Aeterna Dei sapientia (Wortlaut)
Aeterna dei sapientia |
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Johannes XXIII.
durch Gottes Vorsehung Papst
an die ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe
und die anderen Oberhirten, die in Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle leben
sowie an den gesamten Klerus und die Christgläubigen des katholischen Erdkreises
über den heiligen Papst und Kirchenlehrer Leo den Großen aus Anlass der 1500jährigen Wiederkehr seines Todes
(Offizieller lateinischer Text AAS LIII [1961] 785-803)
(Quelle: am 9./10. Dezember 1961 im "Osservatore Romano" veröffentlicht: aus: Herder-Korrespondenz, Herder Verlag, Sechzehnter Jahrgang 1961/62; Fünftes Heft, Februar 1962, S. 218-224: eigene Übersetzung)
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Gruß und Apostolischen Segen !
Inhaltsverzeichnis
Einleitend
Die ewige Weisheit Gottes, die "sich kraftvoll vom einen Ende zum anderen erstreckt und das All vortrefflich leitet" (Weish. 8, 1), hat offenbar ihr Bild mit besonders leuchtendem Glanz in den Geist des heiligen Papstes Leo gesenkt. Dieser Papst - Unser Vorgänger Pius XII. nannte ihn mit vollem Recht "einen der Größten unter den Großen" (Ansprache vom 12. 10. 1952) - zeichnete sich durch besondere Unerschrockenheit des Geistes und durch väterliche Güte aus.
Aus diesem Grunde, ehrwürdige Brüder, halten Wir von der Vorsehung des höchsten Gottes auf den Stuhl Petri berufen - es für unsere Pflicht, des heiligen Leo, der sich als Papst durch eine kluge Regierung, durch eine reiche und fruchtbare Lehrtätigkeit, durch Geistesgröße und durch unerschöpfliche Liebe auszeichnete, zur 1500- jährigen Wiederkehr seines Todestages zu gedenken und an seine Tugenden und seine unsterblichen Verdienste zu erinnern. Wir vertrauen darauf, dass Wir dadurch zum gemeinsamen Nutzen der Seelen und zur Verherrlichung und Festigung des katholischen Glaubens nicht wenig beitragen können. Denn die Größe und Würde dieses Papstes liegen nicht in erster Linie in der geistigen Festigkeit, die er damals zeigte, als er sich im Jahre 452 ohne Waffen, nur mit der hohenpriesterlichen Würde bekleidet, dem grausamen Hunnenkönig Attila am Mincio entgegenstellte und ihn zum Rückzug über die Donau bewog. Das war zweifelsohne eine edle Tat und der friedenstiftenden Sendung des römischen Pontifex besonders würdig. Aber es war nur ein einzelnes Ereignis und Zeichen aus seinem großartigen Lebenswerk, das er bis zu seinem Tode zum religiösen und gesellschaftlichen Nutzen der Stadt Rom und Italiens und zugunsten der Gesamtkirche vollbrachte. Auf das Leben und Werk des heiligen Leo könnte man mit Recht das Schriftwort anwenden: "Doch des Gerechten Pfad ist wie der Morgenschein, der immer lichter wird his zum vollen Tage" (Spr. 4, 1 S), besonders wenn man sich drei charakteristische Merkmale dieses Mannes vor Augen hält: seine Arbeit im Dienste des Apostolischen Stuhls, seine Amtsführung als Stellvertreter Christi auf Erden und sein Wirken als Kirchenlehrer.
