Apostolischer Brief von Papst Franziskus an die Priester 2019
von Papst
Franziskus
an meine Mitbrüder im Priesteramt
am Fest des heiligen Johannes-Maria Vianney zu seinem 160. Todestag
4. August 2019
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Einleitend
wir begehen den 160. Todestag des heiligen Pfarrers von Ars, den Pius XI. zum Patron aller Pfarrer der Welt erklärt hat.<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Anno iubilari (23. April 1929): AAS 21 (1929), 312-313.</ref> An seinem Fest möchte ich Euch diesen Brief schreiben, nicht nur den Pfarrern, sondern auch Euch allen, meinen Mitbrüdern im Priesteramt, die Ihr ohne jedes Aufheben „alles verlasst“, um Euch im täglichen Leben Eurer Gemeinschaften einzusetzen. Ihr arbeitet wie der Pfarrer von Ars „an der Front“, tragt auf Euren Schultern die Last des Tages und der Hitze (vgl. Mt 20,12) und „haltet“ in zahlreichen Situationen täglich „den Kopf hin“, ohne Euch wichtig zu nehmen, damit das Volk Gottes umsorgt und begleitet wird. Ich wende mich an jeden von Euch. Ihr nehmt – oft unbeachtet und unter Opfern, in Müdigkeit oder Mühen, in Krankheit oder Trostlosigkeit – Eure Sendung als einen Dienst an Gott und seinem Volk an und schreibt selbst in allen Schwierigkeiten des Weges die schönsten Seiten des priesterlichen Lebens.
Vor einiger Zeit habe ich den italienischen Bischöfen die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass in nicht wenigen Regionen unsere Priester ins Lächerliche gezogen und „beschuldigt“ werden für Vergehen, die sie nicht begangen haben. Ich sagte ihnen, es sei notwendig, dass die Priester in ihrem Bischof die Figur des älteren Bruders und Vaters finden, der sie in diesen schwierigen Zeiten ermutigt, sie anspornt und sie auf dem Weg unterstützt.<ref> Ansprache an die Italienische Bischofskonferenz (20. Mai 2019). Die geistliche Vaterschaft, die den Bischof dazu antreibt, seine Priester nicht als Waisen zurückzulassen, ist nicht nur in der Fähigkeit greifbar, dass seine Tür für alle seine Priester offen steht, sondern auch darin, dass er zu ihnen geht und sie aufsucht, um sich ihrer anzunehmen und sie zu begleiten.</ref>
Als älterer Bruder und Vater möchte auch ich Euch nahe sein, an erster Stelle um Euch im Namen des heiligen gläubigen Gottesvolkes für all das zu danken, was es von Euch empfängt, und meinerseits um Euch dann zu ermutigen, die Worte zu erneuern, die der Herr am Tag unserer Weihe so liebevoll gesprochen hat und die den Quell unserer Freude darstellen: »Ich nenne euch nicht mehr Knechte [...] Vielmehr habe ich euch Freunde genannt« (Joh 15,15).<ref> Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Sacerdotii nostri primordia zum hundertsten Todestages des heiligen Pfarrers von Ars (1. August 1959): AAS 51 (1959), 548.</ref>
»Ich habe das Elend meines Volkes gesehen« (Ex 3,7).
In letzter Zeit konnten wir den oftmals stillen oder zum Schweigen gebrachten Schrei unserer Brüder und Schwestern deutlicher vernehmen, die Opfer von Macht-, Gewissens- oder sexuellen Missbrauchs durch geweihte Amtsträger wurden. Unzweifelhaft ist es eine Zeit des Leidens im Leben der Opfer, die verschiedene Formen des Missbrauchs erlitten haben; ebenso für ihre Familien und für das ganz Volk Gottes.
Wie Ihr wisst, sind wir sehr mit der Umsetzung der notwendigen Reformen beschäftigt, um von der Wurzel her den Anstoß zu einer Kultur zu geben, die auf der pastoralen Sorge gründet, sodass die Kultur des Missbrauchs keinen Raum finden kann, sich zu entwickeln oder gar sich fortzusetzen. Es ist keine leichte Aufgabe und sie erfordert kurzfristig den Einsatz aller. Wenn in der Vergangenheit die Unterlassung zu einer Form der Antwort werden konnte, so wollen wir heute, dass die Umkehr, die Transparenz, die Aufrichtigkeit und die Solidarität mit den Opfern zu unserer Art und Weise werden, Geschichte zu schreiben, und uns helfen, aufmerksamer zu sein gegenüber aller menschlichen Leiden.<ref> Vgl. Schreiben an das Volk Gottes (20. August 2018).</ref>
Auch dieser Schmerz ist den Priestern nicht gleichgültig. Dies habe ich bei den verschiedenen Pastoralbesuchen sowohl in meiner als auch in anderen Diözesen feststellen können, wo ich die Gelegenheit zu persönlichen Begegnungen und Gesprächen mit den Priestern hatte. Viele von ihnen haben mir ihre Entrüstung über das Geschehene und auch eine Art von Ohnmacht kundgetan, da sie »neben den Strapazen [ihres] aufopfernden Dienstes den Schaden durch Misstrauen und Infragestellung erlitten haben, der bei einigen oder gar vielen zu Zweifeln, Angst oder einem Mangel an Vertrauen geführt hat«.<ref> Begegnung mit Priestern, Ordensleuten, Gottgeweihten und Seminaristen, Santiago de Chile (16. Januar 2018).</ref> Zahlreich sind die Briefe von Priestern, die diese Empfindung teilen. Andererseits ist es tröstlich, Hirten zu finden, die sich in Bewegung setzen und nach Worten und Wegen der Hoffnung suchen, wenn sie das Leiden der Opfer und des Volkes Gottes sehen und erkennen.
