Sensus fidei im Leben der Kirche (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen

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'''5.''' In der Rezeption und Anwendung der Konzilslehren über dieses Thema ergeben sich jedoch viele Fragen, vor allem in Bezug auf Kontroversen, die verschiedene Punkte der Lehre oder der Moral betreffen. Was genau ist der „Sensus fidei“ und wie kann er festgestellt werden? Welches sind die biblischen Quellen dieses Begriffs und wie wirkt der „Sensus fidei“ in der Tradition des Glaubens? In welcher Beziehung steht der „Sensus fidei“ zum kirchlichen Lehramt des Papstes und der Bischöfe sowie zur Theologie?<ref> In ihrem kürzlich erschienenen Dokument mit dem Titel Theologie heute: Perspektiven, Prinzipien und Kriterien (2012) hat die Internationale Theologische Kommission den „Sensus fidei“ als einen grundlegenden locus oder Bezugspunkt für die Theologie bezeichnet (Nr. 35).</ref> Welches sind die Bedingungen für eine authentische Ausübung des „Sensus fidei“? Ist der „Sensus fidei“ etwas anderes als die mehrheitliche Meinung der  Gläubigen zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort und falls ja, wie unterscheidet er sich dann von Letzterem? All diese Fragen erfordern Antworten, wenn der Begriff des „Sensus fidei“ in der heutigen Kirche vollständiger verstanden und mit größerem Vertrauen angewendet werden soll.
 
'''5.''' In der Rezeption und Anwendung der Konzilslehren über dieses Thema ergeben sich jedoch viele Fragen, vor allem in Bezug auf Kontroversen, die verschiedene Punkte der Lehre oder der Moral betreffen. Was genau ist der „Sensus fidei“ und wie kann er festgestellt werden? Welches sind die biblischen Quellen dieses Begriffs und wie wirkt der „Sensus fidei“ in der Tradition des Glaubens? In welcher Beziehung steht der „Sensus fidei“ zum kirchlichen Lehramt des Papstes und der Bischöfe sowie zur Theologie?<ref> In ihrem kürzlich erschienenen Dokument mit dem Titel Theologie heute: Perspektiven, Prinzipien und Kriterien (2012) hat die Internationale Theologische Kommission den „Sensus fidei“ als einen grundlegenden locus oder Bezugspunkt für die Theologie bezeichnet (Nr. 35).</ref> Welches sind die Bedingungen für eine authentische Ausübung des „Sensus fidei“? Ist der „Sensus fidei“ etwas anderes als die mehrheitliche Meinung der  Gläubigen zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort und falls ja, wie unterscheidet er sich dann von Letzterem? All diese Fragen erfordern Antworten, wenn der Begriff des „Sensus fidei“ in der heutigen Kirche vollständiger verstanden und mit größerem Vertrauen angewendet werden soll.
  
