Levate capita (Wortlaut)
Levate capita |
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von Papst
Pius XII.
das Heil, die Armen und Bedürftigen
24. Dezember 1952
(Quelle: Herder-Korrespondenz, Herder Verlag, 7. Jahrgang 1952/53; Viertes Heft, Januar 1953, S. 166-172: Weihnachtsansprache in einer Überarbeitung der Übersetzung der vatikanischen Pressestelle)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Inhaltsverzeichnis
- 1 Die christliche Weihnacht als große Hoffnung des Heils
- 2 Der Leidenschor der Armen und Bedrückten
- 3 Das Heil kann nicht von der Produktion und Organisation allein kommen
- 4 Zwei Grundbegriffe des Heilswirkens Gottes
- 5 Zwei falsche Wege
- 6 Das soziale Leben kann nicht wie eine riesenhafte industrielle Maschine konstruiert werden
- 7 Die "Entpersönlichung" des modernen Menschen
- 8 Wirkungen des vielfachen Verkennens der menschlichen Person
- 9 Die gegenseitige Solidarität der Menschen und der Völker
- 10 Die Leiden des Gewissens in der heutigen Gesellschaft
- 11 Geburtenfrage und Auswanderungsproblem
- 12 Bedrückungen und Verfolgungen
- 13 Die Leiden der Armen
- 14 Jesus und die Armen
- 15 Die Hilfe für die Bedürftigen
- 16 Schlussmahnung
Die christliche Weihnacht als große Hoffnung des Heils
"Levante capita vestra: ecce appropinquat redemptio vestra. Erhebt euer Haupt! Eure Erlösung naht" (Luk 21,28). Diese feierliche Ankündigung des göttlichen Meisters für den Jüngsten Tag, da Er wiederkommen wird "mit großer Macht und Herrlichkeit" (ebd. 27), um als höchster Richter das Gespräch mit den Menschen wieder aufzunehmen - dieses Wort will in der Weihnachtsliturgie die Menschen mahnen und einladen, jeden Schleier der Angst von der Stirn zu schütteln und im Herzen die große Heilshoffnung aufzunehmen, die am Weihnachtsfest immer von neuem von der armen Krippe in Bethlehem ausgeht, um "die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes" zu verkünden (vgl. Tit. 3, 4).
Eben diese Aufforderung, den Blick zur Sonne der Hoffnung zu erheben, wollen Wir Uns heute zu eigen machen als väterlichen Segensgruß an euch alle, geliebte Söhne und Töchter. Das traute Geheimnis der christllichen Weihnacht möge euch ein Ansporn sein, zu vollenden, was das göttliche Kind in seiner Geburt begonnen hat; der geheimnisvolle Glanz der heiligen Nacht leuchte in eurer Seele wider als Bote sicherer Hoffnung und echten Trostes, nach denen bei den sie mehr denn je dürstet, und die ihr beide, himmlische Kleinode, auf der dürren Erde vergebens sucht.
Der Leidenschor der Armen und Bedrückten
Aber Unser Segensgruß richtet sich vor allem an die Armen, an die Bedrängten, an jene, die aus irgendeinem Grund in Sorge und Not sind und deren Leben geradezu abhängt vom Hauch der Hoffnung, die man ihnen einflößt, vom Maß der Hilfe, die ihnen zuteil wird.
Dieser geliebten Söhne sind unzählige! Der Schmerzenschor der Gebete und Hilferufe ist nicht, wie die Zahl der seit Beendigung des Weltkriegs verflossenen Jahre erhoffen ließ, geringer geworden; er dauert an und wird bisweilen noch stärker angesichts der vielfachen dringenden Nöte; aus allen Teilen der Welt, kann man sagen, kommt er auf Uns zu und zerreißt Unser Herz, so viel Not und Tränen verrät er. Eine traurige Erfahrung hat Uns längst belehrt: wenn auch aus einem Land Nachrichten von der Besserung der allgemeinen Lage eintreffen, muss man doch ständig auf die Meldung neuer Drangsale aus einem anderen, mit neuem Elend und neuer Not, vorbereitet sein. Aber wie sehr Uns dann auch die unaufhörlichen Leiden so vieler Unserer Söhne das Herz schwer machen mögen - das Wort des göttlichen Meisters: "Euer Herz bange und zage nicht! ... , ich gehe hin und komme wieder zu euch" (Joh 14,27-28), treibt Uns mit Macht an, Unser Möglichstes zu tun, um Trost und Hilfe zu spenden.
Wahr ist, dass wir mit dem Verlangen, vorzusorgen und zu helfen, nicht allein stehen. Öffentliche und private Stellen arbeiten Tag für Tag unzählige Vorschläge und Pläne aus, um dem Elend vorzubeugen und abzuhelfen. Viele der Vorschläge, die einzelne oder Gruppen Uns unterbreiten, zeigen zweifellos den guten Willen ihrer Urheber; aber in ihrer seltsamen Überfülle und in ihren häufigen Widersprüchen offenbaren sie auch einen Zustand allgemeiner Ratlosigkeit.
Das Heil kann nicht von der Produktion und Organisation allein kommen
Man könnte sagen, die Menschheit von heute habe es zwar verstanden, unter Ausnutzung ungeheurer Naturkräfte die wunderbare und verwickelte Maschine der modernen Welt zu schaffen; sie zeige sich jedoch nun außerstande, ihren Lauf zu meistern, wie wenn das Steuer ihrer Hand entglitten wäre und sie deshalb Gefahr liefe, von jenen Kräften überwältigt und zermalmt zu werden. Ein solches Versagen der Steuerung müsste schon an sich den Menschen, die seine Opfer sind, zu verstehen geben, dass sie das Heil nicht allein von den Technikern der Erzeugung und Planung erwarten können. Nur wenn das Werk der letzteren sich darauf richtet und beschränkt, die wahren Menschenwerte zu heben und zu stärken, vermag es, und dann in bemerkenswertem Ausmaß, zur Lösung der großen und umfassenden Probleme, die die Welt bedrängen, beizutragen; aber unter keinen Umständen - und wie sehr wünschen Wir, dass alle jenseits und diesseits des Ozeans sich davon Rechenschaft ablegen würden! - wird es imstande sein, eine Welt ohne Not zu schaffen.