Ohne den von einigen unserer Brüder verursachten Schaden zu leugnen oder zu verkennen, wäre es ungerecht, viele Priester nicht anzuerkennen, die beständig und tadellos alles, was sie sind und haben, zum Wohl der anderen aufwenden (vgl. 2 Kor 12,15) und eine geistliche Vaterschaft leben, die mit den Weinenden zu weinen weiß; es gibt unzählige Priester, die aus ihrem Leben ein Werk der Barmherzigkeit in oftmals unwirtlichen, fernen oder verlassenen Regionen oder Situationen machen, auch unter Lebensgefahr. Voll Anerkennung danke ich Euch für Euer mutiges und beständiges Beispiel; es zeigt uns in den Augenblicken der Unruhe, der Scham und des Schmerzes, wie Ihr Euch weiter mit Freude für das Evangelium einsetzt.<ref> Vgl. Schreiben an das pilgernde Volk Gottes in Chile (31. Mai 2018).</ref>
Ich bin überzeugt, dass in dem Maße, in dem wir dem Willen Gottes treu sind, die Zeiten der kirchlichen Reinigung, in denen wir leben, uns freudiger und einfacher machen werden, und in einer nicht allzu fernen Zukunft werden sie überaus fruchtbar sein. »Lassen wir uns nicht entmutigen! Der Herr reinigt seine Braut, und er sorgt dafür, dass wir alle uns zu ihm bekehren. Er lässt uns durch die Prüfung gehen, damit wir verstehen, dass wir ohne ihn Staub sind. Er rettet uns aus der Heuchelei, aus der Spiritualität des schönen Scheins. Er haucht seinen Geist auf uns, um seiner Braut, die auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt wurde, die Schönheit zurückzugeben. Es wird uns guttun, heute das 16. Kapitel des Propheten Ezechiel zur Hand zu nehmen. Das ist die Geschichte der Kirche. Das ist meine Geschichte, kann jeder von uns sagen. Und am Ende, aber durch deine Scham, wirst du weiterhin der Hirte sein. Unsere demütige Reue, eine stille Reue unter Tränen angesichts der Ungeheuerlichkeit der Sünde und der unergründlichen Größe der Vergebung Gottes, diese demütige Reue ist der Beginn unserer Heiligkeit.«<ref> Begegnung mit dem Klerus von Rom (7. März 2019).</ref>
»Darum höre ich nicht auf, für euch zu danken« (Eph 1,16).
Die Berufung ist nicht so sehr unsere Entscheidung als vielmehr eine Antwort auf einen ungeschuldeten Ruf des Herrn. Es ist schön, immer wieder zu jenen Stellen des Evangeliums zurückzukehren, die uns zeigen, wie Jesus betet, erwählt und ruft, »damit sie mit ihm seien und damit er sie aussende zu verkünden« (Mk 3,14).
Ich möchte hier an einen großen Meister des priesterlichen Lebens aus meiner Heimat, Don Lucio Gera, erinnern. Einmal sagte er zu einer Gruppe von Priestern in Zeiten vieler Prüfungen in Lateinamerika: „Immer, aber vor allem in den Prüfungen, müssen wir zu jenen lichtvollen Augenblicken zurückkehren, in denen wir den Ruf des Herrn erfahren haben, unser ganzes Leben seinem Dienst zu weihen.“ Es ist das, was ich gern „die deuteronomische Erinnerung an die Berufung“ nenne. Sie erlaubt uns, »zu jenem glühenden Augenblick zurückzukehren, in dem die Gnade Gottes mich am Anfang meines Weges berührt hat. An diesem Funken kann ich das Feuer für das Heute, für jeden Tag entzünden und Wärme und Licht zu meinen Brüdern und Schwestern tragen. An diesem Funken entzündet sich eine demütige Freude, eine Freude, die dem Schmerz und der Verzweiflung nicht weh tut, eine gute und sanfte Freude.«<ref> Homilie in der Osternacht (19. April 2014).</ref>
Eines Tages haben wir ein „Ja“ gesagt, das im Schoß einer christlichen Gemeinschaft entstanden und gewachsen ist dank der »Heiligen von nebenan«,<ref> Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 7.</ref> die uns mit einfachem Glauben gezeigt haben, wie sehr es sich lohnt, alles für den Herrn und sein Reich zu geben. Ein „Ja“, dessen Umfang eine unvermutete Tragweite erreicht hat und erreichen wird, und oft werden wir nicht imstande sein, uns all das Gute vorzustellen, das dieses „Ja“ hervorzubringen vermochte und vermag. Es ist schön, wenn ein alter Priester von jenen Kleinen – nunmehr Erwachsenen – umgeben und besucht wird, die er am Anfang getauft hat und die mit Dankbarkeit kommen, um ihm ihre Familie vorzustellen! Da haben wir entdeckt, dass wir gesalbt worden sind, um zu salben, und die Salbung Gottes enttäuscht nie und lässt mich mit dem Apostel sagen: »Darum höre ich nicht auf, für Euch zu danken« (Eph 1,16) und für all das Gute, das Ihr getan habt.
