Brief vom 1. Oktober 1999 an die alten Menschen

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Apostolischer Brief

unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
an die alten Menschen
1. Oktober 1999

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite; auch in: VAS 142 oder in Arbeitshilfen 151)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Meine Lieben Brüder und Schwestern!
”Unser Leben währt siebzig Jahre,

und wenn es hoch kommt, sind es achtzig,

Das Beste daran sind nur Mühsal und Beschwer,

rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin“ (Ps 90, 10)

Einleitend

1. Siebzig Jahre waren zu der Zeit, als der Psalmist diese Worte schrieb, ein stattliches Alter, das nicht viele überschritten haben; heutzutage kommt es dank der medizinischen Fortschritte sowie der verbesserten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in vielen Gegenden der Welt zu einer beträchtlichen Verlängerung der Lebensdauer. Doch es lässt sich nicht leugnen: Die Jahre verfliegen; obwohl das Leben von Mühsal und Beschwerden gezeichnet ist, ist es als Geschenk zu schön und zu wertvoll, als dass wir dessen müde sein könnten.

Auch ich bin mittlerweile alt geworden. So verspüre ich den Wunsch, mit euch alten Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich tue dies vor allem aus der Dankbarkeit heraus, die ich Gott für die Gaben und Möglichkeiten schulde, mit denen er mich bis zum heutigen Tag reichlich beschenkt hat. In meiner Erinnerung ziehen die Etappen meines Lebens vorüber, das mit der Geschichte eines langen Stücks dieses Jahrhunderts verflochten ist. Vor meinem inneren Auge gewinnen die Gesichter unzähliger Personen Konturen, von denen mir einige besonders teuer sind: Erinnerungen an gewöhnliche und außergewöhnliche Ereignisse, an frohe Augenblicke ebenso wie an Begebenheiten, die von Leid gezeichnet sind. Doch sehe ich, wie sich über allem Gottes väterliche Hand ausbreitet. Mit Umsicht und Erbarmen ”sorgt er bestmöglich für alles, was ins Dasein gerufen ist“.<ref>HL. Johannes von Damaskus, Darstellung des rechten Glaubens, 2, 29.</ref> Er erhört uns, wann immer wir etwas erbitten, das seinem Willen entspricht (vgl. 1 Joh 5, 14). Mit dem Psalmisten sage ich zu ihm: ”Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf, und noch heute verkünde ich dein wunderbares Walten. Auch wenn ich alt und grau bin, o Gott, verlaß mich nicht, damit ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt künde, den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke“ (Ps 71, 17-18).

Meine Gedanken wenden sich voller Zuneigung euch allen zu, liebe Senioren jeder Sprache und Kultur. An euch richte ich diesen Brief in dem Jahr, das die Organisation der Vereinten Nationen zu Recht den alten Menschen gewidmet hat, um die ganze Gesellschaft auf die Lage derjenigen aufmerksam zu machen, die infolge der Last des Alters oft mit vielfältigen und schwierigen Problemen fertigwerden müssen.

Wertvolle Überlegungen zu diesem Thema hat schon der Päpstliche Rat für die Laien vorgelegt.<ref>Vgl. Die Würde des alten Menschen und sein Auftrag in Kirche und Welt, Vatikanstadt 1998.</ref> Mit dem vorliegenden Schreiben möchte ich lediglich ausdrücken, dass ich euch geistlich nahe bin. Denn von Jahr zu Jahr fühle ich, wie in mir das Verständnis für diesen Lebensabschnitt immer mehr wächst. Damit geht auch das Bedürfnis einher, in unmittelbareren Kontakt zu meinen Altersgenossen zu treten. Ich möchte mit ihnen über gemeinsame Erfahrungen nachdenken und alles unter den Blick Gottes stellen, der uns mit seiner Liebe umfängt und uns mit seiner Vorsehung stützt und leitet.

2. Liebe Brüder und Schwestern! Wenn wir mit unseren Gedanken in die Vergangenheit zurückkehren und gleichsam eine Bilanz zu ziehen versuchen, dann liegt das in unserem Alter nahe. Diese Rückschau erlaubt uns eine gelassenere und sachlichere Beurteilung von Personen und Situationen, denen wir auf unserem Weg begegnet sind. Im Laufe der Zeit verschwimmen die scharfen Konturen der Ereignisse, und ihre schmerzhaften Kanten erscheinen in milderem Licht. Leider gibt es im Leben eines jeden Menschen reichlich Kummer und Leid. Manchmal handelt es sich um Probleme und Schmerzen, in denen die seelische und körperliche Belastbarkeit auf eine harte Probe gestellt wird. Sogar der Glaube kann erschüttert werden. Doch die Erfahrung lehrt uns, dass mit der Gnade des Herrn gerade die täglichen Mühen oft den Menschen erst reifen lassen und den Charakter stärken.

Über die einzelnen Ereignisse hinaus macht man sich besonders Gedanken über die Zeit, die unerbittlich verrinnt. ”Unwiederbringlich entflieht die Zeit“, urteilte der antike lateinische Dichter.<ref>Vergil, ”Fugit inreparabile tempus“, Georgica, III, 284.</ref> Der Mensch ist in die Zeit eingetaucht: In die Zeit wird er hineingeboren, in ihr lebt und stirbt der Mensch. Mit der Geburt wird ein Datum gesetzt, das erste seines Lebens, und mit dem Tod ein weiteres und letztes: Die beiden Daten markieren Alpha und Omega, Anfang und Ende seiner irdischen Geschichte, wie es die christliche Tradition dadurch unterstreicht, dass sie diese Buchstaben des griechischen Alphabets in die Grabsteine einmeißelt.