'''6.''' Der vorliegende Text hat nicht die Absicht, eine vollständige Darstellung des „Sensus fidei“ zu geben, sondern er will einfach einige wichtige Aspekte dieses wesentlichen Begriffs klarstellen und vertiefen, um gewisse Fragen vor allem im Hinblick darauf zu beantworten, wie der wirkliche „Sensus fidei“ in kontroversen Situationen festgestellt werden kann, wenn etwa Spannungen zwischen dem kirchlichen Lehramt und solchen Meinungen bestehen, die behaupten, den „Sensus fidei“ zum Ausdruck zu bringen. Entsprechend werden zuerst die biblischen Quellen für den Begriff des „Sensus fidei“ betrachtet sowie die Art und Weise, wie sich diese Vorstellung in der Geschichte und der Tradition der Kirche entwickelt und dort gewirkt hat (Kapitel 1). Als Nächstes wird das Wesen des „Sensus fidei fidelis“ zusammen mit seinen Manifestationen im persönlichen Leben des Gläubigen betrachtet (Kapitel 2). Das Dokument wird dann über den „Sensus fidei fidelium“ nachdenken, also über den „Sensus fidei“ in seiner kirchlichen Form, und dabei zunächst seine Rolle in der Entwicklung der christlichen Lehre und Praxis und dann seine Beziehung jeweils zum Lehramt und zur Theologie sowie auch seine Bedeutung für den ökumenischen Dialog betrachten (Kapitel 3). Schließlich wird es versuchen, Dispositionen auszumachen, die für eine authentische Teilhabe am „Sensus fidei“ notwendig sind – sie bilden Kriterien für das Erkennen eines echten „Sensus fidei“ – sowie über einige Anwendungen seiner Ergebnisse auf das konkrete Leben der Kirchenachdenken (Kapitel 4).
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'''6.''' Der vorliegende Text hat nicht die Absicht, eine vollständige Darstellung des „Sensus fidei“ zu geben, sondern er will einfach einige wichtige Aspekte dieses wesentlichen Begriffs klarstellen und vertiefen, um gewisse Fragen vor allem im Hinblick darauf zu beantworten, wie der wirkliche „Sensus fidei“ in kontroversen Situationen festgestellt werden kann, wenn etwa Spannungen zwischen dem kirchlichen Lehramt und solchen Meinungen bestehen, die behaupten, den „Sensus fidei“ zum Ausdruck zu bringen. Entsprechend werden zuerst die biblischen Quellen für den Begriff des „Sensus fidei“ betrachtet sowie die Art und Weise, wie sich diese Vorstellung in der Geschichte und der Tradition der Kirche entwickelt und dort gewirkt hat (Kapitel 1). Als Nächstes wird das Wesen des „Sensus fidei fidelis“ zusammen mit seinen Manifestationen im persönlichen Leben des Gläubigen betrachtet (Kapitel 2). Das Dokument wird dann über den „Sensus fidei fidelium“ nachdenken, also über den „Sensus fidei“ in seiner kirchlichen Form, und dabei zunächst seine Rolle in der Entwicklung der christlichen Lehre und Praxis und dann seine Beziehung jeweils zum Lehramt und zur Theologie sowie auch seine Bedeutung für den ökumenischen Dialog betrachten (Kapitel 3). Schließlich wird es versuchen, Dispositionen auszumachen, die für eine authentische Teilhabe am „Sensus fidei“ notwendig sind – sie bilden Kriterien für das Erkennen eines echten „Sensus fidei“ – sowie über einige Anwendungen seiner Ergebnisse auf das konkrete Leben der Kirche nachdenken (Kapitel 4).
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==Kapitel 1: Der „Sensus fidei“ in Schrift und Tradition==
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'''7.''' Der Ausdruck „Sensus fidei“ findet sich weder in der Schrift noch in der offiziellen Lehre der Kirche bis zum Zweiten Vatikanum. Die Vorstellung jedoch, dass die Kirche als Ganzes in ihrem Glauben unfehlbar ist, da sie Leib und Braut Christi ist (vgl. 1 Kor 12, 27; Eph 4, 12; 5,21–32; Offb 21, 9) und dass alle ihre Glieder eine Salbung haben, die sie lehrt (vgl. 1 Joh 2, 20.27), da sie mit dem Geist der Wahrheit ausgestattet sind (vgl. Joh 16, 13), ist vom Beginn der Christenheit sichtbar. Das vorliegende Kapitel wird die Hauptlinien der Entwicklung dieser Vorstellung zunächst in der Heiligen Schrift und dann in der späteren Geschichte der Kirche umreißen.