Indessen muss die Menschheit bei der so drängenden Aufgabe, den Notleidenden Hilfe zu bringen, ihren Blick auf das Tun Gottes richten, um von seinem unendlich weisen und wirksamen Handeln zu lernen, wie den Menschen zu helfen ist und wie sie von ihren Leiden erlöst werden können. Nun wirft gerade das Weihnachtsgeheimnis darauf ein wunderbares Licht. Worin besteht denn das Wesen dieses unaussprechlichen Geheimnisses, wenn nicht in der Tat, die Gott unternommen und Schritt für Schritt zu Ende geführt hat, um seinem Geschöpf zu Hilfe zu kommen, um es aus dem Abgrund des tiefsten und allgemeinsten Elends wieder emporzuheben, in das es gestürzt war: das Elend der Sünde und der Entfremdung vom höchsten Gut?
Zwei Grundbegriffe des Heilswirkens Gottes
Schaut also in demütiger und eindringender Betrachtung, wie Gott sein Erlösungswerk ausführt. Zwei Grundbegriffe, gleichsam zwei Regeln hat seine unendliche Weisheit aufgestellt, die die Ausführung seines Erlösungsplanes richten und leiten und ihr das unverwechselbare Merkmal der Harmonie und der Wirkkraft aufprägen, das der Handlungsweise Gottes eigen ist.
Vor allem tastet Gott die gültige, von ihm in der Schöpfung festgelegte Ordnung nicht an, sondern lässt die allgemeinen Gesetze, welche die Welt und die - wenngleich durch den Sündenfall geschwächte - menschliche Natur beherrschen, in ihrer ganzen Kraft bestehen. An dieser Ordnung, die ja auch zum Heil des Geschöpfes getroffen ist, ändert er nichts und nimmt nichts von ihr zurück, sondern er fügt ihr einen neuen Bestandteil ein, um sie zu vervollständigen und zu erhöhen: die Gnade, in deren übernatürlichem Licht das Geschöpf sie besser erkennen und in deren übermenschlicher Kraft es sie besser befolgen kann.
Um sodann die allgemeine Ordnung in jedem konkreten Einzelfall, der sich nie mit anderen völlig deckt, wirksam zu machen, stellt Gott eine persönliche, unmittelbare Verbindung zu den Menschen her und lässt sie im Geheimnis der Menschwerdung Wirklichkeit werden, durch das die zweite Person der Heiligsten Dreifaltigkeit Mensch unter Menschen wird; sie schlägt also gleichsam eine Brücke über den unendlichen Abstand zwischen der hilfreichen göttlichen Majestät und dem hilfsbedürftigen Geschöpf und bringt die unveränderliche Geltung des allgemeinen Gesetzes in Einklang mit den persönlichen Bedürfnissen der Einzelnen.
Wer diese unaussprechliche Harmonie des göttlichen Wirkens, diesen Ausdruck der Weisheit, Allmacht und Liebe Gottes betrachtet, kann nicht umhin, in grenzenlosem Vertrauen auszurufen: "O König der Völker ... der du beides zur Einheit verbindest. Komm und rette den Menschen" (Brev. Rom., 22. Dez.); er wird auf sie als Vorbild hinweisen, wenn es im irdischen Bereich um eine Hilfstat für die menschliche Not geht.
Zwei falsche Wege
Leider muss man wohl sagen, dass die heutige Menschheit, zumal angesichts sehr ausgedehnter Notstände, nicht mehr fähig ist, diese Zweiheit in der Einheit, diese notwendige Angleichung der allgemeinen Ordnung an die konkreten, immer verschiedenen Verhältnisse, nicht nur der Einzelmenschen, sondern auch der Völker, die einander helfen wollen, zu verwirklichen. Entweder erwartet man die Rettung von irgendeiner starr gleichförmigen und unbeugsamen, die ganze Welt umfassenden Ordnung, einem System, das mit der Sicherheit einer erprobten Medizin wirken soll, einer neuen, in kalte theoretische Artikel gefassten sozialen Formel; oder aber man vertraut sie unter Zurückweisung solcher allgemeinen Rezepte den Urkräften des Lebenstriebs oder günstigstenfalls den Gefühlsregungen des Einzelmenschen oder der Völker an, ohne sich darum zu kümmern, ob nicht daraus die Auflösung der bestehenden Ordnung folgt, und trotzdem es klar ist, dass die Rettung nie aus dem Chaos hervorgehen kann. Beide Wege sind falsch und spiegeln nicht die Weisheit Gottes, des ersten und vorbildlichen Helfers in der Not, wider. Das Heil von starren Regeln zu erwarten, die mechanisch auf die gesellschaftliche Ordnung angewandt werden, ist Aberglaube, denn es wird ihnen dann eine Art Wunderkraft zugeschrieben, die sie nicht besitzen können; die Hoffnung aber ausschließlich auf die schöpferischen Lebenskräfte eines jeden Einzelmenschen zu setzen, widerstreitet den Plänen Gottes, der ein Herr der Ordnung ist.
Auf die eine wie die andere Fehllösung möchten Wir jene aufmerksam machen, die sich als Helfer der Völker anbieten, besonders aber auf den Aberglauben, nach dem die Rettung ohne weiteres aus der Organisation der Menschen und Dinge in einer engen, zu einem Höchstmaß an Produktion fähigen Einheit hervorgehen soll.
