Erinnern und Versöhnen

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Internationale Theologische Kommission

von Papst
Johannes Paul II.
Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit
7. Juli 2000

(Quelle: Die Deutsche Fassung auf der Vatikaneite)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Inhaltsverzeichnis

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Der Aschermittwoch des Heiligen Jahres 2000 der Menschwerdung des Sohnes Gottes wird die Welt in Erstaunen versetzen. In Rom, dem Ort des Martyriums der Apostel Petrus und Paulus, will Papst Johannes Paul II. als universaler Hirte der Kirche Gott öffentlich um Vergebung bitten für die Schuld ihrer Söhne und Töchter.

Ist diese Vergebungsbitte Ausdruck ungebrochener Glaubensstärke der katholischen Kirche, oder meldet sich ein Zweifel an ihrer Sendung? Kapituliert sie vor kirchenfeindlicher Polemik, oder handelt es sich gar um einen Propagandatrick, um ihre Kritiker zu beschwichtigen?  Diesen Akt der Vergebungsbitte kann man in seinem Sinn und Ziel nur verstehen, wenn man sich einlässt auf das Selbstverständnis der Kirche. Sie versteht sich nicht als eine von Menschen organisierte Gesellschaft, die mit einem von Menschen ausgedachten religiösen und ethischen Programm vor die Welt tritt. 

Vielmehr ist mit der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils (21.11.1964) zu sagen: "Das Geheimnis der heiligen Kirche wird in ihrer Gründung offenbar" (Lumen gentium, 4). Die Kirche verdankt sich in ihrem Ursprung und in ihrem Auftrag dem Heilswillen des dreifaltigen Gottes gegenüber der ganzen Menschheit.

Seinen universalen Heilswillen hat Gott, der Vater Jesu Christi, in der Menschwerdung seines Sohnes und in der Ausgießung seines Geistes geschichtlich konkret in Raum und Zeit durch Jesus Christus verwirklicht, so dass er allein der von Gott geoffenbarte Mittler zwischen Gott und den Menschen ist (vgl. 1 Tim 2,4f.): "Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen" (Apg 4,12).

Durch die Gemeinschaft der an ihn Glaubenden führt der von den Toten auferstandene Herr seine Sendung bis ans Ende der Geschichte fort. Er bleibt für immer bei seinen Jüngern, und durch sie ruft er die Menschen zum Glauben und erhellt damit das Rätsel menschlicher Existenz. Im Licht Christi kann jeder Mensch seine höchste Berufung erkennen: die Gemeinschaft mit dem Gott der dreieinigen Liebe und mit allen Menschen, die ihn gesucht und gefunden haben."Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ist das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1,9.14.18). Er lässt seine Herrlichkeit auf dem Antlitz der Kirche widerscheinen, damit seine Kirche durch die Verkündigung der Botschaft vom ewigen Leben immer neu werde, was sie in ihrer Gründung im Geheimnis Christi ist.

"Die Kirche ist ja in Christus gleichsam Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (Lumen gentium, 1). Die Kirche ist heilig, weil sie das Heilsinstrument des heiligen Gottes ist, der im Gang der Geschichte durch die Kirche seinen Heilswillen auf alle Menschen bezieht und in ihr jeden einzelnen persönlich anspricht. Deshalb ist sie unzerstörbar im Bekenntnis der Heilstaten Gottes, in ihrem Glauben, ihrer Lehre und in den sakramentalen Lebensvollzügen, die Christus ihr eingestiftet hat. Weder innerer Zerfall noch Feindschaft von außen, die alle menschlichen Gemeinschaftsgebilde in ihrem Bestand bedrohen, werden sie jemals überwinden (Mt 16,18). Aber die Kirche des dreieinigen Gottes besteht auch aus Menschen, die auf dem Weg ihres Glaubens immer versagen und der Versuchung zur Sünde verfallen können. Zur Kirche als der in der Welt sichtbaren Gemeinschaft der Glaubenden in ihrer sichtbaren Gestalt gehören darum immer auch Sünder. 

"Die Kirche ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung. Die Kirche <schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin> (Augustinns, Civ. Dei, XVIII, 51,2) und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl.1 Kor 11,26). Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden wird" (Lumen gentium, 8). 

Somit gehört zum Weg der Kirche auch das Bekenntnis zur Erneuerung und die Bitte um Vergebung (ecclesia semper reformanda). Die Kirche gewinnt damit an Glaubwürdigkeit vor Gott und den Menschen. Sie dient der Einheit der Menschen unterschiedlicher Kulturen, Religionsrichtungen und Weltanschauungen, wenn sie um Vergebung bittet für das Übel, das in der Vergangenheit von Gliedern der Kirche und gerade auch von ihren Repräsentanten den Menschen anderer Gemeinschaften zugefügt worden ist. Zwar gibt es keine Kollektivschuld, deren Zurechnung eine Verletzung der ethischen Verantwortung jeder Person für ihre eigenen Taten wäre. Aber Verantwortung, Schuldübernahme und Bitte um Verzeihung dienen einer "Reinigung des Gedächtnisses", das Menschen und Menschengruppen auch über die Generationen miteinander verbindet oder trennt und gegeneinander aufbringt. Die Formulierung "Reinigung des Gedächtnisses", wörtliche Wiedergabe des italienischen Ausdrucks "purificazione della memoria", bedeutet eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen, von der Sünde entstellten Vergangenheit der Gemeinschaft, der man angehört. Dadurch soll die Möglichkeit der Versöhnung eröffnet werden. Nicht gemeint ist damit ein Sich-Reinwaschen, das auf ein Verdrängen oder bloßes Vergessen von Schuld hinausläuft und einen endgültigen Schlußstrich unter die Vergangenheit setzen will. Ziel ist eine "versöhnte Erinnerung" an die Wunden, die man sich in der Vergangenheit zugefügt hat (vgl. unten 5.1).

Das theologische Verständnis von Sein und Sendung der Kirche hat auch unmittelbare Auswirkung auf das Verständnis und die Interpretation ihrer Geschichte. Die theologisch-wissenschaftliche Disziplin "Kirchengeschichte" hat zwei Extreme zu vermeiden, die bei allem Gegensatz im gleichen falschen Bild von Kirche zutiefst miteinander verbunden sind. Zu vermeiden ist eine Apologetik, die alle Schattenseiten und alles Versagen herunterspielt oder leugnet. Töricht und unfruchtbar wäre auf der anderen Seite aber auch eine fundamentalistische Kritik, der es um den Aufweis geht, dass die Kirche nicht von Gott kommen kann und dass sie im innersten Wesen korrumpiert sei, wenn man sie an ihren Idealen misst.

Von dieser Seite her wird der katholischen Kirche eine aus immer den gleichen Punkten bestehende Kurzlitanei vorgehalten: Kreuzzüge - Inquisition Hexenwahn - Wissenschaftsfeindlichkeit - Intoleranz. Neuerdings sind weitere Elemente hinzugetreten. Man macht das Christentum verantwortlich für den ausbeuterischen Umgang des Menschen mit der Schöpfung. Man bezichtigt die katholische Kirche der Sexualfeindlichkeit und der Behinderung der Emanzipation der Frau. Dieser Kanon der Kritik an allem, was mit der katholischen Kirche zusammenhängt, bleibt dem engen eurozentrischen Horizont der westlichen Welt zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert verhaftet. Er ist markiert von globalen Vorwürfen und Schuldzuweisungen aus der konfessionalistischen Polemik des 17. Jahrhunderts und der folgenden Epoche der Religionskritik, im Rationalismus der Aufklärung, der antikirchlichen Propaganda des Liberalismus sowie der totalitären Ideologien des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus. Dies beschränkt sich auf das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft und ihren Institutionen. Genau genommen reduziert sich der "Kanon der Kritik" auf die Epoche der abendländischen Christenheit, das sogenannte "Mittelalter", als Kirche und weltliche Gesellschaft fast ununterscheidbar miteinander verflochten waren. Neuere Kritikpunkte sind nur die Nachwirkungen des Bildes, das sich seit dem 18. Jahrhundert im westlichen Europa bei meist klischeehafter und vorurteilsbefrachteter Interpretation des "Mittelalters" verfestigt hat. Geschichte soll nicht möglichst objektiv erforscht werden in ihren kulturellen, sozialen und mentalen Bedingungen und in den Motivationen ihrer handelnden Personen. Kirchengeschichte wird instrumentalisiert, um die Kirche als Gegenmacht zu den Idealen von Freiheit, Autonomie, Wissenschaft und Fortschritt zu desavouieren. Von dieser Seite ist kaum zu erwarten, dass das mea culpa der Kirche mit einem mea culpa der Anhänger dieser Geistesrichtungen für all das beantwortet wird, was im Namen dieser Ideale den Christen und den Menschen anderen Glaubens an Leid zugefügt worden ist. Sie werden sich in ihrer Anklagehaltung bestätigt fühlen und um so lauter der katholischen Kirche entgegenrufen: "Tua sola culpa ist seit zweitausend Jahren Christentum die Welt nicht besser geworden". Zu erwarten ist sicher auch, dass gegenwärtige innerkirchliche Spannungen in diese Vergebungsbitte hineinprojiziert werden. Es wäre nur eine weitere Form der Instrumentalisierung der Kirchengeschichte, wenn Christen - Glieder am Leib Christi, der die Kirche ist - den Papst zur Vergebung  nötigen wollten für das, was sie für ein Versagen der Kirche angesichts der Herausforderungen der Gegenwart halten, wenn z.B. manche den Zölibat der Priester in der lateinischen Kirche fälschlicherweise für einen Mißstand halten, der mit dem Menschenrecht auf Ehe in Konflikt stehe, oder wenn sie die Lehre von der dem Mann vorbehaltenen Weihe mit den Themen der Vergebungsbitte vermengen, weil sie meinen, dass, ähnlich wie im Fall Galilei, die Tradition der Kirche von falschen naturwissenschaftlichen Annahmen ausgehe.

Die Vitalität der Kirche Jesu Christi erweist sich darin, dass sie die Gerechtigkeit des Schuldbekenntnisses für das Versagen in der Vergangenheit nicht zur Bedingung eines neuen Miteinanders machen muss. Sie hat die Kraft, den ersten Schritt zu tun. Die Kirche traut sich dies zu, weil sie um die Gabe der Heiligkeit weiß, aus der sie lebt und die sie ihrer Sendung zum Heilsdienst an den Menschen gewiss macht. Darum kann sie sich auch zu der Tatsache bekennen, dass es im Laufe ihrer Geschichte - gemessen am Evangelium, das sie zu allen Zeiten, auch durch den Mund ihrer sündigen Glieder, verkündet  hat, und an den geistigen Erfordernissen der jeweiligen Geschichtsepoche - persönliche Sünden, erschreckendes Versagen, unangemessenes und unverantwortliches Handeln ihrer Glieder und ihrer  Repräsentanten gegeben hat. In diesem Sinn  kann man auch von Sünden nicht nur der einzelnen Glieder der Kirche, sondern auch von den Sünden der Kirche sprechen, besonders wenn sie von denen begangen wurden, die ermächtigt waren, in ihrem Namen zu handeln. Es geht um das Handeln der Kirche in ihrer Auswirkung auf die zivile Gesellschaft und ihre Institutionen (Staat, Kultur, Wissenschaft, Kunst, Rechtsordnung u.a.). Nicht gemeint ist in diesem Zusammenhang die Infallibilität in der Auslegung der Offenbarung und die Wirksamkeit der sakramentalen Heilsvermittlung, die der Kirche anvertraut sind und die vom Geist Gottes vor Korruption und Zersetzung bewahrt werden (Lumen gentium, 25) Papst Johannes Paul II. wagt als Repräsentant der universalen Kirche diesen Schritt im Dienst an der geschichtlichen Wahrheit, wenn er um Vergebung bittet für Sünden und Fehlleistungen der Kirche und ihrer Glieder in der Vergangenheit. Die Kirche lässt sich führen von Christus, der nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen, der seinen Jüngern mit dem Dienst der Fußwaschung ein Beispiel der Demut geschenkt hat Die kritische Überprüfung der Vergangenheit und die Bitte um Vergebung für die Wunden, die im kollektiven Gedächtnis der religiösen und kulturellen Gemeinschaften zurückgeblieben sind und destruktiv nachwirken, hat als Ziel die Versöhnung unter den Menschen, die heute diesen Gemeinschaften angehören.

Die Internationale Theologische Kommission hat den Auftrag erhalten, mit einer wissenschaftlichen Studie diesen Akt der Vergebungsbitte vorzubereiten und in seinem tieferen Sinn zu erläutern. 

Unter der Leitung von Prof. Dr. Bruno Forte (Neapel) hat eine Subkommission den Text "Memoria e riconciliazione. La Chiesa e le colpe del passato" erarbeitet. Als Mitglieder gehörten ihr an die Professoren Roland Minnerath (Strassburg), Christopher Begg (Washington D.C.), Francis Moloney S.D.B. (Washington), Anton Strukelj (Ljubljana, Slowenien), Thomas Norris (Maynooth, Irland), Jean-Louis Bruguès O.P. (Fribourg) und Rafael Salazar Cardenas M.Sp.S. (Guadalajara, Mexico). Er wurde in zwei Vollversammlungen der Internationalen Theologischen Kommission ausführlich diskutiert, nach Einarbeitung mehrerer Modi in forma specifica gebilligt und ihrem Präsidenten, Kardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation, vorgelegt, der ihn für die Veröffentlichung genehmigt hat.

Im Auftrag des Vorsitzenden der Internationalen Theologischen Kommission, des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Joseph Kardinal Ratzinger, wird der Text veröffentlicht und hier den Lesern deutscher Sprache vorgestellt.

Zu beachten ist das eigene literarische Genus einer solchen Publikation. Man kann von ihr nicht die Geschlossenheit und den einheitlichen Duktus einer wissenschaftlichen Monographie eines Einzelautors erwarten. Die Stufen der Erarbeitung und der Endredaktion sind ebenso zu erkennen wie sich im Text die vielfältigen Perspektiven der Kulturen, der geographischen Räume und der historischen Perspektiven widerspiegeln. Deutlich zeichnet sich der Fächer theologischer Stile ab, in dem sich die Pluralität der Weltkirche präsentiert. Bei dem Text der Kommission handelt es sich nicht um das offizielle Schuldbekenntnis der Kirche, das vom Papst am Aschermittwoch persönlich vorgetragen und das von ihm als Vertreter der universalen Kirche verantwortet wird. Es ist aber auch keine kirchengeschichtliche Spezialuntersuchung zum Thema "Kirche und Schuld in der Vergangenheit". Man wird wohl der literarischen Eigenart dieses Textes am besten gerecht, wenn er als eine Interpretationshilfe betrachtet wird, die von Fachleuten für Exegese, Kirchengeschichte und Ekklesiologie erarbeitet wurde, die - von den Bischofskonferenzen als Repräsentanten der Theologie ihrer Länder vorgeschlagen - sich durch Kompetenz und Treue zum Lehramt der Kirche auszeichnen. Im Licht der hier zusammengestellten theologischen Kategorien und hermeneutischen Prinzipien können sich Sinn und Tragweite dieser in der bisherigen Kirchengeschichte einmaligen Liturgie der Buße und der Vergebungsbitte erschließen und mitvollziehen lassen, die der Heilige Vater zu Beginn der Österlichen Bußzeit des Heiligen Jahres 2000 mit der ganzen Kirche und in ihrem Namen feiern möchte. Liturgie ist immer Lob und Verherrlichung Gottes (confessio laudis), der uns die Sünden vergibt, die zu bekennen er uns die Kraft geschenkt hat (confessio peccati). Von Jesus Christus, dem Sohn Gottes belehrt, sprechen seit 2000 Jahren Christen Gott als ihren Vater an und bitten ihn: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind" (Lk 11,4).

Wer ist mehr zu diesem Schuldbekenntnis im Namen der katholischen Kirche ermächtigt als der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, dem Christus im Abendmahlssaal Verleugnung und Umkehr vorausgesagt hatte? Es ist derselbe Apostel, dem der Herr auch die Verheißung gegeben hat: 

"Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich einst bekehrt haben wirst, dann stärke deine Brüder" (Lk 22,32).

München, den 22. Februar 2000, am Fest Cathedra Petri 
Gerhard Ludwig Müller

EINLEITUNG 

In seiner Ankündigungsbulle des Heiligen Jahres 2000 Incarnationis mysterium (29. November 1998) hebt der Heilige Vater unter den Zeichen, "die in angemessener Weise dazu dienen können, die außerordentliche Gnade des Jubiläums intensiver zu erleben", die "Reinigung des Gedächtnisses" hervor.

Eine solche "Reinigung des Gedächtnisses" vollzieht sich als ein Prozess, der auf die Befreiung des individuellen und gemeinschaftlichen Gewissens von allen Formen des Ressentiments und der Gewalt zielt, die historische Schuld und Verfehlung hinterlassen haben. Als Mittel dazu dient eine vertiefte historische und theologische Beurteilung der betreffenden Ereignisse. Wenn dieses Urteil sich als richtig erweist, ermöglicht es eine entsprechende Schuldanerkenntnis und eröffnet einen wirklich gangbaren Weg zur Versöhnung.

Dieser Prozess kann sich in spürbarer Weise auch auf die Gegenwart auswirken, besonders da sich die Sünden aus der Vergangenheit in ihren Konsequenzen bis zum heutigen Tag belastend auswirken und auch in der Gegenwart eine Versuchung darstellen. Darum fordert die "Reinigung des Gedächtnisses" "von allen einen mutigen Akt der Demut, nämlich die Verfehlungen zuzugeben, die von denen begangen wurden, die den Namen Christen trugen und tragen". <ref> Johannes Paul II. Incarnationis mysterium, Verkündigungsbulle des Großen Jubiläums des Jahres 2000 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 136), Art, 11.</ref>

Darauf gründet sich die Überzeugung, dass "wegen des Bandes, das uns im mystischen Leib miteinander vereint, wir alle die Last der Irrtümer und der Schuld derer mittragen, die uns vorausgegangen sind, auch wenn wir dafür keine persönliche Verantwortung haben und nicht den Richterspruch Gottes, der allein die Herzen der Menschen kennt, vorwegnehmen können".