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===1. Biblische Lehre===
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====a) Glaube als Antwort auf das Wort Gottes====
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'''8.''' Im gesamten Neuen Testament ist der Glaube die fundamentale und entscheidende Antwort der Menschen auf das Evangelium. Jesus verkündet das Evangelium, um die Menschen zum Glauben zu bringen: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 15) Paulus erinnert die frühen Christen an seine apostolische Verkündigung über den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, um ihren Glauben zu erneuern und zu vertiefen: „Ich erinnere euch, Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündet habe. Ihr habt es angenommen; es ist der Grund, auf dem ihr steht. Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet, wenn ihr an dem Wortlaut festhaltet, den ich euch verkündet habe. Oder habt ihr den Glauben vielleicht unüberlegt angenommen?“ (1 Kor 15,1–2) Das Verständnis des Glaubens im Neuen Testament wurzelt im Alten Testament und vor allem im Glauben Abrahams, der vollkommen auf Gottes Verheißungen vertraute (Gen 15, 6; vgl. Röm 4, 11.17). Der Glaube ist eine freie Antwort auf die Verkündigung des Wortes Gottes und als solcher eine Gabe des Heiligen Geistes, die von denen empfangen wird, die wahrhaft glauben (vgl. 1 Kor 12, 3). Der „Gehorsam des Glaubens“ (Röm 1, 5) ist die Folge von Gottes Gnade, die die Menschen befreit und sie zu Gliedern der Kirche macht (Gal 5, 1.13).
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'''9.''' Das Evangelium ruft den Glauben hervor, weil es nicht einfach die Vermittlung von religiöser Information ist, sondern die Verkündigung des Wortes Gottes und die „Kraft Gottes, die jeden rettet“, die wahrhaft empfangen werden muss (Röm 1,16–17; vgl. Mt 11, 15; Lk 7,22 [Jes 26, 19; 29, 18; 35,5–6; 61,1–11]). Es ist das Evangelium von der Gnade Gottes (Apg 20, 24), die „Offenbarung jenes Geheimnisses“ Gottes (Röm 16, 25) und „das Wort der Wahrheit“ (Eph 1, 13). Das Evangelium hat einen wesentlichen Inhalt: das Kommen des Reiches Gottes, die Auferstehung und Verherrlichung des gekreuzigten Jesus Christus, das Geheimnis der Erlösung und Glorifizierung durch Gott im Heiligen Geist. Das Evangelium hat einen starken Inhalt: Jesus selbst, das Wort Gottes, der seine Apostel und ihre Jünger aussendet, und es nimmt die direkte Form durch Worte und Taten inspirierter und autorisierter Verkündigung an. Das Evangelium zu empfangen, erfordert eine Antwort der ganzen Person, „mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“ (Mk 12, 31). Das ist die Antwort des Glaubens, der bedeutet: „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Heb 11, 1).
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'''10.''' „Glaube ist sowohl ein Akt des Vertrauens als auch des Bekennens. ,Fides quae‘ und ,Fides qua‘ sind untrennbar miteinander verbunden; denn Vertrauen ist die Zustimmung zu einer Botschaft mit einem klaren Inhalt, und das Bekenntnis kann nicht auf ein reines Lippenbekenntnis reduziert werden, sondern muss aus dem Herzen kommen.“<ref>Theologie heute, Nr. 13.</ref> Das Alte und das Neue Testament zeigen deutlich, dass Form und Inhalt des Glaubens zusammengehören.
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====b) Die persönliche und die kirchliche Dimension des Glaubens====
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'''11.''' Die Heilige Schrift zeigt, dass die persönliche Dimension des Glaubens in die kirchliche Dimension eingebunden ist; es finden sich sowohl Formen der ersten Person Plural als auch der ersten Person Singular: „wir glauben“ (vgl. Gal 2, 16) und „ich glaube“ (vgl. Gal 2,19–20). In seinen Briefen begreift Paulus den Glauben der Gläubigen sowohl als persönlich als auch als kirchlich. Er lehrt, dass jeder, der bekennt, „,Jesus ist der Herr!‘ … aus dem Heiligen Geist redet“ (1 Kor 12, 3). Der Heilige Geist gliedert jeden Gläubigen in den Leib Christi ein und gibt ihm oder ihr eine besondere Rolle zum Aufbau der Kirche (vgl. 1Kor 12,4–27). Im Brief an die Epheser ist das Bekenntnis des einen und einzigen Gottes mit einem Glaubensleben in der Kirche verbunden: „Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist“ (Eph 4,4–6).