Wenngleich die Existenz eines jeden von uns so begrenzt und zerbrechlich ist, tröstet uns doch der Gedanke, dass wir kraft der Geistseele über den Tod hinaus leben. Der Glaube eröffnet uns darüber hinaus eine ”Hoffnung, die nicht zugrunde gehen lässt“ (Röm 5, 5): Er eröffnet uns die Aussicht auf die Auferstehung am Ende der Zeiten. Nicht umsonst wendet die Kirche in der feierlichen Osternacht eben diese Buchstaben auf Christus an, der lebendig ist gestern, heute und in Ewigkeit: ”Er ist Anfang und Ende, Alpha und Omega. Sein ist die Zeit und die Ewigkeit“.<ref>Vgl. Liturgie der Osternacht.</ref> Auch wenn die Geschichte des Menschen der Zeit unterworfen ist, wird sie von Christus in den Horizont der Unsterblichkeit gerückt. Er ”ist Mensch unter den Menschen geworden, um den Anfang mit dem Ende, das heißt den Menschen mit Gott zu vereinen“.<ref>HL. Irenäus von Lyon, Adversus haereses, 4, 20, 4.</ref>

Ein kompliziertes Jahrhundert auf dem Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft

3. Wenn ich mich an die alten Menschen wende, bin ich mir bewusst, zu Personen und über Personen zu reden, die einen langen Weg hinter sich haben (vgl. Weish 4, 13). Ich spreche zu meinen Altersgenossen. Deshalb fällt es mir nicht schwer, nach einer Analogie in meinem persönlichen Leben zu suchen. Unser Leben, liebe Brüder und Schwestern, ist von der Vorsehung in dieses zwanzigste Jahrhundert hineingestellt worden. Dieses Jahrhundert hat von der Vergangenheit ein komplexes Erbe empfangen und war so Zeuge zahlreicher, außergewöhnlicher Ereignisse.

Wie viele andere Zeiten der Geschichte hat auch dieses Jahrhundert Licht und Schatten erlebt. Nicht alles war finster. Viele positive Aspekte haben das Negative aufgewogen oder sind gar aus ihm erwachsen, weil das kollektive Gewissen gut darauf reagiert hat. Es stimmt jedoch, dass es unglaubliche Leiden gegeben hat, die das Leben von Millionen und Abermillionen Menschen betroffen haben. Das zu vergessen, wäre ebenso ungerecht wie gefährlich! Man denke nur an die Konflikte, die auf verschiedenen Kontinenten ausbrachen und aufgrund territorialer Zwistigkeiten oder infolge des Hasses unter ethnischen Gruppen entstanden sind. Als nicht weniger schwerwiegend dürfen die Bedingungen extremer Armut gelten, von der breite Schichten der Gesellschaft auf der Südhälfte des Erdballs betroffen sind, ganz zu schweigen von der beschämenden Rassendiskriminierung und der systematischen Verletzung der Menschenrechte in vielen Nationen. Was soll man schließlich sagen im Hinblick auf die großen Weltkonflikte?

In der ersten Hälfte des Jahrhunderts gab es derer gleich zwei. Damit verbunden war eine nie zuvor gekannte Zahl von Toten und Zerstörungen. Der Erste Weltkrieg mähte Millionen von Soldaten und Zivilisten dahin. So viele Menschenleben an der Schwelle des Jugend- oder gar Kindesalters wurden dahingerafft. Und was soll ich erst sagen vom Zweiten Weltkrieg? Nach wenigen Jahrzehnten relativen Friedens in der Welt ist er besonders über Europa hereingebrochen. Dieser Weltkrieg war tragischer als der vorhergehende und hatte schreckliche Folgen für das Leben der Nationen und Kontinente. Es war der totale Krieg, eine unvorstellbare Mobilisierung des Hasses, die sich auf brutale Weise auch auf der wehrlosen Zivilbevölkerung entlud und ganze Generationen vernichtet hat. Der Tribut, der an den verschiedenen Fronten dem Kriegswahnsinn gezollt wurde, geht ins Unermeßliche, und ebenso grauenhaft waren die Massaker in den Vernichtungslagern, die in der Tat zum Golgota unseres Zeitalters geworden sind.

Auf der zweiten Hälfte des Jahrhunderts lastete über viele Jahre hinweg der Alptraum des Kalten Krieges. Ost und West standen sich als zwei große ideologische Machtblöcke gegenüber, was mit einem irrsinnigen Rüstungswettlauf verbunden war. Ständig stand die Drohung eines Atomkrieges im Raum, der zur Auslöschung der Menschheit hätte führen können.<ref>Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 18.</ref> Im letzten, jetzt zu Ende gehenden Jahrzehnt haben sich auf der Weltbühne rasche und wichtige Veränderungen vollzogen, angefangen vom Zusammenbruch der unterdrückerischen totalitären Regime in Europa. Dies geschah in einem gewaltlosen Kampf, der nur von den Waffen der Wahrheit und der Gerechtigkeit Gebrauch machte.<ref>Vgl. ebd., 23.</ref> So wurde ein mühsamer, aber fruchtbarer Prozess des Dialogs und der Versöhnung in Gang gebracht, der ein von mehr Entspannung und Solidarität geprägtes Zusammenleben zwischen den Völkern zum Ziel hat.

Zu viele Nationen sind indes noch weit davon entfernt, die Wohltaten des Friedens und der Freiheit genießen zu dürfen. Großes Bangen hat in den vergangenen Monaten der gewaltsame Konflikt ausgelöst, der auf dem Balkan ausgebrochen war. Dieses Gebiet war bereits in den vorausgegangenen Jahren Schauplatz eines furchtbaren Krieges mit ethnischem Hintergrund. Es kam zu neuerlichem Blutvergießen, zu weiteren Zerstörungen, erneut wurde Hab geschürt. Da sich endlich die Gewalt der Waffen gelegt hat, beginnt man nunmehr, im Ausblick auf das neue Jahrtausend an den Wiederaufbau zu denken. Unterdessen flammen indes auch in anderen Kontinenten zahlreiche Kriegsherde weiter auf und entladen sich manchmal in Massakern und Gewalttaten, die bei den Medien nur allzu schnell in Vergessenheit geraten.

4. Wenn uns diese Erinnerungen und schmerzlichen aktuellen Geschehnisse auch traurig stimmen, können wir dennoch nicht unterschlagen, dass unser Jahrhundert vielfältige positive Signale am Horizont erscheinen sah, aus denen sich gleichzeitig Hoffnung für das dritte Jahrtausend schöpfen lässt. Es gibt zwar viele Widersprüche, besonders was die Achtung vor dem Leben jedes Menschen anbelangt. Doch ist das Bewusstsein für die allgemeinen Menschenrechte gewachsen, die sich in feierlichen, für die Völker verbindlichen Erklärungen niedergeschlagen haben.

Es hat sich gleichermaßen das Bewusstsein vom Selbstbestimmungsrecht der Völker herausgebildet im Rahmen der nationalen und internationalen Beziehungen, die vom Geist der Wertschätzung gegenüber kultureller Eigenheiten und gleichzeitig von der Achtung der Minderheiten geleitet sind. Der Zusammenbruch totalitärer Systeme wie jener in Osteuropa ließ die umfassende Wahrnehmung wachsen, wie wertvoll Demokratie und freier Markt sind. Dennoch ist die enorme Herausforderung geblieben, Freiheit und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden.