Eindringlich fordert der Papst die Christen auf, "vor Gott und den Menschen, die durch ihr Verhalten verletzt wurden, zu den von ihnen begangenen Fehlern zu stehen" und er schließt: "Das sollen sie tun, ohne dafür irgend etwas einzufordern, stark allein durch <die Liebe Gottes, die in unsere Herzen ausgegossen ist> (Röm 5,5)"<ref>Ebd. Schon in mehreren Stellungnahmen, besonders in Art. 33 des Apostolischen Schreibens Tertio millennio adveniente (TMA), hat der Papst die Kirche darauf hingewiesen, sich auf den Weg zu begeben, das "Gedächtnis zu reinigen", und zwar hinsichtlich der Schuld aus der Vergangenheit. Auf diese Weise könne die Kirche den einzelnen und der Gesellschaft ein Beispiel für Reue und Umkehr bieten.</ref>. 

Die verschiedenen Vergebungsbitten des Bischofs von Rom, die er in diesem Geist der Ehrlichkeit und Großmut geäußert hat, haben verschiedenartige Reaktionen hervorgerufen. Das unbedingte Vertrauen, das der Papst in die Macht der Wahrheit setzt, hat eine wohlwollende Aufnahme und Anerkennung gefunden sowohl bei Menschen innerhalb wie auch bei Menschen außerhalb der Kirche. Viele haben den Zuwachs an Glaubwürdigkeit der kirchlichen Verkündigung unterstrichen, der auf diesen Umgang mit der eigenen Geschichte folgt. Es hat aber auch nicht an Vorbehalten gefehlt. Manche fürchten, dass in bestimmten historischen und kulturellen Kontexten das Eingeständnis der von Gliedern der Kirche begangenen Schuld als Kapitulation vor den eingefleischten Vorurteilen antikirchlich gesinnter Kreise aufgefasst werden könnte. 

Angesichts von Zustimmung und Vorbehalt, auf das die Schuldanerkennung stößt, zeigt sich die Dringlichkeit einer umfassenden Reflexion der Gründe und Bedingungen sowie der genaueren Form von Bitten um eine Vergebung der Verfehlungen aus der Vergangenheit. Mit dieser Aufgabe ist die Internationale Theologische Kommission betraut worden. In ihr sind Vertreter verschiedener Kulturen und Mentalitäten in der Mitte des einen katholischen Glaubens versammelt. In dem von dieser Kommission ausgearbeiteten Text wird eine theologische Reflexion der Bedingungen für die Möglichkeit der Akte einer "Reinigung des Gedächtnisses" angeboten. 

Auf folgende Fragen soll eine Antwort versucht werden: Mit welchem Ziel werden diese zeichenhaften Akte vollzogen? Wer sind ihre adäquaten Träger? Wie sind ihre Gegenstände zu bestimmen, wenn historisches und theologisches Urteil präzis aufeinander bezogen sein sollen? Wer sind die Adressaten dieser öffentlichen Vergebungsbitten und Gesten der Versöhnung? Welche moralischen und ethischen Implikationen sind zu beachten? Welche möglichen Auswirkungen ergeben sich daraus für das Leben der Kirche und der Gesellschaft? 

Das Ziel, das sich die Kommission mit diesem Text setzt, besteht nicht darin, einzelne historische Vorkommnisse zu prüfen und zu bewerten, sondern die Voraussetzungen zu klären, die die Grundlage bilden für die Reue über die Verfehlungen aus der Vergangenheit. Nachdem das besondere Genus der hier vorgelegten Reflexion präzisiert worden ist, muss noch geklärt werden, was im folgenden unter "Kirche" verstanden wird, von der die Vergebungsbitte ausgesprochen wird. "Kirche" soll hier weder allein die historische Institution noch allein die geistlich-unsichtbare Gemeinschaft der Gläubigen bezeichnen. Unter Kirche versteht man immer die Gemeinschaft der Getauften in den beiden voneinander untrennbaren Dimensionen ihres Wesens: Sie ist sowohl sichtbar als handelndes Subjekt in der Geschichte unter der Leitung ihrer Hirten als auch zugleich in der Tiefe ihres Mysteriums geeint durch den Heiligen Geist, der in ihr wirkt und ihr Leben einhaucht. Es ist jene Kirche, von der das II. Vatikanische Konzil erklärt, dass sie "in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich ist. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16)".<ref>Lumen gentium, 8.</ref>

Die Kirche, die in einer wirklichen und tiefen Gemeinschaft ihre Söhne und Töchter der Vergangenheit ebenso wie die der Gegenwart umfasst, ist die einzige Mutter in der Gnade, die die Lasten auch der Schuld  aus der Vergangenheit auf ihre Schultern zu nehmen vermag, um das "Gedächtnis zu reinigen" und die Herzen zur Erneuerung und einem Leben nach dem Willen des Herrn zu bewegen. 

Die Kirche ist imstande dies zu tun, insofern Jesus Christus, dessen mystischer Leib sie ist und durch den er im Gang der Geschichte sakramental gegenwärtig bleibt, ein für allemal die Sünden der Welt auf sich genommen hat. 

Im Aufbau richtet sich der Text nach den aufgeworfenen Fragen:  
Im 1. Kapitel wird ein kurzer historischer Rückblick auf die Entwicklung des Themas gegeben. Im 2. Kapitel sollen die biblischen Grundlagen herausgearbeitet werden, um dann im 3. Kapitel die theologischen Bedingungen der Bitten um Vergebung zu vertiefen. Im 4. Kapitel geht es um eine Abklärung des Verhältnisses von historischer und theologischer Beurteilung kirchengeschichtlicher Vorgänge, um sich angesichts der unterschiedlichen Zeiten, Orte und Umstände ein korrektes und begründetes Urteil über spezifische Geschichtsereignisse bilden zu können. Das 5. Kapitel behandelt die moralischen Implikationen, während im 6. Kapitel die Konsequenzen für das pastorale und missionarische Handeln der Kirche bedacht werden, die sich aus der Vergebungsbitte für die katholische Kirche im Verständnis ihrer Sendung ergeben. 

Im Bewusstsein jedoch, dass die Forderung, die eigene Schuld anzuerkennen, für alle Völker und Religionen sinnvoll ist, darf man von den hier vorgelegten Überlegungen eine Hilfe erwarten im Fortschritt aller auf dem Weg der Wahrheit, des brüderlichen Dialogs und der Versöhnung. 

Am Ende dieser Hinführung zum Thema ist es sicher angebracht, das letzte Ziel jedes möglichen Aktes der "Reinigung des Gedächtnisses" anzusprechen. Diese Aufgabe der Gläubigen hat auch die Arbeit der Kommission innerlich bestimmt. Es handelt sich um die Verherrlichung Gottes. Denn ein Leben im Gehorsam gegenüber der Wahrheit Gottes und den Herausforderungen, die von ihr ausgehen, führt hin zu einer Form des Bekennens unserer Sünden und Fehler, die vom Bekenntnis zur ewigen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit des Herrn nicht zu trennen ist. 

Das Bekenntnis der Sünde (confessio peccati), das getragen und erleuchtet ist vom Glauben an die Wahrheit, die frei macht und erlöst (confessio fidei), wird zu einem Bekenntnis des Lobes (confessio laudis), das sich an Gott richtet. Er allein weiß um den Zusammenhang der Sünden in Vergangenheit und Gegenwart. Nur in Jesus Christus, dem einzigen Retter der Welt, können wir uns von Gott und mit Gott versöhnen lassen. Er allein kann uns auch fähig machen, selbst denen Vergebung zu gewähren, die an uns schuldig geworden sind. Dieses Angebot der Vergebung hat eine besondere Signalwirkung, wenn man sich die vielen Verfolgungen vor Augen hält, die die Christen im Laufe der Geschichte erlitten haben. In dieser Perspektive kommen den vom Heiligen Vater schon vollzogenen und in Aussicht genommenen Akten bezüglich der Schuld und der Verfehlungen der Vergangenheit eine exemplarische, ja prophetische Bedeutung zu. Dies betrifft ebenso die Religionen wie die Regierungen und die Völker auch über den Bereich der katholischen Kirche hinaus. Die Kirche kann in ihrer Absicht bereichert werden, wirksamer das Große Jubiläum der Menschwerdung Gottes als ein Ereignis der Gnade und der Versöhnung für alle zu feiern. 

Erstes Kapitel: DAS THEMA: SCHULDBEKENNTNISSE IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART

Die Sichtweise vor dem II. Vatikanum

Das Jubiläum ist in der Kirche immer als eine Zeit der Freude über die in Christus empfangene Erlösung und als eine besondere Gelegenheit der Buße und der Versöhnung für die gegenwärtigen Sünden im Leben des Volkes Gottes betrachtet worden. Schon seit der ersten Feier des Heiligen Jahres unter Papst Bonifaz VIII. im Jahre 1300 war die Bußwallfahrt zu den Gräbern der heiligen Apostel Petrus und Paulus mit der Gewährung eines außerordentlichen (vollkommenen oder teilweisen) Ablasses verbunden gewesen, der, zusammen mit der Vergebung im Bußsakrament, der Ausheilung und Überwindung der zeitlichen Sündenstrafen dienen sollte, die als negative Auswirkungen der Sünden auf das Verhältnis des Menschen zu Gott und zu den Mitmenschen zu verstehen sind<ref>Vgl. Extravagantes communes, lib. V, tit. IX, c. 1 (A. Friedberg, Corpus iuris canonici, II, c. 1304).</ref>. In diesem Kontext wird sowohl hinsichtlich der sakramentalen Vergebung wie im Hinblick auf den Nachlass der Sündenstrafen der personale Charakter der Buße sichtbar. Im Laufe des "Jahres der Vergebung und der Gnade"<ref>Vgl. Benedikt XIV., Brief Salutis nostrae, 30.4.1774, § 2. Leo XIL, Brief Quod hoc ineunte, 24. Mai 1824, § 2, spricht vom "Jahr der Sühne, der Verzeihung und Befreiung, der Gnade, der Vergebung und des Nachlasses". </ref> öffnet die Kirche in außergewöhnlicher Weise den "Schatz der Gnaden", den Christus für das pastorale Wirken hinterlassen hat<ref>In diesem Sinne ist die Definition des Ablasses zu verstehen, den Clemens VI. bei der Festlegung des alle 50 Jahre wiederkehrenden Jubeljahres gegeben hat. Er sieht im kirchlichen Jubeljahr "die geistliche Erfüllung" des "Jubeljahres der Vergebung und der Freude" aus dem Alten Testament (Lev 25). </ref>. 

Allerdings gab es bisher bei keinem Jubeljahr eine Gewissenserforschung über mögliche Verfehlungen der Kirche in der Vergangenheit. Ebensowenig wurde eine Vergebungsbitte an Gott gerichtet für ihr Verhalten in der näheren oder ferneren Geschichte.

Man findet in der gesamten Geschichte der Kirche keinen Präzedenzfall einer vom Lehramt selbst formulierten Vergebungsbitte für die Verfehlungen der Vergangenheit. Die Konzilien und die päpstlichen Dekretalien sanktionierten zwar die Missbräuche, derer sich Kleriker und Laien schuldig gemacht hatten, und nicht wenige Hirten der Kirche bemühten sich darum, sie abzustellen. Ganz selten ergab sich die Gelegenheit, dass kirchliche Autoritäten - Päpste, Bischöfe oder Konzilien - öffentlich Schuld und Verfehlungen anerkannt haben, für die sie die Verantwortung trugen. Ein berühmtes Beispiel dafür hat der Reformpapst Hadrian VI. gegeben, der in einer Botschaf t an den Reichstag von Nürnberg am 25. November 1522 aufrichtig bekannte: "Missbräuche in geistlichen Dingen, Übertretungen der Gebote, ja, dass alles sich zum Ärgeren verkehrt hat. So ist es nicht zu verwundern, dass die Krankheit sich vom Haupt auf die Glieder, von den Päpsten auf die Prälaten verpflanzt hat. <Wir alle>, Prälaten und Geistliche, <sind vom Wege des Rechtes abgewichen, und es gab schon lange keinen einzigen, der Gutes tat> (Ps 14,3). Deshalb müssen wir alle Gott die Ehre geben und uns vor ihm demütigen; ein jeder von uns soll betrachten, weshalb er gefallen, und sich lieber selber richten, als dass er von Gott am Tage seines Zornes gerichtet werde."<ref>Zitiert nach Erwin Iserloh, Die protestantische Reformation, in: Handbuch der Kirchengeschichte IV, hg. v. Hubert Jedin, Freiburg / Basel / Wien 1967,111.</ref>

Hadrian VI. beklagte die zeitgenössischen Sünden und Fehler, genaugenommen die seines unmittelbaren Vorgängers Leos X. und seiner Kurie, ohne jedoch damit eine Vergebungsbitte zu verbinden. 

Erst Papst Paul VI. wird eine Vergebungsbitte an Gott und auch an eine Gruppe von Zeitgenossen richten. Bei der Eröffnungsansprache zur z. Konzilssession bat der Papst "Gott und die getrennten Brüder des Orients" um Verzeihung, und er erklärte sich von seiner Seite aus dazu bereit, die Anfeindungen zu vergeben, denen die katholische Kirche ausgesetzt war. 

In der Sicht Pauls VI. betrafen die von beiden Seiten vorauszusetzende Bitte um Vergebung und das gegenseitige Angebot der Vergebung allein die Sünde der Spaltung unter Christen. 

Die Aussagen des Konzils

Das II. Vatikanum nimmt die gleiche Perspektive ein wie Paul VI. Die Konzilsväter sagen im Hinblick auf die Verfehlungen gegen die Einheit: "In Demut bitten  wir also Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung, wie auch wir unseren Schuldigem vergeben.")<ref> Unitatis redintegratio, 7.</ref>   Neben den Sünden gegen die Einheit der Kirche greift das Konzil weitere negative Erscheinungen der Geschichte auf, bei denen Christen eine bestimmte Verantwortung zukommt. "Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen, die einst auch unter Christen wegen eines unzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen, zu bedauern. Durch die dadurch entfachten Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen schufen sie in der Mentalität vieler die Überzeugung von einem Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft."<ref> Gaudium et spes, 36. </ref>

Ähnlich beurteilt das Konzil "die Entstehung des Atheismus", bei der auch die Gläubigen "einen gewissen Anteil" haben können, insofern man sagen muss, "dass sie durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch missverständliche Darstellung der Lehre oder auch durch Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren"<ref> Ebd. 19.</ref>. Außerdem "beklagt" das Konzil "die Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben"<ref>Nostra aetate, 4. </ref>. Dennoch verbindet das Konzil mit diesem Bedauern keine Bitte um Vergebung für die genannten historischen Fakten. 

Vom theologischen Standpunkt aus unterscheidet das Konzil zwischen der unzerstörbaren Treue der Kirche und den Verfehlungen ihrer Glieder, Klerikern wie Laien, gestern und heute<ref>Gaudium et spes, 43  § 6.</ref>, d.h. zwischen sich selbst, insofern sie die Braut Christi ist "ohne Makel und Runzeln, heilig und unversehrt" (Eph 5,27), und ihren Söhnen und Töchtern, die Sünder sind, denen vergeben wurde und die berufen sind zu steter Umkehr und Erneuerung im Heiligen Geist. "Die Kirche, die in ihrem eigenen Schoß Sünder umfasst, ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung."<ref>Lumen gentium, 8; vgl. Unitatis redintegratio, 6: "Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allezeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist."</ref>

Das Konzil hat auch schon einige Unterscheidungskriterien herausgearbeitet hinsichtlich von Schuld oder Verantwortlichkeit der jetzt Lebenden für die Verfehlungen aus der Zeit früherer Generationen.

So wurde in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen, die einmal das Verhältnis von Juden und Christen, zum anderen das Verhältnis zwischen den getrennten Christen aufgreifen, klargestellt, dass man den Zeitgenossen nicht die Sünden der Vorfahren anlasten kann, nur weil sie Mitglieder derselben religiösen Gemeinschaft sind: 

- "Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen."<ref> Nostra aetate, 4. </ref>   
- "In dieser einen und einzigen Kirche Gottes sind schon von den ersten Zeiten an Spaltungen entstanden, die der Apostel aufs schwerste tadelt und verurteilt; in den späteren Jahrhunderten aber sind ausgedehntere Verfeindungen entstanden, und es kam zur Trennung recht großer Gemeinschaften von der vollen Gemeinschaft der katholischen Kirche, oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten. Den Menschen jedoch, die jetzt in solchen Gemeinschaften geboren sind und in ihnen den Glauben an Christus erlangen, darf die Schuld der Trennung nicht zur Last gelegt werden - die katholische Kirche betrachtet sie als Brüder und Schwestern, in Verehrung und Liebe."<ref>Unitatis redintegratio, 3. </ref>

Für das erste Heilige Jahr, das nach dem Konzil 1975 gefeiert wurde, hatte Paul VI. das Thema "Erneuerung und Versöhnung"<ref>Vgl. Paul VI. Apostolisches Schreiben Apostolorum limina, 23. Mai 1974 (Enchiridion Vaticanum 5, 305).</ref> vorgegeben, und er präzisierte es dann in der Exhortatio Apostolica Paterna cum benevolentia. Versöhnung muss sich vor allem und zuerst unter den Gläubigen der katholischen Kirche vollziehen".<ref>Paul VI. Exhortatio Paterna cum benevolentia, 8. Dezember 1974 (Enchiridion Vaticanum 5, 526-553).</ref> Wie seit seinen Anfängen bleibt das Heilige Jahr eine Gelegenheit zur Umkehr und Wiederversöhnung der Sünder mit Gott mittels des Heilsdienstes der Kirche, den sie in ihren Sakramenten ausübt. 

Die Vergebungsbitten Johannes Pauls II. 