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'''12.''' In seiner persönlichen und kirchlichen Dimension hat der Glaube die folgenden wesentlichen Aspekte:
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I.) Glaube erfordert Buße. In der Verkündigung der Propheten Israels und Johannes des Täufers (vgl. Mk 1, 4) sowie in der Verkündigung der Frohen Botschaft durch Jesus selbst (vgl. Mk 1,14 f.) und in der Sendung der Apostel (Apg 2,38–42; 1 Thess 1,9f.) bedeutet Buße das Bekennen seiner Sünden und den Beginn eines neuen Lebens, das in der Gemeinschaft des Bundes mit Gott gelebt wird (vgl. Röm 12,1 f.).
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II.) Glaube wird sowohl durch Gebet als auch durch Gottesdienst („leiturgia“) gestärkt und ausgedrückt. Das Gebet kann verschiedene Formen annehmen – Bitten, Flehen, Lobpreis, Danksagung –, und das Bekenntnis des Glaubens ist eine besondere Form des Gebets. Liturgisches Gebet und besonders die Feier der Eucharistie war von jeher wesentlich für das Leben der christlichen Gemeinschaft (vgl. Apg 2, 42). Das Gebet findet sowohl in der Öffentlichkeit statt (vgl. 1 Kor 14) als auch privat (vgl. Mt 6,5 f.). Für Jesus bringt das Vaterunser (Mt 6,9–13; Lk 11,1–4) das Wesen des Glaubens zum Ausdruck. Es ist ein „kurzer Inbegriff des ganzen Evangeliums“.<ref> [[Tertullian]], De oratione, I, 6.</ref> Bezeichnenderweise benutzt es die Worte „wir“, „uns“ und „unser“.
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III.) Glaube bringt Wissen. Derjenige, der glaubt, vermag die Wahrheit Gottes zu erkennen (vgl. Phil 3,10 f.). Dieses Wissen entspringt dem Nachdenken über die Gotteserfahrung, die auf der Offenbarung gründet und in der Gemeinschaft der Gläubigen geteilt wird. Das bezeugt die Weisheitstheologie sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments (Ps 111, 10; vgl. Spr 1, 7; 9, 10; Mt 11, 27; Lk 10, 22). IV.) Der Glaube führt zum Bekenntnis („marturia“). Beseelt durch den Heiligen Geist wissen die Gläubigen, wem sie Glauben geschenkt haben (vgl. 2 Tim 1,1 2), und vermögen, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt (vgl. 1 Petr 3, 15), dank der prophetischen und apostolischen Verkündigung des Evangeliums (vgl. Röm 10,9 f.). Sie tun das in ihrem eigenen Namen; doch sie tun es aus der Gemeinschaft der Gläubigen heraus.
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V.) Glaube bedingt Vertrauen. Auf Gott vertrauen heißt, sein ganzes Leben auf Gottes Verheißung zu gründen. In Heb 11 werden viele Gläubige des Alten Testaments als Glieder eines langen Festzugs durch Zeit und Raum zu Gott im Himmel erwähnt, der von Jesus, dem „Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12, 2), angeführt wird. Christen sind Teil dieses Festzugs, sie teilen dieselbe Hoffnung und Überzeugung (Hebr 11, 1) und sind bereits von „einer solchen Wolke von Zeugen umgeben“ (vgl. Hebr 12, 1).
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VI.) Glaube schließt Verantwortung ein und vor allem Nächstenliebe und Dienst („Diakonia“). Die Jünger werden „an ihren Früchten“ erkannt werden (Mt 7, 20). Die Früchte gehören wesentlich zum Glauben, denn der Glaube, der vom Hören auf das Wort Gottes kommt, erfordert Gehorsam gegenüber Seinem Willen. Der Glaube, der gerecht macht (Gal 2, 16), ist Glaube, „der in der Liebe wirksam ist“ (Gal 5, 6; vgl. Jak 2,21–24). Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern ist das Beurteilungskriterium für die Liebe zu Gott (1 Joh 4, 20).
  