In den Augenblicken von Schwierigkeiten, von Hinfälligkeit wie auch von Schwachheit, in denen unsere Grenzen deutlich werden, wenn die schlimmste aller Versuchungen die ist, ständig über die Trostlosigkeit nachzugrübeln<ref> Vgl. Jorge Mario Bergoglio, Las cartas de la tribulación, Barcelona 2019, S. 21.</ref> und dabei den Blick, das Urteilsvermögen und das Herz zu trüben, da ist es wichtig – ich würde sogar sagen entscheidend – nicht nur die dankbare Erinnerung daran zu bewahren, als der Herr in unser Leben getreten ist, die Erinnerung an seinen barmherzigen Blick, der uns eingeladen hat, uns für ihn und sein Volk aufs Spiel zu setzen, sondern auch den Mut zu haben, sie in die Tat umzusetzen und mit dem Psalmisten unseren eigenen Lobgesang zu schreiben, »denn seine Huld währt ewig« (Ps 136).
Die Dankbarkeit ist immer eine „mächtige Waffe“. Nur wenn wir imstande sind, konkret alle Gesten der Liebe, der Großherzigkeit, der Solidarität und des Vertrauens wie auch der Verzeihung, der Geduld, des Ertragens und des Erbarmens, mit denen wir behandelt wurden, zu betrachten und dafür zu danken, werden wir zulassen, dass der Geist uns jene frische Luft gibt, die fähig ist, unser Leben und unsere Sendung zu erneuern (und nicht auszubessern). Lassen wir zu, dass wir wie Petrus am Morgen des „wunderbaren Fischfangs“ all das empfangene Gute sehen und dadurch unsere Fähigkeit wiedererweckt wird, zu staunen und zu danken, sodass wir sagen können: »Geh weg von mir; denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr« (Lk 5,8), und wir von den Lippen des Herrn noch einmal seinen Ruf vernehmen: »Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen« (Lk 5,10); »denn seine Huld währt ewig«.
Brüder, danke für Eure Treue zu den eingegangenen Verpflichtungen. Es ist wahrhaft bedeutsam, dass es in einer Gesellschaft und einer Kultur, die „das Gasförmige“ zu einem Wert gemacht hat, Menschen gibt, die darauf setzen und danach suchen, Verpflichtungen zu übernehmen, die das ganze Leben fordern. Im Wesentlichen sagen wir damit, dass wir weiter an Gott glauben, der seinen Bund niemals gebrochen hat, auch wenn wir ihn unzählige Male gebrochen haben. Dies ist eine Einladung an uns, die Treue Gottes zu feiern, der trotz unserer Grenzen und Sünden nicht aufhört, uns zu vertrauen, an uns zu glauben und auf uns zu setzen, und er lädt uns ein, das Gleiche zu tun. Im Bewusstsein, dass wir einen Schatz in irdenen Gefäßen (vgl. 2 Kor 4,7) tragen, wissen wir, dass der Herr sich als Sieger in der Schwachheit erweist (vgl. 2 Kor 12,9) und nicht aufhört, uns zu stützen und zu rufen, und dabei das Hundertfache gibt (vgl. Mk 10,29-30); »denn seine Huld währt ewig«.
Danke für die Freude, mit der Ihr Euer Leben hinzugeben wusstet; dabei habt Ihr ein Herz gezeigt, das im Lauf der Jahre gekämpft und gerungen hat, um nicht eng und bitter zu werden, sondern um vielmehr täglich von der Liebe zu Gott und zu seinem Volk geweitet zu werden; ein Herz, das die Zeit wie den guten Wein nicht sauer gemacht hat, sondern ihm eine immer erlesenere Qualität verliehen hat; »denn seine Huld währt ewig«.
Danke, dass Ihr Euch müht, die Bande der Brüderlichkeit und Freundschaft unter den Priestern und mit Eurem Bischof zu festigen, indem Ihr Euch gegenseitig unterstützt, Euch um den Kranken sorgt und den aufsucht, der sich abgesondert hat; indem Ihr die Weisheit des Älteren schätzt und von ihr lernt, die Güter teilt sowie gemeinsam zu lachen und zu weinen wisst. Wie notwendig sind diese Räume! Und Ihr seid selbst dann beständig und beharrlich geblieben, als Ihr einen schwierigen Auftrag annehmen musstet oder einen Bruder dazu veranlassen musstet, seine Verantwortung zu übernehmen; »denn seine Huld währt ewig«.