Papst Johannes Paul II. hat das Bedauern über die "schmerzenden Erinnerungen", die die Geschichte der innerchristlichen Spaltungen begleiten, nicht einfach nur wiederholt. Er ist über die Erklärungen seines Vorgängers Pauls VI. wie auch des II. Vatikanischen Konzils hinausgegangen<ref>Vgl. Enzyklika Ut unum sint, vom 25. Mai 1995, Nr. 88: "Für das, wofür wir verantwortlich sind, bitte ich um Verzeihung."</ref> und hat die Vergebungsbitte auf eine Vielzahl von historischen Vorgängen ausgedehnt, in die die Kirche oder einzelne Gruppen von Christen - freilich in jeweils spezifischer rechtlich-politischer Kompetenz - involviert waren<ref>Einige Beispiele: Im Rahmen der Heiligsprechung des Jan Sarkander in der Tschechischen Republik am 21. Mai 1995 bittet der Papst "im Namen aller Katholiken um Verzeihung für das von ihnen im Lauf der Geschichte verursachte Unrecht gegenüber Nicht-Katholiken" in Mähren. - In seiner Botschaft an die Indianer Amerikas in Santo Domingo am 13. Oktober 1992 und in der Ansprache zur Generalaudienz vom 21. Oktober 1992 wollte er einen "Akt der Sühne" leisten und die indianische Urbevölkerung von Lateinamerika sowie die als Sklaven deportierten Afrikaner um Vergebung bitten. - Wegen der Versklavung der Schwarzen hatte er schon zehn Jahre zuvor an die Afrikaner eine Bitte um Vergebung gerichtet (Ansprache in Yaoundé am 13. August 1985).</ref>.

In dem Apostolischen Schreiben Tertio Millennio Adveniente <ref>Vgl. TMA, 33-36.</ref> kündigte der Papst an, dass das Jubiläum des Jahres 2000 die Gelegenheit biete zu einer "Reinigung des Gedächtnisses" der Kirche "von allen Denk und Handlungsweisen, die im Verlauf des vergangenen Millenniums geradezu Formen eines Gegenzeugnisses und Skandals darstellten"<ref> TMA, 33. </ref>.

Die Kirche ist eingeladen, "sich stärker der Schuld ihrer Söhne und Töchter bewusst zu werden". "Die Heilige Pforte des Jubeljahres 2000 wird in symbolischer Hinsicht größer sein müssen als die vorhergehenden." Darum kann sie "die Schwelle des neuen Jahrtausends nicht überschreiten, ohne ihre Kinder dazu anzuhalten, sich durch Reue von Irrungen, Treulosigkeiten, Inkonsequenzen und Verspätungen zu reinigen"<ref>TMA, 33. </ref>. Auch an die Verantwortlichkeit der Christen für die Übel unserer Zeit wird erinnert<ref>Ebd. 36. </ref>, wenngleich der Akzent vornehmlich auf der Solidarität der Kirche von heute mit den Fehlhaltungen von gestern liegt, wovon schon die Rede war, wobei etwa an die Spaltung der Christenheit zu denken ist<ref>Ebd. 34. </ref> oder an "die Methoden der Intoleranz oder sogar der Gewalt"<ref>Ebd. 35. </ref>, die für die Verkündigung des Evangeliums herangezogen wurden. 

Fördern möchte der Papst auch eine theologische Vertiefung dieser bewussten Annahme des historischen Versagens und der möglichen Bitte um Vergebung gegenüber den Zeitgenossenz<ref>Dieser letztgenannte Aspekt kommt in TMA nur in Nr. 33 zum Vorschein, wo von der Kirche gesagt wird: "Obwohl die Kirche durch ihr Einverleibtsein in Christus heilig ist, wird sie nicht müde, Buße zu tun: sie anerkennt immer, vor Gott und den Menschen, die Sünder als ihre Söhne. </ref>. Im Apostolischen Schreiben Reconciliatio et Paenitentia bekräftigt er den Glauben, dass im Sakrament der Buße "der Sünder sich mit seiner Schuld allein vor Gott gestellt sieht, seiner Reue und seinem Heilsvertrauen. Keiner kann an dessen Stelle oder in seinem Namen um Vergebung bitten." Die Sünde ist daher immer der Person eigen, wenn sie auch die ganze Kirche verletzt und beeinträchtigt, die, vergegenwärtigt durch den Priester als Diener des Bußsakraments, die sakramentale Vermittlerin der Versöhnungsgnade mit Gott ist<ref>Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Reconciliatio et Paenitentia (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 60), vom 2. Dezember 1984, 31.</ref>. 

Auch die Situationen, die innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft durch Verletzung der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens die "soziale Sünde" bedingen, "sind immer Frucht, Verknotungen und Zusammenballung von persönlichen Sünden". So sehr sich oft auch die moralische Verantwortung in anonymen Ursachen fast aufzulösen scheint, so sehr muss man dagegen betonen, dass von sozialer Sünde nur in einem analogen Sinn die Rede sein kann<ref>Reconciliatio et Paenitentia, 16. </ref>.

Daraus ergibt sich die Einsicht, dass Schuld im eigentlichen Sinne des Wortes den Personen nicht angerechnet werden kann, die nicht freiwillig in Tat, Unterlassung oder Fahrlässigkeit dem schuldhaften Tun zugestimmt haben. 

Die zur Beantwortung anstehenden Fragen 

Die Kirche ist eine lebendige Gemeinschaft, die in der Folge der Generationen durch die Geschichte geht. Ihr Gedächtnis ist nicht nur durch die auf die Apostel zurückreichende Tradition geprägt. In ihrem Gedächtnis sind auch die verschiedensten historischen Erfahrungen im positiven und negativen Sinn gespeichert, die sie erlebt und durchlebt hat. Die Geschichte der Kirche bestimmt zu einem großen Teil ebenso ihr Bewusstsein in der Gegenwart. Die Lehrtradition, die Überlieferungen ihres liturgischen, kanonischen und aszetischen Lebens bieten der gegenwärtigen Gemeinschaft der Glaubenden reiche Nahrung. Sie sind gleichsam wie ein unerschöpflicher Katalog von nachahmenswerten Modellen, die für die Gestaltung christlichen Lebens bereitstehen. Aber während ihrer ganzen irdischen Pilgerschaft wird der gute Weizen unentwirrbar mit dem Unkraut zusammenstehen (vgl. Mt 13,24-30. 36-43), d.h. die Heiligkeit steht neben Untreue und Sünde<ref>Vgl. Augustinus, De civitate Dei I,35 (CCL 47,33); XI,1 (CCL 48,321); XIX,26 (CCL 48,696). </ref>

Und so kann die Erinnerung an die Ärgernisse der Vergangenheit das Zeugnis der Kirche von heute behindern, wie umgekehrt das Eingeständnis des Versagens der Söhne und Töchter der Kirche von gestern die Erneuerung und Versöhnung in der Gegenwart begünstigen kann.  Die Schwierigkeit, die sich abzeichnet, besteht in einer genauen Beschreibung der Sünden der Vergangenheit im Hinblick vor allem auf die Kriterien einer historischen Urteilsbildung. Man muss genau unterscheiden zwischen der Verantwortung oder der Schuld, die Christen als gläubigen Gliedern der Kirche zukommt, und den Verfehlungen, die mit der christlich geprägten Gesellschaftsform einiger Jahrhunderte (der sogenannten cristianità) zusammenhängen, als die Strukturen der weltlichen und geistlichen Macht ineinander verwoben waren.

Ohne eine wirklich geschichtliche Hermeneutik, die zwischen dem Handeln der Kirche als Glaubensgemeinschaft und einer christianisierten Gesellschaft klar zu unterscheiden weiß, kommt hier niemand weiter. 

Die von Johannes Paul II. unternommenen Schritte auf konkrete Vergebungsbitten hin sind in den verschiedensten Bereichen, im kirchlichen wie auch im nichtkirchlichen Milieu, als Zeichen der Vitalität und Authentizität der Kirche verstanden worden, die sie in ihrer Glaubwürdigkeit nur bestärken können. 

Damit kann die Kirche auch falsche und nicht akzeptable Vorstellungen über sich relativieren, die in einflussreichen Kreisen gehegt werden, wo man ignorant oder wider besseres Wissen die Kirche mit Obskurantismus und Intoleranz identifiziert. 

Die Vergebungsbitten des Papstes haben indessen im positiven Sinn einen Wetteifer im kirchlichen Bereich und darüber hinaus ausgelöst. Denn auch höchste Repräsentanten von Staaten und privaten wie öffentlichen Gesellschaften sowie die Führer religiöser Gemeinschaften bitten gegenwärtig um Vergebung für bestimmte geschichtliche Vorkommnisse in Perioden, die von Ungerechtigkeiten gekennzeichnet waren.

Diese Handlungen sind das Gegenteil von bloßer Rhetorik, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass viele zögern, die Vergebungsbitte zu billigen und mitzuvollziehen aus Angst vor den - nicht nur im gerichtlichen Sinn verstandenen- "Kosten", die eine Anerkennung der Mitverantwortung für die negativen Ereignisse der Geschichte mit sich bringen könnte. Gerade auch unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die Bildung eines historischen Urteilsvermögens als vordringlich.

Nicht zu übersehen ist auch, dass sich manche Gläubige von dem kirchlichen Schuldbekenntnis vor den Kopf gestoßen fühlen, insofern ihre Loyalität gegenüber der Kirche erschüttert werden könnte. Einige fragen, wie es möglich sein soll, der jungen Generation eine Liebe zur Kirche einzupflanzen, wenn man dieser Vergehen und Sünden anlastet. Andere beobachten mit Sorge, dass das Schuldbekenntnis der Kirche sehr einseitig bleiben könnte und eingefleischte Kirchenhasser es als Bestätigung ihrer Vorurteile und als Waffe antichristlicher Propaganda missbrauchen. 

Andere schrecken davor zurück, die heutigen Generationen der Gläubigen willkürlich für das Versagen in der Vergangenheit zu beschuldigen, vor allem für Taten, denen sie in keiner Weise zugestimmt hätten, obgleich sie sich bereit erklären, Verantwortung zu übernehmen, und zwar in dem Maß, in dem menschliche Gemeinschaften sich auch heute noch von den Nachwirkungen betroffen fühlen, die von den Ungerechtigkeiten herrühren, deren sich ihre Vorfahren schuldig gemacht haben. Andere schließlich halten dafür, dass die Kirche ihr "Gedächtnis reinigen" soll hinsichtlich zweifelhafter Aktionen, in die sie verwickelt war, indem sie einfach teilnimmt an der kritischen Aufarbeitung des historischen Bewusstseins, das sich in unserer Gesellschaft entwickelt hat. So könnte sie gemeinsam mit allen Zeitgenossen all das ablehnen, was das moralische Gewissen zurückweist, ohne sich als die einzige schuldige und verantwortliche Gemeinschaft für alle Übel der Vergangenheit hinzustellen. Dies schließe gleichzeitig den im wechselseitigen Verstehen geführten Dialog mit denen ein, die sich noch heute von Vorgängen der Vergangenheit verletzt fühlen, die Gliedern der Kirche anzukreiden sind. Schließlich ist zu erwarten, dass auch einige andere Gruppen eine vergleichbare Vergebungsbitte reklamieren, analog zu anderen Gruppen oder weil sie glauben, ebenfalls Unrecht erlitten zu haben. 

Auf jeden Fall ist aber festzuhalten, dass die "Reinigung des Gedächtnisses" nicht den Verzicht der Kirche auf ihre Sendung bedeuten kann, die geoffenbarte Wahrheit in Glaubens- und Sittenfragen zu verkünden, die ihr von Gott anvertraut worden ist. 

Es kristallisieren sich also verschiedene wichtige Fragestellungen heraus: Kann man das Gewissen heutiger Menschen mit einer "Schuld" belasten, die untrennbar mit unwiederholbaren historischen Phänomenen verknüpft ist, wie z.B. die Kreuzzüge und die Inquisition? 

Macht man es sich nicht zu leicht, die Protagonisten der Vergangenheit aus der Sichtweise der Gegenwart zu beurteilen, wie es die Schriftgelehrten und Pharisäer taten, die sagten: "Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt, wären wir nicht wie sie am Tod der Propheten schuldig geworden" (vgl. Mt 23,29-32.30). Kann man ohne Rücksicht auf die Zeitumstände, in die jede Gewissensentscheidung eingebettet ist, die Handlungsweise der Vorfahren von einem (nur scheinbar) übergeschichtlich-reinen Gewissensstandpunkt aus beurteilen? Aber von der anderen Seite her betrachtet kann man sicher nicht leugnen, dass das moralische Urteil immer im Spiel bleibt, schon allein auf Grund der schlichten Tatsache, dass die Wahrheit Gottes und ihre moralischen Forderungen immer Bestand haben. Welche Haltung hier auch immer einzunehmen sein mag, sie muss sich an diesen Fragen orientieren und darf ihr Niveau nicht unterschreiten. Es gilt, Antworten zu suchen, die zutiefst fundiert sind in der Offenbarung und in ihrer lebendigen Weitergabe im Glauben der Kirche. 

Die vordringlichste Aufgabe besteht in der Beantwortung der Frage, welche Form die Vergebungsbitte für Verfehlungen aus der Vergangenheit haben kann, besonders wenn sie sich an heutige menschliche Gemeinschaften richtet. 

Entscheidend ist hier das Evangelium von der Versöhnung des Menschen mit Gott und dem Nächsten. Diese Botschaft kann in ihrer tiefsten Bedeutung nur im Horizont eines biblischen und theologischen Horizontes erhellt werden. 

Zweites Kapitel: BIBLISCHE ZUGÄNGE ZUR FRAGE: HEILIGES GOTTESVOLK UND SCHULD 

Man kann das Schuldbekenntnis Israels im Alten Testament theologisch in verschiedener Weise herausarbeiten. Das gilt auch für das Sündenbekenntnis, wie es sich in den Überlieferungen des Neuen Testaments darstellt <ref>Zu den verschiedenen Methoden der Schriftinterpretation vgl. das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission Die Interpretation der Bibel in der Kirche (1993).</ref>. 

Die Aufgabe, das Schuldbekenntnis der Kirche theologisch zu reflektieren, legt einen thematischen Zugang nahe, der sich von der Frage führen lässt: In welchem Sinnkontext und Referenzrahmen steht nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift die Einladung Johannes Pauls II. an die Kirche, Sünden und Fehler der Vergangenheit zu bekennen? 

Altes Testament 

Sündenbekenntnisse und Vergebungsbitten finden sich in der ganzen Heiligen Schrift, in den Geschichtserzählungen des Alten Testaments ebenso wie in den Psalmen, den Propheten und in den Evangelien. Das gilt gleichfalls, wenn auch eher sporadisch, für die Weisheitsliteratur und die neutestamentlichen Briefe. Angesichts der Überfülle der Zeugnisse stellt sich die Frage, wie man die sprechendsten Zeugnisse auswählen und inhaltlich ordnen soll.

Man kann die biblischen Zeugnisse in Bezug auf das Sündenbekenntnis mit der Leitfrage untersuchen: Wer bekennt wem welche Sünde? 

Anhand dieser Fragestellung ergeben sich zwei Hauptkategorien der Sündenbekenntnisse, wozu natürlich diverse Unterkategorien gehören: a) Texte des Bekenntnisses individueller Sünden, und b) Texte mit dem Bekenntnis der Sünden des ganzen Volkes (und der Vorfahren).

Angesichts der aktuellen kirchlichen Praxis, der diese Untersuchung dient, empfiehlt sich eine Beschränkung der Analyse auf die zweite Kategorie.

In dieser Kategorie des Sündenbekenntnisses des ganzen Volkes lassen sich verschiedene Möglichkeiten unterscheiden: Wer spricht das Bekenntnis der Sünden des Volkes, wer ist miteinbezogen und wer nicht, noch ganz abgesehen davon, ob und inwieweit sich ein Bewusstsein persönlicher Verantwortlichkeit erkennen lässt, das sich erst nach und nach ausgebildet hat (vgl. Ez 14,12-23;18,1-32; 33,10-20).

Anhand dieser Kriterien sind folgende Fälle zu unterscheiden, die aber durchaus fließende Übergänge aufweisen:

- Eine erste Reihe von Texten zeigt das ganze Volk (das manchmal in einem einzelnen "Ich" personifiziert ist), wie es in einem besonderen Moment seiner Geschichte seine Sünden vor Gott bekennt oder auf sie hinweist, ohne dass irgendein (expliziter) Bezug auf die Sünden und Fehler vorangegangener Generationen hergestellt wird<ref> Aus dieser Reihe von Texten sind als Beispiele zu nennen Dtn 1,41: Die Wüstengeneration bekennt, gesündigt zu haben durch die Weigerung, in das verheißene Land hinaufzuziehen; Ri 10,10. 12: Zur Zeit der Richter sagt das Volk zweimal "wir haben gesündigt" gegen den Herrn, da sie den Baalen gedient haben; 1 Sam 7,6: Das Volk zur Zeit des Samuel bekennt: "Wir haben gegen den Herrn gesündigt!"; Num 21,7: Dieser Text unterscheidet sich insofern, als das Volk der Mosegeneration hier zugibt, sich mit seiner Klage über "die elende Speise" der "Sünde" schuldig gemacht zu haben, weil es gegen den Herrn und auch gegen seinen menschlichen Führer, Mose, gemurrt hatte; 1 Sam 12,19: Die Israeliten der Samuelepoche erkennen an, dass sie, indem sie einen König forderten, dies "zu all ihren Sünden hinzugefügt haben"; Esra 10,13: Das Volk erkennt vor Esra, schwer gesündigt zu haben, da man sich mit fremden Frauen verheiratet hatte; vgl, auch Ps 65,2; 90,8;103,10 (107,10-11.17); Jes 59,9-15; 64,5-9; Jer 8,14;14,7; Klgl 1,14.18a. 22 (das "Ich" ist hier die Personifikation Jerusalems); 3,42 (4,13); Bar 4,12-13: Zion ruft die Sünden seiner Söhne wach, die zu seiner Verwüstung beigetragen haben; Ez 33,10; Mi 7,9 ("Ich").18-19.</ref>. 