Wenn es gelingt, so denken sie, die Menschenkräfte und die Möglichkeiten der Natur zu einem einzigen organischen Ganzen zusammenzufassen, das darauf angelegt ist, die höchste und stets wachsende Produktionskapazität zu gewährleisten, und dies vermittels einer mit peinlichster Sorgfalt sowohl in den großen Linien wie in den kleinsten Einzelheiten ausgeklügelten und angewandten Organisation, so werden begehrenswerte Güter jeder Art das Ergebnis sein: Wohlstand, Sicherheit der Einzelnen, Friede.
Das soziale Leben kann nicht wie eine riesenhafte industrielle Maschine konstruiert werden
Man weiß, woher der Technizismus der sozialen Ideen stammt: aus den Riesenunternehmungen der modernen Industrie. Wir beabsichtigen hier nicht, ein Urteil über die Notwendigkeit, den Nutzen, die Nachteile solcher Formen der Gütererzeugung abzugeben. Ohne Zweifel sind sie wunderbare Erzeugnisse der Erfindungs- und Planungskraft des menschlichen Geistes. Mit Recht wird die Welt zur Bewunderung dieser Unternehmungen aufgefordert, denen es nach reiflich überlegten Grundsätzen gelingt, in Herstellung und Verwaltung das Wirken von Menschen und Dingen einander zuzuordnen und zusammenzuballen. Kein Zweifel auch, dass ihre fest gefügte Ordnung und nicht selten die ganz neue und eigenartige Schönheit ihrer äußeren Formen dem gegenwärtigen Zeitalter Anlass zu berechtigtem Stolz geben. Was Wir dagegen in Abrede stellen müssen, ist, dass sie allgemeinhin als Vorbild für die Bildung, Gestaltung und Regelung des modernen sozialen Lebens gelten können und müssen.
Zunächst ist es eine klare Weisheitsregel, dass jeder Fortschritt nur dann wirklich echt ist, wenn er neue Errungenschaften den alten, neue Güter denen der Vergangenheit anzugliedern weiß, mit einem Wort, wenn er die Erfahrung zu verwerten versteht. Nun lehrt uns die Geschichte, dass andere Formen der Volkswirtschaft immer einen aufbauenden Einfluss auf das ganze gesellschaftliche Leben gehabt haben, einen Einfluss, aus dem die wesentlichen Einrichtungen, die Familie, der Staat, das Privateigentum, aber auch solche Einrichtungen, die sich kraft freien Zusammenschlusses bildeten, Vorteil gezogen haben. Als Beispiel führen Wir die unbestrittenen Vorteile an, die sich dort zeigten, wo der bäuerliche Betrieb oder das Handwerk vorherrschten.
Ohne Zweifel hat auch das moderne industrielle Unternehmen wohltätige Wirkungen gehabt; aber die Frage, die sich heute stellt, ist diese: wird eine Welt, die nur die Wirtschaftsform eines ungeheuren produktiven Organismus kennt, gleichermaßen befähigt sein, einen günstigen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben im allgemeinen wie auf jene drei grundlegenden Einrichtungen im besonderen auszuüben? Wir müssen antworten, dass die unpersönliche Art einer solchen Weh im Gegensatz steht zu der ganz persönlichen Anlage jener Einrichtungen, die der Schöpfer der menschlichen Gesellschaft gegeben hat. Tatsächlich haben Ehe und Familie, Staat und Privateigentum von Natur die Tendenz, den Menschen als Persönlichkeit zu formen und zu entwickeln, ihn zu schützen und zu befähigen, in freiwilliger Mitarbeit und persönlicher Verantwortung zur Erhaltung und zur ebenfalls persönlichen - Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens beizutragen. Die Schöpferweisheit Gottes ist also jenem System unpersönlicher Einheit fremd, das sich gegen die menschliche Persönlichkeit, Ursprung und Zweck des gesellschaftlichen Lebens, Bild Gottes ihrem innersten Wesen nach, vergeht.
Die "Entpersönlichung" des modernen Menschen
Leider handelt es sich dabei gegenwärtig nicht mehr um Hypothesen und Zukunftsbilder, denn es ist bereits traurige Wirklichkeit: wo der Dämon der Organisation in den Menschengeist einbricht und ihn tyrannisiert, zeigen sich sofort die Anzeichen der falschen, anormalen Richtung einer sozialen Entwicklung.
In vielen Ländern ist der moderne Staat auf dem Wege, zu einer riesenhaften Verwaltungsmaschine zu werden. Er legt seine Hand auf fast das gesamte Leben: die ganze Stufenleiter der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Bezirke, bis zu Geburt und Tod, will er zum Gegenstand seiner Verwaltung machen. Kein Wunder, wenn in dieser Atmosphäre des Unpersönlichen, die das ganze Leben zu durchdringen und zu umhüllen sucht, der Sinn für das Gemeinwohl im Gewissen der Einzelnen schwindet und der Staat immer mehr den Charakter einer sittlichen Gemeinschaft seiner Bürger verliert.
In dieser Schau werden Ursprung und Ausgangspunkt der Strömung klar, die den modernen Menschen in einen Zustand der Angst versetzt: seine "Entpersönlichung". Gesicht und Name sind ihm weitgehend genommen; in vielen der wichtigsten Lebensbetätigungen ist er zum bloßen Objekt der Gesellschaft herabgewürdigt, die sich ihrerseits wieder in ein unpersönliches System, eine kalte Organisierung von Kräften umwandelt.