Der Diener des Apostolischen Stuhls
Nach dem Zeugnis des Liber Pontificalis (vgl. Ausg. Duchesne I, 238) stammte Leo aus der Toscana. Er wurde als Sohn des Quintianus gegen Ende des vierten Jahrhunderts geboren. Da er aber seit seiner frühesten Jugend in Rom lebte, nannte er nicht zu Unrecht die Ewige Stadt seine Heimat (Ep. 31,4; Migne PL 54,794). Dort wurde er bereits mit jungen Jahren in den römischen Klerus aufgenommen und stieg bis zur Würde eines Diakons auf. In der Zeit von 430-439 leistete er Papst Sixtus III. hervorragende Dienste und übte in kirchlichen Angelegenheiten einen nicht geringen Einfluss aus. Er unterhielt freundschaftliche Beziehungen zum heiligen Prosper, dem Bischof von Aquitanien, und zu Cassian, dem Gründer des Klosters St. Viktor in Marseille. Letzteren hat er aufgefordert, das Werk "De incarnatione Domini" gegen die Sekte der Nestorianer zu schreiben (Migne PL 59, 9 bis 272). Cassian nannte Leo "eine Leuchte der Kirche und im göttlichen Dienst" (De incarnatione Domini contra Nestorium libri VII, prol.; PL 50,9). Jeder wird die fast einzigartige Höhe dieses Lobes richtig einschätzen, wenn er bedenkt, dass der, dem es galt, nur ein Diakon war. Auf Veranlassung des kaiserlichen Hofes in Ravenna wurde er vom Papst nach Gallien geschickt, um im Streit zwischen dem Patrizier Aetius und dem Präfekten Albinus zu vermitteln. Aber während er sich dort aufhielt, starb Sixtus III. Da nun glaubte die römische Kirche die Stellvertretung Christi niemand Würdigerem übertragen zu können als dem Diakon Leo, den sie ebenso als profilierten Theologen wie als klugen Diplomaten schätzte. So wurde er am 29. Septemher 440 zum Bischof geweiht. Sein Pontifikat war eines der längsten des christlichen Altertums und ohne Zweifel eines der hervorragendsten. Leo starb im November 461. Sein Leichnam wurde unter dem Eingang der vatikanischen Basilika beigesetzt. Papst Sergius II. ließ ihn später in die "Burg des heiligen Petrus" überführen. Nach dem Bau der neuen Basilika wurde er unter dem ihm geweihten Altare beigesetzt.
Wenn Wir nun im Umriss die Bedeutung seines Lebens hervorheben wollen, so müssen Wir darauf hinweisen, dass die Kirche Christi selten so sehr über ihre Feinde triumphiert hat wie unter dem Pontifikat Leos des Großen. Denn dieser leuchtet um die Mitte des 5. Jahrhunderts wie ein heller Stern in der Christenheit. Das gilt, wie jeder Sachverständige zugeben wird, in hervorragender Weise für seine Leistungen in der katholischen Glaubenswissenschaft. Hier muss sein Name neben dem des heiligen Augustinus von Hippo und dem des heiligen Cyrill von Alexandrien genannt werden. Wenn bekanntlich der heilige Augustinus gegen die Pelagianer die Notwendigkeit der Gnade zum rechten Leben und zur Erlangung des ewigen Heils verteidigte und der heilige Cyrill gegen den Irrtum des Nestorius die Gottheit Christi und die Gottesmutterschaft Mariens, so hat Leo das Lehrgut dieser beiden großen Theologen, der Leuchten der westlichen und östlichen Kirche, gleichsam als Erbe übernommen und zeichnet sich vor allen Zeitgenossen durch die Verteidigung dieser beiden grundlegenden Lehrstücke des katholischen Glaubens aus. Wenn die gesamte Kirche Augustinus als den Lehrer der göttlichen Gnade feiert und Cyrill als den Lehrer der Inkarnation, so sehen in Leo alle übereinstimmend den Lehrer der kirchlichen Einheit.
Der Hirte der Kirche
Ein kurzer Blick auf die fruchtbare und lange Tätigkeit des heiligen Leo als Hirte und Schriftsteller genügt, um sich von dem Eifer zu überzeugen, mit dem er die Einheit der Kirche auf dem Gebiet der Lehre und der kirchlichen Disziplin verfocht und verteidigte. Jeder wird zudem einräumen, dass dieser fromme und heilige Papst auch auf dem Gebiete der Liturgie der Einheit gedient hat durch die Schöpfung oder wenigstens Veranlassung zur Abfassung einiger wertvoller Gebete, die im so genannten Sacramentarium Leonianum (Migne PL 55,21-156) gesammelt sind.
Vor allem griff Leo mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität in die Auseinandersetzung um die Einheit oder Zweiheit der Naturen in Christus ein und verhalf der wahren Lehre über die Menschwerdung des göttlichen Wortes zum Siege. Gerade deswegen blieb sein Name bei allen späteren Generationen unvergessen. Darüber gibt vor allem der Brief an Flavian, den Bischof von Konstantinopel, Aufschluss, in dem Leo in besonders klarer Gedankenführung und mit eigenen Worten, in Übereinstimmung mit der Lehre der Propheten, des Evangeliums, der apostolischen Schriften und des Glaubensbekenntnisses, das Dogma von der Menschwerdung des Sohnes Gottes erklärt (vgl. ebd. 54, 757).