- Eine zweite Gruppe von Texten legt das Bekenntnis der Sünden des Volkes vor Gott auf die Lippen einzelner oder mehrerer (religiöser) Autoritäten, die sich ausdrücklich in das Volk, für das sie bitten, miteinschließen können (oder auch nicht)<ref>Zum Beispiel Ex 9,27, wo der Pharao zu Mose und Aaron sagt: "Diesmal bekenne ich mich schuldig. Jahwe ist im Recht; ich aber und mein Volk, wir sind im Unrecht."; Ex 34,9: Mose bittet: "Vergib uns unsere Schuld und Sünde"; Lev 16,21: Der Hohepriester bekennt am großen Versöhnungstag die Sünden des Volkes, während er seine Hände auf den Kopf des "Sündenbocks" legt und diesem so die Sünden auflädt; Ex 32,11-13 (vgl. Dtn 9,26-29: Mose); Ex 32,31 (Mose); 1 Kön 8,33ff. (vgl. 2 Chr 6,22ff.): Salomon bittet, dass Gott mögliche zukünftige Sünden vergebe; 2 Chr 28,13: Die Führer Israels beteuern: "Unsere Schuld ist schon groß genug; Esra 10,2. Schechanja sagt zu Esra: "Ja, wir haben unserem Gott die Treue gebrochen; wir haben fremde Frauen aus der Bevölkerung des Landes geheiratet; Neh 1,5-11: Nehemia bekennt die vom Volk Israel begangenen Sünden, sowohl seine eigenen wie auch die des Hauses seines Vaters; Est 4,17n: Esther bekennt: "Wir haben gesündigt gegen dich und du hast uns unseren Feinden ausgeliefert, weil wir ihre Götter verehrt haben"; 2 Makk 7,18. 32: Die jüdischen Märtyrer bekennen, dass sie zu leiden haben wegen "unserer Sünden" gegen Gott. -</ref>.  
- Eine dritte Textgruppe stellt das Volk oder einen seiner Repräsentanten vor, wie diese die Sünden der Vorfahren ins Gedächtnis rufen, ohne dabei jedoch die Sünden der gegenwärtigen Generation zu erwähnen<ref>Als Beispiele kann man anführen 2 Kön 22,13 (vgl. 2 Chr 34,21): Joschija fürchtet den Zorn des Herrn, "weil unsere Väter auf die Worte dieses Buches nicht gehört haben; 2 Chr 29,5-7: Der König Hiskija sagt zu den Priestern und Leviten: "Heiligt euch jetzt, und heiligt das Haus des Herrn. Schafft alles Unreine aus dem Heiligtum. Unsere Väter haben treulos gehandelt und getan, was dem Herrn missfiel"; Ps 78,8ff.: Der Beter spricht in Ich-Form: "... damit sie nicht werden wie ihre Väter, jenes Geschlecht voll Trotz und Empörung; zu beachten ist aber auch die sprichwörtliche Rede Jer 31,29f. und Ez 18,2: "In jenen Tagen sagt man nicht mehr: Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Söhnen werden die Zähne stumpf. Nein, jeder stirbt nur für seine eigene Schuld: nur dem, der die sauren Trauben isst, werden die Zähne stumpf. </ref>. 
- Sehr häufig werden die Sündenbekenntnisse, die die Schuld der Vorfahren erwähnen, ausdrücklich auf die Irrtümer der gegenwärtigen Generation bezogen und mit ihnen in Verbindung gebracht<ref>Dies ist etwa der Fall Lev 26,40: Die Exilierten sollen "ihre und ihrer Väter Treulosigkeit eingestehen"; Esra 9,56-15, das Bußgebet des Esra, V. 7: "Seit den Tagen unserer Väter bis heute sind wir in großer Schuld"; vgl. Neh 9,6-37; Tob 3,1-5: In seinem Gebet ruft Tobit zu Gott: "Strafe mich nicht für die Sünden und Fehler, die ich und meine Väter dir gegenüber begangen haben (V. 3). In V. 5 stellt er fortfahrend fest: "denn wir haben deine Gebote nicht gehaltene"; Ps 79,8-9: In diesem Volksklagelied wird Gott angefleht: "Rechne uns die Schuld der Vorfahren nicht an ... Reiß uns heraus und vergib uns die Sünden!"; Ps 106,6: "wir haben gesündigt wie unsere Väter"; Jer 3,25: "Wir haben gesündigt gegen den Herrn unseren Gott ... wir und unsere Väter"; Jer 14,19-22: "Wir erkennen, Herr, unser Unrecht und die Schuld unserer Väter" (V. 20); Klgl 5,7: "Unsere Väter sündigten; sie sind nicht mehr. Wir müssen ihre Schuld tragen"; Klgl 5,16 b: "Weh uns, wir haben gesündigt; Bar 1,15-3,18; Bar 1,17: "wir haben gesündigt vor dem Herrn; vgl. Bar 1,19. 21; 2,5. 24; Bar 3,5: "gedenke nicht der Treulosigkeit unserer Väter; vgl. 2,23; 3,4.7; Dan 3,26-45: Asarja betet: "Ja, nach Wahrheit und Recht hast du all dies wegen unserer Sünden herbeigeführte (V. 28); Dan 9,4-19: "Wegen unserer Sünden und der bösen Taten unserer Väter sind Jerusalem und das ganze Volk zum Gespött für alle geworden, die rings um uns wohnen" (V.16).</ref>.

Aus den angeführten Zeugnissen ergibt sich: In allen Fällen, in denen die "Sünden der Väter" erwähnt werden, richtet sich das Bekenntnis ausschließlich an Gott. Alle Sünden, die das Volk bekennt oder die in seinem Namen bekannt werden, sind immer Sünden, die sich unmittelbar gegen Gott gerichtet haben, eher als die Sünden, die man gegenüber anderen Menschen beging (nur im Sündenbekenntnis von Num 21,7 ist eine Auflehnung erwähnt, die sich gegen einen Menschen richtet, nämlich gegen Mose)<ref>Das schließt den Mangel an Vertrauen Gott gegenüber ein (wie zum Beispiel Dtn 1,41; Num 14,10), die Idolatrie (wie in Ri 10, 10-15), das Verlangen nach einem Menschen als König (1 Sam 12,9), die Eheschließung mit fremden Frauen im Widerspruch zum Gesetz Gottes (Esra 9-10). In Jes 59,13 b sagt das Volk von sich: "Wir reden von Gewalt und Aufruhr, wir haben Lügen im Herzen und sprechen sie aus."</ref>.

Somit erhebt sich die Frage nach dem Grund, warum die biblischen Schriftsteller nicht die Notwendigkeit einer an die gegenwärtigen Partner gerichteten Vergebungsbitte für die von den Vätern begangenen Sünden gesehen haben. Dies ist um so bemerkenswerter angesichts des klaren Bewusstseins der generationenübergreifenden Solidarität im Guten wie im Bösen (man denke nur an die Vorstellung der "korporativen Persönlichkeit"). Die verschiedensten Hypothesen wurden als Antwort auf diese Fragen aufgestellt. 

Als allerwichtigster Umstand ist hier die biblische Theozentrik zu beachten. Sie bestimmt die gesamte  Schrift, sie stellt alle individuellen Sünden und Verfehlungen des Volkes in den Horizont Gottes. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Gewalttätigkeiten Israels gegen andere Völker, für die man eine Vergebungsbitte Israels an diese Völker und ihre Nachkommen erwarten sollte, als Ausführung des göttlichen Heilsplans mit Israel verstanden wurden (insofern sich diese Völker der Führung Israels durch Gott entgegengestellt hatten). Die Interpretation der kriegerischen Konflikte Israels im Licht der Führungsgeschichte Jahwes findet man etwa im Zusammenhang der Ausrottung der Kanaanäer (Jos 2-11; Dtn 7,2) oder der Vernichtung der Amalekiter (1 Sam 15; Dtn 25,19). In solchen Fällen scheint die Ausführung eines von Gott erhaltenen Auftrags von vornherein jede mögliche Vergebungsbitte auszuschließen<ref>Einen vergleichbaren Fall stellt die Verstoßung der fremden Frauen durch die Juden nach Esra 9-10 dar. Die Frage nach einer Bitte um Vergebung für die negativen Konsequenzen, die das für diese Frauen und ihre Nachkommen hatte, stellt sich nicht, da diese Verstoßung als Ausführung des Gesetzes Gottes aufgefasst wurde (vgl. Dtn 7,3).</ref>.

Die üblen Erfahrungen mit der Gewalttätigkeit anderer Völker dürften die Idee einer Bitte um Vergebung an diese Völker für das ihnen zugefügte Böse nicht gerade gefördert haben".<ref>Man kann hier an die ständig gespannten Beziehungen zwischen Israel und Edom denken. Obwohl Edom eigentlich ein "Brudervolk" Israels war, nahm es begeistert an der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier teil (vgl. Obd 10-14). Angesichts dieser schändlichen Behandlung sah Israel keine Notwendigkeit, für das Blutbad an unbewaffneten edomitischen Gefangenen unter dem König Amazja um Vergebung zu bitten (vgl. 2 Chr 25,12). </ref>  Aufs ganze gesehen darf aber der bedeutende Beitrag des Alten Testaments zum Thema in der Vergebungsbitte für Unrecht aus der Vergangenheit bestehen. Es ist das Bewusstsein der Solidarität in der Sünde wie auch in der Gnade, die es unter den Generationen gibt, die in der Aufeinanderfolge ein Volk zu einem geschichtlichen Subjekt machen. Es findet seinen Ausdruck im Bekenntnis der "Sünden der Väter vor Gott". Daher konnte Johannes Paul II. die tiefgründigen Worte aus dem Lobgesang Asarjas im Feuerofen aufgreifen und im Blick auf die Gegenwart bekennen: "<Gepriesen bist du, Herr Gott unserer Väter... wir haben gesündigt und durch Treubruch gefrevelt und haben in allem gefehlt. Wir haben deinen Geboten nicht gehorcht> (Dan 3,26.29). Auf diese Weise beteten die Juden nach dem Exil (vgl. auch Bar 2,11-13), indem sie bewusst die Last der Sünden auf sich nahmen, die ihre Väter begangen hatten. Die Kirche ahmt ihr Beispiel nach und bittet um Vergebung für die vergangenen Sünden auch ihrer Söhne und Töchter."<ref>Johannes Paul II., Ansprache am 1. September 1999, in: L`Osservatore Romano, 2. September 1999, 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 10. September 1999, 2).</ref>

Neues Testament

Entscheidend für das Verständnis von Schuld und Sünde im gesamten Neuen Testament ist das Bewusstsein von der absoluten Heiligkeit Gottes. Der Gott Jesu ist der Gott Israels (vgl. Joh 4,22), den Jesus anspricht als "Heiliger Vater" (Joh 17,11), der auch schlechthin "der Heilige" (Joh 2,20; vgl. Offb 6,10) genannt wird. Das Dreimal-Heilig der Jesaja-Vision  (Jes 6,3) ertönt auch in der himmlischen Liturgie, wie der Seher Johannes bezeugt (Offb 4,8). Deswegen sind die Christen mit apostolischer Autorität (1 Petr 1,16) aufgerufen zur Heiligkeit, "weil geschrieben steht: Seid heilig, wie ich heilig bin" (Lev 11,44f.;19,2). In diesen Aussagen spiegelt sich das alttestamentliche Verständnis der absoluten Heiligkeit Gottes wider. Die spezifisch christliche Sicht ist das Bekenntnis, dass Gottes Heiligkeit in der Person Jesu von Nazaret in die Geschichte eingetreten ist. Damit ist aber die alttestamentliche Sicht nicht aufgegeben, sondern erst in ihrem vollen Sinn ans Licht getreten. Die Heiligkeit Gottes vergegenwärtigt sich in der Heiligkeit des fleischgewordenen ewigen Wortes, des Sohnes Gottes (Mk 1,24; Lk 1,35; 4,34; Joh 6,69; Apg 3,14; 4,27.30; Offb 3,7). An der Heiligkeit des Sohnes haben "die Seinen" Anteil (Joh 17,16-19), da sie hineingenommen sind in die Sohnesbeziehung Christi zum Vater. Sie sind Söhne und Töchter Gottes im Sohn Gottes (vgl. Gal 4,4-6; Röm 8,14-17). Doch kann es keinen Anspruch auf die Anteilnahme am Sohnesverhältnis Jesu zum Vater geben, ohne dass es sich auch in der Liebe zum Nächsten auswirkt (vgl. Mk 12,29-31; Mt 22,37f.; Lk 10,27f.). Dieses Motiv, das in der Verkündigung Jesu so entscheidend ist, begegnet im Johannesevangelium als "das neue Gebot": Die Jünger müssen einander lieben, wie er sie geliebt hat (vgl. Joh 13,34f.;15,12.17), und zwar "bis zur Vollendung" (Joh 13,1f .).

Der Christ ist darum berufen zu lieben und zu vergeben nach einem Maß, das alles menschliche Maß von Gerechtigkeit übersteigt. Es geht um eine Wechselseitigkeit der Liebe unter den Menschen, welche die Gemeinschaft der Liebe von Vater und Sohn widerspiegelt (vgl. Joh 13,34f.;15,1-11;17,21-26). In dieser Perspektive erhält das Thema der Wiederversöhnung und der Vergebung eine ganz neue Ausprägung. Jesus verlangt von seinen Jüngern, immer zur Vergebung bereit zu sein, wenn sich jemand an ihnen versündigt hat, so wie auch Gott selbst immer Vergebung gewährt: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigem" (Mt 6,12.12-15), wie Jesus die Jünger im Gebet des Herrn zu sprechen gelehrt hatte. Wer wirklich seinem Nächsten vergibt, hat verstanden, dass er selber immer der Vergebung Gottes bedarf. Die Jünger sind eingeladen, bis zu "siebenmal siebzigmal" denen zu vergeben, die sie beleidigten, selbst wenn diese sie nicht um Verzeihung gebeten haben sollten (vgl. Mt 18,21f.).

Jesus insistiert auf diesem Verhalten des Geschädigten gegenüber seinen Schuldigem. Er ist aufgerufen, den ersten Schritt zu tun. Nur der kann den Teufelskreis der Vergeltung durchbrechen, der "von Herzen" vergibt (vgl. Mt 18,35; Mk 11,25), wohlwissend, dass er selbst Sünder ist vor Gott, der die ehrliche Bitte um Vergebung nie zurückweist. In der Bergpredigt erwartet Jesus von dem, der weiß, dass sein Bruder etwas gegen ihn hat, "dass er hingeht und sich mit seinem Bruder versöhnt, ehe er seine Gabe auf dem Altar opfert" (Mt 5,23f.). Derjenige ist eines Aktes der Verehrung Gottes nicht würdig, der nicht zuvor den Schaden wiedergutmachen will, den er dem Nächsten zugefügt hat. Was zählt, ist Herzensänderung und die Bereitschaft zu wirklicher Versöhnung. Der Sünder, der darum weiß, dass seine bösen Taten seine Beziehung zu Gott und zugleich zum Mitmenschen geschädigt haben (Lk 15,21), kann von niemandem außer von Gott Vergebung erwarten, weil Gott allein immer barmherzig und zur Überwindung der Sünden bereit ist. Darin liegt auch der tiefere Sinn des Opfers Christi, der uns ein für allemal von unseren Sünden erlöst hat (vgl. Hebr 9,22; 10,18). Auf diese Weise sind Menschen, als Täter und Opf er der bösen Taten, in Gott wieder miteinander versöhnt in seiner Barmherzigkeit, in der er alle annimmt und allen seine Vergebung gewährt.

Im Kontext dieser Aussagen, die man mühelos mit Hilfe der Paulinischen und der Katholischen Briefe und weiterer neutestamentlicher Schriften noch anreichern und ausbauen könnte, findet man jedoch nirgends ein Indiz dafür, dass die Urkirche ihre Aufmerksamkeit den Sünden der Vergangenheit zugewendet hätte mit der Absicht, für sie um Vergebung zu bitten. Das lässt sich leicht erklären. Die ungeheure Neuheit des Christlichen hat das Bewusstsein der jungen Kirche ganz auf die Zukunft gerichtet. Der Blick in die Vergangenheit tritt zurück. Man trifft jedoch auf eine Einsicht, die in den Evangelien und in den apostolischen Briefen immer neu und mit Nachdruck betont wird: die besondere Ambivalenz der christlichen Hoffnung. Bei Paulus ist die Kirche, das neue Volk Gottes, eine eschatologische Gemeinde, die jetzt schon als die "neue Schöpfung" (2 Kor 5,17; Gal 6,15) existiert. Diese Erfahrung hat ihren Ermöglichungsgrund in Tod und Auferstehung Christi (vgl. Röm 3,21-26; 5,6-11; 8,1-11; 1 Kor 15,54-57). Sie befreit uns aber nicht von der Neigung zur Sünde, solange wir in dieser Weltzeit leben, die noch bis zur Parusie vom Fall Adams geprägt bleibt. 

Als Ergebnis des göttlichen Eingreifens in die Geschichte durch den Tod Jesu Christi bleiben zwei mögliche Szenarien übrig: die Geschichte in der Konsequenz der Sünde Adams und die Geschichte unter der Macht der Gnade Christi. Diese beiden Grundorientierungen durchziehen die Geschichte und laufen nebeneinander her. Der Glaubende jedoch wird voll und ganz auf Tod und Auferstehung Christi, des Herrn, bauen (vgl. Röm 6,1-11; Gal 3,27f; Kol 3,10; 2 Kor 5,14f .) und so zu der Geschichte gehören, in der die Gnade überreich wurde und alles durchprägt (vgl. Röm 5,12-21).

