leben (die unbeschuhten Karmelitinnen, Klarissinnen und andere Orden) für die geheime geistliche Kraft gesorgt, die das aktive missionarische und apostolische Leben der anderen Mitglieder der Kirche, vor allem der Kleriker, nährt und erhält, was auch heute noch gilt.
Aber sagt Cor orans denn nicht, dass diese Nonnen eine unersetzbare Rolle spielen?
Trotz seiner schönen und teilweise spitzfindigen Rhetorik und seinen eindrucksvollen theoretischen Behauptungen zerstört Cor Orans letztlich die Radikalität und Exklusivität des klausurierten und kontemplativen Lebens von Klosterfrauen und zerstört damit das Werk der großen heiligen Teresa von Avila, denn es verwandelt das klausurierte Leben von Nonnen in jenen lauen und zerstreuten Zustand, wie die heilige Teresa ihn vor ihrer Reform vorgefunden hatte.
Das streng klausurierte Leben, das aus Liebe zum Herrn gewählt und gelebt wird, repräsentiert in der Kirche die ausschließlich kontemplative Mission Marias zu Füßen des Herrn (vgl. Lk 10,39). und setzt diese Mission konkret um. Der Herr hat Marta dafür zurechtgewiesen, dass sie von ihrer Schwester erwartete oder sie dazu nötigte, sich an ihrem eigenen aktiven Leben zu beteiligen. Im Gegensatz zu den deutlichen Worten des Herrn im Evangelium schwächt die Instruktion Cor Orans den absoluten Primat eines streng kontemplativen, klausurierten Lebens und beraubt die Klausurnonnen des "besseren Teils" (vgl. Lk 10,42), also ihrer Berufung, ausschließlich "Maria zu Füßen des Herrn" zu sein. Sie wandelt sie zu einer Art "Halb-Maria" um, die eben nicht immer zu Füßen des Herrn ist. Doch "den besseren Teil zu erwählen" bedeutet, ganz und gar "Maria" zu Füßen des Herrn zu sein.
Wie hat die "Häresie der Aktion" sich in der Hierarchie der Kirche gezeigt?
Viele Verantwortungsträger in der Kirche haben die vorrangige apostolische Pflicht des Gottesdienstes, des Gebets und der unermüdlichen Verkündigung der göttlichen Wahrheit heruntergespielt. Das Leben der Kirche auf offizieller Ebene (der Heilige Stuhl und die Bischöfe) hat sich in hohem Ausmaß in Richtung menschlicher Aktivitäten verändert: durch eine enorme Ausbreitung der kirchlichen Bürokratie und einer bislang unerhörten Vielzahl an Strukturen, Komitees, Bischofsversammlungen und Föderationen auf unterschiedlichen Ebenen, durch ständige Versammlungen und Synoden. In den letzten Jahren hat sich die Tätigkeit des Heiligen Stuhls und vieler Bischofskonferenzen vorwiegend zeitlichen Problembereichen zugewandt, die letztlich zu jenem Naturalismus führen, der das Wesen der "Häresie der Aktion" ausmacht. In der letzten Zeit vermitteln der Heilige Stuhl und diverse Bischofskonferenzen mit ihren Aktivitäten manchmal den Eindruck, Filialen der Vereinten Nationen zu sein und deren ideologische Absichten zu fördern. '
Die "Häresie der Aktion" und ihr Geist des Naturalismus verursachen eine Leere in der Seele der Geistlichen, vor allem der Bischöfe. Wir haben darüber bereits gesprochen, dass diese Männer die Leere mit ständigen Sitzungen, Versammlungen und Synoden auf unterschiedlichen Ebenen der Hierarchie und in unterschiedlichen geografischen Regionen zu füllen versuchen. Aus all diesen Veranstaltungen geht jeweils ein Dokument hervor, meistens ein äußerst langes Dokument. Man hat den Eindruck, es bestehe ein direkter Zusammenhang zwischen der geistlichen Leere und der Länge der produzierten Dokumente. Diese langen Dokumente enthalten viel eindrucksvolle Rhetorik und schöne Theorien, aber nur wenig gesunde Theologie und praktischen Nutzen.
Wie kann die Kirche auf diese "Häresie der Aktion" antworten?
Die "Häresie der Aktion" kommt schlagend in der Art zum Ausdruck, wie die Liturgie der Messe gefeiert wird: indem man sich in einem geschlossenen Kreis einander zuwendet. Die Kirche muss sich endlich wieder zum Herrn hinwenden und nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich zum Herrn hin zelebrieren. Auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens, angefangen bei den Bischöfen, in der priesterlichen Ausbildung und im Leben der Pfarreien müssen wir das Leben des Gebets, der Anbetung, des Bittgebets verstärken, um Gnade bitten und um einen erneuerten missionarischen Eifer in der Verkündigung der göttlichen Wahrheit unseres Erlösers Jesus Christus um des ewigen Heils der Seelen willen.
Konkrete Mittel wären neben der Erneuerung der Liturgie der Eucharistie und der angemessenen Verehrung unseres eucharistischen Herrn die Ausbildung und Sorge um katholische Familien und um eine seriöse lehrmäßige, pastorale, asketische, geistliche und liturgische Priesterausbildung. Es ist unerlässlich, dass diese beiden Achsen - die Formung katholischer Familien und eine echte katholische Priesterausbildung - mit dem apostolischen Geist der beständigen Überlieferung der Kirche umgesetzt werden. Wir müssen unbedingt neue Apostel bilden, neue Missionare, neue Heilige im Priestertum. In den Seminaren müssen wir den Eifer erneuern und die Reinheit des Priestertums wiederherstellen. Die Kirche braucht dringend eine neue Generation keuscher Priester, die sich mit brennendem Eifer für die Rettung von Seelen einsetzen. Das ist für mich einer der wichtigsten und konkretesten Wege einer Reform der Kirche.
Wird das durch eine Reform bei den Bischöfen und der Kurie kommen?
Natürlich wird der gesamte Leib der Kirche letztlich nur dann erneuert, wenn das Haupt erneuert ist. In der Zeit vor Luther und bereits während des Großen Schismas und dem Exil in Avignon und dann während der protestantischen "Reformation" gab es ständig den Ruf nach einer "reformatio ecclesiae in capite et in membris", einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Um die Kirche zu reformieren, ist ein heiliger Lebenswandel und apostolische Reinheit zuerst vom Haupt der Kirche (dem Papst und den Bischöfen) und dann von ihren Gliedern zu fordern. Daher muss der Anfang bei den Autoritäten in der römischen Kurie gemacht werden, im Kardinalskollegium und innerhalb des Episkopats. Konkret müssen wir jedoch mit katholischen Familien anfangen und mit einer neuen, ernsthaften Priesterausbildung. Es ist absolut notwendig, neue, eifrige, apostolische und heilige Männer zu bilden.
Als Bischof war der heilige Athanasius ein solcher Mann. Sie haben den Namen Athanasius erhalten, als Sie Ihre Profess ablegten. Welche Bedeutung hat dieser Name heute für Sie? Spüren Sie einen Ruf in diesem Namen?
Wie ich bereits sagte, wäre mir dieser Name als junger Ordensmann nicht im Traum eingefallen. Er kam für mich als eine vollkommene Überraschung. Als ich jedoch Bischof wurde, begann ich diesen besonderen Umstand in meinem Leben zu verstehen. In meinem Amt als Bischof war und bin ich immer noch gezwungen, die Verteidigung der allgemeinen Lehre und liturgischen Tradition der Kirche auf mich zu nehmen. Ich würde es als Unterlassungssünde ansehen, angesichts der offensichtlichen und unerhörten Krise in Lehre, Moral und Liturgie der Kirche zu schweigen, in der gegenwärtigen Atmosphäre weitverbreiteter geistlicher Verwirrung. Deshalb kann ich nicht sagen: "Das geht mich nichts an. Ich habe Verpflichtungen in meiner Diözese, also sage ich nichts." Ich würde es vor dem Richterstuhl Gottes als Unterlassungssünde ansehen. Wenn ich die Krise erkenne und in Worte fassen kann, die den gesamten Leib der Kirche ansteckt, kann ich nicht sagen: "Das geht mich nichts an! In dem kleinen Bereich, für den ich zuständig bin, gibt es keine nennenswerten geistlichen Krankheiten."
Für mich als Bischof wäre es eine Art Egoismus, nichts zu sagen. Ein Bischof ist geweiht - so sagt es das Zweite Vatikanische Konzil - als Mitglied der ganzen Körperschaft der Bischöfe, als Mitglied des Bischofskollegiums und er muss in seinem Herzen eine tiefe Sorge um die Gesundheit des gesamten Leibes der Kirche spüren. Das Konzil lehrt, dass jeder Bischof "als Glied des Bischofskollegiums und rechtmäßiger Nachfolger der Apostel aufgrund von Christi Stiftung und Vorschrift zur Sorge für die Gesamtkirche gehalten ist. Diese Sorge wird zwar nicht durch einen hoheitlichen Akt wahrgenommen, trägt aber doch im höchsten Maße zum Wohl der Gesamtkirche bei. Alle Bischöfe müssen nämlich die Glaubenseinheit und die der ganzen Kirche gemeinsame Disziplin fördern und schützen sowie die Gläubigen anleiten zur Liebe zum ganzen mystischen Leibe Christi" (Lumen Gentium, Nr. 23).
Natürlich ist die Aufgabe der Sorge für die ganze Kirche an erster Stelle und vor allem dem Papst aufgetragen, doch einzelne Bischöfe sollen ihm dabei brüderlich zur Seite stehen. Das ist es, was der heilige Athanasius getan hat, der nicht aufgrund seiner eigenen Wahl in die Unruhen der umfassenden arianischen Krise der Kirche seiner Zeit hineingeraten ist. Auch ich befinde mich in der Mitte einer der größten Krisen in der Geschichte der Kirche - einer Krise, die Ausmaße angenommen hat, die ich mir, als ich Priester wurde, nie hätte vorstellen können. Ich kann nicht beiseitestehen und still bleiben. Ich versuche, nicht dauernd zu sprechen - das ist nicht meine Aufgabe -, doch, wenn irgendetwas ganz offensichtlich der gesamten Kirche Schaden zufügt, dann muss ich meine Stimme erheben.
Mir fällt in diesem Zusammenhang der bekannte Ausspruch von Julius Fučik ein, einem tschechischen Journalisten, der von den Nazis ermordet wurde: "Fürchtet nicht eure Feinde, denn sie können euch schlimmstenfalls nur umbringen. Fürchtet nicht eure Freunde, denn sie können euch schlimmstenfalls nur verraten. Fürchtet die Gleichgültigen, denn die schlimmsten Verbrechen auf Erden wurden mit ihrer stillschweigenden Zustimmung begangen."
Wie reagierte der heilige Athanasius zur Zeit der arianischen Krise?
Ich denke immer häufiger an meinen Namenspatron. Er erhob inmitten einer schrecklichen geistlichen Verwirrung seine Stimme. Der heilige Athanasius gehörte zu einer sehr kleinen Gruppe von Kollegen im Bischofsamt; häufig war er während seiner Zeit allein oder zumindest Teil nur einer sehr kleinen Gruppe im Vergleich mit dem gesamten Bischofskollegium im 4. Jahrhundert.
Der heilige Gregor von Nazianz zeichnete das folgende realistische Bild vom Verhalten der Bischöfe seiner Zeit. Er schrieb: "Denn in der Tat, wie die Schrift sagt, ,Töricht wurden die Hirten. Sie haben meinen Weinberg verwüstet, mein prächtiges Feld zur öden Wüste gemacht' (Jer 10,21; 12,10).
Denn mit sehr wenigen Ausnahmen - und diese, entweder, weil es so unbedeutende Männer waren, dass man sie nicht beachtete, oder Männer, die aufgrund 'ihrer Tugendhaftigkeit mannhaft Widerstand leisteten, waren Israel als ein Rest (Is 1,9) geblieben, wie es bestimmt war, als Same und Wurzel, die mitten in den Strömungen des Geistes zum Leben zurückkehren sollten - mit sehr wenigen Ausnahmen also gaben alle den Einflüssen der Zeit nach und sie unterschieden sich nur darin, dass die einen früher, die anderen später nachgaben, sodass einige Meister und Anführer der Gottlosigkeit wurden, während andere als niedrigere Ränge galten, die von Furcht erschüttert waren, von Not versklavt, von Schmeichelei umgarnt oder von Unwissenheit getäuscht; Letztere waren am wenigsten schuldig, wenn das überhaupt zulässig sein kann als gültige Entschuldigung für Männer, die mit der Führung des Volkes betraut sind" (Or. 21:24).
Ich bitte auch meinen heiligen Namenspatron Athanasius darum, mir zu helfen, Christus und der unwandelbaren Überlieferung Seiner heiligen Kirche immer treu zu bleiben. Vom heiligen Athanasius stammt ein wunderbarer Ausspruch, den ich liebe und der uns helfen kann. In einem Schreiben an einen Bischof sagte er: "non decet servire tempori, sed Domino":
"Es ziemt sich nicht, dass wir der Zeit dienen, sondern wir sollen dem Herrn dienen" (Ep. ad Dracontium). Das heißt: Wir sollen nicht zuerst und vor allem den Personen dienen, die jetzt in der Welt oder in der Kirche zeitliche Macht haben, sondern wir müssen dem Herrn dienen.
Ein katholischer Bischof ist vor allem ein Diener des Herrn, so wie der heilige Paulus sich ja häufig in den Eingangsworten seiner Briefe bezeichnet: "Paulus, servus Jesu Christi': Der heilige Paulus hätte nie geschrieben: "Paulus, servus Simonis Petri". Und so ist auch ein katholischer Bischof vor allem ein Diener des Herrn. Ein Bischof ist nicht einfach ein Angestellter des Papstes. Wir Bischöfe müssen zuerst dem Herrn dienen. Das heißt, wir müssen zuerst der Kirche aller Zeiten dienen; indem die Bischöfe das tun, dienen sie dem Papst am besten. Wenn wir Christus allein in der Wahrheit dienen, dann helfen wir dem Papst und dem Papstamt mehr als jene, die schweigen oder dem Papst schmeicheln. Es ist eines Bischofs, eines Nachfolgers der Apostel, unwürdig, dem Papst zu schmeicheln. Bedenkenswert ist die folgende Beobachtung von Melchior Cano, einem treuen und gelehrten Dominikanerbischof aus der Zeit des Konzils von Trient. Er sagte: "Diejenigen, die blind und wahllos jedes Urteil des Papstes zu jeder Angelegenheit verteidigen, schwächen die Autorität des Apostolischen Stuhls; sie unterstützen sie nicht; sie untergraben sie; sie stärken sie nicht. Petrus braucht unsere Lügen nicht, er braucht unsere Schmeicheleien nicht."
Ich hoffe, der heilige und große Bekenner, der heilige Athanasius, wird mir helfen, das Bischofsamt zu leben und es auszuüben gemäß dem Beispiel, welches er der Kirche hinterlassen hat. Da ich zu diesem Bischofsamt berufen wurde, ohne selbst danach zu streben oder es zu wünschen, muss ich das Amt entsprechend meinem Gewissen ausüben, wie es so viele heilige Bischöfe getan haben, vor allem mein Namenspatron.
12. Lehrmäßige Verwirrung
Exzellenz, Sie sagten, typisch für die vierte große Krise sei eine lehrmäßige Verwirrung. Ich würde das gern noch vertiefen, angefangen mit der Frage dieser neuen, zunehmenden Betonung von "Synodalität" und dem Drängen in eine Richtung, die viele als Dezentralisierung der Lehre ansehen. Wo sehen Sie die Wurzeln für diesen Drang und wie denken Sie darüber?
Die Lehre ist die Wahrheit und sie ist die Grundlage für das gesamte Leben der Kirche und aller Christen. Deshalb wird unser Herr Jesus Christus im Evangelium "Meister" genannt, das heißt "Lehrer" (magister; didaskalos). Lehrer sein heißt, eine Lehre vermitteln, eine Doktrin. Unser Herr sagte: "Meine Lehre ist nicht von Mir, sondern von dem, der Mich gesandt hat" (Joh 7,16). Und vom Heiligen Geist sagt Er: "Er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was Ich euch gesagt habe" (Joh 14,26). "Er wird nicht von sich selbst aus reden" (Joh 16,13). Die gesamte Grundlage unseres Lebens ist die Wahrheit, der Logos, das Wort, das Fleisch geworden ist. Das Wort (Logos) ist der andere Name der zweiten Person der Heiligen Dreifaltigkeit. Die zweite Person der Heiligen Dreifaltigkeit wird im eigentlichen Sinn als "Sohn" bezeichnet, Sohn des Vaters, Sohn des lebendigen Gottes. Die Heilige Schrift sagte zum Beispiel nicht, dass die "Handlung", die "Tat" Fleisch wurde, sondern das "WORT" - die Wahrheit - wurde Fleisch. Dem deutschen Dichter Goethe, bekanntermaßen ein Freimaurer, gefiel die Formulierung "Im Anfang war das WORT" (Prolog des Johannesevangeliums) nicht, er sagte lieber: "Im Anfang war die Tat." (Geschrieben steht: "Im Anfang war das Wort!" Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muss es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Dass deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat! [Faust I, 1. Akt, 3. Szene]).
Genauso könnten wir fragen: Warum sagt die Heilige Schrift nicht: "Die Liebe ist Fleisch geworden", sondern "Das Wort ist Fleisch geworden"? Warum heißt es nicht: "Das Gefühl ist Fleisch geworden"? oder "Die Barmherzigkeit ist Fleisch geworden", sondern "Das Wort, der Logos, ist Fleisch geworden"? Es ist einfach so: Die Wahrheit ist Fleisch geworden. Also ist die Wahrheit und mit ihr der Glaube die Grundlage, der Fels, auf welchem der gesamte Bau des christlichen Lebens sich erhebt. Gott gründete sein Werk der Rettung der Menschheit auf Wahrheit. Wir dürfen Wahrheit nicht von Liebe trennen. Die Wahrheit dient wie ein Fels als Grundlage für die Liebe und schützt die Liebe.
Liebe ist der Name des Heiligen Geistes, der dritten Person der Heiligen Dreifaltigkeit, denn Er ist die Liebe, die vom Vater und dem Sohn ausgeht (amor procedens), Er ist sogar, nach der Formulierung des heiligen Thomas von Aquin (vgl. In I Sent., d. 10, q. 1, a. 1, ad 1), die "subsistierende Liebe" (amor subsistens). In den sichtbaren göttlichen Sendungen geht die Liebe, der Heilige Geist, von Jesus aus. Der Herr "hauchte sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist" (Joh 20,22). Der Heilige Geist, der die Liebe ist, ist nach den Worten Jesu immer der Geist der Wahrheit: "Der Tröster, den Ich euch sende vom Vater, der Geist der Wahrheit" (Joh 15,26). Wir sehen also, dass die Liebe aus der Wahrheit kommt, denn der Sohn und das Wort Gottes geht nicht aus dem Heiligen Geist hervor, sondern das Gegenteil ist der Fall. Der Heilige Geist, der die subsistierende Liebe in der Heiligen Dreifaltigkeit ist und gleichzeitig die Liebe Gottes, die Er in die Herzen der Gläubigen ausgegossen hat (vgl. Röm 5,5), setzt das Lehramt der Wahrheit des Fleisch gewordenen Wortes fort (vgl. Joh 14,26; 16,13).
Die Apostel - und das immerwährende Lehramt der Kirche nach ihnen - verstanden die Stärke und Klarheit der Wahrheit als zentral und unverzichtbar für die Verkündigung des Evangeliums und für das christliche Leben. Der heilige Lukas spricht im Prolog zu seinem Evangelium von "der Gewissheit jener Dinge, in denen du unterwiesen wurdest" (Lk 1,4); der heilige Paulus ermahnt die Gläubigen, "standhaft im Glauben" (Kol 2,5) zu bleiben, und der heilige Petrus warnt die Gläubigen vor der Gefahr, ihre Festigkeit (firmitatem) zu verlieren, indem sie sich "vom Irrtum gesetzloser Männer mitreißen lassen" (2 Petr 3,17). Wie wichtig sind doch in unserer Gegenwart die Worte, die Papst Pius VI. vor rund 250 Jahren schrieb und die ich schon früher erwähnte: Mehrdeutigkeit "ist in einer Synode ganz und gar nicht zu dulden. Das Lob einer Synode besteht ja besonders darin, dass sie beim Lehren jene klare Weise des Ausdruckes einhalte, welche keine Gefahr des Anstoßes mehr zurücklässt" (Apostolische Konstitution Auctorem fidei).
Die heutige Krise in der Kirche ist einer Vernachlässigung der Wahrheit und vor allem der Umkehrung der Rangfolge von Wahrheit und Liebe. Heute wird für ein neues Prinzip pastoralen Lebens in der Kirche geworben, das sagt: Liebe und Barmherzigkeit sind die höchsten Kriterien und Wahrheit muss ihnen untergeordnet werden. Dieser neuen Theorie zufolge muss im Fall eines Konflikts zwischen Liebe und Wahrheit die Wahrheit geopfert werden. Das ist eine Verkehrung - eine Perversion im eigentlichen Sinn des Wortes.
Die richtige Ordnung von Wahrheit und Liebe - wie sie sich im Leben der Heiligen Dreifaltigkeit zeigt, wo die Liebe aus der Wahrheit hervorgeht - ist das grundlegende Gesetz der Kirche und des Christentums und sämtlicher pastoraler Bemühungen.
Das unveränderliche Paradigma ...
Genau. Das ist das unveränderliche Paradigma. Deshalb ist die Lehre wie ein Fels, auf dem die Stadt der Kirche gegründet steht. Der Fels ist Christus, das WORT, und Petrus ist das sichtbare Zeichen dieses Felsens. Petrus ist der Fels, aber er ist es nicht aus eigener Macht. Er ist der Fels im wahren Fels Christus.
"Sie tranken aus dem geistgeschenkten Felsen, der mit ihnen zog. Und dieser Fels war Christus" (1 Kor 10,4).
Ja, und die Wahrheit der Kirche beruht deshalb auf Petrus. Seine erste Aufgabe ist es, die Brüder im Glauben zu stärken, wie Jesus es aufgetragen hat (vgl. Lk 22,32). Natürlich ist es aufgrund göttlichen Rechts die Aufgabe des gesamten Bischofskollegiums und jedes einzelnen Bischofs, ein Doktor fidei zu sein, ein Lehrer des Glaubens, ein Lehrer der Wahrheit, aber er muss es sein in Einheit mit dem gesamten Bischofskollegium und mit Petrus, also mit dem römischen Papst. Der Papst selbst darf nicht seine eigene Lehre lehren. Er darf nur lehren, was die Kirche schon immer gelehrt hat. Ebenso darf eine Synode oder eine Bischofskonferenz nur lehren, was die Kirche immer gelehrt hat.
Sie wollen also sagen, dass lehrmäßige Dezentralisierung der Natur der Kirche widerspricht?
Es kann keine Dezentralisierung in lehrmäßigen Fragen geben, sonst würde die katholische Kirche in zahllose lehrmäßig unterschiedliche christliche Denominationen verwandelt, wie wir es täglich in der protestantischen Welt beobachten können. Es kann eine Dezentralisierung in pastoralen Vorgehensweisen geben, was natürlich immer in Übereinstimmung mit der Lehre zu geschehen hat. In gewissem Ausmaß und innerhalb wohldefinierter Rahmenbedingungen kann es auch eine gewisse Dezentralisierung in liturgischen Fragen von geringerer Tragweite geben. In einigen Gebieten von Süddeutschland, Österreich und Osteuropa wird beispielsweise am Karfreitag und Karsamstag das Allerheiligste Altarsakrament feierlich in der Monstranz, bedeckt mit einem weißen durchsichtigen Schleier, zur Anbetung ausgesetzt. Einige Gegenden feiern liturgisch Oktaven oder gebotene liturgische Feiertage, die in der Weltkirche nicht begangen werden. Einige national wichtige und dringende Dinge, die keinen unmittelbar lehrmäßigen Charakter haben und die gemeinsame und beständige universale Disziplin der Kirche nicht berühren, können und sollten besser lokal entschieden werden.
Eine gesunde Dezentralisierung ermöglicht es dem Papst, nicht mit unwesentlichen Themen überlastet zu werden. Insofern stimme ich jenen Bischöfen zu, die sich während des Zweiten Vatikanischen Konzils für eine gesunde Dezentralisierung der römischen Kurie aussprachen. Allerdings sollte sie meiner Meinung nach auf die verwaltungsbezogenen und pastoralen Bereiche beschränkt bleiben und nicht auf lehrmäßige oder größere disziplinäre Bereiche ausgeweitet werden.
Eine gesunde Dezentralisierung würde es dem Papst erlauben, sich auf das Wesentliche seiner apostolischen Aufgabe zu beschränken, also auf die Verteidigung und Stärkung der Lehre und Liturgie und die Ernennung guter Bischöfe. Das sind die entscheidenden Aufgaben, die der Papst sehr ernst nehmen muss, in gewisser Weise bis hin zur Skrupulosität.
Wenn sich in der Kirche Irrtümer hinsichtlich der Lehre verbreiten, wenn echte Missbräuche sich in einzelnen Kirchen einschleichen und wenn Bischöfe schwerwiegende Fehler und Unterlassungen in ihren pastoralen Pflichten begehen, dann kann und sollte der Papst eingreifen kraft seiner pastoralen Jurisdiktion über die gesamte Kirche. Jeder Papst sollte sich daher an das von Papst Cölestin I. zur Zeit der Kirchenväter formulierte Prinzip erinnern, das Pius VI. in seiner Bulle Auctorem Fidei zitiert hat, indem er die sogenannte Synode von Pistoia verurteilte: "Es ist ein fast ebenso großes Verbrechen, hierin nachlässig zu sein, wie Irrtümer gegen den Glauben zu predigen." Der Papst muss genug Zeit haben, um sich auf den Schutz der Reinheit der Lehre, der Liturgie und der Sakramentendisziplin sowie auf die Ernennung guter Bischöfe zu konzentrieren.
Wenn Sie die römische Kurie neu organisieren müssten, würden Sie der Kongregation für die Glaubenslehre die Bedeutung belassen, die sie heute hat?
Ja, und ich würde sie noch stärken. Die Arbeit der Glaubenskongregation hilft, die Kleinen in der Kirche vor den Wölfen zu schützen, bei denen es sich heutzutage häufig um Bischöfe und Priester handelt und die häretische oder verwirrende Vorstellungen in der Kirche verbreiten und damit bei den Kleinen Anstoß erregen. Wenn unser Herr im Evangelium von den Kleinen spricht, dann sagt er über jeden, der bei ihnen Anstoß erregt, dass "es für ihn besser wäre, dass ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er im Meer ersäuft würde, wo es am tiefsten ist" (Mt 18,5). Ich erinnere mich, dass Kardinal Joseph Ratzinger einmal diese Kleinen im Evangelium mit den Gläubigen verglichen hat. Die Gläubigen sind die Kleinen, unabhängig von ihrem Alter. Ich erinnere mich auch an eine Unterhaltung mit Kardinal Joachim Meisner, der Erzbischof von Köln war (1989-2014) und einer der Unterzeichner der dubia; er verstarb im Jahr 2017. In der Unterredung sagte er, während einem seiner häufigen Besuche der römischen Kurie unter dem Pontifikat Johannes Pauls II. habe ihm ein einflussreicher Kardinal der Kurie gesagt: "Hier in der römischen Kurie gewinnt manchmal der Glaube und manchmal die Diplomatie." Als Kardinal Meisner ihn bat, das näher zu erläutern, sagte dieser Kardinal: "Wenn die Glaubenskongregation gewinnt, gewinnt der Glaube; wenn das Staatssekretariat gewinnt, gewinnt die Diplomatie."
Wir haben im Zusammenhang mit der Interkommunion einen starken Schub in Richtung Dezentralisierung bei den deutschen Bischöfen gesehen. Der Papst gab einem deutschen kirchlichen Leitfaden seine stillschweigende Zustimmung, der für protestantische Ehepartner in manchen Fällen die heilige Kommunion erlaubt. Wie denken Sie über die Interkommunion?
Die Frage der Interkommunion berührt die Beziehungen zwischen Christen. Und das ist seinerseits wiederum eine Frage der Wahrheit. Nichtkatholiken stehen sichtbar nicht in der Einheit mit der Kirche, ungeachtet des Umstands, dass sie, weil sie gültig getauft sind, zu Gliedern des mystischen Leibes Christi gemacht wurden, und viele bleiben es auch. Das Glaubensdogma sagt im Glaubensbekenntnis, dass es nur eine Taufe gibt: "conjiteor unum baptisma". Die katholische Kirche hat immer die Praxis und Theorie einer Wiedertaufe abgelehnt. Der heilige Cyprian von Karthago hat sich im 3. Jahrhundert in dieser Hinsicht geirrt. Die Kirche anerkennt sogar die Taufe von Personen, die von Schismatikern und Häretikern getauft wurden, vorausgesetzt, der Taufritus wurde korrekt durchgeführt. Eine gültige Taufe verleiht das unauslöschliche Merkmal, das bezeugt, dass dieser Schismatiker oder Häretiker rechtmäßiges Eigentum Christi und also Seiner Kirche ist. Um ein echter Christ, ein echter Katholik zu sein, um dem Willen Gottes entsprechend zu leben, muss man sichtbar mit der katholischen Kirche vereint sein, mit dem Apostolischen Stuhl Petri. Die Zulassung von protestantischen oder orthodoxen Christen zur heiligen Kommunion widerspricht dem Wesen des Sakraments der Eucharistie und der notwendig sichtbaren Eigenschaft der Kirche. Leider sagt das Kirchenrecht (can. 844), dass die Zulassung in "Notfällen" möglich ist.
Oder auf dem Sterbebett ...
Ja, oder in Lebensgefahr. Aber wir müssen dem Wesen der Kirche und der Eucharistie treu bleiben. Der Empfang der heiligen Kommunion ist der höchste Ausdruck der vollen und vollständigen Einheit der Kirche. Aufgrund des ureigenen Wesens der Eucharistie wird durch die heilige Kommunion die größte Einheit des Kommunizierenden mit der sichtbaren Kirche bewirkt. Die Sakramente sind wesenhaft sichtbare Zeichen. Wenn wir nichtkatholischen Christen die heilige Kommunion geben, die nicht die Absicht haben, sich sichtbar der katholischen Kirche anzuschließen, dann stellen wir einen Widerspruch her, begehen eine Lüge, führen also eine Art frommes Theater auf, selbst in sogenannten Notfällen. Indem er die heilige Kommunion empfängt, sollte ein Nichtkatholik zeigen und verkünden, dass er in vollkommener Einheit mit der katholischen Kirche steht, denn die eigentliche Wirkung der heiligen Kommunion ist die vollkommene Einheit nicht nur mit Christus, sondern auch mit der Kirche. Das sichtbare Zeichen jedoch, das ein Nichtkatholik äußerlich und öffentlich setzt, indem er die heilige Kommunion empfängt, widerspricht seiner inneren Überzeugung und seiner Absicht, die Ganzheit aller katholischen Dogmen und die kanonische Gemeinschaft mit dem sichtbaren Haupt der Kirche, also dem Papst, nicht anzunehmen. Kein Mensch kann ehrlicherweise leugnen, dass der Empfang der heiligen Kommunion durch Nichtkatholiken in sich eine Lüge und einen Widerspruch darstellt, und das gilt auch für den Notfall.
Um die heilige Kommunion angemessen zu empfangen, genügt es nicht, von schwerer Sünde frei, das heißt richtig disponiert zu sein. Es genügt auch nicht, an das Dogma der Realpräsenz Jesu Christi in der Eucharistie zu glauben, an das Sakrament der Beichte und an das Priesteramt. Natürlich sind das alles unverzichtbare Bedingungen. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, an sämtliche katholischen Dogmen zu glauben. Seit der Zeit der Apostel konnten nur jene, die der Glaubenslehre in ihrer Ganzheit zustimmten, die heilige Kommunion empfangen. Der heilige Justin bezeugt diese apostolische Regel in seiner Apologie. Er schreibt, nur jene sind zur heiligen Kommunion zugelassen, die an sämtliche Wahrheiten glauben, an welche die Kirche glaubt (vgl. 1 Apol. 65).
Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, sagte ganz klar, dass der Plan der deutschen Bischöfe es nicht zur Voraussetzung machte, dass der protestantische Ehepartner zum Katholizismus konvertiert, bevor er zur eucharistischen Gemeinschaft zugelassen wird.
Das Kirchenrecht stellt fest, dass sie an die katholische Wahrheit über die Eucharistie glauben müssen. Ich nehme an, es kann durchaus einen Protestanten geben, der sogar an die Transsubstantiation und an den Opfercharakter der Messe glaubt. Aber das reicht eben nicht. Er muss auch an sämtliche anderen katholischen Dogmen glauben, beispielsweise an die Mariendogmen, an das Dogma des päpstlichen Primats - Dogmen, die ein Protestant ablehnt, sonst würde er offiziell katholisch werden. Dasselbe gilt für die Orthodoxen. Auch wenn sie an alle anderen katholischen Dogmen glauben, so lehnen sie doch eindeutig das Dogma des päpstlichen Primats und der päpstlichen Unfehlbarkeit ab.
Selbst wenn eine nichtkatholische Person stirbt, muss man sie fragen, ob sie an die Wahrheiten der katholischen Kirche glaubt. Ist das der Fall, dann kann man ihr die sakramentale Lossprechung und die heilige Kommunion geben. Wir müssen immer daran denken, dass der Empfang der Eucharistie für das ewige Heil nicht notwendig ist. Nur der wahre Glaube und die Taufe sind heilsnotwendig (vgl Mk. 16,16).
Wenn also ein Nichtkatholik an sämtliche Wahrheiten der katholischen Kirche glaubt und sich den Gebräuchen der Kirche unterwirft, dann ist er doch immerhin in seinem Inneren bereits zum Katholizismus konvertiert ...
Er muss aber auch sichtbar ein Katholik werden, denn die Kirche ist ihrem Wesen nach sichtbar und auch das Sakrament der Eucharistie ist sichtbar. Ich möchte es noch einmal wiederholen: Die heilige Kommunion ist für das Seelenheil nicht absolut notwendig. Es gibt nur ein heilsnotwendiges Sakrament, nämlich die Taufe. Und auch das Sakrament der Taufe geben wir nicht einer Person, die sich Wahrheiten a la carte, nach Belieben, aussucht. Man muss an alle von Gott geoffenbarten und von Seiner Kirche gelehrten Wahrheiten glauben und sich den Gebräuchen der Kirche unterwerfen. Wenn ein Protestant oder ein orthodoxer Christ nach dem Empfang der heiligen Kommunion verlangt, dann muss er gleichzeitig das Verlangen haben, katholisch zu werden.
Lässt man einen protestantischen oder orthodoxen Christen im Fall eines angeblichen Notfalls oder als Ausnahme zur heiligen Kommunion zu, dann bringt man damit bereits eine Relativierung des Dogmas von der Einzigartigkeit der katholischen Kirche zum Ausdruck, welche wir im Glaubensbekenntnis aussprechen: "credo unam catholicam ecclesiam. « Außerdem drückt sich darin eine Relativierung der Notwendigkeit des Glaubens an sämtliche katholischen Dogmen aus eben aufgrund dessen, dass sie von Gott geoffenbart sind.
Wenn ein protestantischer oder orthodoxer Christ sich in geistlicher Not befindet oder im Sterben liegt, dann kann er eine geistige Kommunion vollziehen, wenn er sich tatsächlich danach sehnt, den Herrn zu empfangen. Er kann die Tröstungen und Wirkungen der Eucharistie auf unsichtbare Weise empfangen, auf eine Weise, um die Gott allein weiß, die also der Wahrheit seines objektiven Zustands einer sichtbaren Trennung von der katholischen Kirche entspricht.
Sie deuten an, dass auf die sakramentale Kommunion zu viel Nachdruck - oder vielleicht auch eine falsche Art von Nachdruck - gelegt wird.
Wie viele Katholiken sind doch auch ohne heilige Kommunion einen heiligen Tod gestorben! Es gehört zu meiner eigenen Erfahrung, dass in der Untergrundkirche in der Sowjetunion viele meiner Verwandten, meine Großväter Sebastian und Bernhard, meine Großmutter Melania, einige von meinen Großonkeln und Großtanten, ohne den sakramentalen Empfang der heiligen Kommunion, ohne Viaticum, gestorben sind. Meine Eltern haben mir erzählt, dass diese meine Verwandten aufgrund ihrer Gewohnheit häufiger geistiger Kommunion dennoch einen heiligen christlichen Tod gestorben sind. Wie viele Einsiedler in der Wüste lebten jahrelang, ja starben sogar ohne die heilige Kommunion - sie lebten in einem Zustand ständiger geistiger Kommunion!
Gott wird Seine Gnaden der Seele eines aufrichtigen protestantischen oder orthodoxen Christen schenken, der sich nach der heiligen Kommunion sehnt. Indem wir ihnen die heilige Kommunion reichen, ohne zu verlangen, dass sie zuerst sichtbar katholisch werden, pressen wir das Wirken von Gottes Gnade in unsere eigenen Kategorien, die der Regel widersprechen, die Gott in der apostolischen Tradition niedergelegt hat und an der in den zweitausend Jahren der Geschichte der Kirche immer festgehalten wurde. Die Kirche hat nicht die Vollmacht, die Substanz der Sakramente zu verändern, und sie sollte auch die apostolische Regel über den Empfang der Eucharistie nicht relativieren: die Regel, die besagt, dass die Eucharistie nur von den Gläubigen empfangen werden darf, die auf sichtbare Weise sämtliche Dogmen des Glaubens bekennen.
Das Thema Interkommunion kam auf, als Papst Franziskus mit Kardinal Walter Kasper eine lutherische Kirche in Rom besuchte und von einer mit einem Katholiken verheirateten Protestantin gefragt wurde, was getan werden könne, damit sie die Kommunion gemeinsam empfangen könnten - auf dass sie alles im Leben teilen könnten -, ohne dass eine Konversion zum katholischen Glauben erwähnt wurde.
Ein solches Argument ist in sich falsch und unaufrichtig. Wir haben es bereits angesprochen: Wahrheit ist die Grundlage der Liebe und Einheit kann nicht aus Zweideutigkeit und Lügen entstehen. Der katholische Ehepartner / die katholische Ehepartnerin wird weiterhin offiziell seine oder ihre Treue zu den Dogmen der katholischen Kirche bekennen, wohingegen die protestantische Ehepartnerin / der protestantische Ehepartner offiziell die Irrtümer ihrer oder seiner protestantischen Konfession bekennt. Der gemeinsame Empfang der Eucharistie, des Sakraments vollkommener und sichtbarer kirchlicher Einheit, wäre in solchen Fällen eine ungeheuerliche Lüge.
Wenn wir das Problem aufrichtig, logisch und theologisch analysieren, dann stoßen wir auf einen Irrtum im Kirchenrecht (can. 844) und im Dekret über die katholischen Ostkirchen des Zweiten Vatikanischen Konzils, das vorschreibt, dass ein orthodoxer Christ die heilige Kommunion im Fall eines dringenden geistlichen Bedürfnisses, eines geistlichen Notstands oder in Todesgefahr (vgl. Orientalium Ecclesiarum, 27) empfangen darf. Die Ausdrücke "dringendes geistliches Bedürfnis" und "geistlicher Notstand" sind unscharf und subjektivistisch, denn häufig ist es unmöglich, ein "dringendes geistliches Bedürfnis" oder einen "geistlichen Notstand" zu überprüfen. Die Sakramentendisziplin verlangt allerdings aufgrund ihres sichtbaren und objektiven Wesens objektiv überprüfbare Voraussetzungen.
Es hat ganz den Anschein, als könnte der Irrtum, den Sie beschreiben, gewaltige Folgen haben, wenn man ihn bis an seine Grenzen presst.
Indem das Konzil und der Kodex des Kirchenrechts diese Erlaubnis gaben, haben sie den Grund gelegt für den Vollzug eines theologischen Widerspruchs und einer sichtbaren kirchlichen Lüge. Das im erwähnten Konzilstext und in can. 844 des Kirchenrechts formulierte Prinzip hat als logische Konsequenz die kürzlich eingeführten regionalen pastoralen Normen, mit denen unbußfertige Ehebrecher in einigen Fällen, in angeblichen "geistlichen Notsituationen", zur heiligen Kommunion zugelassen werden können. Einige dieser Normen wurden sogar auf der Grundlage von Amoris Laetitia von Papst Franziskus selbst genehmigt. Tatsächlich befinden sich diese unbußfertigen Ehebrecher, die more uxorio in einer zivilrechtlichen Lebensgemeinschaft mit einer Person zusammenleben, die nicht ihr rechtmäßiger Ehepartner ist, in einem sichtbaren, objektiven Zustand öffentlicher Sünde.
Allerdings ist eines der Hauptargumente dafür, solche Personen zur heiligen Kommunion zuzulassen, ganz ähnlich wie dasjenige (can. 844), mit dem nichtkatholische Personen zur heiligen Kommunion zugelassen werden, die sich sichtbar und objektiv in einem Zustand des Schismas und der Häresie befinden. In beiden Fällen - dem von öffentlichen Sündern, die in einer objektiv ehebrecherischen Vereinigung leben, und dem von Personen, die sich in einem objektiven Zustand von Schisma und Häresie befinden - zitieren die Befürworter das Argument eines "schwerwiegenden und tiefen geistlichen Bedürfnisses oder Notfalls", das auf Einzelfallbasis und mit pastoraler Begleitung und Unterscheidung individuell bewertet werden muss.
Die Kirche hat die heilige Kommunion immer eifersüchtig geschützt. In alten Zeiten durften bestimmte Gruppen von Sündern nicht einmal den eigentlichen Kirchenraum betreten, bevor sie nicht ihre Buße geleistet hatten.
Die alte Disziplin der Kirche, wie sie von den apostolischen Vätern und allen wichtigen Kirchenvätern bezeugt ist, ließ Sterbende zur heiligen Kommunion nur dann zu, wenn sie Reue zeigten und danach verlangten, sichtbar mit der Kirche versöhnt zu werden. Diese Disziplin hatte zweitausend Jahre lang Geltung. Es gab vielleicht einige sehr wenige und zeitlich und räumlich begrenzte Ausnahmen im Fall von Missionaren, die in einer orthodoxen Bevölkerung tätig waren, um ihnen den Weg zu erleichtern, katholisch zu werden.
Selbst ein gläubiger Katholik wird, wenn kein Priester in der Nähe ist und er seine Sünden aufrichtig bereut und von ihnen losgesprochen sein will, von Gott losgesprochen kraft seiner Liebesreue und seines Wunsches, das Sakrament zu empfangen, also kraft des votum sacramenti. Wenn jemand stirbt und die Taufe begehrt, dann ist er aufgrund seines Wunsches getauft, aufgrund des votum baptismi.
Wenn ein Katholik stirbt und aufrichtig mit zerknirschtem Herzen sakramentale Lossprechung begehrt und kein Priester in der Nähe ist, dann wird er kraft seines Verlangens nach dem Sakrament losgesprochen, analog zur Begierdetaufe. Wir wollen also den Protestanten erlauben, auf diese Weise zu sterben, die Vergebung der Sünden zu begehren, denn Gott sorgt für ihr Heil auf eine Weise, die nur er kennt. Wenn wir ihnen die sakramentale Lossprechung gewähren, ohne dass sie zuvor Zeichen ihres Wunsches gegeben hätten, mit der Kirche vereint zu sein, dann wählen wir für diese Seelen einen Weg, der nicht dem objektiven sakramentalen Weg entspricht, den Gott selbst festgelegt hat. Natürlich werden wir solchen sterbenden, nichtkatholischen Seelen ein Höchstmaß an geistlicher Hilfe leisten: Wir bleiben an ihrer Seite, beten für sie den Rosenkranz, segnen sie, um sie vor den Angriffen des Teufels zu schützen, und so weiter. Aber wir können sterbenden, nichtkatholischen Personen nicht die Sakramente geben, wenn sie nicht zumindest implizit zu verstehen geben, dass sie in Wahrheit mit der katholischen Kirche vereinigt zu sein wünschen.
Was meinen Sie, inwieweit ist die gegenwärtige Krise der Schwächung der Wahrheit "extra ecclesiam nulla salus" (außerhalb der Kirche gibt es kein Heil) geschuldet? Einige sind der Meinung, seit diese Lehre geschwächt wurde, würden wir eine Verdunkelung der Kirche und einen zunehmenden Relativisimus feststellen.
Das zeigt sich bereits in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils - in der Erklärung Nostra Aetate und ebenso in Dignitatis Humanae über religiöse Freiheit. Relativismus liegt bereits in einem falschen Ökumenismus vor, wenn beispielsweise das Zweite Vatikanische Konzil den Hinduismus als eine Religion rühmt, indem es sagt: "Im Hinduismus betrachten die Menschen das göttliche Geheimnis ... Sie suchen Freiheit durch einen Aufschwung zu Gott in Liebe und Vertrauen" (Nr. 2). Wie kann man eine Religion rühmen, die hauptsächlich Götzen anbetet? Die Versicherung von Dignitatis Humanae Nr. 4, dass jeder Mensch von Natur aus das Recht hat, sich seine eigene Religion gemäß seinem Gewissen zu wählen und das "numen supremum", das heißt die "höchste Gottheit", zu verehren - eine solche Behauptung ist falsch. Wir haben kein natürliches Recht, Sünden und Irrtümer zu begehen. Sämtliche Religionen außerhalb des katholischen Glaubens stellen als Ganzes ein System von Irrtümern dar und sind daher eine objektive Beleidigung Gottes, der obersten Wahrheit. Sie enthalten natürlich einiges Wahres, doch dieses Wahre verdankt sich dem Licht der natürlichen Vernunft und nicht der Religion als solcher, die dem Willen Gottes entgegensteht und insofern eine Beleidigung Gottes darstellt. Subjektiv wissen wir nichts über das ewige Schicksal solcher Personen, weil nur Gott ihre Absichten und ihr Herz kennt. Allerdings sind Personen, die falschen Religionen anhängen, objektiv gefährdet, das ewige Heil zu verfehlen. In einer so entscheidenden theologischen Frage wie der Wahrheit, dass Gott nur die Religion wünscht, die geboren ist aus dem Glauben an Jesus Christus, der Gott und Mensch ist, müssen wir alle Äußerungen der Verwirrung und einer rein weltlichen Weisheit vermeiden. Wir müssen - um eine Wendung des heiligen Papstes Leo des Großen zu benutzen - den "Rauch weltlicher Weisheit" ("Jumus mundanae sapientiae") vermeiden.
Selbst wenn Menschen "gute Hindus" sind, so verehren sie doch als Hindus falsche Götter.
Genau, falsche Götter. Die Politik der Kirche nach dem Konzil mit all den ökumenischen und interreligiösen Dialogen trug im Hinblick auf die Einzigkeit der Erlösung durch Christus und Seine Kirche mit zum lehrmäßigen Relativismus bei. Allerdings wurde, wie gesagt, diese falsche Politik bereits in den Prinzipien grundgelegt, die in einigen Abschnitten der Konzilstexte formuliert wurden.
Einige würden sagen, dass die Diskussion in Dominus Iesus von der Kirche Christi, die in der katholischen Kirche "subsistiert': nicht eine so klare Lehre bietet, wie wir sie vor dem Konzil hatten.
Dominus Iesus ist zum großen Teil sehr klar und Gott sei Dank haben wir dieses Dokument, vor allem, was andere Religionen betrifft. Allerdings ist die Formulierung, dass "die Kirche Christi in der katholischen Kirche subsistiert (subsistit)", die auf Lumen Gentium zurückgeht, unzureichend. Sie ist nicht falsch, sondern unzureichend. Es wäre beispielsweise klarer zu sagen: "Die einzige Kirche Christi ist die katholische Kirche und nur in ihr sind verwirklicht und subsistieren in Fülle all die Wahrheiten und alle Heilsmittel der Kirche Christi." Selbst heute sagen noch viele Bischöfe, man kann Muslim oder Lutheraner bleiben. Solche Behauptungen fördern den Relativismus in dem Sinn, dass jede Religion - und eben auch die katholische - relativ ist. Wir schwächen damit natürlich die Lehre von extra ecclesiam nulla salus.
Wir können auch fragen: "Was bedeutet extra ecclesiam nulla salus?" Es bedeutet doch eigentlich: "Extra Christum nulla salus", außerhalb von Christus gibt es kein Heil. Das Zentrum ist nicht die Kirche; Christus ist das Zentrum. Der heilige Paulus sagt: "Die Kirche ordnet sich Christus unter" (Eph 5,24) und "Christus ist das Haupt des Leibes, der Kirche. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, damit er in allem der Erste sei" (Kol 1,18). Die Kirchenväter unterstrichen diese Wahrheit, indem sie die Kirche symbolisch mit dem Mond verglichen und Christus mit der Sonne. Der heilige Augustinus sagt: "Der Mond wird als die Kirche angesehen, weil sie kein eigenes Licht hat, sondern vom eingeborenen Sohn Gottes erleuchtet ist" (Enarr. in Ps 11,3). Die Kirche ist das notwendige Heilmittel in den Händen Christi, der der einzige Weg zum ewigen, übernatürlichen Heil ist.
Vielleicht können wir noch auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Im Jahr 2016 haben vier namhafte Kardinäle mehrere Fragen (dubia) an Papst Franziskus gerichtet und um Klärung einiger Punkte im nachsynodalen apostolischen Schreiben Amoris Laetitia gebeten. Ihre Fragen betrafen die Gültigkeit des göttlichen Sittengesetzes und die Unauflöslichkeit der Ehe. Das achte Kapitel dieses Dokuments scheint in gewissen Fällen Personen, die im Ehebruch leben, die heilige Kommunion zu gestatten. Sagt das achte Kapitel das wirklich?
Sicherlich, ich stimme mit den vier Dubia-Kardinälen überein: Amoris Laetitia bedarf einer Klarstellung, vor allem hinsichtlich des achten Kapitels, das in Einzelfällen die heilige Kommunion jenen zu erlauben scheint, die in zivilrechtlichen oder irregulären Verbindungen als Mann und Frau (more uxorio) zusammenleben und keine kirchenrechtliche Erklärung der Ungültigkeit ihrer ersten Ehe vorlegen können. Papst Franziskus hat die pastoralen Normen einiger Ortskirchen gebilligt, die in besonderen und vereinzelten Umständen den Empfang der heiligen Kommunion in solchen Fällen zulassen. Selbst wenn diese örtlichen Normen keine allgemeine Norm für die gesamte Kirche sind, so bedeuten sie doch im konkreten Einzelfall eine Leugnung der göttlichen Wahrheit von der absoluten Unauflösbarkeit einer gültigen und vollzogenen sakramentalen Ehe. Das ist ein sehr ernstes Problem und muss mit aller Aufrichtigkeit und Klarheit angesprochen werden. Wir dürfen nie der Tatsache zustimmen oder auch nur schweigend zusehen, dass in der katholischen Kirche unserer Zeit Scheidung und in gewissem Sinn auch Polygamie durch solche Normen eingeführt werden - wenn nicht in der Theorie, so jedenfalls bestimmt in der Praxis.
Am fünfzigsten Jahrestag von Humanae vitae im Jahr 2018 erreichten die Bemühungen innerhalb der Kirche, die seit dem vergangenen halben Jahrhundert zur Aushöhlung dieser Enzyklika unternommen wurden, einen Höhepunkt, als ein relativ neues Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben, der italienische Moraltheologe Pater Maurizio Chiodi, ausgehend vom achten Kapitel von Amoris Laetitia argumentierte, verantwortliche Elternschaft könnte ein verheiratetes Paar dazu verpflichten, künstliche Mittel der Geburtenkontrolle zu gebrauchen. Was würden Sie über Humanae Vitae Ehepaaren sagen und jenen, die sich auf die Ehe vorbereiten?
Die Enzyklika Humanae Vitae behandelt das göttliche Gesetz über die Weitergabe menschlichen Lebens, das Gott Mann und Frau gegeben hat. "Seid fruchtbar und mehret euch", sagte Er ihnen. Jedes menschliche Leben ist kostbar und einmalig. Eltern empfangen von Gott das einzigartige Vorrecht, dabei mitzuwirken, neues Leben zu schenken. Leben zu schenken ist ein ausschließlich Gott vorbehaltenes Vorrecht und Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, dass menschliche Eltern, Ehemann und Ehefrau, an Seiner göttlichen Macht, Leben zu schenken, Anteil haben sollten.
Der Akt, menschliches Leben weiterzugeben, ist also nicht eine Angelegenheit, die ausschließlich Ehemann und Ehefrau betrifft, sondern bezieht sich immer auf Gott, den Schöpfer des Lebens. Dieser Akt muss folglich so vollzogen werden, wie Gott ihn beabsichtigt und geschaffen hat. Gott und nicht der Mensch hat in seiner ewigen und unendlichen Weisheit die Struktur und Ordnung menschlicher Sexualität begründet. Aufgrund der geschaffenen Ordnung menschlicher Sexualität ist die Bedeutung des Geschlechtsakts wesenhaft zeugungsbezogen, er ist darauf hingeordnet, Leben zu schenken. Deshalb liegt es nicht im Zuständigkeitsbereich eines Paares, eine Veränderung der gottgegebenen Bedeutung und Struktur der geschlechtlichen Vereinigung zu beschließen, die aufgrund ihrer ureigenen Natur offen ist für das Leben. Auf diese Weise hat Gott in seiner Weisheit Sexualität mit der Weitergabe von Leben verknüpft.
Leben zu schenken ist etwas ganz und gar Selbstloses und eben das, nämlich Selbstlosigkeit, sollte grundsätzlich die Verfassung von Mann und Frau im ehelichen Akt sein.
Denn die eheliche Vereinigung ist nicht auf das Paar allein bezogen; der Akt, Leben weiterzugeben, reicht über das Paar hinaus ...
Genau. Das ist eine sehr gute Beobachtung. Offenheit für das Leben beschützt das Paar in seiner geschlechtlichen Vereinigung vor Selbstsucht. Selbstsucht ist das tödliche Gift für die Liebe. Wenn also ein Mann und eine Frau die Weitergabe des Lebens in der sexuellen Begegnung ausschließen, dann vollziehen sie eigentlich keinen Akt der Liebe, wie Gott ihn beabsichtigte, sondern einen Akt wechselseitiger Selbstsucht. Und das verwundet ihre Liebe im Innersten, denn jedes Mal, wenn sie neues Leben in der sexuellen Begegnung ausschließen, werden sie noch egoistischer.
Gott hat in seiner Weisheit den Akt der Zeugung neuen Lebens untrennbar mit dem ehelichen Akt verbunden, um die eheliche Liebe zu schützen. Die Natur des Menschen ist aufgrund der Erbsünde verwundet. Die Wunde der Erbsünde betrifft auch die sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau. Sie sind nicht unbefleckt. Sie wurden nicht unbefleckt empfangen. Sie leben mit den Folgen der Erbsünde, die ihren Abdruck auch auf der sexuellen Begegnung hinterlassen hat. Die Offenheit für das Leben beschützt die Ehegatten vor den negativen, egoistischen Folgen der Erbsünde. Die Worte Unseres Herrn über die Unauflöslichkeit der Ehe: "Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen" (Mt 19,6) lassen sich durchaus auch auf die Wahrheit über die Unauflöslichkeit der beiden Ziele des ehelichen Akts anwenden. Diese beiden von Gott verbundenen Ziele (das auf die Zeugung bezogene und das vereinigende Ziel) soll der Mensch nicht voneinander trennen.
Indem Er die Offenheit für neues Leben in die Natur des ehelichen Aktes einschrieb, erklärte Gott, dass das erste Ziel von Sexualität darin besteht, Leben zu schenken, und die Kirche hat das zweitausend Jahre lang kontinuierlich gelehrt. Das erste Ziel der Sexualität und also der Ehe, das offensichtlich in die Natur eingeschrieben ist, besteht darin, Leben zu schenken und das Menschengeschlecht zu vermehren. Leben schenken bedeutet für christliche Ehepaare, potenziellen neuen Bürgern des Himmels Leben zu schenken. Das natürliche Ziel, Leben zu schenken, wird erhöht, und zwar auf ganz unvergleichliche Weise erhöht: Das Leben wird neuen Bürgern des Himmels geschenkt. Darin sehen wir einmal mehr die Wahrheit, dass die Gnade die Natur voraussetzt, sie erhöht und vervollkommnet. Wie wunderbar ist diese Wahrheit doch im ehelichen Akt eines christlichen Paars verwirklicht!
Deshalb sollten Ehepaare wirklich Gott vertrauen und Ihn entscheiden lassen, eine neue menschliche Person und einen neuen potenziellen Bürger des Himmels ins Dasein zu rufen. Warum sollte man der Anzahl der Himmelsbürger eine Grenze setzen? Was spricht gegen eine größere Anzahl von Himmelsbürgern, die in alle Ewigkeit Gott sehen, Ihn lieben, anbeten und verherrlichen werden? Wie können Eltern aufgrund eigener Entscheidung die Zahl ihrer Kinder begrenzen und dadurch die Existenz eines potenziellen Himmelsbürgers verhindern, der in alle Ewigkeit Gott kennen und lieben wird und der auch in alle Ewigkeit seinen Eltern danken wird, dass sie ihm das Leben geschenkt haben?
Deshalb sind selbst die sogenannten natürlichen Methoden ...
Natürliche Familienplanung ...
Ich halte den Ausdruck "natürliche Familienplanung" für nicht korrekt. Wahrscheinlich ist der Ausdruck als Reaktion auf die Abtreibungsorganisation "Planned Parenthood" geprägt worden. Er klingt zu technisch und in gewisser Weise bürokratisch. Man erstellt einen Wirtschaftsplan für die Weizenproduktion oder für die Aufzucht von Hühnern oder Kühen, eine Art "Hühner- oder Viehzuchtplan". Das wäre Planen. Ich lobe die Ehepaare, die sich heroisch gegen Empfängnisverhütung entschieden haben und Opfer bringen, um ein Eheleben entsprechend dem Plan und dem Willen Gottes zu führen. Allerdings finde ich es unwürdig, das Wort "Planung" auf Menschen anzuwenden und auf neue potenzielle Himmelsbürger, Kinder Gottes. Wir sollten den Ausdruck "Natürliche Familienplanung" vermeiden.
Würden Sie lieber den Ausdruck" verantwortliche Elternschaft" verwenden?
Auch diesen Begriff mag ich nicht sonderlich. Wir müssen natürlich alle verantwortlich handeln, doch wird die Wendung häufig missbraucht und kann sehr subjektiv gefärbt sein, indem man einfach nach den eigenen Maßstäben entscheidet, was verantwortlich und was unverantwortlich ist. Der Ausdruck "verantwortliche Elternschaft" enthält außerdem die Gefahr, in eine Verhütungsmentalität zu geraten, auch dann, wenn man natürliche Methoden anwendet, die Gott mit dem Zyklus des weiblichen Körpers vorgegeben hat. Die Beobachtung des natürlichen Fruchtbarkeitszyklus einer Frau kann im Sinne einer Verhütungsmentalität als eine empfängnisverhütende Methode benutzt werden. Deshalb ist der Ausdruck bereits in gewisser Weise zweideutig, denn es ist zumindest implizit mangelndes Vertrauen auf Gott, auf Seine Vorsehung enthalten und ein Mangel an Vertrauen und Zuversicht, dass es letztlich doch Er ist, der einen neuen potenziellen Himmelsbürger in die Existenz ruft. Wenn wir bestimmte Worte wählen - besonders in einer so heiklen Angelegenheit wie der Weitergabe menschlichen Lebens -, dann müssen wir die letzten Konsequenzen bedenken.