Danke für das Zeugnis der Beharrlichkeit und des „Ertragens“ (hypomoné) im pastoralen Einsatz, der uns oftmals, angetrieben durch die parrhesía des Hirten,<ref> Vgl. Ansprache an den Klerus der Diözese Rom (6. März 2014).</ref> dazu führt, mit dem Herrn im Gebet zu ringen wie Moses in jener mutigen und auch gewagten Fürbitte für das Volk (vgl. Num 14,13-19; Ex 32,30-32; Dtn 9,18-21); »denn seine Huld währt ewig«.
Danke, dass Ihr täglich die Eucharistie feiert und die Herde mit Barmherzigkeit im Sakrament der Versöhnung weidet, ohne Rigorismus und Laxismus, indem Ihr Euch der Menschen annehmt und sie auf dem Weg der Umkehr zum neuen Leben begleitet, das der Herr uns allen schenkt. Wir wissen, dass wir über die Stufen der Barmherzigkeit bis in die tiefsten Tiefen des Menschseins – Hinfälligkeit und Sünde eingeschlossen – absteigen und bis zu den höchsten Höhen der göttlichen Vollkommenheit aufsteigen können: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!« (Lk 6,36).<ref> Vgl. Geistliche Einkehr zum Jubiläum der Priester. Erste Meditation (2. Juni 2016).</ref> Und so sollen wir »in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen zu gehen. Sie müssen ein Gespräch führen und in die Nacht hinabsteigen können, in ihr Dunkel, ohne sich zu verlieren«;<ref> Antonio Spadaro SJ, Das Interview mit Papst Franziskus, Freiburg i. Br. 2013, S. 48.</ref> »denn seine Huld währt ewig«.
Danke, dass Ihr alle mit Eifer salbt und ihnen das Evangelium Jesu Christi verkündet, »ob gelegen oder ungelegen« (2Tim 4,2), und dabei das Herz Eurer Gemeinschaft erforscht, »um zu suchen, wo die Sehnsucht nach Gott lebendig und brennend ist und auch wo dieser ursprünglich liebevolle Dialog erstickt worden ist oder keine Frucht bringen konnte«;<ref> Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 137.</ref> »denn seine Huld währt ewig«.
Danke für all die Male, die Ihr Euch im Innersten habt anrühren lassen und die Gestrauchelten aufgenommen, ihre Wunden behandelt, ihren Herzen Wärme geschenkt und ihnen wie der Samariter im Gleichnis (vgl. Lk 10,25-37) Zärtlichkeit und Erbarmen erwiesen habt. Nichts ist so dringend wie diese Dinge: Unmittelbarkeit, Nähe, dem Fleisch des leidenden Bruders oder der leidenden Schwester nahe sein. Wie gut tut das Beispiel eines Priesters, der sich den Wunden seiner Brüder und Schwestern nähert und sich nicht von ihnen entfernt!<ref> Vgl. Ansprache an den Klerus der Diözese Rom (6. März 2014).</ref> Es ist ein Widerschein des Herzens des Hirten, der den geistlichen Wohlgeschmack erkannt hat, sich mit seinem Volk eins zu fühlen;<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 268.</ref> der nicht vergisst, dass er aus ihm hervorgegangen ist und dass er nur im Dienst an ihm seine reinste und volle Identität wird finden und entfalten können, die es ihm erlaubt, einen bescheidenen und einfachen Lebensstil zu entwickeln, ohne Privilegien anzunehmen, die nicht den Geschmack des Evangeliums haben; »denn seine Huld währt ewig«.
Danken wir auch für die Heiligkeit des gläubigen Volkes Gottes, das zu weiden wir eingeladen sind und durch das der Herr auch uns weidet und für uns sorgt, da er uns das Geschenk macht, dieses Volk »in den Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen, in den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln«, zu betrachten. »In dieser Beständigkeit eines tagtäglichen Voranschreitens sehe ich die Heiligkeit der streitenden Kirche.«<ref> Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 7.</ref> Sagen wir für jeden von ihnen Dank und lassen wir uns von ihrem Zeugnis unterstützen und anspornen; »denn seine Huld währt ewig«.
