Orientierung zur Erziehung in der menschlichen Liebe (Wortlaut)

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Schreiben
Orientierung zur Erziehung in der menschlichen Liebe

Kongregation für das katholische Bildungswesen
unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
1. November 1983
Hinweise zur geschlechtlichen Erziehung

(Offizieller lateinischer Text: Enchiridion Vaticanum 9, 420-456)

(Quelle: Deutsche Fassung auf der Vatikanseite; Auch: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 51)

Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


EINLEITUNG

Verwirklichung der Weisungen des Konzils

1. Die harmonische Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit lässt die Gottebenbildlichkeit des Menschen immer deutlicher aufscheinen. «Die wahre Erziehung erstrebt die Bildung der menschlichen Person in Hinordnung auf ihr letztes Ziel».<ref>2. Vat. Konzil: Erklärung über die christliche Erziehung, Gravissimum educationis, Nr. 1.</ref> Im Zusammenhang mit der christlichen Erziehung spricht das 2. Vatikanische Konzil von der Notwendigkeit, die Kinder und Jugendlichen «durch eine positive und kluge Geschlechtserziehung zu unterweisen».<ref>Ebd.</ref>

Die Kongregation für das katholische Bildungswesen hält es für ihre Pflicht, im Rahmen ihrer Zuständigkeit ihren Beitrag für die Verwirklichung der Konzilserklärung zu leisten, wie ihn einige Bischofskonferenzen für ihr Gebiet bereits geleistet haben.


Thema des Dokumentes

2. Dieses Dokument entstand mit Hilfe von Fachleuten in Erziehungsfragen und wurde vielen zur Begutachtung vorgelegt. Sein Ziel ist, die pädagogische Seite der geschlechtlichen Erziehung zu beleuchten und geeignete Hinweise für die ganzheitliche Formung des Christen, je nach seiner Berufung, zu geben.

Überall sind die jeweils zutreffenden Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre vorausgesetzt, auch wenn sie nicht jedesmal ausdrücklich genannt werden.


Anpassung an die verschiedenen Länder

3. Die Kongregation für das katholische Bildungswesen ist sich der kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern bewusst. Darum bedürfen diese Hinweise der Anpassung an die pastoralen Erfordernisse der Ortskirche durch die Bischofskonferenzen.


DIE BEDEUTUNG DER GESCHLECHTLICHKEIT

Wichtige Rolle der Geschlechtlichkeit in der Erziehung 

4. Die Geschlechtlichkeit ist eine grundlegende Komponente der Persönlichkeit; sie ist eine ihrer Weisen zu sein, sich kundzutun, in Beziehung zu anderen zu treten, menschliche Liebe zu empfinden, auszudrücken und zu leben. Sie gehört zur Entfaltung der Persönlichkeit und ihrem Reifungsweg in der Erziehung: «Aus dem Geschlecht nämlich ergeben sich die besonderen Merkmale, die die menschliche Person im biologischen, psychologischen und geistigen Bereich als Mann und Frau bestimmen. Diese haben somit einen sehr großen Einfluss auf ihren Reifungsprozeß und ihre Einordnung in die Gesellschaft».<ref>Kongregation für die Glaubenslehre: Erklärung über einige Fragen der Sexualethik, Persona humana, 29. Dezember 1975, AAS 68 (1976), S. 77, Nr. 1.</ref>

Die Geschlechtlichkeit kennzeichnet Mann und Frau nicht nur im Biologischen, sondern auch im Psychologischen und Geistigen und prägt sie in jedem Vollzug ihres Lebens. Diese Verschiedenheit zusammen mit der gegenseitigen Ergänzung der beiden Geschlechter entspricht voll und ganz dem Plan Gottes je nach der Berufung eines jeden.