Wirkungen des vielfachen Verkennens der menschlichen Person
Wer über diesen Stand der Dinge noch Zweifel hegen sollte, wende den Blick auf die volkreiche Welt des Elends und richte an die so verschiedenartigen Gruppen der Bedürftigen die Frage, welche Antwort ihnen die Gesellschaft in ihrer zunehmenden Verkennung der Persönlichkeit zu geben pflegt. Man frage den Durchschnittsarmen ohne jegliche Hilfsquelle, eine gewiss nicht seltene Erscheinung in Stadt und Land; man frage den Notleidenden Familienvater, den ständigen Kunden des Wohlfahrtsamtes, dessen Kinder nicht das ferne, ungewisse Eintreten eines immer zukünftigen Goldenen Zeitalters abwarten können. Man frage auch ein ganzes Volk auf niedrigerem oder sehr tiefem Lebensstand, das in der Völkerfamilie neben Brüdern in Wohlstand oder auch Überfluss seinen Platz einnimmt und von einer internationalen Konferenz zur anderen eine anhaltende Besserung seiner Lage erwartet. Was antwortet die heutige Gesellschaft oft auch dem Arbeitslosen am Schalter des Arbeitsamtes, der vielleicht gewohnheitsmäßig auf eine neue Enttäuschung gefasst ist, der sich aber nicht mit dem unverdienten Los abfindet, als unnützes Wesen zu gelten? Und wie lautet die Antwort an ein Volk, dem es bei allen Bemühungen und Anstrengungen nicht gelingt, sich von dem lähmenden Schraubstock der Massenarbeitslosigkeit zu befreien?
Ihnen allen wiederholt man seit langem unaufhörlich, man könne ihren Fall nicht als persönlichen und als Einzelfall behandeln; die Lösung müsse gefunden werden in einer allgemeinen Neuordnung, einem allumfassenden System, das ohne wesentlichen Nachteil für die Freiheit, unter immer stärkerer Ausnützung des technischen Fortschritts Menschen und Dinge zu einer einheitlicheren und wachsenden Wirkkraft führen werde. Wenn dieses System einmal verwirklicht sei, dann - so behauptet man - werden sich die Wohlfahrt aller, eine ständig steigende Lebenshaltung und Vollbeschäftigung überall von selbst ergeben.
Auch wenn man keineswegs glauben darf, der immer wiederkehrende Verweis auf die künftige, mächtige Organisation von Menschen und Dingen sei nur die armselige Ausflucht derer, die nicht helfen wollen, wenn man vielmehr überzeugt ist, es handle sich um ein festes und aufrichtiges Versprechen, das tatsächlich Vertrauen wecken kann, so sieht man doch nicht, auf was für ernsthafte Grundlagen es sich stützen könnte; denn die bisher gemachten Erfahrungen führen eher zu Skepsis gegenüber dem erwählten System. Dieser Zweifel ist übrigens auch wegen einer Art Zirkelschlusses berechtigt, insofern das ins Auge gefasste Ziel und die angewandte Methode einander nachlaufen, ohne sich jemals zu erreichen und zusammenzufinden; in der Tat, wo man Vollbeschäftigung durch eine ständig steigende Lebenshaltung sichern will, hat man Grund, sich besorgt zu fragen, wie weit denn die Steigerung gehen könne, ohne zur Katastrophe und vor allem zu Massenarbeitslosigkeit zu führen. Es scheint also, dass man nach einem möglichst hohen Grad der Beschäftigung streben, aber sich gleichzeitig bemühen muss, deren Beständigkeit zu sichern.
Einem solchen, von dem Gespenst jenes unlösbaren Widerspruchs beherrschten Ausblick kann also kein Vertrauen entgegengebracht werden; und man kann sich seiner Schraube nicht entwinden, wenn man dabei bleibt, einzig auf den Faktor der höchsten Produktivität zu zählen. Es ist notwendig, die Begriffe Lebenshaltung und Verwendung der Arbeitskraft nicht mehr als rein quantitative Faktoren zu betrachten, sondern vielmehr als menschliche Werte im vollen Sinne des Wortes.
Wer also Abhilfe für die Nöte der Einzelnen und der Völker schaffen will, darf das Heil nicht von einem unpersönlichen System von Menschen und Dingen erwarten, auch nicht, wenn es in technischer Hinsicht mächtig entwickelt ist. Jeder Plan, jedes Programm muss von dem Grundsatz getragen sein, dass der Mensch als Träger, Hüter und Förderer der menschlichen Werte über den Dingen, auch über den Anwendung des technischen Fortschritts steht und dass man vor allem die Grundformen der gesellschaftlichen Ordnung, von denen Wir vorhin gesprochen haben, vor einer ungesunden "Entpersönlichung" bewahren und sie zur Schaffung und Entfaltung menschlicher Beziehungen verwerten muss. Werden die sozialen Kräfte auf dieses Ziel hingelenkt, so werden sie nicht nur eine ihnen natürliche Funktion erfüllen, sondern einen mächtigen Beitrag leisten zur Befriedigung der gegenwärtigen Bedürfnisse; denn sie haben die Aufgabe, die volle gegenseitige Solidarität der Menschen und Völker zu fördern.