Ich möchte zurückkommen auf etwas, das Sie sagten, dass nämlich die Kirche immer gelehrt hat, dass die Weitergabe des Lebens das erste Ziel der Ehe ist. Ich meine, dass es heute Menschen gibt, die das bestreiten würden - sie behaupten, dass mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die beiden Ziele der Ehe das vereinigende und das auf Zeugung bezogene - auf dieselbe Ebene gestellt wurden. Aus dem, was Sie sagen, geht meinem Eindruck nach hervor, dass, wenn man die Zeugung als erstes Ziel beibehält - zusätzlich dazu, dass es objektiv wahr ist -, auch das zweite Ziel beschützt wird, der einigende Aspekt der Ehe. Wenn Mann und Frau in der sexuellen Begegnung nicht offen sind für das Leben, können sie dann wahrhaft offen sein für Gott? Sehr wahrscheinlich kann man doch sagen, dass sie, wenn sie für das Leben offen sind, indem sie einander in Selbstlosigkeit und Keuschheit begegnen, auch in gewissem Sinn Gott begegnen, denn es sind drei gegenwärtig, wenn ein Kind empfangen wird. Ein Mann und eine Frau, die den Zeugungsaspekt verhindern, wirken eher wie unsere ersten Eltern im Garten, die sich von Gott abwandten und Ihn ausschlossen.
Sehr richtig. Der Zeugungsaspekt der sexuellen Begegnung von Mann und Frau mit ihrer bedingungslosen Offenheit für das Leben erlaubt es Gott, in diesen Augenblick ihrer Intimität einzutreten. Wenn jedoch die Ehegatten vorsätzlich den Zeugungsaspekt ausschließen, dann schließen sie in diesem Moment die Anwesenheit Gottes aus, indem sie zu Gott sagen: "Bitte, geh! Wir wollen jetzt allein sein, nur wir beide und niemand sonst." Eine solche Haltung ist sehr traurig. Sie bildet den Kern dessen, was wir "Sünde" nennen. Als die erste Sünde in der Geschichte der Menschheit begangen wurde, taten Adam und Eva genau dasselbe: Sie wollten allein sein, ohne Gott, deshalb flohen sie vor der Anwesenheit Gottes, nachdem sie gesündigt hatten.
Ihre Vereinigung kann also keine echte Einheit sein, wenn sie nicht auf Zeugung ausgerichtet ist. Ein Mann und eine Frau können - vor allem in einer sakramentalen Ehe - sich nicht wirklich näherkommen, wenn sie sich Gott verschlossen haben, denn Er ist die Quelle ihrer Liebe.
Ja. Wenn die Ehegatten den einigenden und den zeugungsbezogenen Aspekt voneinander trennen, dann bleiben nur noch Vergnügen und Gefühle. Wie wir in den letzten fünfzig oder sechzig Jahren an der weitverbreiteten empfängnisverhütenden Mentalität beobachten können, hat diese Haltung weitreichende Folgen für die Sexualmoral innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der Kirche.
Kardinal Gerhard Müller, der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation, argumentierte, dass jeder, der glaubt, dass Empfängnisverhütung zulässig sei, letztlich auch kein Argument gegen Homosexualität hat.
Ich stimme dieser Aussage zu. Man kann sexuelles Vergnügen nicht von der Möglichkeit trennen, Leben zu schenken. Wenn man das tut, indem man zunächst Empfängnisverhütung innerhalb der Ehe zulässt - wie es sich fatalerweise im Leben katholischer Ehepaare im Westen weit verbreitet hat, mit der indirekten Unterstützung einiger Bischofskonferenzen -, dann öffnet man die Tür für die Möglichkeit, eine bloße sexuelle Begegnung zum Vergnügen, sei es vor der Ehe, in einem Ehebruch oder sogar in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, zu legitimieren und zu rechtfertigen.
Insofern war die Enzyklika von Papst Paul VI. sehr wichtig, äußerst notwendig, prophetisch, und sie kam zum richtigen Zeitpunkt, um die Würde der menschlichen Sexualität und die Würde der Ehegatten zu retten. Sie war ein schützender Damm gegen die Flut sexueller Unmoral und Unordnung in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Der Damm sollte diese Flut zurückhalten. Leider bohrten einige Bischöfe ein Loch in den Damm, indem sie erlaubten, dass Ehepaare für sich selbst entschieden, "in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen", Empfängnisverhütung anzuwenden oder nicht, zu entscheiden auf der Grundlage einer "Notlage" oder einer "tiefen dringlichen geistlichen Notwendigkeit". Diese Argumentation ist uns schon im Zusammenhang mit der Zulassung unbußfertiger Ehebrecher und formeller Schismatiker und Häretiker zur heiligen Kommunion begegnet, "in besonderen Fällen" und wegen einer "tiefen dringlichen geistlichen Notwendigkeit".
Es war sehr unverantwortlich von einigen Bischöfen und Bischofskonferenzen, die Verwendung von Verhütungsmitteln auf der Grundlage einer "Gewissensentscheidung" oder "in dringenden Einzelfällen" und in einem "Unterscheidungsprozess" zu erlauben, wie sie sagten. Jetzt, fünfzig Jahre später, müssen die Bischöfe der katholischen Kirche und der Papst nicht nur die unveränderliche Wahrheit über die Bedeutung, Ordnung und das Wesen menschlicher Sexualität neu bekräftigen, sondern auch für die Untreue gewisser Bischöfe und Bischofskonferenzen Wiedergutmachung leisten, vor allem für jene berühmten Erklärungen aus dem Jahr 1968, die letztlich die Enzyklika Humanae Vitae und die beständige Lehre der Kirche bezüglich der Empfängnisverhütung untergruben. Zu den bekanntesten und verheerendsten Stellungnahmen zu Humanae Vitae gehörten das Winnipeg Statement (Kanada), die Königsteiner Erklärung (Deutschland) und die Mariatroster Erklärung (Österreich). Ich meine, die Bischöfe und Bischofskonferenzen, deren Vorgänger vor fünfzig Jahren diese verhängnisvollen Erklärungen abgegeben haben, müssen dafür Akte der Wiedergutmachung leisten. Ich hoffe, dass das geschehen wird.
Ich meine mich zu erinnern, dass Sie einmal erwähnten, wenn ein Ehepaar vor dem Herrn steht, um persönlich gerichtet zu werden, dann wird Er ihnen die Kinder zeigen, die sie gehabt hätten, wenn sie dem Leben gegenüber offener gewesen wären. Dasselbe könnte man ja auch über die Bischöfe sagen. Vielleicht wird Er ihnen zeigen, wie viele Kinder nicht empfangen wurden und nicht in den Himmel gelangt sind, weil diese Bischöfe es verabsäumt haben, jungen Menschen und Ehepaaren die Wahrheit über die menschliche Sexualität zu sagen.
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass, wenn die Ehepaare vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen, Er ihnen all die potenziellen Kinder zeigen wird, denen Er das Leben schenken wollte, auf dass sie später einmal Bürger des Himmels würden, und die die Eltern aufgrund ihres Egoismus in ihrer sexuellen Begegnung zurückwiesen - Kinder, die Gott in die Existenz gerufen hätte. Dieses Kind, das von seinen Eltern daran gehindert wurde zu existieren - entweder durch Empfängnisverhütung oder durch natürliche Mittel, die mit verhütender Absicht eingesetzt wurden -, wäre vielleicht ein großer Heiliger im Reich Gottes geworden. Oder vielleicht verweigerte das Ehepaar auch talentierten Menschen oder Genies zu existieren, die Bedeutendes zum Wohl der menschlichen Gesellschaft beigetragen hätten. Deshalb wird Gott ihnen all die Kinder zeigen, deren Existenz sie vorsätzlich ausschlossen sei es durch künstliche oder durch natürliche Methoden.
Es ist eine Frage des Gottvertrauens. Es ist eine Frage des Glaubens. Meiner Meinung nach wäre es für einen Ehemann und eine Ehefrau besser zu sagen: "O Herr, wir erlauben dir, dass du entscheidest. Du bist weiser als wir." Deshalb würde ich auch nicht sagen, dass es unverantwortlich ist, viele Kinder zu haben. Es gibt viele Fälle in der Menschheits- und Kirchengeschichte von kinderreichen Familien.
Die heilige Katharina von Siena (1347-1380), eine der größten Heiligen und Mystikerinnen der Kirche, die viel dazu beitrug, dass das Papsttum in Rom nach dem Exil in Avignon wiederhergestellt wurde, war das jüngste von fünfundzwanzig Kindern. Der heilige Pius X. (1835-1914) hatte neun Geschwister.
Diese Ehepaare benutzten keine "natürliche Familienplanung". Sie sagten: "Gott soll entscheiden." Ich bin deshalb sehr vorsichtig und zurückhaltend mit dem Ausdruck "verantwortliche Elternschaft", denn ich glaube, dass er offen ist für Missverständnisse und subjektive Kriterien. Selbstverständlich kann man natürliche Methoden in extrem schwierigen Fällen wie Krankheit anwenden, aber dabei muss es sich wirklich um schwerwiegende Situationen handeln.
Offensichtlich berührt das Thema von Humanae Vitae das Wesen von Familie und Ehe. Wir müssen deshalb erneut bekräftigen, dass das erste Ziel der Ehe und der sexuellen Begegnung darin besteht, neues Leben zu schenken.
Was sagen Sie zu jenen, die einwenden, die Lehre von den beiden Zielen der Ehe sei durch das Zweite Vatikanum geändert . worden - beide seien auf ein und dieselbe Ebene gestellt worden?
Die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes änderte das nicht ausdrücklich, vermied aber andererseits auch, von der Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Ziel zu sprechen. Indem diese Ausdrücke vermieden wurden, hinterließ das Konzil eine gewisse Zweideutigkeit hinsichtlich des ersten Ziels der Ehe. Das hatte falsche Auslegungen und Umsetzungen zur Folge. Gaudium et Spes hinterließ uns allerdings auch die folgende traditionelle Lehre über das Wesen der Ehe: "Durch ihre natürliche Eigenart sind die Institution der Ehe und die eheliche Liebe auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet und finden darin gleichsam ihre Krönung" (Nr. 48). Das Lehramt der Kirche hat beständig gelehrt, dass das Leben schenkende, zeugende Ziel objektiv das erste oder primäre Ziel ist. Doch es gehört auch untrennbar zum zweiten, dem subjektiven, vereinigenden Ziel.
Leider wird im aktuellen Kodex des Kirchenrechts (can. 1055) das sekundäre Ziel der Ehe zuerst erwähnt und erst danach das primäre, womit ein neues fragwürdiges Verständnis, eine neue fragwürdige Praxis ermöglicht wird. Wenn das subjektive vereinigende Ziel an erster Stelle steht, dann können Ehepaare argumentieren: "Das ist das erste Ziel unserer Ehe, also können wir empfängnisverhütende Mittel benutzen", denn Fortpflanzung stand ja erst an zweiter Stelle nach der Vereinigung. Die Gatten können den Eindruck erhalten, dass diese Haltung richtig ist, denn Fortpflanzung wird vom Konzil und also auch vom Kodex des Kirchenrechts erst an zweiter Stelle erwähnt - es wird nicht ausdrücklich gesagt, dass es ein sekundäres Ziel ist, doch es wird an zweiter Stelle genannt. Ich bedaure diese Umkehrung und wir müssen dafür sorgen, dass das Lehramt die richtige Ordnung der Eheziele wieder ausdrücklich feststellt. Jede menschliche Handlung, jede menschliche Einrichtung und Gesellschaft muss ein objektives und erstes Hauptziel haben; das ist logisch. Wenn wir das nicht haben, werden all unsere Energien und Verpflichtungen geschwächt und verworren. Wir haben in den letzten Jahrzehnten die negativen Folgen dieser Umkehrung für Ehe, Familie und Sexualität ganz allgemein erlebt. Wir müssen erneut deutlich machen, dass das erste Ziel, um dessen willen Gott die menschliche Sexualität und die Ehe geschaffen hat, darin besteht, Leben zu schenken: Die Ehegatten sollen "ein Fleisch" sein, um neues Leben zu schenken, einen potenziellen Himmelsbürger zur Welt zu bringen. Dieses erste Ziel ist natürlich untrennbar mit dem vereinigenden Ziel verbunden, dem Aspekt gegenseitiger Unterstützung.
So sieht die wahre, von Gott begründete Ordnung aus: An erster Stelle steht die Großzügigkeit, die Selbstlosigkeit, also die Fortpflanzung. Ein Ehepaar könnte fragen: "warum haben wir geheiratet?" Nicht nur um Vergnügen aneinander und emotionale Nähe zueinander zu haben, was die Ehegatten in einem egoistischen Kreis einschließen würde, in dem sie nur zu zweit sind. Wenn man das erste, das Zeugungsziel wieder an seinen richtigen Platz rückt, dann stellt man die Großzügigkeit in einer Ehe wieder her. Die Erläuterung dieser Wahrheit ist sehr wichtig, wenn man junge Menschen auf die Ehe vorbereitet. Wir müssen ihnen sagen: "Ihr werdet verheiratet sein, um großzügig zu sein, und dazu gehört, dass ihr persönlich Opfer bringt, um neues Leben zu schenken."
Könnten Sie das bitte noch näher erläutern?
Das primäre Ziel der Ehe, also die Fortpflanzung, steht für das erste Gebot: Gott über alles zu lieben, denn im Akt der Zeugung ist Gott der Erste und Wichtigste, weil Er in diesem Moment eine neue unsterbliche Seele erschafft, wobei die Ehegatten Seine Werkzeuge sind: bewusste, liebende Mitarbeiter bei der Weitergabe neuen menschlichen Lebens. Das zweite, einigende, subjektive Ziel der Ehe steht für das zweite Gebot, seinen Nächsten zu lieben, und die unmittelbarsten Nächsten sind ja tatsächlich die Ehegatten füreinander. Im Prozess der Anbahnung einer Ehe kommt üblicherweise das zweite Ziel, die Liebe zueinander, zeitlich und psychologisch zuerst. Das objektiv höherstehende Ziel, also die Fortpflanzung, kommt zeitlich später, so wie ja häufig das Endziel (causa finalis) erst später umgesetzt wird.
Selbst für Ehepaare, die keine Kinder bekommen können, ist die Heirat mit der Vorstellung, dass wir heiraten, um großzügig zu sein und Leben zu schenken, trotzdem wesentlich ...
Ja, das stimmt. Die Unfähigkeit, ein Kind zu zeugen, ist für ein Paar häufig eine Quelle großen Leids. Als Christen sollten sie jedoch diese Situation gläubig als Kreuz annehmen. Gott ruft sie dazu auf, in vielfältiger anderer Weise großzügig zu sein.
Trotz alledem wurden Anstrengungen unternommen, Humanae Vitae "neu zu interpretieren'; auch von Personen mit wichtigen Positionen im Vatikan. Was ist zu tun?
Wir müssen nachdrücklich, öffentlich und feierlich die unwandelbare Wahrheit der Lehre der Enzyklika von der göttlichen Ordnung der menschlichen Sexualität und der Weitergabe des Lebens erneut aussprechen. Es darf keine Interpretation geben, die die immerwährende Wahrheit schwächt, dass Empfängnisverhütung unsittlich ist. Empfängnisverhütung ist in sich schlecht, weil sie gegen die Ordnung verstößt, die Gott selbst in die Natur gelegt hat. Daran können keine Umstände irgendetwas ändern, denn es ist von Gott in die Natur eingeschrieben.
Die Unsittlichkeit der Empfängnisverhütung ist keine Lehre, die die Kirche erfunden hat, eine Lehre, die von der Kirche oder vom Papst abhinge. Es ist vielmehr die Lehre Gottes, welche die Kirche lediglich weitergibt und schützt. Deshalb können weder die Kirche noch der Papst Humanae Vitae einer relativierenden Neuinterpretation unterziehen. Der Papst hat nicht die Autorität, eine Interpretation zu liefern, die die Wahrheit schwächen würde oder auch nur die geringste Zweideutigkeit über das in sich schlechte Wesen der Empfängnisverhütung aufkommen lassen könnte. Wir müssen darum beten, dass der Heilige Vater diese Lehre mit aller Klarheit, ohne auch nur den Schatten einer Zweideutigkeit, erneut bekräftigt und außerdem Ehepartnern die Schönheit und die positive Natur menschlicher Sexualität in der Ehe erklärt.
Katholiken ebenso wie Nichtkatholiken sehen in der Kirche häufig einfach nur einen Spielverderber.
Humanae Vitae sollte nicht nur als negatives Verbot verstanden werden. Das göttliche Gesetz der Weitergabe menschlichen Lebens ist ein Widerschein der Liebe Gottes und beschützt die Schönheit und Selbstlosigkeit der sexuellen Begegnung zwischen Mann und Frau, indem es sie vor dem Egoismus bewahrt, dem schlimmsten Feind echter ehelicher Liebe. Indem die Kirche die Gültigkeit von Humanae Vitae neu unterstreicht, vollbringt sie etwas, das wahrhaft positive Wirkungen hervorbringt, nicht nur für katholische Ehepaare, sondern für die gesamte Menschheit, indem sie eine unverzichtbare Bedingung für eine wirkliche Kultur der Liebe vorgibt.
Die Bischöfe von Kasachstan haben am 13. Mai 2018, dem Fest Unserer Lieben Frau von Fatima, einen Hirtenbrief veröffentlicht, der in sämtlichen Kirchen und Kapellen in Kasachstan an jenem Tag verlesen wurde. In diesem Brief haben wir erneut die beständige Lehre der Kirche bestätigt, wobei wir nicht unsere eigenen Worte, sondern die Worte des Lehramts benutzten, das der Stimme Christi entspricht, der die Wahrheit ist und der Ehepaaren Freiheit und Glück schenken wird.
Sechs Monate zuvor, am 31. Dezember 2017, kamen Sie und zwei Ihrer Bischofsbrüder aus Kasachstan unter Beschuss, nachdem Sie ein Bekenntnis zu den unveränderlichen Wahrheiten des Ehesakraments veröffentlichten. Einige Berichte charakterisierten die Initiative, indem sie sagten, die Bischöfe von Kasachstan hätten zusammen mit mindestens zehn Unterzeichnern ausführlich die Gefahren von Amoris Laetitia, dem Abschlussdokument der Familiensynode, beschrieben.
Wir schrieben nicht ausdrücklich über die Gefahren von Amoris Laetitia. Wir erwähnten Papst Franziskus nicht einmal namentlich; wir sprachen von der obersten Autorität der Kirche. Wir erwähnten Amoris Laetitia nur einmal, indem wir sagten: "Nach der Veröffentlichung von Amoris Laetitia." Wir kritisierten lediglich die pastoralen Normen, die auf mehreren Ebenen formuliert wurden und die Ehebrechern, die keine Reue zeigen, erlauben, die heilige Kommunion zu empfangen. Das haben wir kritisiert. Formal und konkret haben wir diese pastoralen Normen kritisiert. Um mehr ging es nicht und deshalb haben wir am Ende unserer Erklärung der Wahrheit Zitate aus der beständigen Tradition des Lehramts angeführt, teilweise um uns gegen den Vorwurf zu verteidigen, wir wären dem Lehramt nicht treu. In hervorgehobener Schrift schlossen wir mit den Worten: "Es ist nicht erlaubt, non licet, die Scheidung und ein außereheliches sexuelles Verhältnis durch die sakramentale Disziplin der Zulassung der sogenannten ,wiederverheirateten Geschiedenen' zur heiligen Kommunion direkt oder indirekt zu rechtfertigen, gutzuheißen oder zu legitimieren." Das war im Wesentlichen unsere Erklärung, es handelte sich also in sich nicht um eine formelle oder direkte Kritik an Amoris Laetitia.
Wie würden Sie denjenigen antworten, die sagen, dieses päpstliche Schreiben habe so viele Probleme verursacht, dass es zurückgezogen - oder dass zumindest das achte Kapitel entfernt werden muss?
Ich meine, das wird auf so direkte Weise nicht geschehen. Andernfalls würde der Riss in der Kirche noch vergrößert. Man kann dasselbe auch auf andere Weise erreichen, wie es auch notwendig wäre für einige missverständliche Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Vielleicht könnten zukünftige Päpste einfach die missverständlichen Wendungen in den Konzilstexten benennen - Gott sei Dank sind es ja nicht viele - und sagen: "Es entspricht nicht der Überlieferung der Kirche zu sagen ... ", wobei sie nicht einmal direkt aus den Konzilstexten zitieren müssten. Ebenso könnte man mit missverständlichen und falschen Aussagen in Amoris Laetitia verfahren.
Beispielsweise haben wir ja bereits erwähnt, dass Lumen Gentium Nr. 16 sagt, wir Katholiken und die Muslime würden Gott gemeinsam anbeten ("nobiscum Deum adorant"). Das können wir so nicht sagen. Natürlich kann man das vielleicht im Rahmen einer ausführlichen Erklärung irgendwie sagen. Aber eine solche einfache, undifferenzierte Behauptung wie diejenige in Lumen Gentium Nr. 16 ist problematisch. Die Kirche sollte diese Wendung in der Zukunft aufgreifen und sagen: "Es ist falsch, zu sagen" und die lehrmäßigen Gründe angeben, warum es sich um eine irrige Aussage handelt. Ebenso könnte man mit einigen missverständlichen oder irrtümlichen Erklärungen in anderen Konzilstexten verfahren. Das wäre eine indirekte, höfliche Zurückweisung nicht des gesamten Konzils, sondern lediglich einiger weniger Aussagen.
Ebenso würde ich mit Amoris Laetitia vorgehen, denn es ist nicht nötig, das gesamte achte Kapitel von Anfang bis Ende zu verwerfen; es reicht, wenn man lediglich einige Wendungen in diesem Kapitel korrigiert, die objektiv theologisch falsch sind. Meiner Meinung nach muss das Lehramt in Zukunft solche Erklärungen korrigieren und verurteilen, die falsch sind, ohne dass sie ausdrücklich zitiert werden.
Leider ist Amoris Laetitia nicht der einzige problematische Text, mit dem wir es zu tun haben. Papst Franziskus unterlaufen viele Irrtümer in seinen täglichen Predigten ...
Diese würde ich ausklammern. Ich würde sie ignorieren, denn es gibt Dinge, die wir ignorieren müssen und nicht zu ernst nehmen dürfen. Sonst würden auch wir, wenn wir jedes Wort des Papstes als unfehlbar oder zu ernst nehmen, indirekt eine Form eines ungesunden Papst-Zentrismus praktizieren. Das authentische päpstliche Lehramt umfasst offizielle Dokumente, nicht aber jede Predigt des Papstes. Die täglichen Predigten und die Interviews gehören nicht im eigentlichen Sinn zum Lehramt der Kirche.
Im April 2018 veränderte Papst Franziskus die Nr. 2267 des Katechismus der Katholischen Kirche über die Todesstrafe. Der Abschnitt lautet jetzt: "Die Todesstrafe ist unzulässig, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt. " Eine Fußnote verweist auf eine Ansprache von Papst Franziskus am 11. Oktober 2017, in welcher er sagte, die Todesstrafe widerspreche "in ihrem Wesen dem Evangelium': Als diese Nachricht bekannt wurde, waren viele überrascht zu erfahren, dass die katholische Kirche seit zweitausend Jahren die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe gelehrt hatte. Papst Franziskus rechtfertigte die Änderung mit einem Verweis auf den heiligen Vinzenz von Lérins, einen Theologen des 5. Jahrhunderts, auf den sich John Henry Newman in seinem berühmten Essay Über die Entwicklung der christlichen Lehre beruft. Wovon geht die Kirche aus, wenn sie lehrt, dass die Todesstrafe zulässig ist; wie sollen wir die Veränderung im Katechismus verstehen; und kann man in einer solchen Veränderung tatsächlich eine Entwicklung der Lehre sehen?
Die Frage der Todesstrafe berührt einen wichtigen Aspekt des offenbarten göttlichen Gesetzes im Hinblick auf das fünfte Gebot des Dekalogs, das sagt: "Du sollst nicht töten." Das Wort Gottes lehrt nicht nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament, dass das Prinzip der Todesstrafe in sich rechtmäßig ist. Wäre es nicht so, dann hätten unser Herr, Seine Apostel und danach die Kirche das Prinzip der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe widerrufen, das allerdings von Gott selbst im AIten Testament verkündet wurde. Im Alten Testament werden durch Gottes Wort mehrere Kapitalverbrechen genannt, die eine Hinrichtung verlangen. Unser Herr Jesus Christus hat nie in Abrede gestellt, dass die weltliche Macht befugt ist, die Todesstrafe zu verhängen. Er zitiert zustimmend das Gebot: "Wer Vater oder Mutter verflucht, soll des Todes sterben" (Mt 15,4; Mk 7,10; bezogen auf Ex 21,17; vgl. Lev 20,9). Der heilige Paulus sagt, dass die staatliche Gewalt "das Schwert nicht umsonst trägt; denn sie ist die Dienerin Gottes, die das Urteil an dem vollstreckt, der Böses tut" (Röm 13,4). Nicht ein einziger Abschnitt im Neuen Testament lehnt die Todesstrafe ab. Daher hat die beständige Lehre der Kirche über zweitausend Jahre hinweg das gelehrt, was unser Herr Jesus Christus und seine Apostel ebenfalls gelehrt haben. Die Kirche konnte in einer so wichtigen Frage des göttlichen Gesetzes nicht irren und sie hat auch tatsächlich nicht geirrt.
Gott selbst sprach das erste Todesurteil aus, nachdem Adam und Eva die erste Sünde begangen hatten, denn durch die Sünde kam der Tod in die Welt (Röm 5,12). Folglich sind sämtliche Kinder Adams und Evas durch den leiblichen Tod zur Todesstrafe verurteilt. Uns allen steht die Todesstrafe bevor, denn als Folge der Erbsünde müssen wir alle sterben. Wenn also jemand behauptet, die Todesstrafe widerspreche an sich dem Evangelium, dann beschuldigt er Gott selbst der Unmoral, denn mit der Tatsache des leiblichen Todes als solcher verhängte Gott gegen Adam und Eva und verhängt er noch immer gegen jedes menschliche Wesen die Todesstrafe.
Aber bekommt man nicht den Eindruck, dass die Kirche sich selbst widerspricht, wenn sie einerseits eine Pro-Life-Ethik vertritt und andererseits sagt, Töten sei manchmal rechtmäßig?
Keiner kann seine Ablehnung der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe damit begründen, dass er sich auf das fünfte Gebot beruft, denn Gottes kategorisches Verbot zu töten bezieht sich nur auf unschuldige Personen. Wer eine Person in einem Akt der Selbstverteidigung oder der Verteidigung seiner Familie oder - in einem gerechten Krieg - in der Verteidigung seiner Heimat tötet, der wendet in gewisser Weise die Todesstrafe in extremen und unausweichlichen Situationen gegen einen ungerechten Angreifer an (Normalerweise wird der Begriff "Todesstrafe" lediglich verwendet, wenn ein Krimineller von der zivilen Autorität bestraft wird, die für das Allgemeinwohl zuständig ist, denn Privatpersonen haben nicht das Recht, auf diese Weise Urteile zu sprechen und umzusetzen. Eine Privatperson darf jedoch sich selbst [und entsprechend ihre Familie und andere unmittelbar Beteiligte] aufgrund des natürlichen Rechts auf Leben gegen einen gewaltsamen Angriff verteidigen, wenn kein anderer Ausweg bleibt.). Absoluter Pazifismus stellt eine Illusion und Wirklichkeitsverweigerung dar und im Letzten auch eine Leugnung der Erbsünde mit deren Folgen für das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft. Die Kirche hat nie einen absoluten Pazifismus gelehrt.
Die letzte logische Konsequenz der Leugnung der Rechtmäßigkeit des Prinzips der Todesstrafe ist die Abschaffung der Streitkräfte und der Militärgeistlichen und Militärdiözesen. Menschen, die die Todesstrafe zu etwas an sich Bösem erklären, müssten auch die Existenz der Streitkräfte und das Prinzip des gerechten Krieges für unmoralisch erklären, denn auch in diesen Fällen wird gegen einen ungerechten Angreifer die Todesstrafe angewendet. Im Fall der Verteidigung des eigenen Lebens oder des Lebens des Ehegatten und der Kinder und anderer unschuldiger Personen, die durch einen ungerechten Angreifer unmittelbar vom Tod bedroht sind, ermächtigt einen das von Gott gegebene natürliche Gesetz, die Todesstrafe gegen einen solchen Angreifer anzuwenden, wenn es keine andere Möglichkeit der Verteidigung gegen ihn gibt.
Warum ist es falsch, die Todesstrafe kategorisch auszuschließen?
Wer die Todesstrafe implizit oder explizit prinzipiell ausschließt, setzt das leibliche und zeitliche Leben des Menschen absolut. Er schließt außerdem in gewissem Ausmaß die Folgen der Erbsünde aus. Wer die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe leugnet, leugnet implizit oder explizit auch die Notwendigkeit und den Wert von Sühne und Buße für Sünden - vor allem für ungeheuerliche Straftaten - noch in diesem Leben. Der "gute Schächer", der neben unserem Herrn gekreuzigt wurde, ist eines der sprechendsten Beispiele für den sühnenden Wert der Todesstrafe, denn dadurch, dass er sein eigenes Todesurteil angenommen hat, gewann er das ewige Leben und wurde in gewissem Sinn der erste kanonisierte Heilige der Kirche. Unser Herr sagte ja zu ihm: "Heute noch wirst du mit Mir im Paradiese sein" (Lk 23,43).
Es gibt viele bewegende Beispiele von hingerichteten Übeltätern und Verbrechern, die dadurch, dass sie die Todesstrafe hinnahmen, das Leben ihrer Seele für die Ewigkeit gerettet haben. Der heilige Joseph Cafasso ist der Schutzheilige jener, die zum Tod verurteilt sind; seine Biografie enthält erstaunliche Beispiele der Bekehrung solcher Männer. All diese Beispiele sind Zeugnis für die Wahrheit, dass das kurze zeitliche Leben des Leibes in keinem Verhältnis steht zum ewigen Leben im Himmel.
Sie erwähnen den guten Schächer; das erinnert mich an einen verbreiteten Einwand. Es wird gern behauptet, dass es grausam sei, einen Gefangenen zu töten; barmherziger wäre es, ihn am Leben zu lassen. Glauben Sie, dass das stimmt? Würden sich mehr Verbrecher bekehren, wenn sie länger leben würden?
Wir haben das Beispiel eines "guten Schächers" des 20. Jahrhunderts in der Person von Claude Newman, einem Mörder, der 1943 in Vicksburg, Mississippi, in die Todeszelle gebracht wurde. Er war ursprünglich nicht gläubig, kein Katholik, erfuhr jedoch durch die Macht der Wundertätigen Medaille eine Bekehrung zum katholischen Glauben. Er starb einen heiligen Tod als frommer Katholik. Er legte für die Rechtmäßigkeit und den sühnenden Wert der Todesstrafe Zeugnis ab (3). Man könnte auch den Fall des Dieners Gottes Jacques Fesch (1930-1957) anführen, einem Mörder, der über drei Jahre in Einzelhaft verbrachte. Eine tiefe Bekehrungserfahrung wurde ihm vor seiner Hinrichtung auf der Guillotine in Paris zuteil. Er hinterließ geistlich erbauliche Notizen und Briefe. Zwei Monate vor seiner Hinrichtung schrieb er: "Hier kommen das Kreuz und sein Geheimnis des Leidens zum Vorschein. Das Leben als Ganzes hat dieses Stück Holz als Mitte ... Merkst du nicht, dass alles Wertvolle, was du dir in dieser kurzen Zeit auf Erden, die dir gegeben ist, vornimmst, mit diesem Siegel des Leidens geprägt ist? Es gibt keine Illusionen mehr: Du weißt ganz genau, dass alles, was diese Welt zu bieten hat, ebenso falsch und trügerisch ist wie die versponnensten Träume eines sechsjährigen Mädchens. Dann ergreift dich Verzweiflung und du versuchst, das Leiden zu vermeiden, das dir an den Fersen klebt und mit seinen Flammen an dir hochzüngelt, aber all diese Versuche sind nichts weiter als eine Ablehnung des Kreuzes. Getrennt vom gekreuzigten Jesus gibt es keine echte Hoffnung auf Frieden und Heil! Selig der Mann, der das versteht." Am 1. Oktober 1957, um 5:30 Uhr morgens, besteigt er das Schafott. "Möge mein Blut, das nun fließen wird, von Gott als Ganzopfer angenommen werden, auf dass jeder Tropfen dazu dient, eine Todsünde zu tilgen." In seinem letzten Tagebucheintrag schrieb er: "In fünf Stunden werde ich Jesus sehen!" (Vgl. Light Upon the Scaffold: The Prison Letters of Jacques Fesch, hrsg. v. AugustinMichel Lemonnier, übers. v. Matthew 1. O'Connell (St. Meinrad, IN: Abbey Press, 1975. [dt.: Augustin-Michel Lemonnier [Hrsg.]: Du nimmst mich an: Briefe aus der Todeszelle. Vorwort von Michel Quoist [Freiburg: Herder, 1975, 2. Aufl.]).
Wir wissen auch aus dem Leben der heiligen Therese vom Kinde Jesu, dass sie als junges Mädchen ihren "ersten Sünder" adoptierte, den Mörder Pranzini, der im Jahr 1887 zum Tode verurteilt wurde. Die Heilige schreibt in ihrer Autobiografie Die Geschichte einer Seele: "Am Tag nach seiner Hinrichtung fällt mir die Zeitung La Croix in die Hand. Ich öffnete sie hastig und was sehe ich? Ach! meine Tränen verrieten meine Bewegung, ich musste mich verstecken ... Pranzini hatte nicht gebeichtet, er hat das Schafott bestiegen, ... als er plötzlich, einer jähen Eingebung folgend, sich umwendet, das Kruzifix ergreift, das ihm der Priester hinhielt, und dreimal die heiligen Wunden küsst! ... Ich hatte das erbetene Zeichen erhalten ... War nicht angesichts der Wunden Jesu, als ich sein Göttliches Blut fließen sah, der Durst nach Seelen in mein Herz eingedrungen?" (Therese vom Kinde Jesus. Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text. EinsiedeIn 1958, 98-99).
Und trotz der Proteste wegen der "Unmenschlichkeit" der Todesstrafe geht die moderne Gesellschaft mit dem menschlichen Leben so verächtlich um ...
Heute erleben wir durch die Legalisierung der Abtreibung eine massenhafte Anwendung der Todesstrafe gegen die unschuldigsten Menschenwesen, die ungeborenen Kinder, die frei sind von jeglicher persönlichen Schuld. Außerdem wird zunehmend versucht, durch sogenannte Euthanasiegesetze die Todesstrafe an unheilbar Kranken zu legitimieren.
Ich erwähnte vorhin den heiligen Vinzenz von Lérins. Glauben Sie, dass es bei diesem Thema eine lehrmäßige "Entwicklung" geben kann?
Die Berufung auf den heiligen Vinzenz von Lérins und sein Prinzip der Entwicklung der Lehre, um die Unzulässigkeit der Todesstrafe zu rechtfertigen, ist objektiv falsch und willkürlich. Einer der wichtigsten Aspekte in der Lehre des heiligen Vinzenz ist die allgemeine Übereinstimmung, Beständigkeit, Universalität und das Alter einer bestimmten Lehre. Der heilige Vinzenz sagt, im Fall eines Zweifels hat das Alter den Vorrang. Die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ist ein Fall, in welchem all diese Aspekte, vor allem aber das Alter, ein so großes theologisches Gewicht haben, dass die Leugnung der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe durch Papst Franziskus und die Erklärung, sie stehe im Widerspruch zum Evangelium, eine Art päpstlichen Absolutismus darstellt, der eher dem absoluten Willen eines weltlichen politischen Herrschers ähnelt als dem Verhalten eines Nachfolgers der Apostel und Wächters des kirchlichen Lehramts, dessen erste Aufgabe (so der heilige Vinzenz von Lérins) darin besteht, die Wahrheiten der göttlichen Offenbarung aufrechtzuerhalten, weiterzugeben und zu erklären, und zwar in derselben Bedeutung und im selben Sinn (eodem sensu et eadem sententia) wie all seine Vorgänger. Zweifellos wird ein zukünftiger Nachfolger von Papst Franziskus oder ein zukünftiges ökumenisches Konzil diese drastische Veränderung der immerwährenden Lehre der Kirche richtigstellen.
Exzellenz, wir haben mehrere Bereiche lehrmäßiger Verwirrung angesprochen. Welches ist das größte Problem, vor dem die Kirche heutzutage steht? Ist es der Modernismus? Der Gnostizismus? Die Freimaurerei?
Das größte Problem, vor das sich die Kirche heutzutage gestellt sieht, ist der Anthropozentrismus und der Kult der Natur. Das heißt: Statt dass der Mensch Gottes Offenbarung in Jesus Christus, Seinem eingeborenen Sohn, in den Mittelpunkt stellt, werden der Mensch und seine naturalistischen und rationalistischen Ansichten und Begierden wichtiger als die unfehlbaren Gebote und Wahrheiten Christi, des einzigen göttlichen Lehrers der Menschheit. Die Welt, ja sogar eine ständig zunehmende Anzahl von Männern der Kirche, versucht den klaren Willen Gottes, wie er eindeutig in Seinen Geboten und in Seinen geoffenbarten Wahrheiten zum Ausdruck gebracht ist, ihrem eigenen Wünschen und Denken gemäß zurechtzubiegen. Das Ergebnis dieses Anthropozentrismus ist, dass die historische Tatsache der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus geleugnet und ihr eigentlicher Sinn verzerrt werden muss, denn ein menschgewordener, sichtbarer Gott ist für diese Einstellung und Haltung verstörend und lästig. Der moderne Mensch, und dazu gehören auch viele liberale und modernistische Kleriker in der Kirche, möchte einen Gott loswerden, der so fordernd ist. Sie möchten einen Gott loswerden, der in der Menschwerdung und in der Eucharistie so nah und wirklich ist. Stattdessen wollen sie, dass Gott und Sein eindeutiger Wille weit wegbleiben sollen, sie wollen, dass Gott unsichtbar bleibt, in einer Wolke der Unschärfe und der Unbestimmtheit, damit sie selbst bestimmen können, was gut und böse, was richtig und falsch ist. All das kann unter dem Motto zusammengefasst werden: "Ich werde tun und denken, was ich will!" Solch ein naturalistischer und egoistischer Anthropozentrismus ist der Kern von Modernismus, Gnostizismus und Freimaurerei und verbindet sie miteinander und er hat bereits weite Bereiche im Leben der Kirche erfasst.
13. Jenseits des Westens
In weiten Teilen der Welt macht man sich Gedanken über die zukünftige Rolle Russlands. Ist Ihrem Urteil nach ist Vladimir Putin ein Mann, dem man vertrauen kann, gerade im Hinblick auf seine offensichtliche Einsatzfreude für christliche Werte und christliche Identität in einem immer weltlicher werdenden Westen; oder ist das lediglich ein Deckmäntelchen, mit welchem er sich die Verbitterung über einen nachchristlichen Westen nutzbar macht?
Ich kann nicht in das Herz einer Person blicken. Da wir keine eindeutigen Beweise haben, können wir lediglich die Handlungen beurteilen. Einige äußere Handlungen Putins sind objektiv gut - beispielsweise der Schutz der Christen vor der von ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) durchgeführten Vernichtungskampagne während des jüngsten Krieges in Syrien. Vielleicht tat er das in seinem eigenen, politischen Interesse. Selbst die beste Nation verfolgt immer ihre eigenen politischen Interessen und Ziele. Von Otto von Bismarck stammt die Bemerkung: "Die Politik ist keine exakte Wissenschaft."
Es gab in der Geschichte christliche Monarchen, die Strategien und Tricks und Kriege einsetzten, einfach nur um sich ihre eigene Position der Vorherrschaft zu sichern oder sich eine solche zu erkämpfen. So unterstützte beispielsweise während des Dreißigjährigen Krieges das katholische Frankreich den protestantischen König Gustav Adolf von Schweden in seinem Krieg gegen den Heiligen Römischen Kaiser und dessen katholische Verbündete. Das katholische Frankreich unterstützte das protestantische Schweden und verweigerte gleichzeitig der katholischen Sache seine Hilfe, was sich entscheidend auf den Sieg des Protestantismus über den Katholizismus in Deutschland am Ende des Dreißigjährigen Krieges auswirkte.
Ein weiteres Beispiel ist das katholische Frankreich im 16. Jahrhundert. Im Jahr 1536 ging der katholische und gesalbte König Franz I. von Frankreich ein politisches Bündnis mit dem schlimmsten Feind der Christenheit ein, Sultan Suleiman dem Prächtigen, dem Herrscher des islamischen osmanischen Reiches. Dieses Bündnis schwächte die politische Macht des europäischen christlichen Widerstands und erleichterte letztlich den siegreichen Vorstoß türkischer Truppen durch den Balkan bis vor die Tore Wiens im Jahr 1683. Das katholische Frankreich sah dem Islamisierungsprozess in Europa im 16., 17. und 18. Jahrhundert untätig zu und weigerte sich, christliche Truppen bei der Zurückdrängung des militanten Islam zu unterstützen. Dieses Verhalten verursachte in der christlichen Welt einen Skandal und wurde als "die frevelhafte Vereinigung von Lilie und Halbmond" bezeichnet.
Man hört immer wieder die Einschätzung, die gegenwärtigen russischen Führer und vor allem Putin würden zwar ein christenfreundliches Programm verfolgen, aber damit womöglich ihre eigenen nationalen politischen Ziele verfolgen. Wie sehen Sie das?
Natürlich tut Putin viel, um eine Vormachtstellung Russlands zu erhalten, damit Russland auch weiterhin eine Weltmacht bleibt. So haben sich auch viele christliche Monarchen der Vergangenheit verhalten, das ist also nichts Neues. Objektiv betrachtet wird es ein historisches Verdienst bleiben, dass Russland die Christen in Syrien gegen die barbarischen Übergriffe von ISIS verteidigt hat, wohingegen die Europäische Union und die Obama-Regierung in den USA die Christen in Syrien im Stich gelassen haben. Russland erließ auch Gesetze gegen homosexuelle Werbung, ein Vorstoß, der in se gut ist, wohingegen fast alle Länder des Westens - fast alle europäischen Länder sowie Nord- und Südamerika - offiziell die homosexuelle Agenda unterstützen und sogenannte "Homophobie"Gesetze erlassen, die Strafmaßnahmen gegen jeden vorsehen, der es wagt zu sagen, dass homosexuelle Akte der menschlichen Natur entgegengesetzt und eine Sünde sind. Einige behaupten, Russland habe die Anti-Homosexualitäts-Gesetze mit unlauteren Absichten erlassen. Aber wir kennen die Absichten nicht. Vielleicht handelt Russland aus Überzeugung, vielleicht aber auch aufgrund eigener taktischer Gründe. Zu sagen, das sei eine Taktik des "krypto-kommunistischen Regimes im Kreml", wäre unvernünftig und widerspräche dem gesunden Menschenverstand. Manchmal lese ich Meinungen, die jedes Vorgehen der russischen Regierung als das versteckte Taktieren eines nach wie vor existierenden kommunistischen russischen Kreml-Regimes interpretieren, das die Absicht hat, ein kommunistisches Weltreich zu begründen. Solche Behauptungen ignorieren den Umstand, dass in Russland eine neue Generation herangewachsen ist, die den Kommunismus gar nicht kennengelernt hat. Diese Meinung erinnert mich an das Verhalten des römischen Senators Cato des Älteren, der jedes Mal, wenn er eine Rede beendete, die Floskel anbrachte: "Außerdem meine ich, dass Karthago zerstört werden muss." ("Ceterum censeo, Carthaginem esse delendam.") Wenn Russland sich eines Tages bekehren wird - und es wird sich bekehren, denn Maria hat es in Fatima vorhergesagt -, dann kann ich mir vorstellen, dass einige liberale, antichristliche Politiker im Westen auch weiterhin sagen: "Russland hat sich nicht bekehrt, sondern es blieb dasselbe krypto-kommunistische Kremlregime, das es zuvor schon war."
Welche ideologischen und politischen Mächte sind Ihrer Meinung nach im gegenwärtigen historischen Moment für das Christentum die gefährlichsten?
Es verdichten sich die Hinweise darauf, dass eine Eine-Welt-Regierung begründet wird, und zwar durch die Vereinten Nationen und letztlich durch mächtige Freimaurerorganisationen, die hinter den Kulissen arbeiten, um politisch den "novus ordo saeculorum", die neue Weltordnung, die atheistische Eine- Welt-Regierung durchzusetzen. Diese Eine-Welt-Regierung hat ein klares ideologisches Programm, das im Wesentlichen atheistisch ist, materialistisch, antichristlich, ja sogar blasphemisch: Es werden auf totalitäre Weise Abtreibungs-"Rechte" aufgezwungen, homosexuelle Indoktrinierung, der Mythos vom Klimawandel und die Zerstörung nationaler Identitäten, beispielsweise durch Vereinbarungen wie den "Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration", oder die jährlichen Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos. In seinem Programm setzt sich Letzteres für eine sogenannte "globale Ordnung" der "Gendergerechtigkeit" unter dem Kürzel "LGBT" ein. Wir wissen aus der jüngsten Geschichte, dass Eingriffe und Manipulationen der Sprache zum Instrumentarium autoritärer Regierungen gehören.
Eine solche erkennbar freimaurerisch und atheistisch verfasste Eine-Welt - Regierung ist im Begriff, das letzte Stadium des marxistisch-kommunistischen Plans umzusetzen. Gegen diese konkrete Gefahr einer neo-marxistischen und freimaurerischen Eine-Welt-Regierung müssen diejenigen gesellschaftlichen und politischen Organisationen, die noch nicht auf eine Linie mit dem Einheitsdenken der neo-marxistischen und freimaurerischen Weltideologie gebracht worden sind und sich daher ihre Gedanken- und Handlungsfreiheit bewahrt haben - diese Organisationen müssen Alarm schlagen und damit anfangen, ein Bündnis rechtmäßigen Widerstands zu bilden, in welchem sich alle Menschen mit gesundem Menschenverstand sowohl im Osten wie im Westen und auch in Afrika und Südasien zusammenschließen. Die Welt braucht dringend heroische und edel gesinnte Widerstandskämpfer gegen die Weltdiktatur, die die Menschen durch die Absurdität der Genderideologie, durch die moralische Verbildung unschuldiger Kinder und durch den Massenmord ungeborener Kinder versklavt.
Könnte es eine ideologische Beziehung geben zwischen dem Programm des "novus ordo saeculorum" und dem klassischen marxistisch-kommunistischen und sowjet-kommunistischen Programm?
Der Begriff "novus ordo saeculorum" ist der ideologische und programmatische Code der Eine-Welt-Regierung. Die Freimaurerei formuliert als ihr wesentliches und letztes Ziel die Errichtung eines "novus ordo saeculorum", einer neuen gesellschaftlichen und politischen Ordnung auf globaler Ebene, um den Menschen diktatorisch religiöse Gleichgültigkeit und Synkretismus aufzuzwingen, moralische Pervertiertheit und radikal antichristliche und vor allem antikatholische Politik. Eine solche neue gesellschaftliche Ordnung zielt letztlich auf die Verehrung und Anbetung des Menschen, die radikalste Form des Atheismus, radikaler als der historische kommunistische Atheismus des sowjetischen Kremlregimes. Der historische Sowjet-Kommunismus verbreitete seine Ideologie unter dem trügerischen und verführerischen Schlagwort: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Die gegenwärtigen neomarxistischen und freimaurerischen Mächte in westlichen Ländern verbreiten ihre Ideologie unter dem nicht weniger trügerischen und verführerischen Schlagwort: "Menschliche Brüderlichkeit für den Weltfrieden und das Zusammenleben" oder "Arche der Brüderlichkeit". Es ist ziemlich beunruhigend, die Erklärung der Großen Freimaurerloge Spaniens vom 25. Dezember 2018 zu lesen, die sagt: "Alle Freimaurer der Welt schließen sich der Bitte des Papstes um Brüderlichkeit zwischen den unterschiedlichen Religionen an."
Würden Sie sagen, dass es zwischen der Freimaurerei und den kommunistischen Gründern der Sowjetunion eine Verbindung gibt? Sie scheinen von einem ähnlichen Antrieb bewegt zu sein.
Die Freimaurerei hat über Jahrhunderte hinweg beharrlich darauf hingearbeitet, den "novus ordo saeculorum" umzusetzen. Wir haben bereits darüber gesprochen, dass wir ihren Einfluss in großen gesellschaftlichen und politischen Revolutionen ausmachen können. Die sogenannte Französische Revolution erteilte erstmals in der europäischen Geschichte dem sozialen Königtum Christi eine Absage, verbannte also die Anwesenheit Christi, den Einfluss des Christentums vom öffentlichen Leben. Daran schloss sich nach dem Wiener Kongress im Jahr 1814 die teilweise Wiederherstellung einer christlichen Gesellschaft an.
Später war die Freimaurerei mit Hilfe einer neuen, ausdrücklich atheistischen Ideologie, dem Kommunismus von Karl Marx, an der zweiten Revolution, der kommunistischen Oktoberrevolution im Russland des Jahres 1917, beteiligt. Damals unterstützten mächtige Freimaurer die Revolution mit ihren finanziellen, logistischen und politischen Machenschaften. So war beispielsweise der russische Ministerpräsident Alexander Kerenski Generalsekretär des Großorients der Freimaurer Russlands und er wies die Exekutivorgane an, gegen die kommunistischen Revolutionäre unter Lenin lediglich symbolischen Widerstand zu leisten. Kerenski selbst war auch Anführer der Russischen Sozialistischen Revolutionspartei. Die russischen orthodoxen Kirchen weigerten sich, Kerenski, der 1970 in den Vereinigten Staaten starb, ein christliches Begräbnis zu gewähren - wegen seiner Zugehörigkeit zur Freimaurerei, und weil sie in ihm einen Hauptverantwortlichen der bolschewistischen Machtergreifung im Jahr 1917 sahen (Vgl. Jüri Lina, Under the Sign of the Scorpion: The Rise and Fall of the Soviet Empire [Stockholm: Referent, 2002]). Lenin war Mitglied mehrerer Freimaurerlogen in Europa. Die ersten engen Mitarbeiter Lenins waren Mitglieder europäischer Freimaurerlogen, beispielsweise Trotzki (ein russischer Jude und erster Kriegsvolkskommissar der UdSSR), Bucharin (der zu einer Gruppe russischer Künstler gehörte und Generalsekretär des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale war), Swerdlow (ein russischer Jude und erster Vorsitzender der Kommunistischen Partei), Lunatscharski (ein russischer Jude und erster Volkskommissar der UdSSR
286
für Bildung; VgI. Nikolai Svitkovs About Freemasonry in Russian Exile, veröffentlicht 1932 in Paris). Lenin, Sinowjew, Radek und Swerdlow gehörten außerdem zu B'nai B'rith, einer Juden vorbehaltenen Freimaurerloge. Spezialisten, die sich mit den Tätigkeiten von B'nai B'rith beschäftigten, bestätigten diese Information (Viktor Ostretsov, Freemasonry, Culture, and Russian History [Moskau: Kraft+, 1999], 582-583). Lenin nahm im Jahr 1910 gemeinsam mit Trotzki an der Internationalen Freimaurerkonferenz in Kopenhagen teil (Franz Weissin, Der Weg zum Sozialismus [München: Ludendorffs, 1930], 9).
Gab es andere wichtige historische Ereignisse im 20. Jahrhundert, die Ihrer Meinung nach als eine Art Katalysator für die von Ihnen erwähnte Einführung der Eine- Welt-Regierung gelten können?
Ja - am entscheidendsten sind die beiden Weltkriege (1914- 1918 und 1939-1945) und die sexuelle Revolution des Jahres 1968. Gegenwärtig ist dieser Prozess durch die globale Umsetzung der Gender-Ideologie bereits weit fortgeschritten. Zu diesen Meilensteinen in einem historischen revolutionären Prozess gibt es eine empfehlenswerte Studie: Revolution und Gegenrevolution, verfasst von Plinio Corréa de Oliveira. Er war ein brasilianischer Gelehrter und frommer katholischer Laie, der 1995 in São Paulo in Brasilien starb. Er weihte sein ganzes Leben der Verteidigung der christlichen Tradition, der Familie und der natürlichen Eigentumsordnung im Widerstand gegen die marxistische Revolution, die sich in westlichen Ländern, ja sogar in Einrichtungen der Kirche ausgebreitet hat.
Deshalb müssen wir alle Menschen guten Willens vor der tatsächlich bestehenden Gefahr der Eine-Welt - Regierung mit ihrer offiziellen Staatsideologie, nämlich der Gender- Ideologie, warnen. Diese konkrete Gefahr geht gegenwärtig nicht so sehr von Moskau aus, sondern wird anhaltend von arrangierten Anstrengungen in Brüssel (Europäische Union) und New York (Vereinte Nationen) gelenkt und letztlich von den ständigen Anstrengungen derer, die im Rahmen freimaurerischer Strukturen agieren. Genau hier muss man das wahre gegenwärtige neomarxistische "Kremlregime" verorten.
Was meinen Sie: Können wir heute von einer Re-Christianisierung Russlands sprechen?
Man kann die historische Tatsache nicht übersehen, dass seit dem Ende der Sowjetunion fast tausend Klöster und zwanzigtausend Kirchen und Kapellen in Russland gebaut wurden. Nie wurden in der Geschichte eines Landes während einer Zeitspanne von zwanzig oder dreißig Jahren so viele Kirchen gebaut. Natürlich stützt die russische Regierung die Bedeutung der orthodoxen Kirche, um ihre eigene nationale Vorherrschaft zu erweitern. Aber die orthodoxe Kirche steht uns doch letztlich am nächsten: Sie haben dieselben gültigen Sakramente, die Priesterschaft, sie verehren die Jungfrau Maria und die Heiligen, in allen ihren Kirchen gibt es einen Tabernakel mit dem Allerheiligsten. Unser Herr ist auch in diesen Kirchen sakramental gegenwärtig und das ist wunderbar. Ein Land, das zuvor siebzig Jahre lang Kirchen systematisch zerstörte und von öffentlichen Plätzen jeden Hinweis auf das Christentum verbannte, unterstützt jetzt aktiv die Errichtung christlicher Symbole, von Kreuzen, von Ikonen Marias und des Erzengels Michael in Kapellen am Wegrand und auf öffentlichen Plätzen in Stadt und Land. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass allein schon die Anwesenheit eines geweihten Kreuzes und einer geweihten Ikone in der Öffentlichkeit in gewissem Ausmaß den Effekt eines Exorzismus hat, also den Einfluss böser Geister auf die Menschen vertreibt.
Sehen Sie noch andere Zeichen einer Re-Christianisierung Russlands?
Ja, ein weiteres wichtiges Zeichen der Re-Christianisierung der russischen Gesellschaft ist die Einrichtung einer Seelsorge eigens für Soldaten und andere für die bei den Streitkräften beschäftigten Personen; es wurden Kapellen und Seelsorgestellen für die Unterweisung der Soldaten im orthodoxen Glauben eingerichtet. Kürzlich sah ich das Foto eines orthodoxen Priesters, der einem ganzen Trupp von Fallschirmspringern die Beichte abnahm. Es ist mit Sicherheit besser, die Soldaten im orthodoxen Glauben zu unterweisen, der zumindest über gültige Sakramente verfügt und eine tiefe Marienverehrung pflegt, als sie im Islam, im Protestantismus oder einfach nur in einer natürlichen Moral oder der "menschlichen Bruderschaft für den Weltfrieden" unterweisen zu lassen. Diese öffentlich bekannten Tatsachen sind sehr klare Zeichen für den Einfluss des Christentums auf die russische Gesellschaft, die über siebzig Jahre hinweg von einem radikalen kommunistischen Atheismus beherrscht wurde. Gleichzeitig agieren die Gesellschaften der westlichen Welt in die genau entgegengesetzte Richtung - sie verbannen systematisch jede Spur des Christentums aus der Gesellschaft, wie beispielsweise Weihnachtskrippen auf öffentlichen Plätzen, ja sogar Weihnachtsfeiern in Kindergärten und Schulen.
Empfinden Sie diese Umkehrung der Rollen als ironisch?
Manchmal benutzt die göttliche Vorsehung sogar unsere Feinde als Werkzeuge für das Königreich Christi. Ein Beispiel dafür war König Kyros; er war zwar ein Heide und Götzenanbeter, doch er befreite die Juden aus der Babylonischen Gefangenschaft, sodass sie den Tempel in Jerusalem wiederaufbauen konnten. Putin ist zwar immer noch Kommunist, doch Gott kann ihn dazu benutzen, die russische Gesellschaft wieder zu christianisieren und der Homosexuellenbewegung sowie der Durchsetzung der atheistischen freimaurerischen Eine-WeltRegierung entgegenzuwirken. Ich kenne seine Seele nicht. Angeblich hat er einen eigenen Beichtvater, einen orthodoxen Priester. Gleichzeitig sehen wir, wie sich vor unseren Augen die politische und gesellschaftliche Umsetzung der letzten, schlimmsten und radikalsten Form von Marxismus und Kommunismus vollzieht: mit der Zerstörung von Ehe und Familie durch die weltweite Ausbreitung der Homosexualität und Gender- Ideologie mit Hilfe der westeuropäischen und amerikanischen Länder. Die Geschichte kann nur über die äußeren Handlungen und Tatsachen befinden. Deshalb muss sich jeder, der das Wachstum des Königreichs Christi und den Triumph des Unbefleckten Herzens Marias liebt, freuen, wenn er die konkreten und nachprüfbaren Zeichen eines Wiedererwachens und einer Ausbreitung des Christentums beobachtet.
Ich möchte nicht sagen, dass Putin ein neuer Konstantin ist; ich urteile nur vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands her, von den Gesetzen der Geschichte, außerdem aus einem übernatürlichen Blickwinkel. Ich glaube, dass die göttliche Vorsehung die gegenwärtige russische politische Führungsriege dazu benutzen kann, das Christentum zu verbreiten und den Triumph des Unbefleckten Herzens Marias vorzubereiten.
Konstantin, der erste christliche Kaiser, versuchte beispielsweise nicht, irgendwelche heidnischen Tempel zu schließen, auch nicht in seiner neuen Hauptstadt Konstantinopel. Erst gegen Ende seiner Herrschaftszeit ordnete er die Schließung heidnischer Tempel an. Konstantin war der "Pontifex Maximus" der offiziellen und heidnischen Religion des römischen Staates - der Hohepriester des heidnischen Gottes "Unbesiegte Sonne" (sol invictus) -, während er sich gleichzeitig als Christ bezeichnete. Erst Kaiser Gratian durchschnitt im Jahr 375 das offizielle Band, welches das Heidentum mit der kaiserlichen Macht verband, indem er sich weigerte, die Hoheitszeichen des heidnischen "Pontifex Maximus" entgegenzunehmen. Und erst hundert Jahre nach dem Edikt von Mailand, im Jahr 415, verbot der christliche Kaiser Honorius I. endgültig heidnische Opfer und ließ Tempel von öffentlichen Plätzen entfernen.