 
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Version vom 8. Oktober 2015, 14:55 Uhr

Schreiben
Sensus fidei im Leben der Kirche

Internationale Theologische Kommission
unseres Heiligen Vaters
Franziskus
5. März 2014

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite - Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Reimüller).
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Einführung

1. Durch die Gabe des Heiligen Geistes, „des Geistes der Wahrheit, der vom Vater ausgeht“ und Zeugnis für den Sohn ablegt (vgl. Joh 15, 26), haben alle Getauften teil am prophetischen Amt Jesu Christi, „des treuen und zuverlässigen Zeugen“ (vgl. Offb 3, 14). Sie sollen in der Kirche und in der Welt Zeugnis für das Evangelium und den apostolischen Glauben ablegen. Der Heilige Geist salbt und rüstet sie für diese hohe Berufung, indem er ihnen eine ganz persönliche, tiefe Kenntnis des kirchlichen Glaubens überträgt. Im ersten Brief des heiligen Johannes wird den Gläubigen gesagt: „Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und ihr alle wisst es“, „Die Salbung, die ihr von ihm [Christus] empfangen habt, bleibt in euch und ihr braucht euch von niemand belehren zu lassen. Alles, was seine Salbung euch lehrt, ist wahr“ (1 Joh 2, 20.27).

2. Demzufolge haben die Gläubigen einen Instinkt für die Wahrheit des Evangeliums, der ihnen ermöglicht, echte christliche Lehre und Praxis zu erkennen und zu befürworten sowie zurückzuweisen, was falsch ist. Dieser übernatürliche Instinkt, der zutiefst mit der Gabe des Glaubens verbunden ist, die in der Gemeinschaft der Kirche empfangen wird, wird „Sensus fidei“ genannt, und er erlaubt den Christen, ihre prophetische Berufung zu erfüllen. In seiner ersten Angelusansprache zitierte Papst Franziskus die Worte einer einfachen alten Frau, der er einmal begegnet war: „Wenn der Herr nicht alles vergäbe, gäbe es die Welt nicht“; und er bemerkte bewundernd: „Das ist die Weisheit, die der Heilige Geist gibt.“<ref>Papst Franziskus, Angelusansprache, 17. März 2013.</ref> Die Einsicht dieser Frau ist eine eindrucksvolle Manifestation des „Sensus fidei“, der sowohl zu einem gewissen Unterscheidungsvermögen hinsichtlich der Dinge des Glaubens befähigt als auch wahre Weisheit fördert und – wie hier – zur Verkündigung der Wahrheit führt. Es ist daher klar, dass der „Sensus fidei“ eine lebendige Ressource für die Neuevangelisierung ist, zu der die Kirche in unserer Zeit zutiefst verpflichtet ist.<ref>Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (2013), Nrn. 119–120.</ref>

3. Als theologisches Konzept bezieht sich der „Sensus fidei“ auf zwei Wirklichkeiten, die zwar verschieden, aber eng miteinander verbunden sind: die eine hat die Kirche zum Gegenstand, „die Säule und das Fundament der Wahrheit“ (1 Tim 3, 15),<ref>Die Bibelzitate sind der Einheitsübersetzung entnommen. Die Konzilsdokumente werden wie folgt zitiert: Apostolicam actuositatem (AA), Ad gentes (AG), Dei Verbum (DV), Gaudium et spes (GS), Lumen gentium (LG), Perfectæ caritatis (PC), Sacrosanctum Concilium (SC). Denzinger- Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, wird mit DH angegeben. KKK steht für Katechismus der Katholischen Kirche und PL für Patrologia Latina.</ref> die andere den einzelnen Gläubigen, der durch die Sakramente der Initiation zur Kirche gehört und der – besonders durch die regelmäßige Feier der Eucharistie – an ihrem Glauben und ihrem Leben teilhat. Auf der einen Seite bezieht sich der „Sensus fidei“ auf die persönliche Fähigkeit des Gläubigen, innerhalb der Gemeinschaft der Kirche die Wahrheit des Glaubens zu erkennen. Auf der anderen Seite bezieht sich der „Sensus fidei“ auf eine gemeinschaftliche und kirchliche Wirklichkeit: den Instinkt des Glaubens der Kirche selbst, durch den sie ihren Herrn erkennt und sein Wort verkündet. Der „Sensus fidei“ in diesem Sinn spiegelt sich darin, dass die Getauften im grundlegenden Festhalten an einer Glaubenslehre oder einem Element der christlichen Praxis übereinstimmen. Diese Übereinstimmung („Consensus“) spielt eine entscheidende Rolle in der Kirche: der „Consensus fidelium“ ist ein sicheres Kriterium um zu entscheiden, ob eine bestimmte Lehre oder Praxis zum apostolischen Glauben gehört.<ref>In ihrem Dokument Die Interpretation der Dogmen hat die Internationale Theologische Kommission über den „Sensus fidelium“ als jenes „innere Gespür“ gesprochen, „durch welches das Volk Gottes … in der Verkündigung nicht das Wort von Menschen, sondern Gottes Wort erkennt, bejaht und unverbrüchlich festhält“. (C, II, 1). Das Dokument hat auch die Rolle des „Consensus fidelium“ in der Interpretation der Dogmen hervorgehoben (C, II, 4).</ref> Im vorliegenden Dokument benutzen wir den Ausdruck „Sensus fidei fidelis“, um uns auf die persönliche Fähigkeit des Gläubigen zu beziehen, in Sachen des Glaubens ein richtiges Urteil zu treffen, und den Ausdruck „Sensus fidei fidelium“, um uns auf den der Kirche eigenen Instinkt des Glaubens zu beziehen. Je nach Kontext bezieht sich „Sensus fidei“ entweder auf das Erstere oder auf das Letztere, und in letzterem Fall wird der Begriff „Sensus fidelium“ ebenfalls benutzt.

