Sensus fidei im Leben der Kirche (Wortlaut)

Aus kathPedia
Version vom 7. Oktober 2015, 19:50 Uhr von Oswald (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „<center> Schreiben {|align="center" cellpadding=5px; !bgcolor="silver"|'''Sensus fidei im Leben der Kirche''' |} Internationale Theologische Kommission…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springenZur Suche springen
Schreiben
Sensus fidei im Leben der Kirche

Internationale Theologische Kommission
unseres Heiligen Vaters
Franziskus
5. März 2014

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite - Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller).
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Einführung

1. Durch die Gabe des Heiligen Geistes, „des Geistes der Wahrheit, der vom Vater ausgeht“ und Zeugnis für den Sohn ablegt (vgl. Joh 15, 26), haben alle Getauften teil am prophetischen Amt Jesu Christi, „des treuen und zuverlässigen Zeugen“ (vgl. Offb 3, 14). Sie sollen in der Kirche und in der Welt Zeugnis für das Evangelium und den apostolischen Glauben ablegen. Der Heilige Geist salbt und rüstet sie für diese hohe Berufung, indem er ihnen eine ganz persönliche, tiefe Kenntnis des kirchlichen Glaubens überträgt. Im ersten Brief des heiligen Johannes wird den Gläubigen gesagt: „Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und ihr alle wisst es“, „Die Salbung, die ihr von ihm [Christus] empfangen habt, bleibt in euch und ihr braucht euch von niemand belehren zu lassen. Alles, was seine Salbung euch lehrt, ist wahr“ (1 Joh 2, 20.27).

2. Demzufolge haben die Gläubigen einen Instinkt für die Wahrheit des Evangeliums, der ihnen ermöglicht, echte christliche Lehre und Praxis zu erkennen und zu befürworten sowie zurückzuweisen, was falsch ist. Dieser übernatürliche Instinkt, der zutiefst mit der Gabe des Glaubens verbunden ist, die in der Gemeinschaft der Kirche empfangen wird, wird „Sensus fidei“ genannt, und er erlaubt den Christen, ihre prophetische Berufung zu erfüllen. In seiner ersten Angelusansprache zitierte Papst Franziskus die Worte einer einfachen alten Frau, der er einmal begegnet war: „Wenn der Herr nicht alles vergäbe, gäbe es die Welt nicht“; und er bemerkte bewundernd: „Das ist die Weisheit, die der Heilige Geist gibt.“<ref>Papst Franziskus, Angelusansprache, 17. März 2013.</ref> Die Einsicht dieser Frau ist eine eindrucksvolle Manifestation des „Sensus fidei“, der sowohl zu einem gewissen Unterscheidungsvermögen hinsichtlich der Dinge des Glaubens befähigt als auch wahre Weisheit fördert und – wie hier – zur Verkündigung der Wahrheit führt. Es ist daher klar, dass der „Sensus fidei“ eine lebendige Ressource für die Neuevangelisierung ist, zu der die Kirche in unserer Zeit zutiefst verpflichtet ist.<ref>Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (2013), Nrn. 119–120.</ref>

3. Als theologisches Konzept bezieht sich der „Sensus fidei“ auf zwei Wirklichkeiten, die zwar verschieden, aber eng miteinander verbunden sind: die eine hat die Kirche zum Gegenstand, „die Säule und das Fundament der Wahrheit“ (1 Tim 3, 15),<ref>Die Bibelzitate sind der Einheitsübersetzung entnommen. Die Konzilsdokumente werden wie folgt zitiert: Apostolicam actuositatem (AA), Ad gentes (AG), Dei Verbum (DV), Gaudium et spes (GS), Lumen gentium (LG), Perfectæ caritatis (PC), Sacrosanctum Concilium (SC). Denzinger- Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, wird mit DH angegeben. KKK steht für Katechismus der Katholischen Kirche und PL für Patrologia Latina.</ref> die andere den einzelnen Gläubigen, der durch die Sakramente der Initiation zur Kirche gehört und der – besonders durch die regelmäßige Feier der Eucharistie – an ihrem Glauben und ihrem Leben teilhat. Auf der einen Seite bezieht sich der „Sensus fidei“ auf die persönliche Fähigkeit des Gläubigen, innerhalb der Gemeinschaft der Kirche die Wahrheit des Glaubens zu erkennen. Auf der anderen Seite bezieht sich der „Sensus fidei“ auf eine gemeinschaftliche und kirchliche Wirklichkeit: den Instinkt des Glaubens der Kirche selbst, durch den sie ihren Herrn erkennt und sein Wort verkündet. Der „Sensus fidei“ in diesem Sinn spiegelt sich darin, dass die Getauften im grundlegenden Festhalten an einer Glaubenslehre oder einem Element der christlichen Praxis übereinstimmen. Diese Übereinstimmung („Consensus“) spielt eine entscheidende Rolle in der Kirche: der „Consensus fidelium“ ist ein sicheres Kriterium um zu entscheiden, ob eine bestimmte Lehre oder Praxis zum apostolischen Glauben gehört.<ref>In ihrem Dokument Die Interpretation der Dogmen hat die Internationale Theologische Kommission über den „Sensus fidelium“ als jenes „innere Gespür“ gesprochen, „durch welches das Volk Gottes … in der Verkündigung nicht das Wort von Menschen, sondern Gottes Wort erkennt, bejaht und unverbrüchlich festhält“. (C, II, 1). Das Dokument hat auch die Rolle des „Consensus fidelium“ in der Interpretation der Dogmen hervorgehoben (C, II, 4).</ref> Im vorliegenden Dokument benutzen wir den Ausdruck „Sensus fidei fidelis“, um uns auf die persönliche Fähigkeit des Gläubigen zu beziehen, in Sachen des Glaubens ein richtiges Urteil zu treffen, und den Ausdruck „Sensus fidei fidelium“, um uns auf den der Kirche eigenen Instinkt des Glaubens zu beziehen. Je nach Kontext bezieht sich „Sensus fidei“ entweder auf das Erstere oder auf das Letztere, und in letzterem Fall wird der Begriff „Sensus fidelium“ ebenfalls benutzt.

