Absolutheitsanspruch: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 20. November 2007, 16:52 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Begriff
Der Absolutheitsanspruch der Religion tritt in zweierlei Varianten auf. 1) Im weiteren Sinne behauptet jede religiöse Überzeugungsgemeinschaft, dass ihre Lehre wahr sei. Dieser allgemeine Begriff einer (mehr oder weniger dogmatisch gefasst) in Überzeugungen gebundenen Gemeinschaft lässt sich überdies, über die etablierten Religionen hinaus, auch auf Anhänger bestimmter philosophischer Systeme, politischer Ideologien und hermetischer Religionspraktiken erstrecken. In diesem weiteren Sinne vertreten, auch unter öffentlicher Behauptung des Gegenteils, sogar bekennende Atheisten, Pantheisten, Okkultisten oder Freidenker kompromisslos ihren Standpunkt.
2) Im eigentlichen Sinne des Wortes wird der religiöse Absolutheitsanspruch jedoch nur vom Christentum und hier unter allen Konfessionen nachweislich in ausgeprägtester Form nur vom Katholizismus vertreten. Der Katholizismus behaupt nämlich, über den Wahrheitsanspruch seiner religiösen Lehren hinaus, eine (in den öffentlichen Raum hinein formulierte) Geltung der katholischen Interpretation des Sittengesetzes. So nimmt die Kirche einen Vorrang vor Politik und Gesellschaft in Anspruch, der sich im Papsttum zeigt. Folgerichtig sahen sich die Päpste in neuester Zeit befugt, nicht nur über Fragen des Glaubens und der Kirchenverfassung zu entscheiden, sondern auch eine Soziallehre vorzuschlagen, die mit Vernunft und Naturrecht argumentiert.
Herkunft
1) Aus katholischer Perspektive ist diese Auffassung biblisch fundiert, da Jesus seinen Aposteln die Binde- und Lösegewalt zusprach. Auf dem Fundament des apostolischen Ursprungs beruhen die Heilige Schrift und die Tradition. Christus selber gewährleistet so die generelle Irrtumslosigkeit des sakramental geeinten Volkes Gottes. Auch die Überzeugung davon, dass auch eine definitive Entscheidung des Papstes oder Konzils irrtumslos bleibt, knüpft daran an, dass in der Kirche das Evangelium zuverlässig weitergegeben wird. Der Absolutheitsanspruch der Religion bezieht sich auf die Richtigkeit der Lehre. Diese verweist aber auf die Unfehlbarkeit des übernatürlichen Ziels, das die Kirche im Auftrag Christi den Menschen verkündet: "Ich will, dass sie das Leben haben; und dass sie es in Fülle haben."
Der Katholizismus antwortet mithin, deutlicher als selbst andere christliche Konfessionen (oder die ihnen nahestehenden monotheistischen Religionen), dass die absolute Wahrheit Christi als Wahrheit der Erlösung des Menschen von Sünde und Tod wirksam ist. Während andere Überzeugungsgemeinschaften über das letzte Ziel der Menschen allenfalls spekulieren, legt das Christentum für die Auferstehung Jesu bewusst Zeugnis ab und bekennt das Ostergeheimnis als historische Tatsache. Das leere Grab Jesu ist der eigentliche Wendepunkt der Geschichte der Menschheit, denn "Gott rettet."
2) Jede andere Religion oder Philosophie bleibt gegenüber dieser absoluten Behauptung vorsichtig. Im Laufe der Kirchengeschichte resultierten Spaltungen der Christenheit aus unterschiedlichen Auffassungen über die Verbindlichkeit der kirchlichen Vermittlung der Geheimnisse Christi. Diese Konflikte haben wesentliche Ursachen im Ringen der geistlichen Autorität des römischen Papsttums mit Oppositionsbewegungen, die fast stets von weltlichen Mächten beeinflusst waren. Hier hat das Petrusamt den Kampf der Menschheit gekämpft. Denn in Wahrheit gilt vor Gott: Alle Macht ist relativ.
