Katholizismus
Um das zentrale Stichwort, dem sämtliche Beiträge hier zugeordnet sind, in angemessener Form kurz zu erläutern, nämlich den Katholizismus als Begriff, sei es gestattet, auf einige Gedanken zu verweisen, die Jean Guitton auf dem Höhepunkt der nachkonziliaren Krise 1972 formulierte.
Wir können den Katholizismus verstehen als geistlichen Raum, der sich durch dreierlei Dimensionen auszeichnet: Zuerst ist derselbe als eine Lehre aufzufassen, diesbezüglich erinnert der Katholizismus an sämtliche Philosophien und Ideensysteme. Zum andern ist der Katholizismus aber auch ein Kult. Insofern erinnert er an alle anderen Religionen. Schließlich ist der Katholizismus aber auch eine sichtbare, in der Geschichte greifbare Organisation, ein Volk. Also erinnert er auch überdies an andere Gewalten.
Die Kirche ist somit zugleich eine Schule, ein Tempel und eine Herde. Alle Autorität in ihr ist folglich zugleich lehrhaft, priesterlich und pastoral. Der Katholizismus ist Wahrheit, Leben und Weg.
"Celui qui ne peut pas suivre en esprit cette triple histoire à la fois et maintenir ces trois aspects sous un même regard ne comprendra jamais pleinement la réalité catholique." (Guitton)
Um die katholische Wirklichkeit vollends zu erfassen, ist es unabdingbar, diese dreifache Geschichte stets unter einem gemeinsamen Aspekt gleichermaßen zu betrachten. Die Geschichte der Glaubensspaltungen ist von daher auch die Geschichte der unterschiedlichen Betrachtung dieser Aspekte. Aus katholischer Sicht hat die Orthodoxie partiell die kirchliche Funktion als ethnische Entität, als angeleitetes Volk eingebüßt. (Das erklärt u.a. den Verlust ihrer Widerstandskraft gegen die Ausbreitung des Islam.) Die Reformation hingegen hat überdies die priesterliche Dimension des Katholizismus abgeschwächt, so dass die christliche Lehre ganz stark in den Vordergrund trat. (Das erklärt die relativ unproblematische Integration des subjektiv vollzogenen protestantischen Bekenntnisses in das Gefüge moderner Monarchien.)
Der Katholizismus der Gegenwart hält jedoch daran fest, dass die Autorität des Evangeliums für die Lebenswirklichkeit der Menschen nur dann erkennbar, erfahrbar und wirksam ist, wenn das kirchliche Leben sich in dieser dreifachen Dimension vollzieht. Organisatorisch, liturgisch und doktrinär ruht das Glaubensleben mithin auf dem Kollegium der Bischöfe, die diese universale Realität jedoch nur ins Werk setzen können, wenn und soweit sie die Einheit mit dem Nachfolger Petri wahren (Lumen Gentium insb. Nr. 23).
Ecclesiam Suam
In seiner ersten Enzyklika hat Papst Paul VI. dazu aufgefordert, das Selbstbewusstsein der Kirche zu vertiefen. Dies aber nicht als Selbstzweck: "Die erste Frucht der Vertiefung des Bewusstseins der Kirche von sich selber ist die erneute Entdeckung ihrer lebendigen Beziehung zu Christus."
Aus diesem Grund ist Katholizismus wesentlich Tradition, da die Kirche aus ihrer Beziehung zur Gegenwart Christi zu allen Zeiten lebt. Kirche ist Kontinuität und in dieser dürfen die Konzilien der letzten beiden Jahhunderte ebensowenig fehlen wie wesentliche Aussagen des päpstlichen Lehramts, etwa von Leo XIII. die Enzyklika Satis cognitium von 1896 oder Mystici corporis von Pius XII. (1943).
Mehr denn je zuvor in der Kulturgeschichte der Menschheit hat jedoch das immense Werk des großen Papstes Johannes Paul II. das Wesen des Katholizismus weltweit präsent gemacht. Vielleicht wurde die Gegenwart zur Zeugin einer Aussaat, deren reiche Früchte der Zivilisation nach und nach immer mehr zugute kommen. Denn die Welt von heute, gekennzeichnet durch die erstmalige Fähigkeit der Menschen, die Schöpfung zu zerstören, aber auch ausgezeichnet durch nie dagewesene Chancen, das Leben unter das Wort Christi zu stellen, um es zu vervollkommnen, ruft den Katholizismus dazu auf, seine Identität im Dialog zu bewähren.
Literatur
Jean Guitton, Le catholicisme hier, aujourd'hui et demain, Paris 1972.