4. Die Bedeutung des „Sensus fidei“ im Leben der Kirche wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil stark hervorgehoben. Das Konzil verdrängte das Zerrbild, es gäbe eine aktive Hierarchie und passive Laien – vor allem die Vorstellung von einer strengen Trennung zwischen einer lehrenden Kirche (Ecclesia docens) und einer lernenden Kirche (Ecclesia discens) – und lehrte, dass alle Getauften auf ihre jeweils eigene Weise an den drei Ämtern Christi als Prophet, Priester und König teilhaben. Im Besonderen lehrte es, dass Christus sein prophetisches Amt nicht nur durch die Hierarchie, sondern auch durch die Laien vollzieht.

5. In der Rezeption und Anwendung der Konzilslehren über dieses Thema ergeben sich jedoch viele Fragen, vor allem in Bezug auf Kontroversen, die verschiedene Punkte der Lehre oder der Moral betreffen. Was genau ist der „Sensus fidei“ und wie kann er festgestellt werden? Welches sind die biblischen Quellen dieses Begriffs und wie wirkt der „Sensus fidei“ in der Tradition des Glaubens? In welcher Beziehung steht der „Sensus fidei“ zum kirchlichen Lehramt des Papstes und der Bischöfe sowie zur Theologie?<ref> In ihrem kürzlich erschienenen Dokument mit dem Titel Theologie heute: Perspektiven, Prinzipien und Kriterien (2012) hat die Internationale Theologische Kommission den „Sensus fidei“ als einen grundlegenden locus oder Bezugspunkt für die Theologie bezeichnet (Nr. 35).</ref> Welches sind die Bedingungen für eine authentische Ausübung des „Sensus fidei“? Ist der „Sensus fidei“ etwas anderes als die mehrheitliche Meinung der Gläubigen zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort und falls ja, wie unterscheidet er sich dann von Letzterem? All diese Fragen erfordern Antworten, wenn der Begriff des „Sensus fidei“ in der heutigen Kirche vollständiger verstanden und mit größerem Vertrauen angewendet werden soll.

6. Der vorliegende Text hat nicht die Absicht, eine vollständige Darstellung des „Sensus fidei“ zu geben, sondern er will einfach einige wichtige Aspekte dieses wesentlichen Begriffs klarstellen und vertiefen, um gewisse Fragen vor allem im Hinblick darauf zu beantworten, wie der wirkliche „Sensus fidei“ in kontroversen Situationen festgestellt werden kann, wenn etwa Spannungen zwischen dem kirchlichen Lehramt und solchen Meinungen bestehen, die behaupten, den „Sensus fidei“ zum Ausdruck zu bringen. Entsprechend werden zuerst die biblischen Quellen für den Begriff des „Sensus fidei“ betrachtet sowie die Art und Weise, wie sich diese Vorstellung in der Geschichte und der Tradition der Kirche entwickelt und dort gewirkt hat (Kapitel 1). Als Nächstes wird das Wesen des „Sensus fidei fidelis“ zusammen mit seinen Manifestationen im persönlichen Leben des Gläubigen betrachtet (Kapitel 2). Das Dokument wird dann über den „Sensus fidei fidelium“ nachdenken, also über den „Sensus fidei“ in seiner kirchlichen Form, und dabei zunächst seine Rolle in der Entwicklung der christlichen Lehre und Praxis und dann seine Beziehung jeweils zum Lehramt und zur Theologie sowie auch seine Bedeutung für den ökumenischen Dialog betrachten (Kapitel 3). Schließlich wird es versuchen, Dispositionen auszumachen, die für eine authentische Teilhabe am „Sensus fidei“ notwendig sind – sie bilden Kriterien für das Erkennen eines echten „Sensus fidei“ – sowie über einige Anwendungen seiner Ergebnisse auf das konkrete Leben der Kirchenachdenken (Kapitel 4).

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

<references />