Eine ähnliche theologische Relecture des Osterereignisses zeigt, dass die Kirche seit ihren Anfängen ein deutliches Bewusstsein hatte von möglichen Fehlern und Mängeln der Getauften. Ohne weiteres kann man sagen, dass das gesamte paulinische Schrifttum die Gläubigen zur vollen Erkenntnis ihrer Würde führen möchte, indem sie zugleich an die Gebrechlichkeit der menschlichen Existenz erinnert werden. Die Conditio humana et christiana umschreibt der Apostel so: "Zur Freiheit hat Christus uns befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal 5,1). Eine ähnliche Aussage findet sich besonders auch im Markusevangelium. Zu den Hauptthemen zählen dort die Fehler und Mängel der Jünger Jesu (vgl. Mk 4,40f.; 6,36f.51f.; 8,14-21.31-33; 9,5f.32-41; 10,32-45; 14,10f.17-21.27-31.50; 16,8). Dieses Motiv findet sich in unterschiedlicher Schattierung in allen Evangelien. Judas ist der Verräter Christi und Petrus hat seinen Meister verleugnet. Judas verzweifelt angesichts seiner Tat (vgl. Apg 1,15-20), während Petrus bereut (vgl. Lk 22,61f.) und schließlich das dreifache Bekenntnis der Liebe ablegt (vgl. Joh 21,15-19). Bei Matthäus findet sich die Bemerkung, dass bei der letzten Erscheinung des auferstandenen Herrn "einige zweifelten" (Mt 28,17), während die Jünger vor ihm niederknieten. Im vierten Evangelium sind die Jünger diejenigen, die mit einer unvergleichbaren Liebe beschenkt sind, obgleich ihre Antwort verdunkelt ist von Unverständnis, Glaubensschwäche, Verleugnung und Verrat (vgl. Joh 13,1-38). 

Diese durchgängige Darstellung der Jünger, die in die Nachfolge Jesu berufen sind und die doch unsicher und zur Sünde geneigt bleiben, dient nicht einfach nur einer bloßen Information über historische Vorkommnisse der Anfangszeit. Die biblischen Erzählungen richten sich an alle Jünger Christi, die in schwierige Situationen geraten und das Evangelium als Orientierung für das Leben und als Quelle geistlicher Belehrung ansehen. So ist das Neue Testament voll von Ermahnungen zu einem Leben nach dem Maß des Guten, zur Erkenntnis der eingegangenen Verpflichtungen und zur Vermeidung böser Taten (vgl. etwa Jak 1,5. 8.19-21; 2,1-7; 4,1-10; 1 Petr 1,13-25; 2 Petr 2,1-22; Jud 3-13; 1 Joh 1,5-10; 2,1-11.18-27; 4,1-6; 2 Joh 7-11; 3 Joh 9f.).

Es bleibt aber festzuhalten, dass es kein explizites Zeugnis gibt, nach dem die ersten Christen aufgefordert werden, Sünden und Fehler aus der vergangenen Geschichte zu bekennen, auch wenn es bezeichnend ist, dass die Wirklichkeit der Sünde und des Bösen in Erinnerung gerufen wird auch und gerade für das innere Leben der Kirche, deren Glieder, die Christen, zur eschatologischen Existenz berufen sind. Man denke nur an die starken Worte des Tadels, die sich in den Briefen an die sieben Kirchen in der Apokalypse des Johannes finden.  Belehrt von ihrem Herrn beten die Christen: "Erlass uns unsere Schuld, wie auch wir jedem erlassen, was er uns schuldig ist" (Lk 11,4; vgl. Mt 6,12). 

Es besteht kein Zweifel, dass sich die ersten Christen -  überblickt man den biblischen Befund - durchaus der Möglichkeit bewusst waren, in ihrem Handeln von ihrer Berufung zum ewigen Leben abzuweichen, das ihnen zuteil geworden war in der Taufe auf den Tod und die Auferstehung Jesu Christi. 

Das biblische "Jubeljahr" 

Darüber hinaus gibt uns die Bibel einen besonderen Rahmen für eine Versöhnung, die auf eine Überwindung der Altlasten der Geschichte hinzielt: die Feier des "Jubeljahres", wie es im einzelnen im Buch Leviticus geregelt ist (Lev 25). 

In einer Sozialstruktur, die aus Stämmen, Clans und Großfamilien besteht, entstehen unvermeidlicherweise Situationen der Unordnung, wenn Individuen oder Familien sich genötigt sehen, sich aus unerträglichen Lebensumständen "auszulösen" durch Verzicht auf ihr Eigentum an Land oder Haus oder ihren Knechten und Kindern, die sie an diejenigen abgeben mussten, die ohnehin schon unter besseren Bedingungen lebten. Ein solches System führte dazu, dass einige Israeliten in unerträgliche Formen der Verschuldung, der Armut und Schuldsklaverei gerieten ausgerechnet in dem Land, das ihnen und den Israeliten von Gott selbst zum Nutzen und Formen aller geschenkt worden war, nachdem er sie aus der Sklaverei und Knechtschaft Ägyptens befreit hatte. Für eine mehr oder weniger lange Zeit konnten also ein Territorium oder ganze Familien in die Hand weniger Reicher fallen, während sich andere Israeliten in hoffnungsloser Verschuldung und Knechtschaft in totaler Abhängigkeit von den Reichen wiederfanden.

Die Gesetzgebung von Levitikus 25 ist der Versuch, diese Ungleichheit und Ungerechtigkeit von Grund auf zu überwinden. Wenn auch Zweifel bestehen, ob der Versuch jemals vollkommen in die Praxis umgesetzt werden konnte, so ist doch die Zielsetzung von großer Wirkung. Die Feier des Jubeljahres alle 50 Jahre hatte zum Ziel, die soziale Grundverfassung des Volkes Gottes zu bewahren und die soziale Unabhängigkeit und Freiheit auch der kleinen Familien des Landes wiederherzustellen.

Entscheidend für Levitikus 25 ist die regelmäßige Wiederholung des Glaubensbekenntnisses Israels. Israel bekennt seinen Glauben an Gott, der sein Volk im Exodus aus der Sklaverei befreit hatte: "Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus Ägypten herausgeführt hat, um euch das Land Kanaan zu geben und euer Gott zu sein" (Lev 25,38; vgl. 25,42. 45). Mit der Feier des Jubeljahres war ein Schuldenerlass verbunden und der Versuch der Wiederherstellung einer gerechten Ordnung. Jedes System, das irgendeinen Israeliten zum Fremden machte, der ja einmal Sklave war, dann aber durch die machtvolle Hand Gottes befreit wurde, widerspräche in der Tat direkt dem göttlichen Heilshandeln. 

Später nehmen die Propheten die Befreiung der Opfer von Gewalt und der unter Ungerechtigkeit Leidenden wieder auf. Es wird geradezu ihr Programm. In den Liedern vom leidenden Gottesknecht (Jes 42, 1-9; 49,1-6; 50,4-11; 52,13-53,12) entwickelt Deutero-Jesaja diese Bezüge zur Praxis des Jubeljahres weiter mit seinen großen Themen vom "Lösegeld" und von der Freiheit, der Rückkehr und der Erlösung. Jesaja 58 ist ein Angriff gegen einen bloßen Ritualismus, der nichts zu tun haben will mit sozialer Gerechtigkeit. Es ergeht der Aufruf zur Befreiung der Versklavten (Jes 58,6). Nachdruck wird gelegt auf die Pflichten gegenüber der Verwandtschaft.

Es gibt keine eindrücklichere Erläuterung des inneren Sinnes des Jubeljahres, als wenn Jesus am Beginn seines öffentlichen Wirkens, mit deutlicher Anspielung auf Jesaja 58,b und mit Rückverweis auf Levitikus 25, die Aufgabe seines Lebens, seine Sendung und seinen Dienst vorstellt mit den Worten:  
"Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt; damit ich den Armen das Evangelium verkünde; damit ich den Gefangenen die Entlassung predige und den Blinden das Augenlicht, damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe" (Lk 4,18f.). 

Zusammenfassung

Aus den bisherigen Untersuchungen kann man ersehen, dass der Aufruf Johannes Pauls II. an die Kirche, das Jubeljahr zu begehen mit dem charakteristischen Merkmal eines Eingeständnisses der Schuld für alle Leiden und Kränkungen, die die Söhne und Töchter der Kirche in der Vergangenheit anderen zugefügt haben<ref> Vgl. TMA, 33-36.</ref>,  in den biblischen Zeugnissen zwar keinen unmittelbaren Vergleichspunkt hat. Dennoch bietet die Heilige Schrift hierfür eine gute und ausreichende Grundlage, sofern man nur an die Grundaussagen zur Heiligkeit Gottes, zur generationenübergreifenden Solidarität im Gottesvolk denkt, und sofern wir uns immer der Tatsache bewusst bleiben, dass wir Sünder sind. 

Zudem trifft der Aufruf des Papstes exakt den Geist des biblischen Jubeljahres, das Handlungen und Taten einfordert, wodurch die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt werden soll, wie Gott sie für seine Schöpfung entworfen hatte. Dies verlangt, dass die Proklamation des "Heute" des Jubeljahres, das mit Jesus selbst seinen Anfang nahm (vgl. Lk 4,21 ), sich in die Jubiläumsfeier seiner Kirche hinein fortsetzt. Diese einzigartige Erfahrung der Gnade motiviert das ganze Gottesvolk und jeden einzelnen Getauften, das Gebot des Herrn ganz ernst zu nehmen, nämlich immer bereit zu sein, seinen Schuldigem zu vergeben. 

Drittes Kapitel: SYSTEMATISCHE DARSTELLUNG 

"Zu Recht nimmt sich daher die Kirche, während sich das zweite christliche Jahrtausend seinem Ende zuneigt, mit stärkerer Bewusstheit der Schuld ihrer Söhne und Töchter an, eingedenk aller jener Vorkommnisse im Laufe der Geschichte, wo diese sich vom Geist Christi und seines Evangeliums dadurch entfernt haben, dass sie der Welt statt eines an den Werten des Glaubens inspirierten Lebenszeugnisses den Anblick von Denk- und Handlungsweisen boten, die geradezu Formen eines Gegenzeugnisses und Skandals darstellten.

Obwohl die Kirche durch ihre Inkorporation in Christus heilig ist, wird sie nicht müde, Buße zu tun, sie anerkennt immer, vor Gott und vor den Menschen, die Sünder als ihre Söhne. "<ref> TMA, 33.</ref> Diese Worte Johannes Pauls II. zeigen, dass sich die Kirche von den Sünden ihrer Glieder selbst betroffen weiß. Die Kirche ist heilig, insofern sie vom Vater durch die Vermittlung des Kreuzesopfers des Sohnes in Heiligkeit konstituiert wurde. Sie ist darum nicht ein menschliches Werk, sondern die Gabe des Heiligen Geistes an die Menschen. Doch in einem gewissen Sinn ist diese Kirche auch Sünderin, insofern sie real die Sünden derer, die sie wie eine Mutter in der Taufe als ihre Kinder geboren hat, auf sich nimmt, ähnlich wie Christus, der selbst ohne Sünden war, die Sünden der Welt, d.h. derer getragen hat, die durch Glaube und Taufe zu Gliedern seines Leibes, der Kirche, werden sollten (vgl. Röm 8,3; 2 Kor 5,21; Gal 3,13; 1 Petr 2,24)<ref> Man denke hier an das bei den christlichen Autoren verschiedener Epochen stets gegenwärtige Motiv des Tadels an der Kirche wegen ihrer Schuld. Ein besonders repräsentatives Beispiel bietet Maximus Confessor, Liber asceticus; PG 90,912-956. </ref>.

Es begegnet uns im Tiefenbewusstsein der Kirche in ihrem Gang durch die Geschichte die Überzeugung, dass die Kirche nicht einfach die Gemeinschaft der Heiligen und Prädestinierten ist, sondern dass sie in ihrem Schoß sowohl Gerechte als auch Sünder umfasst. Dies gilt für ihre Vergangenheit wie für ihre Gegenwart. Denn aus ihrer Herkunft und Sendung ergibt sich ihre die Zeiten übergreifende Einheit als Wesenszug ihres Mysteriums. In der Gnade und auch in den Wunden, die ihr durch die Sünde ihrer Glieder zugefügt wurden, sind sich die Getauften von gestern und heute nahe und verbunden. Darum kann man sagen: Die Kirche, die in Christus und im Heiligen Geist geeint ist und darum eine einzige und selbige Gemeinschaft in Raum und Zeit der Menschheitsgeschichte darstellt, ist in Wahrheit "zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig"<ref>Lumen gentium, 8</ref>.

Dieses Paradox, das das Geheimnis der Kirche charakterisiert, wirft nun die Frage auf, wie man beide Aspekte zusammensehen kann. Denn das Bekenntnis zu Gottes Wirken, aus dem die Kirche hervorgeht, enthält sowohl den Glauben an die Heiligkeit der Kirche und zugleich das Wissen um die immer bleibende Notwendigkeit von Umkehr und Reinigung. 

Die Kirche: Zeichen und Werkzeug des universalen Heilswillens Gottes

"Die Kirche steht inmitten der Geschichte, gleichzeitig aber überschreitet sie auch die Dimension des geschichtlich Greifbaren. Nur <mit den Augen des Glaubens> (Catechismus Romanus 1,10,20) vermag man in ihrer sichtbaren Wirklichkeit auch eine geistige Realität wahrzunehmen, die Trägerin göttlichen Lebens ist."<ref>Katechismus der Katholischen Kirche (1993), Nr. 770. </ref> Diese innere Vermittlung des sichtbaren und geschichtlich wahrnehmbaren Aspektes zur unsichtbaren Dimension, insofern die Kirche Gabe Gottes an die Menschen ist, kann in Analogie gesehen werden zum gott-menschlichen Geheimnis Jesu Christi. Im fleischgewordenen ewigen Wort Gottes ist die von der Person des Logos angenommene menschliche Natur Christi Zeichen und Instrument des Heilswirkens des Sohnes Gottes in der Welt. Die beiden Dimensionen des Seins und Wesens der Kirche "bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst."<ref> Lumen gentium, 8. </ref> Es ist eine Communio, die teilhat am Leben des dreieinigen Gottes. Sie bewirkt, dass sich die Getauften untereinander vereint wissen trotz der Verschiedenheit der Zeiten und Orte ihrer geschichtlichen Existenz.

In der Kraft dieser alle Zeiten und Geschichtsräume umspannenden Gemeinschaft versteht sich die Kirche als ein einziges Handlungssubjekt und stellt sich als eine einzige Wirklichkeit in der Geschichte der Menschheit dar. So ist sie Trägerin der Gaben Gottes, aber auch der Verdienste und der Sünden ihrer Glieder gestern und heute.

Um Missverständnisse zu vermeiden, darf bei der Erwähnung der nicht "unwesentlichen Analogie des Mysteriums der Kirche mit dem Geheimnis des fleischgewordenen Wortes" der Hinweis auf die tiefreichende Grenze dieser Analogie nicht unterbleiben. "Während aber Christus heilig, schuldlos, unbefleckt war (Hehr 7,26) und die Sünde nicht kannte (2 Kor 5,21), sondern allein die Sünden des Volkes zu sühnen gekommen ist (vgl. Hebr 2,17), umfasst die Kirche Sünder in ihrem eigenen Schoß. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung."<ref>Lumen gentium, 8, vgl, auch Unitatis redintegratio, 3 und 6. </ref> Das Fehlen jeder Sünde bei Christus, dem fleischgewordenen Wort, kann nicht unmittelbar auf seinen Leib, der die Kirche ist, übertragen werden. Wenn auch jeder einzelne, insofern er Glied ist am ekklesialen Leib Christi und an der von Gott geschenkten Gnade teilhat, so muss er doch stets wachsam sein und bedarf einer lebenslang währenden Buße und Erneuerung. Darin muss er sich auch verbunden wissen mit der Schwachheit seiner Mitchristen. "Alle Glieder der Kirche, auch ihre Diener, müssen bekennen, dass sie Sünder sind (vgl.1 Joh l,8ff.). In allen wächst zwischen der guten Saat des Evangeliums bis zum Ende der Zeiten auch das Unkraut der Sünde (vgl. Mt 13,24-30). Die Kirche vereint sündige Menschen, die zwar vom Heil Christi erfasst, aber noch immer erst auf dem Weg zur Heiligkeit sind."<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 827.</ref> 

Schon Paul VI. hatte feierlich bekräftigt, dass "die Kirche heilig ist, obwohl sich in ihrer Mitte auch Sünder befinden; denn sie lebt kein anderes Leben als das der Gnade... Darum leidet die Kirche und büßt für die Sünden ihrer Söhne und Töchter. Sie hat jedoch aus dem Blute Christi und aus der Gabe des Heiligen Geistes auch die Vollmacht erhalten, ihre Kinder von den Wunden, welche die Sünde geschlagen hat, zu heilen"<ref>Paul VI. Credo des Volkes Gottes (30. Juni 1968), Nr.l9 (zitiert in Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 827). </ref>. In ihrem Geheimnis ist die Kirche also ein ständiges Aufeinandertreffen von Heiligkeit und Schwachheit, von Erlösung und Versagen. Die Kirche bedarf darum immer neu der Erlösungsmacht der Gnade. Die liturgische Praxis weist uns auf eine innere Gesetzmäßigkeit des Glaubens ("lex credendi") hin. Der einzelne Gläubige und die Kirche als ganze flehen Gott an, dass er nicht auf die Sünden der einzelnen schauen möge, sondern auf den Glauben seiner Kirche, denn die Sünden sind eine Negation dieses Glaubens: "Ne respicias peccata nostra, sed fidem Ecclesiae tuae". 

Nimmt man die Einheit der Kirche in den Blick, die ihr Mysterium in dem einen Raum der menschlichen Geschichtszeit vergegenwärtigt, treten die drei wesentlichen Aspekte ihres Geheimnisses deutlich hervor: Der Aspekt der Heiligkeit, der Aspekt der beständig notwendigen Buße und Reform sowie der Aspekt, wie sich dies im Wirken der Kirche als unserer Mutter ausformt. 

Diese drei Aspekte sollen im folgenden näher beleuchtet werden.

Die Kirche ist heilig ... 