Wir möchten daraus folgende hochbedeutsame Stelle zitieren: "Unbeschadet der substantiellen Verschiedenheit der beiden Naturen wurden beide Naturen in einer Person vereinigt. So wurde von der Majestät die Demut, von der Stärke die Schwachheit und von der Ewigkeit die Sterblichkeit angenommen. Und um den Zustand unserer Schuld zu beenden, hat sich die unverletzbare (göttliche) Natur mit der leidensfähigen (menschlichen) Natur vereinigt, in der Weise, dass, unserm Heilsbedürfnis entsprechend, ein und derselbe Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Jesus Christus, auf Grund seiner einen Natur sterben konnte und auf Grund seiner anderen nicht. Indem er die vollkommene und ganze menschliche Natur annahm, wurde der wahre Gott Mensch. Er war auf Grund seiner Eigenschaften ganz Gott, auf Grund unserer Eigenschaften ganz Mensch" (ebd. 54, 759).
Aber Leo beschränkte sich nicht bloß auf diese Aussage. Dem Brief an Flavian, in dem er ausführlich dargestellt hatte, "was die Kirche ingesamt über das Sakrament der Menschwerdung des Herrn lehrte und glaubte" (vgl. Ep. 29, ad Theodosium august.; PL 54, 783), folgte die Verurteilung des Konzils von Ephesus, das im Jahre 449 zusammengetreten war. Man hatte dabei durch Anwendung rechtswidriger Mittel und durch Gewalt versucht, die Irrlehre des Eutyches (vgl. Ep. 28; PL 54,756) durchzusetzen, deren Vertreter sich verbohrt und in Unkenntnis der Dinge hartnäckig gegen die Anerkennung der zwei Naturen in Christus sträubten. Mit gutem Recht bezeichnete der Papst jenes Konzil als "Räubersynode" (vgl. Ep. 95,2, ad Pulcheriam august.; PL 54,943); denn es stand im Widerspruch zu den klaren Entscheidungen des Apostolischen Stuhles und hatte gewagt mit allen Mitteln, "den katholischen Glauben zu bekämpfen" und jene "verabscheuungswürdige Häresie zu stärken" (vgl. ebd.). Der Ruf des heiligen Leo ist aber vor allem geknüpft an das berühmte Konzil von Chalcedon, das 451 stattfand. Dieses kam zwar auf Initiative des Kaisers zustande. Der Papst hatte die Zustimmung zur Einberufung aber nur unter der Bedingung gegeben, dass seine Legaten dabei den Vorsitz führen könnten (vgl. Ep. 89, 2, ad Marcianum imperat.; PL 54,931; vgl. Ep. 103, ad Episc. Galliarum; PL 54, 988-991). Jenes Konzil nun, ehrwürdige Brüder, füllt eine der rühmlichsten Seiten der Kirchengeschichte. Wir möchten hier aber nicht näher darauf eingehen, da Pius XII. diesem wichtigen Ereignis, das sowohl der wahren Lehre über die beiden Naturen des menschgewordenen Wortes als auch dem Lehrprimat des römischen Pontifex zum Siege verhalf, anlässlich von dessen 1500jähriger Wiederkehr eines seiner wichtigsten Rundschreiben gewidmet hat (Sempiternus Rex vom 8. September 1951). Ebenso groß war die Sorge des heiligen Leo um die Einheit und den Frieden der Kirche. Er zögerte nämlich, die Beschlüsse jenes Konzils zu approbieren. Er tat das nicht aus Unachtsamkeit oder aus irgend welchen Gründen der Lehre. Er wollte vielmehr, wie er selbst deutlich erklärte, sich dem can. 28 des Konzils widersetzen, in welchem die Konzilsväter, sei es dem Protest der päpstlichen Legaten zum Trotz, sei es um sich das Wohlwollen des byzantinischen Kaisers zu erschleichen, dem Sitz von Konstantinopel den Primat über die Kirchen des Ostens zuerkannt hatten. Diese Entscheidung erschien Leo als ein offener Affront gegen die Privilegien der übrigen, besonders der älteren und berühmteren Kirchen, die als solche auch von den Vätern des Nicänums anerkannt worden waren. Zudem schien ihm jener Kanon die Autorität des Apostolischen Stuhles zu beschränken. Diese Gefahr sah der Papst weniger im Wortlaut des Kanon 28 als vielmehr in der Gesinnung derer, die ihn formuliert hatten.