Die gegenseitige Solidarität der Menschen und der Völker
Zum Aufbau der Gesellschaft auf der Grundlage dieser Solidarität und nicht hinfälliger und unbeständiger Systeme laden Wir ein. Diese Solidarität verlangt, dass die schreienden und aufreizenden Missverhältnisse in der Lebenshaltung der verschiedenen Gruppen innerhalb eines Volkes verschwinden. Zur Erreichung dieses Zieles soll dem äußeren Zwang die wirksame Betätigung des Gewissens vorgezogen werden: es wird den Luxusausgaben Grenzen zu setzen verstehen und gleicherweise die Minderbemittelten veranlassen, zuerst an das Notwendige und Nützliche, und wenn etwas übrig bleibt, an Ersparnisse zu denken. Die Solidarität der Menschen untereinander verlangt nicht nur im Namen brüderlicher Gesinnung, sondern allein schon des gegenseitigen Auskommens, dass man alle Möglichkeiten ausnützt, die bestehenden Arbeitsstellen zu halten und neue zu schaffen. Wer also in der Lage ist, Kapital zu investieren, der soll in Hinsicht auf das Gemeinwohl erwägen, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, solche Kapitalanlagen innerhalb der Grenzen der wirtschaftlichen Möglichkeiten in entsprechendem Maße und im gegebenen Augenblick nicht zu machen und sich mit leeren Ausreden herauszuhalten. Anderseits handelt auch jener gegen das Gewissen, der in selbstsüchtiger Ausnützung ihm zugefallener Beschäftigungen schuld daran ist, wenn andere keine Anstellung finden und arbeitslos werden. Wo aber die private Initiative unwirksam oder ungenügend ist, ist es Pflicht der öffentlichen Behörden, möglichst weitgehend durch gemeinnützige Unternehmungen Arbeitsplätze zu schaffen, sowie durch Rat und andere Unterstützung dem Arbeitsuchenden zu einem Arbeitsplatz zu verhelfen.
Unsere Aufforderung, Gesinnung und Verpflichtung der Solidarität wirksam zu machen, erstreckt sich jedoch auch auf die Völker als solche: Was Lebensstand und Beschäftigungsgrad betrifft, soll jedes Volk seine Möglichkeiten entfalten und zum entsprechenden Fortschritt anderer, weniger begünstigter Völker beitragen. Zwar würde selbst die vollkommenste Verwirklichung der intemationalen Solidarität schwerlich eine absolute Gleichheit der Völker schaffen können, dennoch ist es dringend notwendig, dass sie wenigstens so weit geübt wird, dass sich die heutige, von einem harmonischen Ausgleich weit entfernte Lage merklich ändert. Mit andern Worten, die Solidarität der Völker verlangt das Aufhören der ungeheuren Missverhältnisse in der Lebenshaltung und damit in den Kapitalanlagen und dem Produktivitätsgrad der menschlichen Arbeit.
Ein solches Ergebnis wird man aber nicht durch mechanische Regelung erreichen. Die menschliche Gesellschaft ist keine Maschine, und man darf sie nicht zu einer solchen machen, auch nicht auf wirtschaftlichem Gebiet. Man muss im Gegenteil immer wieder auf den Beitrag der menschlichen Person und die Eigenart der Völker als die natürliche Grundlage zurückgreifen. Von da wird man immer wieder ausgehen müssen, um das Ziel der Volkswirtschaft anzustreben, nämlich die Sicherung der ständigen Befriedigung mit materiellen Gütern und Diensten, die ihrerseits auf die Förderung der sittlichen, kulturellen und religiösen Verhältnisse hingeordnet sind. Darum sollten die Solidarität und das erwünschte bessere Verhältnis von Lebenshaltung und Arbeit sich nach verschiedenen, wenn auch verhältnismäßig großen Gebieten ordnen, wo die Natur und di,e geschichtliche Entwicklung der beteiligten Völker leichter eine gemeinsame Grundlage dafür bieten werden.
Die Leiden des Gewissens in der heutigen Gesellschaft
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind aber nicht die einzigen, unter denen der Mensch in der heutigen Gesellschaft leidet. Häufig tauchen im Zusammenhang mit ihnen Gewissensnöte auf, besonders für den Christen, der bestrebt ist, nach den Vorschriften des natürlichen und von Gott geoffenbarten Gesetzes zu leben. Das Gewissen, dem die Wiedergenesung und Rettung zum größten Teil anvertraut werden sollte, wird so von den Verfechtern der unpersönlichen Auffassung der Gesellschaft zu inneren Qualen verurteilt. Dies ist wohl der äußerste Abstand, den das Hilfswerk des Menschen in seiner Entfernung vom göttlichen Vorbild erreicht.
In der Tat gerät die moderne Gesellschaft, die alles vorhersehen und alles organisieren will, infolge ihrer mechanistischen Auffassung in Widerspruch mit dem, was Leben hat und was deshalb nicht den quantitativen Rechnungen unterliegen kann; genauer gesagt mit jenen Rechten, die der Mensch naturgemäß nur unter eigener persönlicher Verantwortung ausübt, nämlich als Urheber neuen Lebens, dessen hauptsächlicher Beschützer er immer bleibt. Derartige innere Konflikte zwischen System und Gewissen werden darum getarnt mit den Namen Geburtenfrage und Auswanderungsproblem.