»Möchte ich doch, dass ihre Herzen gestärkt werden« (Kol 2,2)
Mein zweiter großer Wunsch ist es – ähnlich wie es der heilige Paulus gesagt hat –, Euch dabei zu begleiten, dass wir unsere priesterliche Lebensfreude erneuern, die eine Frucht vor allem des Wirkens des Heiligen Geistes in unserem Leben ist. Angesichts schmerzlicher Erfahrungen brauchen wir alle Trost und Ermutigung. Die Sendung, zu der wir berufen sind, bedeutet nicht, dass wir von Leid, Schmerz und sogar Unverständnis frei seien;<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Misericordia et misera, 13.</ref> sie erfordert vielmehr, dass wir ihnen entgegentreten und sie annehmen, damit der Herr sie verwandle und uns ihm ähnlicher mache. »Wenn es keine aufrichtige, erlittene und durchbetete Anerkennung unserer Grenzen gibt, wird die Gnade im Grunde daran gehindert, wirksam in uns tätig zu sein. Denn es wird ihr kein Raum gelassen, um gegebenenfalls das Gut zu entwickeln, das zu einem ehrlichen und echten Wachstumsprozess beiträgt.«<ref> Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 50.</ref>
Ein guter „Test“, um die Befindlichkeit unseres Seelsorgerherzens zu prüfen, ist sich zu fragen, wie wir mit dem Schmerz umgehen. Häufig kann es geschehen, dass wir uns wie der Levit oder der Priester im Gleichnis verhalten, die wegschauen und den Menschen nicht beachten, der auf der Erde liegt (vgl. Lk 10,31-32). Andere nähern sich nur ungenügend; sie theoretisieren und flüchten sich in Allgemeinplätze: „Das Leben ist halt so“, „da kann man nichts machen“, und geben damit dem Fatalismus und der Entmutigung Raum. Oder sie nähern sich mit einer vorgefassten Meinung und erzeugen so nur Isolierung und Ausschließung. »Wie der Prophet Jona sind wir immer latent in der Versuchung, an einen sicheren Ort zu fliehen, der viele Namen haben kann: Individualismus, Spiritualismus, Einschließen in kleine Welten …«,<ref> Ebd., 134.</ref> die keine Gemütsbewegung zulassen und uns am Ende von den eigenen Wunden, von denen der anderen und folglich von den Wunden Jesu fernhalten.<ref> Vgl. Jorge Mario Bergoglio, Reflexiones en esperanza, Città del Vaticano 2013, S. 14.</ref>
Auf dieser Linie möchte ich auf eine andere subtile und gefährliche Einstellung hinweisen. Sie ist »der köstlichste von den Teufels Tränken«,<ref> Tagebuch eines Landpfarrers, Einsiedeln 2007, S. 131; vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 83.</ref> wie Bernanos zu sagen pflegte, und ist die schädlichste für uns, die wir dem Herrn dienen möchten, weil sie Mutlosigkeit und Vereinzelung sät und zur Verzweiflung führt.<ref> Vgl. Barsanuphius, Epistolarium, in: Vito Cutro – Michał Tadeusz Szwemin, Bisogno di Paternità, Warschau 2018, S. 124.</ref> Von der Situation, von der Kirche und von uns selbst enttäuscht können wir in der Versuchung leben, uns an eine süßliche Traurigkeit zu klammern, welche die Väter des christlichen Ostens Trägheit (acedia) nannten.
Kardinal Tomáš Špidlík sagte: »Wenn in uns die Traurigkeit über das Leben als solches aufsteigt, über die Gemeinschaft der anderen, über die Tatsache, dass wir allein sind, dann ist immer ein gewisser Mangel an Glauben an die Vorsehung Gottes und seines Wirkens im Spiel. Die Traurigkeit lähmt die Lebensfreude, mit der Arbeit oder mit dem Gebet fortzufahren, und macht uns unsere Nächsten unsympathisch. Die monastischen Schriftsteller, welche diesem Laster eine lange Abhandlung widmen, nennen es den schlimmsten Feind des geistlichen Lebens.«<ref> L’arte di purificare il cuore, Rom 1999, S. 47.</ref>
Wir kennen jene Traurigkeit, die zur Gewohnheit wird und allmählich zur Festsetzung des Bösen und des Unrechts unter dem schwachen Seufzen des „Es war schon immer so“ führt. Diese Traurigkeit macht alle Versuche des Wandels und der Umkehr vergeblich und verbreitet nur Groll und Feindseligkeit. »Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfüllten Lebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, das ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen des auferstandenen Christus hervorsprudelt« und zu dem wir berufen sind.<ref> Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 2.</ref> Brüder, wenn die süßliche Traurigkeit unser Leben und unsere Gemeinschaft zu beherrschen droht, dann wollen wir nicht erschrecken und uns keine Sorgen machen, sondern mit Entschlossenheit den Heiligen Geist bitten und ihn anrufen lassen, »uns aufzuwecken, um uns in unserer Schläfrigkeit einen Ruck zu versetzen, um uns von der Trägheit zu befreien. Bieten wir der Gewohnheit die Stirn, öffnen wir weit unsere Augen und Ohren, vor allem aber das Herz, um uns bewegen zu lassen durch das, was um uns herum geschieht, und durch den Ruf des lebendigen und wirkmächtigen Wortes des Auferstandenen.«<ref> Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 137.</ref>
Gestattet mir, es zu wiederholen: Wir alle brauchen in schwierigen Zeiten den Trost und die Kraft von Gott und von den Brüdern und Schwestern. Uns allen gelten jene eindringlichen Worte des heiligen Paulus an seine Gemeinden: »Deshalb bitte ich, nicht wegen der Leiden zu verzagen, die ich für euch ertrage« (Eph 3,13). Ich möchte, dass unsere Herzen gestärkt werden (vgl. Kol 2,2), um die Sendung zu erfüllen, die Gott uns jeden Morgen schenkt: »eine große Freude« weiterzugeben, »die dem ganzen Volk zuteilwerden soll« (Lk 2,10). Dies tun wir aber nicht in der Theorie beziehungsweise im intellektuellen oder moralischen Wissen von dem, was sein soll, sondern vielmehr als Menschen, die in den Schmerz eingetaucht und dabei vom Herrn verwandelt und verklärt wurden und die dann wie Ijob ausrufen können: »Vom Hörensagen nur hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut« (42,5). Ohne diese grundlegende Erfahrung führen all unsere Mühen nur auf den Weg der Enttäuschung und der Ernüchterung.