Die Kirche ist heilig, weil sie von Christus geheiligt worden ist. Indem er sich für sie dahingegeben hat aus Liebe bis zum Tod am Kreuz, hat er sich die Kirche als sein Eigentum erworben. Die Kirche wird in dieser Heiligkeit erhalten vom Heiligen Geist, der ihr Leben und Wirken unaufhörlich innerlich durchdringt und formt. So erklärt das II. Vatikanische Konzil: "Es ist Gegenstand des Glaubens, dass die Kirche, deren Geheimnis die Heilige Synode vorlegt, unzerstörbar heilig ist. Denn Christus, der Sohn Gottes, der mit dem Vater und dem Geist als <allein Heiliger> gepriesen wird, hat die Kirche als seine Braut geliebt und sich für sie hingegeben, um sie zu heiligen (vgl. Eph 5,25f.), er hat sie als seinen Leib mit sich verbunden und mit der Gabe des Heiligen Geistes reich beschenkt zur Ehre Gottes. Daher sind in der Kirche alle, mögen sie zur Hierarchie gehören oder von ihr geleitet werden, zur Heiligkeit berufen."<ref>Lumen gentium, 39. </ref> In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass von den Anfängen der Kirche an ihre Glieder "die Heiligen" genannt wurden (vgl. Apg 9,13; 1 Kor 6,1f.;16,1). 

Man muss hier von Heiligkeit in einem zweifachen Sinne sprechen: einmal von der Heiligkeit der Kirche und zum andern von der Heiligkeit in der Kirche. Die Heiligkeit der Kirche ist begründet in den Sendungen des Sohnes und des Heiligen Geistes. Sie gewährleistet die Kontinuität der Sendung des Gottesvolkes bis ans Ende der Zeiten. Sie motiviert die Gläubigen und hilft ihnen auf dem Weg zur persönlichen subjektiven Heiligkeit. In der Berufung, die jeder einzelne empfängt, ist dagegen die besondere Form der Heiligkeit verwurzelt, die ihm geschenkt wird als Gabe und die von ihm eingefordert wird als volle Erfüllung seiner eigenen Berufung und Sendung. 

Die persönliche Heiligkeit richtet sich auf Gott hin aus und auch auf die anderen hin. Ihr kommt darum eine wesentliche soziale Bestimmung zu. Es ist eine Heiligkeit "in der Kirche", die sich orientiert am Heil und Wohl aller. 

Dieser Heiligkeit der Kirche muss die Heiligkeit in der Kirche entsprechen: "Die Anhänger Christi sind von Gott nicht kraft ihrer Werke, sondern aufgrund seines gnädigen Ratschlusses berufen und in Jesus dem Herrn gerechtfertigt, in der Taufe des Glaubens wahrhaft Kinder Gottes und der göttlichen Natur teilhaftig und so wirklich heilig geworden. Sie müssen daher die Heiligung, die sie empfangen haben, mit Gottes Gnade im Leben bewahren und zur vollen Entfaltung bringen."<ref> Lumen gentium, 40.</ref>

Der Getaufte ist berufen, mit seiner ganzen Existenz zu werden, was er in der Kraft des Taufsakraments schon geworden ist. Dies kann nie geschehen ohne freie Zustimmung des Menschen und ohne die Gnadenhilfe Gottes. 

Wenn dies im Leben des Glaubenden Wirklichkeit wird, dann tritt in der Geschichte die neue Menschheit ins Licht, wie Gott sie will. Niemand erreicht die Vollkommenheit außer dem, der den Heilsplan Gottes sich zu eigen macht und mit Hilfe der Gnade in seinem ganzen Sein eins wird mit dem Lebensentwurf, den Gott für ihn bereitet hat. In diesem Sinne sind die Heiligen wie ein Licht, das vom Herrn ausgeht und das Christi Licht inmitten der Kirche zum Leuchten bringt. Sie sind prophetische Zeichen für die ganze Welt.

... und als Gemeinschaft aus Menschen stets der Buße und der Reinigung bedürftig 

Ohne diese Heiligkeit einzuschränken, muss man doch zugeben, dass auch die Erneuerung ständig notwendig ist, weil die Sünde immer da ist. Eine fortwährende Umkehr im Gottesvolk ist unerlässlich. "Die Kirche ist schon auf Erden durch eine wahre, wenn auch unvollkommene Heiligkeit ausgezeichnet."<ref>Lumen gentium, 48. </ref>

Der hl. Augustinns bemerkt gegenüber den Pelagianern: "Die Kirche in ihrer Gesamtheit bittet: Vergib uns unsere Schuld! Die Kirche leidet noch unter dem Makel, den Furchen und Falten. Aber mittels des Bekenntnisses werden die Furchen und Falten geglättet, durch das Bekenntnis wird auch der Makel abgewaschen. Die Kirche verharrt im Gebet, um durch das Bekenntnis ihre Reinigung zu empfangen. Solange Menschen auf der Erde leben, wird es so bleiben."<ref>Augustinus, Sermo 181,5,7 (PL 38,982).</ref>

Der hl. Thomas von Aquin führt diesen Gedanken weiter. Die Vollendung der Heiligkeit gehört der eschatologischen Zeit an. Indessen darf sich die pilgernde Kirche nicht vorgaukeln, ohne Sünde zu sein: "Die herrliche Kirche, die keinen Makel und keine Runzeln hat, ist das letzte Ziel, das wir durch das Leiden Christi erreichen sollen. Dieses Ziel liegt aber erst im Leben der Heimat, nicht im Leben der Pilgerschaft, von der Johannes sagt: <Wir betrügen uns selbst, wenn wir sagten, wir sind ohne Sünde> (1 Joh 1,8)."<ref>Thomas von Aquin, Summa theologiae III, q. 8, a. 3, ad 2.</ref> In Wirklichkeit ist es so, wie sich vom Gebet des Herrn her gut zeigen lässt: "In der Bitte, dass sein Name geheiligt werde, haben wir darum gebetet, selbst immer mehr geheiligt zu werden. Obwohl wir das Taufkleid tragen, hören wir nicht auf zu sündigen, uns von Gott abzuwenden. Jetzt, in dieser neuen Bitte, kehren wir wie der verlorene Sohn zu ihm zurück (vgl. Lk 15,11-32) und bekennen uns vor ihm als Sünder, wie der Zöllner es getan hat (vgl. Lk 18,13). Unsere Bitte beginnt mit einer <Beichte>, in der wir zugleich unser Elend und Gottes Barmherzigkeit bekennen."<ref>Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2839. </ref>

Darum bekennt die ganze Kirche mit dem Bekenntnis der Sünden ihrer Glieder immer auch ihren Glauben an Gott und seine unendliche Güte und Vergebungsbereitschaft. Dank des Bandes, durch das der Heilige Geist die Kirche zusammenhält, ist die Zeit und Raum umspannende Gemeinschaft unter den Getauften so geprägt, dass darin jeder einzelne immer eine für das eigene Tun verantwortliche Person bleibt und er doch in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zu den Mitchristen steht, so dass in einem lebendigen Austausch der geistlichen Güter der Leib Christi und darin auch jedes einzelne seiner Glieder aufgebaut wird. Wenn so die Heiligkeit des einen die anderen in ihrem Wachstum in der Gnade beeinflusst und umgekehrt, dann darf die Kehrseite nicht aus dem Blick geraten. Die Sünde hat nie eine nur individuelle Seite. Wenn in dieser Gemeinschaft durch die Sünde einzelner der Heilsweg aller behindert und verstellt wird, dann ist die Kirche in der Einheit ihres geschichtlichen Weges auch von jeder Sünde, zu welcher Zeit auch immer sie begangen wurde, zutiefst betroffen.

Diese Überzeugung veranlasste die Kirchenväter, wie hier den hl. Ambrosius, zu der lapidaren Feststellung: "Seien wir darauf bedacht, dass unser Fall nicht eine Wunde der Kirche wird."<ref>Ambrosius, De virginitate, 8,48 (PL 16,278 D): "Caveamus igitur, ne Lapsus noster vulnus Ecclesiae fiat." Vgl. Lumen gentium, 11: "Die aber zum Sakrament der Buße hinzutreten, erhalten für ihre Gott zugefügten Beleidigungen von seiner Barmherzigkeit Verzeihung und werden sogleich mit der Kirche versöhnt, die sie durch ihre Sünde verwundet haben und die zu ihrer Bekehrung durch Liebe, Beispiel und Gebet mitwirkt."</ref>

Die Kirche, "die auf grund ihrer Inkorporation in Christus heilig ist, wird nicht müde, Buße zu tun. Sie anerkennt immer, vor Gott und den Menschen, dass die Sünder aus ihren Reihen ihre Söhne sind"<ref>TMA, 33.</ref>, seien es Christen, die früher gelebt haben oder die heute leben.

Die Kirche Gottes ist unser aller Mutter im Glauben 

Die Überzeugung, dass die Kirche sich die Verantwortung für die Sünde ihrer Glieder aufladen kann, ist in einprägsamer Weise ausgedrückt im Gedanken von der "Kirche als Mutter". Dieses Konzept der Ecclesia Mater ist sicher das Herzstück der frühpatristischen Ekklesiologie<ref>Vgl. K. Delahaye, La Comunità. Madre dei credenti, Cassano M. (Bari) 1974, 110. Vgl. auch Hugo Rahner, Mater Ecclesia. Lobpreis der Kirche aus dem ersten Jahrtausend christlicher Literatur, Einsiedeln 1944. </ref>. Mit diesem Bildwort bringen die Väter die Raum und Zeit durchziehende Solidarität aller Glaubenden und Getauften zum Ausdruck, die in der Inkorporation der Kirche in Christus und der einzelnen in der Taufe in der Kirche Christi und im Wirken des Heiligen Geistes begründet ist. 

Das II. Vatikanum erklärte das Geheimnis der Mutterschaft der Kirche mit Hinweis auf das Geheimnis Marias als Mutter und Jungfrau: "Nun aber wird die Kirche, indem sie Marias geheimnisvolle Heiligkeit betrachtet, ihre Liebe nachahmt und den Willen des Vaters getreu erfüllt, durch die gläubige Annahme des Wortes Gottes auch selbst Mutter: Durch Predigt und Taufe nämlich gebiert sie die vom Heiligen Geist empfangenen und aus Gott geborenen Kinder zum neuen und unsterblichen Leben. Auch ist sie Jungfrau, da sie das Treuewort, das sie dem Bräutigam gegeben hat, unversehrt und rein bewahrt und in Nachahmung der Mutter ihres Herrn in der Kraft des Heiligen Geistes jungfräulich einen unversehrten Glauben, eine feste Hoffnung und eine aufrichtige Liebe bewahrt."<ref>Lumen gentium, 64. </ref>

Der hl. Augustinus fasste diese reiche Tradition der Idee Ecclesia Mater in die prägnante Formulierung: "Diese heilige Mutter, die aller Verehrung wert ist, die Kirche, gleicht Maria, die geboren hat und Jungfrau geblieben ist, von ihr seid ihr geboren. Sie brachte Christus hervor, denn ihr seid Christi Glieder."<ref>Augustinus, Sermo 25, 8 (PL 46,938): "Mater ista sancta, honorata, Mariae similis, et parit et Virgo est. Ex illa nati estis et Christum parit: nam membra Christi estis."</ref>

Der hl. Cyprian von Karthago sagt es ohne Umschweife: "Der kann Gott nicht zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat."<ref>Cyprian von Karthago, De Ecclesiae Catholicae unitate, 6 (CCL 3,253): "Habere iam non potest Deum patrem qui ecclesiam non habet matrem"; ders., Ep. 74,7 (CCL 3C,572): "Ut habere quis possit Deum Patrem, habeat ante ecclesiam matrem"; Augustinus, In Ps. 88, sermo 2,14 (CCL 39,1244): "Tenete ergo carissimi, tenente omnes unanimiter Deum patrem, et matrem Ecclesiam."</ref> Und der hl. Paulinus von Nola besingt die Kirche in seinen geistlichen Gedichten: "Wie die Mutter empfängt sie den Samen des ewigen Wortes, sie trägt die Völker in ihrem Schoß und bringt sie in der Geburt zur Welt."<ref>Paulinus von Nola, Carmen 25,171f. (CSEL 30,243): "Inde manet mater aeterni semine verbi / concipiens populos et pariter pariens."</ref>

Nach dieser Vision verwirklicht sich die Kirche kontinuierlich in der Gemeinschaft des Geistes und im geistlichen Austausch der Glaubenden untereinander. Die Kirche bietet so ein förderndes Umfeld des Glaubens und der Heiligkeit in brüderlicher Gemeinschaft, in der Einmütigkeit des Betens, in der solidarischen Teilnahme an Kreuz und Leiden und im gemeinsamen Zeugnis. Gestärkt von dieser lebensaufbauenden Gemeinschaft kann sich jeder einzelne Getaufte zur gleichen Zeit begreifen als Glied der Kirche, insofern er aus ihr geboren worden ist, und als Mutter Kirche, insofern er mit seinem Glauben und seiner Liebe mitwirkt, neue Söhne und Töchter Gottes hervorzubringen. Er ist um so mehr Mutter Kirche, je größer seine Heiligkeit und je brennender sein Eifer ist, die empfangene Gabe an andere weiter zu verschenken.

Andererseits aber bleibt er Glied der Kirche, wenn er sich auch durch die Sünde dem Herzen nach von der Kirche getrennt hat. Denn er kann immer von neuem zu den Quellen der Gnade hinzutreten und sich von der Last seiner Schuld befreien lassen, die seine Gemeinschaft mit der Kirche beschädigt hat. Es ist klar, dass sich die Kirche als wahre Mutter von den Sünden ihrer Söhne und Töchter gestern und heute verletzt fühlen muss, aber ebenso klar ist, dass sie wie eine Mutter auch nie aufhören kann, sie zu lieben und die Auswirkungen der Schuld ihrer Kinder mitzutragen. Den Kirchenvätern erschien die Kirche wie eine Schmerzensmutter, nicht allein wegen der äußeren Verfolgung der Christen, sondern in einem noch viel tieferen Sinn wegen des Verrats, des Scheiterns, des Zurückbleibens, der Fehler und Mängel ihrer Glieder. Heiligkeit und Sünde bleiben nie ohne erhebliche Auswirkungen auf díe Kirche als ganze, wenn auch vom Glauben her feststeht, dass die Heiligkeit als Frucht der göttlichen Gnade sich immer als stärker erweist als die Sünde der Menschen. Ein Beweis dafür sind die überzeugenden Gestalten der Heiligen, die ihre Heiligkeit bis zum Tod bewahrt haben und die die Kirche als Beispiel und Hilfe für alle empfiehlt. Zwischen Gnade und Sünde gibt es keine Parallelität, Symmetrie oder gar ein dialektisches Verhältnis, denn der Einfluss des Bösen wird die Macht der Gnade nie besiegen und die Ausstrahlung, die vom oft noch so verborgenen Guten ausgeht, verdunkeln können. 

In dieser Hinsicht weiß sich die Kirche existentiell heilig in ihren heiligen Männern und Frauen. Während sie sich dieser Heiligkeit erfreut und aus den Wohltaten Gottes Kraft schöpft, bekennt sich die Kirche aber nicht minder als Sünderin. Aber in welchem Sinn versteht sie sich als Sünderin? Sie ist nicht Sünderin in dem Sinn, dass sie selber Subjekt und Täterin der Sünde ist. Die Kirche versteht sich als Sünderin, insofern sie sich in mütterlicher Solidarität die Last der Sünden ihrer Glieder selber auflädt, denn sie möchte in ihrer mütterlichen Liebe mitwirken an der Überwindung der Sünde und dem daraus entstandenen Schaden für den einzelnen und die Gemeinschaft. Darum gewährt die Kirche in der Vollmacht Christi nicht nur die Vergebung der Sünden und die Wiederversöhnung mit der Gemeinschaft. Die Kirche geht selbst den Weg der Buße und Umkehr zur Erneuerung des Lebens in der Gnade mit. Deswegen erkennt es die Kirche als ihre Pflicht, "zutiefst die Schwachheit so vieler ihrer Söhne zu bedauern, die das Antlitz der Kirche dadurch entstellten, dass sie sie hinderten, das Abbild ihres gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen geduldiger Liebe und demütiger Sanftheit widerzuspiegeln".<ref>TMA, 35.</ref>

Schuldeingeständnis und Übernahme der Verantwortung können in geeigneter Weise geschehen seitens derer, die durch ihr Charisma und ihr Amt die Gemeinschaft des Gottesvolkes in besonders deutlicher Weise repräsentieren. Im Namen der Ortskirchen können die verantwortlichen Oberhirten ein Schuldbekenntnis und eine Bitte um Vergebung ausdrücken. Im Namen der Gesamtkirche, die eine ist in der Geschichte zu allen Zeiten und an allen Orten, kann dies der Bischof von Rom, der Papst, tun, da er das Amt der universalen Einheit ausübt und der Kirche "vorsteht in der Liebe"<ref> Vgl. Ignatius von Antiochien, An die Römer, Proem. (SCh 10,124; Th. Camelot, Paris (2) 1958). </ref>.

Es ist ein besonders eindrückliches Zeichen, dass gerade vom Heiligen Vater diese Einladung an die Kirche ausgesprochen wurde, "sich erneut und vertieft die Sünden ihrer Söhne und Töchter bewusst zu machen" und die Notwendigkeit von Buße und Wiedergutmachung zu erkennen, "indem Christus inständig um Vergebung angerufen wird"<ref>Vgl. TMA, 33 und 34.</ref>

Viertes Kapitel: HISTORISCHE UND THEOLOGISCHE BEURTEILUNG GESCHICHTLICHER VORGÄNGE

Betrachtet man die Sünden und Fehlleistungen der Vergangenheit im einzelnen, für die um Vergebung gebeten werden soll, erhebt sich die Frage nach einer exakten historischen Beurteilung. Historische Sachkenntnis muss auch die Grundlage sein für eine Beurteilung der Ereignisse und der handelnden Personen aus der theologischen Sicht der Kirche, die im Glauben als Mysterium anerkannt wird.

Es ist immer genau zu fragen: Was hat sich wirklich ereignet? Was wurde verifizierbar gesagt und getan? Erst wenn es auf diese Fragen eine wissenschaftlich korrekte Antwort gibt, kann man auch untersuchen, ob das, was sich wirklich zugetragen hat, mit dem Evangelium in Einklang steht. Im Fall, dass Christen sich wirklich gegen die Forderungen des Evangeliums vergangen haben, muss natürlich auch gefragt werden, ob sie sich in den Bedingungen, unter denen sie lebten und dachten, des Widerspruchs zum Evangelium bewußt waren, ja sich darüber im Klaren sein konnten. Nur wenn man unter diesen Voraussetzungen zu dem moralisch gewissen Urteil kommt, dass sich Glieder der Kirche wissentlich und mit freiem Willen gegen den Geist des Evangeliums verhalten haben und dieses Fehlverhalten, obwohl sie es konnten, nicht unterlassen haben, hat es einen Sinn, wenn die Kirche von heute für die Sünden der Vergangenheit Buße tut und um Vergebung bittet. 