In den Vereinigten Staaten hilft Präsident Trump indirekt, das Christentum zu verbreiten, indem er eine Pro-Life-Politik verfolgt und sich nachdrücklich für religiöse Freiheit einsetzt.
Ja, ich sehe durchaus all die guten Vorstöße von Präsident Trump zugunsten der Verteidigung des menschlichen Lebens. Es mag sein, dass Präsident Trump das mit strategischer, egoistischer Absicht tut - wer kann das schon sagen -, doch ehrlicher- und aufrichtigerweise muss ich zugeben, dass seine Handlungen an sich moralisch gut sind. Allerdings bedaure ich den Umstand, dass Präsident Trump öffentlich die sogenannte LGBT-Bewegung unterstützt. Gott sei Dank entstehen in Europa in einigen Ländern - Ungarn, Polen, Italien - neue Regierungen, die sich ebenfalls für eine christliche Zivilisation einsetzen.
Um auf Russland zurückzukommen - glauben Sie, dass die russisch-orthodoxe Kirche eine zu große Nähe zum Staat hat?
Ja, natürlich. Die russisch-orthodoxe Kirche hat nie etwas anderes gekannt als ein Leben in Unterwürfigkeit gegenüber der Regierung, ganz gleich gegenüber welcher Regierung. Ich würde sagen, dieses Phänomen gehört in gewisser Weise zum genetischen Code der orthodoxen Kirche, eben weil sie sich nicht in kanonischer Einheit mit der Cathedra des heiligen Petrus, mit dem Papst befindet. Dieses Vakuum des päpstlichen Primats wird mit einer Unterwerfung unter die Regierung aufgefüllt, einer Unterwerfung, die noch sklavischer ist als die Unterwerfung katholischer Bischöfe unter den Papst. So unterwarfen sich die russisch -orthodoxen Bischöfe gewöhnlich den Kaisern und Zaren, und dann eben auch Stalin und anderen kommunistischen Herrschern, und heute unterwerfen sie sich dem russischen Präsidenten. Es gab heroische und mutige Bischöfe in der orthodoxen Kirche, die sogar gegen einen Kaiser oder gegen eine christliche Regierung protestierten, weil diese gegen das göttliche Gesetz verstießen.
Die Unterwürfigkeit gegenüber den Oberen ist jedoch auch ein Charakteristikum der russischen Mentalität. Wir dürfen die russische Mentalität und die Geschichte der orthodoxen Kirche nicht außer Acht lassen.
Regierungen, auch westliche katholische Regierungen im Mittelalter, sind glücklich, wenn sie sich die Kirche untertan machen können - mit Ausnahme heiliger Kaiser und Könige, die es im Mittelalter durchaus gab, und einige sogar in der Moderne. Der letzte war der selige Kaiser Karl von Österreich, der 1922 starb. Selbst im spanischen und portugiesischen System des padroado ernannte die Regierung Bischöfe und erließ königliche Normen für Seminare und Klöster. Christliche Kaiser und Könige mischten sich häufig in Angelegenheiten der Kirche ein und verlangten, dass die Kirche sich ihrer Autorität auf die eine oder andere Weise unterwarf. Eines der schlagendsten Beispiele einer kaiserlichen Einmischung in Kirchenangelegenheiten war dasjenige von Kaiser Joseph II. von Österreich (gest. 1790), der sogar die Anzahl der Kerzen vorschrieb, die auf den Altären der Kirchen anzuzünden waren. Der protestantische preußische König Friedrich II. verlieh Joseph II. den Spitznamen "Erzsakristan des Heiligen Römischen Reiches". So war es noch bis vor wenigen Jahrhunderten.
Es überrascht nicht, dass die russische Regierung die Unterordnung der orthodoxen Kirche wünscht. Jede politische Macht wünscht das. Da die orthodoxe Kirche immer unterwürfig war, geht sie mit der politischen Macht Hand in Hand. Ich bin mit diesem System nicht einverstanden und es schadet der Kirche und ich äußere das auch gegenüber den russischen orthodoxen Klerikern, die ich kenne, dass es für sie nicht gut ist, von der Regierung so abhängig zu sein.
Bereitet es Ihnen Sorgen, dass der Vatikan eine Politik verfolgt, die zu viel Wert auf die Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche legt, was möglicherweise zu Lasten der ukrainisch-griechischen Katholiken geht?
Ja, das bereitet mir in der Tat Sorgen. Leider haben wir seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine verfehlte Ökumenismus-Strategie in der katholischen Kirche erlebt. Ich bin nicht gegen den Ökumenismus, allerdings durchaus gegen eine falsche Herangehensweise, die dazu führt, die Lehre zu relativieren und letztlich unsere katholische Identität zu leugnen. Es ist nicht aufrichtig, die eigene Identität zu verbergen. In der verfehlten ökumenischen Strategie, die seit dem Konzil verfolgt wird, spielen politische Gründe eine zu große Rolle. Häufig betont der Heilige Stuhl einseitig den Aspekt der Harmonie in ökumenischen Beziehungen und vernachlässigt die zentrale Frage nach der Wahrheit. Eine solche ökumenische Strategie ist letztlich weltlich und wirkt eher wie eine politische Methode als wie eine Methode, die dem Evangelium entspricht, wie es eigentlich für wahre Christen angemessen wäre. Die Vertreter des Heiligen Stuhls und die Bischöfe sollten keine Politiker sein, sondern sie müssen zuerst und vor allem Männer Gottes und Apostel der Wahrheit sein. Wir müssen Nichtkatholiken die Wahrheit mit Liebe vermitteln, aber wir müssen die Wahrheit sagen. Wir müssen unseren nichtkatholischen Brüdern aufrichtig sagen: "Das ist es, was wir Katholiken glauben."
Wir können nicht auf Kosten unserer ukrainischen griechisch-katholischen Brüder, die für ihre Treue zum Apostolischen Stuhl so viel Leiden auf sich nahmen, einen billigen Ökumenismus-Kurs verfolgen. Es ist ungerecht, unsere heroischen Brüder auf dem Markt eines politisch geprägten Ökumenismus zu verkaufen. Wir müssen sie beschützen und gleichzeitig unseren orthodoxen Dialogpartnern sagen: "Der Dialog, den wir miteinander führen, muss ganz transparent und ehrlich sein."
Sind Sie der Meinung, dass es für ukrainische griechisch-katholische Personen besonders schmerzlich ist, die gegenwärtige Verwirrung in der Kirche zu erleben? Sie litten unter dem Kommunismus für das Papsttum. Mir kommt es so vor, als würden sie durch all das besonders zu leiden haben.
Ja, das ist so. In gewisser Weise fühlen sie sich wie Katholiken zweiter Klasse - als Opfer, die auf dem Altar des Ökumenismus dargebracht wurden. Der Heilige Stuhl muss diesen seinen politischen Kurs rechtzeitig ändern. Ich hoffe, dass der Heilige Geist den Heiligen Stuhl dazu bringen wird, diese Politik zu ändern, sonst geschieht ein großes historisches Unrecht. Die Art, wie unsere griechisch-katholischen Brüder, vor allem in Osteuropa, manchmal behandelt werden, lässt auf eine unaufrichtige, nicht authentische Methode von Ökumenismus schließen.
Werfen wir jetzt einen Blick auf China. Im September 2018 unterzeichnete der Heilige Stuhl eine vorläufige Einigung mit der kommunistischen chinesischen Regierung, der zufolge die künftige Ernennung von Bischöfen in Abstimmung mit den chinesischen Machthabern erfolgen soll. Sie haben ja selbst Erfahrungen mit der verfolgten Untergrundkirche - wie denken Sie über diese Einigung und über den Widerstand dagegen, wie er vom früheren Erzbischof von Hongkong, Kardinal Joseph Zen, formuliert wird? Ist das Abkommen zwischen dem Vatikan und China für die Kirche in China wirklich gut?
Wir können bereits sehen, wie das Leben der katholischen Kirche als praktische Folge aus der Vereinbarung zwischen dem Vatikan und China zunehmend durch eine atheistische kommunistische Regierung kontrolliert wird. Die Bischöfe werden jetzt von einer atheistischen Regierung ausgesucht. Die Gestalt eines Bischofs ist jedoch so wesentlich und entscheidend für das Leben der katholischen Kirche, dass ein Bischof, der auch nur ansatzweise Kollaborateur eines atheistischen Regimes ist, für Priester und Gläubige einen sehr großen geistlichen Schaden bedeutet.
Man kann sich ja kaum vorstellen, dass der heilige Petrus und seine Nachfolger in den ersten drei Jahrhunderten den heidnischen römischen Kaisern bei der Wahl ihrer Nachfolger oder anderer Bischöfe ein Mitbestimmungsrecht eingeräumt hätten. Mit der Vereinbarung zwischen dem Vatikan und China ist die Freiheit der katholischen Kirche in China stärker eingeschränkt worden und die heroischen Katholiken der Untergrundkirche wurden der vollständigen Kontrolle einer atheistischen Regierung ausgeliefert. Der Heilige Stuhl hätte eigentlich aus der sogenannten "Ostpolitik" mit den kommunistischen Staaten im ehemaligen Ostblock eine Lehre ziehen müssen, die die Freiheit und das Zeugnis der Kirche nicht stärkte, sondern sie im Gegenteil schwächte. Das berühmteste Opfer der vatikanischen Ostpolitik war Kardinal József Mindszenty (+ 1975), der Primas von Ungarn, der sich dieser Politik des Heiligen Stuhls heftig widersetzte und den der Vatikan auf dem Altar der Ostpolitik opferte, indem er ihn gegen seinen Willen des Amtes des Erzbischofs von Esztergom und des Primas von Ungarn enthob und ihn durch einen Bischof ersetzte, der letztlich ein Kollaborateur des kommunistischen Regimes war. Der Heilige Stuhl hat kürzlich den heroischen Tugendgrad von Kardinal JózsefMindszenty anerkannt, aber es ist noch nicht erkennbar, ob der Heilige Stuhl aus der Geschichte eine Lehre gezogen hat.
Wie würden Sie die Grundidee der Ostpolitik beschreiben?
Ostpolitik war eine vom Heiligen Stuhl benutzte Methode des Umgangs mit den kommunistischen Ländern Osteuropas - mit der durchaus positiven Absicht, das Leben der Kirche unter der kommunistischen Herrschaft zu erleichtern und Bischofsernennungen und diözesane Strukturen zu ermöglichen. Das Ziel des Heiligen Stuhls war gut, nehme ich an, doch die Methode, die man verfolgte, führte meiner Ansicht nach nicht zu diesem beabsichtigten guten Ziel. Und die Geschichte hat das jetzt bewiesen. Tatsächlich führte diese Politik unter den Gläubigen in gewissem Ausmaß zu Spaltung und Misstrauen.
Letztlich konzentrierte sich alles um die Ernennung von Bischöfen, genau wie heute in China. Damals musste sich der Heilige Stuhl auf Kompromisse einlassen und Kompromisskandidaten akzeptieren, denn die kommunistische Regierung hätte nie einen starken, mutigen Nachfolger der Apostel geduldet und würde das auch heute nicht tun. Ein solcher Kandidat für das Bischofsamt wird von weltlichen Regierungen nicht geduldet und das gilt auch heute in der westlichen Welt.
Bischofskandidaten, die zur Zeit der Ostpolitik gewählt wurden, waren manchmal Kollaborateure des kommunistischen Systems. Natürlich kommt es für einen Priester nicht infrage, einem kommunistischen System zuzuarbeiten oder es zu unterstützen. Man kann sich gegenüber der Autorität respektvoll verhalten, aber man darf als Bischof nicht durch Wort oder Zeichen zu erkennen geben, dass man das Programm oder die Ideologie dieser Regierung unterstützt. Die Bischöfe in diesen Ländern müssen da unterscheiden und der Regierung sagen: "Sie sind die Obrigkeit und ich respektiere die Obrigkeit. Ich werde mich an die Gesetze Ihres Landes halten, es sei denn, sie stehen im Widerspruch zum Gesetz Gottes. Wenn Ihre Gesetze allerdings im Widerspruch zum Gesetz Gottes stehen, dann kann ich sie nicht akzeptieren. Ihre Autorität als Regierung akzeptiere ich, und ich werde meine Gläubigen unterweisen, dass sie für Sie als rechtmäßige Obrigkeit beten. Aber ich muss meine Gläubigen auch lehren, dass wir mit Euch nicht zusammenarbeiten können, wenn Ihr als Obrigkeit Menschen zwingt, etwas zu tun, was gegen das Gesetz Gottes ist." Das muss der Heilige Stuhl deutlich machen.
In einigen Fällen stellte sich später heraus, dass die im Rahmen der Ostpolitik des Vatikans ernannten Kandidaten Kollaborateure der kommunistischen Regierung gewesen waren. Für einen katholischen Bischof ist es immer eine Schande und ein Schaden, Kollaborateur eines atheistischen Regierungssystems oder eines anderen totalitären Regimes zu sein. Ich wiederhole: Man kann als Bürger loyal sein, aber das heißt nicht, dass man kollaborieren muss. Hier muss sorgfältig unterschieden werden.
Aber die Gläubigen in diesen Ländern brauchten doch sicher Bischöfe?
Es war in den Zeiten der Ostpolitik nicht immer nötig, Bischöfe zu ernennen. Eine katholische Gemeinschaft kann eine Zeit lang ohne Bischöfe überleben. In der Sowjetunion hatten wir über lange Zeiten hinweg keine Bischöfe. Wir hatten Priester, gute Priester, heimliche Priester. Es gab natürlich auch einen geheimen Bischof, der heimlich Priester weihte. Und diese wenigen Priester, die heimlich geweiht worden waren, waren echte Apostel. Obwohl es zahlenmäßig nur wenige waren, hatte ihr Wirken eine große Ausstrahlung. Diese Erfahrung habe ich während meiner Zeit in der Sowjetunion gemacht. Und die Gläubigen waren stark, auch ohne einen von der Regierung anerkannten Bischof. Es gab in den baltischen Staaten einige Bischöfe, die von der kommunistischen Regierung anerkannt waren, aber sie waren zaghaft, in einigen Fällen schwach, obwohl ich ihre Lage durchaus verstand; vielleicht konnten sie nicht anders handeln. Aber Gott sei Dank gab es auch heimliche Bischöfe, und deren Glaube war stark. Das ist das Wichtigste, wichtiger als die Anzahl der Bischöfe.
Die Treue zu Christus - sie muss meiner Meinung nach immer die Vorgehensweise des Heiligen Stuhls bestimmen und sein ausschlaggebendes Kriterium sein. Beispielsweise gab es in der Vergangenheit viele Länder, die aufgrund von Verfolgung jahrzehntelang keinen Bischof hatten. Kardinal Robert Sarah erzählte mir, nach der Gefangennahme von Monsignor Tchidimbo, dem Erzbischof von Conakry in Guinea, habe es über lange Zeit keinen aktiven Bischof im Land gegeben. Und das Leben der Kirche war dort von brennendem Eifer geprägt.
Eine kompromisslose Politik wird den Glauben und den Heroismus der Menschen eher stärken.
Wir müssen das auf die Lage in China übertragen. Jedenfalls darf der Heilige Stuhl niemals Kandidaten annehmen, die ein unsittliches Leben führen oder weltlich gesinnt sind und offensichtlich dem kommunistischen System zuarbeiten und sich ihm anpassen. Es ist ein Ärgernis für die Gläubigen, wenn solche Kandidaten zu Bischöfen ernannt werden.
Leider werden solche Kandidaten heutzutage auch im Westen ernannt: Bischöfe und sogar Kardinäle werden ernannt, die ganz offensichtlich Kollaborateure des Systems sind - in diesem Fall nicht Kollaborateure einer offiziell kommunistischen Regierung, sondern Kollaborateure der westlichen liberalen, freimaurerischen Herrschaft des Einheitsdenkens, unter dem wir heute in der gesamten westlichen Welt zu leiden haben. Wir werden Zeugen, wie Bischöfe im Westen ernannt werden, die mit dem neuen politisch korrekten, antichristlichen Gender-System kollaborieren. Es gibt also bei Bischofsernennungen nicht nur in China, sondern auch in der westlichen Welt ein echtes Problem. Der Heilige Stuhl muss in dieser Situation wachsam sein.
In seiner Beziehung mit der chinesischen Regierung darf sich der Heilige Stuhl auf keine Kompromisse einlassen, die den Glauben schwächen oder beschädigen. Der Heilige Stuhl darf unter gar keinen Umständen die Untergrundbischöfe opfern. Ich bin überzeugt: Wenn die Bekennerbischöfe der Untergrundkirche in China geopfert würden, dann würde das in die Geschichte als Schande und als eine Beleidigung der Märtyrer in China eingehen, als eine Beleidigung jener Bischöfe und Priester, die ihr Leben für Christus und indirekt auch für den Heiligen Stuhl, für den Papst gegeben haben.
Kardinal Joseph Zen sagte, Kardinal Pietro Parolin, der Außenminister des Vatikan, (Diane Montagna, "Cardinal Zen: ,A schismatic church with the Pope's blessing will be horrible!, LifeSiteNews, 13. Februar 2018; vgl. den Blog von Kardinal Zen, "Non sono ancora riuscito a capire per ehe cosa dialogano con la Cina", abrufbar unter https://oldyosef.hkdavc.com/?p=987) verstehe die chinesische Bevölkerung nicht. Sie sind bereit, für ihren Glauben zu leiden, sagt Kardinal Zen, am schlimmsten schmerzt sie jedoch, von ihrer eigenen Familie verraten zu werden.
Genau, und die Kirchengeschichte zeigt, dass sämtliche Diktaturen sich lediglich für eine begrenzte Zeit halten konnten. Sie endeten. Die Kirche hat von dieser Erfahrung profitiert, sie hat einen weiteren Blick. Sie darf sich nicht von dem beeinflussen lassen, was den Anschein erweckt, dringend zu sein; oder offensichtlich gezwungen werden, eine technische Lösung zu finden. Das wäre zu menschlich gedacht. Meiner Meinung nach hat ein solches Vorgehen nicht den Segen Gottes und es wird keine Frucht bringen, wie ja auch die Ostpolitik erwiesenermaßen im Ostblock während der Zeit des Kommunismus keine Früchte gebracht hatte.
Wir müssen uns alle Mühe geben, eine gute Lösung mit der chinesischen Regierung zu finden. Und es muss Grundsätze geben, über die nicht verhandelt werden darf: Wir dürfen die Bekennerbischöfe unter gar keinen Umständen opfern. Das muss eine notwendige Bedingung sein. Und wir dürfen keine Kandidaten mit zweifelhaftem sittlichem Lebenswandel akzeptieren oder einer unklaren Haltung gegenüber dem Kommunismus als solchem. Es ist sonst besser, keine Bischöfe zu haben und auf das Eingreifen der göttlichen Vorsehung zu warten, die der Diktatur ein Ende bereiten wird.
Ich gehe davon aus, dass es selbst unter den offiziellen Bischöfen gute Geistliche gibt. Nicht alle sind Kollaborateure und die Gläubigen werden auch von diesen Bischöfen geleitet. Es ist eine komplexe Situation, das müssen wir fairerweise zugeben. Einen glühenden Glauben kann es auch unter Angehörigen der patriotischen Kirche geben. Das Problem ist der Klerus, nicht die Gläubigen. Ich meine, die Kleriker der offiziellen patriotischen Kirche sind im Vergleich mit den Klerikern der Untergrundkirche weniger glaubensstark und mutig, denn sie arbeiten in unterschiedlichem Ausmaß mit der Regierung zusammen. Ein Kollaborateur und Konformist aber kann keinen glühenden Glauben haben. Daher wünschen sich sämtliche nichtchristlichen Regierungen immer einen Klerus, der nicht glühend und nicht eifrig im Glauben ist. Sie fürchten sich vor Bischöfen und Klerikern, die glühend und eifrig im Glauben sind.
Deshalb könnte es eine Taktik der Feinde der Kirche sein, eine Kirche zu fördern, die weniger glühend im Glauben ist und Kompromisskandidaten hat; und sich mit der chinesischen Regierung zu arrangieren, um das Problem kurzfristig und technisch zu lösen. Das aber ist eine zu weltliche Auffassung und wird keine Frucht bringen.
Schauen wir nun auf Südamerika. Sie haben ja selbst in Brasilien gelebt - wie besorgt sind Sie über die Ausbreitung der Pfingstbewegung in Südamerika?
Die Pfingstbewegung (Pentekostalismus) ist ein neues Phänomen - in gewissem Sinn sogar eine neue Religion. Die pfingstlerische, charismatische, sentimentale und irrationale religiöse Erfahrung hat Eingang in viele christliche Konfessionen und sogar in nichtchristliche Religionen gefunden und sie stellt eine echte geistliche Gefahr dar. Wir haben diese beiden Hauptzweige des Christentums: das katholisch-orthodoxe Christentum, das sakramental ist und das Priestertum und eine bischöfliche Hierarchie hat; und die Protestanten, denen das fehlt. Und jetzt haben wir einen neuen christlichen Zweig - den Pentekostalismus -, der das Wesen der Religion mit Gefühl und Irrationalismus gleichsetzt, wobei Martin Luther diese Prinzipien in gewisser Weise bereits vorweggenommen hat. Die neue pfingstlerische christliche Religion ist gefährlich und hat die Zerstörung der Tugend der Religion zur Folge, der echten Beziehung zu Gott. Pentekostalismus endet in Subjektivismus und Willkür. Erfahrung und Gefühl werden zum Maß aller Dinge. Es mangelt an Vernunft, an Wahrheit und an der notwendigen geschöpflichen Ehrfurcht vor der Majestät Gottes. Göttliche Offenbarung hingegen ist immer wesenhaft mit Vernunft und Wahrheit verbunden. Jesus Christus, der Fleisch gewordene Sohn Gottes, ist das Wort, der Logos, die Wahrheit, die zweite Person der Allerheiligsten Dreifaltigkeit.
Wenn mein religiöses Gefühl verschwindet, verschwindet mein Glaube.
Genau. Die Religion der Pfingstbewegung beschädigt auf lange Sicht Glauben und Wahrheit. Unglücklicherweise ist diese Bewegung durch die sogenannte charismatische Erneuerung bereits tief in die katholische Kirche eingedrungen. Weder das Alte noch das Neue Testament, weder die Apostel noch die Kirchenväter billigten eine gefühlsbetont irrationale religiöse oder liturgische Praxis, in welcher Gefühle eine wesentliche Rolle spielen. Die Religion des Alten Testaments kam durch göttliche Offenbarung und war im Wesentlichen durch das Gesetz (liturgische und moralische Vorschriften) und die Propheten (die Unterweisung in der Lehre) gekennzeichnet, die bei der Verklärung unseres Herrn auf dem Berg Tabor durch Mose und Elija vertreten waren. Unsere Vernunft wird erleuchtet durch das Licht des Glaubens, der jedoch immer Glaube bleibt und nicht zu reinem Rationalismus wird. Diesen Gesichtspunkt des Christentums hat vor allem Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., so häufig unterstrichen: Der Logos, das Fleisch gewordene Wort, ist die göttliche Vernunft, die uns Seine Erleuchtung gewährt durch die Gabe des übernatürlichen Glaubens. Deshalb ist die christliche Religion im Wesentlichen eine Lehre und Christus bezeichnet sich selbst als "Meister", "Lehrer" (rabbi im Hebräischen, didaskalos im Griechischen, magister im Lateinischen).
Er sagte zu seinen Jüngern: "Nur einer ist euer Lehrer, Christus" (Mt 23,10); "Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und mit Recht tut ihr das; denn ich bin es" (Joh 13,13).
Sie sagen also, das Schwergewicht im Christentum liegt auf dem Lernen, mittels des Verstandes?
Der ursprüngliche Name von Christen, von jenen, die Jesus nachfolgten, lautete mathetai ("Schüler", "Jünger", "Lernende"), also jene, die in einer Lehre unterwiesen wurden, in der offenbarten Lehre Gottes. Neben dem Akt der Darbringung des Opfers Seines Leibes und Blutes am Kreuz zur Rettung aller Menschen bestand das Wirken Jesu Christi auf Erden darin, die Lehre von Gott dem Vater zu vermitteln, obwohl dieses Wirken der Erlösungsakt Seines Opfers am Kreuz untergeordnet war. Christus sagte: "Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat" (Joh. 7.16).
Der feierliche göttliche Auftrag, den Christus Seinen Aposteln und Seiner Kirche für alle Zeiten gab, besteht vor allem im Lehren, in der Weitergabe einer Lehre von Wahrheiten: "Geht und macht alle Völker zu Jüngern (matheteusate, docete) und lehrt (didaskontes, docentes) sie alles halten, was ich euch aufgetragen habe" (Mt 28,19-20). Das Christentum ist also seinem Wesen nach ein übernatürlicher Glaube, ein Überzeugtsein von einer göttlich offenbarten Wahrheit, mit der dazugehörenden Umsetzung der Lehre in ein sittliches Leben durch gute Werke mit der Hilfe der Gnade Gottes. In der Apostelgeschichte (2,42) werden die ersten Christen in Jerusalem durch folgende vier Merkmale gekennzeichnet: "Sie hielten an der Lehre der Apostel fest" (doctrina fidei, veritatis), an der "Gemeinschaft" (koinonia, hierarchische Gemeinschaft), am "Brotbrechen" (fractio panis, heilige Eucharistie) und an den "Gebeten" (orationes, vor allem der Liturgie). Es ist aufschlussreich, dass ein gläubiges Festhalten an der Wahrheit und der Lehre als erstes Merkmal der Christen erwähnt wird. Die Vorstellung, man könne Christ sein, ohne an der Lehre festzuhalten, ist ein direkter Widerspruch. und eine Leugnung der göttlichen Wahrheit, die besagt, dass ein Christ "an der Lehre der Apostel festhalten" soll.
Warum wird so viel Wert auf die Weitergabe und das Festhalten der Wahrheit gelegt?
Die Wichtigkeit der vom Glauben erleuchteten Vernunft verweist auf das Prinzip der Objektivität der christlichen Religion. Der inkarnatorische Weg, die inkarnatorische "Methode", die Gott wählte, um die Menschheit zu retten, bedeutet Objektivität. Das formuliert der heilige Johannes mit großem Nachdruck: "Was von Anfang an war, was wir gehört und mit unseren Augen gesehen haben, was wir geschaut und was unsere Hände berührt haben vom Wort des Lebens - und das Leben ist erschienen und wir haben es gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist" (1 Joh 1,1-2). Mich hat immer der Kommentar des heiligen Papstes Gregor des Großen über den zweifelnden Apostel Thomas tief berührt, der sich im Brevier findet. In seiner kurzen, prägnanten Formulierung fasst er hervorragend den Weg, die Methode der Menschwerdung zusammen, wie sie für den christlichen Glauben entscheidend sind: ad fidem Thomas palpando reducitur, "indem er [Christus 1 berührte, wurde Thomas zum Glauben zurückgeführt" (Hom. 26 in Ev.).
Bereits die göttliche Offenbarung im Alten Testament hatte inkarnatorische, objektive Merkmale, da sie auf die Erfüllung in Christus zulief. Es ist der inkarnatorische, sakramentale, sichtbare, objektive Weg zu Gott. Gott wollte uns auch den Heiligen Geist auf sichtbare, objektive Weise geben, vor allem durch die sieben Sakramente und unter diesen vor allem durch das Sakrament der Firmung. Am Pfingsttag, als der Heilige Geist auf die allerseligste Jungfrau Maria, auf die Apostel und die Jünger Christi herabkam, äußerten sie sich nicht in unverständlichen Worten, sondern in wohlartikulierter Sprache, die jeder verstehen konnte. An Pfingsten fielen Maria und die Apostel nicht zu Boden und "ruhten im Geist", wie es bei vielen Veranstaltungen der charismatischen Erneuerung in unseren Tagen geschieht. Am Pfingsttag haben die heilige Jungfrau Maria und die Apostel kein Zungenreden praktiziert, indem sie unverständliche, zusammenhanglose Worte sprachen, sie weinten nicht, sie klatschten nicht in die Hände, sie sprangen nicht herum oder tanzten, wie es bei vielen katholischen charismatischen Veranstaltungen heutzutage üblich ist. Die heilige Liturgie verwendet die Formulierung sobria ebrietas Spiritus, das heißt: eine "nüchterne Trunkenheit" im Heiligen Geist. Das bedeutet ein glühendes Herz haben, das dennoch nüchtern bleibt, geordnet, geleitet von der Vernunft, vom übernatürlichen Staunen und vom Glauben.
Was meinen Sie, warum konnte sich die Pfingstbewegung in Südamerika so erfolgreich ausbreiten?
Ich glaube, es gibt dafür mehrere Gründe. Die Befreiungstheologie, der Modernismus und Liberalismus in der Liturgie und in der Glaubenspraxis hat das katholische Leben bei vielen Menschen seines Reichtums beraubt und sie suchen nun etwas, das ihre Gefühle, ihre Gotteserfahrung anspricht. Die einfachen lateinamerikanischen Katholiken wurden ihrer glaubenserfüllten katholischen Frömmigkeitsformen beraubt und darum betrogen: der Feste zu Ehren der Heiligen, der Marienprozessionen und so weiter. Vor dem Hintergrund der intellektuellen, abstrakten Methode des Modernismus und der Befreiungstheologie mit ihrer Soziologie und ihrem inhaltsleeren Naturalismus sehnen sich die Menschen nach etwas, worin echte Andacht und das Übernatürliche zum Ausdruck kommen. Einfache Menschen dürsten nach dem Übernatürlichen und die pfingstlerischen und charismatischen Gemeinden sprechen die Sinne an und reden von übernatürlichen Wirklichkeiten, vom Heiligen Geist. Charismatiker arbeiten mit Gesten und Gebeten, welche die Seele, die Gefühle berühren. Allerdings tun sie das auf eine exaltierte Weise, die der gesamten katholischen Überlieferung fremd ist.
Die katholische Überlieferung spricht durchaus die Sinne an, sie entfacht Frömmigkeit und vermittelt das Übernatürliche in einer sehr viel maßvolleren und ausgewogeneren Weise, vor allem in der überlieferten Liturgie: Hier gibt es Schönheit, die ebenfalls die Sinne und die Gefühle sehr stark anspricht. Wir hatten das in der überlieferten Liturgie und in überlieferten Andachtsformen. Als diese den Menschen jedoch weggenommen wurden, vor allem in Lateinamerika, nutzten die charismatischen protestantischen Sekten dieses geistige Vakuum, vor allem, da die Menschen in Lateinamerika von ihrem Temperament her dazu neigen, in der Religion Emotion und Gefühl stark zu betonen. Die eigentliche Schuld und Verantwortlichkeit liegt meiner Meinung nach bei den Bischöfen von Lateinamerika und bei den Priestern, die diese geistliche Leere geschaffen haben, indem sie die neue soziologische und naturalistische Religion einer Befreiungstheologie verbreiteten, die nur dem Namen nach katholisch war und lediglich einen katholischen Anstrich hatte.
Wenn wir anfangen, die Liturgie in Lateinamerika zu verbessern, die Liturgie heiliger, ehrfurchtsvoller zu machen; wenn wir anfangen, den Menschen gesunde Andachtsformen und vor allem gesunde lehrmäßige und katechetische Unterweisung zukommen zu lassen, dann werden die Sekten nicht mehr so viel Macht haben - vor allem, wenn die Priester selbst ihnen ein gutes Beispiel geben und durch ihren Lebenswandei Heiligkeit ausstrahlen. Dann werden die Protestanten, die Pfingstler und die Charismatiker in Lateinamerika nicht mehr so viel Macht haben.
Wenden wir uns nun dem Kontinent Afrika zu. Wie kann die Rechtgläubigkeit so großer Teile der Kirche in Afrika dem vom Glauben abgefallenen Westen besser vermittelt werden?
Ich habe als Apostolischer Visitator einige Erfahrungen mit einer Gemeinschaft von Ordensfrauen und Priestern in einem afrikanischen Land gemacht und ich war sehr beeindruckt von dem Feuereifer, der Einfachheit und Reinheit des Glaubens der Afrikaner. Ich wurde von den afrikanischen Katholiken geistig erbaut und bewegt - und zwar mehr, wie ich sagen muss, von den Laien als von den Klerikern. Doch ich habe durchaus auch gute Bischöfe getroffen und hatte viele Begegnungen mit ihnen und ich bewunderte ihren frischen katholischen Glauben, den unverdorbenen, in gewisser Weise reinen katholischen Glauben eines Kindes. Es ist so schön, bei einem erwachsenen Mann, einem Bischof, der Seele eines Kindes zu begegnen, das an Gott glaubt, an die Wahrheiten des Katechismus. Die Apostel müssen so gewesen sein. Sie dürften wohl den reinen Glauben eines Kindes gehabt haben, einen Glauben, der noch nicht verdorben ist durch die Zweifel oder Verzerrungen der Untreue Erwachsener gegenüber den Wahrheiten, die Gott so klar und einfach im Evangelium offenbart.
Der Herr sagte: "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen" (Mt 18,3).
Genauso ist es und daher glaube ich, dass die katholischen Bischöfe Afrikas der Welt, vor allem im Westen, diese frische Luft eines reinen, kindlichen Glaubens bringen können und eine tiefe Ehrfurcht vor dem Heiligen. Ja, eine tiefe Ehrfurcht vor den Gesetzen Gottes, auch wenn die Menschen in Afrika - so wie überall - sündigen. Es gibt Sünde in Afrika, doch der Unterschied zu Europa besteht darin, dass die Menschen dort erkennen, dass es falsch ist, dass es gegen Gott gerichtet ist, und sie empfinden echte Reue. Und Reue ist Hoffnung. Obwohl es viele Sünden und unmoralische Situationen in Afrika gibt, haben die afrikanischen Menschen noch eine reumütige, zerknirschte Seele. Im Westen - und das gilt sogar für die Kirche - versuchen die Leute, ihre Sünden zu rechtfertigen. Sie versuchen, die Beleidigungen, die sie Gott zufügen, zu rechtfertigen, um sich selbst zu rechtfertigen; in einer solchen Haltung kommt Hoffnung nicht vor. Es ist dasselbe Problem, das wir bei der Diskussion um die Kommunion für die Geschiedenen und Wiederverheirateten beobachten konnten und jetzt bei der homosexuellen Agenda. Eine zunehmende Anzahl von Priestern, ja sogar Bischöfe und Kardinäle, bemühen sich um eine Legitimierung der sogenannten "LGBT"-Gemeinschaft und damit wollen sie auch homosexuelle Aktivität als solche legitimieren.
Das Zweite, was die Kirche in Afrika der westlichen Welt geben kann, ist ein tief verwurzelter Sinn für die Familie. Ich traf einmal mit einem Engländer zusammen, der in Afrika arbeitete. Die Afrikaner sagten zu ihm: "Oh, Sie kommen aus England, Sie haben ein Auto, eine Armbanduhr und so weiter. Solche Sachen haben wir nicht." Der Engländer - ein gläubiger Katholik - erwiderte ihnen: "Aber ihr habt bessere Werte, reichere Werte als wir in Europa. Wir haben Autos und Uhren und gute Wohnungen und alles, was wir brauchen, aber ihr habt die Familie und ihr liebt und pflegt die Familie. Deshalb seid ihr reicher als wir."
Wenn in Europa ein Elternteil oder die Großmutter oder der Großvater stirbt, dann kommen die Verwandten zusammen und lassen ihn oder sie verbrennen, um die Sache schnell hinter sich zu bringen, oder, wenn es Verwandte gibt, die weit weg leben, findet das Begräbnis statt, bevor alle eingetroffen sind. Für afrikanische Menschen ist das völlig ausgeschlossen. Es wäre ein Zeichen von Undankbarkeit und mangelnder Ehrerbietung gegenüber dem verstorbenen Vater oder Großvater, der verstorbenen Mutter oder Großmutter. Sie warten dort, bis alle Verwandten sich eingefunden haben. Sie warten, sie werden ihn nicht vorher begraben oder verbrennen; das ist sehr schön. Es ist ein kleines, aber doch wichtiges Beispiel dafür, wie man sich in einer Familie um die alten Menschen kümmert. Das Thema Euthanasie ist für eine afrikanische Person unvorstellbar. Für Afrikaner ist es sogar ausgeschlossen, die eigenen Eltern in ein Altersheim zu geben. Sie bleiben zusammen. Die Eltern leben mit den erwachsen gewordenen Kindern, die für sie sorgen. Ich glaube, dass diese Werte eines frischen, reinen Kinderglaubens, die Haltung der Reumütigkeit des Sünders, der tiefe Familiensinn und der Respekt vor den Eltern und die Liebe zu ihnen die Menschen im Westen und die Kirche in den westlichen Ländern bereichern kann.
Und außerdem in jedem Kind ein Geschenk zu sehen ...
Genau, das Leben willkommen zu heißen, es immer willkommen zu heißen. Ich habe mit vielen einfachen Menschen in Afrika gesprochen, darunter auch Ehepaaren. Für sie ist Empfangnisverhütung undenkbar und das gilt sogar für Nichtchristen. Sie haben den natürlichen Instinkt, dass Empfangnisverhütung gegen die Natur, gegen das natürliche Gesetz gerichtet ist.
Selbstverständlich gibt es in Afrika schlimme Praktiken unter Nichtchristen in heidnischen Umgebungen - Menschenopfer, Grausamkeit, Rache und so weiter, weil sie keine Christen sind. Weil der christliche Geist fehlt, gibt es unter Heiden in Afrika solche grausamen, unmenschlichen Vorkommnisse. Deshalb ist es notwendig, dass Afrika evangelisiert wird, dass Afrika mit dem Geist des Evangeliums durchdrungen wird und dass dergleichen grausame Situationen ausgeräumt werden, in welchen Menschen keinen Glauben an den wahren Gott, an Christus haben. Die Gesellschaft im Westen jedoch fallt ihrerseits zurück in die Barbarei, mit barbarischen Grausamkeiten. Die Anzahl der in der westlichen Welt vorgenommenen Abtreibungen ist barbarisch, schlimmer als die grausamsten heidnischen Bräuche in Afrika. Abtreibung ist grausamer, weil die Menschen in massenhaftem Ausmaß ihre eigenen Babys töten und das mit Gesetzen rechtfertigen. Und jetzt, mit der Euthanasie, töten sie die Kranken und Alten, mit der sogenannten Hirntodtheorie ernten sie Organe ab und sie bringen unheilbar kranke Menschen um.
Wenn eine Gesellschaft den wahren Glauben aufgibt, den Glauben an Jesus Christus, dann wird sie zunehmend barbarisch. Vielleicht verfügen sie ja über eine ausgeklügelte Technologie, aber moralisch sind sie Barbaren, in gewisser Weise sogar schlimmer als Kannibalen - wie das makabre Geschäft des Handels mit den Organen und Körperteilen abgetriebener Kinder beweist.
Kannibalen?
Ja - ein Kind im Schoß seiner Mutter mit den Mitteln der Abtreibungstechnik zu zerstückeln und dann die Körperteile zu verkaufen, das ist meiner Ansicht nach sogar grausamer als Kannibalismus. Die abgetriebenen Körperteile eines Babys zu medizinischen Forschungszwecken zu verkaufen oder daraus Impfstoffe zu machen und Kinder und Erwachsene mit einer solchen "Medizin" zu impfen, stellt eine grausamere Form des Kannibalismus dar, als sie unter unzivilisierten Barbaren üblich war. Das müssen wir so sagen.
Der einzige Ausweg besteht darin, zu Christus zurückzukehren, dem einzig wahren Gott. Und zur einzig wahren Religion, dem Evangelium. Und um es noch einmal zu sagen: Die afrikanische Kirche kann für die gesamte katholische Welt eine Hilfe sein, diese guten Werte, die ich angesprochen habe, zurückzugewinnen, vor allem den reinen Glauben eines Kindes und die Familienwerte.
Westliche Nationen führen in Afrika "reproduktive Rechte" ein. Die Vereinten Nationen und andere internationale und private Organisationen überschwemmen den Kontinent unter dem Schlagwort "Armutsbekämpfung" mit Verhütungsmitteln und Abtreibung.
Ja - wie Sie schon erwähnten, ist das eine der grausamsten Methoden von Kolonisierung durch die westliche Welt. Kolonisierung ist ein historisches Phänomen. Allerdings müssen wir anerkennen, dass damals zwar viel Unrecht geschah, doch die Kolonialmächte brachten durchaus auch einige echte Vorteile und Verbesserungen im Leben der Gesellschaft. Straßen, Krankenhäuser und Schulen wurden gebaut. Die gegenwärtige Kolonisierung von Afrika durch die Europäische Union, die Vereinten Nationen und andere stark finanzierte internationale und private Organisationen ist die schlimmste Form von Kolonisierung. Sie wollen das afrikanische Volk durch die Einführung von Empfangnisverhütung und Abtreibung umbringen. In gewisser Weise dient es der Reduzierung der afrikanischen Bevölkerung.
Man hat das als "ideologische Kolonisierung" bezeichnet, aber es geht doch über Ideologie hinaus, denn die Säkularisten verbreiten nicht nur Ideen, sondern sie verhindern, dass Kinder geboren werden. Es ist deshalb auch eine neue Art von Sklaverei, und zwar die schlimmste Art: Sie verhindert Leben bereits ganz von Anfang an, indem sie die Leidenschaften der Menschen versklavt, auf dass diese sich der säkularistisch-konsumorientierten Mentalität anschließen.
Es handelt sich auch um eine Art Rassismus, denn die Weißen, die das umsetzen, wollen nicht, dass es so viele Schwarze gibt. Die Weißen in Europa und in den Vereinigten Staaten, die Afrika ideologisch kolonisieren, führen dort Empfangnisverhütung ein, damit die afrikanische Bevölkerung nicht wachsen kann. Die Weißen tun das unter dem zynischen Vorwand der Armutsbekämpfung.
Die einfachen Menschen in Afrika glauben daran, dass ihr wahrer Reichtum ihre Kinder sind. Sie sind damit zufrieden, auf dem Land zu leben, und brauchen nicht viel Technologie. Sie leben glücklich und zufrieden. Ich habe das während mehrerer Reisen beobachtet, die ich durch ländliche Gebiete Afrikas unternommen habe. Ich habe afrikanische Bauern beobachtet. Sie leben still und glücklich mit vielen Kindern. Natürlich leiden sie manchmal unter Katastrophen, wenn es keinen Regen gibt und es dann womöglich sogar zu Hungersnöten und Dürreperioden kommt. In solchen Zeiten sollte die westliche Welt da sein und ihnen helfen, mit Nahrung, und indem sie Bewässerungssysteme verbessert und Brunnenbohrungen finanziert. Das wäre echte Hilfe für die Menschen dort und würde die Entwicklung voranbringen - aber sicher nicht, Babys durch Empfangnisverhütung und Abtreibung umzubringen. Die westliche Welt verhält sich gegenüber den Menschen in Afrika grausam und unmenschlich. Eines Tages wird die Menschheitsgeschichte sehr streng über diese moderne Form von Kolonisierung und Sklaverei zu Gericht sitzen, die so viele Menschen in Afrika umbrachte und versucht hat, die eigene moralisch zerrüttete Lebensweise auf die afrikanische Bevölkerung zu übertragen. Ich habe außerdem beobachtet, dass das Leben in den großen Städten Afrikas die Menschen dort zu einer hektischeren, chaotischeren Lebensweise verführt als das Leben auf dem Land. Einen urbanen Lebensstil auf eine Art und Weise aufzubauen, der sowohl moralisch gesund als auch kulturell und ökonomisch aufbauend ist, bedarf langer Zeit und eines echten christlichen Geistes. Das war beispielsweise der Fall, als das Christentum im Mittelalter das städtische Leben prägte und schuf.
Leider versuchen einige dieser internationalen Körperschaften und Individuen, durch die Päpstliche Akademie der Sozialwissenschaften die moralische Autorität der Kirche zu benutzen, um diese Ziele umzusetzen.
Ich kann sagen, dass die Bischöfe Afrikas sich dieser Gefahr bewusst sind, zumindest jene, die ich aufgesucht habe, und Gott sei Dank versuchen sie, sich dem zu widersetzen. Der Heilige Stuhl muss den afrikanischen Bischöfen helfen, gegen diese neue, unmenschliche Form von Kolonisierung Widerstand zu leisten und jene afrikanischen Regierungen unterstützen, die sich der neuen "ideologischen Kolonisierung" noch widersetzen. Ich hoffe, der afrikanische Katholizismus wird der katholischen Welt und dem Westen einen neuen Impuls geben, sich jenen wunderbaren Werten wieder anzunähern und sie wiederzuerlangen, welche die Kirche im Westen in beträchtlichem Ausmaß verloren hat, an denen die afrikanischen Katholiken jedoch durchaus noch festhalten.
Heute werden überall auf der Welt, vor allem im Nahen Osten, in China und in Ländern Afrikas und Asiens Christen verfolgt und aufgrund ihres Glaubens an Jesus Christus gemartert. Welche Botschaft haben Sie für diese Menschen und für die Kirche insgesamt?
All unseren heroischen Brüdern und Schwestern in Christus möchte ich sagen, dass ihr Leiden und ihre Opfer zu den mächtigsten geistigen Kräften für das Wachstum der Kirche in unseren Tagen gehören. Ihre Tränen, ihr Schmerz und ihr Blut werden vom Engel in dem kristallenen Kelch aufgefangen, den wir im dritten Teil des Geheimnisses von Fatima sehen, und das geistige Feld der Kirche unserer Tage wird mit ihren Opfern getränkt. Unsere verfolgten Brüder und Schwestern führen der ganzen Welt die Gültigkeit und geistige Fruchtbarkeit der Seligpreisung des Evangeliums vor Augen: "Selig seid ihr, wenn sie euch um meinetwillen schmähen und verfolgen und euch alles Lügnerische nachsagen. Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß im Himmel. Denn ebenso haben sie auch die Propheten vor euch verfolgt" (Mt 5,11-12).
Andererseits haben der Heilige Stuhl und die gesamte katholische Kirche die Pflicht, unsere Brüder und Schwestern durch klare Worte des Protests und entsprechendes Vorgehen zu verteidigen. Die Autoritäten der katholischen Kirche sollten der Versuchung widerstehen, aus politischer Korrektheit heraus die Christenverfolgung in unserer Gegenwart zu ignorieren oder klein zu reden.
Die wahren Katholiken in der sogenannten freien Welt im Westen werden ebenfalls verfolgt, allerdings durch extrem schlaue und zynische Formen psychologischer, bürokratischer und gesellschaftlicher Ausgrenzung und Unterdrückung. Die körperlich und seelisch verfolgten Katholiken unserer Zeit sind die wahre Ehre und die Krone unserer Mutter, der Kirche. Ich möchte zu ihnen sagen: "Ihr seid die Lieblinge unseres Herrn", "Wir sind stolz auf euch", "Wir vergessen euch nicht!" und: "Seid treu bis in den Tod, dann wird der Herr euch den Kranz des Lebens geben" (vgl Offb. 2,10).
Haben Sie den Eindruck, dass die fast vollständige Auslöschung der Christen im Nahen Osten ein unheilvolles Vorzeichen eines bevorstehenden, weitaus größeren Zeitalters der Verfolgung ist?
Ich glaube, wir haben allen Grund, in der dramatischen Situation im Nahen Osten das prophetische Zeichen einer Zukunft umfangreicher Christenverfolgung zu sehen. Schon jetzt werden wir überall in der westlichen Welt Zeugen einer Benachteiligung und Ausgrenzung jener Christen, die sich nicht der herrschenden Gender-Ideologie unterwerfen, der neuen Klimareligion und der Anbetung der Erde - der sogenannten "Mutter Erde". Die Masseneinwanderung einer vorwiegend muslimischen Bevölkerung nach Europa wird dann zu gegebener Zeit von allein dazu führen, dass die Muslime in Europa auch politische Macht erhalten. Man kann die Möglichkeit eines zukünftigen Bündnisses zwischen freimaurerischen politisch einflussreichen Mächten und dem radikalen politischen Islam, die sich mit dem gemeinsamen Ziel vereinen, Christen zu verfolgen und zu unterdrücken, nicht ausschließen. Seit der Französischen Revolution hat die Freimaurerei immer mit den Mitteln politischer Mächte und Systeme hinter den Kulissen daraufhin gearbeitet, Christen zu verfolgen. Ein Beispiel dafür ist die Verfolgung der Kirche in Portugal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Kirche in Mexiko in den 1920er-Jahren und der Kirche in Spanien in den 1930er-Jahren, noch vor dem Bürgerkrieg.
Als wahre Christen sollten wir uns aber nicht fürchten, sondern auf den Sieg Christi und Seiner Kirche über alle Verfolger und Verfolgungen vertrauen. Papst Pius XI. erinnerte uns an diese Wahrheit: "Ungläubige und Feinde der Kirche, verblendet durch Überheblichkeit, können tatsächlich ständig ihre gewalttätigen Angriffe gegen den Namen Christi erneuern, indem sie jedoch jene, die sie töten, vom Schoß der streitenden Kirche reißen, werden diese Feinde zu Werkzeugen von deren Martyrium und ihrer himmlischen Herrlichkeit. Die Worte des heiligen Leo des Großen sind ebenso schön wie wahr: ,Die Religion Christi, die auf dem Geheimnis des Kreuzes gründet, kann nicht durch irgendwelche Grausamkeiten zerstört werden; Verfolgungen schwächen die Kirche nicht, sie stärken sie. Das Feld des Herrn lässt immer neue Ernten heranreifen, während die Weizenkörner, die vom Sturm abgeschüttelt wurden, Wurzel schlagen und sich vermehren´" (Predigt zur Heiligsprechung von John Fisher und Thomas More, 19. Mai 1935).
Wir haben aus dem 3. Jahrhundert einen eindrucksvollen Text, der leidenschaftlich dazu aufruft, immer ein guter Soldat Christi zu bleiben und keine Verfolgung zu fürchten. Es heißt da: "Bedenke doch mit mir einmal Folgendes: Wann braucht Christus deine Hilfe? Jetzt, wo der Böse gegen Seine Braut Krieg geschworen hat? Oder in der Zukunft, wenn Er siegreich herrschen wird und keine weitere Hilfe mehr braucht? Muss nicht jeder, der auch nur ein wenig Einsicht hat, erkennen, dass Er jetzt Hilfe braucht? Deshalb eile in der Zeit der gegenwärtigen Not mit allem guten Willen, an der Seite dieses guten Königs zu kämpfen, dem es eigen ist, nach dem Sieg großen Lohn zu schenken" (Epistola Clementis ad Iacobum 4).
IV. DIE STERNE WERDEN VOM HIMMEL FALLEN
14. Eucharistie und heilige Kommunion
Exzellenz, Sie sprachen zuvor darüber, dass der Weg aus der gegenwärtigen Kirchenkrise darin besteht, "das Übernatürliche wiederzuentdecken" und "dem Übernatürlichen im Leben der Kirche den Primat einzuräumen" durch eine erneuerte Konzentration auf das Gebet und die heilige Eucharistie. Können wir zum Geheimnis der Realpräsenz zurückkehren und über deren Bedeutung sprechen?
Wenn wir von der Eucharistie sprechen, müssen wir uns auf das Wesen der Liturgie konzentrieren, auf das Geheimnis der Eucharistie, und das ist Christus - der lebendige Christus, unser Fleisch gewordener Gott, der wahrhaftig mit Seinem Geist, Seinem Herzen, Seiner Seele und Seiner Gottheit im Sakrament der Allerheiligsten Eucharistie lebt. Doch Er ist in diesem Geheimnis verhüllt, so wie Seine Gottheit verhüllt war, als er unter Seinem Volk auf Erden wandelte, die Menschen lehrte, mit ihnen sprach. Da Er so schlicht war und - obwohl die Fülle der Göttlichkeit in ihm anwesend war - wie ein gewöhnlicher Mensch aussah, anerkannten Ihn viele Menschen nicht und wiesen Ihn ab - die Pharisäer, die Schriftgelehrten und andere -, eben wegen Seiner einfachen, bescheidenen Erscheinung. Der heilige Paulus sagt von unserem Herrn Jesus Christus: "Er nahm Sklavendasein an und wurde den Menschen gleich und im Äußeren erfunden als Mensch" (Phil 2,7).
Auf tiefere, radikalere Weise geschieht dasselbe im Geheimnis der Eucharistie, die eine Erweiterung der Menschwerdung ist. Die Menschwerdung wird hier fortgesetzt, denn nun ist nicht nur die Gottheit Christi durch Seine Menschheit verhüllt, sondern die eucharistischen Gestalten von Brot und Wein verhüllen sowohl die Menschheit als auch die Gottheit Christi. Christus ist verhüllt, doch Er bleibt auch weiterhin derselbe; Er lebt hier auf Erden in derselben Wirklichkeit Seiner Menschwerdung, doch in einer anderen Daseinsweise. Es handelt sich jetzt um eine sakramentale Weise. Seine Menschheit in der Eucharistie ist eine bereits verherrlichte Menschheit, doch die verherrlichte Menschheit ist real und kann berührt werden. Als Jesus von den Toten auferstand, konnte Er berührt werden; Er hatte einen wirklichen, doch verklärten Leib. Dasselbe gilt für die Eucharistie: Sein wirklicher Leib, Seine wirkliche Seele und die gesamte Fülle Seiner Gottheit sind unter der Erscheinung eines kleinen Stücks Brot verhüllt.
Das ist eine ständige Herausforderung für unseren Glauben, für unsere Liebe. Wir sind herausgefordert, unsere Liebe zur Menschwerdung zu erneuern, indem wir uns ständig im Glauben üben, wenn wir die konsekrierte Hostie anschauen. Das ist unser Fleisch gewordener Gott: et Verbum caro factum est: et habitavit in nobis, "und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt" (Joh 1,14). Und nun wohnt Er auf noch tiefere, demütigere, geheimnisvollere Weise unter uns - eigentlich ebenso wirklich wie damals, als Er auf Erden wandelte, doch in einer anderen Weise. Es ist real; daher sprechen wir von der Realpräsenz - ich möchte das betonen. Das ist unser Glaube: dass unter dem Schleier der eucharistischen Gestalten von Brot und Wein die Fülle der Menschheit und Gottheit Unseres Herrn gegenwärtig ist. Das sollte die tiefsten Tiefen unserer Seele berühren und in uns eine entsprechende Haltung der Seele und des Körpers hervorrufen, denn das ist die Menschwerdung. Wir können nicht auf die körperlichen Zeichen der Verehrung und des Respekts verzichten, denn Er ist körperlich anwesend; der Gott-Mensch ist wahrhaftig gegenwärtig. Konkrete Gesten der Verehrung, der Anbetung, der Ehrfurcht sind die logische Folge unseres Glaubens.
Wenn wir auf diese Gesten verzichten, wird also der Glaube an das Mysterium geschwächt?
Ja! Wenn wir die äußeren Zeichen von Ehrfurcht, Heiligkeit und Verehrung vermindern, dann vermindern wir gewissermaßen notwendigerweise auch unseren Glauben an die Realpräsenz Unseres Herrn und an Seine Menschwerdung. Das hängt miteinander zusammen. Jedes Mal, wenn wir unsere Ehrfurcht und Achtsamkeit für die Gegenwart Christi im Sakrament der Eucharistie - der wirklichen, vollständigen, wesenhaften und göttlichen Gegenwart - vermindern, vermindern wir gleichzeitig unseren Glauben an die Menschwerdung selbst. Der Glaube an die Eucharistie und der Glaube an die Menschwerdung sind untrennbar miteinander verknüpft. Es ist also ein fortgesetzter Akt des Glaubens an die Menschwerdung und an das Übernatürliche, denn das ist übernatürlich, weil die Gottheit uns so nahe ist. Im Sakrament der Eucharistie geruhte Unser Herr, Sich unter diesen äußeren, schwachen Elementen der Materie zu verbergen. Es gibt keinen Ort in der ganzen Welt, in der gesamten Geschichte der Welt, im ganzen Universum, wo Gott so nahe ist, wo die Gottheit Ihren Geschöpfen so nahe ist wie im Geheimnis der Eucharistie.
In der Eucharistie bleiben nur die äußeren Elemente der Materie, die als "Akzidenzien" bezeichnet werden, bestehen, wohingegen das Wesen, die Substanz der Elemente in das Wesen, die Substanz von Leib und Blut der heiligen Menschheit Christi verwandelt wird, und durch die Menschheit ist auch die Gottheit Christi präsent. In der Menschwerdung hat Gott Seine Gottheit untrennbar mit unserer menschlichen Natur vereint: Beide Naturen sind im Sohn vereint, in der zweiten Person der Heiligen Dreifaltigkeit; wir bezeichnen das als hypostatische Union. In der Eucharistie gewinnt diese hypostatische Union einen neuen Aspekt. Die Gestalten (Akzidenzien) von Brot und Wein sind mit dem Wesen (der Substanz) von Christi Leib und Blut verbunden, also auf Seine Gottheit in geheimnisvoller, unaussprechlicher Weise bezogen. Der heilige Thomas von Aquin sagt, die Gottheit Christi sei in diesem Sakrament in der Weise der wirklichen begleitenden Gegenwart (reale Konkomitanz), "denn da die Gottheit den angenommenen Leib niemals verlassen hat, muss da die Gottheit sein, wo der Leib ist; und daher begleitet in diesem Sakrament die Gottheit notwendig Seinen Leib. Deshalb heißt es im Glaubensbekenntnis von Ephesus (T. 1, Kap. 26): ,Wir nehmen teil am Körper und Leibe Christi; nicht als ob wir gewöhnliches Fleisch zu uns nähmen und nicht als das Fleisch und Blut eines geheiligten, mit dem Worte gemäß der Würde nur verbundenen Menschen, sondern als das wahrhaft lebenspendende und dem göttlichen Worte in eigener Person zugehörige Fleisch und Blut'" (Summa theologiae III, q. 76, a. 1, ad 1). Und das Konzil von Trient lehrte: "Unter der Gestalt von Brot und Wein ist die Gottheit wegen jener wunderbaren hypostatischen Union mit Seinem Leib und Seiner Seele vereint."
Warum meinen Sie, dass die Liebe diese spezifische Weise erfunden hat?
Nur die Liebe konnte sie erfinden. Die Eucharistie ist eine göttliche Erfindung. Sie hätte nie von irgendeiner Kreatur erfunden werden können. Er selbst behielt Sich das aufgrund Seiner unendlichen Liebe zu uns vor, daher ist die Eucharistie das sacramentum caritatis; und gleichzeitig ist die Eucharistie das sacramentum fidei, das mysterium fidei. Die Liebe möchte dem Geliebten nahe sein. Es gibt keine Möglichkeit, uns näher zu sein, keine demütigere, zerbrechlichere und wehrlosere Möglichkeit als die Eucharistie. Das kann nur eine Erfindung und ein höchster Ausdruck göttlicher Liebe zu uns sein.