Im Laufe unseres Lebens haben wir feststellen können: »Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude.«<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 1.</ref> Auch wenn es verschiedene Phasen dieser Erfahrung gibt, wissen wir doch, dass Gott uns jenseits unserer Schwächen und unserer Sünden »mit einem Feingefühl, das uns niemals enttäuscht und uns immer die Freude zurückgeben kann, erlaubt […], das Haupt zu erheben und neu zu beginnen«.<ref> Vgl. ebd., 3.</ref> Diese Freude erwächst nicht aus unseren willens- oder verstandesmäßigen Bemühungen, sondern aus dem Vertrauen zu wissen, dass die Zusage Jesu an Petrus weiterhin gilt: Im Augenblick, in dem du „gesiebt wirst“, vergiss nicht: Ich selbst »habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt« (Lk 22,32). Der Herr ist der erste, der für dich und für mich betet und kämpft. Und er lädt uns ein, völlig in sein Gebet einzutauchen. Es mag sogar Momente geben, in denen wir »in das Gebet von Getsemani, dem menschlichsten und dramatischsten der Gebete Jesu [eintauchen müssen]. Da gibt es Flehen, Traurigkeit, Angst, fast eine Orientierungslosigkeit (Mk 14,33)«.<ref> Jorge Mario Bergoglio, Reflexiones en esperanza, a.a.O., S. 26.</ref>
Wir wissen, dass es nicht einfach ist, vor dem Herrn zu stehen und zuzulassen, dass sein Blick unser Leben begleitet, unser verwundetes Herz heilt und unsere von der Weltlichkeit beschmutzten Füße wäscht; einer Weltlichkeit, die auf den Straßen an uns haften bleibt und uns am Vorangehen hindert. Im Gebet erleben wir unsere gesegnete Unsicherheit, die uns unsere Situation als der Hilfe des Herrn bedürftige Jünger vor Augen führt und uns von der prometheischen Neigung derer befreit, »die sich letztlich einzig auf die eigenen Kräfte verlassen und sich den anderen überlegen fühlen, weil sie bestimmte Normen einhalten«.<ref> Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 94.</ref>
Brüder, Jesus kennt mehr als jeder andere unsere Bemühungen und Erfolge, wie auch unser Scheitern und unser Misslingen. Er ist der erste, der uns sagt: »Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele« (Mt 11,28-29).
In einem solchen Gebet stehen wir, wie wir wissen, nie allein. Das Gebet des Hirten ist ein Gebet, in dem einerseits der Geist wohnt, »der ruft: Abba, Vater!« (Gal 4,6), und das andererseits aus dem Volk kommt, das ihm anvertraut ist. Unsere Sendung und unsere Identität stehen im Licht dieser doppelten Verbindung.
Das Gebet des Hirten nährt sich am Herz des Volkes Gottes; dort nimmt es Fleisch an. Es trägt die Male der Wunden und die Zeichen der Freuden seines Volkes, die der Hirte in der Stille dem Herrn darbringt, damit sie mit der Gabe des Heiligen Geistes gesalbt werden. Dies ist die Hoffnung des Hirten, der darauf vertraut und dafür kämpft, dass der Herr unsere Hinfälligkeit heilt, die persönlichen und die der Gemeinschaft. Aber verlieren wir nicht aus dem Auge, dass gerade im Gebet des Volkes Gottes das Herz des Hirten Fleisch annimmt und seinen Platz findet. Das befreit uns alle davon, einfache, schnelle und vorgefertigte Antworten zu suchen und zu wollen. So überlassen wir es dem Herrn (und nicht unseren Rezepten und Vorhaben), uns einen Weg der Hoffnung zu weisen. Verlieren wir nicht aus dem Auge, dass in den schwierigsten Momenten der Urgemeinde, wie wir in der Apostelgeschichte lesen, das Gebet die eigentliche Hauptrolle einnahm.