Geschlechtlichkeit und geschlechtliche Vereiningung

5. Die geschlechtliche Vereinigung, hingeordnet auf die Weitergabe des Lebens, ist auf der Ebene des Leiblichen der höchste Ausdruck der Einheit in der Liebe zwischen den Ehegatten. Herausgerissen aus diesem Zusammenhang gegenseitigen Schenkens, welches für den Christen durch die Gnade Gottes besonders getragen und bereichert ist, verliert diese Vereinigung ihren Sinn, verfällt der Ichsucht des einzelnen und stellt eine sittliche Unordnung dar.<ref>Vgl. Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 22. November 1981, AAS 74. (1982), S. 128, Nr. 37 ; vgl. auch unten Nr. 16.</ref>


Ausrichtung der Geschlechtlichkeit an der Liebe

6. Die Geschlechtlichkeit, welche Ausrichtung, Überhöhung und Ergänzung von der Liebe erfährt, wird zu etwas wahrhaft Menschlichem. Im Rahmen der biologischen und psychologischen Entwicklung kommt sie zu harmonischem Wachstum und erfüllter Verwirklichung nur bei allmählicher Erlangung der affektiven Reife, deren Ausweis selbstlose Liebe und Hingabe ohne jeden Vorbehalt ist.


DIE GEGENWÄRTIGE LAGE

Gefahr der Orientierungslosigkeit 

7. Im Denken über die geschlechtliche Erziehung lassen sich heute, auch unter Christen, beachtliche Unterschiede feststellen. In der gegenwärtigen Orientierungslosigkeit auf sittlichem Gebiet besteht sowohl die Gefahr eines schädlichen Konformismus wie auch von Vorurteilen, welche das innerste Wesen des Menschen, das aus der Hand des Schöpfers unversehrt hervorging, verkennen.


Notwendigkeit der geschlechtlichen Erziehung 

8. Als Antwort auf diese Lage wird von verschiedenen Seiten eine geeignete geschlechtliche Erziehung befürwortet. Aber wenn man auch theoretisch von deren Notwendigkeit weitgehend überzeugt ist, so bleiben im Praktischen noch beträchtliche Unsicherheiten und Unterschiede sowohl hinsichtlich der Person und Einrichtungen, welche die Verantwortung in der Erziehung übernehmen sollen sowohl hinsichtlich des Inhalts und der Methoden.


Oft nicht vorbereitet 

9. Erzieher und Eltern sehen sich oft nicht hinreichend vorbereitet, eine angemessene geschlechtliche Erziehung zu geben. Die Schule ist häufig nicht in der Lage, eine Gesamtschau des Themas zu bieten; eine bloß naturwissenschaftliche Information bliebe unvollständig.


Besondere Schwierigkeiten in manchen Ländern 

10. Schwierigkeiten bestimmter Art finden sich in Ländern, in denen man sich der Dringlichkeit des Problems noch nicht bewusst ist oder meint, es löse sich von selbst - ohne besondere Erziehung.


Schwierige Aufgabe

11. Ganz allgemein muss man zugeben, dass es sich um eine schwierige Aufgabe handelt, weil die im Erziehungsgeschehen zu berücksichtigenden Faktoren so vielfältig sind (physiologische, psychologische, pädagogische, sozio-kulturelle, juristische, sittliche und religiöse).


Lobenswerte Initiativen 

12. Unter Billigung und Ermutigung der Ortsbischöfe haben katholische Einrichtungen vielerorts eine wertvolle Tätigkeit auf dem Gebiet der geschlechtlichen Erziehung begonnen. Ihr Ziel ist es nicht nur, den Kindern und Jugendlichen auf dem Weg zu psychischer und geistiger Reife zu helfen, sondern auch vor allem, sie auf die Gefahren einer oft orientierungslosen und herabziehenden Umwelt vorzubereiten.


Mit wissenschaftlichem Ernst

13. Lobende Erwähnung verdient auch das Bemühen jener, die sich dem Problem mit wissenschaftlichem Ernst gewidmet haben und, ausgehend von den Humanwissenschaften, die Ergebnisse solcher Untersuchungen in einen Lösungsvorschlag einbrachten, welcher der Würde des Menschen, wie sie im Evangelium aufleuchtet, gerecht wird.


DIE ERKLÄRUNGEN DES LEHRAMTS

Der rechte Gesamtzusammenhang der geschlechtlichen Erziehung

14. In den Erklärungen des Lehramts zur geschlechtlichen Erziehung zeigt sich ein Fortschritt, der sowohl den berechtigten Erfordernissen der Geschichte als der Treue zur Überlieferung entspricht.<ref>Pius XI. erklärte in seiner Enzyklika Divini illius magistri vom 31. Dezember 1929 eine geschlechtliche Erziehung, wie sie zu seiner Zeit gehandhabt wurde, nämlich als frühzeitig und unterschiedslos erteilte naturalistische Information, für verfehlt (AAS 22 (1930) SS. 49-86). 