Durch das Sakrament der Eucharistie sagt Jesus Christus zu uns: "Ich liebe dich. Ich möchte dir nicht nur nahe sein, Ich möchte durch die Eucharistie in dich eintreten, in deinen Leib, in deine Seele, auf die tiefste nur mögliche Weise. Ich möchte mit deiner Seele durch meine Gottheit verbunden sein, möchte dich besuchen, sogar in deinen Leib kommen, um dich zu heiligen, in dir zu bleiben." Der menschgewordene Gott weilte nicht nur auf Erden unter uns. Jetzt kommt Er auf unsere Altäre im Augenblick der Konsekration in der Messe und Er wohnt im Tabernakel. Immer steigt Er auf den Altar herab. Die heilige Theresia vom Kinde Jesu sagte: "Nicht um im goldenen Kelch zu verweilen,' steigt Jesus täglich vom Himmel hernieder, sondern um einen neuen Himmel zu finden, den Himmel unserer Seele." Das ist die Eucharistie. Das ist Liebe. Es gibt nichts, wodurch eine größere Nähe möglich ist, wodurch Er wirklicher und "inkarnatorischer" bei uns sein könnte, als die Eucharistie. Christus tut das zu unserem Heil - und Er geht so weit, dass Er sich im Sakrament verachten lässt, Er lässt sich entehren, zurückweisen, auf die fürchterlichste Weise profanieren. Ungeachtet dessen erfand Er und setzte ein dieses Sakrament der erschütternden Majestät göttlicher Liebe. Das alles hat Er für uns getan.
Wäre dann nicht das Vorauswissen darum, wie Er von denen, die Er liebt, entehrt und zurückgewiesen werden würde, Teil Seines Leidens während Seiner heiligen Passion gewesen?
Ich glaube, dass Er während Seines Leidens im Garten Getsemani diese unglaublichen und entsetzlichen Sakrilegien gegen Seine eucharistische Gegenwart vorausgesehen hat. Und ich glaube, dass die schlimmsten Sakrilegien von Priestern begangen werden, die Seine "Freunde" sind. Wenn Sie jemanden lieben, wenn Sie einen Freund haben oder jemanden, der Ihnen sehr nahesteht, und er verletzt Sie, dann leiden Sie mehr, als wenn Ihnen ein Fremder das antut. Als die Kommunisten und die Heiden die Eucharistie entweihten, litt Christus nicht so sehr wie dann, wenn er von Seinen eigenen Kindern entweiht wird, von Seinen Priestern und Bischöfen. Das geschah nun im Zeitraum der vergangenen fünfzig Jahre in großem Ausmaß. Nie zuvor gab es eine Zeit in der Geschichte, in welcher innerhalb der Kirche unser eucharistischer Herr von Seinen Gläubigen und Priestern so frevelhaft behandelt und so schrecklich entweiht wurde wie in unserer Zeit.
Das liegt hauptsächlich an der Handkommunion. Es gibt einen Mythos, den liberale Kleriker - wahrscheinlich absichtlich - verbreiten, der besagt, in den ersten Jahrhunderten sei ebenfalls Handkommunion üblich gewesen, und wir müssten demzufolge zur frühen Praxis der Kirche zurückkehren. Das ist eine Lüge, ein Mythos, getarnte Propaganda. Warum? Die Absicht, zu einer einzelnen, besonderen, nicht aber zur voll entwickelten alten liturgischen Praxis zurückzukehren, wird als "liturgischer Archäologismus" bezeichnet. Papst Pius XII. verurteilte diese Mentalität in seiner Enzyklika Mediator Dei als einen Widerspruch zum beständigen Sinn der Kirche. Liturgischer Archäologismus ist einer der grundlegenden Irrtümer der Modernisten innerhalb der Kirche sowie der Protestanten: Man solle, so sagen sie, zu einer "idealen" Zeit in der Kirche zurückkehren, über Jahrtausende zurückspringen. Das ist Ausdruck eines radikalen Bruchs, jener 1700-jährigen Klammer, die wir bereits früher angesprochen haben. Bruch und Revolution widersprechen dem Wesen der Kirche und dem christlichen Glauben, weil die Kirche ein Organismus ist und auf organische Weise wächst. Man kann nicht einfach ein beträchtliches Stück aus der Geschichte herausschneiden und in der Zeit zurückspringen.
Man kann einem Baum nicht den Stamm wegsägen und die Zweige und Blüten auffordern, zur Wurzel zurückzukehren ...
Das ist ein gutes Bild. Wir können als Erwachsene nicht sagen: "Ich möchte zurückkehren in die schöne, romantische Zeit meiner Kindheit, denn das war eine ideale Zeit, und ich würde so gern wieder die Kleidungsstücke anziehen, die ich getragen habe, als ich sieben oder acht Jahre alt war." Nein: Jetzt bin ich ein Mann und Sie sind eine erwachsene Frau. Sie können nicht das Kleid anziehen, das Sie so gemocht haben, als Sie ein achtjähriges Mädchen waren. Es wäre komisch, bizarr. Es würde Ihnen nicht passen, Sie würden lediglich eine Komödie aufführen.
Und eine Tragödie ...
Ja, das stimmt. Das aber ist der Irrtum der Liturgisten: Sie wollen zum 4. oder 5. Jahrhundert zurückkehren. Aber seither sind fünfzehn Jahrhunderte vergangen! Aber es gibt auch einen ganz konkreten Fehler in dem Mythos, den sie verbreiten, denn damals sah die Praxis anders aus als heute: Die heilige Eucharistie wurde in die Handfläche der rechten Hand empfangen und die Gläubigen durften die heilige Hostie mit ihren Fingern nicht berühren, sondern mussten ihren Kopf über die Handfläche beugen und das Sakrament direkt in den Mund nehmen, sie mussten sich also tief verbeugen und sind nicht aufrecht gestanden. Die übliche Praxis heutzutage sieht so aus, dass man die Eucharistie aufrecht stehend in die linke Hand empfängt. So etwas hätten die Kirchenväter von der Symbolik her als entsetzlich empfunden - wie kann das Allerheiligste mit der linken Hand genommen werden? Außerdem nehmen die Gläubigen die Hostie heute direkt mit ihren Fingern auf und legen sie sich dann in den Mund: Diese Geste hat es in der gesamten Geschichte der katholischen Kirche nie gegeben, sie wurde von Calvin, also nicht einmal von Martin Luther, erfunden. Die Lutheraner haben üblicherweise die Eucharistie kniend und auf die Zunge empfangen, obwohl sie keine Realpräsenz haben, weil sie kein gültiges Priestertum haben. Die Calvinisten und andere protestantische Freikirchen, die überhaupt nicht an die Realpräsenz in der Eucharistie glauben, erfanden einen Ritus, dem jegliche Gebärde der Sakralität und äußerer Anbetung fehlt, das heißt, sie empfangen die "Kommunion" stehend, berühren die Brot-"Hostie" mit den Fingern und legen sie sich genau wie gewöhnliches Brot in den Mund. Die Anglikaner hingegen empfingen - obwohl sie von der calvinistischen Lehre beeinflusst waren - die heilige Kommunion normalerweise kniend, doch durften sie die Hostie mit den Fingern berühren und sich selbst in den Mund legen. Natürlich haben die Anglikaner, deren Weihen ungültig sind, ebenfalls keine Realpräsenz und kein Priestertum.
Die meisten Protestanten glauben nicht an die Realpräsenz. Für sie ist die Kommunion lediglich normales Brot und hat nur Symbolwert.
Für sie war es nur ein Symbol, daher ähnelt ihr äußeres Verhalten gegenüber der Kommunion dem Verhalten gegenüber einem SymboL Während des Zweiten Vatikanischen Konzils bemächtigten sich katholische Modernisten - vor allem in den Niederlanden - dieses calvinistischen Kommunionritus und schrieben ihn fälschlich der frühen Kirche zu, um ihn in der Kirche einfacher verbreiten zu können. Wir müssen diesen Mythos und diese tückischen Taktiken entlarven, mit denen man in der katholischen Kirche vor über fünfzig Jahren angefangen hat und die mittlerweile wie eine Lawine über alles hinweggerollt sind und fast sämtliche katholischen Kirchen weltweit zertrümmert haben, mit Ausnahme einiger katholischer Länder in Osteuropa und einigen wenigen Orten in Asien und Afrika.
Ein weiterer Aspekt dieses Irrtums ist folgender: In der frühen Kirche konnten Frauen die heilige Hostie nicht direkt auf die Handfläche empfangen; sie mussten ein weißes Leinentuch benutzen. Und Männer mussten ihre Hände waschen, bevor sie zur Kommunion gingen: Es war unmöglich, das Allerheiligste mit ungewaschenen Händen zu empfangen, mit denen die Leute vorher Türen und Münzen angefasst hatten. Heute gehen die Leute mit ungewaschenen Händen zum Empfang des Allerheiligsten, obwohl sie davor Türen und Geld angefasst haben und alles mögliche andere. Ich kenne das Gegenargument: Es kommt auf eine reine Seele an, nicht auf reine Hände. Aber auch hier gilt: Das Körperliche, das Natürliche als unwichtig abzutun, ist ein gnostisches Argument. Die äußere, körperliche Seite ist wichtig! Wer über eine gute Erziehung und gesunden Menschenverstand verfügt, würde mit Sicherheit eine überaus wichtige Person mit gewaschenen Händen begrüßen.
Wie Sie ja schon erwähnten, sagen die Leute: "Aber es ist doch das Herz, das zählt. Was zählt, ist meine Absicht. Der Bischof und die Priester erlauben es mir, den Herrn in die Hand zu empfangen, und ich liebe Ihn. Ich fühle mich Ihm sogar näher, wenn ich Ihn in die Hand empfange."
Das ist Subjektivismus und es ist falsch, weil es den Weg der Menschwerdung außer Acht lässt. Der Herr könnte ja auch sagen: "Ich bin im Himmel. Ich habe euch einen Propheten geschickt und Ich liebe euch aus ganzem Herzen und das reicht Mir. Ich muss nicht zu euch kommen, sodass ihr Mir nahekommen könnt; Ich muss nicht Mein Blut am Kreuz für euch vergießen. Ich liebe euch in Meinem Herzen und Ich bin euch nahe." Das hätte der Herr zu uns sagen können. Aber er tat es nicht. Er liebte uns bis zur Vollendung, konkret, nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich: Er liebte uns so, dass Er Seinen letzten Tropfen Blut für uns vergoss, und nach Seiner Auferstehung war es Ihm wichtig, die sichtbare Realität Seines Leibes zu betonen.
Oder noch ein Vergleich: Ein junger Mann hat sich in ein Mädchen verliebt und er sagt zu ihr: "Ich liebe dich in meinem Herzen und ich bin dir sehr nahe." Aber er schenkt ihr nie Blumen, er berührt nie ihre Hand. Sie würde der Versicherung seiner Liebe nicht glauben, wenn er nie durch ein äußeres Zeichen seine tief empfundene Liebe zur ihr zum Ausdruck bringen würde. Ein solches Verhalten wäre unmenschlich. Es würde unserer Natur widersprechen. Und dasselbe gilt für die Eucharistie. Für einen gläubigen Katholiken ist es eine Illusion, zu sagen: "Ich liebe Jesus und ich bin Ihm nahe, wenn ich Ihn in der Eucharistie empfange, daher ist es in Ordnung, wenn die äußeren Zeichen von Glauben und Ehrfurcht auf ein Minimum beschränkt bleiben."
Nach katholischer Auffassung gilt "et ... et", "sowohl ... als auch", eine Synthese. Ich liebe den Herrn in meinem Herzen und gebe das äußerlich durch klare, eindeutige Zeichen der Anbetung, Verehrung und Sakralität zu erkennen, die auf das Übernatürliche verweisen. Im Lauf der Jahrhunderte hat die Kirche instinktiv, geleitet vom Heiligen Geist, gespürt, dass es nötig ist, ausdrucksstärkere Zeichen der Anbetung zu verwenden, ausdrucksstärkere Weisen, das Allerheiligste zu schützen, da die Hostie ja auf den Boden fallen oder gestohlen werden könnte. Deshalb spendet die Kirche im Osten und Westen die heilige Kommunion spätestens seit dem 6. und 7. Jahrhundert ausschließlich und direkt in den Mund, um jede mögliche Gefahr der Profanierung des Sakraments auszuschließen. Wir dürfen auch nicht die Tatsache vergessen, dass die Praxis der Handkommunion in den ersten Jahrhunderten lediglich für einige Regionen bezeugt ist - vor allem in Syrien, Südgallien und Nordafrika. Wir haben also keinen eindeutigen Hinweis auf eine allgemein verbreitete Praxis.
Können Sie noch weitere Gegenargumente nennen?
Das andere Gegenargument lautet, Jesus habe gesagt: "Nehmt ... alle davon." Aber das ist ganz klar ein Irrtum, denn dieses Wort war nicht an die Laien gerichtet, sondern direkt und ausschließlich an die Apostel und Er weihte sie zu Priestern des Neuen Bundes. Beim Letzten Abendmahl waren keine Laien anwesend; nicht einmal die Gottesmutter war dabei. "Nehmet ... alle davon und tut dies zu Meinem Gedächtnis." An wen richteten sich diese Worte? Sie waren an die Apostel gerichtet. Sonst könnte ja jeder Gläubige die Messe zelebrieren, weil Jesus sagte: "Tut dies zu Meinem Gedächtnis." Das Tridentinische Konzil lehrte, dass durch die Worte "Tut dies zu Meinem Gedächtnis" der Herr die Apostel als Priester des Neuen Bundes einsetzte. Und diese Worte beziehen sich auf die Apostel, also beziehen sich auch die Worte "Nehmet und esset davon" primär auf die Apostel. Das Gebot wurde zuerst den Aposteln gegeben und sie hatten das Recht, den eucharistischen Leib des Herrn zu berühren, und anschließend sollten sie die Eucharistie an die Gläubigen austeilen. Das kommt ja auch im Evangelium, bei der Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung zum Ausdruck. Es waren die Apostel, die die Brote an die Menschen verteilten.
Die Vulgata übersetzt das griechische Wort lambanein mit dem lateinischen Wort accipere. Es wird in der Heiligen Schrift üblicherweise im Sinne von "empfangen", nicht von "nehmen" benutzt. So wird beispielsweise, als unser Herr die Apostel anhauchte und sagte "Empfangt den Heiligen Geist", ebenfalls das Wort accipere (Griechisch: lambanein) benutzt. Niemand würde hier übersetzen: "Nehmt den Heiligen Geist." Accipite Spiritum Sanctum bedeutet: "Empfangt den Heiligen Geist." Deshalb ist die Übersetzung "nehmt" in den Einsetzungsworten der Eucharistie im Deutschen nicht korrekt, ebenso wenig im Englischen ("take") und in einigen anderen Sprachen. Die richtige Übersetzung wäre: "Empfangt alle", denn das griechische und lateinische Wort ist "empfangen". Hin und wieder kann es auch "nehmen" bedeuten, doch an den meisten Stellen im Neuen Testament wird es benutzt im Sinne von "empfangen" - sei es eine Gabe Gottes, der Heilige Geist usw. "Nehmen" ist eine falsche Übersetzung, die korrigiert werden muss. In den slawischen Sprachen wird korrekt übersetzt als "empfangen" (priimite). Im Russischen, Polnischen und in anderen slawischen Sprachen sagen wir: "Empfangt und esset alle."
Wir müssen uns dessen bewusst sein, wer im Sakrament der Eucharistie ist, nicht nur was die Eucharistie ist. Es gibt einen kurzen Satz, der das gesamte Eucharistiegeheimnis zusammenfasst und alles sagt: "Das ist der Herr" oder "Es ist der Herr." Im Johannesevangelium ist beschrieben, wie unser Herr am Morgen der Auferstehung am Ufer des Sees stand, und keiner erkannte ihn (vgl. Joh 21,7) - nur der Apostel Johannes, der den Herrn mehr als die anderen liebte. "Es ist der Herr." Dominus est! Deshalb habe ich meinem ersten Buch den Titel Dominus Est gegeben. Dieser Satz erklärt alles. Wenn das der Herr ist, diese kleine, zerbrechliche Hostie; wenn das der Herr ist, dann kann ich nur auf die Knie fallen. Ich kann nicht stehen bleiben. Ich muss wie ein Kind meinen Mund öffnen, im Geist der Kindschaft, wie ja auch Jesus sagte: "Wer das Königreich Gottes nicht empfangt wie ein Kind ... " (Lk 18,17). Wenn man das Reich Gottes nicht wie ein Kind empfangt, wird man nicht in das Reich Gottes gelangen. Der Apostel Petrus schreibt in seinem Brief: Wie neugeborene Kinder verlangt nach der geistigen unverfälschten Milch (vgl. 1 Petr 2,2). Seit den ersten Jahrhunderten der Kirche wird der eucharistische Leib und das eucharistische Blut des Herrn mit der Muttermilch verglichen. Das neugeborene Kind kann sich sein Essen nicht selber nehmen und in den Mund stecken - es ist unmöglich. Ein Neugeborenes kann lediglich seinen Mund öffnen und die Milch empfangen. Wir müssen gegenüber der Eucharistie wie neugeborene Kinder sein. Es ist ganz logisch, dass wir unseren Mund öffnen wie Babys und dass der Priester, als zweiter Christus, uns die Hostie in den Mund legt.
Einige Leute lehnen das ab, weil es eine Haltung von Verwundbarkeit und Kleinsein ist. Kann man sagen, dass in gewissem Sinn - nicht im menschlichen Sinn - Gott verwundbar ist? Seine "göttliche Verwundbarkeit" ist etwas, das man nicht erwartet, doch das ist das Wesen der Liebe.
Das stimmt. Wir haben das schon früher erwähnt: Die Weise seiner Anwesenheit in der Eucharistie ist ihrerseits verwundbar, zerbrechlich, wehrlos und das ist ein Zeichen der Liebe; Gott liebt uns so, dass Er sich am Kreuz verwundbar und wehrlos gemacht hat; das hat bereits in der Krippe angefangen. Die Geheimnisse der Krippe, des Kreuzes und der Eucharistie bilden eine Einheit. Die Eucharistie ist sogar noch stärker verwundbar und wehrlos - jeder kann Ihn nehmen und mit Ihm machen, was er will.
Von Seiner Seite aus ist es jedoch keine echte Schwäche.
Nein. Es ist keine Schwäche. Es ist vielmehr die allmächtige Kraft der Liebe in der Eucharistie, in dieser Kleinheit. Ich habe einmal eine Geschichte über ein kleines Mädchen gelesen, das sich auf seine Erstkommunion vorbereitete, und sie hatte einen Onkel, der war Atheist und er wollte das Kind in seinem Glauben erschüttern. Er fragte sie: "Glaubst du wirklich, dass in diesem kleinen Stück Brot Christus ist?" "Ja, das habe ich im Katechismus gelernt", antwortete sie. "Aber du hast im Katechismus doch auch gelernt, dass Gott unendlich ist. Nichts kann Gott umfassen." "Ja, das habe ich auch gelernt: Gott ist unermesslich und allmächtig, also ist Gott sehr groß", antwortete sie. "Aber, wenn Gott unermesslich ist, wie kann er dann in dieser kleinen Hostie enthalten sein, wie du gesagt hast?" Und sie schaute zu ihm auf und sagte: "Gott ist so groß, dass Er in meinem kleinen Herzen Platz hat, und Er ist so groß, dass Er in deinem Verstand keinen Platz hat." Das war eine wunderschöne Antwort von einem kleinen Mädchen und es erinnert uns an die Worte des Herrn: "Du hast dies vor Weisen und Klugen verborgen, Unmündigen aber offenbart" (Mt 11,25).
Die Eucharistie ist unser Herr und ich bin überzeugt, dass die Kirche nur dann erneuert werden kann, wenn eine ehrfurchtsvolle und würdige eucharistische Verehrung wiederhergestellt wird, vor allem was den Ritus der heiligen Kommunion angeht und seine notwendige geistige wie äußere Vorbereitung.
Ich komme aus den Vereinigten Staaten und in vielen Diözesen haben wir das Problem, dass es immer mehr Kommunionhelfer gibt, vor allem, weil die Eucharistie in beiderlei Gestalt ausgeteilt wird. Bei jeder Sonntagsmesse kommen vor der Kommunion bis zu zwölf Laien zum Altar, um das heilige Sakrament auszuteilen. Wie kann die Kirche erneuert werden, wenn man so viele Leute hat, die in authentischer Frömmigkeit nicht unterwiesen sind und womöglich noch annehmen, ihr Verhalten entspreche der "Tradition"? Das Argument lautet ungefähr: "Wir haben die Eucharistie immer unter beiderlei Gestalt empfangen. Es würde viel zu lang dauern, die Eucharistie anders auszuteilen. Und außerdem: Die Kirche erlaubt es doch. Der Bischof erlaubt es. " Männer und Frauen sind zugelassen und werden dazu ermutigt, Kommunionhelfer bei der Sonntagsmesse und sogar bei Werktagsmessen zu sein.
Man kann das kaum von heute auf morgen rückgängig machen. Wir müssen langsam vorgehen, Schritt für Schritt, und mit guter Katechese müssen wir die Größe des Herrn zeigen. Wer ist die Eucharistie? Häufig ähneln die Messen mit sogenannten Kommunionhelfern einem Cafeteria-Service und werden schnell durchgezogen. Das zerstört die übernatürliche Bedeutung und den Glauben an die Erhabenheit und die Göttlichkeit der Eucharistie, außerdem auch den entscheidenden Unterschied zwischen Laien und geweihten Priestern. Wobei ich nicht bezweifle, dass viele der sogenannten Kommunionhelfer wirklich an Christus glauben und ihn lieben.
Ich nehme an, das würden die meisten sagen: dass sie es machen, weil sie Jesus lieben, oder sie wollen dienen oder sie machen es, weil ihr Priester sie darum gebeten hat ...
Aber sie wissen nicht, was sie tun. Wenn sie es wüssten, dann würden sie es nicht machen. Denn mit diesem Dienst tragen sie dazu bei, die Heiligkeit, die Sakralität, die übernatürliche Wirklichkeit des Geheimnisses der Eucharistie zu schmälern und den entscheidenden Unterschied zwischen dem Laienstand und dem sakramentalen Priesteramt zu verwischen. So entsteht eine Grauzone zwischen dem sakramentalen Priesteramt und dem allgemeinen Priestertum der Gläubigen und die Szene ähnelt mehr einem protestantischen Abendmahlsgottesdienst oder einer Cafeteria.
Ich erinnere mich noch deutlich an den Sonntag - ich war damals noch ein kleines Mädchen -, als wir nicht mehr die heilige Kommunion im Knien an der Kommunionbank empfingen, sondern alle Schlange standen. Ich weiß noch, dass ich mir damals vorkam wie beim Drive-In von McDonald.
Wir müssen uns Zeit nehmen für den Herrn. Wir dürfen während der heiligen Kommunion nicht in Eile sein. Der Priester sagt: "Ich habe keine Zeit. Ich muss noch andere Messen zelebrieren, deshalb brauche ich Kommunionhelfer. " Das ist aber oft nur ein Vorwand. Meistens verbringt derselbe Priester eine Viertelstunde oder mehr mit Plaudern nach der Messe oder im Internet, und so weiter. Er könnte diese fünfzehn Minuten einsparen und die heilige Kommunion ohne Kommunionhelfer austeilen. Es wäre jedenfalls auch besser für den Priester, die Predigt um fünf Minuten abzukürzen und die heilige Kommunion selbst, ohne die Hilfe von Laien, auszuteilen.
In alten Zeiten und in der verfolgten Kirche nahmen die Leute Tagesreisen auf sich, um zur Messe zu kommen, und manchmal empfingen sie mehrere Jahre überhaupt keine heilige Kommunion und sie nahmen sich Zeit, sich auf den Empfang der heiligen Kommunion vorzubereiten. Heute ist es in den USA und in Europa ganz einfach, katholische Kirchen aufzusuchen - wir sind mobil, wir haben Autos.
In der gesamten Kirchengeschichte haben noch nie Laien die heilige Kommunion während der Messe ausgeteilt. Es war nur in Ausnahmefallen gestattet und war grundsätzlich nur außerhalb der Messe möglich. In Zeiten der Verfolgung, wenn Katholiken starben oder im Gefängnis saßen und den Herrn empfangen wollten, erlaubte die Kirche auch Laien, die heilige Kommunion zu spenden. In extremen Ausnahmefallen - aber ich wiederhole: nie während der heiligen Messe. Während der Messe ist immer ein Priester anwesend und es gibt keinen Grund, zur Kommunionausteilung Laien hinzuzuziehen. Selbst Diakone teilten nie die heilige Hostie während der Messe aus, sondern nur den Kelch. Deshalb wurden in der Tradition der lateinischen Kirche später die Diakone als außerordentliche Spender der heiligen Kommunion bezeichnet.
Heute werden Diakone als ordentliche Spender der heiligen Kommunion bezeichnet. In der orthodoxen Kirche hingegen ist es auch heute Diakonen nicht erlaubt, die heilige Kommunion auszuteilen.
Eines der Gegenargumente in den USA lautet: "Wir haben die Tradition, dass wir das Sakrament in beiderlei Gestalten empfangen und deshalb brauchen wir einen Kommunionhelfer für das Kostbare Blut."
Diese Tradition ist noch keine hundert - vielleicht gerade einmal vierzig Jahre alt. Es ist keine lange Tradition.
Die maronitischen Katholiken haben die Intinktion (Eintauchen).
Das wollte ich noch erwähnen. In vielen katholischen Kirchen in Kasachstan wird beim Kommunionausteilungsritus die Intinktion praktiziert. Das ist nicht kompliziert. Es gibt Ziborien, die so gestaltet sind, dass sie innen einen kleinen Kelch haben für das Kostbare Blut und darum herum Platz für die geweihten Hostien, und der Priester kann bei der Kommunionausteilung durch Eintauchen ein solches Ziborium leicht halten, während der Ministrant die Patene hält. Es ist besser für einen Priester, die Form der Intinktion zu benutzen, als den Menschen den Kelch direkt auszuhändigen. Es ist sehr gefährlich, den Leuten den Kelch zu geben, dass sie daraus trinken können. Ein Tropfen des Kostbaren Blutes kann leicht verschüttet werden, manchmal sind die Leute nervös, haben zitternde Hände, sind zerstreut, unaufmerksam und so weiter.
Manchmal sind ältere Leute als Kommunionhelfer tätig. Ich habe großen Respekt vor älteren Menschen, doch man muss sagen, dass manchmal ihre Hand zittert, oder sie fühlen sich plötzlich schwach ...
Das ist tatsächlich sehr gefährlich. Für die Eucharistie, das Heiligste, unseren größten göttlichen Schatz auf dieser Erde, brauchen wir nicht nur Zeichen der Ehrerbietung, sondern auch Zeichen für Sicherheit und Achtsamkeit. Wenn diese Menschen einen kostbaren Schatz in ihrem Haus haben, sichern sie ihn und verteidigen ihn. Aber wenn es um unseren eucharistischen Herrn geht, verhalten sich Bischöfe, Priester und Gläubige in der Kirche häufig sehr leichtsinnig und sie kümmern sich nicht um Ihn, nehmen sich Seiner nicht so an, wie sie sich um ihre persönlichen materiellen Schätze kümmern würden. Ich meine, wir sollten die Praxis abschaffen, den Gläubigen den Kelch direkt auszuhändigen. Eine vorübergehende Lösung könnte darin bestehen, dass man sagt: "Sie können weiterhin unter beiden Gestalten kommunizieren, aber dann durch Intinktion." Als die römische Kirche vor vielen Jahrhunderten den Brauch abschaffte, dass die Gläubigen direkt aus dem Kelch tranken, war das eine wohlbegründete Entscheidung, die auf unbestreitbaren, bewiesenen negativen Erfahrungen beruhte.
Sie haben als Thema Ihres ersten Buchs, Dominus Est, den würdigen Empfang der Eucharistie gewählt. Könnten Sie mehr dazu sagen, warum Sie es geschrieben haben und wie es aufgenommen wurde?
Der Verlust eucharistischer Fragmente aufgrund der Handkommunion ist eine schmerzliche Tatsache. Das kann keiner leugnen. Teile der konsekrierten Hostie fallen zu Boden und werden dann zertreten. Das ist grauenhaft! In unseren Kirchen wird Gott mit Füßen getreten! Das kann keiner leugnen. Und es geschieht in großem Ausmaß. Wir können nicht weiterhin so tun, als wäre Jesus, unser Gott, nicht wirklich gegenwärtig, als wäre die Eucharistie nichts weiter als Brot. Wie ich vorhin schon sagte: Die moderne Praxis der Handkommunion hat nichts mit dem Brauch in der alten Kirche zu tun. Die moderne Praxis der Handkommunion trägt zunehmend zum Verlust des katholischen Glaubens an die Realpräsenz und an die Transsubstantiation bei. Ein Priester oder ein Bischof kann nicht behaupten, dass diese Praxis in Ordnung ist. Natürlich gibt es Menschen, die mit großer Ehrfurcht und tiefem Glauben die heilige Kommunion auf die Hand empfangen, doch sie sind in der Minderheit. Die große Mehrheit verliert den Glauben durch diese sehr banale Praxis, die heilige Kommunion entgegenzunehmen, als wäre es ein Stück gewöhnliches Essen, wie einen Chip oder einen Keks. Diese Weise des Empfangs dessen, was auf Erden das Heiligste ist, zerstört im Lauf der Zeit das tiefe Bewusstsein von der Realpräsenz und der Transsubstantiation. Christus ist nicht nur "Gott mit uns". Er ist der Gott, der sich in der kleinen geweihten Hostie in die Hand der Menschen ausgeliefert hat und ganz und gar darauf verzichtet, sich zu wehren. Der eucharistische Jesus in der geweihten Hostie ist tatsächlich der Ärmste und Wehrloseste in der Kirche und das ist er besonders während der Kommunionausteilung.
Ende 2005 schrieb ich einen Brief an Papst Benedikt XVI. und legte das Manuskript meines Buchs Dominus Est bei. In diesem Brief bat ich im Namen Jesu Christi den Papst inständig, damit aufzuhören, die heilige Kommunion auf die Hand auszuteilen und stattdessen die heilige Kommunion den knienden Gläubigen in den Mund zu geben. Papst Benedikt XVI. antwortete mir in einem persönlich unterzeichneten Brief, in dem er sagte, dass meine Argumente überzeugend seien. Und später - beginnend mit Fronleichnam 2008 und bis zum Ende seines Pontifikats - spendete Papst Benedikt XVI. die heilige Kommunion nur noch auf diese Weise: Der Gläubige kniete auf einer Kniebank nieder und empfing den Leib Christi direkt auf die Zunge. Für mich war das ein Wunder und ich empfand tiefe Freude. Ich glaube, dass mein Brief und das Manuskript meines Buchs Dominus Est Papst Benedikt XVI. beeinflusst haben.
Ironischerweise haben die "hochkirchlichen" Protestanten während ihrer Kommuniongottesdienste, die ja nur symbolisch sind, mehr Ehrfurcht, wohingegen uns Katholiken zwar die Realpräsenz Jesu Christi in der heiligen Eucharistie gegeben ist, doch unsere Art und Weise, Ihn zu empfangen, untergräbt das, was wir doch eigentlich glauben.
Die Art, die heilige Kommunion zu empfangen, die sich über Jahrhunderte hinweg als die sicherere und sakralere Weise erwiesen hat, besteht darin, Unseren Herrn kniend und auf die Zunge zu empfangen.
Ich habe einmal mit einem norwegischen lutherischen Geistlichen gesprochen und fragte ihn, wie die Lutheraner in Norwegen die Kommunion empfangen. Er antwortete: "Bis vor ungefähr fünfzehn Jahren empfingen die Leute die Kommunion kniend und auf die Zunge. Jetzt aber nehmen sie sie stehend und in die Hand." Ich fragte ihn nach dem Grund für den Wandel und er antwortete: "Wir haben das verändert aufgrund des Einflusses unserer katholischen Brüder."
Während eines interreligiösen Treffens in Kasachstan, an dem ich teilnahm, sprachen wir über die heiligsten Realitäten der einzelnen Religionen. Ein Imam sagte, für die Muslime ist der heiligste Gegenstand das Buch des Koran in arabischen Buchstaben, und das belegte er damit, dass er sagte, es sei ein Frevel, wenn jemand es wagen würde, den arabischen Koran mit ungewaschenen Händen zu berühren. Als ich das hörte, musste ich an Szenen während der Austeilung der Handkommunion denken, in denen praktisch jedes deutliche heilige Zeichen fehlt und wo sicherlich nicht unmittelbar davor die Hände gewaschen werden. Solche Szenen spielen sich in den allermeisten katholischen Kirchen weltweit ab.
Dann malte ich mir eine Szene aus. Wenn eines Tages dieser Imam eine katholische Kirche besuchen würde und die heilige Kommunion würde in die Hand der Gläubigen gelegt, die sich in einer schnell vorrückenden Schlange sich dem Altar nähern, dann würde dieser Imam fragen: "Was ist das kleine Stück weißes Brot?" Der Katholik würde ihm antworten: "Das ist Christus." Der Muslim würde sagen: "Sie meinen sicher, dass es lediglich ein Zeichen oder ein Symbol für Christus ist." Der Katholik würde ihm antworten: "Nein, das ist kein Symbol, auch kein heiliger Gegenstand. Jesus Christus, der Herr, ist hier wirklich gegenwärtig." Der Muslim würde auf seiner Meinung beharren: "Das kann doch nicht sein! Christus ist sicherlich nur geistig oder symbolisch gegenwärtig." Der Katholik daraufhin: "Nein, Christus ist wirklich und in Wahrheit gegenwärtig, mit dem Wesen Seines Leibes und Blutes, mit Seiner Seele und Seiner Gottheit." Der Muslim antwortet: "Dann ist dieses kleine Stück Brot doch eurem Glauben zufolge euer Gott und das Allerheiligste für euch." Der Katholik würde antworten: "Ja, was aussieht wie ein kleines Stück Brot, ist wahrhaftig unser lebendiger Gott, persönlich gegenwärtig, mit Seinem menschlichen Leib und Blut, nicht ein Gegenstand wie euer Koran." Schließlich würde daraufhin der Muslim sagen: "Der Umstand, dass ihr euren Gott und das Allerheiligste auf eine so banale Art behandelt, gibt mir zu verstehen, dass ihr nicht daran glaubt, dass er hier wirklich anwesend ist. Ich kann dem nicht zustimmen, dass ihr wirklich glaubt, was ihr sagt."
Müssen wir auf die Bischöfe warten, damit sich das ändert, damit die Handkommunion abgeschafft wird? Oder sollte das von den Laien kommen? Häufig ist es schwer für die Laien, zu entscheiden, was sie tun sollen.
Unsere Zeit ist die Zeit der Laien, darauf hat das Zweite Vatikanische Konzil hingewiesen. Die Laien sind aufgefordert, selbst mit der Katechisierung zu beginnen und die Schönheit und Größe und Einzigartigkeit der Eucharistie sichtbar werden zu lassen. Bestimmt können einzelne Männer und Frauen, katholische Familien, ja sogar Pfarreigruppen beschließen, in Zukunft die heilige Kommunion kniend und auf die Zunge zu empfangen. Und sie können ihren Priester bitten, über die Wahrheiten der heiligen Eucharistie zu predigen.
Eine echte Erneuerung der eucharistischen Verehrung muss aber letztlich vom Klerus und vom Heiligen Stuhl ausgehen. Der Papst ist der Verteidiger Jesu Christi und in diesem Fall muss er seine Autorität geltend machen, um unzweideutig und nachdrücklich die Heiligkeit der heiligen Eucharistie zu verteidigen, und sei es selbst zu seinem persönlichen Nachteil. Der Papst muss sagen: "Es ist meine Pflicht, den Herrn zu verteidigen. Ich kann diese fragwürdigen, gefährlichen Praktiken beim Empfang der heiligen Kommunion nicht zulassen." Leider hat Rom die Handkommunion, die Kelchkommunion und die sogenannten Kommunionhelfer zugelassen. Deshalb muss auch aus Rom die Richtigstellung dieser ganz eindeutig schädlichen liturgischen Bräuche kommen. Der Heilige Stuhl hat diese Lawine massiver Banalisierungen, Schändungen und Sakrilegien gegenüber unserem eucharistischen Herrn angestoßen. Eines Tages wird das die Geschichte verlautbaren.
Wir müssen mit der Handkommunion aufhören und wir müssen vor unserem Herrn niederknien, zusammen mit den Engeln, die vor dem Thron auf ihr Angesicht fallen, wenn sie Gott anbeten (vgl. Offb 7,11). Der heilige Paulus sagt: "Im Namen Jesu soll jedes Knie sich beugen, im Himmel und auf der Erde" (Phil 2,10). Während der heiligen Kommunion ist nicht nur der Name Jesu, sondern Jesus selbst gegenwärtig: Dominus est! Das fordert uns auf zu knien. Die gesamte Kirche muss wieder vor unserem eucharistischen Herrn niederknien, um Ihn zu lieben und Ihn zu verehren. Erst dann wird ihr Herz geheilt werden. Und erst nach dieser Heilung wird sie die echte geistige Kraft haben, mit der sie Gott verherrlichen, Seelen retten und wieder kraftvoll das Evangelium verkünden kann.
Sie muss zu ihrer ersten Liebe zurückkehren.
Zur eucharistischen Liebe. Zur wahren fleischgewordenen Liebe, nicht nur zu einem unsichtbaren Gefühl, indem sie sagt: "Ich liebe Jesus in meinem Herzen und Gebärden sind nicht so wichtig." Das ist falsch, das ist nicht christlich; letztlich ist das gnostisch und protestantisch. Wir müssen den Menschen geduldig helfen, sie mit Katechese unterstützen, aber letztlich muss die Richtigstellung aus Rom kommen. Der Papst muss ein Confessor Eucharisticus, ein Verteidiger und beispielhafter, leidenschaftlicher Liebhaber des eucharistischen Christus sein. Er ist das sichtbare Haupt und vom Haupt müssen diese Liebe und Verteidigung des eucharistischen Christus sich auf die Bischöfe und dann auf die Priester ausbreiten. Es ist tröstlich, dass die Laien - die "Kleinen" - bereits Vorarbeit für diese eucharistische Erneuerung in der Kirche leisten. Das ist wunderbar und erfüllt uns mit Hoffnung.
15. "Reform der Reform"
Wir haben gerade über den Empfang der heiligen Eucharistie gesprochen - vielleicht können wir uns jetzt dem größeren Zusammenhang der Liturgie zuwenden. Exzellenz: Was ist die heilige Messe?
Die heilige Liturgie ist vor allem die Verherrlichung der Heiligsten Dreifaltigkeit, die der menschgewordene Sohn Gottes im Namen der gesamten Menschheit und der ganzen Schöpfung Seinem göttlichen Vater im Heiligen Geist durch Sein Opfer am Kreuz darbringt, als lieblichen Wohlgeruch in alle Ewigkeit. Die heilige Messe setzt auf sakramentale Weise dieselbe Liturgie des Kreuzesopfers gegenwärtig mit demselben Priester (Jesus Christus) und demselben Opfer (Christus in Seiner heiligen Menschheit), welche in der Messe gegenwärtig sind, genauso, wie sie damals beim Kreuzesopfer gegenwärtig waren. Die heilige Liturgie ist also vor allem und im Wesentlichen die Verherrlichung des dreifaltigen Gottes. Eine solche vollkommene Verherrlichung Gottes erwirkt in zweiter Linie Gnaden und ewiges Heil allen, die sie feiern, die an ihr teilnehmen und für die sie eigens aufgeopfert wird.
War es die Absicht der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass die heilige Messe so gefeiert wird, wie wir es heute in Kirchen des lateinischen Ritus auf der ganzen Welt sehen? Zweifellos ist die Art, wie die heilige Messe im römischen Ritus allermeistens weltweit gefeiert wird, nicht das, was die Väter des Konzils beabsichtigten, selbst dann nicht, wenn die Messe im Einklang mit den neuen liturgischen Büchern gefeiert wird. Man muss nur die Diskussionen über die Liturgie in den Konzilsakten lesen, um zu sehen, dass die Konzilsväter sich wohl kaum eine Messfeier vorstellen konnten, in der der Zelebrant ständig mit dem Gesicht zum Volk steht; eine Messe, in der die traditionellen Offertoriumsgebete durch Gebete aus der jüdischen Sabbatfeier ersetzt wurden, wodurch der Opfercharakter der eucharistischen Liturgie verwässert wurde und sie der protestantischen Bedeutung einer Mahlfeier angepasst wurde; eine Messe, in der zahlreiche, häufig neu erfundene eucharistische Hochgebete den römischen Kanon ersetzen können; eine Messe, in der ausschließlich die Volkssprache verwendet wird; eine Messe, in welcher die heilige Kommunion stehend und in die Hand empfangen wird; eine Messe, in der Laien die heilige Kommunion austeilen; eine Messe, in der Frauen und Männer in Zivilkleidung als Lektoren auftreten und in der Mädchen und Frauen als Akolythen (Ministranten) dienen, die manchmal klerikale Gewänder tragen (Talar und Chorhemd). Berücksichtigt man all diese Elemente, die leider vom Heiligen Stuhl für die Feier des neuen Messritus zugelassen wurden, dann wird offensichtlich, dass eine Reform der Reform der heiligen Liturgie dringend erforderlich ist.
Die sogenannte "außerordentliche" Form der Messe - ich bezeichne sie lieber als "beständige" Form der römischen Messliturgie - ist in ihren Gebeten und Riten zweifellos objektiv theologisch und geistlich reicher, denn sie bringt das Wesen der heiligen Messe klarer zum Ausdruck, also das Opfer Unseres Herrn am Kreuz und die Sakralität und Erhabenheit der himmlischen Liturgie. Ich meine, dass in Zukunft die neue Messordnung in einer Richtung reformiert werden sollte, dass sie sich der beständigen oder älteren Form des römischen Messritus - eben jener sogenannten "außerordentlichen" Form - wieder annähert, ihr ähnlicher wird. So wird sie angemessener den immerwährenden Sinn des liturgischen Geistes der Kirche widerspiegeln, was der eigentlichen Absicht der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils entspricht.
Hier gibt es sicherlich genug zu tun.
Ja. Die Formulierung "Reform der Reform" zeigt ja schon, dass die Liturgiereform Probleme und Mängel mit sich bringt, die nicht so bleiben können, deshalb die Notwendigkeit einer Reform. Papst Benedikt XVI. hat in seinen Schriften, die er als Kardinal verfasste - vor allem in seinem berühmten Buch Das Fest des Glaubens und in anderen berühmten Werken wie im Geist der Liturgie -, eingehend darüber gesprochen, wie eine Reform der Reform aussehen müsste. Wir wissen aus seinen Schriften und aus seinen Ansprachen, dass sein Hauptanliegen, vor all den einzelnen Gesichtspunkten des neuen Messritus, die Aufforderung war, dass wir uns wieder dem Herrn zuwenden sollen. Die gesamte Kirche mit dem Zelebranten muss sich dem Herrn zuwenden, es geht um die Ausrichtung des Zelebranten zum Herrn in der Apsis, im Tabernakel, hin.
Das ist mit dem Thema verbunden, das wir bereits angesprochen haben, mit dem Übernatürlichen, denn der Verlust des Übernatürlichen bedeutet eine Rückwendung des Menschen auf sich selbst, der Mensch selbst wird zum Mittelpunkt. Darin besteht das Wesen des Naturalismus und es zeigt sich überdeutlich darin, wie die Messe zum Volk hin (versus populum) gefeiert wird. Diese Form wurde nach dem Konzil eingeführt und ist leider nach wie vor die Norm. Sie ist heute fast in der gesamten Kirche üblich. Wir haben vor unseren Augen diese auf den Menschen konzentrierte Form der Liturgie und das lässt auf das kirchliche Leben schließen; es spiegelt die schlimmste Krankheit der Kirche, die Krankheit des Anthropozentrismus, wider. Die Reform sollte zu Beginn darin bestehen, dass man sich wieder dem Herrn zuwendet. Häufig lesen wir in den Psalmen - es ist wunderschön! -, dass der Herr sagt: "Wendet euch Mir zu - Kehrt um zu Mir" (convertimini, revertimini). Durch den Propheten Sacharja sagt Gott: "Kehrt um zu mir - Spruch des Herrn der Heerscharen -, dann kehre ich um zu euch" (Sach 1,3). Und am Anfang der überlieferten Messe wird dieser herrliche Psalmvers (84,7) gebetet: "O Gott, wende dich zu uns und du wirst uns Leben verleihen": Deus tu conversus vivificabis nos. Wir werden das Leben haben - welches Leben?
Nicht das leibliche Leben, das wir schon haben, sondern das Leben, von dem der heilige Johannes in seinem Prolog spricht - das innere Leben der Gnade, das Leben Christi, das übernatürliche Leben, das nicht sichtbar, das ewig ist, das der Atem Gottes ist - dieses Leben. Et plebs tua laetabitur in te: "Und dein Volk wird sich freuen in dir." Und dann werden wir Freude haben, wahre Freude. Wir werden das übernatürliche Leben Gottes in unserer Seele haben und das ist wahre Freude. Gott wendet sich uns zu, also müssen wir uns logischerweise Ihm zuwenden, um Leben zu empfangen. Und das muss auch in der Liturgie auf sichtbare Weise zum Ausdruck kommen.
Wir haben es schon im Zusammenhang mit der heiligen Kommunion angesprochen: Wir dürfen nicht sagen, dass die sichtbare Seite unwichtig ist und dass es reicht, in einem geschlossenen Kreis zu bleiben und zu behaupten, der Herr sei in unserer Mitte. Das widerspricht dem Symbolcharakter der Wirklichkeit als solchem und dem inkarnatorischen Prinzip, dem Prinzip der Menschwerdung.
Wie kommt das?
Wir sind Menschen - wir haben einen Leib, das heißt, wir nehmen die geistige Wirklichkeit auch durch das Sichtbare wahr, durch den Körper. Deshalb kann man sich zwar immer wieder sagen: "O, ich liebe Jesus in meiner Seele, ich glaube an Ihn und bete Ihn in meiner Seele an, deshalb kann ich stehen bleiben und Ihn in meine Hand empfangen und mir die Hostie mit meinen Fingern selber in den Mund legen, so wie ich auch gewöhnliches Brot zu mir nehme" - aber es bleibt ein Widerspruch und es entspricht nicht unserer Menschennatur. Im Lauf der Zeit wirkt sich das auf meine innere Haltung aus.
Im Zusammenhang mit der Liturgie wird behauptet, dass alles unbedeutend ist, dass die Körperhaltung keine Rolle spielt, dass wir in einem Kreis einander zugewandt sein können, wie es bei der Zelebration versum populum der Fall ist, und dass der Herr in unserer Mitte ist. Ein Kreis, der sich aus dem Zelebranten und dem Volk zusammensetzt - ungeachtet der Anordnung der Bänke -, fördert schleichend das Eingeschlossensein im Sichtbaren, d. h. Immanentismus und Horizontalismus anstelle der Erhebung zu Transzendenz und Vertikalität. Das erste Ziel der heiligen Messe ist die Anbetung Gottes, nicht das gemeinschaftliche Zusammensein.
Es gibt sogar Priester, die sagen: "Jesus ist hier auf dem Altar, also schauen wir alle, die wir hier in einem Kreis sitzen, auf Jesus." Das ist nicht realistisch, denn die übliche Wahrnehmung der Form eines geschlossenen Kreises ist stärker, als wenn alle in dieselbe Richtung auf Jesus am Kreuz und auf den Altar blicken. Außerdem liegt die Hostie auf dem Altar, die Menschen können sie also gar nicht sehen; stattdessen sehen sie ständig nur das Gesicht des Zelebranten.
Mit anderen Worten: Setzt man unsere leibliche Natur voraus und geht man davon aus, dass wir Wissen über die Sinne aufnehmen, dann können wir gar nicht verhindern, einer auf den Menschen zentrierten Denkweise angeglichen zu werden, wenn die Liturgie so gefeiert wird, dass der Priester und die Gemeinde einander zugewandt sind, während Jesus in der heiligen Eucharistie verhüllt und verborgen bleibt.
Ja, genau. Die äußere Form des Kreises formt mit der Zeit den Geist. Wenn man weiterhin sagt: "Wir müssen Christus in den Mittelpunkt stellen", die leibliche Wirklichkeit dieser Feststellung aber nicht entspricht, dann widerspricht man sich einfach selbst und außerdem den Grundsätzen menschlicher Psychologie.
Während des Gebetes auf ein und dasselbe Ziel ausgerichtet zu sein, ist ein natürlicher Ausdruck in allen, auch in falschen Religionen. Diese Tatsache lässt auf die gesunde Empfindung eines naturgegebenen religiösen Sinnes schließen. Die Gnade setzt die Natur voraus (gratia supponit naturam), deshalb findet sich dieser äußere Ausdruck des Gebets auch in der wahren Religion. Seit der Zeit des Alten Testaments und später im Lauf ihrer gesamten Geschichte hat die Kirche in der offiziellen Liturgie immer so gebetet, dass die gesamte Versammlung zum Herrn hin ausgerichtet war, der im Alten Testament durch das Allerheiligste und im Neuen Testament durch den geografischen Osten, durch das Kreuz des Herrn dargestellt wurde; dann durch den Tabernakel, in welchem Er wirklich gegenwärtig ist. Selbst in einigen römischen Basiliken, deren Apsiden nicht in dieser Weise geostet waren, wandte sich der Zelebrant gen Osten. Ein oberflächlicher Liturgiewissenschaftler versteht Letzteres als Beweis für die Praxis einer Zelebration versus populum, zum Volk hin. Doch eine solche Schlussfolgerung ist nichts weiter als ein Zeichen von ideologischer Kurzsichtigkeit. In einem hervorragenden, wirklich meisterhaften Werk hat Msgr. Stefan Heid überzeugend und mit vielen Belegen bewiesen, dass die beständige Praxis der Kirche seit apostolischen Zeiten in der Feier der heiligen Messe ad orientem bestand, das heißt, der Zelebrant und die Gläubigen schauten in dieselbe Richtung. Ich kann sein kürzlich erschienenes Buch Altar und Kirche. Prinzipien christlicher Liturgie nur wärmstens empfehlen.
Ist der Petersdom nicht ein Beispiel für eine römische Basilika, deren Apsis geografisch nicht nach Osten ausgerichtet war?
Ja, denn die geologische Beschaffenheit des Vatikan-Hügels machte es unmöglich, die Kirche anders zu bauen. Die römische Kirche war immer sehr konservativ und hielt sich buchstäblich an die Regel, in Richtung Osten zu beten. Aus historischen und archäologischen Studien geht hervor, dass in den Kirchen im ersten Jahrtausend die Apsiden in fast 98 Prozent der Fälle nach Osten gewandt waren. Alle waren auf den Osten ausgerichtet, auch wenn der Altar sich nicht an der die Apsis abschließenden Wand befand. Ein freistehender Altar ist kein Argument gegen die Ausrichtung nach Osten, denn der Priester vor dem Altar schaute durchaus in Richtung Osten, so wie es in der Ostkirche noch heute der Fall ist.
Beim Petersdom war es aufgrund der Topologie ausgeschlossen, die Apsis östlich auszurichten. Den Päpsten war klar, dass sie Richtung Osten beten mussten, deshalb wandten sie sich in Richtung Kirchenschiff - das taten sie, um in Richtung Osten zu beten. Dieser Umstand ist also durchaus kein Argument für eine Zelebration zum Volk hin. Außerdem war der Papstaltar bis zum 9. Jahrhundert während des eucharistischen Hochgebets durch einen Vorhang verhüllt, so wie es ja auch in den Ostkirchen heute noch Vorhänge gibt. Die Gläubigen sahen das Gesicht des Papstes nicht. Dann, als Vorhänge nicht mehr im Gebrauch waren, wurden hohe Kerzenleuchter und ein großes Kruzifix auf den Altar gestellt. Wir haben Bilder von Liturgien vor dem Konzil; das Gesicht des Papstes war tatsächlich unsichtbar, obwohl die Messe, wenn man so will, Richtung Volk gefeiert wurde.
Es ging also vor allem darum, gen Osten gewandt zu sein?
Ja. Die Einstellung in Rom war sehr traditionell, konservativ. Orthodoxe Kirchen richten sich noch heute bei der Apsis einer Kirche nach dem Gesetz der Ostung. Die lateinische Kirche begann im 16. Jahrhundert in dieser Hinsicht Ausnahmen zuzulassen. Die Grundhaltung jedoch, dass man gemeinsam zum Kruzifix gewendet stand, hat sich immer gehalten - die Apsis war auf das Kruzifix auf dem Altar ausgerichtet und das Kruzifix stand an Stelle des geografischen Ostens.
Wir müssen uns zum Herrn hinwenden, zum Herrn umkehren. Die ganze Kirche muss sich vom Säkularismus abwenden, davon, im Naturalismus versunken zu sein, vom Verlust des Gespürs für das Übernatürliche, von der anthropozentrischen Grundhaltung. Die gesamte Kirche muss sich wieder bekehren und sich in der Liturgie zum Herrn hinwenden und das muss auch sichtbar geschehen. Die Feier der Messe ad Deum (wir können auch sagen ad orientem, ad crucem, ad apsidem) müsste also der erste und unverzichtbare Schritt im Prozess einer Reform der Reform sein. Er würde von Grund auf das Denken des Klerus und der Laien im Hinblick auf das wahre Gebet und auf die Bedeutung der Messe neu gestalten dass die Messe nämlich ein Opfer ist, das göttliche Opfer unseres Erlösers am Kreuz, und nicht bloß ein religiöses Gastmahl oder eine religiöse Unterrichtsveranstaltung im Stil der Protestanten.
Die Zelebration zum Volk hin zerstört im Lauf der Zeit die entscheidende Wahrheit, dass die Messe wesenhaft dasselbe ist wie das Opfer auf Golgotha. Die heilige Messe ist nicht die Fortsetzung des Letzten Abendmahls. Sie ist die sakramentale Fortsetzung vom Geheimnis des Kreuzes. Diese Wahrheit muss unsere Einstellung und unsere äußere Haltung prägen. Martin Luther hat die eucharistische Häresie verbreitet, dass die Messe eine Art Wiederholung und Gedenkfeier des Letzten Abendmahls ist und nicht das Sakrament des Kreuzesopfers. Die eucharistische Häresie Luthers, die den primären Opfercharakter der heiligen Messe leugnet, hat in die Lehre der theologischen Fakultäten und Seminare Eingang gefunden und in die Predigten vieler Priester und Bischöfe.
Wir könnten doch sagen, dass die gleiche Ausrichtung aller Betenden während des Gebets ein Beispiel für "ein Gut oder eine Wahrheit" ist, die auch in anderen Religionen gefunden werden, wie es das Zweite Vaticanum (Lumen Gentium, n. 16) formuliert.
Gott hat Sein Gesetz auf der natürlichen Ebene ins Gewissen des Menschen eingeschrieben und einige Elemente der Psychologie des Gebets sind ebenfalls ins Herz des Menschen geschrieben. In sämtlichen Religionen wenden sich die Menschen, wenn sie beten, in dieselbe Richtung, auf ein konkretes Zeichen hin, welches für das Göttliche steht. So orientieren sich etwa sämtliche Muslime nach Mekka hin. Deshalb können wir dieses Prinzip nicht einfach verabschieden; es würde sogar gegen unser natürliches Empfinden gehen. Mit unserer gegenwärtigen Kreisform der Zelebration handeln wir sogar gegen den natürlichen religiösen Instinkt des Menschen.
Was meinen Sie, warum gibt es einen so starken Widerstand dagegen, dass Priester und Gläubige sich gemeinsam zum Herrn hinwenden?
Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass die Kleriker, die sich dagegen aussprechen, gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Sie sind bereits so tief in der zeitlich-menschlichen Sphäre versunken, dass ihre Selbstliebe sie blind macht. Sie haben das Gespür und die Sehnsucht für die Ewigkeit, für das Übernatürliche verloren und fühlen sich im natürlichen, auf den Menschen zentrierten Kreis wohl. Diese Kleriker haben das Gespür für echte Anbetung und Gottesverehrung verloren. Die kreisförmigen Zelebrationen (versus populum) sind letztlich kein Gebet, sondern eher eine zwischenmenschliche Versammlung. Diese Kleriker und ihre Gemeinden feiern sich also schlicht nur selber, auch wenn sie das nicht zugeben wollen.
Aber es gibt doch sicher viele gute und fromme Priester, die Zeit mit Anbetung vor dem heiligsten Sakrament verbringen, die aber auch die Messe versus populum feiern.
Ja. Aber nicht alle jene Priester die fromm beten und zum Volk hin zelebrieren, sind mit dieser Form der Liturgie einverstanden oder würden sie gar verteidigen; sie müssen schlicht der Politik des Bischofs oder der Diözese gehorchen, die ihnen diese Form aufzwingt. Fatalerweise können viele Priester, die die Zelebration ad orientem vorziehen würden, sie nicht selbst einführen.
Oder vielleicht fehlt ihnen auch die Erfahrung einer Zelebration der Messe ad orientem mit dem gläubigen Volk, es wurden ihnen also nicht die Augen dafür geöffnet, wie angemessen diese Form ist.
Vielleicht haben sie keine Erfahrung damit und haben sich unbewusst daran gewöhnt, die Messe versus populum zu feiern, und sie haben das Gespür für äußere Zeichen verloren. Selbst wenn sie Zeit mit der Anbetung zubringen und fromm sind, müssen wir objektiv feststellen - ohne ihre innere Haltung zu verurteilen -, dass sie und ihre Frömmigkeit einen objektiven Mangel haben, denn sie haben sogar das Gespür für das natürliche religiöse Gesetz der allgemeinen Ausrichtung einer Kultgemeinschaft im öffentlichen Gebet verloren.
Oder sie bekamen es im Seminar nie vermittelt ...
Oder sie haben es sich nie angeeignet oder sie haben es verloren. Oder sie haben nie für sich selbst das Gefühl für diese notwendige Entsprechung zwischen der inneren Wahrheit, zum Herrn hin orientiert zu sein und Christus als inneren Mittelpunkt zu haben, und dem äußeren Ausdruck dieser Wahrheit in der Liturgie entwickelt. Sie sind vielleicht gläubig, sie halten Anbetung, sind fromm, doch in ihrem äußeren Verhalten tun sie das Gegenteil: Ihre Anbetung während der Messe ist auf den Menschen als Mittelpunkt ausgerichtet. Ihr äußeres Handeln und ihre innere Frömmigkeit entsprechen sich nicht, denn sie haben kein Problem damit, versus populum zu zelebrieren, und sie merken nicht, dass da geistlich und theologisch etwas nicht stimmt, nicht zusammenpasst. Sie haben also entweder ihr Gespür für die äußeren Gesetze des Gebets verloren oder sie haben sich diese Gesetze nicht hinreichend angeeignet.
Natürlich haben die meisten Priester heutzutage nie eine solide traditionelle liturgische Ausbildung im Seminar oder in ihren Gemeinden genossen, als sie noch jung waren, und dann wurden sie später Priester. Das natürliche Gespür für diese notwendige Entsprechung zwischen der inneren Wahrheit und dem äußeren Ausdruck ist offensichtlich nicht vorhanden. Wir stellen einen Widerspruch fest. Dieses Gespür ist selbst bei frommen Menschen verkümmert. Es muss wiederhergestellt, aufgeweckt, wiederbelebt werden, damit die Menschen den Widerspruch entdecken, mit dem sie unbewusst leben. Die wahre liturgische Gesinnung wurde in ihnen durch eine falsche Ausbildung oder einfach durch Gewohnheit unterdrückt.