Geburtenfrage und Auswanderungsproblem
Wenn die Eheleute beabsichtigen, den unanfechtbaren, vom Schöpfer aufgestellten Lebensgesetzen treu zu bleiben, oder wenn sie zur Wahrung dieser Treue sich von der Beengung in ihrer Heimat freizumachen suchen und dazu kein anders Mittel finden als Auswanderung - ehedem von Verlangen nach Gewinn nahegelegt, heute häufig durch die Not aufgedrängt -, dann stoßen sie wie gegen ein unerbittliches Gesetz auf die Maßnahmen der organisierten Gesellschaft, auf kühle Berechnung, die schon festgesetzt hat, wie viele Menschen ein Land unter bestimmten Umständen in der Gegenwart oder Zukunft ernähren kann oder darf. Und auf dem Wege vorbeugender Berechnungen sucht man auch die Gewissen zu mechanisieren. So sind da die öffentlichen Verfügungen über die Geburtenregelung, der Druck des Verwaltungsapparates der so genannten sozialen Sicherheit, der in gleichem Sinn auf die öffentliche Meinung ausgeübte Einfluss; und schließlich wird das natürliche Recht der Person, an der Auswanderung oder Einwanderung nicht gehindert zu werden, nicht anerkannt oder praktisch verneint unter dem Vorwand eines falsch verstandenen oder falsch angewandten Gemeinwohls, dem gesetzliche oder verwaltungsmäßige Vorkehrungen Rechtskraft und Geltung verleihen. Diese Beispiele genügen, um darzutun, wie die von kalter Berechnung beherrschte Organisation bei ihrem Versuch, das Leben zwischen die engen Reihen fester Tabellen einzuzwängen, als ob es ein statisches Phänomen wäre, zur Verletzung und Verneinung des Lebens selbst und seines Grundcharakters wird, der in dem unaufhörlichen Dynamismus besteht, den die Natur ihm gegeben hat und der sich in der mannigfaltigsten Stufenleiter der besonderen Umstände offenbart. Die Folgen sind schwer genug. Zahlreiche Briefe, die an Uns gelangen, sprechen von der seelischen Not guter und mutiger Christen, deren Gewissen durch den starren Unverstand einer in ihren Regelungen unbeugsamen Gesellschaft gemartert wird, die sich wie eine Maschine nach Berechnungen bewegt, aber erbarmungslos zermalmt und wegschreitet über Fragen, die die Einzelnen persönlich und tief in ihrem sittlichen Leben berühren.
Wir wollen sicher nicht leugnen, dass das eine oder andere Gebiet gegenwärtig durch eine relative Übervölkerung belastet ist. Wenn man sich aber aus der Verlegenheit helfen will mit der Formel, dass die Zahl der Menschen entsprechend der Volkswirtschaft geregelt werden müsse, so heißt das die Ordnung der Natur und die ganze an sie gebundene psychologische und sittliche Welt auf den Kopf stellen. Welch ein Irrtum wäre es, wollte man die Schuld an den gegenwärtigen Beengungen auf die Naturgesetze abschieben, wo sie doch offensichtlich von der mangelnden Solidarität der Menschen und Völker herrühren.
Bedrückungen und Verfolgungen
Die Gewissen leiden heutzutage auch unter anderen Bedrückungen. So dort, wo man den Eltern die Erzieher ihrer Kinder gegen ihre Überzeugung und gegen ihren Willen aufzwingt; oder wenn man den Zugang zur Arbeit oder zur Arbeitsstelle abhängig macht von der Zugehörigkeit zu bestimmten Parteien oder zu Organisationen, die ihren Ursprung im Arbeitsmarkt haben. Solche Diskriminierungen sind das Zeichen einer unrichtigen Auffassung der eigentlichen Aufgabe der gewerkschaftlichen Verbände und des ihnen eigentümlichen Zieles, nämlich der Wahrung der Interessen des Lohnarbeiters im Schoße der heutigen, immer anonymer und kollektivistischer gewordenen Gesellschaft. Ist es nicht der wesentliche Zweck der Gewerkschaften, in der Praxis durchzusetzen, dass der Mensch Subjekt und nicht Objekt der gesellschaftlichen Beziehungen ist; den Einzelnen in Schutz zu nehmen gegen die kollektive Unverantwortlichkeit anonymer Eigentümer; die Person des Arbeiters zu vertreten gegenüber jedem, der ihn nur als Produktionskraft von bestimmtem Preis betrachten möchte? Wie können sie es also für normal halten, dass die Verteidigung der persönlichen Rechte des Arbeiters immer mehr in die Hände einer anonymen Kollektivität gerät, die sich vermittels riesenhafter Organisationen monopolistischer Natur betätigt? Der auf diese Weise in seinen persönlichen Rechten verletzte Arbeiter wird die Bedrückung seiner Freiheit und seines Gewissens besonders schmerzlich empfinden müssen, da er sich wie von den Rädern einer gigantischen sozialen Maschine erfasst sieht.
Wenn jemand Unsere Besorgnis um die wahre Freiheit unbegründet finden sollte, da Wir Uns, wie Wir es tun, auf jenen Teil der Welt beziehen, den man die "freie Welt" zu nennen pflegt, so möge er bedenken, dass auch dort zuerst der eigentliche Krieg und dann der "kalte Krieg" die sozialen Beziehungen zwangsläufig in eine Richtung gedrängt haben, die unausbleiblich die Wahrnehmung der Freiheit einengt, während sich diese Tendenz in einem anderen Teil der Welt bis in die letzten Folgerungen voll entfaltet hat.
In weiten Gebieten, wo der Druck der absoluten Macht die Seelen und die Leiber bricht, ist die Kirche die erste, die dadurch schmerzliche Bedrängnis erleidet. Ihre Kinder sind Opfer einer dauernden unmittelbaren oder mittelbaren, bald offenen, bald versteckten Verfolgung. Alte Christenheiten oder Gemeinschaften, die durch den Eifer ihres Glaubens, durch den Ruhm ihrer heiligen Männer und Frauen, durch den Glanz ihrer Leistungen in wissenschaftlicher Theologie und christlicher Kunst und vor allem durch die Verbreitung der Nächstenliebe und der Zivilisation im Volk bekannt sind, sehen sich dem Ruin ihrer äußeren Größe nahe. Junge Christenheiten - hoffnungs- und verheißungsvoller Weinberg des Herren, vom Schweiß und Blut neuer Apostel getränkt, gestützt durch das Gebet und Opfer der ganzen katholischen Welt wurden plötzlich vom gleichen Sturm erfasst, der auf seinem Wege die alte Eiche wie den zarten Sprössling erbarmungslos umlegt.