Aus dieser Sicht muss man das Dekret des Hl. Offiziums vom 21. März 1931 lesen (AAS 23 (1931) SS. 118-119). Doch Pius XI. zog die Möglichkeit einer positiven Geschlechtserziehung des einzelnen «durch diejenigen» in Betracht, «die von Gott den erzieherischen Auftrag und die Gnade des Standes erhalten haben» (AAS 22 (1930) S. 71). 

Dieser positive Wert der Geschlechtserziehung, auf den Pius XI. hingewiesen hatte, wurde von den nachfolgenden Päpsten schrittweise entwickelt. Pius XII. bestimmt in seiner Ansprache an den V. Internationalen Kongreß für klinische Psychotherapie und Psychologie am 13. April 1953 (AAS 45 (1953) SS. 278-286) und in der Rede vor den italienischen Frauen der Katholischen Aktion am 26. Oktober 1941 (AAS 33 (1941) SS. 450-458) sehr klar, wie die geschlechtliche Erziehung im Rahmen der Familie durchgeführt werden solle (vgl. auch Pius XII. an die Karmeliter: (AAS 43 (1951) SS. 734-738) an französische Eltern: (AAS 43 (1951) SS. 730-734). Das Lehramt Pius XII. bereitet den Weg für die Konzilserklärung Gravissimum educationis vor.</ref>

Das 2. Vatikanische Konzil zeigt in der «Erklärung über die christliche Erziehung» den Zusammenhang auf, in den sich die geschlechtliche Erziehung einordnen muss<ref>Vgl. Gravissimum educationis, Nr. 1</ref> und betont das Recht der Jugend auf eine den persönlichen Bedürfnissen entsprechende Erziehung.

Das Konzil erklärt:

«Unter Verwertung der Fortschritte der psychologischen, der pädogogischen und der didaktischen Wissenschaft sollen also die Kinder und Jugendlichen in der harmonischen Entfaltung ihrer körperlichen, sittlichen und geistigen Anlagen so gefördert werden, dass sie allmählich ein tieferes Verantwortungsbewusstsein erwerben für ihr eigenes Leben und seine im Streben zu leistende Entfaltung und für das Wachsen in der wahren Freiheit, in der tapferen und beharrlichen Überwindung der widerstreitenden Kräfte. Nach den jeweiligen Altersstufen sollen sie durch eine positive und kluge Geschlechtserziehung unterwiesen werden».<ref>Ebd.</ref>


Die Familie: erste Stätte der Erziehung ... 

15. Die Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» spricht von der Würde der Ehe und der Familie und bezeichnet die letztere als die vorzügliche Stätte der Erziehung der Jugendlichen zur Keuschheit.<ref>Vgl. 2. Vat. Konzil: Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes, Nr. 49.</ref> Da diese aber ein Teil der Gesamterziehung ist, fordert sie die Zusammenarbeit der Erzieher mit den Eltern in der Erfüllung ihrer Sendung.<ref>Vgl. Gravissimum educationis, Nr. 5.</ref> Diese Erziehung muss den Kindern und Jugendlichen in der Familie<ref>Ebd., Nr. 3; vgl. Gaudium et spes, Nr. 52. </ref> stufenweise und immer im Blick auf die Gesamtformung der Person zuteil werden.


... und der Erschließung wesentlicher Werte

16. Im Apostolischen Schreiben über die Sendung der christlichen Familie in der heutigen Welt spricht Papst Johannes Paul II. der geschlechtlichen Erziehung eine bedeutende Rolle zu, weil es da um einen Wert der Person geht. «Die Erziehung zur Liebe als Hingabe seiner selbst ist auch die unerlässliche Voraussetzung für die Eltern in ihrer Aufgabe, den Kindern eine klare und taktvolle Geschlechtserziehung zu vermitteln. Angesichts einer Kultur, die in weiten Kreisen die menschliche Geschlechtlichkeit «banalisiert», weil sie diese in verkürzter und verarmter Weise interpretiert und lebt, indem sie sie einzig mit dem Leib und dem egoistisch verstandenen Vergnügen in Verbindung setzt, muss der erzieherische Dienst der Eltern entschieden auf eine Kultur der Geschlechtlichkeit hinzielen, die wahrhaft und voll menschlich ist; die Geschlechtlichkeit ist ja ein Reichtum der ganzen Person - Leib, Gemüt und Seele - und zeigt ihre tiefste Bedeutung darin, dass sie die Person zur Hingabe ihrer selbst in der Liebe führt».<ref>Familiaris consortio, Nr. 37.</ref>