Exzellenz, ich glaube, viele Priester haben Angst, dass die Leute (oder jedenfalls viele) sich ärgern werden und dass der Bischof sie aus der Pfarrei jagt, und sie bekommen nie wieder eine Stelle oder der Bischof verbietet es ihnen, und dann, auch wenn er nicht die Autorität hat, es zu befehlen, wird er das Gefühl haben, dass sich der Priester seiner Autorität widersetzt, wenn er nicht gehorcht. Vielleicht gehen dem Priester solche Gedanken durch den Kopf und er ist zu ängstlich, aber er schämt sich auch wegen seiner Furcht, und dann wird er ärgerlich über jeden Vorschlag, die Messe ad orientem zu feiern, weil er zwar weiß, dass es das Richtige wäre, aber er möchte vor sich selbst nicht als Feigling dastehen. Außerdem: Die Messe ad orientem zu feiern, könnte den Eindruck erwecken, dass man endgültig die Tatsache annimmt, der Heilige Stuhl habe sich in schwerwiegendster Weise viele Jahrzehnte lang bewusst geirrt. Es würde also auf einen Abschied vom Ultramontanismus hinauslaufen und das ist ein Schritt, der einem schon Angst machen kann - vor allem, wenn die Autorität des Papstes bislang das Schutzschild des gläubigen, loyalen niederen Klerus gegen andere, heterodoxe Kleriker und Hierarchen war.
Solche Ängste und Verhaltensweisen bei einem Priester sind nachvollziehbar, denn sie sind sehr menschlich. Ein Priester bedarf einer starken übernatürlichen Sicht, um alles sub specie aeternitatis zu sehen, also unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, und grundsätzlich auch unter dem Aspekt der Wahrheit. Mehr als andere Menschen muss ein Priester prinzipiell für diese beiden Ziele leben: für die Wahrheit und für die Ewigkeit. Um dieser Ziele willen muss er bereit sein, zeitliche Vorteile zu verlieren, und sei es selbst bei seiner kirchlichen Karriere; Freunde zu verlieren; er muss bereit sein, erniedrigt und an den Rand gedrängt zu werden; doch er muss auch so ehrlich und demütig sein, dass er seine eigenen Irrtümer und Fehler erkennt.
Im Juli des Jahres 2016 hat Kardinal Sarah bei der Sacra Liturgia Conference in London Priester dazu eingeladen, die Messe ad orientem zu feiern und im bevorstehenden Advent damit anzufangen, nachdem die Gläubigen durch eine gute Katechese darauf vorbereitet wurden. Aus dem Vatikan hört man selten eine schnelle Reaktion auf neue Themen, doch hier erfolgte innerhalb weniger Tage eine Korrektur. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der der Vatikan reagiert hat, bekommt man den Eindruck, dass es hier gewisse Leute gar nicht gern sehen würden, wenn Priester ad orientem zelebrieren. Ich habe das Gefühl, dass es um eben diese Ebene der Erfahrung geht, denn die meisten Gläubigen haben den Gottesdienst ad orientem ja gar nicht erlebt und die meisten Priester haben ihn auch nie gefeiert. Ich vermute, wenn Priester und Gläubige über eine etwas längere Zeit damit regelmäßige Erfahrungen machen könnten, dann würde in ihnen das Gespür dafür wach werden, wie wir eigentlich Gottesdienst feiern sollten - und dann würden sie nicht mehr zurückwollen. Ich glaube, gewisse Kräfte in der Kirche wissen, dass die Erfahrung einer ad orientem gefeierten Messe dazu führen wird, dass sie die Schlacht gegen die Tradition verlieren werden, die sie seit Jahrzehnten führen. Wenn sich die Menschen Gott erst ernsthaft zugewandt haben, dann ist es aus mit den "Progressivsten".
Ich bin völlig einverstanden mit dem, was Sie sagen, und ich danke Ihnen für diese Beobachtung. Meiner Meinung nach verhält es sich genauso.
Als die drei Weisen nach Jerusalem kamen, fragten sie: "Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben seinen Stern im Osten gesehen und sind gekommen, ihn anzubeten" (Mt 2,2). Und was war die unmittelbare Folge? Herodes und mit ihm ganz Jerusalem waren "bestürzt". Sie erschraken und fühlten sich unbehaglich: Ihr wollt einen König verehren und anbeten? Als diese Bischöfe und Priester - ja sogar einige Personen in Schlüsselpersonen im Vatikan - so blitzschnell gegen den Vorschlag von Kardinal Sarah Stellung bezogen, wurde ich gleich an die Reaktion des Herodes und der Priester und Schriftgelehrten in Jerusalem erinnert. "Sie waren bestürzt" (vgl. Mt 2,3).
Und so ist es tatsächlich. Diese Prälaten aus den oberen Rängen waren bestürzt, weil ihnen das Element des Anthropozentrismus aus den Händen zu gleiten drohte. Der Mensch liebt es, anstelle Christi angebetet, verehrt zu werden. Leider haben sich Bischöfe und Kardinäle in den vergangenen fünfzig bis sechzig Jahren daran gewöhnt, in der Liturgie im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, ganz im weltlichen Sinn in der Rolle eines Schauspielers. Und wenn sie sich zum Herrn umwenden, wird ihr Gesicht während der Messe nur noch selten sichtbar sein und das bestürzt sie, denn der klerikale Schauspieler hat keine Freude mehr am Geschehen, wenn er nicht fortwährend vom Publikum gesehen und bewundert wird. Während der Zelebration versus Deum ist das Gesicht des Priesters nicht sichtbar, es ist verborgen und die Aufmerksamkeit gilt nicht ihm, sondern einem anderen: Christus.
Sie sagen: "Aber ich spreche doch über Christus, außerdem ist der Priester ein zweiter Christus, ein alter Christus." Damit führen sie ein weiteres Gegenargument an, die raffinierte und trügerische Verbiegung der theologischen Wahrheit, dass der Priester ein alter Christus ist. Sie behaupten, dass die Menschen in der Messe das Gesicht des Priesters ständig sehen müssen und dass er deswegen mit dem Gesicht zum Volk zelebrieren muss. Das ist eine Lüge, denn er ist nicht ständig und in allen seinen liturgischen Handlungen und Worten "ein anderer Christus" - auch wenn er in seiner Seele das unauslöschliche Merkmal des Priestertums hat, das er bei seiner Weihe empfing. In engeren Sinn des Wortes handelt der Priester in persona Christi lediglich, wenn er die sakramentalen Worte (forma sacramenti) spricht, vor allem die Worte der Vergebung der Sünden im Sakrament der Buße und die Konsekrationsworte in der Messe. Wenn ein Priester beispielsweise predigt, dann spricht er nicht in persona Christi, andernfalls wären all seine Worte die Worte Christi, das heißt unfehlbar.
Also nur in diesen begrenzten Momenten.
Ja, in diesen begrenzten Momenten. Andernfalls könnte er durch die Straßen gehen und sagen: "Ich bin ein zweiter Christus; bitte, kniet nieder! Alles, was ich während des Tages tue, vollbringe ich als alter Christus. "Natürlich wäre das unsinnig und bizarr. Wenn man sagt, der Priester müsse versus populum zelebrieren, weil die Menschen ihn sehen müssten, denn er sei ja ein alter Christus, machen wir unausgesprochen den Priester zu einer Art eucharistischer Gestalt, die Christus verhüllt. Wir vergleichen ihn in gewisser Weise mit der eucharistischen Gestalt, die wir zur Anbetung aussetzen. Doch die Realpräsenz Christi unter dem Schleier der eucharistischen Gestalt ist nicht dasselbe wie die theologische Wahrheit, dass der Priester ein "zweiter Christus" ist. Das Gesicht des Priesters ist nicht der eucharistische Schleier und deshalb muss es nicht während der Messe ständig sichtbar sein. Einige Vertreter der versus populum-Zelebration verwenden dieses theologisch fadenscheinige Argument und unbewusst verhalten sie sich auch so, als seien sie selbst eine fortwährende Aussetzung des Allerheiligsten: "Schaut mich an: Ich stehe hier als Christus."
Das ist theologisch unzutreffend und pastoral, liturgisch und praktisch irreführend, denn es macht aus dem Priester eine Art Guru.
Viele Menschen, die an die Messe ad orientem gewähnt sind, haben, wenn sie eine Messe versus populum besuchen, das Gefühl, dass der Priester, der ständigfrontal vor ihnen steht, zu einer Ablenkung wird.
Das stimmt. Wir sind körperliche, leibliche Wesen. Der Priester ist nur ein Kanal, nur eine Stimme, und er muss sich verhalten wie Johannes der Täufer: "Ich muss abnehmen, auf dass Christus zunehme." Oder: "Ich bin nur der Freund des Bräutigams." Der Priester muss wie Johannes der Täufer sein, er darf nicht den Platz Christi, des Bräutigams, als Quelle der Liturgie einnehmen.
Ich erinnere mich an eine weise alte Dame in Kasachstan, die während der Zeit der Untergrundkirche unter der Christenverfolgung zu leiden hatte. Als dann die Freiheit gekommen war, kamen viele Priester aus dem Ausland nach Kasachstan, die ihre je eigene Weise des Zelebrierens mitbrachten. Leider praktizierten einige von ihnen diesen Stil, sich selbst ins Zentrum zu stellen. Eines Tages sagte diese alte Dame in einem Gespräch mit dem Bischof: "Ich sehe drei Arten von Priestern: einmal denjenigen, der vorne steht und Christus hinter seinem eigenen Gesicht und hinter seiner Persönlichkeit versteckt, und das ist kein echter Priester; dann den, der dasteht, und Jesus steht neben ihm, er stellt sich mit Jesus auf die gleiche Ebene und das ist auch nicht richtig; der wahre Priester hingegen verbirgt sich hinter Christus und versteckt sein eigenes Gesicht, sodass Christus der Mittelpunkt ist." Das ist das Gesetz der Liturgie und es ist eine sehr weise Beobachtung einer schlichten Frau, die die Verfolgung erlebt und mit dem Instinkt des Glaubens wahrgenommen hat, dass mit einer versus populum-Zelebration etwas nicht stimmt.
Bei der Zelebration der heiligen Messe versus Deum, wie es in der alten Liturgie üblich ist, geschieht genau das, was die alte Dame sagte - der Priester muss hinter Christus und in gewisser Weise verborgen sein. Wenn der Priester in der alten Liturgie sein Gesicht verbirgt, indem er während des gesamten eucharistischen Hochgebets dem Altar, dem Kreuz zugewendet bleibt, dann sehen die Menschen das Gesicht des Priesters nicht. Sie sehen vielmehr das "Zeichen" des Priesters, was die Wahrheit vermittelt, dass er der Vertreter Christi ist. Er trägt nicht gewöhnliche Kleidung, sondern ist in schöne Gewänder gekleidet und all das deutet auf das Übernatürliche.
Ich finde, da selbst die Engel ihr Gesicht verhüllen (z. B. Jes 6,2), sollten wir es den Engeln gleichtun.
All das verstärkt die zentrale Bedeutung Christi und die Liebe und Verehrung, die wir ihm schulden.
Wenn wir uns in der Liturgie niederwerfen ... sogar diese Gebärden kommen im Evangelium vor: Die Menschen kamen und warfen sich vor Christus nieder. In der himmlischen Liturgie, wie sie in der Apokalypse des heiligen Johannes dargestellt ist, werfen sich die Engel und die vierundzwanzig Ältesten nieder, sie erniedrigen sich und verschwinden gewissermaßen, um Gott und dem Lamm die Ehre zu erweisen (Otfb 7,11). Dieselbe Geste gab es in den ersten Jahrhunderten auch in der Liturgie.
In der lateinischen Liturgie kommt die Geste des vollständigen Niederwerfens in der Karfreitagsliturgie vor, zu Beginn der Liturgie, wenn Priester, Diakon und Subdiakon sich niederwerfen. Vor der Liturgiereform des Jahres 1955 warfen sich die geweihten Diener auch während des ersten Teils der Allerheiligenlitanei in der Oster- und Pfingstvigil nieder. Und diese Geste findet sich auch bei der Spendung des Weihesakraments und bei den feierlichen Gelübden während des Gesangs der Allerheiligenlitanei. Das Sich-Niederwerfen ist eine tiefgründige Geste, eine Geste des Neuen Testaments und der Liturgie des himmlischen Jerusalems, der endgültigen Liturgie. Wir müssen diese Haltung nachahmen. Die Zelebration zum Herrn hin ist in gewisser Weise ein Ausdruck dieser Haltung des Sich - Niederwerfens, denn das Gesicht des Priesters bleibt unsichtbar. Das trifft nicht nur, wie wir bereits besprochen haben, unter dem Gesichtspunkt zu, dass es eine Geste ist, die die theologische Wahrheit ausdrückt, dass wir alle auf den Herrn hin orientiert sind; sondern es ist das Gesetz des Gebets, das, um es noch einmal zu sagen, bereits im Alten Testament und sogar in Naturreligionen gilt.
Unsere Liebe Frau betete auf diese Weise im Tempel, wenn sie jedes Jahr mit dem heiligen Josef und dem Jesuskind in den Tempel kam. Alle waren dem Allerheiligsten zugewandt. Es wäre für die Heilige Familie und für die Apostel unvorstellbar gewesen, in einem Kreis zu stehen, während sie im Tempel oder in der Synagoge beteten. Es wäre eine Gotteslästerung gewesen, den Thora-Rollen in der Synagoge den Rücken zuzukehren. Die Juden wandten sich in ihren Privathäusern, wenn sie gemeinsam beteten, in Richtung des Tempels in Jerusalem, und so hielt es auch die Heilige Familie in Nazareth. Die Heilige Familie betete die Psalmen als Familie, sie wandten sich in dieselbe Richtung, zum Tempel hin. Wir haben Gottes eigenes Beispiel dafür, wie wir beten sollen, und die Kirche hat das über zwei Jahrtausende beibehalten.
Welche anderen Elemente sehen Sie im Zusammenhang der Umsetzung einer Reform der Reform als wesentlich an?
Als zweiten Schritt im Prozess einer Reform der Reform müssen wir den Kommunionempfang in kniender Haltung und auf die Zunge wieder einführen, wie wir schon besprochen haben. Weitere Elemente der traditionellen Messe sollten in den Novus Ordo eingeführt werden, zunächst nur ad libitum - beispielsweise die Stufengebete, die dem Priester und den Gläubigen helfen, das Heiligtum der Messe in der richtigen Geistesverfassung zu betreten. Das doppelte Confiteor zu Beginn der überlieferten Form der Messe ist ebenfalls pädagogisch sinnvoll und geistlich nützlich. Vor einigen Jahren besuchte ich eine Gemeinschaft von Ordensfrauen und Priestern in Afrika, die der päpstlichen Kommission Ecclesia Dei unterstellt waren, also die überlieferte Form der Liturgie feierten. Die Schwestern betrieben ein Internat für Mädchen und die Priester hatten ein Knabenseminar. Ich feierte die heilige Messe für jede der beiden Gemeinschaften. Zur Messe kam die gesamte Mädchenschule, in die andere das gesamte Knabenseminar. Die heilige Messe wurde als Missa dialogata (Dialogmesse) zelebriert, was der Mentalität der Afrikaner besser entspricht. Ich war bewegt, als die ganze Gemeinde laut und verständlich die Worte "Misereatur tui omnipotens Deus et dimissis peccatis tuis ... "sprach - tuis, "möge Gott dir deine Sünden vergeben."
Ich hörte die kräftigen Stimmen der Kinder, die für mich auf Lateinisch beteten: "Möge Gott dir deine Sünden vergeben." Ich war zu Tränen gerührt, als ich die Stimmen dieser unschuldigen Kinder vernahm, die öffentlich und feierlich für mich, einen Sünder, beteten.
"Aus dem Munde von Kindern ... " (Mt 21,16).
Ja, an eben diese Worte unseres Herrn musste ich denken. Zuerst bekannte ich meine Sünden den Kindern, nannte sie Brüder und sagte: "Ich bekenne euch", vobis fratres, quia peccavi nimis, "dass ich schwer gesündigt habe". Dann bekannten sie mir ihre Sünden und sagten: "Ich bekenne dir, Vater", et tibi, Pater. Das muss jeden anrühren, der sich auch nur einen Rest des Gefühls für das Religiöse oder Übernatürliche bewahrt hat. Warum kann man nicht das doppelte Confiteor zu Beginn der heiligen Messe in sämtlichen katholischen Kirchen wiedereinführen? Ich finde, in Zukunft sollte das doppelte Confiteor - also das Confiteor, das zuerst vom Zelebranten allein und dann von den Ministranten oder von der gesamten Gemeinde gesprochen wird - wegen seines großen pädagogischen Wertes und seines geistlichen Reichtums wieder als Norm eingeführt werden. Es lebt darin der Geist der Familie, in der der Vater seine Sünden - nicht im Einzelnen - vor seinen Kindern bekennt und dann die Kinder vor ihrem Vater. Damit kommt die Wahrheit zum Ausdruck, dass die Kirche gleichzeitig Gemeinschaft und Hierarchie ist, wie Paulus es formulierte: "Ihr alle seid einer in Christus Jesus" (Gal 3,28), und: "Wie der Leib nur einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber trotz ihrer Vielheit einen einzigen Leib bilden, so ist es auch mit Christus" (1 Kor 12,12). Das doppelte Confiteor erinnert uns außerdem an die Worte des Apostels Jakobus: "Bekennt einander eure Sünden" (Jak 5,16).
Der neue Messritus verdunkelte teilweise den hierarchisch aufgebauten mystischen Leib Christi, der im Messritus zum Ausdruck kommen muss. In der neuen Messe beten Priester und Gläubige das Confiteor gemeinsam, unterschiedslos. Den Priester und die Gläubigen auf dieselbe Ebene zu stellen, ist protestantische Denkweise und entspricht nicht dem apostolischen, hierarchischen katholischen Denken.
Und wie steht es mit den Offertoriumsgebeten aus der überlieferten Messe: Würden Sie auch diese in den Novus Ordo wiederaufnehmen?
Ja, unbedingt. Die Reform der Reform muss all die theologisch tiefen und wunderschönen Gebete des Offertoriums wiedereinführen, die im römischen Ritus über rund tausend Jahre in Gebrauch waren. Verbindlich wurden sie mit dem Messbuch von Pius V. im Jahr 1570. Die überlieferten Offertoriumsgebete waren in mehreren Messbüchern jedoch bereits Ende des 1. Jahrtausends enthalten, das geht aus Manuskripten hervor, die sich zwar in den Formulierungen unterscheiden, alle jedoch vom gleichen Geist beseelt sind. Diese schönen alten Offertoriumsgebete sind - auf symbolische Weise - eine Art Vorgeschmack und Vorwegnahme des unaussprechlich erhabenen Augenblicks des "Wunders aller Wunder" (miraculum miraculorum) der eucharistischen Wandlung. Sämtliche östlichen Liturgien haben diese Form der Vorwegnahme in den Offertoriumsgebeten. Das ist eine gemeinsame Tradition aller Riten und wir müssen das in der neuen Messe wieder einführen. Wir können die neuen Offertoriumsgebete nicht beibehalten, die in der gesamten Überlieferung der katholischen Liturgie einen Fremdkörper darstellen.
Die neuen Offertoriumsgebete sind ein Fremdkörper? In welchem Sinn?
Sie sind der Liturgie wesensfremd. Sie wurden am Tisch der Kommission von Pater Annibale Bugnini erfunden. Sie stammen aus dem Ritus des jüdischen Sabbatmahls. Aber wir feiern in der heiligen Messe kein jüdisches Sabbatmahl. Wir setzen auch das Letzte Abendmahl nicht fort. Nein! Während der heiligen Messe, und ganz konkret während der doppelten Wandlung, ist Golgota sakramental und wirklich gegenwärtig. Deshalb müssen die Offertoriumsgebete bereits auf vorwegnehmende Weise das Geheimnis des Opfers auf Golgota zum Ausdruck bringen. Die Kirche feierte die Messe immer in dem Bewusstsein, dass sie das Kreuzesopfer liturgisch beging.
Außerdem haben Kardinal Ratzinger und Kardinal Sarah betont, dass das eucharistische Hochgebet, der Canon Missae, still rezitiert oder gebetet werden muss, oder jedenfalls zumindest mit verhaltener Stimme, um während der heiligsten Augenblicke der sakramentalen Vergegenwärtigung des höchsten Opfers eine Atmosphäre der Betrachtung und Anbetung zu schaffen. Es sind dies ja tatsächlich die heiligsten Augenblicke, die der Mensch hier auf Erden erfahren kann.
Wenn all diese Elemente der überlieferten Messe - die Zelebration ad Deum, die kniende Mundkommunion, die Stufengebete mit dem doppelten Confiteor, die überlieferten Offertoriumsgebete, der still gebetete Kanon - in die neue Messe eingeführt würden, dann hätten wir bereits die Liturgie aller Zeiten in großem Ausmaß wiederhergestellt.
In Zukunft dürfte die reformierte Liturgie des römischen Ritus dann natürlich nur ein einziges eucharistisches Hochgebet, eben den römischen Kanon, haben.
Und der Friedensgruß? Aus dem Jahr 2008 gibt es den Bericht, dass Papst Benedikt erwog, ihn vor das Offertorium zu verschieben, um "einen Moment der Betrachtung zu schaffen, während wir uns auf die Kommunion vorbereiten".
Das Zeichen des Friedengrußes, wie es üblicherweise in der neuen Messe praktiziert wird, ist eine sehr betrübliche liturgische Neuerung, denn es zerstört die Atmosphäre der Betrachtung und Sammlung und der Konzentration auf Christus unmittelbar vor dem Empfang der heiligen Kommunion. Diese neue Form lenkt ab, sie ist laut und lässt eine weltliche Atmosphäre entstehen, die dem Geist der Liturgie fremd ist. Sie fügt der Liturgie ein Element der Formlosigkeit und Banalität zu. Wir müssen diese ehrfurchtslose Form des Friedensgrußes abschaffen. Es ist unnötig, dass die gesamte Gemeinde diesen Friedensritus vollzieht. Es reicht, wenn der Klerus am Altar sie im Namen der Gemeinde vollzieht, und das sollte auf ehrfürchtige und würdige Art geschehen, so wie es in der älteren Form des römischen Ritus (usus antiquior) der Fall ist, wo der Priester und die liturgische Assistenz sich in geordneter, zurückhaltender und gesammelter Haltung umarmen. Die Gläubigen, die diese würdige und sakrale Art des Friedensgrußes sehen, können in ihrer Seele eine Haltung des Friedens und der Liebe zu ihrem Nachbarn und Nächsten erwecken oder nähren. Wir könnten uns vorstellen, als mögliche äußere Form, in der die Gläubigen sich den Frieden des Herrn geben, dass man sich leicht und unaufdringlich zum Nachbarn hinwendet und eine kleine Verbeugung macht, ohne ihn anzusprechen und zu berühren. Das sollte allerdings nicht in jeder Messe geschehen, sondern nur bei besonderen und feierlichen Anlässen.
Meinen Sie, dass es reicht, diese Elemente in die neue Messe einzufügen, oder glauben Sie, dass der Novus Ordo irgendwann ganz abgeschafft werden sollte?
Die Abschaffung des Novus Ordo halte ich nicht für realistisch. Man kann das in großem Umfang nicht durchführen. Wir müssen die beständige überlieferte Form der Messe Schritt für Schritt, auf ganz organische Weise wiederherstellen. Wir dürfen nicht einen weiteren Bruch vollziehen, sondern müssen behutsam vorgehen. Nur die Dinge, die absolut notwendig sind, sollten in allen katholischen Kirchen des römischen Ritus mit päpstlicher Autorität angeordnet werden: die Zelebration ad Deum und der kniende Kommunionempfang auf die Zunge. Die anderen erwähnten Elemente sollten als Möglichkeit, als Empfehlung hinzugefügt werden. So könnten sie sich organisch und auf natürliche Weise ausbreiten und nach einigen Jahrzehnten hätten sie sich dann so weit verbreitet, dass sie verbindlich gemacht werden könnten.
Also Jahrzehnte. Meinen Sie, dass dann die ordentliche und die außerordentliche Form der Messe immer noch nebeneinander Bestand haben, mit den zusätzlichen Elementen im Novus Ordo?
Ja, ich glaube, dass es beide Formen der Messe noch für eine geraume Zeit nebeneinander geben wird. Die neue Messe wird sich im Lauf der Zeit in organischen Schritten immer stärker der alten Messe annähern, sie wird nicht völlig identisch werden, aber ihr doch sehr . Wir werden dann also wieder einen römischen Ritus mit lediglich einigen kleineren Unterschieden haben: den römischen Ritus des usus antiquior und den römischen Ritus des jüngeren Gebrauchs. Wir hatten ja vor dem Konzil mehrere Variationen des römischen Ritus, beispielsweise den liturgischen Brauch der Diözese von Lyon, von Braga, der einzelnen Orden - der Karmeliten, der Kartäuser, der Dominikaner. Nichts spricht gegen ein Nebeneinander ähnlicher liturgischer Formen oder Bräuche in derselben Ritenfamilie. Es könnte eine Bereicherung sein.
Wie denken Sie über den liturgischen Kalender? Es gibt Stimmen, die den Kalender des alten Ritus anpassen und die neuen Heiligen und Feste ebenfalls aufnehmen wollen.
Was den Kalender betrifft: Zweifellos müssen wir uns auf einen gemeinsamen Kalender einigen. Auch das muss schrittweise geschehen. Die Grundlage muss jedoch der überlieferte Kalender sein, denn der neue Kalender ist pädagogisch nicht so sinnvoll und zu akademisch. Der neue Kalender entspricht nicht der langen, kontinuierlichen und bewährten Tradition der Kirche.
Auch das neue Lektionar wurde in den letzten Jahren zunehmend kritisiert.
Der drei Jahre umfassende Lesezyklus ist zu akademisch, zu anspruchsvoll; mit dem Dreijahreszyklus haben wir aus der Liturgie eine Bibelakademie gemacht. Das widerspricht dem Wesen der Liturgie, ist also pädagogisch nicht geeignet. Wir müssen den Einjahreszyklus wiedereinführen, den Sonntagszyklus, denn die Kirche hat diese Tradition der Sonntagsevangelien bereits seit mindestens dem 5. Jahrhundert. Sämtliche Generationen der Katholiken des römischen Ritus hörten fünfzehnhundert Jahre lang dieselben Evangelien an den jeweils gleichen Sonntagen. Das können wir nicht einfach über Bord werfen. Wir müssen diese gemeinsame Tradition der lateinischen Christenheit wiedereinführen.
Die pädagogische Erfahrung lehrt uns: Es ist besser, weniger, dafür aber wesentliche Abschnitte der Bibel zu hören. Die Gläubigen, die zur Sonntagsmesse kommen, sind keine Schriftgelehrten oder Studenten an einem Bibelinstitut. Wir müssen die entscheidenden Abschnitte der Bibel kennen und dafür sorgt der Einjahreszyklus durchaus. Die Messe ist nicht die Liturgie der biblischen Lesungen; dafür gibt es eine andere Liturgie: das Stundengebet, das Brevier, das Divinum Officium. Das ist die vorrangige Liturgie für das Beten und Lesen der Bibel: Psalmen, biblische Lesungen, Kommentare der Väter.
Die heilige Messe ist im Wesentlichen Anbetungsopfer, nicht primär eine Zeit des Studiums und biblischer Unterweisung. In der überlieferten Liturgie nannte man den ersten Teil der Messe die "Messe der Katechumenen"; dieser Teil war überwiegend katechetischer Natur. Das Wesen der heiligen Messe ist aber das Opfer. Um die Gläubigen in den grundlegenden Wahrheiten des Wortes Gottes und in der Glaubenslehre zu unterweisen, ist der alte Einjahreszyklus ausreichend. Eine fortlaufende Lektüre der Bibel ist in der römischen Tradition für das Stundengebet vorgesehen, vor allem für die Matutin beziehungsweise die Lesehore. Die Kirche als Ganze vollzieht diese fortlaufende Lektüre der Bibel in der Matutin - aber das gilt nicht für alle Gläubigen, denn die normalen Gläubigen sind meistens nicht dazu in der Lage, innerhalb des kurzen Zeitraums der Feier der Liturgie eine große, breitgefächerte Menge an biblischer Information aufzunehmen und gedanklich zu verarbeiten. Für sie reicht es, die entscheidenden Abschnitte des Evangeliums und anderer biblischer Bücher zu vernehmen.
Priester sowie Mönche und Nonnen in Klöstern beten das Stundengebet. Auch viele Gläubige beten das Brevier. Das Stundengebet ist die Liturgie des Wortes par excellence. Die Messe ist von ihrem Wesen her die Liturgie des Opfers. Zwar gehört wesentlich ein Teil dazu, in welchem das Wort Gottes verkündet wird, doch die Verkündigung ist dem Opferteil der Messe untergeordnet, denn die rein geistige und symbolische Gegenwart Gottes im geschriebenen Wort der Heiligen Schrift ist der realen, Fleisch gewordenen Gegenwart Gottes im Sakrament der Eucharistie untergeordnet. In gewissem Sinn können wir den ersten Teil der Messe, die Katechumenen-Messe, mit dem Alten Testament vergleichen und den Opferteil der Messe, die Messe der Gläubigen, mit dem Neuen Testament. Die gesamte Messe ist letztlich Liturgie des Wortes - des Wortes Gottes, das Fleisch geworden ist. Die Liturgie des Wortes im Sinn des geschriebenen Wortes Gottes - Heilige Schrift - vollzieht sich als solche vor allem im Divinum Officium, im Brevier. Deshalb sollte der erste Teil der' Messe nicht als "Liturgie des Wortes" bezeichnet werden, wie es in der neuen Messe üblich ist. Sowohl im Osten als auch im Westen hieß der erste Teil der Messe immer "Messe der Katechumenen".
Warum diese Bezeichnung?
Weil das Ziel des ersten Teils der Messe nicht darin bestand, Bibelkenntnis als solche zu vermitteln, sondern vielmehr grundlegende Unterweisung zum Glaubensbekenntnis zu bieten. Dafür wurden bestimmte passende Kapitel der Bibel ausgewählt und sie reichten zur Unterweisung aus und waren an das geistige Fassungsvermögen der einfachen Gläubigen angepasst.
Ursprünglich mussten Erwachsene, wenn sie auf die Taufe vorbereitet wurden, am ersten Teil der Messe teilnehmen, danach aber hatten sie die Kirche zu verlassen! Dann begann die Messe der Gläubigen, an der nur die Getauften teilnahmen. Die heilige Messe als Ganzes ist die Liturgie des Wortes, des Fleisch - Eucharistie - Opfer gewordenen Wortes. Lediglich den ersten Teil der Messe als "Liturgie des Wortes" zu bezeichnen, ist ein theologischer und liturgischer Reduktionismus, da es die Dimension des Wortes Gottes auf den ersten Teil der Messe beschränkt und außerdem den Ausdruck "Wort Gottes" auf die geschriebene Gestalt beschränkt. Wenn sie überhaupt Begriffe verändern mussten, dann hätten die Liturgiereformer konsequenterweise den ersten Teil der Messe als "Liturgie des geschriebenen Wortes" oder "Liturgie der Heiligen Schrift" oder "Liturgie der Bibel" bezeichnen müssen. Die Liturgie des WORTES (in Großbuchstaben) ist - wegen des menschgewordenen Wortes - die Liturgie des Opfers. Das menschgewordene Wort wurde zum universellen, erlösenden Kreuzopfer und Sein hingeopferter Leib, Sein hingeopfertes Blut werden wahrhaft gegenwärtig, werden Fleisch unter der Hülle der sakramentalen Gestalten auf dem Altar. Wir können uns in diesem Zusammenhang an die genaue theologische Formulierung des heiligen Thomas von Aquin in seinem Hymnus Pange lingua erinnern: "Das Fleisch gewordene Wort macht durch das Wort das wahre Brot zu Fleisch" (Verbum caro panem verum verbo carnem efficit).
Wenn man also den ersten Teil der Messe als "Liturgie des Wortes" bezeichnet, dann ist das irreführend, weil es eine protestantische Sichtweise ist, die als eigentliche Liturgie das Wort, und das heißt hier: die Schrift versteht. Mit "Wort" bezeichnet die protestantische sola scriptura-Theorie das geschriebene Wort, die Bibel, und nicht das menschgewordene Wort im Sakrament. Für Protestanten gibt es kein heiligstes Sakrament, keine authentische Liturgie; es gibt nur Wörter, die zu sprechen und vorzulesen sind. Natürlich glauben sie daran, dass das Wort Mensch geworden ist, doch das ist für sie ein einmaliges, vergangenes historisches Ereignis und die Kirche mit ihren Sakramenten hat keine inkarnatorische Dimension. Es besteht die Gefahr in der reformierten Liturgie, dass die sogenannte "Liturgie des Wortes" und die "Liturgie der Eucharistie" auf dieselbe Ebene gestellt werden - es gebe "zwei Tische", wie man heute gerne sagt. Tatsächlich findet sich beim heiligen Augustinus eine Formulierung, die besagt, dass Gott uns im ersten Teil der Messe mit Seinem Wort am einen Tisch nährt und dass er uns im zweiten Teil der Messe mit Seinem Leib und Blut am Tisch der Eucharistie nährt. Doch mit dieser Analogie betont der heilige Augustinus den Aspekt der geistigen Nahrung, die Gott den Gläubigen während der Messe reicht. Für Augustinus ist die Nahrung der Eucharistie erfüllter, vollkommener; das geht aus seinem Kommentar zu der Episode mit den Emmausjüngern hervor: "Sie erkennen Christus am Brotbrechen. Es handelt sich nicht um jeden Laib Brot, sondern denjenigen, der den Segen Christi erhält und zum Leib Christi wird. In diesem Moment erkennen sie Ihn. Sie waren außer sich vor Freude und gingen schnell zu den anderen" (Sermo 234,2). Und: "Woran wollte der Herr erkannt werden? Am Brotbrechen ... Um unseres Heiles willen wollte Er durch nichts anderes erkannt werden als daran, denn wir würden Ihn nicht im Fleisch sehen und trotzdem sollten wir Sein Fleisch essen" (Sermo 235,3).
Die eucharistische Feier im engeren Sinn steht über dem Bibellesegottesdienst. Wenn man beide Teile der Messe mit der Formulierung "zwei Tische" auf fast dieselbe Ebene stellt, dann führt das objektiv zu der Vorstellung, dass der zweite Teil der Messe, die Eucharistie, von ihrem Wesen her ein Tischdienst ist oder denselben liturgischen und geistlichen Wert hat wie der erste Teil der Messe.
Die Liturgie der Eucharistie ist häufig viel kürzer als die Liturgie des Wortes ...
Das haben Sie richtig beobachtet. Die vorhin erwähnte Formulierung ist gefährlich, weil sie die Gegenwart Christi im geschriebenen Wort und Seine Gegenwart im eucharistischen Sakrament auf dieselbe Ebene stellt. Außerdem reduziert sie, ähnlich wie protestantische Theorien, den zweiten Teil der Messe auf einen Tischdienst. Der eigentliche "Tisch - Augenblick" in der Messe ist der Empfang der heiligen Kommunion an der Kommunionschranke, die in einigen Sprachen als "Tisch des Herrn" bezeichnet wird. Doch der eigentliche Kern, das Wesensinnerste der ganzen Messe - also der Liturgie des Fleisch gewordenen Wortes -, ist das eucharistische Hochgebet, die Konsekration, das Opfer. Der erste Teil muss dem zweiten Teil untergeordnet sein; er muss weniger wichtig und bedeutsam sein, auch was die Zeit angeht. Die Teilung der Messe in zwei Liturgien, also in die "Liturgie des Wortes" und die "Liturgie der Eucharistie", beziehungsweise in "zwei Tische" der Messe, ist eine Verschiebung in Richtung eines anderen theologischen Verständnisses, das tatsächlich dem protestantischen Verständnis sehr viel näher kommt und sich von der apostolischen und katholischen Überlieferung der vergangenen Jahrhunderte entfernt.
In der überlieferten Leseordnung für die Messe hat nur die Fastenzeit eine eigene Lesung für jeden Tag. Im ganzen übrigen Jahr gibt es keine Tageslesungen; lediglich für die Heiligenfeste gibt es eigene Lesungen. Im Allgemeinen besuchen die normalen Gläubigen die Messe nicht täglich und die Kirche ist in dieser Hinsicht ganz mütterlich und sagt: "Wir können die Gläubigen nicht dazu verpflichten, das ganze Jahr über täglich die Messe zu besuchen, also werden sie die fortlaufenden Lesungen auch nicht hören." Die eifrigeren Gläubigen können aber durchaus das Brevier beten und dort finden sich fortlaufende Lesungen. Das ist pädagogisch sehr geschickt. Allerdings gibt es einmal im Jahr eine besondere Tugendschule und das ist die Fastenzeit. Während dieser liturgischen Zeit lädt die Kirche ihre Kinder ein, täglich zur Messe zu kommen. Es ist eine Tugendschule. Deshalb sieht sie ganz pädagogisch tägliche Lesungen für die Fastenzeit vor. Ich würde allerdings nicht während des ganzen Jahres tägliche Lesungen einführen. Es ist geistig gesund und pädagogisch weise, unter der Woche hin und wieder die schöne Epistel und das Evangelium des vorangegangenen Sonntags aufzugreifen. Man könnte auch die Adventszeit als eine besondere Zeit geistiger Sammlung hervorheben, indem man tägliche liturgische Lesungen einplant. Das könnte ein Vorschlag für eine zukünftige Reform einer gemeinsamen Leseordnung für beide Formen des römischen Ritus sein.
Und man vergisst manchmal ja auch, was das Sonntagsevangelium sagte. Wenn man es aber während der Woche wieder hört, denkt man erneut darüber nach. Das ist einem kontemplativeren Leben sehr zuträglich.
Nach dem Konzil legte man Wert auf die Betrachtung des Wortes, sogar auf die Übung der lectio divina, was bedeutet, dass man das Wort Gottes "wiederkäuen" soll. Man liest dieselben Worte wieder und wieder und denkt dann erneut darüber nach. Es ist also eine schöne Gewohnheit, unter der Woche das Wort Gottes "wiederzukäuen". Deshalb ist es gar nicht notwendig, während der Zeit "im Jahreskreis" jeden Tag unterschiedliche Lesungen zu haben'. In der überlieferten Liturgie muss man zu Heiligenfesten, auch wenn es ein einfaches Fest (dritter Klasse) ist, die Epistel und das Evangelium des Heiligen nehmen, das üblicherweise aus den gemeinsamen Heiligenmessen (dem Commune Sanctorum) stammt: Märtyrer, Jungfrauen, Kirchenlehrer, Bischöfe, heilige Frauen und so weiter. Leider muss man in der neuen Messe am Tag von verbindlichen Heiligenfesten nicht die Lesungen aus dem Commune Sanctorum nehmen, sondern kann stattdessen mit den fortlaufenden Lesungen im Jahreskreis weitermachen. Oft harmonieren diese Lesungen und der Charakter des in der Messe gefeierten Heiligen nicht miteinander. Im alten Kalender haben Sie mindestens zwei- oder dreimal in der Woche einen Heiligen oder eine Heilige mit seinen oder ihren dazugehörigen Lesungen, außerdem gibt es noch die Möglichkeit der Votivmessen. Kurz: Die Wiederholung der Sonntagslesungen kann auch nie überhandnehmen.
Um diese Betrachtungen zur Reform des liturgischen Kalenders abzuschließen: Es könnten mehr Auswahlmöglichkeiten für die biblischen Lesungen an Heiligenfesten geschaffen werden. Auf diese Weise könnte die Leseordnung der überlieferten Messe und des Kalenders etwas angereichert werden, was auch der Absicht der liturgischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Sacrosanctum Concilium entspricht. Im Allgemeinen sollten wir einen gemeinsamen Kalender für den Vetus Ordo und den Novus Ordo anstreben, der auf dem alten Kalender aufbaut, mit einigen sinnvollen neuen Festen, die im neuen Kalender enthalten sind.
Wie denken Sie über den Stellenwert der lateinischen Sprache in der Liturgie?
Es ist ein Gesetz seit jeher, sowohl im Alten Testament wie auch in anderen Religionen, dass es eine sakrale Sprache gibt. Der Islam bedient sich in ausnahmslos allen Ländern des klassischen Arabisch. Die Juden bis zur Zeit Jesu hatten eine sakrale Sprache für die Liturgie, denn sie mussten Hebräisch für die Psalmen und Gebete in der Synagoge und im Tempel benutzen, nicht die übliche aramäische Sprache, die Jesus Christus sprach und die im Alltag verwendet wurde. Auch unser Herr und die Apostel hielten sich an das Prinzip einer Sakralsprache. Sie hatten den Targum, die Kommentare zu den heiligen Schriften, die in den Synagogen nach der - auf Hebräisch vorgetragenen - Bibel gelesen wurden. Nicht jeder verstand das Hebräische gut, daher lasen es die Rabbis übersetzt in die aramäische Sprache, die damals übliche Alltagssprache. Das zeigt uns, dass es eine liturgische Sprache geben muss. Die gesamte Liturgie in der Volkssprache zu feiern, in der Alltagssprache, die auf der Straße gesprochen und in den Zeitungen benutzt wird, das widerspricht aller religiösen Erfahrung und der beständigen Überlieferung der Kirche.
Wir müssen das Prinzip einer Sakralsprache wiedereinführen, denn eine solche Sprache bringt auch zum Ausdruck, dass Gott ein unaussprechliches Geheimnis ist. Er kann nicht in Worte gefasst werden. Die lateinische Sprache ist ein Instrument, um die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, dass wir Gott mit unserem Verstand nicht völlig erfassen können, dass Er ein Geheimnis bleibt. Der Ausfall einer sakralen Sprache ist ein Zeichen für eine Intellektualisierung des öffentlichen Gottesdienstes. Jeder spricht in seinen privaten Gebeten mit Gott natürlich in seiner Muttersprache, doch, wenn wir im Gottesdienst, im Kult sprechen, dann sprechen wir öffentlich über die Wahrheit Gottes, der ein unaussprechliches Geheimnis ist - ein Geheimnis, das faszinierend ist, uns anzieht, das aber auch nicht ausgedrückt werden kann, ein ehrfurchtgebietendes und faszinierendes Geheimnis: mysterium tremendum et fascinosum. "Gott ist ein verzehrendes Feuer" (Hebr 12,29): Das steht nicht im Alten, sondern im Neuen Testament. Wir müssen das Geheimnis Gottes also verhüllen, was auch durch eine liturgische, sakrale Sprache geschieht.
Allerdings hat nach dem Konzil der lateinische Ritus seine sakrale Sprache fast vollständig verloren. Das steht im Widerspruch zur gesamten christlichen Tradition sowie zur Tradition des Alten Testaments und sämtlicher Religionen und es steht auch im Widerspruch zu Ziel und Buchstaben des Zweiten Vatikanums (vgl. Sacrosanctum Concilium, Nr. 36 und 54). Das Zweite Vatikanum vertrat einen ausgewogenen Standpunkt und stellte fest, dass die Volkssprache in der Liturgie in gewissem Ausmaß zugelassen werden sollte: Ihr solle ein gebührender Raum zugebilligt werden, ein Gebrauch in weiterem Umfang, was unterschiedlich interpretiert werden kann. Dieser "Gebrauch in weiterem Umfang" hatte aber den fast ausschließlichen Gebrauch der Volkssprache zur Folge, was der Absicht des Konzils widerspricht. Wir müssen zurückkehren zu einer ausgewogenen Weise im Umgang mit der Volkssprache und die Volkssprache sollte - wie es auch vom Konzil gefordert wurde - lediglich in den Teilen der Messe zum Einsatz kommen, die Lehrcharakter haben, also im ersten Teil der Messe, der Katechumenen-Messe. Dort könnte sie stärker benutzt werden. Wenn es allerdings um das Mysterium als solches geht, das Opfer, dann ist es angemessen, Latein zu verwenden. Zumindest in diesem Teil der Messe müssen wir dahin zurückkehren.
Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam es auch zu einer Vermehrung der eucharistischen Hochgebete.
Ich meine, wir müssten es in der Reform der Reform für die gesamte Kirche des römischen Ritus verpflichtend machen, lediglich ein eucharistisches Hochgebet zu verwenden, und zwar den römischen Kanon. Es ist ein typisches Merkmal des römischen Ritus, lediglich ein eucharistisches Hochgebet zu haben. Wenn wir mehrere eucharistische Hochgebete einführen, zerstören wir das Wesensmerkmal der römischen Liturgie. Ostkirchliche Riten haben manchmal mehrere eucharistische Hochgebete (die sogenannten "Anaphorae"), doch das ist spezifisch ostkirchlich. Wir dürfen nicht mischen. Die Schönheit der Kirche besteht ja gerade im Reichtum mehrerer Riten, die ihre ursprünglichen Wesenszüge beibehalten. Ein Wesenszug des römischen Ritus ist es, ein eucharistisches Hochgebet zu haben: den Kanon. Er ist eine Parallele zum Glaubensbekenntnis, dem canon fidei. Wir haben in der Messe nach römischem Ritus lediglich ein Glaubensbekenntnis; nicht an unterschiedlichen Sonntagen das Bekenntnis Nr. 1, Bekenntnis Nr. 2, Bekenntnis Nr. 3 und so weiter. Wir müssen zum einen eucharistischen Hochgebet für die gesamte Kirche des römischen Ritus zurückkehren und dazu, dass dieses Gebet leise gesprochen wird - oder zumindest in verhaltener Lautstärke -, um das Geheimnis angemessener zum Ausdruck zu bringen.
Um zur Frage der Rolle des Lateinischen in der Liturgie zurückzukommen - welche Teile der neuen Messe müssten in lateinischer Sprache wiederhergestellt werden?
Um die Einheit der gesamten römischen Kirche zu erhalten, sollte die neue Messe lateinische Formulierungen enthalten, die in sämtlichen Kirchen weltweit gebräuchlich sind. Das eucharistische Hochgebet - das mit der Präfation beginnt und mit Per ipsum et cum ipso endet - sollte in sämtlichen katholischen Kirchen auf Lateinisch gebetet werden, sodass es allen unterschiedlichen Sprachen und Völkern gemeinsam ist. Mindestens dies sollte immer auf Lateinisch gebetet werden und außerdem der kurze Eingangsdialog: Dominus vobiscum bis Dignum et justum est. Das ist von den Menschen nicht zu viel verlangt. Selbst die einfachsten Leute können diese kurzen Antworten lernen.
Häufig scheinen ja außerdem die Laien wie kleine Kinder behandelt zu werden - die ihr eigenes Potential nicht entfalten können, weil nichts von ihnen erwartet wird. Ich muss an die Diskussion vor wenigen Jahren denken an lässlich der neuen englischen Übersetzung der Messe. Ein Bischof in den USA sagte, wir sollten das Wort "konsubstantial" besser nicht verwenden, weil es die Laien überfordern würde. Wenn man mit einem Kind ewig so spricht, als wäre es noch ein Baby, dann wird es nie ein reiches Vokabular entwickeln. Man unterschätzt sein Potenzial und erweist ihm damit einen Bärendienst. Verhält es sich nicht mit der Liturgie ganz ähnlich, schaden wir nicht eher jungen Leuten und Erwachsenen mit dieser Schonhaltung?
Ich erwähnte ja schon, was ich in Afrika erlebt habe: dass kleine Kinder in perfektem Latein antworteten, selbst ihre Aussprache war schön. Es war bewegend für mich, die kleinen Schuljungen in perfektem Latein langsam das Confiteor, das Misereatur, das Suscipiat Dominus sprechen zu hören. Diese afrikanischen Kinder sprechen besser Latein als einige Priester, besser als einige Bischöfe heutzutage. Ja, tatsächlich, sogar Bischöfe! Es gibt Bischöfe, die das liturgische Latein nicht richtig aussprechen können. Ich verurteile sie nicht - es wurde ihnen einfach im Seminar nicht vermittelt. Wenn Leute unterwegs sind, dann können sie sich, wenn sie wenigstens einige lateinische Wendungen in der Messe hören, zu Hause fühlen, weil es dieselben Formulierungen sind, die sie gelernt haben und die auch bei ihnen zu Hause verwendet werden.
Wir sollten also den Gebrauch des gregorianischen Gesangs für die neue Messe in der gesamten Kirche fördern, was auch dem Wunsch des Zweiten Vatikanischen Konzils entspricht, allerdings leider kaum umgesetzt wurde. Man könnte es als eine allgemeine Regel der Kirche formulieren, dass Kathedralen, Basiliken, wichtige Heiligtümer und die Kirchen großer Stadtgemeinden mindestens einmal im Monat eine Sonntagsmesse vollständig in Latein haben sollten (natürlich mit Ausnahme der Lesungen) und dass das Ordinarium als gregorianischer Gesang gestaltet ist. Das würde im Lauf der Zeit die lateinische Sprache in der gesamten Kirche verbreiten. Nach zwei Generationen würden die meisten Katholiken manche grundlegenden Antworten auf Lateinisch und einige gregorianische Gesänge kennen.
Exzellenz, was meinen Sie: Warum zieht die überlieferte lateinische Messe eine zunehmende Zahl junger Menschen an, junge Familien und vor allem junge Männer? Was macht die überlieferte Messe für sie so anziehend?
Die überlieferte lateinische Messe ist tatsächlich die Messe aller Zeiten und aller katholischer Generationen, nicht in dem Sinn, dass jedes kleine Detail des Ritus erhalten blieb, sondern hinsichtlich der eigentlichen Wesensmerkmale. Sie ist die Messe aller Zeiten, weil ihr Ritus klarer und schöner die wesentliche Wahrheit des Opfers zum Ausdruck bringt, also die Anbetung Gottes des Vaters, die Sein eingeborener Sohn Jesus Christus für die gesamte Schöpfung in der Kraft des Heiligen Geistes am Kreuz darbrachte. Die heilige Messe sollte, soweit es irgend möglich ist, durch ihren Ritus die Ehrfurcht und die Schönheit des Gebets widerspiegeln, die der Heiligen Dreifaltigkeit von der triumphierenden Kirche im Himmel dargebracht wird.
Gott hat in die menschliche Seele eine tiefe Sehnsucht nach Wahrheit und Schönheit gelegt. Je reiner eine menschliche Seele ist und je mehr sie mit den Gnaden des Glaubens gefüllt ist, desto spontaner wird sie von der übernatürlichen Wahrheit und der übernatürlichen Schönheit angezogen. Deshalb werden die reinen Seelen unschuldiger Kinder, die offenen Seelen junger Menschen, die Seelen einfacher, gläubiger Menschen, Seelen, die von der klerikalen Ideologie des Anthropozentrismus in der Liturgie noch nicht vergiftet sind, vom Magnet der Wahrheit, Ordnung und Schönheit angezogen, den die traditionelle lateinische Messe ausstrahlt.
Junge Menschen fühlen in den Tiefen ihrer Seele, dass sie für ein höheres Ideal geboren sind, sogar für Heroismus. Der Stil der Novus-Ordo-Messe mit seiner entschieden verminderten Sakralität und rituellen Schönheit vermittelt stattdessen Mittelmäßigkeit. Junge, wirklich gläubige Menschen fühlen sich von Mittelmäßigkeit nicht angezogen. Der Ritus der überlieferten lateinischen Messe vermittelt außerdem eine klare hierarchische Ordnung und in gewisser Weise sogar den feierlichen Ernst militärischer Disziplin, also Merkmale, die speziell junge Männer anziehen.
Die Tatsache lässt sich nicht leugnen, dass jedenfalls seit der Veröffentlichung des epochalen Motu Proprio von Benedikt XVI. Summorum Pontificum die überlieferte lateinische Messe zunehmend zur Messe der Jugend geworden ist. Introibo ad altare Dei: ad Deum qui laetificat iuventutem meam, "Zum Altare Gottes will ich treten, zu Gott, der meine Jugend erfreut." Diese Worte des 42. Psalms, die zu Beginn der überlieferten lateinischen Messe gesprochen werden, verkünden eine Tatsache, die wir alle sehen und an der wir uns freuen können: Die überlieferte lateinische Messe zieht immer mehr junge Menschen an, junge Familien und vor allem junge Männer.
Allerdings trifft diese breite Welle von Interesse häufig auf Unverständnis, Kaltschnäuzigkeit oder regelrechte Feindseligkeit.
Der gegenwärtige Papst und die Bischöfe sollten auf die lauter werdende Stimme der jungen Menschen hören, die eine Wiederherstellung der lebendigen, verehrungswürdigen Welt übernatürlicher Wahrheit und Erhabenheit verlangen, wie sie die überlieferte lateinische Messe darstellt. Der Ruf der jungen Menschen lässt sich folgendermaßen umschreiben: "Nun kennen und lieben wir den liturgischen Schatz unserer Mutter, der Kirche - jenen Schatz, den man uns geraubt hat!"
Der deutsche Romanschriftsteller Martin Mosebach schreibt über das Motu Proprio Summorum Pontificum von Papst Benedikt: "Gegen übermächtige Widerstände hat er eine Schleuse geöffnet. Nun muss das Wasser fließen. Von dieser Aufgabe kann sich niemand dispensieren, der das Leben der Liturgie für einen wesentlichen Bestandteil des Glaubens hält. Die Liturgie IST die Kirche - jede im überlieferten Geist gefeierte Messe ist unendlich viel wichtiger als jedes Wort jedes Papstes. Sie ist der rote Faden, der sich durch Glanz und Elend der Kirchengeschichte ziehen muss. Wo sie fortdauert, werden Phasen päpstlicher Willkürherrschaft zu Fußnoten der Geschichte ... Die Totalität des progressistischen Anspruchs ist gebrochen - und das ist das Werk Papst Benedikts" (Martin Mosebach, Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. Hamburg 2019, 265-266).
Heute wird die Wiederbelebung der überlieferten lateinisehen Messe überwiegend von jüngeren Priestern getragen, von jungen Menschen und von jungen Familien. Das ist ein ermutigendes Hoffnungszeichen inmitten einer allgemeinen liturgischen Katastrophe. Die überlieferte Liturgie unserer Mutter Kirche ist unbesiegbar; sie hat von keiner Katastrophe etwas zu befürchten.
16. Reform des Klerus
Exzellenz, Sie sagten, eine Erneuerung wird durch die Rückkehr zu unserem eucharistischen Herrn und durch die Ausbildung katholischer Familien und keuscher Priester mit einem glühenden Eifer für die Rettung der Seelen kommen. Das setzt aber offensichtlich eine tiefgreifende Reform im Kreis der Bischöfe und des Klerus voraus. Wie würden Sie bei der Frage der Ernennung von Bischöfen einen Papst beraten?
Der Papst muss Bischöfe sehr sorgfältig auswählen, denn sie üben so einen großen Einfluss aus. Sie können eine ganze Generation, ja mehrere Generationen einer Diözese auf gute oder schlechte Weise prägen. Das hat sich in den vergangenen fünfzig oder sechzig Jahren mehr als hinreichend gezeigt. Ein ungeeigneter Bischof kann eine Diözese auf Generationen hinaus geistlich zerstören.
Zunächst muss ein Bischof ein Mann Gottes sein. Ich will damit nicht sagen, dass er ein Kandidat für die Seligsprechung sein muss, aber er muss ein Mann Gottes sein, indem er vor allem ein zutiefst geistlicher Mann ist. Das ist für mich die grundlegende notwendige Eigenschaft: Er muss ein zutiefst geistlicher Mann sein. Er muss ein Leben des Gebets führen. Wenn ein Kandidat nicht treu ein Leben des Gebets führt, mit der Liebe zur Messe und zum Breviergebet und dem persönlichen Gebet, dann ist er für das Bischofsamt ungeeignet. Womöglich ist er ein guter Priester, aber als Bischof muss er für seine Priester und seine Gemeinde ein beispielhafter Mann Gottes sein. Er muss also ein betender, ein geistlicher Mann sein.
Die zweite notwendige Eigenschaft ist die Reinheit und Vollständigkeit der rechtgläubigen Lehre und Moral. Das sei betont: Er muss hundertprozentig rechtgläubig sein, mit Treue zur gesamten lehrmäßigen und moralischen Überlieferung der Kirche, ohne Kompromiss und ohne Zweideutigkeit. Er muss ein ausgewiesener treuer Anwalt und Befürworter der Reinheit und Vollständigkeit der katholischen Glaubens- und Sittenlehre sein. Im römischen Kanon heißt es: una cum famulo tuo Papa nostro et Antistite nostro et omnibus orthodoxis atque catholicae et apostolica! fidei cultoribus, das heißt mit denen, und das sind die Bischöfe - die den apostolischen und katholischen und rechten Glauben fördern.
Die dritte Eigenschaft, die ein Bischofbesitzen muss, ist ein guter Charakter und er darf keine ernsten Charakterfehler haben - er soll also auf menschlicher Ebene ausgeglichen sein, denn gratia supponit naturam. Hier müssen wir seine natürlichen Anlagen in Betracht ziehen. Er muss nicht nur ein Mann des Gebets und rechtgläubig sein, er soll auch einen ausgeglichenen Charakter haben, ohne Komplexe und ohne psychische Probleme.
Man möchte doch sehr hoffen, dass Bischöfe keine psychischen Probleme haben.
Ich spreche vor allem vom Charakter. Beispielsweise darf es keine Neigung zu Tyrannei oder Karrierismus geben. Einige sind fromm und rechtgläubig, doch sie haben einen tyrannischen, despotischen Charakter. Wir können sie nicht als Kandidaten für das Bischofsamt zulassen, wenn es offensichtliche Charakterprobleme gibt. Das sollte klar sein - selbst wenn sie rechtgläubig sind. Auf der natürlichen Ebene muss er einen ausgeglichenen Charakter haben und er muss demütig sein. Wir müssen also nach solchen Kandidaten Ausschau halten und sie existieren durchaus.
Was bedeutet bei einem Bischof echte Demut?
Die heilige Theresia vom Kinde Jesu sagt, Demut sei der Mut zur Wahrheit und der Mut zu dienen. Demut bedeutet, dass man in allen Lebenslagen das eigene Ego beiseite lässt. In allem, was man tut, wie man handelt, muss man prinzipiell sein Ego beiseite lassen. Natürlich fängt Demut im Denken an. Demut wird einen Priester oder Bischof dazu bringen, sein Ego und seinen Ehrgeiz beiseite zu schieben und Christus in den Mittelpunkt zu stellen, zusammen mit der Rettung der Seelen und dem Dienst an den Seelen. Also wirklich und in Wahrheit zu dienen, nicht "sein Eigenes zu suchen", wie es der heilige Paulus formuliert (vgl. Phil 2,21), sondern aufrichtig das Gut der anderen suchen. Ich glaube, man kann nur so in wahrer Demut wachsen, dass man sein Ego beiseite schiebt, um Gott, Christus, die Ehre zu geben.