Was wird von diesen alten und neuen Christengemeinden übrig sein, wenn das "Ende der Heimsuchungen" kommt, um das Wir unablässig flehen? Das bleibt das unerforschliche Geheimnis eines immer gütigen Gottes. Unterdessen zeichnet das Buch des Lebens überall in jener unglücklichen Welt die Großtaten innerer Seelenstärke auf, ungezählte Fälle von Heroismus, entfacht vom Heiligen Geist zur Verteidigung des Reiches Gottes, des Namens Jesu, in dem allein Rettung ist, und der Ehre seiner heiligsten Mutter. Die verfolgten Christen wissen, dass diese höchsten Güter herben Verzicht und auch das Opfer des Lebens verlangen können und oft tatsächlich verlangen.
Wir idealisieren nicht. Es wird heute, wie immer in Zeiten der Verfolgung, Fälle von Schwachheit und Versagen geben, Fälle, die nicht selten begreiflich, wenn auch nicht zu rechtfertigen sind; es wird auch Fälle von Verrat geben. Indessen sagen die Nachrichten, die verbreitet werden, zu einem großen Teil nur die halbe Wahrheit, wenn sie sie nicht gar entstellen oder vollständig fälschen. So entzieht man durch das Komplott des Schweigens und durch Verzerrung der Tatsachen der Öffentlichkeit die Kenntnis des harten Kampfes, den Bischöfe, Priester und Laien für die Verteidigung des katholischen Glaubens bestehen müssen.
Die Leiden der Armen
Und nun wendet sich Unser Gedanke mit besonderer und liebevoller Sorge dem Leidensheer der auf der Welt verstreuten Armen zu; bekannten oder verschämten Armen, in zivilisierten Ländern oder in Gegenden, die noch nicht durch die christliche oder einfach menschliche Kultur umgewandelt sind.
Am inneren Auge ziehen die Familien vorbei, über denen, wie ein drohendes Gespenst, die Gefahr des Versiegens jeder Einnahmequelle mit dem plötzlichen Aufhören der Arbeit schwebt; für andere Familien kommt zu dieser Unsicherheit des Verdienstes noch dessen Unzulänglichkeit hinzu, so dass er ihnen nicht erlaubt, angemessene Kleidung, ja nicht einmal die notwendige Nahrung zu beschaffen, um nicht krank zu werden. Die Lage verschlimmert sich, wenn sie gezwungen sind, in wenigen Räumen ohne Möbel und ohne jene bescheidenen Bequemlichkeiten zu leben, die das Leben weniger schwer machen. Wenn es dann nur ein Zimmer ist und dies für fünf, sieben, zehn Personen dienen muss, so kann jeder sich die Beengung vorstellen. Und was soll man von jenen Familien sagen, die zwar etwas Arbeit, aber überhaupt kein Heim haben und die in baufälligen Baracken wohnen, in Höhlen, die man nicht einmal Tieren anweisen würde?
Bitter ist ebenso das Elend derer, die fast alle ihre Einkünfte durch die anhaltende und beinahe zum Dauerzustand gewordene Geldentwertung verloren haben und in sorgenvollste Not geraten sind, oft nach einem Leben der Sparsamkeit und mühseliger Arbeit, das sie nun in beschämendem Bettel beschließen müssen.
Am meisten aber drückt der Anblick der Familien nieder, denen einfach alles fehlt. Familien im äußersten Elend: der Vater hat keine Arbeit; die Mutter sieht ihre Kinder darben ohne die geringste Möglichkeit, ihnen zu helfen; Tag für Tag mangelt es an Brot, Tag für Tag fehlt es an Kleidung, und wehe allen, wenn die Krankheit sich einnistet in dieser Höhle, die in eine menschliche Behausung umgewandelt ist.
Während Unser Sinnen bei diesen Bildern der Armut und des Elends weilt, füllt sich Unser Herz mit Bangen und ist - Wir möchten sagen - von einer tödlichen Traurigkeit bedrückt. Wir denken an die Folgen der Armut, an die Folgen vor allem des Elends.
Für manche Familien ist es ein Sterben Tag für Tag und Stunde für Stunde, ein Sterben, das sich - besonders für die Eltern - vervielfacht nach der Zahl der Lieben, die sie leiden und dahinsiechen sehen. Inzwischen verschlimmern sich die Krankheiten, weil sie keine entsprechende Pflege finden, sie treffen besonders die Kleinen, weil es an Vorbeugungsmitteln fehlt. Dazu die Entkräftung und als Folge die körperliche Minderwertigkeit ganzer Generationen, die Verwahrlosung weiter Schichten der Bevölkerung, die Unsittlichkeit so vieler bedauernswerter Mädchen, die sich ganz in die Tiefe sinken lassen in dem Glauben, so den einzigen Ausweg aus ihrer beschämenden Armut zu finden. Nicht selten ist das Elend auch Ursache des Verbrechens. Jene, die sich aus Nächstenliebe der Gefängnisfürsorge widmen, versichern immer wieder, dass nicht wenige im Grunde ehrenhafte Menschen im Zuchthaus enden, weil die äußerste Not sie zu irgendeiner unüberlegten Handlung trieb.
Jesus und die Armen
Wenn Wir all das bedenken, drängt sich die Frage auf: Was hat Christi Beispiel die Menschen gelehrt? Wie stellte Christus sich während seines Erdenlebens zu Armut und Elend? Gewiss galt seine Erlösersendung der Befreiung der Menschen aus der Sklaverei der Sünde, dem tiefsten Elend. Doch die Großmut seines mitfühlendsten Herzens konnte ihn die Augen nicht schließen lassen vor dem Leid und den Leidenden, in deren Mitte er hatte leben wollen. Sohn Gottes und Verkünder seines himmlischen Reiches, achtete er es eine Wonne, sich in Mitleid über die Wunden des Menschenleibes und die Fetzen der Armut zu neigen. Er gab sich auch nicht damit zufrieden, das Gesetz der Gerechtigkeit und Nächstenliebe zu verkünden, noch auch damit, die Harten, die Unmenschlichen, die Selbstsüchtigen mit schneidendem Bannspruch zu verurteilen, noch daran zu mahnen, dass das endgültige Urteil des Jüngsten Gerichtes sich in Maß und Ausdruck nach der Übung der Nächstenliebe als Beweis der Liebe zu Gott richten werde, nein, er gab sich selbst hin, um zu helfen, zu heilen und zu nähren.