Als großartiges Gottesgeschenk darf man auch werten, dass die Religionen mit immer größerer Entschlossenheit einen Dialog anstreben, der sie für die Welt zu einem wesentlichen Baustein des Frieden und der Einheit machen soll.

Was soll man dazu sagen, dass die Würde der Frau im allgemeinen Bewusstsein mehr und mehr anerkannt wird? Zweifellos liegt noch ein weiter Weg vor uns, aber die Linie ist vorgezeichnet. Grund zur Hoffnung liegt außerdem in der intensiven Ausweitung der Kommunikationsmittel, die es dank der modernen Technologie möglich machen, die herkömmlichen Grenzen zu überwinden. So geben sie uns das Gefühl, Weltbürger zu sein. Auf einem weiteren wichtigen Bereich hat sich ein Reifeprozess ereignet, was die neue Sensibilität für die Umwelt anzeigt, die Unterstützung verdient. Hoffnungsschimmer sind auch die großen Fortschritte der Medizin und der zum Wohl des Menschen angewandten Wissenschaften.

Es gibt also viele Gründe, weshalb wir Gott danken dürfen. Denn trotz allem liegen in dieser Jahrhundertwende große Möglichkeiten für Frieden und Fortschritt. Aus den Prüfungen, die unsere Generation durchgemacht hat, erstrahlt ein Licht, das die Jahre unseres Alters zu erleuchten vermag. Auf diese Weise bestätigt sich ein Grundsatz, der dem christlichen Glauben lieb und teuer ist: ”Nicht nur, dass Leiden und Sorgen die Hoffnung nicht zerstören, sie sind sogar ihr Fundament“.<ref>HL. Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Römerbrief, 9, 2.</ref>

So hat es eine besondere Bedeutung, dass wir zu einer Zeit innehalten, da sich das Jahrhundert und das Jahrtausend ihrem Ende zuneigen. Ein neues Zeitalter der Menschheit dämmert herauf. Da halten wir inne, um über die Tatsache der schnell dahineilenden Zeit nachzudenken, nicht um uns mit einem unerbittlichen Schicksal abzufinden, sondern um den uns noch verbleibenden Lebensjahren Sinn und Wert zu verleihen.

Der Herbst des Lebens

5. Was ist das Alter? Manchmal nennt man es den Herbst des Lebens — wie das schon Cicero tat<ref>Vgl. Cato maior, seu De senectute, 19, 70.</ref> — und folgt damit der Analogie, die von den Jahreszeiten und Phasen nahegelegt wird, die in der Natur aufeinanderfolgen. Es genügt, die Veränderungen der Landschaft im Laufe des Jahres zu beobachten: Es erzählen die Berge und das flache Land, die Wiesen, Täler und Wälder, die Bäume und Pflanzen. Es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen dem Biorhythmus des Menschen und den Kreisläufen der Natur, in die er eingebunden ist.

Gleichzeitig unterscheidet sich jedoch der Mensch von jeder anderen Wirklichkeit, die ihn umgibt. Denn er ist Person. Geformt nach dem Bild und Gleichnis Gottes, ist er ein Subjekt, das mit Bewusstsein und Verantwortung ausgestattet ist. Doch auch in seiner geistigen Dimension erlebt der Mensch die Aufeinanderfolge verschiedener Phasen, die alle gleich vergänglich sind. Der hl. Ephräm der Syrer hat das Leben gern mit den Fingern einer Hand verglichen. Einerseits wollte er damit hervorheben, dass die Länge des Lebens nicht über die einer Handbreite hinausreicht; andererseits verstand er den Vergleich als Hinweis darauf, dass so wie jeder Finger auch jede Lebensphase ihre Eigenart hat: ”Die Finger stellen die fünf Stufen dar, auf denen der Mensch vorwärtskommt“.<ref>Aus dem Sermo Vanitas vanitatum, 5-6.</ref>

Wenn also Kindheit und Jugend die Periode sind, in der sich die Persönlichkeit des Menschen herausbildet, in der er auf die Zukunft hin lebt und, während er sich der eigenen Möglichkeiten bewusst wird, Pläne für das Erwachsenenalter schmiedet, hat auch das Alter sein Gutes. Denn während es — wie der hl. Hieronymus bemerkt — das heftige Aufwallen der Leidenschaften dämpft, ”erhöht es die Weisheit und erteilt reiferen Rat“.<ref>”Auget sapientiam, dat maturiora consilia“, Commentaria in Amos, 2, prol.</ref> Das Alter ist gleichsam die Hoch-Zeit jener Weisheit, die im allgemeinen Frucht der Erfahrung ist, weil ”die Zeit eine große Lehrmeisterin ist“.<ref>CORNEILLE, Sertorius, a. II, sc. 4, b. 717.</ref> Das Gebet des Psalmisten ist ja bekannt: ”Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz“ (Ps 90, 12).

Die alten Menschen in der Heiligen Schrift

6. ”Die Jugend und das dunkle Haar sind Windhauch“, stellt Kohelet fest (11, 10). Die Bibel unterlässt es nicht, bisweilen mit unverblümtem Realismus auf die Hinfälligkeit des Lebens und auf die unerbittlich enteilende Zeit hinzuweisen: ”Windhauch, Windhauch [...], Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch“ (Koh 1, 2): Wer kennt nicht die strenge Mahnung des antiken Weisen? Besonders wir verstehen sie wir alten Menschen, durch Erfahrung belehrt. Trotz dieses nüchternen Realismus bewahrt die Schrift eine sehr positive Sicht vom Wert des Lebens. Der Mensch bleibt immer nach dem ”Bild Gottes“ geschaffen (vgl. Gen 1, 26), und jedes Lebensalter hat seine eigene Schönheit und seine Aufgaben. Gerade das fortgeschrittene Alter findet im Worte große Beachtung, die so weit geht, dass langes Leben als Zeichen göttlichen Wohlwollens gesehen wird (vgl. Gen 11, 10-32). Mit Abraham, an dessen Gestalt das Privileg der Betagtheit besonders hervorsticht, nimmt dieses Wohlwollen die Züge einer Verheißung an: ”Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ (Gen 12, 2-3). An seiner Seite ist Sara, die Frau, die sieht, wie ihr Körper zwar altert, doch die an ihrem bereits verwelkten Leib die Kraft Gottes als Ausgleich der menschlichen Unzulänglichkeit erlebt.