Das geht ganz klar aus zwei Briefen hervor, von denen einer von den Bischöfen des Konzils an ihn (vgl. C. Kirch, Enchir. fontium hist. Eccl.. antiquae, Freiburg i. Br., 4. Aufl. 1923, Nr. 943) und der zweite von ihm an den Kaiser gerichtet war. Im letzteren weist er die Beweisführung der Konzilsväter zurück und fügt die Mahnung hinzu: "Etwas anderes ist die Ordnung der weltlichen Dinge und etwas anderes die Ordnung der göttlichen. Es wird kein festes Fundament geben außer jenem Felsen, durch den der Herr selbst das Fundament gelegt hat (vgl. Matth. 16, 18). Wer nach dem strebt, was ihm nicht zusteht, kompromittiert seine eigenen Rechte" (Ep. 104, 3, ad Marcianum imperatorem; PL 54, 995; vgl. Ep. 106, ad Anatolium, episc. Constant.; PL 54,995). Die schmerzvolle Geschichte des Schismas, durch das in der Folgezeit so viele hochangesehene Kirchen des Ostens vom Apostolischen Stuhl getrennt wurden, ist leider ein klarer Beweis für die Berechtigung der in der zitierten Stelle ausgedrückten Voraussicht und Furcht vor den zukünftigen Spaltungen innerhalb der Christenheit.
Unsere Hinweise auf die Bemühungen des heiligen Leo um die Einheit der Kirche wären unvollständig, wenn Wir nicht wenigstens im Vorübergehen daran erinnerten, dass er sich auch in die Auseinandersetzung um die Festlegung des Osterfestes einschaltete und sich ebenso gewissenhaft für Beziehungen zwischen dem Apostolischen Stuhl und den christlichen Fürsten im Geiste gegenseitiger Achtung, des Vertrauens und des Wohlwollens einsetzte. Während er nichts anderes vor Augen hatte als die Wahrung des kirchlichen Friedens, ermahnte er die christlichen Fürsten wiederholt, in Verein mit den Bischöfen durch Rat und Tat "für eine harmonische Einheit in der Katholischen Kirche" zu arbeiten, um so vor Gott "nicht nur die Königskrone, sondern auch die Würde des Priestertums" zu verdienen (Ep. 114,3, ad Marcianum imperat.; PL 54, 1022).
Der große Lehrer
Aber der heilige Leo war nicht nur ein wachsamer Hirte der Herde und ein mächtiger Verteidiger des reinen Glaubens. Er verdient auch als Kirchenlehrer höchste Anerkennung; verfocht und verkündete er doch unermüdlich jene Wahrheiten, die jeder römische Papst bewahrt und erklärt wissen will. Diese Anerkennung wird auch durch die Apostolische Konstitution Militantis Ecclesiae Unseres Vorgängers Benedikt XIV. vom 12. Oktober 1754 ausdrücklich bestätigt, durch die er den heiligen Leo in die Zahl der Kirchenväter aufgenommen hat. Darin widmet er ihm folgendes Lob: "Wegen seiner hervorragenden Tugend, seines Wissens und seines großen seelsorglichen Eifers wurde ihm von den Vorfahren mit Recht der Titel ,der Große' verliehen. Die Überlegenheit seiner Lehre in der Erklärung der tiefsten Mysterien unseres Glaubens, in deren Verteidigung gegen eindringende Irrtümer, aber auch in der Formulierung überlieferter Disziplinar- und Moralvorschriften tritt neben der besonderen Würde und dem Reichtum priesterlicher Beredsamkeit so klar hervor und wird von so vielen Menschen anerkannt und von Konzilien, Vätern und kirchlichen Schriftstellern gefeiert, dass dieser so bedeutsame Papst an Ruhm und Achtung keinem der heiligen Kirchenlehrer in irgend einer Weise nachgestellt werden darf" (Benedikt XIV., Opera omnia, vol. 18, Bullarium, tom. III, pars II, Prati 1847, p. 205). Seine Bedeutung als Kirchenlehrer liegt besonders in seinen Reden und Briefen. Von diesen ist uns ein sehr beachtlicher Teil erhalten geblieben. Seine Reden handeln über verschiedene Themen, die meisten von ihnen stehen in Beziehung zu den christlichen Festen. Er erweist sich darin nicht so sehr als Exeget, der irgendein Buch der Schrift mit Sorgfalt interpretiert, oder als Theologe, der mit lebhaftem Eifer die göttlichen Wahrheiten ergründet, sondern ganz besonders als gläubiger, zuverlässiger und fruchtbarer Verkünder der christlichen Geheimnisse, wobei er sich eng an die Tradition der Konzilien, der Väter und seiner Vorgänger im römischen Bischofsamt anlehnt. Sein Stil ist einfach, ernst und feierlich, die Beweisführung tiefgründig. Er kann deswegen als ein vollendetes Modell klassischer Beredsamkeit angesehen werden. Trotzdem opfert er nie die genaue Wiedergabe der Wahrheit der Eleganz der Darstellung. Er spricht oder schreibt niemals, um sich bewundern zu lassen, sondern um die Menschen geistig zu führen und sie dazu anzueifern, auch gemäß der Wahrheit, die sie bekennen, zu leben.