4. Die Bedeutung des „Sensus fidei“ im Leben der Kirche wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil stark hervorgehoben. Das Konzil verdrängte das Zerrbild, es gäbe eine aktive Hierarchie und passive Laien – vor allem die Vorstellung von einer strengen Trennung zwischen einer lehrenden Kirche (Ecclesia docens) und einer lernenden Kirche (Ecclesia discens) – und lehrte, dass alle Getauften auf ihre jeweils eigene Weise an den drei Ämtern Christi als Prophet, Priester und König teilhaben. Im Besonderen lehrte es, dass Christus sein prophetisches Amt nicht nur durch die Hierarchie, sondern auch durch die Laien vollzieht.

5. In der Rezeption und Anwendung der Konzilslehren über dieses Thema ergeben sich jedoch viele Fragen, vor allem in Bezug auf Kontroversen, die verschiedene Punkte der Lehre oder der Moral betreffen. Was genau ist der „Sensus fidei“ und wie kann er festgestellt werden? Welches sind die biblischen Quellen dieses Begriffs und wie wirkt der „Sensus fidei“ in der Tradition des Glaubens? In welcher Beziehung steht der „Sensus fidei“ zum kirchlichen Lehramt des Papstes und der Bischöfe sowie zur Theologie?<ref> In ihrem kürzlich erschienenen Dokument mit dem Titel Theologie heute: Perspektiven, Prinzipien und Kriterien (2012) hat die Internationale Theologische Kommission den „Sensus fidei“ als einen grundlegenden locus oder Bezugspunkt für die Theologie bezeichnet (Nr. 35).</ref> Welches sind die Bedingungen für eine authentische Ausübung des „Sensus fidei“? Ist der „Sensus fidei“ etwas anderes als die mehrheitliche Meinung der Gläubigen zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort und falls ja, wie unterscheidet er sich dann von Letzterem? All diese Fragen erfordern Antworten, wenn der Begriff des „Sensus fidei“ in der heutigen Kirche vollständiger verstanden und mit größerem Vertrauen angewendet werden soll.

6. Der vorliegende Text hat nicht die Absicht, eine vollständige Darstellung des „Sensus fidei“ zu geben, sondern er will einfach einige wichtige Aspekte dieses wesentlichen Begriffs klarstellen und vertiefen, um gewisse Fragen vor allem im Hinblick darauf zu beantworten, wie der wirkliche „Sensus fidei“ in kontroversen Situationen festgestellt werden kann, wenn etwa Spannungen zwischen dem kirchlichen Lehramt und solchen Meinungen bestehen, die behaupten, den „Sensus fidei“ zum Ausdruck zu bringen. Entsprechend werden zuerst die biblischen Quellen für den Begriff des „Sensus fidei“ betrachtet sowie die Art und Weise, wie sich diese Vorstellung in der Geschichte und der Tradition der Kirche entwickelt und dort gewirkt hat (Kapitel 1). Als Nächstes wird das Wesen des „Sensus fidei fidelis“ zusammen mit seinen Manifestationen im persönlichen Leben des Gläubigen betrachtet (Kapitel 2). Das Dokument wird dann über den „Sensus fidei fidelium“ nachdenken, also über den „Sensus fidei“ in seiner kirchlichen Form, und dabei zunächst seine Rolle in der Entwicklung der christlichen Lehre und Praxis und dann seine Beziehung jeweils zum Lehramt und zur Theologie sowie auch seine Bedeutung für den ökumenischen Dialog betrachten (Kapitel 3). Schließlich wird es versuchen, Dispositionen auszumachen, die für eine authentische Teilhabe am „Sensus fidei“ notwendig sind – sie bilden Kriterien für das Erkennen eines echten „Sensus fidei“ – sowie über einige Anwendungen seiner Ergebnisse auf das konkrete Leben der Kirche nachdenken (Kapitel 4).

Kapitel 1: Der „Sensus fidei“ in Schrift und Tradition

7. Der Ausdruck „Sensus fidei“ findet sich weder in der Schrift noch in der offiziellen Lehre der Kirche bis zum Zweiten Vatikanum. Die Vorstellung jedoch, dass die Kirche als Ganzes in ihrem Glauben unfehlbar ist, da sie Leib und Braut Christi ist (vgl. 1 Kor 12, 27; Eph 4, 12; 5,21–32; Offb 21, 9) und dass alle ihre Glieder eine Salbung haben, die sie lehrt (vgl. 1 Joh 2, 20.27), da sie mit dem Geist der Wahrheit ausgestattet sind (vgl. Joh 16, 13), ist vom Beginn der Christenheit sichtbar. Das vorliegende Kapitel wird die Hauptlinien der Entwicklung dieser Vorstellung zunächst in der Heiligen Schrift und dann in der späteren Geschichte der Kirche umreißen.