Mose ist schon ein betagter Mann, als Gott ihm den Auftrag erteilt, das auserwählte Volk aus Ägypten herauszuführen. Die großen Taten, die er im Auftrag des Herrn für Israel vollbringt, fallen nicht in seine Jugendjahre, sondern in die Zeit seines Alters. Unter den weiteren Beispielen alter Menschen in der Bibel möchte ich Tobit nennen, der sich mit Bescheidenheit und Mut anstrengt, Gottes Gesetz zu erfüllen, den Armen zu helfen und seine Blindheit geduldig zu ertragen, bis er das entschlossene Eingreifen des Engels Gottes erfuhr (vgl. Tob 1-2). Auch möchte ich noch Eleasar erwähnen, dessen Martyrium ein Zeugnis einzigartiger Hochherzigkeit und Tapferkeit ist (vgl. 2 Makk 6, 18-31).

7. Das Neue Testament, das vom Licht Christi durchdrungen ist, führt uns ebenfalls bemerkenswerte hochbetagte Gestalten vor Augen. Das Lukasevangelium beginnt mit der Vorstellung eines Ehepaares ”in vorgerücktem Alter“ (1, 7): Elisabet und Zacharias, die Eltern Johannes des Täufers. Ihnen wendet sich der Herr in seiner Barmherzigkeit zu (vgl. Lk 1, 5-25.39-79): dem alten Zacharias wird die Geburt eines Sohnes angekündigt. Er selbst verschweigt es nicht: ”Ich bin ein alter Mann, und auch meine Frau ist in vorgerücktem Alter“ (Lk 1, 18). Während Marias Besuch ruft ihre betagte Verwandte Elisabet, erfüllt vom Heiligen Geist: ”Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes“ (Lk 1, 42); und bei der Geburt Johannes des Täufers stimmt Zacharias den Hymnus des Benedictus an. Ein wunderbares Ehepaar in vorgerücktem Alter, tief erfüllt vom Geist des Gebets!

Als Maria und Josef Jesus in den Tempel bringen, um ihn, den Erstgeborenen, nach dem Gesetz dem Herrn zu weihen, begegnen sie dort dem alten Simeon, der schon lange auf den Messias gewartet hat. Er nimmt das Kind in seine Arme und preist Gott mit den Worten Nunc dimittis...: ”Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden“ (Lk 2, 29). An seiner Seite treffen wir Anna, eine Witwe von vierundachtzig Jahren. Sie hielt sich ständig im Tempel auf und hatte bei dieser Gelegenheit die Freude, Jesus zu schauen. Der Evangelist merkt an: Anna ”pries Gott und sprach über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten“ (Lk 2, 38).

Ein alter Mann ist auch Nikodemus, ein führendes Mitglied des Hohen Rates. Er suchte Jesus bei Nacht auf, um von keinem gesehen zu werden. Ihm offenbart der göttliche Meister, dass er der Sohn Gottes und gekommen sei, die Welt zu retten (vgl. Joh 3, 1-21). Wir werden Nikodemus bei der Bestattung Christi wieder begegnen: er bringt eine Mischung aus Myrrhe und Aloe mit, überwindet die Angst und gibt sich als Jünger des Gekreuzigten aus (vgl. Joh 19, 38-40). Wie trostvoll sind diese Zeugnisse! Sie erinnern uns daran, dass der Herr Menschen jeden Alters bittet, ihre Talente einzubringen. Der Dienst am Evangelium ist keine Frage des Alters!

Und was soll man vom alt gewordenen Petrus sagen, der dazu berufen wurde, seinen Glauben durch das Martyrium zu bezeugen? Zu ihm hatte Jesus eines Tages gesagt: ”Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst“ (Joh 21, 18). Das sind Worte, die mich als Nachfolger Petri unmittelbar berühren. Sie lassen in mir das starke Bedürfnis aufkommen, meine Hände den Händen Christi entgegenzustrecken und seinem Gebot zu gehorchen: ”Folge mir nach!“ (Joh 21, 19).

8. Der 92. Psalm fasst die glänzenden Zeugnisse alter Menschen, die wir in der Bibel finden, gleichsam zusammen: ”Der Gerechte gedeiht wie die Palme, er wächst wie die Zedern des Libanon; ... Sie tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und Frische; sie verkünden: Gerecht ist der Herr“ (13.15-16). Der Apostel Paulus stimmt dem Psalmisten zu, wenn er im Brief an Titus schreibt: ”Die älteren Männer sollen nüchtern sein, achtbar, besonnen, stark im Glauben, in der Liebe, in der Ausdauer. Ebenso seien die älteren Frauen würdevoll in ihrem Verhalten...; sie müssen fähig sein, das Gute zu lehren, damit sie die jungen Frauen dazu anhalten können, ihre Männer und Kinder zu lieben“ (2, 2-5).

Im Licht dessen, was die Bibel lehrt, und in der Wahl der Worte, die sie auszeichnet, stellt sich somit das Alter als ”günstige Zeit“ vor, um das Abenteuer des Menschen zu vollenden. Das Alter gehört in den Plan, den Gott mit jedem Menschen hat. Es ist der Zeitraum, in dem alles zusammenläuft, damit der Mensch den Sinn des Lebens besser erfassen und zur ”Weisheit des Herzens“ gelangen kann. ”Ehrenvolles Alter besteht — wie das Buch der Weisheit darlegt — nicht in einem langen Leben und wird nicht an der Zahl der Jahre gemessen. Mehr als graues Haar bedeutet für die Menschen die Klugheit, und mehr als Greisenalter wiegt ein Leben ohne Tadel“ (4, 8-9). Das Alter stellt die entscheidende Etappe der menschlichen Reife dar und ist Ausdruck des göttlichen Segens.

Hüter eines kollektiven Gedächtnisses

9. In der Vergangenheit hegte man große Achtung vor den alten Menschen. Der lateinische Dichter Ovid schrieb in diesem Zusammenhang: ”Groß war einst die Hochachtung vor einem weißhaarigen Haupt“.<ref>”Magna fuit quondam capitis reverentia cani“, Fasti, lib. V, v. 57.</ref> Einige Jahrhunderte früher mahnte der griechische Dichter Phokylides: ”Achte die weißen Haare: Erweise dem weisen Alten dieselbe Ehrerbietung, die du deinem Vater entgegenbringst“.<ref>Lehrsprüche, XLII.</ref>

Und heute? Wenn wir die gegenwärtige Situation genauer anschauen, dann stellen wir fest, dass bei einigen Völkern das Alter geachtet wird und in hohem Wert steht; bei anderen hingegen ist das wegen einer Geisteshaltung, die unmittelbare Nützlichkeit und Produktivität des Menschen an den ersten Platz stellt, weit weniger der Fall. Auf Grund dieser Haltung wird das sogenannte dritte oder vierte Lebensalter oft abgewertet, und die alten Menschen selbst müssen sich fragen, ob ihr Dasein noch zu etwas nütze sei.