Unterstützung durch die Schule 

17. Gleich anschließend spricht der Papst von der Verantwortung der Schule für diese Erziehung, die den Eltern dienen und mit ihnen abgestimmt sein muss. «Die Geschlechtserziehung, Grundrecht und -pflicht der Eltern, muss immer unter ihrer sorgsamen Leitung erfolgen, sei es zu Hause, sei es in den von ihnen für die Kinder gewählten Bildungsstätten, deren Kontrolle ihnen zusteht. In diesem Sinn betont die Kirche das Prinzip der Subsidiarität, das die Schule beobachten muss, wenn sie sich an der Geschlechtserziehung beteiligt; sie hat sich dabei vom gleichen Geist leiten zu lassen wie die Eltern».<ref>Familiaris consortio, Nr. 37. </ref>


Erziehung zur Keuschheit

18. Damit der Wert der Geschlechtlichkeit zu seiner vollen Verwirklichung kommt, «ist die Erziehung zur Keuschheit völlig unverzichtbar», welche die Person «befähigt, die bräutliche Bedeutung des Leibes zu achten und zu entfalten».<ref>Ebd.</ref> Sie besteht in der Herrschaft über sich selbst, in der Fähigkeit, den Geschlechtstrieb auf den Dienst der Liebe hinzulenken und ihn in die Entfaltung der Person einzufügen. Die Keuschheit, eine Frucht der Gnade Gottes und unserer Mitwirkung, ist darauf ausgerichtet, die verschiedenen Bereiche der Person harmonisch zu verbinden und die Schwäche der von der Sünde gezeichneten menschlichen Natur zu überwinden, so dass jeder der ihm eigenen göttlichen Berufung zu folgen vermag.

Im Bemühen um eine gute Erziehung zur Keuschheit werden «die christlichen Eltern ... - sollten sie die Zeichen einer göttlichen Berufung erkennen - der Erziehung zur Jungfräulichkeit eine besondere Aufmerksamkeit und Sorge widmen und in ihr die höchste Form jener Selbsthingabe sehen, welche den Sinn der menschlichen Geschlechtlichkeit bildet».<ref>Ebd.</ref>


Notwendiger Bezug zur sittlichen Norm

19. In den Lehräußerungen von Papst Johannes Paul II. hat die positive Betrachtung von Werten, die es zu entdecken und zu schätzen gilt, Vorrang vor einer Norm, die nicht verletzt werden darf. Dennoch deutet und formuliert die Norm die Werte, welche der Mensch erstreben muss.

«Auf Grund der engen Verbindungen zwischen der geschlechtlichen Dimension der Person und ihren ethischen Werten», so fährt der Papst fort, «muss die Erziehung die Kinder dazu führen, die sittlichen Normen als notwendige und wertvolle Garantie für ein verantwortliches persönliches Wachsen in der menschlichen Geschlechtlichkeit zu erkennen und zu schätzen. Deshalb wendet sich die Kirche entschieden gegen eine gewisse, vielfach verbreitete Art sexueller Information; losgelöst von sittlichen Grundsätzen, ist sie nichts anderes als eine Einführung in die Erfahrung des Vergnügens und ein Anreiz, der den Kindern - schon in den Jahren der Unschuld - ihre Unbefangenheit nimmt und den Weg des Lasters öffnet».<ref>Familiaris consortio, Nr. 37.</ref>


Adressaten des Dokumentes: die Erzieher

20. Dieses Dokument, das von der christlichen Sicht des Menschen ausgeht und die Grundsätze berücksichtigt, die in letzter Zeit vom kirchlichen Lehramt hervorgehoben wurden, möchte den Erziehern einige grundlegende Orientierungslinien anbieten über die geschlechtliche Erziehung sowie über Bedingungen und Verhaltensweisen, die in der Praxis zu berücksichtigen sind.

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

<references />