Wir müssen solche Kandidaten für das Bischofsamt suchen und es gibt sie. Der heilige Gregor der Große war sehr anspruchsvoll und penibel bei seiner Auswahl der Kandidaten für das Bischofsamt; manchmal wurde er von Bischöfen dafür getadelt, dass er so anspruchsvoll war. Papst Gregor antwortete: "Es gibt ja tatsächlich gute Kandidaten. Unser Herr sagt im Evangelium: ,Suchet und ihr werdet finden.' Die guten Kandidaten für das Bischofsamt sind allerdings verborgen. Diejenigen, die nicht geeignet sind, präsentieren sich häufig selbst für das Bischofsamt. Ich hingegen will die verborgenen Kandidaten suchen" (Vgl. In prim um librum regum 6,85). Suchet und ihr werdet finden. Auch in unseren Tagen müssen wir sie aufspüren.
Eine der wichtigsten Aufgaben des Papstes besteht darin, der Kirche wahrhaft gute und geisterfüllte Männer für das Bischofsamt zuzuführen. Der Papst muss die Bischöfe und die gesamte Kirche im wahren katholischen Glauben stärken und echte Gottesmänner für das Bischofsamt aussuchen. Die beiden wichtigsten Aufgaben des Papstes sind ja doch: die Brüder im Glauben zu stärken und die universale Kirche mit geistlichen, rechtgläubigen Bischöfen zu versorgen. Wenn die Bischöfe eifrig den katholischen und apostolischen Glauben fördern, dann werden sie den Glauben ihrer Diözese auf Jahrzehnte und darüber hinaus reformieren und erneuern. Das ist die beste Strategie, um die Kirche zu erneuern, sogar von einem menschlichen Standpunkt aus. Deshalb gelang es den Feinden der Kirche, denen die entscheidende strategische Bedeutung des Bischofsamtes durchaus bewusst war, direkt oder indirekt den Prozess der bischöflichen Ernennungen zu unterwandern, vor allem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Es wäre unaufrichtig, diese Tatsache zu leugnen; die dürftige Qualität vieler Bischofs- und Kardinalsernennungen im Lauf der vergangenen fünfzig Jahre ist doch für uns alle offensichtlich.
Päpste haben vor allem seit Papst Johannes Paul II. beträchtliche Zeit auf apostolischen Reisen verbracht.
Der Papst muss nicht reisen. Er sollte nur sehr wenig reden und den Bischöfen die Möglichkeit geben, ihr Amt auszuüben, denn sie sind die Lehrer des Glaubens in ihren Diözesen. Der Papst soll seine kostbare Zeit dazu nutzen, um diskret Komitees zu organisieren zum Zweck der Suche nach guten Kandidaten für das Bischofsamt, ohne sich auf irgendwelche Kompromisse einzulassen. Wenn ein guter Kandidat ausgewählt wurde, dann wird er sehr wahrscheinlich zunächst von den Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche angegriffen werden, die mit viel Getöse darauf beharren werden, dass dieser gute Bischof abgesetzt wird. Der Papst muss diesen guten Bischof unterstützen und die anderen Bischöfe dazu auffordern, es ihm gleichzutun. Zu dem guten Bischof soll er, wenn dieser angegriffen wird, sagen: "Wir werden Sie nicht im Stich lassen, wir werden Sie beschützen und wir werden keinem Druck nachgeben."
Die Geschichte hat gezeigt, dass der Heilige Stuhl sich bei Bischofsernennungen hin und wieder auf politische Kompromisse eingelassen hat.
Es ist bedauerlich, gerade in unserer Zeit, dass der Heilige Stuhl häufig wahrhaft gute und heilige Bischöfe auf dem "Altar" politischer Zweckmäßigkeit geopfert hat. Die Geschichte und die Erfahrung haben immer und immer wieder gezeigt, dass solche Kompromisse der Kirche bei der Förderung des katholischen Glaubens und des Königreichs Christi nicht helfen.
Wenn wir einen Blick zurück in die Geschichte werfen, dann sehen wir, dass die Haltung politischen Kompromisses bereits im 19. Jahrhundert mit Papst Pius VII. begann, als er auf Napoleons Aufforderung hin fast vierzig Diözesanbischöfe in Frankreich absetzte, darunter zahlreiche eifrige Hirten und Bekenner.
Pius VII. hätte einen längeren Atem haben müssen, denn Napoleons politische Niederlage erfolgte lediglich zehn Jahre später. Andererseits gab Pius IX. nicht dem Druck Bismarcks nach, des mächtigen antiklerikalen Kanzlers des Deutschen Reichs. Stattdessen unterstützte er kompromisslos die heroischen deutschen Bischöfe während des Kulturkampfes. Die deutschen Bekennerbischöfe des Kulturkampfs sind nach wie vor ein ruhmreiches historisches Beispiel.
Ein weiteres trauriges Beispiel eines ungehörigen politischen Kompromisses vonseiten des Heiligen Stuhls, von dem wir bereits gesprochen haben, war die sogenannte "Ostpolitik" mit den Regierungen der kommunistischen Länder in Europa, vor allem während des Pontifikates von Paul VI. Die Absetzung von Kardinal Mindszenty als Erzbischof und Primas Ungarns, die Paul VI. auf eine Aufforderung des kommunistischen ungarischen Regimes hin vornahm, war ein großes Unrecht und bleibt eine Schande, die die Ehre des Heiligen Stuhls befleckt hat.
In unserer Gegenwart erleben wir, wie der Heilige Stuhl Kompromisse mit dem kommunistischen Regime in China schließt. Heroische Bischöfe, Priester und Gläubige der Untergrundkirche werden geopfert, damit vom Regime gestützte Bischöfe, zu denen auch politische Opportunisten gehören, akzeptiert werden. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir das Motto von Papst Gregor VII. ein: Die Kirche muss casta et libera sein, "keusch und frei". Der Bischof soll sich Mühe geben, auf dass "die heilige Kirche, die Braut Gottes, unsere Herrin und Mutter, die Schönheit wiedererlangt, die ihr zusteht, und frei, keusch und katholisch bleibt" (Ep. 64). Eine keusche Kirche hält an der Reinheit der Lehre fest und am keuschen Leben des Klerus; eine freie Kirche bewahrt sich in geistlichen Belangen ihre Unabhängigkeit von weltlichen Mächten.
Exzellenz, Sie haben erwähnt, dass Bischöfe häufig ihre Gläubigen nicht unterweisen. Was meinen Sie, woran liegt das?
Ich glaube, dass seit dem Konzil die den Bischöfen aufgetragene Aufgabe des Lehrens überschattet wird von übertriebener Bürokratisierung und der Vervielfachung, ja Inflation päpstlicher Verlautbarungen. Das widerspricht der gesunden Tradition der Kirche und den Beteuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils, welches das Bischofsamt neu aufwerten wollte. Der Papst muss für das Bischofs- und für das Kardinalsamt sehr gute Kandidaten wählen, ohne sich auf irgendwelche Kompromisse einzulassen. Er darf für das Bischofsund für das Kardinalsamt nur echte Gottesmänner auswählen, deren Treue zur Überlieferung der Kirche über jeden Zweifel erhaben ist: hinsichtlich der Reinheit der Lehre, der Liturgie und sittlicher Unbescholtenheit. Die Apostel und Kirchenväter hätten einen Bischof nie aufgrund weltlicher politischer Erwägungen ernannt. Die Kirchengeschichte hat diese Wahrheit überzeugend bewiesen. Tatsächlich ist es für die missionarischen Bemühungen der Kirche und das geistliche Heil der Seelen besser, weniger Bischöfe und Kardinäle zu haben als lehrmäßig und geistlich schwache, politisch korrekte Bischöfe ...
Und Kardinäle, die dem Papst weise Berater sein sollen ...
Genau. Diejenigen, die einen Papst wählen, sollten von einem tiefen und apostolischen Geist der Heiligkeit und der Treue zur zeitlosen Lehre der Kirche beseelt sein.
Was meinen Sie, wie sollte ein zukünftiger Papst das Kardinalskollegium reformieren?
Die erste Aufgabe des Papstes ist es, die gesamte Kirche in der Glaubenslehre zu stärken. Wenn er spricht, muss der Papst sehr achtsam sein, zurückhaltend und präzise. Er sollte nicht häufig sprechen, und wenn er spricht, sollte er sich deutlich äußern und eher die Bischöfe in ihren Diözesen sprechen lassen. Der Papst sollte seine Zeit nutzen, um gute Kandidaten für das Bischofsamt auszuwählen und sein Kardinalskollegium mit wirklich frommen Männern zu erneuern, die nicht weltlich gesinnt sind, die rechtgläubig und hundertprozentig der Überlieferung der Kirche verpflichtet sind.
Später einmal, wenn die gegenwärtige Kirchenkrise vorüber ist, muss das Kardinalskollegium vom Umfang her kleiner werden, denn es wird sehr viel leistungsfähiger sein, wenn es kleiner ist. Das erste Kriterium für die Wahl von Kandidaten für die Kardinalswürde sollte nicht die geografische Repräsentanz sein, sondern die Qualität. Die Kirche und der Papst sollten sich nicht gezwungen fühlen, Kandidaten aus jeder geografischen Region zu ernennen. Das ist falsch. Natürlich wäre es wünschenswert, Kardinäle aus allen Teilen der Welt zu haben, doch nur unter der unverzichtbaren Bedingung, dass es sich um wirklich passende Kandidaten handelt.
Das Kardinalskollegium beruht nicht auf Geografie, sondern auf der geistlichen Qualität von Männern Gottes, die fähig sind, als Berater des Papstes tätig zu sein.
Was halten Sie hinsichtlich der Ausbildung im Priesterseminar für entscheidend?
Selbst wenn die lehrmäßige Ausbildung in den Seminaren hundertprozentig rechtgläubig und der Überlieferung der Kirche treu ist, bedeutet das nichts, wenn das sittliche und asketische Leben junger Priester und derjenigen, die sich auf das Priesteramt vorbereiten, nicht im Einklang mit dem Geist des Evangeliums ist und mit dem Leben der Apostel und der Heiligen. Priester, die ein mangelhaftes sittliches, asketisches und geistliches Leben führen, werden kaum Frucht bringen, auch dann nicht, wenn sie akademische Grade haben, die katholische Lehre predigen und die Liturgie korrekt feiern. Wenn die Priester sich mit ihrer Lebensführung nicht ganz und gar am Ideal der Apostel orientieren, werden sie nicht viele Früchte bringen. Wir müssen diesen unverzichtbaren Gesichtspunkt der Heiligkeit des Lebens in der priesterlichen Ausbildung auch gegenüber den traditionellen Gemeinschaften betonen, denn das Anliegen, die heilige Messe schön und korrekt zu feiern, überschattet manchmal den fortwährenden und wesentlichen Anspruch auf persönliche Heiligkeit.
Wie lässt sich das am besten umsetzen?
Ich denke, wir müssen den Seminaristen einfach wieder das Beispiel heiliger Priester vorstellen und ihnen die zeitlosen päpstlichen Dokumente über das Priestertum empfehlen, vor allem die Dokumente von Papst Pius X. bis zu Papst Johannes Paul II. - besonders dessen Briefe an die Priester zum Gründonnerstag. In diesen Dokumenten finden sich lehrmäßige, asketische und praktische Normen und Vorschläge, die nicht nur theoretisch bleiben, sondern auch sehr konkret werden. Mir liegt viel an Konkretheit, denn, wenn wir Seminaristen auf die priesterliche Pflicht, sich um Heiligkeit zu bemühen, auf allgemeine, theoretische Weise ansprechen, dann bleibt das häufig wirkungslos. Aus Erfahrung wissen wir: Verba docent, exempla trahunt - Worte lehren, Beispiele ziehen an.
Wir müssen Seminaristen und Priestern konkrete Unterweisungen und praktische Beispiele dafür geben, was sie täglich tun müssen; außerdem, was genau sie in ihrem ganzen Leben vermeiden müssen. Neben dem treuen, aufmerksamen, andächtigen Breviergebet sollen sie täglich das innere Gebet oder die eucharistische Anbetung pflegen, sich um Augenzucht (custodia oculorum) bemühen und eine Form körperlicher Abtötung praktizieren. Seminaristen und Priester müssen - wie jeder echte Christ - absolut jede Form von Pornografie oder das willentliche Anschauen unsittlicher Filme vermeiden. Jeder Seminarist und Priester muss ein intensives geistliches Leben führen. Dazu braucht er einen Seelenführer. Hier können wir beispielsweise dankbar sein für die Personalprälatur des Opus Dei und sein Angebot geistlicher Führung für Priester.
Damit sich eine dauerhafte, wirksame Reform der Kirche wirklich durchsetzen kann, brauchen wir eine erneuerte Liebe zur Reinheit der Lehre, zur Verherrlichung Christi in der Liturgie und in der Gesellschaft und zu persönlicher Heiligkeit bei Bischöfen und Papst, das heißt reformatio ecclesiae in capite et in membris - die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern.
Exzellenz, Sie haben eingehende Studien zu den Kirchenvätern betrieben. Was meinen Sie, wie wichtig ist es für Seminaristen und Priester, die Weisheit der Wüstenväter über die Natur des menschlichen Herzens und das asketische und innerliche Leben wieder zu entdecken?
Die Kirchenväter, vor allem aber die Wüstenväter, gaben uns realistische Beschreibungen vom Zustand der menschlichen Seele, die als Folge der Erbsünde tiefe geistliche Wunden sowohl im Denken als auch im Willen aufweist. Der Verstand des Menschen ist verdunkelt, sein Wille geschwächt. Nur die Gnade Christi kann diese Wunden durch die Gaben übernatürlicher Erleuchtung für den Verstand und die Stärkung des Willens heilen. Erst dann kann der Mensch anfangen, die Wahrheit zu kennen und sich an ihr zu erfreuen und das wahre Gute, das Gott ist, zu lieben und sich nach ihm zu sehnen. Allerdings verlangt Gott die freie Mitwirkung des Menschen und er ruft ihn zum geistlichen Kampf auf, da Gott in seiner unergründlichen Weisheit zulässt, dass der Satan und die bösen Geister den Menschen in Versuchung führen.
Die Wüstenväter waren einerseits erfahrene Psychologen, andererseits sichere geistliche Führer, die die Wechselbeziehung zwischen Natur und Gnade aufzeigten. Sie haben uns sehr nützliche Anweisungen für den geistlichen Kampf hinterlassen. Es fällt auf, dass hervorragende Priester und Bischöfe unter den Kirchenvätern ihre geistliche Schulung entweder bei den Wüstenvätern oder innerhalb einer klösterlichen Gemeinschaft erhielten. Das gilt für den heiligen Athanasius, dessen geistlicher Führer der in der Wüste lebende Antonius der Große war. Die von Athanasius verfasste Biografie des heiligen Antonius war - vor dem Erscheinen der Imitatio Christi des Thomas von Kempen im Mittelalter - eine Art geistlicher "Bestseller". Der heilige Basilius der Große, der heilige Gregor von Nazianz und der heilige Johannes Chrysostomos verbrachten viele Jahre in einer abgeschiedenen Mönchsgemeinschaft; dasselbe gilt für den heiligen Augustinus, den heiligen Hieronymus und für den heiligen Gregor den Großen.
Man könnte sagen, ihre Seminarausbildung erfolgte in einer eremitenhaften, mönchischen Umgebung. Diese Kirchenväter hinterließen uns drei klassische, in mancherlei Hinsicht unübertreffliche Abhandlungen über das Priestertum: die Schrift Apologia de fuga sua (Oratio 2) von Gregor von Nazianz, De sacerdotio von Johannes Chrysostomos und die Regula pastoralis von Gregor dem Großen. Diesen Kirchenvätern zufolge ist der Priester das Hauptwerkzeug in Gottes Werk der Heiligung der Menschen. Die Seelsorge ist die "Kunst der Künste". Die folgenden Worte Gregors von Nazianz sind an die Seminaristen aller Zeiten gerichtet: "Bevor ein Mensch, soweit möglich, die Anhänglichkeit an materielle Dinge überwunden, seinen Geist ausreichend gereinigt und seine Mitmenschen in der Nähe zu Gott weit übertroffen hat, glaube ich, dass es gefährlich wäre, ihn mit der Leitung der Seelen oder mit dem Amt des Vermittlers zwischen Gott und Mensch zu betrauen, weil darin nämlich die Aufgabe des Priesters besteht" (Or. 2, 91). Ich würde das Bild vom Priester, wie die Kirchenväter es vermitteln, mit diesen drei Wesensmerkmalen umreißen: Ein Priester ist ein "Wettkämpfer", ein "Athlet" Christi; ein Mann des Gebets und ein durch und durch apostolischer Mann.
In seiner elf Seiten langen, am 25. August 2018 veröffentlichten Aussage sowie in darauf folgenden Äußerungen sprach Erzbischof Carlo Maria Viganò von der Existenz "homosexueller Netzwerke" im Vatikan und in der Kirche. Und er war nicht der Einzige. Eine Woche vor dem Erscheinen von Viganòs erstem Zeugnis veröffentlichte der mittlerweile verstorbene Bischof Robert C. Morlino aus Madison, Wisconsin, einen Brief, in welchem er sagte, es sei "an der Zeit, zuzugeben, dass es in der Hierarchie der Kirche eine homosexuelle Subkultur gibt': Was würden Sie unternehmen im Hinblick auf die "homosexuellen Netzwerke'; die offensichtlich die Kirche befallen haben?
Ich selbst habe nicht viele Beweise für dieses Phänomen. Allerdings sind die Tatsachen, die bis jetzt zu diesem Thema veröffentlicht wurden, augenfällig und sehr betrüblich. Offenbar spielen diese klerikalen homosexuellen Netzwerke eine viel größere Rolle, als bislang zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangt ist. Mit Sicherheit wurden diese Netzwerke - die sogenannte "Gay-Lobby" - nicht erst gestern geschaffen. Sie müssen im Leben der Kirche über viele Jahre hinweg entwickelt und unterhalten worden sein. Das Eindringen Homosexueller, das heißt von Männern, die Homosexualität praktizieren oder erwiesenermaßen homosexuelle Neigungen haben, in das Priestertum und in die Priesterseminare hat der Kirche sehr großen Schaden zugefügt. Eine der schlimmsten Beschädigungen des Priestertums war und ist die Krise um den Kindesmissbrauch. Es gab selbst in traditionellen Seminaren Fälle, dass sich homosexuelle Seminaristen und Priester unter der Maske der Frömmigkeit und der Liebe zur traditionellen Liturgie eingeschlichen haben. Die Verantwortlichen für die Priesterausbildung müssen bezüglich der homosexuellen Unterwanderung der Seminare sehr wachsam sein.
Könnten Sie das bitte noch näher ausführen?
Diejenigen, die für die priesterliche Ausbildung Verantwortung tragen, müssen wachsam sein und Männer mit erwiesenen homosexuellen Tendenzen ablehnen oder aus den Seminaren entlassen, auch dann, wenn solche Männer hohe geistige Qualitäten oder Frömmigkeit mitbringen. Ich würde einen Erlass mit konkreten bindenden Vorschriften auf gesamtkirchlicher Ebene vorschlagen: über die grundsätzliche Untauglichkeit für das Priesteramt von Männern mit nachgewiesenen homosexuellen Neigungen. Wenn ein Seminarist als erwachsener Mann äußerliche homosexuelle Handlungen begeht oder bewusst homosexuelle Pornografie anschaut, dann muss er kategorisch vom Empfang der Priesterweihe ausgeschlossen bleiben. Es wäre völlig naiv anzunehmen, dass solche Seminaristen durch professionelle Therapie geheilt werden können. Wir müssen bedenken, dass es sich hier nicht um Minderjährige handelt, sondern um Erwachsene, die homosexuelle Akte begehen und homosexuelle Pornographie anschauen.
Gott sei Dank gibt es bei Männern mit homosexuellen Neigungen echte Heilungserfolge. Allerdings sind diese Männer, auch nachdem sie geheilt sind, manchmal in ihrem Gefühlsleben verunsichert und zeigen ein Fehlen psychischer Stabilität. Der beste und sicherste Weg für diese Männer, die von ihrer Homosexualität geheilt wurden, wäre es, eine gute christliche Frau zu lieben und zu heiraten und selbst Kinder zu haben. Die Liebe einer guten Frau und die Kinder werden einen solchen Mann im Lauf der Zeit heilen und seine seelische Beständigkeit und sein Selbstwertgefühl stärken. Der psychisch anstrengende seelsorgliche und zölibatäre Lebensstil eines Priesters jedoch würde für einen solchen geheilten Mann ein zu großes Risiko darstellen. Das Priestertum ist zu erhaben und zu heilig, als dass es als Experimentierfeld herhalten dürfte, um Männer mit erwiesenen homosexuellen Neigungen zu heilen. Die Kirche hat gerade in unserer Zeit bereits zu viele bittere und finanziell kostspielige Erfahrungen mit solchen Priestern gemacht. Das hat dem Ansehen und dem heiligen Auftrag des katholischen Priestertums außerordentlich geschadet.
Exzellenz, in den letzten Jahrzehnten gab es ständig zunehmende Anstrengungen, Homosexualität zu normalisieren. Zumindest die Generation der jungen Menschen wurde durch Fernsehen, Kino und die sozialen Medien, außerdem von Lehrern und teilweise sogar von den eigenen Eltern, dahingehend unterrichtet, dass homosexuelle Beziehungen normal sind, schlicht eine Möglichkeit unter mehreren. Wir wissen, dass das einen vollkommenen Widerspruch zur Sicht der katholischen Kirche von der menschlichen Person und der menschlichen Sexualität darstellt. Was ist das Heilmittel?
Sprechen wir Klartext in geistlicher und moralischer Hinsicht. Praktizierte Homosexualität ist offensichtlich gegen die Natur (Katechismus, Nr. 2357), und zwar so sehr, dass Gott im Alten Testament diesen Akt als eine unter nur einer Handvoll schwerer, himmelschreiender Sünden (Katechismus, Nr. 1867; Gen 18,20-21; 19,13) heraushebt. Gott erachtete den homosexuellen Akt als "Gräuel", der sogar die Todesstrafe verdiene (Lev 18,22; 20,13; Ez 16,50). Der Apostel Paulus verurteilt homosexuelle Akte als widernatürlich und stellt denen, die sie praktizieren, schwerwiegende geistliche Folgen in Aussicht (Röm 1,26-28; 1 Kor 6,9; 1 Tim 1,10). Das war die ungebrochene Überlieferung und Lehre der Kirche. Praktizierte Homosexualität ist schwer sündhaft, außerdem aber auch selbstzerstörerisch für den Einzelnen und schädlich für die moralische Gesundheit einer Gesellschaft.
In europäischen und christlichen Gesellschaften und in anderen Regionen weltweit wurden homosexuelle Akte früher bestraft, da Regierungen diese Akte als moralische Verseuchung der Gesellschaft und als Schändung der Menschenwürde ansahen. Aus rein legalistischer Perspektive ist es für jede Gesellschaft unvermeidlich, dass das Verbot einer Handlung dazu führt, dass die Menschen sie heimlich praktizieren, aber darum geht es nicht. Wo homosexuelle Akte verboten sind und bestraft werden, ist die Gefahr, dass sich ein spezifisches, ansteckendes Übel ausbreitet, bereits vermindert. Vom pädagogischen Standpunkt aus gesehen beschützt ein solches Verbot praktizierter Homosexualität verwundbare Jugendliche und die moralische Gesundheit der Gesellschaft insgesamt wirksamer.
Welche Art von "Bestrafung" würden Sie befürworten, welche eher ablehnen?
Es sollte idealerweise eine Maßnahme pädagogischer und vorbeugender Art sein, um diesen Menschen zu helfen, von ihrer homosexuellen Aktivität freizukommen und sie zu überwinden. Ich bin ganz klar gegen Haftstrafen und jegliche Zwangsmaßnahmen, denn solche Strafen würden die moralische Verfassung und die geistige Gesundheit dieser Personen nur verschlimmern. Jedenfalls könnten Regierungsverantwortliche gleichzeitig Mittel bereitstellen, um diesen Menschen zu helfen, die Würde eines Lebensstils, "ein Mann zu sein" und "eine Frau zu sein", wieder zu erlangen, wie es dem gesunden Menschenverstand und der biologischen geschlechtlichen, vom weisen Willen Gottes erschaffenen Realität entspricht. Alle diese Maßnahmen sollten mit Diskretion unternommen werden, ohne diese Personen zu beschämen oder öffentlich bloßzustellen. Ich überlasse es der fachmännischen Fähigkeit anderer, zu entscheiden, wie ein legal konstruktiver und wirklich hilfreicher Rahmen umzusetzen wäre. Das setzt natürlich eine Regierung voraus, die vom Christentum inspiriert ist, oder zumindest eine Regierung, die anerkennt, dass es notwendig ist, die Grundordnung des Naturgesetzes aufrechtzuerhalten. Heute sind solche Grundlagen offensichtlich verloren gegangen, es muss also zuerst kulturell vieles wiedergewonnen werden, bevor ein solcher Rahmen durchsetzbar wäre.
Exzellenz, was sollte mit entlassenen Klerikern geschehen, die des sexuellen Missbrauchs für schuldig befunden wurden, wie etwa der ehemalige Kardinal Theodore McCarrick?
Der frühere Kardinal und frühere Bischof Theodore MaCarrick und andere Kleriker, die in den Laienstand versetzt wurden, sind letztlich sehr arme Seelen, denn sie müssen vor dem göttlichen Richter detailliert über ihr gesamtes Leben Rechenschaft ablegen, und das wird sehr schwer sein. In wahrer christlicher Liebe für das Heil einer Seele muss man beten, dass diese Männer noch die Gnade einer tiefen Umkehr und Reue empfangen, damit sie die kurze Zeit, die Gott ihnen hier auf Erden noch lässt, für Akte der Wiedergutmachung und Sühne nutzen und mit einem wahrhaft zerknirschten und demütigen Herzen öffentlich für all ihre Missetaten, die sie als Kleriker begangen haben, um Verzeihung bitten. Möge die göttliche Gnade auch im persönlichen Leben dieser in Schande gefallenen Kleriker triumphieren. "Ebenso wird im Himmel mehr Freude sein über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen" (Lk. 15,7).
Das Arbeitsdokument (Instrumentum Laboris) für die bevorstehende Bischofssynode für die Amazonasregion schlägt eine Lockerung der Disziplin des priesterlichen Zölibats für diese Region vor. In Nummer 129.2 des Dokuments heißt es: "In der Überzeugung, dass der Zölibat ein Geschenk für die Kirche ist, wird darum gebeten, im Blick auf die entlegensten Gebiete der Region die Möglichkeit zu prüfen, ältere Männer zu Priestern zu weihen. Diese Männer sollten vorzugsweise Indigene sein, die von ihrer Gemeinde respektiert und akzeptiert werden. Sie sollten geweiht werden, obwohl sie schon eine konstituierte und stabile Familie haben, mit dem Ziel, die Spendung der Sakramente zu sichern, die das Leben der Christen begleiten und stützen. " Kardinal Raymond Burke sagte, dass es "nicht aufrichtig" ist, so zu tun, als "behandle das Treffen im Oktober die Frage des priesterlichen Zölibats nur für diese Region" (Diane Montagna, "Cdl. Burke: Relaxing priestly celibacy for Amazon region would affect universal Church", LifeSiteNews, 20. Juni 2019). Er meinte, wenn die Synode die Frage aufgreift (wobei er der Meinung ist, dass sie das nicht tun sollte), "wird sie eine Disziplin behandeln, die die gesamte Kirche betrifft". Seine Eminenz merkte außerdem an, dass "ein gewisser Bischof in Deutschland bereits angekündigt hat, falls der Heilige Vater eine Lockerung der Verpflichtung zu vollkommener Enthaltsamkeit für den Klerus in der Amazonasregion fordern wird, dann werden die Bischöfe um dieselbe Lockerung nachsuchen".
Ja, es ist ziemlich klar, dass die Amazonassynode als arglistiger Vorwand benutzt wird, um den priesterlichen Zölibat optional zu machen und letztlich abzuschaffen. Denn wenn man den Zölibat für den Diözesanklerus optional macht, dann ist das gleichbedeutend mit der Abschaffung des Zölibats. Die angebliche sakramentale Krise in der Amazonasregion ist der Vorwand. Ich hoffe, dass der Heilige Geist eingreifen und verhindern wird, dass das geschieht. Darum bete ich. Oder dass der Papst ganz klar solche Vorschläge abweist. Auch darum bete ich.
Einige Priester haben behauptet, dass die Abschaffung der Disziplin des Zölibats für den lateinischen Klerus sehr viel tiefergreifende und anhaltendere Wirkungen hervorrufen würde als die lehrmäßige Verwirrung, die wir momentan in der Kirche erleben.
Ich weiß es nicht, das kann sein. Es würde die gesamte Form des Priestertums der lateinischen Kirche verändern, in der Pfarrhäuser dann plötzlich von Priestern und ihren Familien bewohnt würden. Es würde die Form der katholischen Kirche des lateinischen Ritus grundlegend verändern.
Die Frage der Empfängnisverhütung und der Zulassung Geschiedener, die in einer zweiten Verbindung leben, zur heiligen Kommunion ist im Vergleich dazu ein individuelleres Phänomen, denn es gibt keine Zeugen - sie begehen diese Akte, aber es sieht keiner. Mit anderen Worten: Wenn man nicht das Privatleben und die persönliche Geschichte der Menschen in der Pfarrei kennt, dann wissen wir nicht, wer von denen, die zur Kommunion kommen, geschieden ist und wer nicht oder wer Empfängnisverhütung praktiziert und wer nicht. Natürlich ist die Duldung von Empfängnisverhütung und die Zulassung von Ehebrechern zur heiligen Kommunion objektiv gefährlicher. Vom Standpunkt der sichtbaren Effekte jedoch würde die Einführung verheirateter Priester in die lateinische Kirche der Kirche ebenfalls großen geistlichen Schaden zufügen.
Aus diesem Grund hoffe ich, dass der Heilige Geist den Papst - und es muss der Papst sein - erleuchten wird, dass er das nicht zulässt und dass er erneut eine Erklärung herausgibt, dass die lateinische Kirche die Überlieferung des zölibatären Priestertums, die uns von den Aposteln hinterlassen ist, nie ändern wird und nicht ändern kann. Selbst wenn der priesterliche Zölibat kein Dogma ist, so ist er doch so tief im Beispiel von Christus selbst und in der apostolischen Tradition verwurzelt, dass keine Autorität in der Kirche das Recht hat, ihn abzuschaffen. Ein zukünftiger Papst muss eine Erklärung abgeben, die für alle Zeiten gilt und mit der sämtliche Versuche, den priesterlichen Zölibat abzuschaffen, ein für alle Mal ausgeschlossen werden.
Es gibt zahlreiche Studien, die beweisen, dass der Zölibat der Priester nicht nur ein Kirchengesetz, sondern apostolische Tradition ist. 1995 verfasste Kardinal Alphons Stickler das Werk Der Klerikerzälibat. Seine Entwicklungsgeschichte und seine theologischen Grundlagen. Auch mehrere andere bekannte Studien wurden unternommen, erst kürzlich diejenige von Hochw. Stefan Heid, die den apostolischen Ursprung des priesterlichen Zölibats darlegt. Wir können also nicht sagen: "Weil es nur ein Gesetz der Kirche ist, darf der Papst es ändern." Der Papst hat nicht die Autorität, die apostolische Tradition des priesterlichen Zölibats für die gesamte Kirche zu ändern. Wenn der Papst tatsächlich einen "freiwilligen" priesterlichen Zölibat einführen würde oder eine neue Kategorie verheirateter katholischer Priester im lateinischen Ritus durch den Trick der sogenannten viri probati (bewährten Männer), dann wäre der priesterliche Zölibat tatsächlich abgeschafft, und eine apostolische Tradition würde zusammen mit ihm abgeschafft.
Können Sie ein weiteres Beispiel für eine apostolische Tradition nennen, die kein Dogma ist?
Die Säuglingstaufe. Die Kirche kann die Säuglingstaufe nicht verbieten, wie es die protestantische Gruppe der Baptisten getan hat. Dennoch ist es kein Dogma des Glaubens, dass ein Säugling getauft werden muss. Säuglinge sollten getauft werden, und die Kirche empfiehlt, dass Kleinkinder getauft werden. Es ist kein Glaubensdogma, doch es ist eine apostolische Tradition.
Das zölibatäre Priestertum ist die angemessenste und sichtbarste Umsetzung des Priestertums Jesu Christi, auch auf leibliche Weise, denn Christus, unser Hoher Priester, war körperlich jungfräulich. Der Priesterzölibat leitet sich vom Beispiel Jesu Christi selbst ab. Er gab Seinen Leib und Sein Blut am Kreuz jungfräulich hin. Deshalb verlangt die gesamte Tradition der Kirche von einem Priester, der das Opfer Christi in der heiligen Messe darbringt, dass er ebenfalls jungfräulich sein, also sexuell enthaltsam leben soll.
Häufig verbeißen wir im Westen uns in die "Disziplin" des Zölibats oder das "Gesetz" des Zölibats, ohne die tiefere Bedeutung und das Geschenk zu sehen, das es für einen Priester und für die Kirche darstellt.
Das bezieht sich auch wieder auf den inkarnatorischen Bereich - das Zeichen, denn der Priester ist alter Christus, ein anderer Christus. Unser Herr Jesus Christus war sichtbar körperlich ein Mann und lebte auch körperlich jungfräulich. Der Priester muss auf dieser Ebene der Zeichen ein zweiter Christus sein, daher ist es angemessener und erforderlich und notwendig, dass er ein zölibatärer und insofern ein jungfräulicher Priester ist.
Deshalb dürfen in der orthodoxen und griechischen katholischen Kirche - in denen es verheiratete Priester gibt - die Priester in der Nacht, bevor sie die Göttliche Liturgie feiern, keinen sexuellen Verkehr mit ihrer rechtmäßigen Ehefrau haben: Sie müssen zumindest am Tag vor der Feier der heiligen Messe zölibatär sein. Daran können wir sehen, wie unlogisch ein verheiratetes Priestertum ist, denn der Priester muss täglich die Messe feiern und er ist immer Priester, Tag und Nacht; deshalb muss er auch immer im Zölibat leben.
Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mit einem frommen alten Muslim im Zug in Kasachstan hatte. Ich war aufgrund meiner Kleidung als Priester erkennbar, daher begann der Muslim mit mir ein Gespräch über unterschiedliche religiöse Themen. Irgendwann während des Gesprächs sagte er: "Ich habe gehört, dass katholische Priester unverheiratet sind. Wie lange müssen sie unverheiratet bleiben?" Ich antwortete: "Sie müssen ihr ganzes Leben lang unverheiratet bleiben." Der alte Muslim war über meine Antwort sehr erstaunt und sagte: "Ihr ganzes Leben lang? O, Sie tun mir aber wirklich leid! Sie dürfen nicht einmal eine Frau haben - wir Muslime hingegen dürfen vier Frauen haben. Bitte erklären Sie mir, wie es möglich ist, ein ganzes Leben lang unverheiratet zu bleiben!" Ich dachte kurz darüber nach und antwortete: "Ein katholischer Priester bleibt sein ganzes Leben lang unverheiratet, weil er nur und ausschließlich Gott gehören soll. Mit seiner Seele und auch mit seinem Leib, Tag und Nacht, gehört er ausschließlich Gott." Darauf antwortete der alte Muslim: "Wie schön ist das! Ausschließlich Gott gehören, Tag und Nacht! Das habe ich noch nie gehört. Wie schön das ist!"
Danach dachte ich über diese Worte des alten Muslims nach und ich sagte mir: "Dieser fromme alte Muslim beschämt viele katholische Priester und Bischöfe, die sich in unseren Tagen für eine Abmilderung des priesterlichen Zölibats aussprechen oder die darauf hinarbeiten, es ganz abzuschaffen." Ich würde den Teilnehmern an der Amazonassynode, die sich für die Priesterweihe von viri probati aussprechen, also für die Weihe sexuell aktiver Männer, sagen: "Wenn Sie wüssten, was das katholische Priestertum in Wahrheit ist, dann würden Sie sich aus keinem wie auch immer gearteten Grund dafür aussprechen, die apostolische Tradition des priesterlichen Zölibats abzuschaffen."
Das Arbeitsdokument für die Amazonassynode hält auch fest, dass im Licht bestimmter indigener Kulturen die Kirche erwägen sollte, "ob die Jurisdiktionsgewalt (Regierungsgewalt) in allen Bereichen (im sakramentalen, juridischen, administrativen) und auf Dauer mit dem Sakrament der Weihe verbunden sein muss" (Nr. 127). Eine solche Maßnahme könnte sich so auswirken, dass überall auf der Welt die Laien die moralische Autorität und den materiellen Reichtum der Kirche dazu benutzen könnten, die schlimmsten Regierungssysteme zu unterstützen. Es gibt nicht wenige Politiker und Ideologen, die die Milliarden der deutschen Kirche nur zu gerne zur Förderung eines globalen Säkularismus einsetzen würden. Was haben wir von dieser Empfehlung zu halten?
Die katholische Kirche, die Kirche Gottes auf Erden, hat ihre Wesensverfassung von Christus selbst empfangen. Und die Verfassung des gesamten mystischen Leibes Christi auf Erden ist hierarchisch. Unser Heiland setzte die Apostel und ihre Nachfolger in der Hierarchie der Kirche als die einzigen ein, die Seine göttliche Macht haben zu lehren, zu leiten und die Sakramente zu verwalten (vgl. Mt 28,19-20). Papst Pius X.lehrte, dass "die Kirche .. , ihrem Wesen nach eine ungleiche Gesellschaft [ist], das heißt in ihr gibt es zwei Kategorien, die Hirten und die Herde" (vehementer Nos, 11. Februar 1906). Diese selbe, seit der Zeit der Apostel beständige und unveränderliche Lehre wurde erneut beim Zweiten Vatikanischen Konzil vorgestellt, als gesagt wurde, dass "Bischöfe, zusammen mit ihren Helfern, den Priestern und den Diakonen, das Dienstamt in der Gemeinschaft übernommen [haben]. An Gottes Stelle stehen sie der Herde vor, deren Hirten sie sind, als Lehrer in der Unterweisung, als Priester im heiligen Kult, als Diener in der Leitung" (Lumen Gentium, Nr. 20).
Wenn die Ausübung der Jurisdiktion (Leitungsgewalt) von den sakramentalen und rechtsprechenden Bereichen abgetrennt würde, dann wäre es nicht länger die Kirche Christi, sondern stattdessen eine menschliche Einrichtung in Übereinstimmung mit den vorgeblich demokratischen Kategorien des weltlichen und politischen Lebens. Solch eine im Wesen veränderte Struktur dürfte sich nicht mehr katholisch und apostolisch nennen, sondern stattdessen vielleicht "neue katholische Kirche", "reformierte katholische Kirche", "katholische demokratische Kirche", "volksdemokratisch katholische Kirche", aber bestimmt nicht eine, heilige, katholische, apostolische und römische Kirche. Es wäre eine gefälschte katholische Kirche. Und jedes gefälschte Produkt wird eher früher als später zusammenbrechen. Reformen, wie sie das Instrumentum Laboris für die Amazonassynode entwirft, mit denen eine entscheidende Veränderung an der göttlichen Verfassung der Kirche hinsichtlich der sakramentalen und hierarchischen Ordnung der Kirche eingeführt werden soll, werden mit Sicherheit scheitern, denn sie sind reines Menschenwerk, außerdem ein Werk, das dem geoffenbarten Willen Gottes widerspricht. Die göttlich eingesetzte hierarchische Ordnung der Kirche kann durch keinerlei Tricks, Spitzfindigkeiten oder eindrucksvolle Rhetorik verändert oder umgekehrt werden, nicht einmal von einem Papst oder einer Synode, also auch nicht von der Amazonassynode des Jahres 2019.
1997 erklärte die Kirche als Reaktion auf protestantisierende Elemente bei den Katholiken in einem Dokument, das vom Papst eigens bestätigt und von einer sehr hohen Anzahl an Kardinälen unterzeichnet wurde, dass der Terminus "Dienstamt" im Sinn einer eigentlich kirchlichen Rolle nicht auf die Laien angewandt werden kann - Laien sind immer "außerordentlich" im Hinblick auf liturgische Funktionen (Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester, 15. August 1997). Wie sollen wir in diesem Zusammenhang den Antrag der Verfasser des Instrumentum Laboris für die Amazonassynode interpretieren, zu erwägen, ob "ein offizielles Dienstamt" Frauen in der Kirche "übertragen" werden kann, und Frauen "ihre leitende Rolle" in der Kirche zu garantieren (Nr. 129,3)? Was hat die göttliche Offenbarung und die katholische Tradition dazu zu sagen?
Die Übertragung "offizieller Dienstämter" auf Frauen in der Kirche wird lediglich die Verwirrung hinsichtlich der gottgegebenen hierarchischen Verfassung der Kirche steigern. Das Wort ministerium ("Dienst", "Amt") ist bereits durch die ständige Überlieferung der Kirche dadurch definiert, dass es sich vor allem auf die geweihten Diener im Bischofsamt, Priesteramt und im Diakonat bezieht. Die Kirche verwendete das Wort ministerium erstmals als Ausdruck für das Bischofsamt im Zusammenhang mit der Wahl des Matthias, als Petrus sagte: "Herr, der du die Herzen aller kennst, zeige, wen von diesen beiden du erwählt hast, den Platz dieses Dienstes und Apostelamtes (ministerium) zu empfangen, von dem Judas abgeirrt ist, um an seinen Ort zu gehen" (Apg 1,24-25).
Gott gab der Frau ihre unverwechselbare und unersetzliche Aufgabe in der Schöpfungsordnung, und zwar die Mutterschaft. Und ebenso gab Gott der Frau ihre unverwechselbare und unersetzliche Aufgabe in der Erlösungsordnung, also in der Kirche: die geistige Mutterschaft. Sowohl die natürliche als auch die geistige Mutterschaft haben ihre eigene Autorität und ihre eigene Macht. Gott gab der Frau eine besondere Macht über das Herz - diese Macht unterscheidet sich von der Macht des Mannes. Wenn wir anfangen, diese Ordnung auf der natürlichen und der übernatürlichen Ebene umzukehren, dann werden sich daraus schwerwiegende funktionale Störungen ergeben. Bereits der heilige Paulus warnte die Kirche vor dieser Gefahr: "Besteht doch der Leib [der Kirche] nicht aus einem Glied, sondern aus vielen. Würde der Fuß sagen: Weil ich keine Hand bin, gehöre ich nicht zum Leib!, so gehört er doch zum Leib. Und würde das Ohr sagen: Weil ich kein Auge bin, gehöre ich nicht zum Leib!, so gehört es doch zum Leib. Wäre der ganze Leib Auge, wo bliebe das Gehör? Wäre er ganz Gehör, wo bliebe der Geruchssinn? Nun aber hat Gott die Glieder dem Leib eingefügt, jedes Einzelne von ihnen so, wie er es wollte. Wenn aber das Ganze nur ein Glied wäre, wo bliebe dann der Leib? So aber sind zwar viele Glieder da, jedoch nur ein Leib ... Gott hat den Leib zusammengefügt ... , damit kein Zwiespalt entsteht" (1 Kor 12,15-20; 25).
Was können uns die weiblichen Heiligen über dieses Thema lehren?
Eine der bedeutendsten weiblichen Heiligen in der Geschichte der Kirche ist zweifellos die heilige Theresia vom Kinde Jesu. Sie ist außerdem auch Kirchenlehrerin. Die folgenden Worte aus ihrer Autobiografie haben geistlich gesehen Goldwert, und sie sollten ehrlich und in übernatürlicher Weise von sämtlichen Teilnehmern der Amazonassynode erwogen werden. Die heilige Theresia schrieb: "Ich begriff, dass die Kirche ein Herz hat, dass dieses Herz von Liebe brennt. Ich erkannte, dass die Liebe allein die Glieder der Kirche in Tätigkeit setzt, und würde die Liebe erlöschen, so würden die Apostel das Evangelium nicht mehr verkünden und die Märtyrer sich weigern, ihr Blut zu vergießen. Ich begriff, dass die Liebe alle Berufungen in sich schließt, dass die Liebe alles ist, dass sie alle Zeiten und Orten umspannt ... Mit einem Wort, dass sie ewig ist ... Ja, ich habe meinen Platz in der Kirche gefunden und diesen Platz, mein Gott, den hast Du mir geschenkt ... im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein ... so werde ich alles sein ... so wird mein Traum Wirklichkeit werden" (Therese vom Kinde Jesus. Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text. EinsiedeIn 1958, 200). Wir brauchen in unseren Tagen dringend den weiblichen "Dienst" einer heiligen Theresia vom Kinde Jesu!
Ein aufschlussreiches und bewegendes Beispiel einer Frau, die ihren positiven und wirksamen Reformeinfluss zu einer Zeit ausübte, als der Klerus überwiegend sittlich verdorben war, war die heilige Margareta, Königin von Schottland (gest. 1093). In Butlers Live of Saints steht über sie zu lesen: "Sie sah, dass Schottland eine Beute des Unwissens und schlimmer Missstände war, sowohl unter den Priestern als auch im Volk. Auf ihre Veranlassung hin wurden Synoden abgehalten, die Verfügungen erließen, um diesen Übeln abzuhelfen. Sie war selbst bei diesen Treffen anwesend und beteiligte sich an den Gesprächen. Die gebührende Beobachtung der Sonn- und Festtage sowie der Fastenzeit wurden verpflichtend gemacht, Empfang der Kommunion an Ostern wurde allen vorgeschrieben und viele Ärgernis erregende Gewohnheiten wie Simonie, Wucher und inzestuöse Eheschließungen wurden streng verboten. Die heilige Margareta unternahm beständige Anstrengungen, gute Priester und Lehrer für sämtliche Teile des Landes zu bekommen, und sie gründete für die Hofdamen eine Art Stickerei-Gilde, um die Kirchen mit Gewändern und anderen Ausstattungen zu versorgen" (Butlers Lives of the Saints, hrsg., überarb. und ergänzt von Herbert J. Thurston, S.J. und Donald Attwater [Westminster, MD: Christian Classics, 1990], 2:516). Wir brauchen gegenwärtig dringend den mütterlichen "Dienst" einer heiligen Margareta von Schottland. Die Amazonassynode sollte "Ämter" für Frauen wie diejenigen der heiligen Theresia und der heiligen Margareta vorschlagen!
Der am meisten benötigte "Dienst" von Frauen ist derjenige einer katholischen Familienmutter, die zukünftige Priester und Bischöfe zur Welt bringt und sie in der Familie als ihrem ersten Seminar formt und erzieht (Das Zweite Vatikanische Konzil sprach von der Familie als dem ersten "Seminar": vgl. Optatem totius, 2). Und da eine "Seminar"-Erziehung durch katholische Mütter in Familien aller Zeiten und Kulturen geleistet wurde, sind die katholischen Mütter im Amazonasgebiet in dieser Hinsicht nicht weniger wert und sie sind sicher ebenfalls fähig, das zu leisten.
17. Ratschläge für Familien und Laien
Exzellenz, Sie erwähnten in unserem Gespräch, dass einer der positiven Aspekte des Zweiten Vatikanums dessen Lehre über die Berufung der Laien gewesen sei, ihre Taufweihe in vollem Umfang zu leben. Welchen Rat würden Sie den Laien heute geben, vor allem Müttern und Vätern sowie Paaren, die sich auf die Ehe vorbereiten?
Sie sollen in sich die Gaben erwecken, die sie in Taufe und Firmung empfangen haben - die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Die Laien sollten über diese sieben Gaben nachdenken und sie erforschen, denn die Laien wurden auserwählt, Soldaten und Bekenner Christi in der Welt zu sein, wo auch immer sie leben. Die erste Aufgabe in der Familie für Vater und Mutter besteht darin, Glaubenslehrer für ihre Kinder zu sein und eine Hauskirche zu bilden - eine wunderbare Aufgabe! -, mit der Muttermilch den unverfälschten katholischen Glauben an die Kinder weiterzugeben und ihnen durch ihre Lebensweise ein Beispiel zu geben.
Dasselbe gilt für Paare, die sich auf die Ehe vorbereiten. Wir sollen ihnen sagen: "Ihr habt eine wunderschöne und erhabene Sendung, denn Ihr bereitet euch darauf vor, eine Hauskirche in eurer Familie zu gründen! Das ist die Aufgabe eines christlichen Vaters, einer christlichen Mutter und deshalb müsst Ihr in euch die Gaben der Firmung aufwecken."
Von den sieben Gaben des Heiligen Geistes brauchen in unseren Zeiten junge Laien, auch diejenigen, die noch nicht verheiratet sind, vor allem die Gabe des Mutes oder der Stärke. Sie sollen diese Gabe erwecken, um in unserer neuheidnischen Gesellschaft Christus furchtlos zu bekennen - in dieser Gesellschaft, die, wie wir heute beobachten, vor allem in Europa wahrscheinlich bald eine neue Verfolgungswelle auslösen wird. Die Islamisierung wird fortschreiten und für die nächsten Jahrzehnte kann ich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es zu einer Marginalisierung der Christen, womöglich sogar zu einer Christenverfolgung kommen wird. Ich weiß nicht, ob das eine ähnliche Form haben wird wie zur Zeit der Katakomben oder der kommunistischen Gulags, doch es wird in europäischen Ländern konkrete Maßnahmen zur Verfolgung und Marginalisierung von Christen geben.
Wir müssen in uns diese Gabe der Stärke und außerdem die Gabe der Frömmigkeit pflegen. Wahre Frömmigkeit ist eine Gabe des Heiligen Geistes. Das bedeutet, dass Väter und Mütter einen tiefen Sinn für das Übernatürliche und die Ehrfurcht vor Gott haben müssen, für Seine Gegenwart und Seine Herrlichkeit. Gottes Ehre suchen, das Gebet lieben und Gott verherrlichen - das ist Frömmigkeit. Ich würde also besonders Stärke, Frömmigkeit und Gottesfurcht betonen. Die Gabe der Gottesfurcht muss in dem Sinn verstanden und gelebt werden, dass man Gottes Gebote liebt und sich - aus Liebe und Ehrfurcht vor Ihm - davor fürchtet, beim Beachten seiner Gebote zu scheitern. Diese Seelen- und Geistesverfassung soll den Kindern von ihren Eltern vermittelt werden.
Ich würde den jungen Menschen außerdem sagen: Seit stolz darauf, Christen zu sein, dass ihr Soldaten Christi seid, und vergesst nicht, dass euer Ziel der Himmel ist. Auch wenn wir noch jung sind, sollten wir die zeitlichen Angelegenheiten und Wirklichkeiten als untergeordnet ansehen. Wir müssen "den Helm des Heils" anlegen (Eph 6,17) und unser ganzes Leben als einen heiligen Kampf verstehen mit dem Ziel, die Ewigkeit zu erlangen.
Exzellenz, mitten in der gegenwärtigen Krise, wie sollte die Kirche all die jungen Menschen für das Evangelium gewinnen, die praktisch ihr ganzes Leben im Meer des Säkularismus eingetaucht waren und deren Geist an dieses Zeitalter angepasst wurde?
Wir müssen ihnen die Schönheit der Wahrheit zeigen. Schönheit ist anziehend; alle Schönheit ist anziehend. Wir müssen ihnen die Vernünftigkeit der Wahrheit zeigen, die Christus uns offenbart hat und die die Kirche seit zweitausend Jahren unverändert gelehrt hat. Wir finden diese Wahrheit vor allem in den Katechismen und in den Lehren der Kirchenväter und Kirchenlehrer. Das müssen wir den jungen Leuten erklären und ihnen die Schönheit und die unerschütterliche Festigkeit des katholischen Glaubens zeigen.
Wenn Sie nur drei Elemente für eine Neuevangelisierung ausführen würden - welche wären das?
Das Programm ist nur eines: Christus selbst. Die Neuevangelisierung ist ein Weg aus der Krise in der Kirche. Zuerst müssen wir das Gebetsleben in der Kirche auf allen Ebenen stärken und intensivieren. Das heißt, dass wir die Anbetung Gottes, die Anbetung Christi wieder ganz in den Mittelpunkt stellen müssen. Es bedeutet, dass wir die Eucharistie und das Bußsakrament wieder in den Mittelpunkt stellen. Christus in der Eucharistie zu verehren, ist das erste und beste Mittel der Evangelisierung. Wir können nicht evangelisieren, wenn wir Christus nicht die ihm gebührende Ehre erweisen, vor allem in der Eucharistie. Wir müssen mit großem Ernst und ohne jegliche Kompromisse den Kult der Eucharistie erneuern. Das ist unerlässlich. Das ist eines der wirkungsvollsten und wichtigsten Werkzeuge der Neuevangelisierung: die Schönheit und Würde der Anbetung Gottes zu verbreiten, also die Wichtigkeit des ersten göttlichen Gebotes zu verbreiten und des erhabenen Ziels, für das der Mensch geschaffen wurde, nämlich: Gott mit Liebe und Vernunft anzubeten und zu preisen.
Gebet, Anbetung, Gottesdienst haben übernatürliche Kraft ...
Genauso ist es. Sie sind auf übernatürliche Weise anziehend. Zweitens müssen wir die Wahrheit des Evangeliums wieder verkünden, die grundlegenden Wahrheiten des katholischen Glaubens, auf ganz klare und gleichzeitig ganz schlichte Weise - nicht zu abstrakt oder akademisch. Wir müssen abstrakte Formulierungen und Begriffe vermeiden, die die Kirche heutzutage überfluten. Junge Menschen werden geistlich nicht von der Wortfülle und abstrakten Formulierungen berührt. Wir müssen ihnen den traditionellen Katechismus auf ganz klare, unzweideutige und schlichte Weise vorstellen. Danach können wir sie zu einem tieferen theologischen Nachdenken führen.
Im Rückgriff auf den allgemeinen Aufruf zur Heiligkeit, wie er im Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert wurde, müssen wir ein tiefes, ernsthaftes Streben nach Heiligkeit im Alltag fördern. Für mich sind diese drei Dinge untrennbar miteinander verbunden: die Erneuerung des Gottesdienstes in der Feier der Eucharistie; katholische Lehre, verbunden mit einer gesunden, zuverlässigen Katechese; und deren Umsetzung im Alltag. Die lex orandi, das Gesetz des Betens, hat Vorrang im Hinblick auf das letzte Ziel des Menschen, denn wir wurden geschaffen, um Gott anzubeten. Die lex orandi muss aber treu die lex credendi abbilden, das Gesetz des Glaubens, denn der Glaube ist die Grundlage, der Fels, auf dem unser ganzes Leben ruht. Und schließlich kommt die lex vivendi: Wir müssen den Glauben und die Erfahrung der Liturgie ins tägliche Leben übersetzen. Bei der Evangelisierung müssen wir Wert legen auf praktische und konkrete Hilfsmittel für das sittliche Leben als Christen, als eine neue Schöpfung, indem wir Todsünden vermeiden. Um Todsünden zu vermeiden, müssen wir sie beim Namen nennen. Wir müssen jungen Leuten auch helfen, ihre Abhängigkeit vom Internet, von Pornografie und all den anderen geistlichen Krankheiten zu überwinden, die heute so verbreitet sind. Diese drei Punkte (lex orandi, lex credendi, lex vivendi) sind ein konkreter Pfad zur Neuevangelisierung. Wir müssen den Pfad der Neuevangelisierung weniger akademisch, weniger abstrakt gestalten.
Wir leben im Zeitalter des Internet. Könnten Sie katholischen BIoggern und Websites noch Ratschläge geben?
Die katholische Blogosphäre ist heutzutage ein Werkzeug der göttlichen Vorsehung, mit dem die ewige Wahrheit Christi und Seiner Kirche inmitten einer unerhörten Kirchenkrise verbreitet werden kann. Ich halte es für eine echte Hilfe der Vorsehung, dass diejenigen miteinander verbunden werden können, die dieselben Ziele und Absichten haben - dass sie in gewisser Weise das Gefühl haben können, zu einer großen Glaubensfamilie zu gehören. Gott segne die guten katholischen Blogger! Natürlich darf man sich nicht auf sterile Polemiken einlassen. Wir können Informationen zu dem liefern, was geschieht - und manchmal haben wir keine andere Wahl, als negative Informationen und Tatsachen zu vermitteln; wir können ja nicht so tun, als würden wir auf einem anderen Planeten leben.
Das muss jedoch in ausgewogener Weise geschehen, man darf nicht ständig nur negative Nachrichten liefern, sondern es müssen auch die positiven Informationen vorkommen, gute Dinge, die in der Kirche weltweit geschehen, Dinge, die die Reinheit der Lehre, des Gebets und die Schönheit der Liturgie vermitteln. Außerdem ist es sehr nützlich, Beispiele von gelungenen christlichen Lebensläufen anzuführen, die sich in der Geschichte der Kirche, aber auch in unserer Gegenwart finden lassen. Katholische Blogger werden gute Arbeit machen, wenn sie sich an diese Richtlinien halten.
Und sie sollten um den Beistand der heiligen Engel bitten ...
Genau. Die Engel können helfen, indem sie sie erleuchten, immer die Wahrheit zu schreiben und ebenso wie die Engel immer die Herrlichkeit Gottes vor Augen zu haben.
Und den Geist ihrer Leser zu erbauen, statt sie in Verzweiflung zu stürzen ...
Wenn sie Nachrichten und Informationen liefern, sollen katholische Agenturen und Blogger dazu beitragen, den Geist der Menschen zu erheben; sie sollen trachten, die Schönheit der Wahrheit und die Herrlichkeit Gottes zu vermitteln. Das Ziel eines katholischen Bloggers sollte sein, mitzuhelfen, die heilige Mutter Kirche in unserer Zeit zu erneuern.
Sicher haben während Ihrer Reisen Mütter und Väter immer wieder Ihren Rat erbeten. Welchen Rat geben Sie Ehepaaren?
Um ein gottgefälliges Leben als Ehepaar zu leben, muss man mit der Hilfe der Gnade Gottes und mit persönlicher Anstrengung Folgendes beachten:
1. Christus muss der Mittelpunkt der gegenseitigen Liebe von Ehemann und Ehefrau sein. Eine Ehe existiert nicht nur zwischen zwei Personen; sie muss einen Dritten einschließen und das ist unser Herr Jesus Christus.
2. Verbannt Egoismus, verwendet häufiger das Wort "du", nur selten das Wort "ich".
3. Verhaltet euch gegenüber dem anderen rücksichtsvoll; man soll sich darin üben, zurückzutreten und das Ganze in den Blick zu nehmen.
4. Bringt kleine geistliche Opfer, indem Ihr eurem Ehepartner und den Kindern zuliebe von eurem Eigenwillen abseht.
5. Bemüht euch immer um gegenseitige Vergebung, und geht nie zu Bett, ohne euch zuvor versöhnt zu haben, und sei es in kleinen Dingen.
6. Ehegatten sollen nie negativ übereinander sprechen, vor allem und unter gar keinen Umständen in Gegenwart ihrer Kinder.
7. Ehegatten sollen intensiv füreinander beten.
8. Das gemeinsame Gebet soll einen ganz wichtigen Platz im Leben der Familie haben.
9. Übt christliche Nächstenliebe gegenüber bedürftigen und armen Menschen und seid sehr gastfreundlich.