Das große Schisma von 1054 zwischen Rom und Byzanz, obwohl gewiss auch von Rom mitverursacht, war nicht zu bewältigen, solange die Orthodoxie unter beherrschendem Einfluss des Staatskirchentums stand. Erst im 20. Jahrhundert sind sämtliche orthodoxen Monarchien untergegangen, so dass aus staatskirchenrechtlicher Sicht der Ökumene neue Tore offenstehen. Einen gegenüber der orthodoxen Staatskirchenverfassung noch weiter abgeschwächten Begriff kirchlicher Realpräsenz des Handelns Christi vertreten die kirchlichen Gemeinschaften, die aus der 1517 begonnenen Reformation hervorgegangen sind. Sie bekennen weiterhin, und mit großem Nachdruck, den Absolutheitsanspruch Jesu Christi, vertreten aber die Überzeugung, dass der einzelne Christ im Heilsdialog nicht auf die Gewissheit kirchlicher Verkündigung hoffen kann. Das so eingeführte Prinzip individueller, subjektiver Religionsauffassung gesteht letztlich jedem Menschen zu, das Christentum individuell zu vollziehen (und es also auch im Zweifel fallenzulassen). Dieser Ansatz war zwar der modernen Geistesentwicklung geschuldet. Die in der Konsequenz etablierte Durchsetzung des modernen Toleranzprinzips (als Grundlage der offenen Gesellschaft) war aber seitens der Reformatoren noch nicht im Blick. Die einzelne menschliche Person ist aber gewiss unfähig, einen absoluten Anspruch an andere zu formulieren. Das gilt auch für jeden Philosophen, Theologen oder einzelnen kirchlichen Amtsträger. Die Krise der Moderne hat also die Frage nach dem Grund des katholischen Amtsvertrauens neu gestellt.
Zukunft
1) Der Katholizismus hat aus der Geschichte im 20. Jahrhundert daher Konsequenzen gezogen. Die Kirche bekennt heute eindeutig, dass der Glaube nur persönlich das Leben prägen kann und nicht als Programm für ein politisches System taugt. Sie gelangte zu einer genaueren Unterscheidung dessen, auf was sich der von ihr vertretene Absolutheitsanspruch der Kirche bezieht. Das Prinzip Extra Ecclesiam nulla salus (außerhalb der Kirche kein Heil) wird heute als nach innen gerichtet formuliert: Wer von der Heilsnotwendigkeit der Kirche Christi, die in der katholischen Kirche im wesentlichen anzutreffen ist, hinreichend Kenntnis hat, darf sich von ihr nicht mehr abwenden, ohne sein Seelenheil zu riskieren (vgl. Lumen Gentium, insb. Nr. 14). Zugleich lehrt die Kirche, dass Gott selbst allein weiß, auf welchen Wegen er den Menschen das unverlierbare Heil zusprechen wird.
Explizit aufgegeben hat die von Papst und Bischöfen angeleitete Kirche also einen solchen Absolutheitsanspruch, der aus religiösen Motiven eine rechtliche Alleinstellung oder autoritäre Vorrangstellung im öffentlichen Leben oder im Staatswesen herleitet. Das Ideal ist nicht mehr der katholische Staat, der dem "katholischen" Erdkreis zu dienen hat. Dieses Ideal konnte zu keiner Zeit realisiert werden, diente aber auch in der Neuzeit noch mancherorts als ungefähres Leitbild. Wo es als offizielle Richtschnur staatlich-kirchlichen Einvernehmens galt, hat sich aber zu oft das Gegenteil verwirklicht: Auch die katholische Kirche wurde so im Übermaß zur Stütze des modernen Staates (im frz. Gallikanismus, im österr. Josephinismus, bei der spanischen Inquisition), in ihrem geistlichen Auftrag aber geschwächt.
2) Der Absolutheitsanspruch der Wahrheit aber ist zugleich und vor allem ein Absolutheitsanspruch der Liebe: Im Vertrauen auf das Wirken Gottes in seiner Kirche stützt sich ihre Mission, definitiv seit dem II. Vatikanum, allein auf die Überzeugungskraft der Wahrheit selber, die Christus ist. Von daher ist eine Annäherung an den Protestantismus und insbesondere an die Orthodoxie nicht nur plausibel, sondern auch notwendig, um vor der Welt glaubwürdiger als bisher das Wort des Herrn zu vertreten.
Das III. Jahrtausend wird erweisen, ob eine Christenheit, welche die Pluralität des Zusammenlebens divergierender Überzeugungen in der Gesellschaft nicht nur duldet, sondern auch aktiv fördert, ihrem Herrn so mitreißend höhere Ehre erweist, dass der universale Anspruch Jesu mittels freiwilliger Nachfolge schließlich doch die Zivilisation mehr und mehr zum Guten zu prägen vermag. Wenn das Wort Christi die Antwort auf das unruhige Herz der Menschen ist, dann wird sich das gewiss bewahrheiten.
Literatur
- Jean Guitton, L'Église et l'Évangile, Paris 1959.