1. Biblische Lehre

a) Glaube als Antwort auf das Wort Gottes

8. Im gesamten Neuen Testament ist der Glaube die fundamentale und entscheidende Antwort der Menschen auf das Evangelium. Jesus verkündet das Evangelium, um die Menschen zum Glauben zu bringen: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 15) Paulus erinnert die frühen Christen an seine apostolische Verkündigung über den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, um ihren Glauben zu erneuern und zu vertiefen: „Ich erinnere euch, Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündet habe. Ihr habt es angenommen; es ist der Grund, auf dem ihr steht. Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet, wenn ihr an dem Wortlaut festhaltet, den ich euch verkündet habe. Oder habt ihr den Glauben vielleicht unüberlegt angenommen?“ (1 Kor 15,1–2) Das Verständnis des Glaubens im Neuen Testament wurzelt im Alten Testament und vor allem im Glauben Abrahams, der vollkommen auf Gottes Verheißungen vertraute (Gen 15, 6; vgl. Röm 4, 11.17). Der Glaube ist eine freie Antwort auf die Verkündigung des Wortes Gottes und als solcher eine Gabe des Heiligen Geistes, die von denen empfangen wird, die wahrhaft glauben (vgl. 1 Kor 12, 3). Der „Gehorsam des Glaubens“ (Röm 1, 5) ist die Folge von Gottes Gnade, die die Menschen befreit und sie zu Gliedern der Kirche macht (Gal 5, 1.13).

9. Das Evangelium ruft den Glauben hervor, weil es nicht einfach die Vermittlung von religiöser Information ist, sondern die Verkündigung des Wortes Gottes und die „Kraft Gottes, die jeden rettet“, die wahrhaft empfangen werden muss (Röm 1,16–17; vgl. Mt 11, 15; Lk 7,22 [Jes 26, 19; 29, 18; 35,5–6; 61,1–11]). Es ist das Evangelium von der Gnade Gottes (Apg 20, 24), die „Offenbarung jenes Geheimnisses“ Gottes (Röm 16, 25) und „das Wort der Wahrheit“ (Eph 1, 13). Das Evangelium hat einen wesentlichen Inhalt: das Kommen des Reiches Gottes, die Auferstehung und Verherrlichung des gekreuzigten Jesus Christus, das Geheimnis der Erlösung und Glorifizierung durch Gott im Heiligen Geist. Das Evangelium hat einen starken Inhalt: Jesus selbst, das Wort Gottes, der seine Apostel und ihre Jünger aussendet, und es nimmt die direkte Form durch Worte und Taten inspirierter und autorisierter Verkündigung an. Das Evangelium zu empfangen, erfordert eine Antwort der ganzen Person, „mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“ (Mk 12, 31). Das ist die Antwort des Glaubens, der bedeutet: „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Heb 11, 1).

10. „Glaube ist sowohl ein Akt des Vertrauens als auch des Bekennens. ,Fides quae‘ und ,Fides qua‘ sind untrennbar miteinander verbunden; denn Vertrauen ist die Zustimmung zu einer Botschaft mit einem klaren Inhalt, und das Bekenntnis kann nicht auf ein reines Lippenbekenntnis reduziert werden, sondern muss aus dem Herzen kommen.“<ref>Theologie heute, Nr. 13.</ref> Das Alte und das Neue Testament zeigen deutlich, dass Form und Inhalt des Glaubens zusammengehören.

b) Die persönliche und die kirchliche Dimension des Glaubens

11. Die Heilige Schrift zeigt, dass die persönliche Dimension des Glaubens in die kirchliche Dimension eingebunden ist; es finden sich sowohl Formen der ersten Person Plural als auch der ersten Person Singular: „wir glauben“ (vgl. Gal 2, 16) und „ich glaube“ (vgl. Gal 2,19–20). In seinen Briefen begreift Paulus den Glauben der Gläubigen sowohl als persönlich als auch als kirchlich. Er lehrt, dass jeder, der bekennt, „,Jesus ist der Herr!‘ … aus dem Heiligen Geist redet“ (1 Kor 12, 3). Der Heilige Geist gliedert jeden Gläubigen in den Leib Christi ein und gibt ihm oder ihr eine besondere Rolle zum Aufbau der Kirche (vgl. 1Kor 12,4–27). Im Brief an die Epheser ist das Bekenntnis des einen und einzigen Gottes mit einem Glaubensleben in der Kirche verbunden: „Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist“ (Eph 4,4–6).