Gewiss fragte er nicht, ob und inwieweit das Elend, das sich vor ihm auftat, zu Lasten der Schuld oder des Versagens der politisch-wirtschaftlichen Ordnung seiner Zeit ging. Jedoch nicht, als ob ihm diese gleichgültig gewesen wäre. Im Gegenteil, er ist der Herr der Welt und ihrer Ordnung. Wie aber sein Erlöserwirken persönlich war, so wollte er auch den anderen Formen des Elends mit seiner tätigen Liebe von Person zu Person entgegentreten. Das Beispiel Jesu ist heute wie jederzeit eine strenge Verpflichtung für alle.
Die Hilfe für die Bedürftigen
Wir selbst wollten während der harten Jahre Unseres Pontifikats, dass alles, was Uns durch die Liebe der wohlhabenderen Gläubigen aus verschiedenen Teilen der Welt zuströmte, in ständigem Strom zurückfließe als Hilfe für Unsere ärmeren und verlassenen Söhne. Wir wollten den Flüchtlingen zur Seite stehen und ihnen behilflich sein, in ihre Heimat zurückzukehren. Wir sind auf die Suche gegangen nach den Waisen, um ihnen eine Heimstätte zu sichern, ein Stück Brot, eine andere Mutter. Wir haben Uns bemüht, zu den Eingekerkerten, zu den Kranken, zu den Kriegsgefangenen, die noch fern von ihrer Heimat festgehalten werden, zu den Opfern der furchtbaren Überschwemmungen zu gelangen.
Leider haben Wir jedes Mal mit tiefem Schmerz feststellen müssen, dass Unsere Kräfte der Schwere und Vielfalt der Bedürfnisse nicht gewachsen waren und sind. Darum möchten Wir, dass eine stärkere, sozusagen vervielfältigte Liebe zu den Armen gleichsam einen heilig ungestümen Strom der Hilfe entfessle, der überall dort eindringen kann, wo ein Greis verlassen, ein Kranker in Not ist, ein Kind leidet und eine Mutter sich in Kummer verzehrt, weil sie nichts für es tun kann.
Geliebte Söhne, ihr Armen und Unglücklichen der ganzen Erde! Wir beten zum Herrn, dass er euch fühlen lässt, wie nahe Wir euch sind in Unserer väterlichen kummervollen und bangen Sorge. Der Herr weiß es, wie gern Wir seine Allgegenwart und seine Allmacht hätten, um in jede einzelne eurer Wohnungen einzutreten und euch Hilfe und Trost, Brot und Arbeit, Seelenruhe und Frieden zu bringen. Wir möchten euch nahe sein, wenn ihr auf den Feldern oder in den Fabriken von Müdigkeit erschöpft, wenn ihr niedergebeugt von den Krankheiten, die euch heimsuchen, gequält von nagendem Hunger seid. Schließlich möchten Wir nicht unterlassen darauf hinzuweisen, dass auch die bestgeordnete Caritasorganisation für sich allein nicht genügen würde, um den Menschen in ihrer Not zu helfen. Notwendig muss die persönliche Tat sie ergänzen, die bemüht ist, den Abstand zwischen dem Notleidenden und dem Helfer zu überbrücken, und die sich dem Bedürftigen nähert, weil er Bruder Christi und auch unser Bruder ist.
In einer Zeit, die sich sozial nennt, in der - außer der Kirche - der Staat, die Gemeinden und die anderen öffentlichen Stellen sich so vielen sozialen Fragen widmen, ist es die große Versuchung auch für die Gläubigen, den Armen, der bei ihnen anklopft, einfach an das Hilfswerk, das Amt, die Organisation zu verweisen, in der Meinung, ihrer persönlichen Verpflichtung schon voll Genüge getan zu haben durch die Beiträge an jene Einrichtungen in Form von Steuern oder freiwilligen Gaben.
Zweifellos wird der Arme dann eure Hilfe auf diesem Weg erhalten. Aber häufig rechnet er auch auf euch selbst, wenigstens auf ein Wort der Güte und des Trostes. Eure Liebe muss der gleichen, die Gott hat, der persönlich kam, um Hilfe zu bringen. Das ist der Inhalt der Botschaft von Bethlehem. Die Amtsstellen können ihre Hilfe nicht immer in einer so persönlichen Art leisten, wie es nötig wäre, darum bedarf die institutionelle Caritas als unersetzliche Ergänzung der freiwilligen Helfer.
Schlussmahnung
All das gibt Uns Mut, eure persönliche Mitarbeit anzurufen. Die Notleidenden, jene, die das Leben hart mitgenommen hat, die Unglücklichen jeder Art erwarten sie. Soweit es auf euch ankommt, sorgt dafür, dass keiner wie der seit 38 Jahren Kranke im Evangelium traurig sagen muss: "Herr, ich habe niemanden" (Joh. 5, 7).
Mit dem Wunsche, dass die echte christliche Liebe, genährt von lebendigem und tiefem katholischem Glauben, die materiellen und seelischen Nöte mildern und die Feindschaft der Herzen überwinden möge, erteilen Wir euch allen, geliebte Söhne und Töchter, die ihr Uns zuhört, wie denen, die euch im Glauben an einen wahren und persönlichen Gott nahe stehen, auch euren Familien, allen Menschen und Dingen, die euch teuer sind, in väterlichem Wohlwollen Unsern Apostolischen Segen.