Man geht sogar soweit, mit zunehmender Eindringlichkeit die Euthanasie als Lösung für schwierige Situationen vorzuschlagen. Der Begriff Euthanasie hat leider in diesen Jahren für viele Menschen jenes Merkmal des Schreckens verloren, das er natürlich bei denen wachruft, die für die Achtung vor dem Leben empfänglich sind. Sicher kann es vorkommen, dass in Fällen schwerer Krankheiten, die mit unerträglichen Leiden einhergehen, die davon heimgesuchten Menschen versucht sind, ganz aufzugeben. Dann kann es geschehen, dass ihre Angehörigen oder Pfleger sich von einem mißverstandenen Mitleid dazu veranlaßt fühlen, den ”sanften Tod“ für eine vernünftige Lösung zu halten. In diesem Zusammenhang muss man daran erinnern, dass das Sittengesetz den Verzicht auf sogenannten ”therapeutischen Übereifer“<ref>3 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, 65.</ref> billigt und nur jene Behandlungen verlangt, die zu den normalen Erfordernissen ärztlicher Betreuung gehören. Aber die Euthanasie als direkte Herbeiführung des Todes ist etwas ganz anderes! Sie bleibt ungeachtet der Absichten und Umstände eine in sich schlechte Handlung, eine Verletzung des göttlichen Gesetzes, eine Beleidigung der Würde der menschlichen Person.<ref>Vgl. ebd.</ref>

10. Man muss dringend die richtige Perspektive wiedergewinnen, aus der das Leben in seiner Ganzheit gesehen wird. Und diese richtige Perspektive ist die Ewigkeit, deren maßgebende Vorbereitung das Leben in jeder seiner Phasen ist. Auch dem Alter kommt in diesem fortschreitenden Reifungsprozess des Menschen auf dem Weg zur Ewigkeit seine Rolle zu. Aus dieser Reifung soll eben auch die soziale Gruppe, zu welcher der alte Mensch gehört, Nutzen ziehen können.

Menschen im vorgerückten Alter helfen uns, mit mehr Weisheit auf die irdischen Angelegenheiten zu schauen, weil sie durch die Wechselfälle des Lebens erfahren und reif geworden sind. Sie sind Hüter des kollektiven Gedächtnisses und daher bevorzugte Interpreten jener Gesamtheit von gemeinsamen Idealen und Werten, die das Zusammenleben in der Gesellschaft tragen und leiten. Wollte man die alten Menschen ausschließen, würde der Anschein erweckt, als sollte im Namen einer gedächtnislosen Modernität die Vergangenheit, in die sich die Wurzeln der Gegenwart einsenken, abgelehnt werden. Dank ihrer reifen Erfahrung sind die Senioren dazu imstande, den Jungen wertvolle Ratschläge und Lehren zu erteilen.

Die Seiten menschlicher Gebrechlichkeit, die am sichtbarsten mit dem Alter zusammenhängen, werden in diesem Licht zu einem Hinweis auf die gegenseitige Abhängigkeit und notwendige Solidarität, die die Generationen miteinander verbinden. Denn jeder Mensch braucht den anderen und wird durch die Gaben und Charismen aller bereichert. Treffend klingen in diesem Zusammenhang die Überlegungen eines Dichters, der mir viel bedeutet. Er schreibt: ”Ewig ist nicht allein die Zukunft, nicht sie allein!... Ja, auch die Vergangenheit ist das Zeitalter der Ewigkeit: Alles bereits Geschehene wird einst nicht so zurückkehren, wie es früher war... Es wird als Idee zurückkehren, es wird nicht als es selbst zurückkehren“.<ref>C. NORWID, Nie tylko przyszlosc..., Post scriptum, I, vv. 1-4.</ref>

”Ehre deinen Vater und deine Mutter“

11. Warum also sollen wir nicht weiterhin dem alten Menschen jenen Respekt zollen, auf den die gesunden Traditionen vieler Kulturen auf jedem Erdteil Wert gelegt haben? Für die Völker der Region, die der biblische Einfluß erreichte, wurde immer der Bezug zum Gebot des Dekalogs hergestellt: ”Ehre deinen Vater und deine Mutter“; eine Pflicht übrigens, die allgemein anerkannt wird. Der vollen, konsequenten Anwendung dieses Gebotes entsprang nicht nur die Liebe der Kinder zu ihren Eltern; es wurde auch das starke Band hervorgehoben, das zwischen den Generationen besteht. Wo das Gebot angenommen und treu befolgt wird, wissen die alten Menschen, dass sie nicht Gefahr laufen, als nutzlose, im Weg stehende Last angesehen zu werden.

Das Gebot lehrt noch etwas: Denen, die uns vorausgegangen sind, gebührt Achtung für all das Gute, das sie getan haben, ”Vater und Mutter“ deuten auf die Vergangenheit hin, auf die Verbindung zwischen den Generationen, die Voraussetzung, die überhaupt die Existenz eines Volkes erst ermöglicht. Nach den zwei in der Bibel vorgelegten Fassungen (vgl. Ex 20, 2-17; Dtn 5, 6-21) nimmt dieses göttliche Gebot auf der zweiten Tafel, auf der die Pflichten des Menschen gegenüber sich selbst und gegenüber der Gesellschaft entfaltet sind, den ersten Platz ein. Es ist ferner das einzige Gebot, mit dem eine Verheibung verbunden ist: ”Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt“ (Ex 20, 12; vgl. Dtn 5, 16).