12. In seiner persönlichen und kirchlichen Dimension hat der Glaube die folgenden wesentlichen Aspekte:

I.) Glaube erfordert Buße. In der Verkündigung der Propheten Israels und Johannes des Täufers (vgl. Mk 1, 4) sowie in der Verkündigung der Frohen Botschaft durch Jesus selbst (vgl. Mk 1,14 f.) und in der Sendung der Apostel (Apg 2,38–42; 1 Thess 1,9f.) bedeutet Buße das Bekennen seiner Sünden und den Beginn eines neuen Lebens, das in der Gemeinschaft des Bundes mit Gott gelebt wird (vgl. Röm 12,1 f.).

II.) Glaube wird sowohl durch Gebet als auch durch Gottesdienst („leiturgia“) gestärkt und ausgedrückt. Das Gebet kann verschiedene Formen annehmen – Bitten, Flehen, Lobpreis, Danksagung –, und das Bekenntnis des Glaubens ist eine besondere Form des Gebets. Liturgisches Gebet und besonders die Feier der Eucharistie war von jeher wesentlich für das Leben der christlichen Gemeinschaft (vgl. Apg 2, 42). Das Gebet findet sowohl in der Öffentlichkeit statt (vgl. 1 Kor 14) als auch privat (vgl. Mt 6,5 f.). Für Jesus bringt das Vaterunser (Mt 6,9–13; Lk 11,1–4) das Wesen des Glaubens zum Ausdruck. Es ist ein „kurzer Inbegriff des ganzen Evangeliums“.<ref> Tertullian, De oratione, I, 6.</ref> Bezeichnenderweise benutzt es die Worte „wir“, „uns“ und „unser“.

III.) Glaube bringt Wissen. Derjenige, der glaubt, vermag die Wahrheit Gottes zu erkennen (vgl. Phil 3,10 f.). Dieses Wissen entspringt dem Nachdenken über die Gotteserfahrung, die auf der Offenbarung gründet und in der Gemeinschaft der Gläubigen geteilt wird. Das bezeugt die Weisheitstheologie sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments (Ps 111, 10; vgl. Spr 1, 7; 9, 10; Mt 11, 27; Lk 10, 22). IV.) Der Glaube führt zum Bekenntnis („marturia“). Beseelt durch den Heiligen Geist wissen die Gläubigen, wem sie Glauben geschenkt haben (vgl. 2 Tim 1,1 2), und vermögen, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt (vgl. 1 Petr 3, 15), dank der prophetischen und apostolischen Verkündigung des Evangeliums (vgl. Röm 10,9 f.). Sie tun das in ihrem eigenen Namen; doch sie tun es aus der Gemeinschaft der Gläubigen heraus.

V.) Glaube bedingt Vertrauen. Auf Gott vertrauen heißt, sein ganzes Leben auf Gottes Verheißung zu gründen. In Heb 11 werden viele Gläubige des Alten Testaments als Glieder eines langen Festzugs durch Zeit und Raum zu Gott im Himmel erwähnt, der von Jesus, dem „Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12, 2), angeführt wird. Christen sind Teil dieses Festzugs, sie teilen dieselbe Hoffnung und Überzeugung (Hebr 11, 1) und sind bereits von „einer solchen Wolke von Zeugen umgeben“ (vgl. Hebr 12, 1).

VI.) Glaube schließt Verantwortung ein und vor allem Nächstenliebe und Dienst („Diakonia“). Die Jünger werden „an ihren Früchten“ erkannt werden (Mt 7, 20). Die Früchte gehören wesentlich zum Glauben, denn der Glaube, der vom Hören auf das Wort Gottes kommt, erfordert Gehorsam gegenüber Seinem Willen. Der Glaube, der gerecht macht (Gal 2, 16), ist Glaube, „der in der Liebe wirksam ist“ (Gal 5, 6; vgl. Jak 2,21–24). Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern ist das Beurteilungskriterium für die Liebe zu Gott (1 Joh 4, 20).

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

<references />