In den Briefen, die der heilige Leo als oberster Hirte an Bischöfe, an weltliche Fürsten, an Priester und Diakone und schließlich an Mönche aus der gesamten Kirche richtete, erweist er sich als ein Mann von außerordentlicher diplomatischer Begabung, als ein durchdringender und schlagfertiger und auf das Praktische gerichteter Geist und als ein Mann von unbedingter Festigkeit in der Ausführung seiner wohlüberlegten Entschlüsse. Doch neigte er zu väterlicher Nachsicht und war vor allem von jener Liebe erfüllt, die der heilige Paulus allen Christen als den vollkommeneren Weg empfiehlt (1 Kor. 12,31).
Wer wollte bestreiten, dass ein so hoher Sinn für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, ein so fester Wille, verbunden mit der Bereitschaft zur Nachsicht, aus jener Liebe selbst herzuleiten ist, die Christus vom Apostel Petrus gefordert hat, als er ihm seine Herde zur Führung und Leitung anvertraute (vgl. Joh. 21, 15-17). Leo war ständig bemüht, aus sich ein getreues Abbild des guten Hirten Jesus Christus zu formen. Das beweisen vor allem die folgenden Sätze: "Wir müssen einerseits Geduld und Nachsicht walten lassen, anderseits aber Strenge und Gerechtigkeit. Und weil alle Wege des Herrn Wege der Barmherzigkeit und Wahrheit sind, müssen Wir gemäß der dem Apostolischen Stuhl obliegenden Pflicht Unsere Entscheidung treffen unter Abwägung der Schwere der Vergehen, die nicht mit gleichem Maße gemessen werden können. Einige können wohl mit Nachsicht behandelt, andere müssen aber von Grund auf beseitigt werden" (Ep. 12,5, ad Episcopos africanos; PL 54,652). Briefe und Homilien sind ein sehr beredtes Zeugnis vom Denken und Fühlen, vom Reden und vom Wirken des heiligen Leo. Er war immer bestrebt, das Wohl der Kirche zu wirken, in Wahrheit, Einheit und Frieden.
Die 1500-Jahr-Feier und das Zweite Vatikanische Konzil
Ehrwürdige Brüder! Unmittelbar vor der Ankündigung des Zweiten ökumenischen Vatikanischen Konzils, wo die Bischöfe, in Gemeinschaft mit dem Papst und um ihn versammelt, der ganzen Welt ein Schauspiel der Einheit der Katholischen Kirche geben werden, scheint es Uns lehrreich und tröstlich, wenigstens kurz an die hohen Ideale Leos von der Einheit der Kirche zu erinnern. Damit soll das Andenken an diesen weisen Papst geehrt und, angesichts der unmittelbar bevorstehenden Ereignisse, den Gläubigen geistliche Nahrung geboten werden.