12. ”Du sollst vor grauem Haar aufstehen, das Ansehen eines Greises ehren“ (Lev 19, 32). Den alten Menschen Ehre entgegenzubringen, das umfasst eine dreifache Verpflichtung ihnen gegenüber: Annahme, Beistand und Wertschätzung ihrer Eigenschaften. In vielen Kreisen geschieht das fast selbstverständlich, wie aus alter Gewohnheit. Anderswo, besonders in den wirtschaftlich wohlhabenderen Nationen, muss die Richtung geändert werden, damit die Menschen in vorgerückten Jahren mit Würde alt werden können, ohne befürchten zu müssen, schließlich nichts mehr zu zählen. Es gilt, sich davon zu überzeugen, dass Achtung und Liebe gegenüber den alten Menschen, die sich trotz des Schwindens ihrer Kräfte als lebendiger Teil der Gesellschaft fühlen sollen, zu einer wirklich menschlichen Zivilisation gehört. Schon Cicero schrieb, dass ”die Last des Alters für den leichter ist, der sich von den Jungen geachtet und geliebt fühlt“.<ref> ”Levior fit senectus, eorum qui a iuventute coluntur et diliguntur“, Cato maior, seu De senectute, 8, 26.</ref>

Im übrigen bleibt der menschliche Geist, obgleich er am Alterungsprozess des Körpers teilhat, in einem gewissen Sinn immer jung; er muss nur dem Ewigen zugewandt leben. Dieses immerwährende Jungsein macht er dann zu einer lebendigeren Erfahrung, wenn sich mit dem inneren Zeugnis des guten Gewissens die zuvorkommende, dankbare Zuneigung lieber Menschen verbindet. Der Mensch wird also, wie der hl. Gregor von Nazianz schreibt, ”geistig nicht altern; er wird den Abbau als den Zeitpunkt annehmen, der durch die notwendige Freiheit festgelegt wurde. Sanft wird er ins Jenseits hinübergehen, wo keiner unreif oder alt ist, sondern sich alle in der Vollkommenheit des geistigen Alters befinden“.<ref>Rede nach der Rückkehr vom Land, 11.</ref>

Wir alle kennen eindrucksvolle Beispiele alter Menschen mit erstaunlicher Jugendlichkeit und Geisteskraft. Für den, der auf sie zugeht, sind sie durch ihre Worte ein Ansporn und mit ihrem Beispiel ein Trost. Möge die Gesellschaft die alten Menschen, die in manchen Regionen der Welt — ich denke da besonders an Afrika — zu Recht als ”lebende Bibliotheken“ der Weisheit, als Hüter eines unschätzbaren Erbes menschlicher und geistiger Zeugnisse hochgeschätzt werden, voll zur Geltung kommen lassen. Es trifft zwar zu, dass sie in physischer Hinsicht im allgemeinen auf Hilfe angewiesen sind, doch ebenso wahr ist, dass sie in ihrem vorgerückten Alter den Schritten der jungen Menschen Rückhalt bieten können, die in den Horizont des Lebens hinaustreten, um dessen Wege zu erkunden.

Während ich von den alten Menschen spreche, kann ich nicht umhin, mich auch an die Jungen zu wenden. Ich lade sie ein, den Alten beizustehen. Ich fordere euch, liebe junge Leute, auf, dies mit Liebe und Hochherzigkeit zu tun. Die alten Menschen vermögen euch viel mehr zu geben, als Ihr euch überhaupt vorstellen könnt. Das Buch Jesus Sirach spricht in diesem Zusammenhang die Mahnung aus: ”Verachte nicht die Überlieferung der Alten, die sie übernommen haben von ihren Vätern“ (8, 9); ”Verweile gern im Kreis der Alten, wer weise ist, dem schließ dich an!“ (6, 34); denn den Hochbetagten ”steht Weisheit gut an“ (25, 5). 13. Die christliche Gemeinschaft kann von der Gelassenheit, mit der die älteren Menschen ihr Leben gestalten, viel empfangen. Ich denke vor allem an die Evangelisierung. Ihre Wirksamkeit hängt nicht in erster Linie von der Arbeitsleistung ab. In wievielen Familien empfangen die Enkel von den Großeltern die ersten Grundlagen des Glaubens! Aber es gibt noch viele andere Bereiche, wo sich der Beitrag alter Menschen wohltuend auswirken kann. Der Geist handelt, wie und wo er will. Dazu bedient er sich nicht selten menschlicher Wege, die in den Augen der Welt wenig zu zählen scheinen. Wieviele Menschen finden Verständnis und Trost bei alten, einsamen oder kranken Personen, die aber fähig sind, durch liebevollen Rat, durch das stille Gebet und durch das Zeugnis des mit geduldiger Ergebung angenommenen Leidens Mut zuzusprechen! Gerade während die Kräfte schwinden und die Leistungsfähigkeit nachlässt, werden diese unsere Brüder und Schwestern um so wertvoller im geheimnisvollen Plan der Vorsehung. Auch unter dieser Hinsicht und nicht nur wegen eines offensichtlichen psychologischen Bedürfnisses des alten Menschen selbst ist der natürlichste Ort, um den Zustand des Altseins zu leben, die Umgebung, in der er ”zu Hause“ ist, also unter Verwandten, Bekannten und Freunden, und wo er noch einige Dienste leisten kann. Während durch das Ansteigen des durchschnittlichen Lebensalters die Gruppe der alten Menschen wächst, wird es immer dringender, eine Kultur zu fördern, in der das Alter angenommen und geschätzt, nicht aber an den Rand der Gesellschaft verbannt ist. Das Ideal bleibt der Aufenthalt des alten Menschen in der Familie, zugleich mit der Gewährleistung wirksamer sozialer Hilfen für die wachsenden Bedürfnisse, die Alter oder Krankheit mit sich bringen. Es gibt allerdings Situationen, wo die Umstände selbst die Unterbringung in einem ”Altenheim“ anraten oder unumgänglich machen, damit der Betagte sich der Gesellschaft mit anderen Personen erfreuen und eine fachgerechte Betreuung in Anspruch nehmen kann. Solche Häuser sind daher lobenswerte Einrichtungen, und die Erfahrung sagt, dass sie in dem Maße, in dem sie sich nicht nur an den Kriterien der organisatorischen Effizienz, sondern auch der liebevollen Sorge inspirieren, einen wertvollen Dienst leisten können. In diesem Sinn ist alles leichter, wenn seitens der Angehörigen, Freunde und Pfarrgemeinden eine Beziehung zu den einzelnen Heimbewohnern besteht, die diesen hilft, sich als geliebte und für die Gesellschaft noch nützliche Menschen zu fühlen. Und wie sollte man hier nicht voll Bewunderung und Dankbarkeit an die Ordenskongregationen und an die Gruppen Freiwilliger denken, die sich mit besonderer Sorge gerade der Betreuung der alten Menschen widmen - vor allem der ärmsten unter ihnen, die verlassen sind oder sich in Schwierigkeiten befinden?