Die Beziehung zwischen "historischem" und "theologischem Urteil" zu klären ist ebenso kompliziert wie notwendig und entscheidend. Man muss diese beiden Urteilsmaßstäbe in Beziehung zueinander setzen, ohne dieses Verfahren von der einen oder anderen Seite durch Vorurteile von vornherein zum Scheitern zu bringen. Was man auf jeden Fall vermeiden muss, ist die fruchtlose Diskussion entgegengesetzter Einseitigkeiten: auf der einen Seite eine Art von Apologetik, die alles und jedes, was in der Kirchengeschichte vorgefallen ist, um jeden Preis zu rechtfertigen versucht, und auf der anderen Seite eine Beschuldigungsattitüde, die jedes Ereignis, jedes Wort und jede Handlung, ob gerechtfertigt oder nicht, benutzt, um die Kirche auf die Anklagebank zu verweisen.

Die Zuweisung historischer Verantwortung hat nur einen Sinn, wenn die betreffenden Vorgänge mit intellektueller Redlichkeit wissenschaftlich fundiert dargestellt werden.  Papst Johannes Paul II. hat bezüglich der Inquisition aus einer historisch-theologischen Perspektive folgende Wertung vorgenommen: "Das kirchliche Lehramt kann nicht mit Gewissheit einen moralischen Akt - wie die Bitte um Vergebung - vornehmen, bevor es sich nicht exakt über die Situation dieser Zeit hat ins Bild setzen lassen. Es darf sich aber auch nicht auf die von der öffentlichen Meinung vermittelten Ansichten über die Vergangenheit stützen, denn diese sind oft mit Leidenschaften und Emotionen überladen, die einer ausgeglichenen und objektiven Beurteilung im Wege stehen ... Deshalb besteht der erste Schritt in der Befragung der Historiker, von denen man nicht eine ethische Bewertung erwartet, die außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches läge, sondern vielmehr eine Hilfe zur möglichst präzisen Rekonstruktion der Ereignisse, Gewohnheiten und Einstellungen von damals im Zusammenhang des geschichtlichen Umfeldes der betreffenden Epoche."<ref>Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer der Internationalen Studientagung zur Erforschung der Inquisition (31. Oktober 1998), veranstaltet von der Theologisch-Historischen Kommission des Zentralkomitees des Heiligen Jahres, Nr. 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 20.11.1998, 7). </ref>

Die Schwierigkeit, Geschichte zu interpretieren 

Welche Bedingungen einer korrekten Interpretation der Vergangenheit sind für ein reflektiertes historisches Denken zu fordern? Um sie näher zu bestimmen, muss man sich immer der komplexen Korrelation bewusst bleiben, die zwischen dem interpretierenden Subjekt und dem zu interpretierenden geschichtlichen Gegenstand besteht<ref>Vgl. insgesamt Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 3. erw. Aufl. 1972. </ref>.

Unter diesen Kriterien ist an erster Stelle die Erfahrung der Fremdheit zwischen dem Betrachter und seinem Gegenstand zu nennen. Bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit wird zunächst ein wechselseitiges Befremden ausgelöst. Ereignisse und Aussagen sind zuallererst einmal vergangen und passé. Sie lassen sich niemals auf aktuelle Gegebenheiten reduzieren, sondern haben eine objektive Dichte und Komplexität, die ihre schlichte Funktionalisierung für gegenwärtige Interessen ausschließt. Darum kann man sich ihnen nur mittels einer historisch-kritischen Untersuchung annähern. Diese Methode verlangt eine sorgfältige Verwendung aller erreichbaren Informationen zur Rekonstruktion des Umfeldes, der Denkweisen, der Rahmenbedingungen und Entwicklungsabläufe, in denen sich die entsprechenden Ereignisse und Aussagen bewegen. Nur so kann man die Inhalte genau benennen und die Herausforderungen beschreiben, die die Ereignisse bei all ihrer Eigenart und Verschiedenheit für die Gegenwart bedeuten. 

An zweiter Stelle ist unter diesen Kriterien einer historischen Urteilsbildung ein gewisses Einfühlungsvermögen zu nennen. Zwischen dem heutigen Interpreten und der von ihm behandelten Epoche und ihren handelnden Personen muss es ein gewisses Sympathieverhältnis geben. Diese kommunikative Verbindung gründet in der einfachen Tatsache, dass jeder Mensch, ob er gestern gelebt hat oder heute lebt, sich immer als menschliches Wesen in einer Vielfalt historischer Verflechtungen vorfindet und so zur Sprach- und Denkgemeinschaft der Menschen gehört. Wir alle gehören zur Menschheitsgeschichte! Diese Wechselwirkung zwischen dem Interpreten und dem Interpretandum ist in der gemeinsamen Teilhabe in dem begründet, was die geschichtliche Existenz des Menschen als einzelner und als Glied der Menschheit ausmacht. Im einzelnen muss sich diese Vermittlung auf schriftliche, archäologische oder auch persönliche Traditionszeugnisse stützen. Wem dies bewusst ist, der wird auch die Schwierigkeiten kennen, eine wirkliche Korrespondenz herzustellen zwischen dem Verständniskontext des Interpreten und dem zu verstehenden geschichtlichen Gegenstand. Dies erfordert eine kritische Selbstreflexion über die Frage, welche Motive und Interessen die Forschung leiten und wie sie sich möglicherweise auf das Ergebnis auswirken. Zu bedenken ist auch der Lebenskontext, in dem man tätig ist, und die Interpretationsgemeinschaft, zu der man gehört, in deren Sprachwelt man lebt und von der man verstanden werden möchte.

Dazu ist es unerlässlich, sich auf bestmögliche Weise des Vorverständnisses, das in der Tat mit jeder Interpretation einhergeht, bewusst zu werden und es zu reflektieren. Nur so lässt sich seine Auswirkung auf den Interpretationsvorgang beobachten und in Grenzen halten. Schließlich ist klar, dass sich zwischen dem Interpreten und seinem historischen Gegenstand im Durchgang durch die Anstrengung des Erkennens und Auswertens eine Art Osmose und "Horizontverschmelzung" vollziehen wird. Darin besteht ja eigentlich der Akt der Erkenntnis. Darin drückt sich das Urteil aus, die Ereignisse oder Aussagen der Vergangenheit richtig verstanden zu haben. Das bedeutet soviel, wie den Sinn entdecken, den diese Ereignisse für den Interpreten und seine Welt haben. Dank dieser Begegnung lebendiger Welten wird es möglich, das Verständnis der Vergangenheit auf die Gegenwart zu beziehen, so dass auch die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit besser verstanden werden kann. So kann man aus der Vergangenheit Lehren ziehen für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft.

Diese fruchtbare innere Durchdringung der Geschichte erreicht man mit einigen in sich verschränkten fundamentalen hermeneutischen Operationen, die den genannten Momenten der Fremdheit, des historischen Einfühlungsvermögens und des wahren und eigentlichen Verständnisses entsprechen. 

In Beziehung zu einem historischen "Text" - der ganz allgemein verstanden sein soll als schriftliches, mündliches, archäologisches oder figürliches Zeugnis lassen sich drei exegetische Grundvollzüge konkret benennen: 

"1. Das Verstehen des Textes; 2. das Beurteilen, wie zutreffend das eigene Verstehen des Textes ist; und 3. das Ausdrücken dessen, was nach eigenem Urteil das richtige Verständnis des Textes ist."<ref>Bernard J. F. Lonergan SJ, Methode in der Theologie, übers. u. hg. von Johannes Bernard, Leipzig 1991,162</ref>

Es geht darum, das Zeugnis der Geschichte in größtmöglicher Objektivität zu sehen mittels aller Quellen, mit deren Hilfe man sie darstellen kann. Die Korrektheit der eigenen Interpretation zu beurteilen bedeutet, mit Ernst und Nachdruck zu verifizieren, in welchem Maß sie möglicherweise von einem Vorverständnis geleitet oder bedingt ist oder gar von welchem Vor-Urteil dieses Urteil abhängt. Die Darlegung der erreichten Interpretation bedeutet, die anderen Beteiligten des komplexen Dialogs mit der Vergangenheit miteinzubeziehen, sei es um die Relevanz dieser Interpretation zu verifizieren, sei es um sie mit möglichen anderen Auslegungen zu konfrontieren.

Geschichtsforschung und theologische Auswertung 

Wenn diese Auslegungsprinzipien in allen hermeneutischen Operationen beachtet werden, ergibt sich auch eine Interpretation der historischen und der theologischen Fragestellung. Dies verlangt, dass man an erster Stelle die höchste Aufmerksamkeit den Elementen der Differenzierung und der Fremdartigkeit zuwendet, die es in der Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu beachten gilt. Wenn also eine mögliche Schuld aus der Vergangenheit anerkannt werden soll, kann dies nicht geschehen, ohne die Verschiedenheit des sozialen und kulturellen Kontextes einer von der Gegenwart so weit entfernten Zeit in Betracht zu ziehen. Wer die Paradigmen und Urteilsmaßstäbe einer Gesellschaft aus einer anderen Epoche unreflektiert oder mit einem moralischen Überlegenheitsgefühl auf eine gänzlich verschiedene Geschichtsphase appliziert, macht sich einer Verfälschung schuldig. Man muss immer die unterschiedlichen Denkweisen und historischen Bedingungen beachten. Dies heißt nicht, die Verantwortung zurückweisen, die die Kirche als ein in der Geschichte einheitliches Subjekt für die Verfehlungen aus der Vergangenheit übernimmt. Es kann aber nicht außer Acht bleiben, dass eben dieses einheitliche Subjekt in den unterschiedlichsten historischen und geographischen Situationen gehandelt hat. Verschieden sind auch die Grade der Repräsentation der Kirche. Es stellt sich die Frage: Hat einer im Namen der Kirche gehandelt oder hat einer in persönlicher Verantwortung als Glied der Kirche, als Geistlicher oder Laie, gehandelt und sich dabei gegen den Auftrag und die Sendung der Kirche verfehlt, wie sie theologisch und unter den gegebenen Mentalitätsstrukturen und den soziokulturellen Bedingungen der Zeit verstanden worden waren? Verallgemeinerungen und Klischeevorstellungen führen hier nicht weiter.

Jede Form von gegenwärtiger Erklärung muss situationsbezogen sein und bedarf der Autorisierung durch die zuständigen Repräsentanten der Kirche (als Universalkirche, seitens der nationalen Episkopate und der Ortskirchen, der Bistümer, etc.). 

Ein zweiter Punkt ist zu beachten. Die Beachtung der Korrelation zwischen historischem und theologischem Urteil ist nicht allein von aktuellen Interessen gelenkt oder nur von dem Wissen um die allgemeine Zusammengehörigkeit aller Menschen und der verschiedenen Formen der Realisierung der einen menschlichen Existenz bestimmt. Die Erkenntnis der inneren Verknüpfung von historischer und theologischer Sicht der Kirche hat einen tiefer reichenden Grund. Wer an die Selbstoffenbarung Gottes glaubt, erkennt, dass die Kirche nicht einfach ein Gebilde ist, das durch menschliche Aktionen bestimmt wird. Die Kirche ist als einheitliches soziologisch fassbares historisches Subjekt als Gemeinschaft der Glaubenden konstituiert durch das einheitsstiftende Wirken des Heiligen Geistes. 

Kraft dieser Communio, die stets neu hervorgeht aus dem Wirken des Geistes Christi, der die Einheit der Glaubensgemeinschaft in Raum und Zeit stiftet, wird sich die Kirche nie ohne dieses übernatürliche Prinzip verstehen können, das ihr Wesen und ihre Identität ausmacht. Das Wesen der Kirche kann mit bloß soziologischen Mitteln nicht erfasst werden. Dieses vom Wirken des erhöhten Herrn im Heiligen Geist geeinte geschichtliche Subjekt, die Kirche, ist berufen, sich der Geschichte einzuprägen als Antwortgestalt auf die Gabe Gottes, und zwar in unterschiedlicher Form und in verschiedenen geschichtlichen Situationen nach  Urteil und Entscheidung ihrer Glieder, ohne dass wir dabei die Mängel und Fehlleistungen vergessen, die ihr Erscheinungsbild in der Geschichte mitprägen. Die Gemeinschaft aller Glaubenden im Heiligen Geist ist nicht nur synchron zu sehen. Es gibt auch eine die Geschichte mit der Gegenwart verbindende diachrone Einheit. In der Zusammenschau beider Aspekte wird die Kirche auch "Gemeinschaft der Heiligen" genannt. Die gegenwärtig lebenden Getauften, die wegen der in der Taufe empfangenen Heiligung auch "Heilige" heißen, sind mit den Heiligen der Vergangenheit, den im ewigen Leben vollendeten Heiligen, verbunden. Sie empfangen von den Wohltaten ihrer Verdienste und stärken sich an den Zeugnissen ihrer Heiligkeit. Im Bewusstsein dieser Verbundenheit werden die Gläubigen der Gegenwart aber auch Verantwortung fühlen für die Fehler ihrer Vorfahren im Glauben, die wie sie Glieder derselben Glaubensgemeinschaft waren und sind. Diese Übernahme von Verantwortung setzt aber ein historisches und theologisches Urteil mit einem methodisch geklärten wissenschaftlichen Instrumentarium voraus.

Unter Beachtung des objektiven und transzendenten Grundes der Communio des Gottesvolkes inmitten allen geschichtlichen Wandels im Ausdruck seiner geschichtlichen Präsenz erkennt die Interpretation der Kirchengeschichte vom Standpunkt einer gläubigen Sicht der Vergangenheit der Kirche eine entscheidende Bedeutung für die Kirche von heute. Aus dieser inneren Begegnung der Kirche von gestern mit der Kirche im Heute kann sich eine performative Dynamik ergeben, die gar nicht von vornherein berechenbar ist. 

Gewiss ist immer die Gefahr einer apologetischen oder instrumentalistischen Umgangsweise mit der Geschichte im Auge zu behalten. Dies kann sich leicht nahelegen angesichts der vereinheitlichenden hermeneutischen Perspektive wie auch des theologischen Interpretationsstandpunktes, von dem aus die Einheit der Kirche als geschichtliches Subjekt vorausgesetzt wird. Um so mehr ist Wert zu legen auf eine exakte Anwendung der hermeneutischen Prinzipien, mit deren Hilfe die Vorgänge und Aussagen aus der Geschichte für die Gegenwart erschlossen werden. Die gläubige Lektüre der Geschichte bedient sich zu diesem Zweck aller erreichbaren Beiträge aus der Geschichtswissenschaft und ihrer Interpretationsmethoden. Die Anwendung der historischen Hermeneutik darf jedoch keineswegs die Auswertung im Glauben behindern, der daran gelegen ist, die Texte auf ihren spezifischen Ausdruck des Glaubens zu befragen, die Interaktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart in den Blick zu nehmen, insofern sich darin die fundamentale Einheit der Kirche als eines identischen Subjekts im Wandel ihrer historischen Ausdrucksformen widerspiegelt.

Damit ist auch die Gefahr eines Historismus gebannt, der alle Lasten historischer Schuld relativiert und meint, die Geschichte rechtfertige alles. Demgegenüber hat Johannes Paul II. zu Recht betont: "Die Berücksichtigung der mildernden Umstände entbindet die Kirche nicht von der Pflicht, zutiefst die Schwachheit so vieler ihrer Söhne und Töchter zu bedauern, die das Antlitz der Kirche dadurch entstellten, dass sie sie hinderten, das Abbild ihres gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen geduldiger Liebe und demütiger Sanftheit widerzuspiegeln."<ref>TMA, 35. </ref>

Die Kirche also "fürchtet nicht die historische Wahrheit. Sie ist bereit, die wirklich erwiesenen Fehler anzuerkennen, vor allem wenn sie den schuldigen Respekt vor Personen und Gemeinschaften betreffen. Mit Rücksicht auf die unterschiedlichen geschichtlichen Epochen warnt sie aber auch vor allen Verallgemeinerungen, was Entschuldigung oder Verdammung betrifft. Die Kirche setzt auf eine mit Geduld und Redlichkeit wissenschaftlich erarbeitete Rekonstruktion der Vergangenheit, die frei ist von konfessionalistischen und ideologischen Vorurteilen. Dies betrifft die auf sie gerichteten Anschuldigungen wie auch das von ihr erlittene Unrecht."<ref> Johannes Paul II., Ansprache am 1. September 1999, in; L`Osservatore Romano, 2. (69) September 1999, 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 10. September 1999, 2). </ref>

Im folgenden Kapitel sollen diese Prinzipien exemplarisch auf einige konkrete historische Fälle kirchlichen Fehlverhaltens angewendet werden. 

Fünftes Kapitel: MORALISCHE BEWERTUNG 

Da die Kirche vor Gott eine Erforschung ihres historischen Gewissens unternimmt, um dadurch ihre innere Erneuerung sowie ihr Wachstum in Gnade und Heiligkeit zu fördern, erweist sich eine genaue Kenntnis aller "Formen des Gegenzeugnisses und der Skandale" aus der Geschichte als unerlässlich. Dies gilt vor allem für das vergangene Millennium. Diese Aufgabe kann nur erfüllt werden, wenn die moralische und spirituelle Bedeutung in den Blick kommt. Dazu sind einige Schlüsselbegriffe aus dem Bereich der Ethik genauer zu beschreiben. 