Brüder, erkennen wir an, dass wir schwach sind; ja, aber lassen wir auch zu, dass Jesus uns verwandle und uns immer wieder aussendet. Verlieren wir nicht die Freude, uns als „Schafe“ zu empfinden und zu wissen, dass er unser Herr und Hirte ist.
Um die Lebensfreude im Herzen zu bewahren ist es nötig, diese beiden tragenden Verbindungen unserer Identität nicht zu vernachlässigen: Die erste Verbindung ist die mit Christus. Jedes Mal, wenn wir uns von Jesus lösen oder unsere Beziehung zu ihm vernachlässigen, erschöpft sich allmählich unser Einsatz, unsere Lampen haben kein Öl mehr und sind nicht mehr in der Lage, unseren Weg zu beleuchten (vgl. Mt 25,1-13): »Bleibt in mir und ich bleibe in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt […] denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen« (Joh 15,4-5). In diesem Sinne möchte ich Euch ermutigen, die geistliche Begleitung nicht zu vernachlässigen, einen Bruder zu haben, mit dem Ihr in vollem Vertrauen und mit großer Offenheit sprechen, debattieren, diskutieren und Entscheidungen für euren persönlichen Weg treffen könnt. Es sollte ein weiser Mitbruder sein, mit dem man die Erfahrung der Jüngerschaft machen kann. Sucht ihn, findet ihn und genießt die Freude, Euch von ihm betreuen, begleiten und beraten zu lassen. Dies ist eine unersetzliche Hilfe, um den Dienst erfüllen zu können und so den Willen des Vaters tun (vgl. Hebr 10,9); wir haben sie nötig, um im Herzen »so gesinnt [zu sein], wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht« (Phil 2,5). Wie gut tun uns die Worte des Kohelet: »Zwei sind besser als einer allein […] Denn wenn sie hinfallen, richtet einer den anderen auf. Doch wehe dem, der allein ist, wenn er hinfällt, ohne dass einer bei ihm ist, der ihn aufrichtet« (4,9-10).
Die zweite tragende Verbindung ist der Aufbau und die Unterhaltung der Bande mit Euerm Volk. Isoliert Euch nicht von den Menschen und den Priestern oder den Gemeinden. Und noch weniger dürft Ihr Euch in geschlossene und elitäre Gruppen zurückziehen. Das erstickt oder vergiftet am Ende den Geist. Ein lebensfroher Geistlicher ist immer im Begriff hinauszugehen. „Hinausgehen“ heißt »auf dem Weg sein, manchmal vorn, manchmal in der Mitte, manchmal dahinter: vorn, um die Gemeinde zu führen; in der Mitte, um ihr Mut und Halt zu geben; dahinter, damit sie vereint bleibt und auch ja niemand zu weit zurückbleibt; damit sie vereint bleibt, aber noch aus einem anderen Grund: damit das Volk „Spürsinn“ hat! Spürsinn dafür, neue Wege zu finden – „sensus fidei“ [vgl. Lumen gentium 12]. Was kann es Schöneres geben?«<ref> Begegnung mit dem Klerus, den Personen des geweihten Lebens und den Mitgliedern der Pastoralräte, Assisi (4. Oktober 2013).</ref> Jesus selbst ist hier Vorbild, der diese Form der Evangelisierung gewählt hat, die uns zum Herzen des Volkes führt. Wie gut tut es uns, ihn so nahe bei allen zu sehen! Die Hingabe Jesu am Kreuz ist nichts anderes als der Gipfelpunkt dieses Evangelisierungsstils, der seine ganze Existenz geprägt hat.
Brüder, der Schmerz so vieler Opfer, der Schmerz des Volkes Gottes wie auch der unsrige kann nicht umsonst sein. Jesus selbst trägt all diese Last auf das Kreuz, und er lädt uns ein, unsere Sendung zu erneuern, um den Leidenden beizustehen, um ohne peinliche Empfindungen dem menschlichen Elend nahe zu sein und – warum nicht? – es wie das Eigene zu leben, um es zur Eucharistie werden zu lassen.<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 268-270.</ref> Unsere Zeit ist durch alte und neue Wunden gekennzeichnet. Dies trägt uns auf, „Kunsthandwerker“ von Beziehungen und von Gemeinschaft zu sein, die offen, zuversichtlich und in Erwartung der Neuheit sind, die das Reich Gottes heute erwecken will. Ein Reich von Sündern, denen vergeben ist und die eingeladen sind, das immer lebendige und tätige Mitgefühl des Herrn zu bezeugen; »denn seine Huld währt ewig«.
»Meine Seele preist die Größe des Herrn« (Lk 1,46)
Es ist nicht möglich, von Dankbarkeit und Lebensfreude zu sprechen, ohne Maria zu betrachten. Sie, die Frau, deren Seele ein Schwert durchdrungen hat (vgl. Lk 2,35), lehrt uns, zu loben und dabei fähig zu sein, den Blick auf das Zukünftige zu richten und der Gegenwart wieder Hoffnung zu geben. Ihr ganzes Leben ist in ihrem Lobgesang (vgl. Lk 1,46-55) zusammengefasst, den auch wir als Verheißung von Fülle singen sollen.