Ich bin euch, meine lieben betagten Brüder und Schwestern, die ihr euch aus gesundheitlichen oder warum auch immer in einer schwierigen Lage befindet, voll Zuneigung nahe. Wenn Gott unser Leiden, das durch Krankheit, Einsamkeit oder anderen Gründen, die mit dem vorgerückten Alter verbunden sind, zulässt, schenkt er uns immer die Gnade und die Kraft, dass wir uns mit noch mehr Liebe mit dem Opfer seines Sohnes vereinen und noch intensiver an seinem Heilsplan teilnehmen. Sind wir davon überzeugt: Er ist unser Vater, ein Vater reich an Liebe und Barmherzigkeit!

In besonderer Weise denke ich an euch, verwitwete Männer und Frauen, die ihr die letzte Wegstrecke eures Lebens allein gehen müsst; an euch, betagte Ordensmänner und Ordensfrauen, die ihr lange Jahre hindurch treu der Sache des Himmelreiches gedient habt; an euch, liebe Brüder im Priester- und Bischofsamt, die ihr wegen Erreichung der Altersgrenze die direkte Verantwortung des Hirtenamtes abgegeben habt. Die Kirche braucht euch noch. Sie weiß die Dienste zu schätzen, die ihr euch in verschiedenen Bereichen des Apostolats noch zutraut, sie zählt auf euren Beitrag, den ihr durch ausgedehntes Gebet leisten könnt, sie erwartet euren erfahrenen Rat und sie wird bereichert durch das Zeugnis des Evangeliums, das ihr Tag für Tag ablegt.

”Du zeigst mir den Pfad zum Leben. Vor deinem Angesicht herrscht Freude in Fülle“ (Ps 16, 11)

14. Es ist nur natürlich, dass einem mit zunehmenden Jahren der Gedanke an den ”Lebensabend“ vertraut wird. Wenn nichts anderes, so erinnert uns daran die Tatsache, dass sich die Reihen unserer Angehörigen, Freunde und Bekannten zu lichten beginnen. Wir werden uns dessen bei verschiedenen Gelegenheiten bewusst, zum Beispiel bei Familien- und Klassentreffen, bei Zusammenkünften mit unseren Freunden aus Kindheitstagen, mit unseren Studienkollegen und mit unseren Kameraden beim Militär, mit unseren Kurskollegen im Seminar ... Die Grenze zwischen Leben und Tod verläuft quer durch unsere Gemeinschaften und rückt für einen jeden von uns unerbittlich näher. Wenn das Leben eine Pilgerschaft zur himmlischen Heimat ist, so ist das Alter die Zeit, wo man selbstverständlicher auf die Schwelle der Ewigkeit schaut.

Trotzdem haben auch wir Alten Mühe damit, uns mit der Aussicht auf diesen Übergang abzufinden. Er stellt nämlich in dem von der Sünde gezeichneten menschlichen Dasein eine dunkle Dimension dar, die uns notgedrungen traurig macht und Angst bereitet. Wie könnte es auch anders sein? Der Mensch ist für das Leben erschaffen, während der Tod — wie uns die Schrift schon auf den ersten Seiten erklärt (vgl. Gen 2-3) — nicht im ursprünglichen Plan Gottes lag, sondern eine Folge der Sünde ist, der Frucht aus dem ”Neid des Teufels“ (Weish 2, 24). Man versteht also, warum sich der Mensch gegen diese finstere Wirklichkeit wehrt und auflehnt. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass Jesus, ”der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat“ (Hebr 4, 15), selber Angst vor dem Tod hatte: ”Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber...“ (Mt 26, 39). Und wie könnte man die Tränen vergessen, die er am Grab seines Freundes Lazarus vergoß, obwohl er sich anschickte, ihn ins Leben zurückzuholen (vgl. Joh 11, 35)?

So sehr auch der Tod in biologischer Hinsicht rational verständlich ist, so bleibt es doch unmöglich, ihn mit ”Natürlichkeit“ zu leben. Er steht im Widerspruch zum tiefsten Instinkt des Menschen. Die Aussage des Konzils dazu lautet: ”Angesichts des Todes wird das Rätsel des menschlichen Daseins am größten. Der Mensch erfährt nicht nur den Schmerz und den fortschreitenden Abbau des Leibes, sondern auch, ja noch mehr die Furcht vor immerwährendem Verlöschen“.<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 18.</ref> Sicher bliebe der Schmerz untröstlich, wenn der Tod die vollständige Zerstörung, das Ende von allem wäre. Der Tod zwingt daher den Menschen, sich die radikalen Fragen nach dem eigentlichen Sinn des Lebens zu stellen: Was gibt es jenseits der Mauer, die der Schatten des Todes aufgerichtet hat? Markiert der Tod das definitive Ende des Lebens oder gibt es etwas, das über ihn hinausreicht?

15. Von den ältesten Zeiten bis herauf in unsere Tage fehlt es in der Kultur der Menschheit nicht an oberflächlichen Antworten, die das Leben auf unser Leben hier auf Erden einschränken. Im Alten Testament lässt uns eine Stelle im Buch Kohelet an das Alter denken, als ob es ein im Abbruch befindliches Gebäude wäre. Der Tod wäre dann dessen vollständige und endgültige Zerstörung (vgl. 12, 1-7). Aber gerade im Licht dieser pessimistischen Antworten gewinnt die hoffnungsvolle Aussicht, die von der Offenbarung insgesamt und besonders vom Evangelium ausgeht, größte Bedeutung: ”Gott ist kein Gott von Toten, sondern von Lebenden“ (Lk 20, 38). Der Apostel Paulus bezeugt, dass der Gott, der die Toten lebendig macht (vgl. Röm 4, 17), auch unseren sterblichen Leib lebendig machen wird (vgl. ebd., 8, 11). Und Jesus sagt von sich selbst: ”Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben“ (Joh 11, 25-26).