Zunächst lehrt uns der heilige Leo, dass die Kirche eine sein muss, weil Christus, ihr Bräutigam, einer ist. "Jene ist nämlich die jungfräuliche Kirche, die Braut Christi, die keinen Makel des Irrtums erträgt, damit wir so auf der ganzen Welt die ganze und volle Einheit haben" (Ep. 80,1, ad Anatolium, episc. Constant.; PL 54,913). Diese offenkundige Einheit der Kirche erklärt der heilige Leo aus der Menschwerdung des göttlichen Wortes. Er erläutert das folgendermaßen: "Die Geburt Christi ist auch die Geburt des christlichen Volkes, die Geburt des Hauptes ist auch die Geburt des Leibes. Wohl kommt jedem, der berufen ist, sein eigener Rang zu, wohl unterscheiden sich die Kinder der Kirche durch das zeitliche Nacheinander, aber die Gesamtheit der Gläubigen ist doch geboren aus dem Wasser der Taufe, mit Christus gekreuzigt in seiner Passion, auferweckt in seiner Auferstehung und in seiner Himmelfahrt zur Rechten des Vaters erhoben. So sind sie auch alle mit ihm mitgeboren in seiner Geburt" (Serm. 26,2, in Nativitate Domini; PL 54,213). An dieser geheimnisvollen Geburt der Kirche (Kol. 1, 18) hat auch Maria hervorragenden Anteil, weil der Heilige Geist ihr, der Jungfrau, Fruchtbarkeit verlieh. So preist der heilige Leo Maria "als Jungfrau, Magd des Herrn und Mutter" (vgl. Ep. 165,2, ad Leonem imper.; PL 54,1157), als Gottesgehärerin (vgl. ebd.) und als immerwährende Jungfrau (vgl. Serm. 22, 2, in Nativitate Domini; PL 54, 195). Außerdem weist der heilige Leo ausdrücklich darauf hin, dass das Sakrament der Taufe jeden Christen nicht nur zum Glied Christi, sondern auch seiner königlichen Würde und seines Priestertums teilhaftig macht. "Alle, die in Christus wiedergeboren sind, macht das Zeichen des Kreuzes zu Königen, die Salbung des Heiligen Geistes aber weiht sie zu Priestern" (Serm. 4, 1, in Nativitate Domini; PL 54, 149; vgl. Serm. 64, 6, de Passione Domini; PL 54, 357; Ep. 69,4; PL 54,870). So dann stärkt den Christen das Sakrament der Firmung, das er als "Heiligung durch das Chrisma" bezeichnet (Serm. 66, 2, de Passione Domini; PL 54,365-366), und macht ihn Christus, dem Haupte des Leibes der Kirche, ähnlicher. Diese Einigung wird dann durch die Eucharistie vollendet. Denn nach der Lehre des heiligen Leo "bewirkt die Teilnahme am Leibe und Blute Christi nichts anderes, als dass wir in das verwandelt werden, was wir empfangen, und dass wir dem Leibe und dem Geiste nach den ganz in uns tragen, mit dem wir gestorben, begraben und auferstanden sind" (Serm. 64, 7, de Passione Domini; PL 54, 357).
Aber man achte wohl darauf! Es gibt keine vollkommene Einheit mit dem göttlichen Erlöser als dem gemeinsamen Haupte und unter sich selbst als Glieder eines sichtbaren und lebendigen Leibes, wenn diese nicht durch gemeinsame Tugenden, die Einheit des Kultes und der Sakramente und durch das Festhalten und Bewahren desselben Glaubens untereinander verbunden sind. Denn, so meint der heilige Leo: "Eine große Hilfe ist der volle und reine Glaube, zu dem niemand etwas hinzufügen und von dem niemand etwas wegnehmen darf, wer immer er sei; denn wenn der Glaube gespalten ist, hört er auf, Glaube zu sein" (Serm. 24,6; in Nativitate Domini; PL 54,207). Damit aber die Einheit im Glauben wirklich erhalten bleibe, müssen die Lehrer der göttlichen Wahrheit, die Bischöfe, unter sich eins sein, im Geiste und im Zeugnis, und zwar in Gemeinschaft mit dem römischen Papst. Denn "die Einheit des ganzen Leibes ist Voraussetzung für seine Gesundheit und Schönheit. Und wenn diese Einheit Einmütigkeit verlangt, so fordert sie vor allem die Eintracht der Priester. Diesen ist die priesterliche Würde gemeinsam, aber nicht das Maß an Vollmachten. Denn auch unter den Aposteln bestand zwar volle Gleichheit des Ansehens, aber Verschiedenheit der Gewalten, sofern zwar allen die Gnade der Auserwählung, aber einem einzigen der Vorrang vor allen anderen verliehen wurde" (Ep. 14, 11, ad Anastasium, episc. Thessal.; PL 54, 676).
[Fortsetzung folgt]