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Aktuelle Version vom 5. März 2022, 21:11 Uhr
Socialium scientiarum |
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von Papst
Johannes Paul II.
zur Errichtung der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften
1. Januar 1994
(Offizieller lateinischer Text: AAS 86 [1994] 209-212)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Die sozialwissenschaftlichen Forschungen (Socialium Scientiarum investigationes) können wirksam zur Verbesserung der menschlichen Beziehungen beitragen, wie die auf den verschiedenen Gebieten des Zusammenlebens erreichten Fortschritte zeigen, vor allem in unserem Jahrhundert, das bald zu Ende geht. Aus diesem Grund hat sich die Kirche, immer auf das wahre Wohl des Menschen bedacht, mit wachsendem Interesse diesem Bereich der wissenschaftlichen Forschung zugewandt, um so konkrete Hinweise für die Erfüllung ihrer Lehraufgaben zu erhalten.
Die Jahrhundertfeier der Enzyklika Rerum novarum hat Gelegenheit geboten, ein klareres Bewusstsein vom Einfluss dieses Dokumentes auf die Erweckung der Gewissen der Katholiken sowie auf die Suche nach konstruktiven Lösungen für die von der Arbeiterfrage gestellten Probleme zu gewinnen.
In der Enzyklika Centesimus annus, die dieses Jahrhundert würdigte, habe ich geschrieben, dass dieses Dokument der Kirche gleichsam "das Statut des Bürgerrechts" (vgl. Nr. 5) innerhalb der sich wandelnden Wirklichkeiten des öffentlichen Lebens verliehen hat. Mit jener Enzyklika leitete die Kirche vor allem einen Prozess des Nachdenkens ein dank dem auf den Spuren der voraufgehenden Tradition, die bis ins Evangelium zurückreicht, sich jener gesamte Komplex von Grundsätzen bildete, der dann den Namen "Soziallehre" im engen Sinn des Wortes bekam. Auf diese Weise gab die Kirche sich Rechenschaft darüber, dass sich aus der Verkündigung des Evangeliums "Licht und Kraft" für die Ordnung des Lebens der Gesellschaft ergeben. Licht, weil die vom Glauben geleitete Vernunft aus der Botschaft des Evangeliums entscheidende Grundsätze für eine des Menschen würdige soziale Ordnung ableiten kann. Kraft, weil das im Glauben angenommene Evangelium nicht nur theoretische Grundsätze vermittelt, sondern auch geistige Energien mitteilt, um die von jenen Grundsätzen abzuleitenden konkreten Aufgaben zu erfüllen.
In den letzten hundert Jahren hat die Kirche schrittweise dieses "Statut des Bürgerrechts" gefestigt, indem sie die Soziallehre vervollkommnete, immer in enger Verbindung mit der dynamischen Entwicklung der modernen Gesellschaft. Als 40 Jahre nach Rerum novarum die Arbeiterfrage eine umfangreiche soziale Frage geworden war, gab Pius XI. mit seiner Enzyklika Quadragesimo anno klare Hinweise zur Überwindung der Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen. Als dann totalitäre Systeme die Freiheit und Würde des Menschen bedrohten, protestierten Pius XI. und Pius XII. mit nachdrücklichen Botschaften, und als nach dem zweiten Weltkrieg Europa großenteils zerstört war, zeigten erneut Pius XII. in wiederholten Botschaften und dann Johannes XXIII. mit seinen Enzykliken Mater et magistra und Pacem in terris den Weg zum sozialen Wiederaufbau und zur Festigung des Friedens. Das II. Ökumenische Vatikanische Konzil stellte mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes die Behandlung der Beziehungen zwischen Kirche und Welt in einen umfassenden theologischen Zusammenhang und erklärte: "Wurzelgrund, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und muss auch sein die menschliche Person" (Nr. 25). Als in den 70er Jahren immer deutlicher das Drama der Entwicklungsländer hervortrat, entwarf Papst Paul VI. angesichts einer einseitigen Sicht der Wirtschaft mit seiner Enzyklika Populorum progressio ein Programm zur integralen Entwicklung der Völker. In jüngerer Zeit habe ich mit meinen drei Sozialenzykliken entscheidenden Problemen der Gesellschaft gegenüber Stellung bezogen: zur Würde der menschlichen Arbeit (Lahorem exercens), zur Überwindung der wirtschaftlichen und politischen Blöcke (Sollicitudo rei socialis) und im Anschluss an den Zusammenbruch des Systems des realen Sozialismus zur Errichtung einer neuen nationalen und internationalen Ordnung (Centesimus annus).