Nachdem Christus die Grenze des Todes überschritten hatte, offenbarte er das Leben, das es jenseits dieser Grenze in jenem vom Menschen unerforschten ”Gebiet“ gibt, das Ewigkeit heißt. Jesus Christus ist der erste Zeuge des unsterblichen Lebens; in ihm offenbart sich in Fülle des Menschen Hoffnung auf Unsterblichkeit. ”Bedrückt uns auch das Los des sicheren Todes, so tröstet uns doch die Verheißung der künftigen Unsterblichkeit“.<ref>Römisches Messbuch, I. Präfation von den Verstorbenen.</ref> Auf diese Worte, die den Gläubigen die Liturgie als Trost in der Stunde des Abschieds von einem geliebten Menschen anbietet, folgt eine hoffnungsvolle Ankündigung: ”Denn deinen Gläubigen, o Herr, wird das Leben gewandelt, nicht genommen. Und wenn die Herberge der irdischen Pilgerschaft zerfällt, ist uns im Himmel eine ewige Wohnung bereitet“.<ref>Ebd.</ref> In Christus wird der Tod als dramatische und bestürzende Realität freigekauft und gewandelt, um das Gesicht eines ”Bruders“ anzunehmen, der uns in die Arme des Vaters führt.<ref>Vgl. HL. Franz von Assisi, Sonnengesang.</ref>

16. Der Glaube erleuchtet so das Geheimnis des Todes und flößt dem Alter Gelassenheit ein: Es wird nicht mehr als passives Warten auf ein zerstörerisches Ereignis, sondern als verheißungsvolle Annäherung an das Ziel der vollen Reife angesehen und erfahren. Es sind Jahre, die mit dem Gefühl gelebt werden sollen, dass man sich vertrauensvoll den Händen Gottes, des umsichtigen und barmherzigen Vaters, überlässt; eine Zeit, die für eine Vertiefung des geistlichen Lebens durch Intensivierung des Gebets und Verpflichtung zur liebevollen Hingabe an die Brüder kreativ genutzt werden soll.

Daher verdienen alle sozialen Initiativen Lob, die es den alten Menschen ermöglichen, sich sowohl körperlich, intellektuell und im Beziehungsleben weiterzubilden als auch sich dadurch nützlich zu machen, dass sie ihre eigene Zeit, ihre Fähigkeiten und ihre Erfahrung den anderen anbieten. Auf diese Weise erhält und steigert man die Lebensfreude, die ein grundlegendes Gottesgeschenk ist. Andererseits steht zu dieser Lebensfreude jenes Verlangen nach der Ewigkeit nicht in Widerspruch, das in allen heranreift, die eine tiefe geistliche Erfahrung machen. Das bezeugt das Leben der Heiligen.

Diesbezüglich erinnert uns das Evangelium an die Worte des alten Simeon, der erklärt, zum Sterben bereit zu sein, nachdem er den erwarteten Messias in seine Arme schließen konnte: ”Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen“ (Lk 2, 29-30). Der Apostel Paulus fühlte sich gleichsam hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch weiterzuleben, um das Evangelium zu verkünden, und der Sehnsucht danach, ”aufzubrechen und bei Christus zu sein“ (Phil 1, 23). Der hl. Ignatius von Antiochia bezeugte, während er voll Freude das Martyrium erlitt, im Herzen die Stimme des Heiligen Geistes zu hören. Sie glich lebendigem ”Wasser“, das in seinem Inneren entsprang und ihm die Einladung zuflüsterte: ”Komm zum Vater“.<ref>{{#ifeq: Vorlage:Röm (Bibel) | Brief vom 1. Oktober 1999 an die alten Menschen |{{#if: Röm|Röm|Vorlage:Röm (Bibel)}}|{{#if: Röm |[[Vorlage:Röm (Bibel)|Röm]]|[[Vorlage:Röm (Bibel)]]}}}} 7{{#if:2|,2}} EU | BHS =bibelwissenschaft.de">EU | #default =bibleserver.com">EU }}: PG 5, 693.</ref> Die Beispiele ließen sich weiterführen. Sie werfen keinerlei Schatten auf den Wert des irdischen Lebens, das trotz Einschränkungen und Leiden schön ist und bis zum Ende gelebt werden muss. Sie erinnern uns jedoch daran, dass dieses Leben nicht der letzte Wert ist, dass also nach christlicher Auffassung der Lebensabend die Konturen eines ”Überganges“ annimmt, einer von einem Leben zum anderen geschlagenen Brücke zwischen der zerbrechlichen und unsicheren Freude dieser Erde und der vollkommenen Freude, die der Herr seinen treuen Dienern bereitet: ”Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!“ (Mt 25, 21).

Ein Glückwunsch zum Leben

17. Während ich euch, meine lieben betagten Brüder und Schwestern, in diesem Geist wünsche, mit ruhiger Gelassenheit die Jahre zu leben, die der Herr für einen jeden bereitet hat, spüre ich das spontane Verlangen, euch bis zum Letzten an den Gefühlen teilhaben zu lassen, die mich am Ende meines Lebens, nach mehr als zwanzig Jahren des Dienstes auf dem Stuhl Petri und in Erwartung des vor der Tür stehenden dritten Jahrtausends bewegen. Trotz der Einschränkungen, die mit dem Alter verbunden sind, bewahre ich mir die Lebensfreude. Dafür danke ich dem Herrn. Es ist schön, sich bis zum Ende für die Sache des Reiches Gottes zu verzehren.

Gleichzeitig empfinde ich einen großen Frieden, wenn ich an den Augenblick denke, in dem der Herr mich zu sich rufen wird: vom Leben ins Leben! Darum kommt mir häufig, ohne jeden Anflug von Traurigkeit, ein Gebet auf die Lippen, das der Priester nach der Eucharistiefeier spricht: In hora mortis meae voca me, et iube me venire ad te — in der Stunde des Todes rufe mich und laß mich zu dir kommen. Das ist das Gebet der christlichen Hoffnung, das der Freude über die gegenwärtige Stunde keinen Abbruch tut, während es die Zukunft dem Schutz der göttlichen Güte anheimstellt.

18. ”Iube me venire ad te!“: Das ist die tiefste Sehnsucht des menschlichen Herzens, auch bei denen, die sich dessen nicht bewusst sind.

Gib, o Herr des Lebens, dass wir uns dessen klar bewusst werden und jeden Abschnitt unseres Lebens als Geschenk auskosten, das voll weiterer Verheißungen ist.

Lass deinen Willen mit Liebe an uns geschehen, indem du uns jeden Tag in deine barmherzigen Arme nimmst.

Wenn der Augenblick des endgültigen ”Übergangs“ gekommen ist, laß uns ihn mit heiterem Herzen antreten, ohne dem nachzutrauern, was wir zurücklassen. Denn wenn wir nach langer Suche dir begegnen, werden wir jeden echten Wert wiederfinden, den wir hier auf Erden erfahren haben. Auch werden wir all jene wiedertreffen, die uns vorausgegangen sind im Zeichen des Glaubens und der Hoffnung.

Und du, Maria, Mutter der pilgernden Menschheit, bitte für uns ”jetzt und in der Stunde unseres Todes“. Drücke uns immer fest an Jesus, deinen geliebten Sohn und unseren Bruder, den Herrn des Lebens und der Herrlichkeit. Amen!

Aus dem Vatikan, am 1. Oktober 1999.

Anmerkungen

<references />

Weblinks