10. Die Ehegatten und alle Mitglieder der Familie müssen Geduld miteinander lernen und sie üben; Beleidigungen, Ausfälligkeiten und Schimpfwörter sollen nicht vorkommen. Solche Wörter dürfen in einer katholischen Familie nie benutzt werden.
11. Bittet Gott um die Gnade, die Kreuze dieses irdischen Lebens aus Liebe zu Ihm und als Mittel der Fürbitte und Sühne für das ewige Heil aller Mitglieder der Familie annehmen zu können.
12. Das Wichtigste ist die tägliche Übung christlicher gegenseitiger Liebe.
Und welche Punkte würden Sie Eltern mitgeben?
1. Seht Verfolgung als eine Gnade von Gott, durch die ihr gereinigt und gestärkt werdet, und nicht nur als etwas Negatives.
2. Verwurzelt euch im katholischen Glauben durch das Erlernen des Katechismus.
3. Beschützt die Unversehrtheit eurer Familie vor allem anderen.
4. Seht die Glaubensunterweisung eurer Kinder als eure oberste Pflicht an.
5. Betet täglich mit euren Kindern, etwa den Rosenkranz und Litaneien.
6. Verwandelt euer Haus in eine Hauskirche.
7. Wenn kein Priester da ist und ihr sonntags keine Messe besuchen könnt, dann macht geistige Kommunion.
8. Bleibt mit eurer Familie nicht in einer Pfarrei, in der Irrtümer verbreitet werden, sondern schließt euch einer gläubigen Pfarrei an, auch wenn ihr weitere Wege zurücklegen müsst.
9. Nehmt eure Kinder von der Schule, wenn sie durch "Sexualaufklärung" moralisch gefährdet werden.
10. Wenn ihr eure Kinder nicht von der Schule nehmen könnt, dann gründet eine Vereinigung von Eltern, die sich für dieses Recht einsetzen.
11. Kämpft um elterliche Rechte mit dem Einsatz verfügbarer demokratischer Mittel.
12. Baut einen weit ausgreifenden Gebetskreuzzug unter katholischen Familien, Laien, Priestern und Bischöfen unter dem Schutz des Unbefleckten Herzens Marias und der heiligen Engel auf. Das wird alle Angriffe der ungläubigen Welt vereiteln. Christus vincit!
Und wie können Laien der Kirche in dieser Zeit der Verwirrung helfen?
1. Durch intensive, anhaltende und vertrauensvolle persönliche Gebete, vereint in einem weitreichenden Gebetskreuzzug, womit das Ende der Krise in der Kirche und ein göttliches Eingreifen erfleht werden soll.
2. Durch gewissenhaftes, eifriges Studium katholischer Wahrheiten entsprechend bewährter katholischer Katechismen, vor allem dem Katechismus des Konzils von Trient und dem Katechismus von Baltimore, die inhaltlich zuverlässiger und klarer sind.
3. Durch persönliches Zeugnis im Bekennen und Verbreiten jener Wahrheiten, die in unseren Tagen am meisten verleugnet oder verzerrt werden. Hierfür bietet das Internet hilfreiche technische Mittel.
4. Durch theologische, pastorale und liturgische Konferenzen und Symposien, in denen die klaren und immerwährenden Wahrheiten der katholischen Kirche dargestellt, erklärt und verteidigt werden.
5. Durch öffentliche Kundgebungen wie Demonstrationen, Prozessionen und Wallfahrten, um die Vollkommenheit und Schönheit des katholischen Glaubens zu verkünden.
6. Durch Akte der Wiedergutmachung und Sühnung für Sünden gegen den katholischen Glauben und für Sünden gegen die Gebote Gottes, vor allem gegen folgende Sünden:
a. Gegen das erste Gebot ("Du sollst keine anderen Götter neben mir haben"), wegen des Relativismus und der Gleichgültigkeit hinsichtlich der Einzigartigkeit des Glaubens an Jesus Christus.
a. Gegen das fünfte Gebot ("Du sollst nicht töten"), wegen der grauenhaften Maschinerie des Massenmordes an ungeborenen, ja sogar an neugeborenen Kindern, und der Tötung kranker oder alter Menschen durch sogenannte Euthanasie.
a. Gegen das sechste Gebot ("Du sollst keinen Ehebruch begehen"), wegen der Epidemie der Scheidung, der gesellschaftlichen und staatlichen Propaganda entwürdigender sexueller Unmoral wie homosexueller Akte und Pornografie, und der moralischen Vergiftung unschuldiger Kinder durch eine grausame Sexualaufklärung und Indoktrinierung mit der widernatürlichen Gendertheorie.
7. Durch Sühneakte für die schlimmste Sünde, das ärgste Unheil unserer Zeit: die entsetzlichen Frevel, Schändungen und Banalisierungen Unseres Herrn im Allerheiligsten Sakrament.
18. Die heiligen Engel
Wir haben über den Verlust des Übernatürlichen als einen der wichtigsten Gründe für die Krise in der Kirche gesprochen. Die Engel, diese körperlosen, rein geistigen Geschöpfe, von denen der heilige Thomas von Aquin so beredt spricht, erregen aber nach wie vor Interesse bei vielen Menschen, dabei kennen nur wenige ihr Wesen und ihre Aufgabe. Ihr Orden, die Regularkanoniker vom Heiligen Kreuz von Coimbra, hat eine besondere Verehrung zu den heiligen Engeln. Können Sie uns davon etwas erzählen?
Schon im alten historischen Orden des Heiligen Kreuzes, zur Zeit des heiligen Antonius von Padua Ende des 12., Anfang des 13. Jahrhunderts, gab es an der Fassade der Konventskirche des Ordens in der Stadt Coimbra das in Stein gemeißelte Wappen des Ordens, mit dem Kreuz und zwei Engeln, die das Kreuz anbeten. Das war das ursprüngliche Wappen meines Ordens. Der Orden wurde 1834 von der freimaurerischen Regierung Portugals aufgehoben und das letzte Mitglied starb 1903.
In den 1970er-Jahren wurde auf Anfrage mehrerer portugiesischer Bischöfe und mit der Genehmigung des Heiligen Stuhls der Orden von Priestern, die zum Werk der heiligen Engel (Opus Angelorum) gehörten, wiederbelebt. Diese Bewegung nahm ihren Ausgang 1949 von einer sehr frommen Familienmutter im österreichischen Innsbruck, sie hatte sechs Kinder. Ihr Name war Gabriele Bitterlich. Sie hatte tiefe mystische Erfahrungen von der Engelwelt, außerdem aber auch ein sehr tiefes mystisches Leben mit Christus, ganz ausgerichtet auf das Leiden des Herrn und auf die Eucharistie. Der Bischof von Innsbruck wies ihr einen Seelenführer zu. Auf diese Weise begleitete der Bischof diese neue Bewegung aus nächster Nähe und im Jahr 1961 errichtete er die Schutzengelbruderschaft in Innsbruck.
Das Opus Angelorum wählte für sich dasselbe Wappen wie der historische Orden des Heiligen Kreuzes, ohne dass man damals das Wappen des älteren Ordens kannte. Diese Fügung war ein echter Beweis für das Wirken der göttlichen Vorsehung. In den alten Satzungen des Ordens wurden die Kanoniker "Brüder vom Kreuz" genannt, denn das Kreuz ist auf dem Wappen dargestellt und die erste Kirche des Ordens war dem heiligen Kreuz geweiht. Auch im Opus Angelorum muss das wichtigste geistliche Merkmal die Verehrung des Kreuzes und die Kreuzesliebe sein. Nicht die Engel stehen im Mittelpunkt des Opus Angelorum, sondern das Kreuz, das die Engel anbeten. Der wiederbelebte Orden fügte zum Wappen nur noch die heilige Eucharistie hinzu, an der Stelle, wo sich die bei den Kreuzesbalken treffen. Das ist eine schöne Ergänzung, denn es ist die Eucharistie, die die Engel anbeten. Dieses Wappen ist also die Zusammenfassung der gesamten Spiritualität des Ordens der Regularkanoniker vom Heiligen Kreuz.
Welche Rolle spielen die Engel für uns?
Die heiligen Engel sind unsere Gefährten und unsere Vorbilder in der Anbetung des Herrn, in der Verehrung, in der Anbetung der Eucharistie. Sie sind unsere besten Begleiter auf unserem Weg zum Himmel. Sie werden für alle Ewigkeit unsere Gefährten in der Liebe und Anschauung Gottes sein; das zeigt uns das Buch der Offenbarung (Offb 5,11-13).
Die Engel sind ein sehr ausdrucksvolles Werk der Schöpferkraft Gottes. Der heilige Thomas von Aquin sagt, jeder Engel sei eine je verschiedene Art (species). Wie Sie richtig bemerkt haben, sind sie unkörperliche, rein geistige Wesen. Sie gehören zur unsichtbaren Welt. Die Engel stellen allein durch ihre Existenz einen sehr mächtigen Aufruf an die Kirche dar, sich der Ewigkeit zuzuwenden, der unsichtbaren Welt, die auf uns wartet. Hier auf Erden ahnen wir bereits das ewige Leben im Neuen Jerusalem. Dort werden wir eine Gemeinschaft sein, die sich aus Menschen und Engeln zusammensetzt - eine Familie Gottes, die aus all denen besteht, die zu Christus und zu Seinem mystischen Leib gehören, wie ja auch der heilige Thomas sagt: "Nun ist es aber offenbar, dass Menschen und Engel zu einem einheitlichen Zwecke hingeordnet sind; nämlich zur seligen Anschauung. Also besteht der mystische Leib Christi nicht nur aus Menschen, sondern auch aus Engeln" (Summa theologiae III, q. 8, a. 4). Wir sollten also bereits hier auf Erden damit anfangen, uns in diese Wirklichkeit einzuüben und sie zu leben, indem wir bewusst mit unseren himmlischen Brüdern und Gefährten, den heiligen Engeln, beten, arbeiten und für Christus kämpfen.
In früheren Zeiten und vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil war mehr von der Wirklichkeit der Schutzengel die Rede. Nach dem Konzil ging die Verehrung der heiligen Engel zurück; eine Art Vergesslichkeit, was die übernatürliche und unsichtbare Welt angeht, legte sich über die kirchliche Landschaft. In den vergangenen fünfzig Jahren entwickelte sich in der Kirche ein Hang zum Naturalismus, zum Naturhaften, zur Weltlichkeit und weg vom Übernatürlichen. Die Verehrung der heiligen Engel ist deshalb ein sehr mächtiges Mittel, sich wieder dem Übernatürlichen zuzuwenden, diesen naturalistischen Hang um eines Lebens der Gnade willen hinter sich zu lassen und zu spüren, dass Gott jedem Menschen einen persönlichen Bruder gegeben hat, seinen Schutzengel. Jeder Getaufte hat einen ganz eigenen Schutzengel, der noch keinem zuvor als Schutzengel gedient hat. Gott ist mit seinen Gaben so überaus großzügig, dass Er von Ewigkeit her einen Engel erwählt hat, nur einmal der Schutzengel für eine bestimmte Person zu sein, auch wenn diese Person nur einen Augenblick hier auf Erden lebt. Und er wird dann auch nicht der Schutzengel einer anderen Person werden.
Hat jedes im Mutterschoß empfangene Kind einen Schutzengel?
Bereits bei der Empfängnis schafft Gott die Seele und also tritt eine menschliche Person ins Sein. Diese menschliche Person hat einen Schutzengel, der sie im Leib der Mutter beschützt und für sie betet.
Das könnte tröstlich sein für eine Mutter, die eine Fehlgeburt hatte. Wir wissen nicht, was mit den Seelen ungetaufter Säugiinge geschieht, wenn aber eine Mutter weiß, dass ein Engel da war, der für das Kind in ihrem Leib betete, dann könnte das sehr tröstlich für sie sein.
Ja.
Haben auch Nichtchristen einen Schutzengel?
Ja. Doch tritt der Schutzengel durch die Taufe in eine ganz besondere Beziehung mit der Menschenseele ein, denn in Christus sind Engel und Menschen enger miteinander verbunden, wie der heilige Paulus sagt (vgl. Koll,20).
Vergessen wir nicht: Mein Schutzengel wurde nur mir gegeben und er ist ein sehr mächtiges geistiges Wesen, das immer in der Gegenwart Gottes ist und das während der Prüfung der Engel Gott treu blieb, als einige seiner Brüder mit Luzifer von Gott abfielen.
Um das noch einmal klarzustellen: Gott erschafft also nicht jedes Mal einen Engel, wenn Er die Seele eines Babys erschafft?
Nein: Die gesamte Engelwelt wurde in einem Augenblick zu Beginn der Schöpfung erschaffen. Dann kam die Prüfung. Die Engel mussten Gott freiwillig in tiefer Demut anerkennen. Die Sünde des Ersten unter den Engeln, der in der Tradition Luzifer heißt, bestand darin, wie Gott ohne Gott sein zu wollen. Der heilige Thomas von Aquin erklärte: "Aber der Teufel verlangte ungebührender Weise das als seinen letzten Endzweck, wozu er kraft seiner Natur gelangen konnte; und so wandte er sich ab von der übernatürlichen Seligkeit, welche der Gnade Gottes verdankt wird. Oder wenn er diese letztere Seligkeit verlangt hat, so wollte er sie besitzen aufgrund seiner natürlichen Kräfte und nicht aufgrund des göttlichen Beistandes gemäß der Bestimmung Gott'es" (Summa theologiae, I, q. 63, a. 3). Mit diesem Akt des Stolzes beeinflusste Luzifer auch einen Teil der Engelwelt und zog ihn mit sich. Nach dem heiligen Thomas von Aquin blieb der größere Teil der Engelwelt Gott treu: "Mehr Engel sind treu geblieben wie gefallen. Denn die Sünde ist gegen die natürliche Neigung; was aber gegen die Natur geschieht, ist immer weniger verbreitet. Denn die Natur erreicht ihren Zweck immer oder doch größtenteils" (Summa theologiae I, q. 63, a. 9). Vielleicht vermittelt uns die Apokalypse davon ein Bild, wenn wir lesen, dass der Schwanz des Drachen ein Drittel der Sterne hinwegfegte (Offb 12,4). In einigen Traditionen verweist das Wort "Sterne" auch auf die Engel. So kann man wohl annehmen, dass ein Drittel der Engelwelt abtrünnig wurde.
Einige vertreten die Auffassung, den Engeln sei im Vorhinein die Menschwerdung gezeigt worden und es sei ihre Weigerung gewesen, den Gott-Menschen anzuerkennen und Ihn anzubeten, was ihren Fall verursacht hat.
Viele Theologen haben vermutet, das Geheimnis der Menschwerdung Gottes sei den Engeln enthüllt worden: Sie hätten gesehen, dass eine Natur, geringer als ihre eigene, mit der Person des Gottessohnes hypostatisch vereint werden sollte und dass sich die gesamte himmlische Hierarchie vor der Majestät des menschgewordenen Wortes anbetend neigen sollte; das, so wird angenommen, rief den Stolz Luzifers hervor (vgl. Suarez, De Angelis, lib. VII, xiii). Aber das ist und bleibt ein Mysterium. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Gott ihnen das Mysterium der Menschwerdung enthüllte, damit sie sich niederbeugten und dem menschgewordenen Gott dienten. Sie mussten es annehmen, Gott nicht nur in Seiner Majestät, sondern in Seiner verhüllten, verborgenen Gestalt als zukünftigem, Fleisch gewordenem Gott-Menschen zu dienen. Dazu sagte der erste Engel: "Nein, ich werde das nicht tun. Ich werde nicht dienen. Non serviam! Ich werde nicht dienen und mich unter meine Würde herablassen, indem ich einem Menschen diene. Ich möchte wie Gott sein." Der bekannte deutsche neuscholastische Theologe Matthias Scheeben (gest. 1888) sagte, dass die Verbindung zwischen dem Geheimnis der Menschwerdung und dem Sturz der Engel eine einleuchtende und wahrscheinliche Erklärung für die Heftigkeit ist, mit welcher der Teufel Christus, die heilige Jungfrau Maria und das Menschengeschlecht hasst. In diesem Sinn können wir auch die Worte unseres Herrn verstehen: "Der Teufel war ein Mörder von Anfang an und er steht nicht in der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist" (Joh 8,44).
Wegen der Schwäche unseres Verstandes und Willens erkennen wir nicht alle Folgen und Auswirkungen unserer Handlungen. Bei den Engeln ist es doch nicht so, oder?
Als die Engel ihren Willen zum Ausdruck brachten, da galt das für immer. Mit ihrem Verstand sahen sie sämtliche Folgen und stimmten ihnen zu. Die Tradition ist der Meinung, dass der Stolz bei Luzifer und seinen Anhängern so mächtig war, dass sie das Ego vorzogen - "Ich bin Ich", sagte Luzifer -, und dann, inmitten dieser Prüfung, sagte einer der niedrigsten Engel, Sankt Michael, der zum vorletzten Chor gehörte: "Quis ut Deus?" ("Wer ist wie Gott?"). Und mit diesem demütigen Wort warf Sankt Michael Luzifer und seine Anhänger aus dem Himmel in den Abgrund.
Mein Schutzengel und jeder Schutzengel ist Gott in dieser Prüfung treu geblieben und anerkannte Christus im Geist der Demut und des Dienstes. Deshalb sehnt jeder Engel sich glühend danach, eines Tages ein demütiger, dienender Schutzengel eines menschlichen Wesens zu werden. Jeder Engel wünscht sich das sehnlichst. Jeder Engel träumt davon, sich zu verneigen. Seine "Traumkarriere" besteht darin, klein zu sein, abzusteigen und nicht aufzusteigen, wie es sich in der Regel die Menschen in ihren Karriereträumen ersehnen.
Wir Menschen, die wir die Wunden der Erbsünde tragen, wozu auch der Stolz gehört, wünschen uns, Karriere zu machen und bedeutende, hohe Positionen einzunehmen. (Leider muss das - höhere Positionen anzustreben - wohl in gewissem Sinn als Erbsünde des Klerus bezeichnet werden.) Für die heiligen Engel gilt das Gegenteil. Sie wollen sich in ihrer Karriere abwärts bewegen. Wenn beispielsweise ein Cherub auf begrenzte Zeit ein Schutzengel wird, während der Lebensspanne einer Person, dann steigt er aus dem zweiten Chor ab in den neunten. Er wird entblößt und auf die Würde des niedrigsten Chores herabgestuft und das entspricht seinem tiefsten Wunsch: niedrig zu sein, Christus, seinen Herrn, nachzuahmen' Diener zu sein. Deshalb ist es der "Ehrgeiz" jedes Engels, eines Tages Schutzengel zu sein, die Niedrigkeit des letzten Engelschores zu erfahren und der demütige und geduldige Diener einer konkreten menschlichen Person zu sein. Wenn er seinen Dienst als Schutzengel beendet hat, kehrt er zu seinem ursprünglichen Chor zurück.
Ist die Aufgabe eines Schutzengels also zeitlich beschränkt?
Nun, in gewisser Hinsicht ist sie das nicht. Wenn die Person, die ihm anvertraut wurde, in den Himmel kommt, werden sie für alle Ewigkeit vereint sein. Sie werden zusammen, als Brüder, Gott preisen. Im Himmel werden wir den Namen unseres Schutzengels wissen und seine Persönlichkeit sehen. Viele Heilige sahen jedoch bereits die Persönlichkeit ihres Schutzengels und gaben ihm sogar einen Namen. Wenn ich meinen Schutzengel liebe, warum sollte ich ihm keinen Namen geben? Das tun ja auch Freunde, die sich gegenseitig mit Spitznamen anreden. Natürlich mache ich das nur für mein persönliches, privates geistliches Leben, nicht, um es öffentlich kundzutun. Einige Autoren, darunter Scholastiker wie der heilige Bonaventura, sind der Meinung, dass der Schutzengel die Seele auch ins Fegefeuer begleiten wird, um ihr zu helfen, diesen schweren Reinigungsprozess durchzustehen. Auch in Dantes Göttlicher Komödie ist das dargestellt.
Hat der Vatikan die namentliche Benennung der Engel nicht vor einigen Jahren verboten?
Doch und daraus ergab sich ein Problem, mit dem sich das Opus Angelorum konfrontiert sah. Mutter Gabriele Bitterlich schrieb einige Engel, die sie gesehen und erfahren hatte, mit ihren Namen nieder. Einige Namen waren ähnlich wie Michael, Rafael und Gabriel, sie endeten wie in der Bibel üblich auf "-el". Der Gebrauch von Engelsnamen außer den drei in der Bibel vorkommenden wurde vom Heiligen Stuhl verboten. Das war das zentrale Anliegen bei der Untersuchung der Schriften von Mutter Gabriele Bitterlich, die die Kongregation für die Glaubenslehre in den Jahren 1984 und 1992 durchführte. Ich verstehe das Anliegen, denn es handelte sich um eine sehr ins Einzelne gehende Darstellung der Engelwelt. Eine solche Beschreibung ist nicht an sich falsch, denn die Bibel gibt uns ja Namen von Engeln. Und wir wissen, dass in der byzantinischen orthodoxen Kirche und in der griechisch-katholischen Kirche am 8. November die "Synaxis des Erzengels Michael und der anderen körperlosen Mächte" gefeiert wird, in welcher die sieben, und nicht nur drei, Erzengel namentlich verehrt werden, denn in der Bibel sagt der Erzengel Rafael zu Tobit: "Ich bin einer von den sieben Engeln, die allezeit bereitstehen, vor die Herrlichkeit des Herrn hinzutreten" (Tob 12,15). Aus der heiligen Schrift kennen wir nur die Namen von Michael, Gabriel und Rafael, doch es sind sieben erwähnt, folglich muss es vier weitere Namen geben. Die orthodoxe Ostkirche und die katholischen Ostkirchen der byzantinischen Tradition verehren sieben Erzengel, manchmal auch einen achten: Michael, Gabriel, Rafael, Uriel, Selaphiel (Salathiel), Jegudiel (Jehudiel), Barachiel und den achten, Jerahmeel (Jeremiel). In der koptischen orthodoxen Tradition heißen die Erzengel Michael, Gabriel, Rafael, Suriel, Zadkiel, Sarathiel und Ananiel. Der Heilige Stuhl anerkannte das liturgische Fest der Sieben Erzengel mit den ausdrücklichen sieben Namen, die während der Liturgie erwähnt werden.
In Manila gibt es ein Heiligtum zu Ehren der sieben Erzengel, wo unten an den Statuen, die um den Hauptaltar stehen, auch die sieben Engelnamen geschrieben sind. Dieses Heiligtum hat eine alte Tradition und ist ebenfalls vom Heiligen Stuhl anerkannt. Und auch in Mexiko gibt es alte Kirchen mit der Darstellung der sieben Erzengel mit ihren sieben Namen.
Sollte man den eigenen Schutzengel nach seinem Namen fragen? Oder könnte es gefährlich sein, sich auf diese Weise auf die geistige Welt hin zu öffnen?
Es ist gefährlich, nach dem Namen zu fragen. Sie können Ihrem Schutzengel einen Namen geben, den Sie selbst wählen. Das ist Ihre Privatsache; man sollte das nicht in der Zeitung veröffentlichen oder groß darüber reden. In sich stellen die Namen der Engel kein lehrmäßiges Problem dar. Es handelt sich mehr um eine Sache der Klugheit. Die Engelnamen in den Schriften von Mutter Gabriele Bitterlich waren zu zahlreich und deshalb hat der Heilige Stuhl ihren Gebrauch verboten. Ich kann das durchaus nachvollziehen.
Die Hauptabsicht des Opus Angelorum besteht sicher nicht darin, sich auf die Namen der Engel zu konzentrieren, die mehr zur persönlichen mystischen Erfahrung von Mutter Gabriele Bitterlich gehörten. Die Hauptabsicht ist es, den Menschen die Existenz und Gegenwart der Schutzengel und der anderen Engel stärker bewusst zu machen: als unseren Brüdern, unseren Mit-Betern, unseren Mitkämpfern, unseren Gefährten in der Anbetung Gottes, im Kampf für Christus in diesem geistlichen Kampf, der in unseren Tagen immer heftiger wird. Gott gibt besondere Charismen für jede Zeit. In der gegenwärtigen Zeit, in der die dämonischen und satanischen Kräfte so zugenommen haben - wir stehen in einem geistlichen Kampf von einem Ausmaß, wie es ihn in der Geschichte noch kaum je zuvor gegeben hat! -, schickt Gott uns den Beistand der heiligen Engel, um die bösen Geister zu bekämpfen. Das ist der Kerngedanke des Opus Angelorum, des Engelwerks, nur das und nichts anderes.
Der heilige Thomas von Aquin - der Doctor angelicus - sagt, dass keiner direkt den Willen bewegen kann außer Gott, gute Engel jedoch den Geist erleuchten können.
Das ist sehr wichtig. Wenn ich meinen Schutzengel oder andere Engel verehre, dann bitte ich sie, mir das Licht Gottes zu vermitteln, damit ich das Geheimnis des Glaubens besser verstehe, damit ich Christus besser anbeten kann, damit ich im geistlichen Leben besser kämpfen kann.
Wie lässt sich diese Übung in das Alltagsleben einfügen?
Um nur ein Beispiel zu geben: Viele Heilige haben ihren Schutzengel zu einer anderen Person geschickt, wenn es für sie selbst schwierig war, mit dieser Person zu sprechen.
Das könnte aber doch durchaus wie Aberglaube wirken.
Nein, der heilige Padre Pio hat das häufig getan, ebenso viele andere Heilige. Warum auch nicht? Die Engel sind lebende Personen. Wenn ich zu jemandem sage: "Bitte, geh doch zu meinem Freund und überbring ihm meine Grüße", warum kann ich das dann nicht auch zu meinem Schutzengel sagen? Das hat nichts mit Aberglauben zu tun. Das ist theologisch und geistlich gesehen gesund.
Ein weiteres großartiges Mittel, um die Verbindung zu unseren Brüdern, den Schutzengeln, zu pflegen, ist eine Art Weihe an die heiligen Engel. Es gibt Weihen an das heiligste Herz Jesu, an das Unbefleckte Herz Mariens, an den heiligen Josef. Warum nicht an die heiligen Schutzengel? Das ist völlig logisch. Und es ist ein gutes Mittel, um die geistliche Verbindung zum eigenen Engel zu fördern.
Wie wird diese Weihe vorgenommen?
Es gibt eine Formel, die von der Glaubenskongregation im Jahr 2000 speziell für das Opus Angelorum genehmigt wurde. Ich glaube also, dass wir die Verehrung der heiligen Engel verbreiten müssen, um im gemeinsamen, heiligen Kampf für Christus geistlich vereint zu sein.
Wie helfen uns die Engel in der Versuchung?
Wenn ich meinen Schutzengel liebe und ihm geweiht bin, dann bin ich mir seiner Gegenwart stärker bewusst und ich werde es in seiner Gegenwart nicht wagen, Gott zu beleidigen. Darüber nachzudenken hilft mir und ihn zu bitten: "Ach mein Schutzengel, wenn ich in der Gefahr bin, den Herrn zu beleidigen, dann bitte, gib mir eine wirklich nachdrückliche Ermahnung." Die Heiligen verfuhren manchmal so und dann ermahnte der Schutzengel sie, indem er sie auf den Kopf schlug, wenn sie im Begriff waren, etwas Falsches zu tun. Außerdem beschützen uns die Engel in unseren leiblichen Bedürfnissen und auf unseren Reisen, sie beschützen uns vor Unfällen und so weiter. Vor allem aber vor Unfällen der Seele.
Papst Johannes Paul II. leistete einen schönen Beitrag zur Verbreitung der Verehrung der heiligen Engel durch seine Mittwochs-Audienzen im Jahr 1986, die er dem Thema der heiligen Engel widmete. Diese Katechesen sind wunderbar.
Haben Sie Lieblingsgebete zu den heiligen Engeln?
Natürlich das übliche Gebet, das wir aus unserer Kindheit kennen. Aber wissen Sie, welches das Lieblingsgebet der heiligen Engel ist?
Welches denn?
Das Sanctus der heiligen Messe: "Sanctus, Sanctus, Sanctus ... " Dieses Gebet hörte Jesaja aus dem Mund der Seraphim. Es ist das Gebet der Engel schlechthin. Daher bete ich häufig, wenn ich unterwegs bin, in meiner Seele das Sanctus. Wenn ich eine Kirche betrete, knie ich nieder und bete als Erstes gemeinsam mit meinem Schutzengel und mit den Engeln, die den Tabernakel umgeben, das Sanctus; die Engel sind gegenwärtig. Ich empfehle also das Beten des Sanctus.
Die Verehrung der heiligen Engel sollte nicht nur aus schönen Gebeten bestehen. Wir sollen uns auch darüber im Klaren sein, dass wir die eine Familie Gottes sind. Wir sind Kinder der Kirche und die heiligen Engel sind ebenfalls Mitglieder der Kirche, und zwar der triumphierenden Kirche. Christus so der heilige Paulus (vgl. Koll,20) - vereinte Menschen und Engel, Himmel und Erde durch Sein Kreuz, durch Sein Blut. Wir müssen deshalb unser Bewusstsein dafür erneuern, dass die heiligen Engel Mitglieder der Kirche sind, dass sie unsere Brüder und unsere Helfer sind. In gewisser Weise sind sie unsere wahren älteren Brüder. Sie wurden vor uns erschaffen und vor uns waren sie der Prüfung ausgesetzt und hielten Christus die Treue. Nach der Prüfung zu Anbeginn erhielten die Engel diese neue "unauslöschliche Prägung" in ihrem Geist, das heißt, ihr tiefes Verlangen, wie Christus Diener zu sein. Deshalb wollen sie, vor allem aber unsere Schutzengel, uns in der Kirche dienen. Gott vertraute die gesamte Schöpfung und jeden einzelnen Teil der Schöpfung dem Schutz und der Fürsorge der heiligen Engel an. Das hat die katholische Tradition immer gelehrt.
Hat jedes Land einen Engel, der über ihm wacht?
Ja, der überlieferte christliche Glaube in Ost und West sagt, dass jedes Land einen Engel hat, der über ihm wacht. So steht in der Bibel, im Alten Testament, dass Michael der Engel des Volkes Gottes, der Engel Israels, ist (vgl. Dan 10,21 und Dan 12,1). Einige Kirchenväter sagten sogar, dass nicht nur jede Nation, sondern sogar jede Stadt ihren eigenen Schutzengel hat. Ein Fest des Schutzengels von Brasilien, Angelus Custos Brasiliae, mit eigenem Messformular, einem Festtag und einem Formular für das Breviergebet ist immer noch im alten Messbuch Brasiliens enthalten - ich besitze ein Exemplar aus dem 19. Jahrhundert.
Unsere Liebe Frau von Fatima spricht vom Engel Portugals.
Portugal - es bildete früher zusammen mit Brasilien ein Königreich - hat auch im neuen Messbuch noch das Fest des Engels von Portugal. Es wird am 10. Juni gefeiert und das war schon in der Zeit vor den Erscheinungen von Fatima so. Als deshalb der Engel Portugals den Kindern erschien, war er ihnen kein Fremder, denn das Fest des Engels von Portugal kannte man in ihrem Land bereits seit Generationen und Jahrhunderten. Es wäre geistlich und seelsorglich für jedes Land hilfreich, ein Fest des eigenen Schutzengels zu haben und zu begehen.
Gibt es Schutzengel für andere Einrichtungen oder für besondere Personen?
Die gesamte Schöpfung wird von den Engeln beschützt. Darum kann man es als eine fromme Meinung ansehen, dass sogar jeder Lebensstand einen Schutzengel oder einen Fürsprecher hat; mit anderen Worten, dass es einen Engel gibt, der vor Gott für die Priester betet oder für die Familien oder für die Arbeiter. Durch mehrere Päpste hat die Kirche Schutzheilige für die unterschiedlichsten Berufe bestimmt und verkündet. Warum sollte es dann nicht auch einen besonderen Engel für jeden Lebensstand oder Beruf geben? Das ist nur eine fromme Meinung, aber es könnte Menschen in einem bestimmten Lebensstand oder mit einem bestimmten Beruf dazu bewegen, bewusster mit den heiligen Engeln zusammenzuarbeiten.
Spüren Sie das Wirken Ihres Schutzengels?
Die Engel sind sehr zurückhaltend; sie drängen sich uns nicht auf. Sie brennen darauf, uns zu helfen, aber wir müssen darum bitten. Je mehr wir sie bitten, desto mehr helfen sie uns. Wenn unser Bewusstsein für ihr Handeln in unserem Leben zunimmt, dann sehen wir die tiefgreifenden Ereignisse in unserem Leben in einem neuen Licht: dass sie nämlich sehr wahrscheinlich durch das Eingreifen der heiligen Engel geschehen sind. Das ist ihr Werk. Aber man kann auch Beispiele für ihren Beistand in den kleinen Ereignissen des Alltags finden. Sogar in schlichten, täglichen Dingen: Es kam vor, dass mein Schutzengel mich zu genau der Zeit geweckt hat, als ich aufstehen musste - wenn der Wecker nicht funktioniert hat. Das sind kleine Zeichen, aber ich bin sicher, dass sie das Werk des Schutzengels sind.
Um auf das Thema des Übernatürlichen zurückzukommen: Mir scheint, dass ein solches Leben eine bestimmte Seelenverfassung voraussetzt und den Glauben an die übernatürliche Welt.
Als ich jung war, vielleicht sechzehn Jahre alt, weihte ich mich meinem Schutzengel. Ich habe ihn oftmals gebeten, mich in allen meinen Gebeten zu begleiten, und ich bitte ihn vor allem, dass er mir das nötige Licht gibt, um den katholischen Glauben in der rechten Weise zu verstehen. In den vierzig Jahren seit dem Ablegen der Weihe habe ich diese Hilfe in meinem Geist erfahren - eine Hilfe, die Wahrheiten und die Schönheit des katholischen Glaubens tiefer zu durchdringen. Und in diesen vierzig Jahren bat ich in meinen Gebeten darum, dass mir mein Schutzengel das Licht Gottes bringen und mir helfen möge, Christus treu zu bleiben - ich hatte und habe darin das Gefühl und die Erfahrung, dass man eine Art Instinkt dafür entwickelt, was katholisch, was wahr ist. Ich schreibe das mit Dankbarkeit meinem Schutzengel zu und dass ich mich ihm geweiht habe. Ich lebe meine Weihe an meinen Schutzengel nun seit über vierzig Jahren und ich spüre seine schweigende Gegenwart und das Licht, das er im Gebet bringt. Ich meine also, dass wir die heiligen Engel mit mehr Ernsthaftigkeit anrufen sollten, auf dass sie uns in der Treue zu Christus stärken und vor allem in einem tiefen Gespür und Instinkt für die Heiligkeit Gottes.
Ihr Lieblingsgebet ist das Sanctus. Jeder Engel sagt im Innersten seines Wesens: "Gott ist heilig und Gott ist allein heilig und Gott ist groß." Wir sollen Ihn preisen, wie die Muttergottes es in ihrem Magnificat getan hat: "Meine Seele preist die Größe des Herrn" (Lk 1,46). Die heiligen Engel brennen darauf, Gott zu preisen und zu verherrlichen. Wir müssen sie bitten, uns ein wenig von ihrem brennenden Feuer mitzuteilen, von diesem heiligen Eifer für die Ehre Gottes, und dann werden wir geheiligt und gerettet sein. Unsere wirkungsvollste Heiligung hier auf Erden besteht darin, Gott zu verherrlichen. Er bedarf nicht unseres Lobpreises, das sagt uns die Kirche in ihrer Liturgie, aber wir brauchen es, Ihn zu preisen. Je mehr wir Gott verherrlichen und Ihn in den Mittelpunkt stellen vor allem Christus in der Eucharistie -, desto mehr heiligen wir uns selbst, desto mehr öffnen wir unser Herz dem Licht Gottes, der wahren Barmherzigkeit Gottes, um Seine Gnaden zu empfangen.
Ich meine, dass wir vor allem in dieser Krisenzeit in der Kirche dringend ein neues Bewusstsein der heiligen Engel und ihres Wirkens im Reich Gottes brauchen. Wir müssen sie anrufen, sie in Anspruch nehmen, um Gott in Christus zu verherrlichen und das Königreich Christi über die Schöpfung und in der Gesellschaft zu verbreiten - Christus ist König und um die geistigen Waffen zu haben, die wir im Kampf gegen die gefallenen Engel brauchen. Wir können das nicht wirkungsvoll tun ohne die Gegenwart der heiligen Engel, vor allem des heiligen Erzengels Michael.
Die heiligen Engel sind sehr dankbar und aufmerksam zu uns, ich meine daher, es wäre gut, wenn ein Bischof seine Diözese den Schutzengeln weiht.
Und das gilt ja auch für das Familienleben: Wenn eine Familie sich zum täglichen Gebet versammelt, sei es nun der Rosenkranz oder ein anderes Gebet, dann könnte ja der erste Schritt für Kinder und Eltern darin bestehen, sich zu erinnern, dass sie nicht allein sind, dass der Engel jedes Anwesenden ebenfalls im Zimmer ist und mit ihnen betet.
Das ist sehr schön und praktisch. Eltern sollen ihren Kindern sagen, dass sie einen Schutzengel haben, den sie anrufen können. Kinder sind dafür sehr empfänglich. Kinder können ihren Schutzengel bitten, den Herrn an ihrer Stelle anzubeten, während sie schlafen. Kinder lieben die Schutzengel. Wenn die Familie betet, könnte man ja sagen: "Wir sind hier versammelt mit unseren Schutzengeln und wir sind alle zusammen eine Familie." Wenn beide Eltern anwesend sind und fünf oder sechs oder sieben Kinder, dann können sie sagen: "Jetzt sind wir hier im Zimmer eigentlich 14 oder 16 oder fast 20." Es wäre gut für Familien, wenn sie das Gebet zum heiligen Erzengel Michael auswendig könnten. Oder eine Familie könnte sich auch den heiligen Engeln anbefehlen.
Vielleicht könnte ja eines Tages ein Papst die gesamte streitende Kirche dem Schutz der heiligen Engel anbefehlen, vor allem dem heiligen Michael. Das wäre sehr hilfreich, denn wir leben in einer Zeit eines geistigen Kampfes, wie er in der Kirche kaum jemals vorkam - eines Kampfes zwischen Wahrheit und Häresie, zwischen Naturalismus und der übernatürlichen Sicht. Letztlich ein Kampf zwischen den heiligen Engeln und den bösen Geistern des Betrugs, des Hochmuts und des Hasses gegen Christus, gegen den menschgewordenen Gott.
Könnten Sie bitte erklären, was Sie damit meinen?
Ich möchte sagen, dass wir uns in einem Kampf befinden, in welchem es keine klare Sicht der Wahrheit mehr gibt, so wie sie von der Kirche immer weitergegeben wurde. Wir brauchen innerhalb der Kirche die Gegenwart der heiligen Engel, die uns die wahre Sicht Gottes bringen, welche die Kirche immer hatte. Heute herrscht eine fürchterliche, weitverbreitete' lehrmäßige, moralische und liturgische Verwirrung und sogar gute Menschen fangen an, Zweifel an grundlegenden, offensichtlichen Wahrheiten zu bekommen, die von der Kirche seit zweitausend Jahren gelehrt werden. Die Guten fangen an, aufgrund von verführerischen Theorien und Wörtern Zweifel zu hegen, Zweifel selbst an den grundlegenden Wahrheiten über Empfängnisverhütung, Scheidung und das Leben in einer ehebrecherischen Beziehung. In gewisser Weise haben diese Wörter einen magischen, demagogischen Effekt. Sie verschleiern häufig die Wahrheit hinter scheinbar schönen und verführerischen und eindrucksvollen Formulierungen wie "Vorrang der Barmherzigkeit", "Überraschungen des Heiligen Geistes", "Paradigmenwechsel", "individuelles Bewusstsein", "pastorale Begleitung" und "Unterscheidungsprozess". Alle diese Formulierungen können die göttliche Wahrheit, die die Kirche immer zu Fragen der Moral gelehrt hat, verbergen und verdrehen.
Das hört sich so an, als habe sich eine Art Fluch in der Kirche verbreitet, der viele Gemüter in eine Art geistlichen Tiefschlaf versetzt.
Sogar einige gute Priester und einige Gläubige sind mittlerweile so geblendet und verwirrt, dass sie eine klare Bestätigung oder eine öffentliche Erklärung katholischer Wahrheiten für unnötig halten. Man müsse stattdessen, so ihre Behauptung, seine Kräfte für eine Neuevangelisierung einsetzen und für pastorale Fragen, als ob die Verkündigung von Wahrheiten nicht pastoral wäre! Sie vergessen, dass eine klare Verkündigung offenbarter göttlicher Wahrheiten in den definitiven Formulierungen des kirchlichen Lehramtes einer der höchsten Ausdrücke pastoraler Sorge und Nächstenliebe ist. Diese Wahrheit wurde treffend von Papst Benedikt XVI. beschrieben, als er sagte: "Die Wahrheit zu verteidigen, sie demütig und überzeugt vorzubringen und sie im Leben zu bezeugen, sind daher anspruchsvolle und unersetzliche Formen der Liebe. Denn diese ,freut sich an der Wahrheit' (1 Kor 13,6)" (Caritas in veritate, Nr. 1).
Wir brauchen das Licht der heiligen Engel, die die Wahrheit klar sehen. Nur die Klarheit der Wahrheit wird uns Frieden in unser Leben bringen und uns die Erfahrung wahrer Barmherzigkeit ermöglichen.
Wir werden von zwei Seiten angegriffen: auf der einen Seite von den liberalen freimaurerischen Weltmächten, die mehr oder weniger in jedem Land der westlichen Hemisphäre regieren, und auf der anderen Seite von der neuen Macht des radikalen Islam. Beide haben dasselbe Ziel: die Christenheit zu zerstören, Christus aus der Welt zu entfernen. Auch hier, gegenüber den sichtbaren äußeren Feinden Christi, brauchen wir den Beistand der heiligen Engel, also der Engel Christi. Ich würde es daher in dieser Situation für sehr sinnvoll und angemessen für einen Papst halten, eines Tages die Kirche dem heiligen Josef und dem heiligen Erzengel Michael und allen Engeln zu weihen. Meiner Meinung nach wäre das eine sehr sinnvolle und sehr wirkungsvolle geistliche Hilfe in unserer Zeit. Wir haben die Beispiele von Papst Leo XIII., der die Welt im Jahr 1899 dem heiligsten Herzen Jesu weihte, und dann Papst Pius XII., der 1942 die Kirche und die Welt dem heiligsten Herzen Marias weihte, eine Weihe, die von anderen Päpsten wiederholt wurde, beispielsweise (erstmals) von Papst Johannes Paul II‚. im Jahr 1984.
Mit einer der letzten Ansprachen vor seinem Tod hinterließ uns Papst Pius XII. die folgende erhellende Ermahnung: "Erneuert euren Sinn für die unsichtbare Welt, die uns umgibt - weil wir den Blick nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare richten (2 Kor 4,18) -, und pflegt eine gewisse Vertraulichkeit mit den Engeln, die immer um eure Rettung und eure Heiligung besorgt sind. Wenn Gott es will, werdet ihr mit den Engeln eine glückliche Ewigkeit verbringen. Lernt sie hier, ab heute kennen" (Ansprache an amerikanische Pilger, 3. Oktober 1958).
19. Fatima und das "Dritte Geheimnis"
Wir haben über die Rolle der Engel im Leben der Kirche insgesamt und jedes einzelnen Menschen gesprochen. Das erinnert mich an den Engel von Fatima, der den Kindern Francisco, Jacinta und Lucia erschienen ist. Die Botschaft von Fatima ist sicher auch heute noch von Bedeutung. Exzellenz, meinen Sie, dass die Weihe von Russland an Unsere Liebe Frau vollzogen wurde, und glauben Sie, dass das, was gemeinhin als das "Dritte Geheimnis" bezeichnet wird, zur Gänze offengelegt wurde?
Wir wissen, dass Papst Johannes Paul II. am 24. März 1984 auf dem Petersplatz, in Anwesenheit der originalen Fatimastatue, die gesamte Menschheit dem Unbefleckten Herzen Mariens weihte. Bei dieser Weihe erwähnte er besonders jenes Volk, dessen Weihe die Gottesmutter vollzogen sehen möchte. Deshalb war es eine implizite Weihe Russlands.
In der Kathedrale Unserer Lieben Frau von Fatima in Karaganda wurde der hundertste Jahrestag der ersten Erscheinung Marias in Fatima am 13. Mai 2017 im Rahmen eines mariologischen Kongresses begangen. Papst Franziskus entsandte zu diesem Anlass einen päpstlichen Gesandten, Kardinal Paul Josef Cordes, und in seiner Predigt erwähnte Kardinal Cordes die sogenannte Weihe Russlands an das Unbefleckte Herz, die Papst Johannes Paul II. im Jahr 1984 vollzog. Er erzählte, er sei einige Zeit nach dieser Weihe vom Papst in dessen Wohnung zum Abendessen eingeladen worden, und während dieser Begegnung fragte er den Heiligen Vater: "Warum haben Sie nicht ausdrücklich Russland geweiht?" Johannes Paul II. antwortete: "Ich hatte die Absicht, das zu tun." Und er fügte dann hinzu, dass er wegen Bedenken der vatikanischen Diplomaten die Weihe nicht so formulieren konnte, wie er es ursprünglich beabsichtigt hatte, nämlich Russland ausdrücklich zu weihen. Wir können also sehen, dass Papst Johannes Paul II. wegen der politischen Konsequenzen, die die Vatikan-Diplomatie in den Raum stellte, die Weihe auf diese indirekte Weise vollzog. Das sind die Tatsachen.
Schwester Lucia wurde dazu befragt. Sie sagte: "Der Himmel hat es angenommen." Aber dieser Satz von Schwester Lucia oder andere ähnliche Sätze bedeuten für mich nicht, dass dieser Akt der vollkommenste war. Natürlich nimmt der Himmel es an, wenn ein Papst ein so schönes Gebet spricht und eine solche Weihe vollzieht. Der Himmel nimmt jedes aufrichtige und schöne Gebet an. Aber das bedeutet meiner Meinung nach nicht, dass in der Zukunft ein vollkommenerer Akt der Weihe nicht vollzogen werden könnte, den der Himmel dann ebenfalls empfangen und annehmen wird.
Glauben Sie nun, dass die Weihe, wie sie Maria in Fatima erbat, erfolgt ist oder nicht?
Sie ist noch nicht auf die Weise erfolgt, wie Maria es verlangt hat. Meiner Meinung nach muss die Weihe vollkommener vollzogen werden, das heißt mit der ausdrücklichen Erwähnung Russlands, zusammen mit den anderen Bedingungen, die die Gottesmutter nannte. Ich hoffe und glaube, dass eines Tages, durch einen vollkommenen Akt der Weihe Russlands an das Unbefleckte Herz durch einen zukünftigen Papst, der Himmel überreiche Gnaden über die Kirche und die Menschheit ausgießen wird sowie Gnaden zur vollen Bekehrung Russlands.
Und das "dritte Geheimnis" ...
Ja, da gibt es auch noch das sogenannte "dritte Geheimnis". Es war der Text des dritten Teils des Geheimnisses, der in Fatima von Kardinal Ratzinger im Beisein von Papst Johannes Paul II. gelesen wurde. Damals ließ der Heilige Stuhl verlauten: "Das ist alles." Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann von einem so hohen moralischen Niveau wie Kardinal Ratzinger, später Papst Benedikt XVI., in der Gegenwart eines Papstes die gesamte Welt betrügen würde. Das ist für mich ausgeschlossen. Ich glaube, was der Heilige Stuhl sagte, also dass dies der vollständige Text ist. Deshalb müssen wir nicht nach einer Art "viertem" Geheimnis von Fatima suchen. Einige Leute sagen: "Ich kenne das dritte Geheimnis von Fatima." Aber keiner konnte es kennen, denn es war ein Geheimnis. Einige sagen, sie sahen die Kommentare eines Kardinals, der es gesehen hat, aber das ist doch sehr wenig, um eine Theorie darauf aufzubauen, oder sogar mehr als eine Theorie, eine Überzeugung. Ich halte das für unseriös.
Aber möglicherweise gibt es einen Grund für das Missverständnis. Die Biografie von Schwester Lucia enthält eine Formulierung, die besagt, die Gottesmutter habe sie aufgefordert, den Text des Geheimnisses aufzuschreiben, aber nicht das, was sie ihr über das Geheimnis erklärte. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Der Text selbst wurde vollständig offenbart, aber es könnte noch Erklärungen Unserer Lieben Frau geben, die nicht geoffenbart wurden. Ich weiß es nicht. Es könnte sein. Doch die Erklärungen, die Unsere Liebe Frau Schwester Lucia gab, sind nicht der Text des Geheimnisses selbst. Wir müssen das auseinanderhalten.
Ob die Erklärungen wohl im Vatikan aufbewahrt sind?
Ich weiß es nicht. Was ich sage, ist lediglich eine Annahme, dass es möglicherweise eine Erklärung geben könnte, die konkreter auf das hinweist, was das Geheimnis bedeutet, eine Art Auslegung. Es könnte sein, dass diese Erklärung schriftlich festgehalten wurde und dass sie im Blick auf die gegenwärtige Krise der Kirche sehr unangenehm klang. Doch ich wiederhole noch einmal: Das ist eine Annahme und ich habe keine Möglichkeit, sie zu beweisen. Vielleicht ist es eine einleuchtende Annahme. Das ist die einzige Antwort, die ich denen geben kann, die nach wie vor einen angeblich nicht offengelegten Teil des Textes des Geheimnisses selbst erwarten.
Ich halte es nicht für vernünftig, auf einen Text zu warten, der möglicherweise in der Tat nicht existiert. Einige behaupten, Unsere Liebe Frau habe sicher über die gesamte innere Krise in der Kirche gesprochen. Aber wir brauchen keine Worte der Gottesmutter, um zu sehen, dass das der Wirklichkeit entspricht. Die Krise liegt so klar vor unseren Augen, dass wir kein Geheimnis brauchen. Mit Sicherheit ist es kein Geheimnis, dass wir in einer Krise leben. Dazu brauchen wir keine zusätzliche Bestätigung vom Himmel. Das gewaltige Ausmaß der Krise in der Kirche, in der wir gegenwärtig leben, ist offenkundig.
Im Licht der gegenwärtigen Krise müssen wir, so meine ich, eine einigermaßen nüchterne Haltung bewahren und uns auf den Kern der Botschaft von Fatima konzentrieren und das ist die Buße; wir müssen aufhören zu sündigen, denn Gott ist bereits zu sehr beleidigt; wir müssen Sühne leisten für die Sünden gegen Gott, gegen die heiligste Eucharistie und gegen das Unbefleckte Herz Marias. Der Teil der Fatima-Botschaft in den Erscheinungen des Engels, der sich auf die Eucharistie bezieht, ist ganz wichtig und sehr zeitgemäß. Und schließlich müssen wir den Rosenkranz für die Bekehrung der Sünder beten, die fünf Herz-Mariä-Sühne-Samstage einhalten, uns selbst und unsere Familien, unsere Länder, Russland und die gesamte Welt dem Unbefleckten Herzen weihen. Das ist so schön, so reich.
Was meinen Sie, wie sollten wir den dritten Teil des Geheimnisses von Fatima auslegen?
Der dritte Teil des Geheimnisses ist sehr zeitgemäß. Er zeigt, dass wir uns auf eine Zeit des Martyriums innerhalb der Kirche zubewegen. Er zeigt uns die Szene des göttlichen Zorns über die Sünde. Es gibt keine Verharmlosung der Sünde - das gilt im Unterschied zu dem, was wir heute als innerkirchlich modern erleben, mit der neuen sogenannten pastoralen Methode der "Barmherzigkeit", die letztlich sagt: "Du kannst weiterhin sündigen und du beleidigst Gott damit nicht." Das ist der falsche pastorale Ansatz. Leider wird er von vielen Priestern und Bischöfen umgesetzt und in gewissem Ausmaß auch vom Heiligen Stuhl unterstützt. Das ist jedoch das Gegenteil der Botschaft von Fatima - des dritten Teils des Geheimnisses -, in dem Gott den Engel mit dem Schwert zeigt, der aufruft zu "Buße, Buße, Buße" für die begangenen Sünden. Dann kommt der Trost, denn die Gottesmutter breitet ihre Hände aus. Als der Engel den zukünftigen Zorn Gottes ankündigt, erreicht das Feuer von seinem Schwert die Hände Marias und wird in Strahlen der Barmherzigkeit und der Umkehr verwandelt. Unsere Liebe Frau ist die Zuflucht aller Sünder. Das ist sehr tröstlich. Der dritte Teil des Geheimnisses ist sehr reich, sehr ernst. Für mich enthält er eine Botschaft darüber, wie ernst die Sünde zu nehmen ist. Wir müssen wieder über den Ernst, die Schwere, die Gefahr der Sünde predigen.
Der Text spricht außerdem über das Martyrium: Wir müssen uns darauf einstellen, von der Welt angegriffen zu werden. Unser Herr sagt ganz klar: "Euch kann die Welt nicht hassen; mich aber hasst sie, weil ich bezeuge, dass ihre Werke böse sind" (Joh 7,7). Diese Worte des Herrn haben das geistliche Antlitz der Kirche zu allen Zeiten geprägt.
Der Inhalt des dritten Teils des Geheimnisses widerspricht der Geisteshaltung, in welcher wir seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil leben, ja seit dem Pontifikat von Papst Johannes XXIII. Diese Geisteshaltung behauptet, dass die Welt uns nicht angreift und dass wir uns mit der Welt anfreunden, ja in gewissem Ausmaß den Anforderungen der Welt nachgeben müssen. So zu denken und zu sprechen, ist ziemlich naiv und unrealistisch. Seit der Zeit von Papst Johannes XXIII. war eine fortwährende Anpassung, eine Nachgiebigkeit gegenüber der Welt - gegenüber den Wünschen und der Geisteshaltung der Welt - bezeichnend für zahlreiche Vertreter der Kirche. Fjodor Dostojewski sagte: "Wenn der Glaube an Christus verfälscht und mit den Zielsetzungen dieser Welt vermengt wird, dann geht auch der Sinn des Christentums verloren und der Verstand wird zwangsläufig dem Unglauben anheimfallen" (Einführender Vortrag beim "Literarischen Morgentreffen" für Studenten an der Universität St. Petersburg, 30, Dezember 1879, vor der Lesung des Kapitels "Der Großinquisitor").
Die Vertreter der Kirche haben einen eindeutigen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der ungläubigen und unchristlichen Welt an den Tag gelegt und tun das nach wie vor. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die Kirche von Anbeginn an immer von der Welt verfolgt wurde und weiterhin verfolgt werden wird bis zum Ende der Zeiten; das ist ein entscheidender Teil der Botschaft von Fatima.
Wie deuten Sie den Teil des Textes, der von der halb in Trümmern liegenden Stadt spricht?
In der Bibel ist die Stadt, vor allem die Stadt Jerusalem, das Symbol der Kirche; die himmlische Kirche erscheint als eine Stadt, das Neue Jerusalem.
Ja, und vor allem im Alten Testament werden Städte häufig in der weiblichen Form beschrieben und sie werden vernichtet, wenn sie Gott untreu geworden sind.
Die Kirche wird in der Heiligen Schrift und vor allem in der Tradition der Kirchenväter als Stadt beschrieben. Im Text des Geheimnisses von Fatima ist die Stadt als halb zerstört dargestellt. Das bedeutet, dass die Kirche geistlich in Trümmern liegt - die Folge des Prozesses eines geistlichen Abbruchs in der Lehre, der Liturgie und im sittlichen Leben. Vom geistlichen Standpunkt aus ist die Kirche unserer Tage halb zerstört durch Häresien und Orientierungslosigkeit in der Lehre, durch Chaos in der Liturgie, durch das Chaos der Unsittlichkeit. Das ist ein ganz offensichtlicher Tatbestand. Jeder sieht das; keiner kann es vernünftigerweise abstreiten.
Und die Leichen, an denen der Papst auf seinem Weg durch die halb zerstörte Stadt vorbeikam?
Der Text des Geheimnisses spricht über den Papst, der an den Leichen von Priestern vorbeikommt. Das Bild der Leichen hat eine tiefere Bedeutung. Es handelt sich nicht bloß um physische Leichen, sondern zunächst und vor allem um geistliche Priesterleichen, die in der ganzen Stadt herumliegen. Heute sind wir Zeugen einer ungeheuerlichen Krise innerhalb des Klerus. Diese Krise betrifft nicht nur den niederen Klerus, sondern sie setzt sich fort bis hinauf in den höheren Klerus, also die Bischöfe und Kardinäle, und sie dauert bereits seit einem halben Jahrhundert an. Größtenteils wurde diese Krise durch die häufig unverantwortliche und sehr oberflächliche Auswahl der Kandidaten für das Bischofsamt und das Kardinalat verursacht. Solche sittlich beklagenswerten Bischofs- und Kardinalskandidaten, die häufig ihren Glauben verloren und ihren Herrn Jesus Christus verraten hatten, verdankten ihre Beförderung einer Günstlingswirtschaft, der Mitgliedschaft im selben klerikalen Weltanschauungsclub. Ich würde sogar die Mitgliedschaft in einer Art freimaurerisch-klerikaler Seilschaft nicht ausschließen.
Heute sind die geistlichen Leichen von Pädophilen, Sodomiten und ganz offen häretischen Bischöfen und Kardinälen für die gesamte Welt sichtbar. Eine der Botschaften, die sich in Dostojewskis berühmtem Kapitel "Der Großinquisitor" in seinem Roman Die Brüder Karamasow findet, lautet, dass selbst ein hochrangiger Prälat Atheist werden kann. Heute kann man wie schon in den vergangenen Jahrzehnten den Eindruck gewinnen, dass der oder jener Bischof oder Kardinal gar nicht so weit davon entfernt ist, zum Atheisten zu werden. Die anspruchsvollen und kristallklaren Wahrheiten Christi behindern diese Bischöfe und Kardinäle bei ihrer Arbeit, die göttlichen Gebote abzuschaffen. Diese Kleriker sagen der Welt: "Es gibt keine Sünde. Das erste und das sechste Gebot können vom heutigen Menschen nicht eingehalten werden. Heutzutage erlaubt der barmherzige Christus - wegen der Würde der ,LGBT'-Personen - ausdrücklich das Ausleben einer Vielzahl sexueller Neigungen und Er erlaubt auch das Ausleben religiöser Vielfalt einer globalen Brüderlichkeit unter den Menschen zuliebe."
Wie der Großinquisitor in Dostojewskis Roman sagen Bischöfe und Kardinäle, die in diesem Sinn reden und handeln, zu Christus, der die Wahrheit ist: "Geh und komm nie wieder!" Diese liberalen, weltlichen Bischöfe und Kardinäle haben die beständige, unveränderliche katholische Wahrheit eingekerkert. Die Wahrheit aber ist Christus, also haben sie Christus eingesperrt, genau wie der Großinquisitor in Dostojewskis Geschichte. Genau dadurch haben sich diese Bischöfe und Kardinäle in unseren Tagen als geistliche Leichen entpuppt. Wir sehen klar, wie aktuell und wichtig der dritte Teil des Geheimnisses von Fatima heute ist.