Jedes Mal, wenn ich zu einem Marienwallfahrtsort gehe, verbringe ich gerne die Zeit damit, die Mutter Maria zu betrachten und von ihr betrachtet zu werden. Dabei bitte ich um das Vertrauen des Kindes, des Armen und des einfachen Menschen, der weiß, dass dort seine Mutter ist und dass er einen Platz auf ihrem Schoß erbetteln kann. Und wie ich sie anschaue, möchte ich noch einmal, wie einst der Indio Juan Diego, die Worte hören: »Was gibt es, mein Sohn, du kleinster von allen? Was betrübt dein Herz? Bin ich nicht etwa hier, ich, die ich mich dir als Mutter zeigen darf?«<ref> Vgl. Nican Mopohua, 107, 118, 119.</ref>
Schauen wir erneut auf Maria und »glauben wir wieder an das Revolutionäre der Zärtlichkeit und der Liebe. An ihr sehen wir, dass die Demut und die Zärtlichkeit nicht Tugenden der Schwachen, sondern der Starken sind, die nicht andere schlecht zu behandeln brauchen, um sich wichtig zu fühlen.«<ref> Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 288.</ref>
Wenn sich manchmal das Gesicht zu verhärten beginnt oder wenn wir bemerken, dass die verführerische Kraft der Apathie oder der Trostlosigkeit Wurzeln schlagen und sich unseres Herzens bemächtigen will; wenn der Geschmack, sich als lebendiger und gesunder Teil des Volkes Gottes zu fühlen, uns lästig wird und wir uns zu einem elitären Verhalten hingedrängt fühlen … dann haben wir keine Angst, Maria zu betrachten und ihren Lobgesang anzustimmen.
Wenn wir uns manchmal versucht fühlen, uns zu isolieren und in uns selbst oder in unsere Pläne zu verschließen, um uns von den immer staubigen Wegen der Geschichte zu schützen, oder wenn sich Klagen, Proteste, Kritiken und Ironie unseres Handelns bemächtigen und wir keine Lust haben, zu kämpfen, zu warten und zu lieben … dann schauen wir auf Maria, auf dass sie unsere Augen von jedem „Staubkörnchen“ reinige, das uns daran hindern könnte, aufmerksam und wach zu sein, um Christus zu betrachten und zu feiern, der inmitten seines Volkes lebt.
Und wenn wir bemerken, dass wir es nicht schaffen, geradeaus zu gehen, und dass wir Mühe haben, die Vorsätze der Umkehr einzuhalten, dann wenden wir uns an sie, wie es jener große Pfarrer und Poet meiner früheren Diözese beinahe verschwörerisch tat: »Heute Abend, hohe Frau, ist mein Versprechen aufrichtig. Aber für alle Fälle, vergiss nicht, die Schlüssel draußen zu lassen.«<ref> Vgl. Amelio Luis Calori, Aula Fúlgida, Buenos Aires 1946.</ref> Maria »ist die Freundin, die stets aufmerksam ist, dass der Wein in unserem Leben nicht fehlt. Sie, deren Herz von einem Schwert durchdrungen wurde, versteht alle Nöte. Als Mutter von allen ist sie Zeichen der Hoffnung für die Völker, die Geburtswehen leiden, bis die Gerechtigkeit hervorbricht. […] Als wahre Mutter geht sie mit uns, streitet für uns und verbreitet unermüdlich die Nähe der Liebe Gottes.«<ref> Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 286.</ref>
Brüder, noch einmal möchte ich sagen: Ich »höre […] nicht auf, für Euch zu danken« (Eph 1,16), für Eure Hingabe und Eure Sendung. Ich tue es in der Gewissheit, dass »Gott die härtesten Steine entfernt, gegen die unsere Hoffnungen und Erwartungen prallen: Tod, Sünde, Angst, Weltlichkeit. Die Geschichte des Menschen endet nicht an einem Grabstein, denn heute entdeckt sie den „lebendigen Stein“ (vgl. 1 Petr 2,4): den auferstandenen Jesus. Wir als Kirche gründen auf ihm. Auch wenn wir den Mut verlieren, auch wenn wir versucht sind, alles von unserer Erfolglosigkeit her zu beurteilen, kommt er, um die Dinge neu zu schaffen.«<ref> Homilie in der Osternacht (20. April 2019).</ref>
Lassen wir es zu, dass die Dankbarkeit den Lobpreis erweckt und uns einmal mehr zu der Sendung ermutigt, unsere Brüder und Schwestern in der Hoffnung zu salben; dass wir Männer sind, die mit ihrem Leben das Mitgefühl und die Barmherzigkeit bezeugen, die nur Jesus uns geben kann.
Der Herr Jesus segne Euch und die heilige Jungfrau Maria behüte Euch. Und ich möchte Euch bitten, nicht zu vergessen, für mich zu beten.
Franziskus
Rom bei St. Johannes im Lateran, am 4. August 2019,
Anmerkungen
<references />