Diese kurze Zusammenfassung will zeigen, dass die Kirche in den letzten hundert Jahren nicht auf "das Wort, das ihr zukommt" - wie Leo XIII. sagte -, verzichtet hat, sondern dass sie sogar weiter erarbeitete, was Johannes XXIII. das "reiche Erbe" der katholischen Soziallehre nannte.
Eines tritt beim Blick auf diese hundert Jahre Geschichte hervor: Es ist der Kirche gelungen, das reiche Erbe der katholischen Soziallehre dank der engen Zusammenarbeit aufzubauen, die sie auf der einen Seite mit den katholischen sozialen Bewegungen und auf der anderen Seite mit den Fachleuten der Sozialwissenschaften pflegte. Schon Leo XIII. hatte diese Zusammenarbeit betont, und Pius Xl. sprach anerkennend von dem Beitrag der Wissenschaftler aus diesem Zweig der Humanwissenschaften für die Erarbeitung der Soziallehre. Johannes XXIII. betonte seinerseits in der Enzyklika Mater et magistra, dass sich die Soziallehre immer bemühen muss, "die wirkliche Lage der Dinge" zu berücksichtigen, und deswegen in ständigem Dialog mit den Sozialwissenschaften bleiben muss. Das II. Ökumenische Vatikanische Konzil endlich hat klar zugunsten der "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" (Gaudium et spes, Nr. 36) Stellung bezogen, die über die theologische Reflexion hinaus Gegenstand der Sozialwissenschaften und der Philosophie sind. Diese Pluralität der Zugänge widerspricht keineswegs den Aussagen des Glaubens. Diese berechtigte Autonomie muss daher von der Kirche und vor allem von ihrer Soziallehre gebührend berücksichtigt werden.
Ich selbst habe in der Enzyklika Sollicitudo rei socialis hervorgehoben, dass die katholische Soziallehre ihre Aufgaben in der Welt von heute nur "mit Hilfe rationaler Reflexion und wissenschaftlicher Erkenntnis" (Nr. 1) erfüllen kann, weil sie trotz der bleibenden Gültigkeit ihrer grundlegenden Prinzipien in ihrer Anwendung auch "vom Wandel der geschichtlichen Bedingungen und vom unaufhörlichen Fluss der Ereignisse" (Nr. 3) abhängt.
Zuletzt habe ich bei Gelegenheit der Hundertjahrfeier von Rerum novarum betont, dass nach dem Zusammenbruch des Systems des realen Sozialismus sich Kirche und Menschheit vor gigantischen Aufgaben befinden. Die Welt ist nicht länger in zwei feindliche Blöcke gespalten, und doch steht sie neuen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen planetarischen Ausmaßes gegenüber. Auch wenn sich die Kirche nicht als zuständig beansprucht, all diesen Problemen angemessene technische Lösungen vorlegen zu können, so fühlt sie sich doch mehr denn je verpflichtet, ihren Beitrag zur Wahrung des Friedens und für den Aufbau einer des Menschen würdigen Gesellschaft anzubieten. Dazu braucht sie aber einen tieferen und ständigen Kontakt mit den modernen Sozialwissenschaften, mit ihren Forschungen und ihren Ergebnissen. Auf diese Weise "tritt sie mit den verschiedenen Disziplinen, die sich mit dem Menschen befassen, in einen Dialog ein, integriert ihre Beiträge und hilft ihnen, sich einem breiteren Horizont zu öffnen" (Centesimus annus, Nr. 59). Angesichts der großen Aufgaben, die die Zukunft uns vorbehält, muss dieser interdisziplinäre, schon in der Vergangenheit gepflegte Dialog nun neu geordnet werden. Deswegen errichte ich als Durchführung dessen, was ich bereits in meiner Ansprache vom 23. Dezember 1991 gesagt habe, mit dem heutigen Datum die Päpstliche Akademie der Sozialwissenschaften mit Sitz in der Vatikanstadt. Wie aus ihrem Statut zu ersehen ist, wird diese Akademie mit dem Ziel errichtet, "das Studium und den Fortschritt der sozialen, wirtschaftlichen politischen und Rechtswissenschaften im Licht der Soziallehre der Kirche zu fördern" (Art. 1).
Indem ich den göttlichen Beistand über die Tätigkeit der neuen Akademie herabrufe, deren Arbeiten ich gewiss mit lebhaftem Interesse verfolgen werde, erteile ich all ihren Mitgliedern und Mitarbeitern einen besonderen Apostolischen Segen.
dem sechzehnten meines Pontifikates.