Aus diesen offensichtlichen Tatsachen können wir schließen, dass ein "viertes" Geheimnis von Fatima unnötig ist. Vielleicht gab Unsere Liebe Frau Schwester Lucia eine Erklärung; und wenn diese Erklärung tatsächlich existiert, dann wird sie vielleicht irgendwann einmal veröffentlicht. Ich glaube jedoch, dass es im Leben der Kirche keine schlimmere Situation geben kann als die, die wir momentan erleben.
20. Christus Vincit
Exzellenz, Sie haben die gegenwärtige Krise in der Kirche als die schlimmste bezeichnet, die sie je durchzumachen hatte. Wie können wir als Christen diese Krise mit einem kontemplativen Blick, also aus einer übernatürlichen Perspektive, betrachten? Könnte man sagen, dass die gegenwärtige Krise die Teilnahme der Kirche am heiligen Leiden unseres Herrn darstellt?
Die Kirche ist der mystische Leib Christi. In diesem Sinn ist die Kirche Christus selbst, der in der gesamten Geschichte lebt bis zum Ende der Zeit. Diese Wahrheit lässt sich bereits ganz zu Beginn der Existenz der Kirche ablesen, als sie Leiden und Verfolgung durch die Anführer der Synagoge zu erdulden hatte, vor allem durch das Wirken eines Pharisäers namens Saulus. Im Augenblick seiner Bekehrung vor den Toren von Damaskus hörte Saulus die Worte Christi, mit denen Er Sich mit Seiner verfolgten Kirche identifizierte: "Saul, Saul, warum verfolgst du Mich?" (Apg 9,4).
Zu einer Zeit, da die Kirche von innen verfolgt wurde, wie es damals während der arianischen Krise im 4. Jahrhundert der Fall war, gab der heilige Hilarius - der Athanasius des Westens - folgende ermutigende Erklärung ab: "Denn das ist der Kirche eigentümlich, dass sie triumphiert, wenn sie besiegt wird, dass sie besser verstanden wird, wenn sie angegriffen wird, dass sie sich erhebt, wenn ihre untreuen Mitglieder sie verlassen" (De Trin. 7,4).
An welchen Erscheinungen der heutigen Kirche sehen Sie die Geheimnisse des heiligen Leidens des Herrn offenbar werden?
Da sie der mystische Leib Christi und Seine Braut ist, muss die Kirche die Geheimnisse ihres göttlichen Bräutigams miterleben. Die gegenwärtige Krise ist zweifellos der Zeitpunkt tiefsten Leidens für die Kirche, der tiefsten Teilhabe am heiligen Leiden Christi. Das schlimmste Leiden der Kirche ist nicht die Verfolgung durch Feinde von außen, sondern die Verfolgung durch ihre Feinde von innen: skrupellosen Männern ohne Glauben, die es auf hohe, einflussreiche Positionen geschafft haben. Als Christus in Getsemani litt, erhielt Er keine Unterstützung von Seinen Aposteln; die drei, die Er in den Garten mitnahm, schliefen, während Er betete und die tiefste geistliche Angst, Seine Agonie durch litt. Als Christus festgenommen und verhört wurde, verleugnete Ihn auf feige Weise dreimal der Apostel Petrus, den Er zum sichtbaren Fels Seiner Kirche eingesetzt hatte. Als Christus gekreuzigt wurde, blieb nur ein einziger Apostel bei Ihm: der heilige Johannes, zusammen mit der Gottesmutter und den anderen heiligen Frauen.
Von den Umständen der Passion Christi her können wir besser den geistlichen, ja mystischen Sinn der Leiden der Braut Christi, der Kirche, verstehen. Die gegenwärtige Krise innerhalb der Kirche ist die tiefste Form des Leidens, weil die Kirche jetzt nicht von ihren Feinden verfolgt, gegeißelt, ihrer Kleider beraubt und verspottet wird, sondern in hohem Maße von ihren Hirten, von vielen, die Nachfolger der Apostel sind, von vielen Verrätern in den Reihen der Kleriker - den neuen Judassen.
Hier kann ich nicht umhin, die folgenden Worte von Erzbischof Fulton Sheen zu zitieren, die er 1948 niederschrieb und die für die gegenwärtige Situation eine erschütternde Bedeutung haben: ,,[Satan] wird eine Gegenkirche aufrichten, eine Nachäffung der Kirche. Sie wird alle Merkmale und Eigenschaften der Kirche haben, allerdings in umgekehrter Form und ihres göttlichen Inhalts entleert ... Der falsche Prophet wird eine Religion ohne Kreuz errichten. Eine Religion ohne Jenseits. Eine Religion, um die Religionen zu zerstören. Es wird eine gefälschte Kirche geben. Die eine Kirche wird die Kirche Christi sein und der falsche Prophet wird die andere errichten. Die falsche Kirche wird weltlich sein, ökumenisch und global. Es wird sich um einen losen Zusammenschluss von Kirchen und Religionen handeln, eine Art globalen Zusammenschluss, ein Weltparlament der Kirchen. Die falsche Kirche wird sämtlicher göttlichen Inhalte entleert sein; sie wird der mystische Körper des Antichristen sein. Der mystische Körper auf Erden heute wird seinen Judas Iskariot haben, und dieser wird der falsche Prophet sein. Satan wird ihn sich aus den Reihen unserer Bischöfe holen" (Der Kommunismus und das Gewissen der westlichen Welt, Berlin 1950).
Ein Gedanke, der einem Angst macht: Satan wird die Hierarchie der Kirche verderben, um eine falsche Kirche aufzurichten. Wie sollen die Gläubigen darauf reagieren?
Als Christus in Getsemani litt, wurde Er von einem Engel gestärkt. Das ist ein tiefes Geheimnis: Gott in Seiner Menschennatur wollte von einem Geschöpf getröstet und gestärkt werden. In dieser gewaltigen geistlichen Krise, die wir innerhalb der Kirche erleben, wird Christus getröstet und gestärkt von Seelen, die dem unverfälschten katholischen Glauben treu bleiben, von Seelen, die ein keusches, christliches Leben führen, von Seelen, die sich einem Leben des intensiven Gebets verpflichten, von Seelen, die den leidenden Christus, die leidende Mutter Kirche nicht im Stich lassen, nicht davonlaufen. Die Tröstung und die Stärke, die Christus vom Engel in Getsemani empfing, sie enthielten bereits all die Akte der Sühne und Genugtuung aller gläubigen Seelen in der gesamten Geschichte der Kirche. So viele Seelen leiden gegenwärtig, vor allem in den vergangenen fünfzig Jahren, wegen der ungeheuerlichen Krise der Kirche. Am kostbarsten sind die verborgenen Leiden der Kleinen, jener Personen, die vom liberalen, weltlichen und ungläubigen kirchlichen Establishment an den Rand der Kirche geschoben wurden. Ihre Leiden sind kostbar, denn sie trösten und stärken Christus, der in unserer gegenwärtigen Krise in der Kirche mystisch leidet.
Wir kennen auch den berühmten Satz von Blaise Pascal in seinen Pensées: "Jesus wird bis zum Ende der Welt in Agonie sein. Wir dürfen in dieser Zeit nicht schlafen" (Nr. 553). Die gegenwärtige Krise der Kirche, ein mystisches Leiden Christi in und für Seine Kirche, sollte uns alle aufrütteln, dass wir nicht geistlich einschlafen, sondern wachsam bleiben, damit wir vom Geist der Welt nicht getäuscht werden können, der sich in der Kirche überall ausgebreitet hat.
Als die Kirche im 16. Jahrhundert den gewaltigen Sturm einer geistlichen Krise erlebte - einer Krise, die hauptsächlich durch die Treulosigkeit, die geistliche Trägheit und den Ärgernis erregenden Lebensstil des Klerus verursacht war -, formulierte der heilige Petrus Canisius, der zweite Apostel Deutschlands, diese schockierende Beobachtung: "Petrus schläft, Judas jedoch ist wach." Diese Feststellung können wir voll und ganz auf die gegenwärtige Krise in der Kirche anwenden. Die höchsten kirchlichen Autoritäten schliefen während der vergangenen fünf Jahrzehnte weitgehend, indem sie nicht verhinderten, dass unwürdige Personen einflussreiche kirchliche Ämter erlangten. Ungläubige und häufig moralisch verdorbene Bischöfe und Kardinäle waren die neuen Judasse, die im Gegensatz dazu hellwach und bereit waren, Christus auf verschiedene Weise zu verraten. Man erinnere sich an die Worte des heiligen Vinzenz von Paul, der sagte, dass die Priester, die heute so leben, wie dies bei den meisten von ihnen der Fall ist, die größten Feinde der Kirche sind, welche die Kirche Gottes überhaupt aufzuweisen hat. Die Verderbtheit der Geistlichkeit ist die Hauptursache der Verfalls der Kirche ( vgl. Conferences, Discourse, Exhortation, 55). Diese Worte sind voll und ganz auf die gegenwärtige Krisensituation innerhalb der Kirche übertragbar.
Kardinal Robert Sarah spricht in seinem letzten Buch Herr, bleibe bei uns über die niederschmetternde Realität und das Geheimnis des Judas in den Reihen der Kleriker. Die Überschrift des ersten Kapitels lautet: "Judas Ischariot - leider!" (Deutsche Überschrift: "Das Geheimnis des Judas Ischariot") und wir lesen darin Folgendes: "Unsere Kirchenmauern triefen vom Geheimnis des Verrats ... Wir erleben das Geheimnis der Bosheit, des Verrats - das Geheimnis des Judas ... Überall hat sich das Übel eines auf Effizienz erpichten Aktivismus eingeschlichen ... Wir versuchen, die Organisation großer Unternehmen nachzuahmen, und vergessen dabei, dass allein das Gebet das Blut ist, welches durch die Adern der Kirche fließt: Wer nicht mehr betet, hat schon Verrat begangen. Er ist schon zu sämtlichen Kompromissen mit der Welt bereit: unterwegs in den Spuren des Judas."
Doch selbst unter so vielen klerikalen Judassen innerhalb der Kirche von heute müssen wir immer an der übernatürlichen Sicht des Sieges Christi festhalten, der durch das Leiden Seiner Braut triumphieren wird, durch das Leiden der Reinen und Kleinen in allen Reihen der Mitglieder der Kirche: Kinder, Jugendliche, Familien, Ordensmitglieder, Priester, Bischöfe und Kardinäle. Wenn sie Christus treu bleiben, wenn sie den katholischen Glauben unverfälscht bewahren, wenn sie ein Leben der Keuschheit und Demut leben, dann sind sie die Reinen und Kleinen in der Kirche. Die folgenden Worte des heiligen Paulus, die auf die Seelen der Einzelnen bezogen sind, beziehen sich genauso auf die Kirche und vor allem auf die Kirche unserer Tage: ,,wenn wir mit Ihm leiden, werden wir auch mit Ihm verherrlicht werden" (Röm 8,17).
Der heilige Alexander von Alexandria, unmittelbarer Vorgänger des heiligen Athanasius, hinterließ uns die folgende kostbare Feststellung über die Unbesiegbarkeit der Kirche: "Die Eine einzige katholische und apostolische Kirche wird immer unüberwindbar bleiben, selbst wenn die ganze Welt gegen sie kämpft. Denn der Herr hat sie gestärkt, indem er sagte: ,Seid getrost! Ich habe die Welt überwunden' (Joh 16,33), (Ep, Ad Alexandrum Thessalonicensem, in Theodoret, Hist, eccl. I, 4)." Am Obelisk auf dem Petersplatz sind die Worte Christus vincit eingemeißelt und die Spitze dieses Obelisken enthält eine Reliquie des wahren Kreuzes. Die römische Kirche, die apostolische Cathedra des Apostels Petrus, ist sozusagen mit diesen leuchtenden Worten Christus vincit und mit der Macht des heiligen Kreuzes Christi gekrönt. Selbst wenn man während der gegenwärtigen Krise und der geistlichen Verdunkelung den Eindruck gewinnen kann, dass die Feinde Christi und Seines Kreuzes in gewissem Umfang den Heiligen Stuhl in Besitz genommen haben, wird Christus sie dennoch besiegen. Christus vincit !
Exzellenz, welchen Weg sehen Sie aus der gegenwärtigen Krise hin zum Sieg in Christus?
Der Weg ist der immer gültige Weg, den uns Christus selbst, Seine Apostel und die Kirche im Lauf von über zwei Jahrtausenden gezeigt haben: der Weg der Untrennbarkeit von Wahrheit und Liebe. Es ist der Weg, welcher Christus - das Fleisch gewordene Wort, die Fleisch gewordene Wahrheit, den Fleisch gewordenen Sohn Gottes - unmissverständlich in den Mittelpunkt der Lehrverkündigung, der Liturgie, des sittlichen Lebens stellt und vor allem in den Mittelpunkt des missionarischen Eifers und des Wirkens der gesamten Kirche. Dieser Weg lässt sich zusammenfassen mit der brillanten, knappen Wendung, die ich auf dem Grabmal von Warren H. Carroll, dem Gründer des Christendom College in Front Royal, Virginia, USA gelesen habe:
"Die Wahrheit existiert. Die Menschwerdung Gottes hat stattgefunden. "
Der Weg zum Sieg für die katholische Kirche muss mit einer gründlichen Erneuerung der eucharistischen Liturgie und des eucharistischen Lebens der Kirche beginnen, denn die Kirche leidet seit vielen Jahrzehnten an der geistlichen Krankheit "eucharistischer Herzinsuffizienz". Diese Erneuerung muss von einem übernatürlichen, ehrfurchtsvollen Christozentrismus angetrieben werden, denn das Sakrament der Eucharistie ist das Herz der Kirche, von dem aus sich ihr gesamtes Leben aufbaut und durch das sie am Leben gehalten wird.
Seit einiger Zeit bereitet die göttliche Vorsehung nun schon den Boden für einen wahren Frühling der Kirche, denn der angebliche Frühling der Kirche, den Papst Johannes XXIII. ankündigte, ist gescheitert, wie wir in den Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils miterleben mussten. Bis jetzt haben wir in einem kirchlichen Phantomfrühling gelebt.
Wo sehen Sie Hoffnungszeichen?
Aufgrund der Gnade der göttlichen Vorsehung, die niemals scheitert, können wir Zeichen eines echten Frühlings beobachten. Wir sehen viele kleine geistliche Schneeglöckchen: Das sind die Kleinen in der Kirche, jene, die nicht zur Verwaltungs- und Machtstruktur der kirchlichen "Nomenklatura" gehören. Diese geistlichen Schneeglöckchen sind Kinder, unschuldige Jungen und Mädchen, keusche junge Männer und Frauen, echte katholische Eheleute, Familienväter und -mütter, alleinlebende Personen, Witwen, Mönche, kontemplative Nonnen, die geistlichen "Perlen" der Kirche - und auch einfache Priester, die wegen ihrer Glaubenstreue häufig ausgegrenzt und gedemütigt werden. Und es gibt Laien und Mitglieder des Klerus, die inmitten des Schlachtfelds mutig Christus, die Wahrheit, verteidigen und dabei ihren persönlichen zeitlichen Vorteil aufs Spiel setzen. Ich würde sie als die geistlichen "Lachse" unserer Gegenwart bezeichnen, weil sie gegen den Strom schwimmen und über Hindernisse hinweg in die Richtung der reinen Gewässer ihres Herkommens springen. Die ganz und gar reine Quelle und der Ursprung der Kirche ist eben die Person Jesu Christi und ganz konkret die heiligste Eucharistie. Die zunehmende Anzahl geistlicher "Schneeglöckchen" und "Lachse" wird ganz gewiss der gesamten streitenden Kirche zugutekommen und zum glücklichen Zustand der heiligen römischen Kirche beitragen, pro felici statu sanctae Romanae ecclesiae.
In der Dunkelheit der gegenwärtigen Krise der Kirche können wir Licht und Ermutigung aus den Worten Leos des Großen († 461) schöpfen, des heiligen Papstes, mit denen er den unbesiegbaren Glauben der Kleinen in der Kirche zu beschreiben pflegte. Er sagte: "Der Glaube, der durch die Gabe des Heiligen Geistes grundgelegt ist, wurde nicht durch Ketten, Verhaftungen, Verbannungen, Hunger, Feuer, Angriffe wilder Tiere, perfide Foltermethoden grausamer Verfolger abgeschreckt und eingeschüchtert. Für diesen Glauben kämpften überall auf der Welt nicht nur Männer, sondern auch Frauen, nicht nur bartlose Knaben, sondern auch zarte Mädchen bis zum Vergießen ihres Blutes" (Sermo 74,3).
Christus wird die gegenwärtige Krise Seiner Kirche in und durch die Eucharistie überwinden. Einer meiner Lieblingsheiligen, der heilige Peter Julian Eymard (1811-1868), ein moderner Heiliger mit einer glühenden Verehrung des allerheiligsten Sakraments und mit tiefen Einsichten in dessen heiliges Geheimnis, hinterließ uns die folgenden Worte über den Triumph Christi durch die Eucharistie - das eucharistische Christus vincit -, die ich hier ausführlich zitiere und mit denen ich unser Gespräch enden lassen möchte.
DER TRIUMPH JESU CHRISTI DURCH DIE EUCHARISTIE
ab omni malo plebem suam defendat.
Christus Sieger, Christus König, Christus Herrscher.
Papst Sixtus V. ließ diese Worte auf dem Obelisken anbringen, der in der Mitte des Petersplatzes in Rom steht. Diese Worte sind in der Gegenwarts-, nicht in der Vergangenheitsform geschrieben, um anzudeuten, dass der Triumph Christi immer aktuell ist und dass er in der Eucharistie und durch die Eucharistie bewirkt wird.
CHRISTUS vincit. Christus Sieger.
Unser Herr hat gekämpft und Er ist auf dem Schlachtfeld Sieger geworden. Er hat dort seine Fahne aufgepflanzt: das Kreuz; und Seine Wohnstatt aufgeschlagen: die Eucharistie. Er hat das Judentum besiegt und dessen Tempel und Er hat einen Tabernakel auf dem Kalvarienberg, wohin sich alle Völker zur Anbetung begeben unter den sakramentalen Gestalten. Er hat das Heidentum besiegt. Er hat Rom, die Stadt der Caesaren, als Hauptstadt auserwählt.
Er hat die falsche Weisheit der Philosophen besiegt; die göttliche Eucharistie erhob sich über der Welt und ergoss ihre Strahlen über die ganze Erde, die Dunkelheit wich zurück wie die Schatten der Nacht bei Anbruch des Tages. Vor der göttlichen Eucharistie haben die Irrtümer die Flucht ergriffen, wie die Finsternis vor der Sonne. Die Götzenstatuen sind umgestürzt; die Menschenopfer sind abgeschafft. Jesus Christus ist ein Eroberer, der nie haltmacht, Er geht immer vorwärts; das ganze Universum muss sich Seiner sanften Herrschaft unterwerfen.
Jedes Mal, wenn Er von einem Land Besitz ergreift, schlägt Er darin Sein eucharistisches königliches Zelt auf. Die Errichtung eines Tabernakels ist Seine offizielle Besitzergreifung eines Landes. Auch heute noch zieht Er aus zu heidnischen Völkern; und wohin auch immer die Eucharistie gebracht wird, bekehren sich die Menschen zum Christentum. Das ist das Geheimnis des Triumphs unserer katholischen Missionare und des Scheiterns der protestantischen Prediger. Für diese kämpft der Mensch allein; für uns kämpft Jesus und Er wird sicher triumphieren.
CHRISTUS regnat. Christus Herrscher.
Jesus regiert aber nicht über irdische Territorien, sondern über Seelen, und zwar durch die Eucharistie. Ein König muss durch seine Gesetze und durch die ihm von seinen Untertanen entgegengebrachte Liebe herrschen. Die Eucharistie ist das Gesetz des Christen: ein Gesetz der Liebe, das im Abendmahlssaal mit den herrlichen Worten nach dem Abendmahl geoffenbart wurde: "Das ist Mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie Ich euch geliebt habe. Wenn ihr Mich liebt, so haltet Meine Gebote."
Dieses Gesetz ist geoffenbart in der Kommunion; die Augen des Christen werden in der heiligen Kommunion geöffnet wie jene der Jünger von Emmaus und so versteht der Christ die Fülle des Gesetzes. Das "Brechen des Brotes" war es, was die ersten Christen angesichts der Verfolgung so tapfer machte und treu in der Befolgung des Gesetzes Jesu Christi.
Das Gesetz Christi ist eines, ganz, umfassend und ewig. Es wird sich nie ändern oder in irgendeiner Weise vermindert werden; Jesus Christus Selbst, sein göttlicher Urheber, verteidigt es. Er graviert es durch Seine Liebe in unsere Herzen ein; der Gesetzgeber Selbst macht Sein göttliches Gesetz jeder einzelnen Seele bekannt. Sein Gesetz ist ein Gesetz der Liebe. Wie viele Könige herrschen durch Liebe? Jesus ist der Einzige, dessen Joch nicht mit Gewalt aufgelegt wird; Seine Herrschaft ist der Inbegriff von Milde. Seine wahren Untertanen sind Ihm im Leben und im Tod ergeben; sie würden lieber sterben, als Ihm untreu werden.
CHRISTUS imperat. Christus König.
Kein König herrscht über das gesamte Universum; jeder irdische König hat einen anderen, der ihm an Macht gleichkommt. Gottvater aber hat zu Jesus gesagt: "Ich gebe dir die Nationen zum Erbe." Und unser Herr hat Seinen Hauptleuten gesagt, als Er sie in die ganze Welt entsandte: "Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht und lehrt alle Völker, lehrt sie zu halten alles, was Ich euch aufgetragen habe."
Er gab Seine Gebote vom Abendmahlssaal aus. Der eucharistische Tabernakel, eine Verlängerung oder ein Abbild des Abendmahlssaales, ist das Hauptquartier des Königs der Könige. All jene, die den guten Kampf kämpfen, empfangen ihre Befehle von hier. In der Gegenwart des eucharistischen Jesus sind alle Menschen Untertanen, alle müssen gehorchen, angefangen beim Papst, dem Stellvertreter Jesu Christi, bis hinunter zum letzten Gläubigen.
CHRISTUS ab omni malo plebem suam defendat. Möge Christus Sein Volk vor allem Bösen beschützen.
Die Eucharistie ist der göttliche Blitzableiter, der die Blitze der göttlichen Gerechtigkeit abwendet. So wie eine zärtliche, liebende Mutter ihr Kind an ihre Brust drückt, ihre Arme um es schlingt und es mit ihrem Leib beschirmt, um es vor dem Zorn eines aufgebrachten Vaters zu retten, so vervielfacht Jesus Seine Gegenwart überall, Er bedeckt die Welt und umfasst sie mit Seiner gnädigen Gegenwart. Die göttliche Gerechtigkeit weiß nicht, wo sie zuschlagen kann; sie wagt es nicht.
Und welch ein mächtiger Schutz gegen den Teufel! Das Blut Jesu, das unsere Lippen rötet, macht uns zu einem Schrecken für Satan; wir sind besprengt mit dem Blut des wahren Lammes, und der Würgeengel wird keinen Zutritt haben. Die Eucharistie beschützt den Sünder, sodass ihm Zeit für die Buße gegeben ist. Ach! Gäbe es die Eucharistie nicht, dieses fortdauernde Golgota, wie häufig hätte uns nicht der Zorn Gottes bereits getroffen!
Und wie unglücklich sind doch die Nationen, welche die Eucharistie nicht mehr besitzen! Welche Finsternis! Welche Verwirrung der Geister! Welche Kälte in den Herzen! Satan ist der einzige Herrscher und mit ihm alle bösen Leidenschaften. Uns aber befreit die Eucharistie von allem Bösen. Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat; ab omni malo plebem suam defendat !
ANHANG
"'Die Kirche des lebendigen Gottes - Säule und Fundament der Wahrheit" (1 Tim 3,15)
Bischof Athanasius Schneider initiierte diese Erklärung und war einer ihrer Hauptbeitragenden.
DIE GRUNDLAGEN DES GLAUBENS
1. Die richtige Bedeutung der Ausdrücke "lebendige Überlieferung", "lebendiges Lehramt", "Hermeneutik der Kontinuität" und "Lehrentwicklung" enthält die Wahrheit, dass, welch immer neue Einsichten in das Glaubensgut auch ausgedrückt werden, diese jedoch nicht dem widersprechen können, was die Kirche immer "in derselben Lehre, in demselben Sinn und in derselben Auffassung" vorgelegt hat (vgl. Erstes Vatikanisches Konzil, Dei filius, 3. Sitzung, Nr. 4: "in eodem dogmate, eodem sensu, eademque sententia").
2. "Der Sinn der dogmatischen Formeln selbst aber bleibt in der Kirche immer wahr und konstant, auch wenn er mehr erhellt und vollständiger erkannt wird." Deshalb ist die Meinung falsch, die sagt, dass "erstens die dogmatischen Formeln (oder gewisse Arten von ihnen) die Wahrheit nicht bestimmen, sondern nur veränderlich approximativ bezeichnen und dabei verunstalten oder verändern; zweitens die Wahrheit nur unbestimmt bezeichnen, die man ständig durch die genannten Annäherungswerte suchen müsse. Wer eine solche Meinung annimmt, entgeht nicht einem dogmatischen Relativismus und verfälscht den Begriff der Unfehlbarkeit der Kirche, die sich auf die Lehre und das Festhalten der Wahrheit in bestimmter Gestalt erstreckt" (Glaubenskongregation, Erklärung "Mysterium Ecclesiae über die Kirche und ihre Verteidigung gegen einige Irrtümer von heute", 5).
DER GLAUBE (DAS CREDO)
3. "Wir bekennen, dass Gottes Reich hier auf Erden in der Kirche Christi seinen Anfang nahm, die nicht von dieser Welt ist, deren Antlitz ja vergeht, und, dass das ihm eigene Wachstum nicht mit dem Fortschritt der Zivilisation, der Wissenschaft und Technik des Menschen gleichgesetzt werden darf, sondern darin besteht, immer tiefer den unergründlichen Reichtum Christi zu erkennen, immer zuversichtlicher auf die ewigen Güter zu hoffen, mit immer brennenderem Herzen der Liebe Gottes zu antworten und den Menschen immer freigebiger die Güter der Gnade und Heiligkeit mitzuteilen. Die stete Sorge der Kirche, der Braut Christi, für die Not der Menschen, für ihre Freuden und Hoffnungen, für ihre Arbeiten und Mühen ist demnach nichts anderes als die große Sehnsucht, ihnen nahe zu sein, um sie zu erleuchten mit dem Lichte Christi und sie alle in ihm, ihrem alleinigen Heiland, zu vereinen. Diese Sorge kann niemals bedeuten, dass sich die Kirche den Dingen dieser Welt gleichförmig macht, noch kann sie die brennende Sehnsucht mindern, mit der die Kirche ihren Herrn und sein ewiges Reich erwartet" (Paul VI., Apostolischer Brief Solemni hac liturgia [Das Credo des Gottesvolkesl, 27). Demnach ist die Meinung falsch, die besagt, dass Gott grundsätzlich allein schon durch die Verbesserung der zeitlichen und irdischen Bedingungen des Menschengeschlechts verherrlicht wird.
4. Nach der Einsetzung des Neuen und Ewigen Bundes in Jesus Christus wird niemand erlöst allein durch die Befolgung des Gesetzes des Moses, ohne den Glauben an Christus als den wahren Gott und einzigen Erlöser des Menschengeschlechts (vgl. Röm 3,28; Gal 2,16).
5. Muslime und andere, denen der Glaube an Jesus Christus, den wahren Gott und wahren Menschen, fehlt, selbst wenn sie Monotheisten sind, können Gott nicht dieselbe Anbetung erweisen wie die Christen, d. h. eine übernatürliche Anbetung im Geist und in der Wahrheit (vgl. Joh 4,24; Eph 3,8) derjenigen, die den Geist der Gotteskindschaft erhalten haben (vgl. Röm 8,15).
6. Spiritualitäten und Religionen, die irgendeine Art von Götzenverehrung oder von Pantheismus fördern, können weder als "Samen" noch als "Früchte" des göttlichen Wortes angesehen werden, weil sie Trugbilder sind, die die Evangelisation und das ewige Heil ihrer Anhänger ausschließen, wie es in der Heiligen Schrift gelehrt wird: "Denn der Gott dieser Weltzeit hat das Denken der Ungläubigen verblendet. So strahlt ihnen der Glanz des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, der Gottes Bild ist, nicht auf" (2 Kor 4,4).
7. Wahrer Ökumenismus beabsichtigt, dass Nichtkatholiken in jene Einheit eintreten, die die katholische Kirche schon unzerstörbar besitzt, gemäß dem Gebet Christi, das immer von Seinem Vater gehört wird, "dass sie eins seien" (Joh 17,11), und die sie im Credo bekennt: "Ich glaube an die eine Kirche." Ökumenismus kann deshalb legitimerweise nicht das Ziel haben, eine Kirche zu errichten, die jetzt noch nicht existiert.
8. Die Hölle existiert und diejenigen, die in die Hölle verdammt sind aufgrund einer unbereuten Todsünde, sind auf ewig durch die göttliche Gerechtigkeit bestraft (vgl. Mt 25,46). Nicht nur die gefallenen Engel, sondern auch menschliche Seelen sind auf ewig verdammt (vgl. 2 Thess 1,9; 2 Petr 3,7). Die auf ewig verdammten Menschen werden nicht ausgelöscht, weil ihre Seelen unsterblich sind, gemäß der unfehlbaren Lehre der Kirche (vgl. 5. Laterankonzil, 8. Sitzung).
9. Die aus dem Glauben an Jesus Christus, den eingeborenen Sohn Gottes und den einzigen Erlöser des Menschengeschlechts, geborene Religion ist die einzige Religion, die von Gott positiv gewollt ist. Deshalb ist die Meinung falsch, die sagt, dass, auf dieselbe Weise, wie Gott positiv die Verschiedenheit des männlichen und weiblichen Geschlechts und die Vielfalt der Nationen will, er auch die Vielfalt der Religionen will.
10. "Unsere [die christliche] Religion stellt tatsächlich eine echte und lebendige Verbindung mit Gott her, was den übrigen Religionen nicht gelingt, auch wenn sie sozusagen ihre Arme zum Himmel ausstrecken" (Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi, 53).
11. Das Geschenk des freien Willens, mit dem Gott der Schöpfer die menschliche Person ausgestattet hat, gewährt dem Menschen das natürliche Recht, nur das Gute und Wahre zu wählen. Keine menschliche Person hat deshalb ein natürliches Recht, Gott zu beleidigen, indem sie das sittliche Übel der Sünde, des religiösen Irrtums, der Götzenverehrung, der Gotteslästerung oder eine falsche Religion wählt.
DAS GESETZ GOTTES
12. Eine gerechtfertigte Person hat die notwendige Kraft, mit Gottes Gnade die objektiven Forderungen des göttlichen Gesetzes zu erfüllen, weil alle Gebote Gottes für den Gerechtfertigten möglich sind. Wenn die Gnade Gottes den Sünder rechtfertigt, bewirkt sie kraft ihrer Natur eine Abkehr von allen schweren Sünden. (Vgl. Konzil von Trient, Dekret über die Rechtfertigung, Kap. 11; Kap. 13)
13. "Die Gläubigen sind verpflichtet, die spezifischen, von der Kirche im Namen Gottes, des Schöpfers und Herrn, vorgelegten und gelehrten sittlichen Gebote anzuerkennen und zu achten. Die Gottesliebe und die Nächstenliebe sind nicht zu trennen von der Einhaltung der Gebote des Bundes, der im Blut Jesu Christi und durch die Gabe des Geistes erneuert wurde" (Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor, 76). Gemäß der' Lehre derselben Enzyklika ist die Meinung derjenigen falsch, die "glauben, die freie und bedachte Wahl von Verhaltensweisen, die den Geboten des göttlichen und des Naturgesetzes widersprechen, als sittlich gut rechtfertigen zu können". Deshalb "können sich diese Theorien nicht auf die katholische moralische Tradition berufen" (ebd.).
14. Alle Gebote Gottes sind gleich gerecht und barmherzig. Deshalb ist die Meinung falsch, die sagt, dass eine Person durch den Gehorsam im Bezug auf ein göttliches Verbot - wie z. B. das sechste Gebot, die Ehe nicht zu brechen - durch diesen Akt des Gehorsams gegen Gott sündigen, sich selbst moralisch schädigen oder gegen eine andere Person sündigen kann.
15. "Kein Umstand, kein Zweck, kein Gesetz wird jemals eine Handlung für die Welt statthaft machen können, die in sich unerlaubt ist, weil sie dem Gesetz Gottes widerspricht, das jedem Menschen ins Herz geschrieben, mit Hilfe der Vernunft selbst erkennbar und von der Kirche verkündet worden ist" (Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium Vitae, 62). Es gibt moralische Prinzipien und moralische Wahrheiten, die in der göttlichen Offenbarung und im natürlichen Sittengesetz enthalten sind, die negative Verbote einschließen, die bestimmte Arten von Handlungen absolut verbieten, insofern als diese Art von Handlungen immer ein schweres Unrecht hinsichtlich ihres Objekts darstellen. Daher ist die Meinung falsch, dass eine gute Absicht oder eine gute Folgetat ausreichend sei oder sein könne, um die Durchführung solcher Handlungen zu rechtfertigen (vgl. Konzil von Trient, Sitzung 6 de iustificatione, c. 15; Johannes Paul II., Apostolische Exhortation Reconciliatio et paenitentia, 17; Enzyklika Veritatis splendor, 80).
16. Einer Frau, die in ihrem Schoß ein Kind empfangen hat, ist es durch natürliches und göttliches Gesetz verboten, dieses menschliche Leben in ihr durch eigene Handlung oder mit Hilfe von anderen direkt oder indirekt zu töten (vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, 62).
17. Prozeduren, die eine Empfängnis außerhalb des Mutterleibes bewirken, sind "vom moralischen Standpunkt aus unannehmbar, da sie die Zeugung von dem gesamtmenschlichen Zusammenhang des ehelichen Aktes trennen" (Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, 14).
18. Niemand ist moralisch dazu berechtigt, um zeitlichem Leiden zu entfliehen, sich vorsätzlich selbst zu töten oder andere dazu zu bewegen, ihn zu töten: "Euthanasie ist eine schwere Verletzung des göttlichen Gesetzes, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche gelehrt" (Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium Vitae, 65).
19. Die Ehe ist durch göttliche Anordnung und durch das natürliche Sittengesetz eine unauflösliche Vereinigung von einem Mann und einer Frau (vgl. Gen 2,24; Mk 10,7-9; Eph 5,31-32). "Durch ihre natürliche Eigenart sind die Institution der Ehe und die eheliche Liebe auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet und finden darin gleichsam ihre Krönung" (Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, 48).
20. Gemäß dem natürlichen und göttlichen Gesetz kann niemand freiwillig und ohne dabei eine Sünde zu begehen seine sexuellen Kräfte außerhalb einer gültigen Ehe ausüben. Es steht deshalb im Gegensatz zur Heiligen Schrift und zur Tradition zu behaupten, das Gewissen könne wahr und richtig urteilen, dass sexuelle Akte zwischen Personen, die eine zivile Ehe miteinander geschlossen haben, manchmal sittlich richtig oder gefordert oder sogar von Gott befohlen sein können, obwohl eine oder beide Personen in einer sakramentalen Ehe mit einer anderen Person verbunden sind (vgl. 1 Kor 7,11; Johannes Paul II., Apostolische Exhortation Familiaris Consortio, 84).
21. Gemäß dem natürlichen und göttlichen Gesetz "ist jede Handlung verwerflich, die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes oder im Anschluss an ihn beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkungen darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel" (Paul VI., Enzyklika Humanae vitae, 14).
22. Jeder Ehemann oder jede Ehefrau, der oder die eine zivile Scheidung von seinem Ehepartner, mit dem er oder sie gültig verheiratet ist, erlangt und eine Zivilehe mit einer anderen Person noch zu Lebzeiten seines Ehepartners geschlossen hat und der ehelich mit dem zivilen Partner lebt und der sich entschließt, in diesem Stand mit vollem Wissen um die Natur der Handlung und mit voller Zustimmung seines Willens zu dieser Handlung zu verbleiben, befindet sich im Stand der Todsünde und kann deshalb nicht die heiligmachende Gnade empfangen und in der Liebe wachsen. Deshalb können diese Christen, wenn sie nicht als "Bruder und Schwester" leben, die heilige Kommunion nicht empfangen (vgl. Johannes Paul H., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 84).
23. Zwei gleichgeschlechtliche Personen, die gegenseitige geschlechtliche Lust suchen, sündigen schwer (vgl. Lev 18,22; Lev 20,13; Röm 1,24-28; 1 Kor 6,9-10; 1 Tim 1,10; Jud 7). Homosexuelle Handlungen "sind in keinem Fall zu billigen" (Katechismus der Katholischen Kirche, 2357). Daher widerspricht es dem Naturgesetz und der göttlichen Offenbarung zu behaupten, dass in der gleichen Weise, wie Gott der Schöpfer einigen Menschen eine natürliche Anlage gegeben hat, sexuelles Verlangen für Personen des anderen Geschlechts zu empfinden, Er einigen Menschen die natürliche Anlage gegeben hat, sexuelles Verlangen für Personen des eigenen Geschlechts zu empfinden und dass Er beabsichtigt, dass diese Anlage in gewissen Umständen auch ausgelebt wird.
24. Kein menschliches Gesetz und keine menschliche Macht kann zwei Personen desselben Geschlechts das Recht geben, einander zu heiraten, oder solche Personen als verheiratet zu erklären, weil das im Gegensatz zum natürlichen und göttlichen Gesetz steht. "Nach dem Plan des Schöpfers gehören also die Komplementarität der Geschlechter und die Fruchtbarkeit zum Wesen der ehelichen Institution" (Kongregation für die Glaubenslehre, Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen, 3. Juni 2003, 3).
25. Verbindungen, die den Namen "Ehe" tragen, ohne dass sie es in Wirklichkeit sind, können nicht den Segen der Kirche erhalten, weil das im Gegensatz zum natürlichen und zum göttlichen Gesetz steht.
26. Die staatliche Gewalt darf keine bürgerliche oder legale Vereinigung zweier Personen desselben Geschlechts, die offensichtlich den Ehebund imitieren, einführen, auch wenn solche Vereinigungen nicht den Namen "Ehe" erhalten, weil solche Vereinigungen für die Personen, die in diesen leben, Anlass zur schweren Sünde geben und ein großes Ärgernis für andere verursachen (vgl. Glaubenskongregation, Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen, 3. Juni 2003, 11).
27. Das männliche und das weibliche Geschlecht, Mann und Frau, sind biologische Realitäten, die durch den weisen Willen Gottes erschaffen wurden (vgl. Gen 1,27; Katechismus der Katholischen Kirche, 369). Es ist deshalb eine Auflehnung gegen das natürliche und göttliche Gesetz und eine schwere Sünde, dass ein Mann versucht, eine Frau zu werden, indem er sich verstümmelt oder indem er einfach sich selbst dazu erklärt; oder dass eine Frau in ähnlicher Weise versucht, ein Mann zu werden; oder zu behaupten, dass die staatliche Autorität die Pflicht oder das Recht hat, zu handeln, als ob solche Dinge möglich und erlaubt seien oder sein könnten (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2297).
28. In Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift und der beständigen Überlieferung des ordentlichen und allgemeinen Lehramts hat sich die Kirche nicht geirrt, wenn sie lehrte, dass die staatliche Gewalt die Todesstrafe an Übeltätern erlaubterweise anwenden kann, wo dies wirklich notwendig ist, um die Existenz oder die gerechte Ordnung von menschlichen Gesellschaften zu bewahren (vgl. Gen 9,6; Joh 19,11; Röm 13,1-7; Innozenz III., Professio fidei Waldensibus praescripta; Römischer Katechismus des Konzils von Trient, p. III, 5, n. 4; Pius XII., Ansprache an die katholischen Juristen vom 5. Dezember 1954).
29. Jede Autorität auf Erden wie auch im Himmel gehört Jesus Christus; deshalb sind staatliche Gemeinschaften und alle anderen menschlichen Vereinigungen Seinem Königtum unterworfen, sodass "die Pflicht, Gott aufrichtig zu verehren, sowohl den einzelnen Menschen als auch die Gesellschaft betrifft" (Katechismus der Katholischen Kirche, 2105; vgl. Pius XI., Enzyklika Quas primas, 18-19; 32).
DIE SAKRAMENTE
30. Im Allerheiligsten Sakrament der Eucharistie ereignet sich eine wunderbare Wandlung, nämlich der ganzen Substanz des Brotes in den Leib Christi und der ganzen Substanz des Weines in Sein Blut, eine Wandlung, die die katholische Kirche sehr passend "Transsubstantiation" nennt (vgl. 4. Laterankonzil, Kap. 1; Konzil von Trient, 13. Sitzung, 4). "Jede theologische Erklärung, die sich um das Verständnis dieses Geheimnisses bemüht, muss, um mit dem katholischen Glauben übereinstimmen zu können, daran festhalten, dass in der von unserem Geist unabhängigen Ordnung der Wirklichkeit Brot und Wein, nach der Konsekration, zu bestehen aufgehört haben, sodass nunmehr der anbetungswürdige Leib und das anbetungswürdige Blut unseres Herrn vor uns gegenwärtig sind unter den sakramentalen Gestalten von Brot und Wein; so hat es der Herr gewollt, um Sich uns zur Speise zu geben und uns einzugliedern in die Einheit Seines mystischen Leibes" (Paul VI., Apostolischer Brief Solemni hac liturgia [Das Credo des Gottesvolkes), 25).
31. Die Formulierungen, durch die das Konzil von Trient den Glauben der Kirche an die heilige Eucharistie ausgedrückt hat, sind für die Menschen aller Zeiten und Orte angemessen, weil sie eine "immer gültige Lehre der Kirche sind" (Johannes Paul II., Enzyklika Ecclesia de eucharistia, 15).
32. In der heiligen Messe wird der Heiligsten Dreifaltigkeit ein wahres und eigentliches Opfer dargebracht und dieses Opfer ist ein Sühneopfer sowohl für die Menschen, die auf der Erde leben, als auch für die Seelen im Fegefeuer. Die Meinung ist also falsch, die besagt, dass das Messopfer nur darin besteht, dass das Volk ein geistiges Opfer des Gebets und des Lobpreises darbringt; ebenso wie die Meinung, dass die Messe nur den Sinn haben könnte, dass Christus Sich selbst für die Gläubigen als ihre geistige Speise hingibt (vgl. Konzil von Trient, 22. Sitzung, 2).
33. "Wir glauben, dass die heilige Messe, wenn sie vom Priester, der die Person Christi darstellt, kraft der durch das Weihesakrament empfangenen Gewalt gefeiert und im Namen Jesu Christi und der Glieder Seines mystischen Leibes dargebracht wird, das Opfer von Kalvaria ist, das auf unseren Altären sakramental vergegenwärtigt wird. Wir glauben, dass in der Weise, wie Brot und Wein vom Herrn beim heiligen Abendmahl konsekriert und in Seinen Leib und in Sein Blut verwandelt worden sind, die Er für uns am Kreuz geopfert hat, auch Brot und Wein, wenn sie vom Priester konsekriert werden, in den Leib und das Blut Christi verwandelt werden, der glorreich in den Himmel aufgefahren ist; und wir glauben, dass die geheimnisvolle Gegenwart des Herrn unter dem, was für unsere Sinne in derselben Weise wie vorher fortzubestehen erscheint, eine wahre, wirkliche und wesentliche Gegenwart ist" (Paul VI., Apostolischer Brief Solemni hac liturgia [Das Credo des Gottesvolkes), 24).
34. "Die unblutige Hinopferung, bei der kraft der Wandlungsworte Christus im Zustand des Opferlammes auf dem Altare gegenwärtig wird, ist das Werk des Priesters allein, insofern er die Person Christi vertritt, nicht aber die Person der Gläubigen darstellt. ( ... ) Dass die Gläubigen das Opfer durch die Hände des Priesters darbringen, geht aus Folgendem hervor: Der Diener des Altares vertritt die Person Christi als Haupt, das im Namen aller Glieder opfert; deshalb kann man auch mit Recht sagen, die gesamte Kirche vollziehe durch Christus die Darbringung der Opfergabe. Die Behauptung aber, das Volk bringe zugleich mit dem Priester das Opfer dar, hat nicht etwa den Sinn, als ob die Glieder der Kirche ebenso wie der Priester selbst die sichtbare liturgische Handlung vollzögen, denn das ist ausschließlich Aufgabe des von Gott dazu berufenen Dieners; es bedeutet vielmehr, dass das Volk seine Gesinnungen des Lobes, der Bitte, der Sühne und der Danksagung mit den Gesinnungen oder der inneren Meinung des Priesters, ja des Hohepriesters selbst, zu dem Zwecke vereinigt, dass sie in der eigentlichen Opferdarbringung auch durch den äußeren Ritus des Priesters Gott dem Vater entboten werden" (Pius XII., Enzyklika Mediator Dei, 92).
35. Das Sakrament der Buße ist das einzige ordentliche Mittel, durch das schwere Sünden, die nach der Taufe begangen wurden, vergeben werden und nach göttlichem Gesetz müssen alle solche Sünden nach Anzahl und Art gebeichtet werden (vgl. Konzil von Trient, 14. Sitzung, can. 7).
36. Nach göttlichem Gesetz darf der Beichtvater das Beicht-Siegel unter keinen Umständen verletzen. Keine kirchliche Autorität hat die Vollmacht, ihn vom Siegel des Sakraments zu dispensieren, und die staatliche Gewalt ist gänzlich unbefugt, derartiges anzuordnen (vgl. Kodex des Kanonischen Rechts 1983, can. 1388 § 1; Katechismus der Katholischen Kirche, 1467).
37. Gemäß dem Willen Christi und der unveränderlichen Tradition der Kirche darf das Sakrament der Eucharistie jenen nicht gespendet werden, die im öffentlichen Stand einer objektiven schweren Sünde leben, und die sakramentale Lossprechung darf jenen nicht erteilt werden, die ihrer Ablehnung Ausdruck verleihen, mit dem göttlichen Gesetz übereinzustimmen, auch wenn ihre mangelnde Bereitschaft nur eine einzige schwere Materie betrifft (vgl. Konzil von Trient, 14. Sitzung, c. 4; Johannes Paul II., Brief an den Großpönitentiar Kardinal William W. Baum vom 22. März 1996).
38. Gemäß der beständigen Überlieferung der Kirche darf das Sakrament der heiligen Eucharistie jenen nicht gespendet werden, die eine Wahrheit des katholischen Glaubens leugnen, indem sie formell ihre Anhängerschaft an eine häretische oder eine offiziell schismatische christliche Gemeinschaft bekennen (vgl. Kodex des Kanonischen Rechts 1983, can. 915; 1364).
39. Das Gesetz, durch das die Priester verpflichtet sind, vollkommene Enthaltsamkeit im Zölibat zu beobachten, hat seinen Ursprung im Beispiel von Jesus Christus und gehört zur immerwährenden apostolischen Tradition in Übereinstimmung mit dem beständigen Zeugnis der Kirchenväter und der römischen Päpste. Aus diesem Grund darf dieses Gesetz in der römischen Kirche nicht abgeschafft und ein optionaler priesterlicher Zölibat auf regionaler oder universaler Ebene eingeführt werden. Das beständig gültige Zeugnis der Kirche hält fest, dass das Gesetz der priesterlichen Enthaltsamkeit "keine neuen Gebote aufstellt und dass diese Gebote beobachtet werden sollten, weil sie von einigen durch Unwissenheit und Trägheit nicht befolgt wurden. Diese Gesetze gehen dennoch auf die Apostel zurück und sie wurden durch die Väter festgelegt, wie geschrieben steht: ,Seid also standhaft, Brüder und haltet an den Überlieferungen fest, in denen wir euch unterwiesen haben, sei es mündlich, sei es durch einen Brief!' (2 Thess. 2,15). Es gibt in Wahrheit viele, die durch Verachtung der Verordnungen unserer Vorväter die Keuschheit der Kirche durch ihre Anmaßung verletzten und dabei, das Gericht Gottes nicht fürchtend, dem Willen der Menschen folgten" (Papst Siricius, Dekretale Cum in unum aus dem Jahr 386).
40. Durch den Willen Christi und die göttliche Verfassung der Kirche können nur getaufte Männer (viri) das Weihesakrament empfangen, sei im Bischofsamt, im Priestertum oder im Diakonat (vgl. Johannes Paul II., Apostolischer Brief Ordinatio Sacerdotalis, 4). Zudem ist die Aussage falsch, dass nur ein Ökumenisches Konzil diese Angelegenheit definieren kann, weil die Lehrautorität eines Ökumenischen Konzils nicht weiter greift als die des römischen Papstes (vgl. 5. Laterankonzil, 11. Sitzung; 1. Vatikanisches Konzil, 4. Sitzung, 3. Kap, Nr. 8).
31. Mai 2019
Kardinal Raymond Leo Burke Patron des Souveränen Malteserordens
Kardinal Janis Pujats Emeritierter Erzbischof von Riga
Tomash Peta Erzbischof der Erzdiözese der Heiligen Maria in Astana
Jan Pawel Lenga Emeritierter Erzbischof- Bischof von Karaganda
Athanasius Schneider Weihbischof der Erzdiözese der Heiligen Maria in Astana
Über die Autoren
ATHANASIUS SCHNEIDER wurde 1961 als Kind einer deutschen Familie in Kirgisistan geboren und auf den Namen Antonius getauft. 1973 wanderte seine Familie nach Deutschland aus. Er trat in den Orden der Regularkanoniker vom Heiligen Kreuz in Österreich ein und empfing den Ordensnamen Athanasius; 1990 wurde er in Brasilien zum Priester geweiht. Nach dem Erwerb des Doktortitels in Patrologie am Augustinianum in Rom lehrte er ab 1999 am Priesterseminar in Karaganda, Kasachstan. 2006 wurde er im Petersdom in Rom zum Bischof geweiht und zum Titularbischof von Celerina und Weihbischof von Karaganda ernannt. Seit 2011 bis heute ist er Weihbischof der Erzdiözese der Heiligen Maria in Astana, Vorsitzender der Liturgischen Kommission und Generalsekretär der Konferenz der katholischen Bischöfe von Kasachstan. Bischof Schneider ist Autor zweier Bücher über die heilige Eucharistie: Dominus est - Es ist der Herr und Corpus Christi: Die heilige Kommunion und die Erneuerung der Kirche.
DIANE MONTAGNA ist eine amerikanische Journalistin und lebt in Rom.
Erläuternde Bemerkung zur „Erklärung der Wahrheiten in Bezug auf einige der häufigsten Irrtümer im Leben der Kirche unserer Zeit
Die Kirche in unserer Zeit erlebt eine der größten geistigen Epidemien, d.h. eine nahezu allumfassende lehramtliche Verwirrung und Desorientierung, die sich als eine ernsthaft ansteckende Gefahr für die geistige Gesundheit und das ewige Heil vieler Seelen erweist. Gleichzeitig muss man eine verbreitete Lethargie in der Ausübung des Lehramtes auf unterschiedlichen Ebenen der kirchlichen Hierarchie unserer Tage feststellen. Dies ist hauptsächlich durch die Nichteinhaltung der apostolischen Pflicht verursacht – wie es auch das Zweite Vatikanische Konzil in Erinnerung gerufen hat -, dass nämlich die Bischöfe „die ihrer Herde drohenden Irrtümer wachsam fernhalten“ sollen (Lumen gentium, 25).
Unsere Zeit ist gekennzeichnet durch einen akuten geistigen Hunger der katholischen Gläubigen auf der ganzen Welt nach der Bekräftigung jener Wahrheiten, die vernebelt, untergraben und durch einige der gefährlichsten Irrtümer unserer Zeit geleugnet werden. Die Gläubigen, die diesen geistigen Hunger erleiden, fühlen sich im Stich gelassen und befinden sich deshalb in einer Art existenzieller Peripherie. Eine solche Situation erfordert dringend Abhilfe. Eine öffentliche Erklärung der Wahrheiten, die sich auf diese Fehler beziehen, duldet keinen weiteren Aufschub. Deshalb erinnern wir uns an die folgenden zeitlosen Worte des heiligen Papstes Gregor des Großen: „Unsere Zunge soll im Ermahnen nicht müde werden, dass nicht, nachdem wir das Amt der Verkündigung übernommen haben, unser Schweigen uns beim gerechten Richter verurteilt. (…) Die Menschen, die unserer Sorge anvertraut sind, verlassen Gott und wir schweigen. Sie leben in Sünde, und wir strecken nicht unsere Hand aus, um sie zu korrigieren.“ (In Ev. hom. 17, 3.14).
Als katholische Bischöfe sind wir uns unserer schweren Verantwortung bewusst, gemäß der Ermahnung des heiligen Paulus, der lehrt, dass Gott Seiner Kirche „Hirten und Lehrer (gab), um die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes auszurüsten, für den Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit im Glauben und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum vollkommenen Menschen, zur vollen Größe, die der Fülle Christi entspricht. Wir sollen nicht mehr unmündige Kinder sein, ein Spiel der Wellen, geschaukelt und getrieben von jedem Widerstreit der Lehrmeinungen, im Würfelspiel der Menschen, in Verschlagenheit, die in die Irre führt. Wir aber wollen, von der Liebe geleitet, die Wahrheit bezeugen und in allem auf ihn hin wachsen. Er, Christus, ist das Haupt. Von ihm her wird der ganze Leib zusammengefügt und gefestigt durch jedes Gelenk. Jedes versorgt ihn mit der Kraft, die ihm zugemessen ist. So wächst der Leib und baut sich selbst in Liebe auf.“ (Eph. 4, 12-16).
Wir erstellen diese öffentliche Erklärung im Geist brüderlicher Liebe als eine konkrete geistliche Hilfe, damit Bischöfe, Priester, Pfarreien, Ordensgemeinschaften, Laienvereinigungen und Privatpersonen die Möglichkeit haben, entweder privat oder öffentlich, jene Wahrheiten zu bekennen, welche in unseren Tagen am meisten geleugnet oder entstellt werden. Die folgenden Worte des heiligen Apostels Paulus sollten als eine an jeden Bischof und Christgläubigen unserer Zeit gerichtete Ermahnung verstanden werden: “Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben, zu dem du berufen bist und für das du vor vielen Zeugen das gute Bekenntnis abgelegt hast! Ich gebiete dir bei Gott, von dem alles Leben kommt, und bei Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt hat und als Zeuge dafür eingetreten ist: Erfülle deinen Auftrag rein und ohne Tadel, bis zum Erscheinen Jesu Christi, unseres Herrn” (1 Tim. 6, 12-14).
Vor dem Angesicht des Göttlichen Richters und im eigenen Gewissen hat jeder Bischof, Priester und Christgläubige die moralische Pflicht, unmissverständlich Zeugnis für jene Wahrheiten abzulegen, die in unserer Zeit verdunkelt, untergraben und geleugnet werden. Private oder öffentliche Bekenntnisakte dieser Wahrheiten könnten eine Bewegung initiieren zum Bekenntnis und der Verteidigung der Wahrheit, sowie der Wiedergutmachung für die weitverbreiteten Sünden gegen den Glauben, für die Sünden des verborgenen oder offenen Abfalls vom katholischen Glauben einer nicht geringen Zahl des Klerus und der Laien. Man muss sich dabei bewusst sein, dass es bei einer derartigen Bewegung nicht um Zahlen, sondern um die Wahrheit geht, wie es der heilige Gregor von Nazianz inmitten der allgemeinen lehramtlichen Verwirrung der arianischen Krise ausdrückte, das Gott hat kein Wohlgefallen an Zahlen hat (vgl. Or. 42,7).
Durch das Zeugnis für den unveränderlichen katholischen Glauben werden sich Geistliche und Christgläubige der Wahrheit erinnern, dass „die Gesamtheit der Gläubigen (…) im Glauben nicht irren kann. Und diese, ihre besondere Eigenschaft, macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie “von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien” ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert“ (Lumen gentium, 12).
Heilige und die großen Bischöfe, die in Zeiten lehramtlicher Krisen lebten, mögen uns Fürsprecher sein und uns mit ihren Worten führen, wie es die folgenden Worte des heiligen Augustinus tun, die er an den heiligen Papst Bonifatius I. richtete: „Da uns allen, die wir das Bischofsamt ausüben, das seelsorgliche Wächteramt aufgetragen ist (auch wenn du darin einen besonderen Vorrang innehast), tue ich in der Ausübung meiner Amtspflicht das, was ich kann, soweit sich der Herr würdigt, mir durch die Hilfe deines Gebetes hierin Kraft zu verleihen“ (Contra ep. Pel. I, 2).
In der gegenwärtigen außerordentlichen Situation einer allgemeinen doktrinellen Verwirrung und Desorientierung im Leben der Kirche, wird eine präzise Erklärung der Wahrheiten in einer einheitlichen Stimme der Hirten und der Gläubigen, zweifellos auch ein wirksames Mittel brüderlicher und kindlicher Hilfe für den Papst sein.
Diese öffentliche Erklärung geben wir im Geist christlicher Liebe ab, die sich in der Sorge um die geistige Gesundheit der Hirten und der Gläubigen kundtut, d.h. aller Glieder des Leibes Christi, der Kirche, eingedenk der folgenden Worte des heiligen Paulus im Ersten Brief an die Korinther: „…damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen. Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm“ (1 Kor 12, 25-27), und im Brief an die Römer: „Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, … so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, als Einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören. Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade. Hat einer die Gabe prophetischer Rede, dann rede er in Übereinstimmung mit dem Glauben; hat einer die Gabe des Dienens, dann diene er. Wer zum Lehren berufen ist, der lehre; wer zum Trösten und Ermahnen berufen ist, der tröste und ermahne. Wer gibt, gebe ohne Hintergedanken; wer Vorsteher ist, setze sich eifrig ein; wer Barmherzigkeit übt, der tue es freudig. Die Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten! Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung! Lasst nicht nach in eurem Eifer, lasst euch vom Geist entflammen und dient dem Herrn!“ (Röm 12, 4-11).
Die Kardinäle und Bischöfe, die diese „Erklärung der Wahrheiten“ unterschreiben, vertrauen sie dem Unbefleckten Herz der Muttergottes unter der Anrufung „Salus populi Romani“ („Heil des römischen Volkes“) an, eingedenk der besonderen geistlichen Bedeutung, die diese Ikone für die Römische Kirche hat. Möge die ganze Katholische Kirche unter dem Schutz der Unbefleckten Jungfrau und Gottesmutter „unerschrocken den Kampf des Glaubens kämpfen, feststehen in der Lehre der Apostel und sicher voranschreiten in den Stürmen der Welt, bis sie die himmlische Stadt erreicht“ (Präfation der Messe zu Ehren der Seligen Jungfrau Maria „Heil des Römischen Volkes“).
31. Mai 2019
Kardinal Raymond Leo Burke, Patron des Souveränen Malteserordens
Kardinal Janis Pujats, emeritierter Erzbischof von Riga
Tomash Peta, Erzbischof der Erzdiözese der Heiligen Maria in Astana
Jan Pawel Lenga, emeritierter Erzbischof-Bischof von Karaganda
Athanasius Schneider, Weihbischof der Erzdiözese der Heiligen Maria in Astana