Ethische Kriterien und das Problem ihrer Anwendung 

Auf moralischer Ebene setzt die Bitte um Vergebung immer die Zubilligung der Verantwortlichkeit voraus, genau gesagt der Verantwortlichkeit für eine an anderen begangenen Schuld. Die moralische Verantwortung erstreckt sich normalerweise auf den Konnex von Tat und Täter. So ergibt sich, dass eine bestimmte Tat immer einer bestimmten Person bzw. mehreren Personen eignet. Die Verantwortlichkeit kann objektiv oder subjektiv sein. Die objektive Verantwortlichkeit bezieht sich auf den moralischen Wert einer Handlung, insofern sie in sich gut oder schlecht ist, und dann auch auf die Zurechnung der Handlung an ihren Träger. Die Verantwortlichkeit in subjektiver Hinsicht meint das Vermögen des individuellen Gewissens, die Gutheit oder Verwerflichkeit der begangenen Handlung festzustellen. Die subjektive Verantwortlichkeit erlischt mit dem Tod ihres Akteurs. So ist klar, dass sie nicht über die Generationen weitergereicht werden kann. Die Nachgeborenen können niemals die subjektive Verantwortlichkeit ihrer Vorfahren erben. Somit setzt die Vergebung immer die Zeitgenossenschaft zwischen Opfer und Täter voraus. Die einzige Form der Verantwortlichkeit, für die es eine geschichtliche Kontinuität gibt, ist die objektive Verantwortung, der man sich freiwillig persönlich stellen oder entziehen kann. Denn es ist eine Tatsache, dass die böse Tat wenigstens in ihren destruktiven Auswirkungen weiterwirkt, die durchaus zu einer schweren Belastung für das Gewissen und das geschichtliche Gedächtnis der Nachfahren werden können.

In einem solchen Kontext darf die Solidarität angesprochen werden, die das Bewusstsein einer Einheit und Reziprozität von Vergangenheit und Gegenwart formiert. In gewissen Situationen kann diese Gewissensbelastung eine spezifische Weise des moralischen und religiösen Gedenkens der bösen Tat auslösen, das man seiner Natur nach gemeinsames Gedächtnis nennen kann. Es belegt in eindrücklicher Weise die Existenz einer objektiven Solidarität zwischen denen, die in der Vergangenheit Böses taten, und ihren Erben in der Gegenwart. Somit ist es möglich, von einer gemeinsamen objektiven Verantwortlichkeit zu sprechen. Von einer solchen Art von Verantwortung entlastet man sich vor allem durch die Bitte an Gott, er möge die Sünden der Vergangenheit vergeben. Dazu gehört die "Reinigung des Gedächtnisses", die im wechselseitigen Vergeben der Sünden und Beleidigungen in der Gegenwart kulminiert.

"Das Gedächtnis reinigen" ist der Versuch, aus dem persönlichen und gemeinschaftlichen Bewusstsein alle Formen von Ressentiment und Gewalt zu überwinden, die uns die Vergangenheit als Erbe hinterlassen hat. Auf der Basis einer neuen und vertieften historischen und theologischen Bewertung der Geschichte öffnet sich der Weg zur Erneuerung des moralischen Handelns. Dies ereignet sich jedesmal, wenn man zu einer neuen Qualifizierung historischer Ereignisse gelangt, die eine ganz neue und verschiedene Wirkung auf die Gegenwart mit sich bringt, vor allem im Hinblick auf eine entstehende Versöhnung in der Wahrheit, der Gerechtigkeit und Liebe unter allen Menschen und besonders zwischen der Kirche und den verschiedenen religiösen, kulturellen und zivilen Gemeinschaften, mit denen sie in Beziehung steht. Modell eines solchen Wandels der historischen Beurteilung vergangener Ereignisse aus einem neuen Blickwinkel kann etwa die Rezeption der Konzilien sein oder die Aufhebung der wechselseitigen Anathematisierung. Diese Akte sind Sinnbild für das künftige Leben der ganzen Kirche, da sie eine neue Qualifikation der Geschichte wagen, um eine andere Ausgestaltung der in der Gegenwart gelebten Beziehungen zueinander zu ermöglichen. Die Erinnerung an die Spaltung und die Konfrontation wird geheilt und transponiert in die Form einer versöhnten Erinnerung. Alle Glieder der Kirche sind eingeladen, sich der versöhnten Erinnerung zu öffnen und sich davon formen zu lassen. 

Die Kombination des historischen und theologischen Urteils bei der Neuinterpretation der Geschichte verbindet sich hier mit allen moralischen Rückwirkungen, die sie in der Gegenwart auslöst. Nicht zu vergessen sind einige moralische Prinzipien, die der Hermeneutik einer Interferenz von historischer und theologischer Beurteilung entsprechen. Es handelt sich um folgende Prinzipien:

a. Das Prinzip des Gewissens. Das Gewissen als "moralisches Urteil" und "moralischer Imperativ" begründet im Angesicht Gottes die letztgültige Bewertung einer Handlung als gut oder schlecht. In der Tat kennt allein Gott den moralischen Wert einer jeden menschlichen Tat, wenn auch die Kirche nach der Lehre Jesu bestimmte Handlungsweisen in Typen klassifizieren und bewerten kann und mitunter bestimmte Handlungsweisen verurteilen und ablehnen muss (vgl. Mt 18,15-18). 

b. Das Prinzip der Geschichtlichkeit. Wenn es zweifellos zutrifft, dass jeder menschliche Akt seinem Täter eignet, so handelt doch jedes individuelle Gewissen und jede Gemeinschaft innerhalb des ihnen eigenen Horizontes von Raum und Zeit. Um also die sittlichen Akte des Menschen und die mit ihnen einhergehenden Wirkungen richtig zu verstehen, müssen wir in die Lebens- und Kulturwelt derer eintreten, die diese Handlungen begangen haben. Allein auf diese Weise können wir uns ihren Motivationen und ihren leitenden moralischen Grundüberzeugungen nähern. Dies muss man sagen ohne Vorurteil über die Solidarität, die die Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft im Durchgang der Zeiten miteinander verbindet. 

c. Das Prinzip des "Paradigmenwechsels". Im Raum der abendländischen Christenheit gab es bis zum Zeitalter der "Aufklärung" eine Art Einheit von Kirche und Staat, von Glaube und Kultur, von Moral und Gesetz, die sich aber bekanntlich seit Anfang des 18. Jahrhunderts aufgelöst oder modifiziert hatte. Das Resultat war die Ablösung einer sakralen Ordnung durch eine pluralistische oder säkulare Gesellschaft. Die Grundmodelle des Denkens und Handelns, die sogenannten "Handlungs- und Bewertungsparadigmen" änderten sich nachhaltig. Ein solcher soziokultureller Wandlungsprozess bleibt nicht ohne Auswirkung auf die moralischen Urteilskriterien. Diese Einsicht rechtfertigt freilich in keiner Weise die Idee eines Relativismus moralischer Prinzipien oder der Moralität als solcher.

Der gesamte Prozess einer "Reinigung des Gedächtnisses" erschöpft sich nicht in der richtigen Verbindung von historischem und theologischem Urteil und in der korrekten Anwendung der hermeneutischen Prinzipien. Es geht auch nicht darum, Abscheu vor der Vergangenheit oder eine depressive Haltung zu erzeugen, die Selbstgeißelung zur kirchlichen Tugend machen wollte.

Vielmehr geht es um das dankbare Bekenntnis zu Gott, der seine Barmherzigkeit "von Generation zu Generation" (Lk 1,50) erweist. Denn Gott will das Leben und nicht den Tod des Sünders, er will die Liebe und nicht Furcht und Angst. 

Nicht zu unterschätzen sind auch die exemplarischen Wirkungen, die von einer großherzigen Bereitschaft zur Mitverantwortung für die Sünden der Vergangenheit auf die Mentalität in Kirche und Gesellschaft ausgehen. Viele werden auf die Verpflichtung aufmerksam werden, die von der Wahrheit ausgeht, und sie werden sich vom Respekt, von der Würde und den Rechten "des Anderen", besonders des Schwachen, tiefer bestimmen lassen. Mit den zahlreichen Bitten um Vergebung hat Johannes Paul II. ein gutes Beispiel gegeben, das zur Nachahmung einlädt. Die Vergebungsbitten fördern in jedem Fall das Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften. Eine vorurteilsfreie und großherzige Gewissenserforschung ist nur zu begrüßen, weil sie die einzelnen und die Völker auf Wege zur Versöhnung leitet.  Im Licht dieser Klärungen der ethischen Urteilskriterien sollen nun einige Vorkommnisse aus der Geschichte dargestellt werden, bei denen das Verhalten von Gliedern der Kirche im ausdrücklichen Widerspruch zum Evangelium Jesu Christi zu stehen scheint. Mehrere dieser Beispiele hat Johannes Paul II. in Tertio Millennio Adveniente bereits angesprochen<ref>Vgl. TMA, 34-36. </ref>. 

Am Beispiel: Spaltung der Christenheit

Die Einheit ist das Lebensgesetz des dreifaltigen Gottes, das er der Welt durch den Sohn geoffenbart hat (vgl. Joh 17,21), der in der Kraft des Heiligen Geistes die Seinen liebte bis zur Vollendung (Joh 13,1) und sie dieses Lebens teilhaftig machte. Diese Einheit ist auch Quelle und Formgesetz der Lebensgemeinschaft der Menschheit mit dem dreifaltigen Gott. Wenn die Christen das Gesetz der wechselseitigen Liebe verwirklichen, sind sie eins, "wie der Vater und der Sohn eins sind", "damit die Welt glaubt, dass der Sohn vom Vater gesandt ist" (Joh 17,21) und "damit die Welt erkennt, dass sie seine Jünger sind" (Joh 13,35). Leider hat sich dies nicht so ereignet, vor allem in dem nun zu Ende gehenden Jahrtausend, in dem große Spaltungen unter den Christen entstanden sind. Diese stehen in offensichtlichem Widerspruch zum ausdrücklichen Willen Christi, so als ob er selbst gleichsam geteilt wäre (vgl. l Kor 1,13). Das II. Vatikanische Konzil beurteilt diesen Tatbestand so: "Eine solche Spaltung widerspricht aber ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen."<ref>Unitatis redintegratio, l.</ref> 

Die hauptsächlichen Spaltungen, die im vergangenen Jahrtausend "den nahtlosen Leibrock Christi getroffen"<ref>Ebd. 13. In TMA, 34 heißt es: "Mehr noch als im ersten Jahrtausend hat die kirchliche Gemeinschaft im Verlauf des nun zu Ende gehenden Jahrtausends <oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten> schmerzliche Trennungen erlebt, die offenkundig dem Willen Christi widersprechen und der Welt ein Ärgernis sind." </ref> haben sind das Schisma zwischen den Kirchen des Orients und des Okzidents am Anfang des 2. Jahrtausends und dann im Abendland 400 Jahre später der Riss "aufgrund von Ereignissen, die man die Reformation nennt"'<ref>Ebd. 13</ref>. Zu beachten ist aber auch: "Indessen sind diese einzelnen Trennungen untereinander sehr verschieden, nicht allein bedingt durch ihre  Entstehung und durch die Umstände von Raum und Zeit, sondern vor allem nach Art und Bedeutsamkeit der Probleme, die sich auf den Glauben und die kirchliche Struktur beziehen."<ref>Unitatis redintegratio, 13. </ref> 

Im Schisma des 11. Jahrhunderts haben kulturelle und historische Faktoren eine sehr große Rolle gespielt. Die Lehre von der Autorität des Bischofs von Rom hatte zu dieser Zeit noch nicht die spätere lehrmäßige Abklärung und Ausformulierung gefunden. In der Zeit der protestantischen Reformation wurden dann allerdings Fragen des Verständnisses der Offenbarung und ihre Formulierung in der kirchlichen Lehre zum Gegenstand der Kontroverse. 

Der Weg, der sich auftut, um diese Differenzen zu überwinden, ist der Dialog über Lehrfragen in wechselseitiger Liebe und Achtung. Beiden Spaltungen scheint ein Mangel an übernatürlicher Liebe (der agape) anzuhaften. Dieser Mangel an Liebe, "ohne die alles andere nur dröhnendes Erz und lärmende Pauke ist" (1 Kor 13,1), muss in allem Ernst vor dem auferstandenen Herrn der Kirche, der auch der Herr der Geschichte ist, gesehen und bekannt werden. In Anerkenntnis dieses schweren Mangels an Liebe hat Paul VI. Gott und die "getrennten Brüder", die sich "von uns" (der katholischen Kirche) beleidigt sehen, um Verzeihung gebeten<ref>Siehe die Eröffnungsansprache zur II. Konzilssession am 29. September 1964 (Enchiridion Vaticanum 1, 106, n.176).</ref>.

Im Jahre 1965, in einem Klima, das mit dem II. Vatikanischen Konzil gewachsen war, hat Patriarch Athenagoras in seinem Dialog mit Papst Paul VI. das Thema einer Wiederherstellung (apokatástasis) der wechselseitigen Liebe in den Mittelpunkt gestellt. Es ist eine Geschichte, die belastet ist von Widersprüchen, wechselseitigem Misstrauen und Gegensätzen<ref>Vgl. die Dokumentation des Dialoges der Liebe zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Patriarchal von Konstantinopel im Tómos Agápes: Vatican-Phanar (1958-1970), Rom / Istanbul 1971</ref>.

Was sich in der Geschichte abspielte, wirkt durch das Gedächtnis bis in die Gegenwart fort: die Ereignisse des Jahres 1965, die am 7. Dezember 1965 mit der Aufhebung der Anathemata zwischen West und Ost aus dem Jahre 1054 ihren Höhepunkt fanden, stellen ein Schuldbekenntnis für den vorangehenden wechselseitigen Ausschluss dar, aber in einer Weise, dass das Gedächtnis gereinigt wird und ein neues Gedächtnis entstehen kann. Das Fundament dieses neuen Gedächtnisses kann nichts anderes sein als die gegenseitige Liebe, oder besser gesagt, die Verpflichtung, sie zu leben. Dies ist das vordringliche Gebot, das über allem steht (1 Petr 4,8) und das die Kirche im Osten und im Westen verpflichtet. So befreit sich das Gedächtnis von der Gefangenschaft der Vergangenheit. Die Katholiken und Orthodoxen, wie auch die Katholiken und Protestanten sind in diesem Geist eingeladen, Architekten einer neuen Zukunft zu werden, die mit dem neuen Gebot, der Liebe, mehr konform geht. Das Zeugnis Papst Pauls VI. und des Patriarchen Athenagoras für dieses neue Gedächtnis ist exemplarisch.

Beim Weg zur Einheit der Christen darf man auf keinen Fall der Versuchung erliegen, sich von kulturellen Faktoren, historischen Konstellationen oder Vorurteilen führen oder gar beherrschen zu lassen, die immer wieder der Trennung und dem wechselseitigen Misstrauen Nahrung geben, obwohl sie gar nichts mit dem eigentlichen Inhalt unseres christlichen Glaubens zu tun haben. 

Die Glieder der Kirche müssen ihr Gewissen sorgfältig erforschen, ob sie sich vom Gebot zur "inneren Bekehrung" bestimmen lassen, "denn aus dem Neuwerden des Geistes, aus der Selbstverleugnung und aus dem freien Strömen der Liebe erwächst und reift das Verlangen nach Einheit"<ref>Unitatis redintegratio, 7.</ref>. Der Widerstand gegen diese Botschaft seit dem Abschluss des Konzils bis zum heutigen Tag hat sicher "den Heiligen Geist beleidigt" (Eph 4,30). Die Weise, wie sich einige Katholiken im Verharren in den Spaltungen aus der Vergangenheit gefallen und nicht die geringsten Anstalten machen, die Hindernisse der Einheit aus dem Weg zu räumen, rechtfertigt fast den Vorwurf der "Solidarität in der Sünde der Spaltung" (vgl. 1 Kor 1,10-16). Angesichts dieser Haltungen sind die Worte des Konzils im Ökumenismus-Dekret aktueller denn je: "In Demut bitten wir also Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung, wie auch wir unseren Schuldigem vergeben."<ref>Ebd. 7. </ref>

Am Beispiel: Anwendung von Gewalt im Dienst an der Wahrheit

Zu diesem Gegenzeugnis der Spaltungen unter den Christen sind verschiedene Vorkommnisse im vergangenen Jahrtausend hinzuzufügen, bei denen zweifelhafte Mittel angewandt worden sind, um gerechte Ziele zu erreichen. Mit diesen rechten Zielen sind gemeint die Verkündigung des Evangeliums und die Verteidigung der Einheit des Glaubens. In Tertio Millennio Adveniente umschreibt der Papst das Problem: "Ein anderes schmerzliches Kapitel, auf das die Kinder der Kirche mit reuebereitem Herzen zurückkommen müssen, stellt die besonders in manchen Jahrhunderten an den Tag gelegte Nachgiebigkeit angesichts von Methoden der Intoleranz oder sogar der Gewalt im Dienst an der Wahrheit dar."<ref>TMA, 35.</ref>

Es geht also um Formen der Evangelisierung, die ungeeignet sind zur Verkündigung der geoffenbarten Wahrheit. Dazu sind auch Methoden zu rechnen, die das Evangelium ohne Gespür für die kulturellen Werte der Völker propagiert und dabei die innere Hinordnung dieser Werte auf das Evangelium übersehen haben. Zu bedauern ist auch mangelnder Respekt vor dem Gewissen der Personen, denen man den Glauben vorgelegt hat. Verwerflich war jede Form der Gewaltausübung im Kampf gegen Irrtümer. 

Eine ebenso große Aufmerksamkeit erfordern die möglichen Unterlassungen der Anklage von Ungerechtigkeit und Gewalt, derer sich die Glieder der Kirche in verschiedenen historischen Situationen schuldig gemacht haben können. "Da ist der Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit vieler Christen angesichts fundamentaler Verletzungen der Menschenrechte. Die Bitte um Vergebung gilt auch für das Schweigen aus Feigheit oder falscher Lagebeurteilung und für das, was  unentschlossen und in wenig geeigneter Weise getan und gesagt wurde."<ref>Johannes Paul II., Ansprache vom 1. September 1999, in: L`Osservatore Romano, 2. September 1999, 4 (L`Osservatore Romano dt. vom 10. September 1999).</ref> Wie in allen Fällen geht es auch hier darum, die historische Wahrheit durch eine historisch-kritische Untersuchung herauszufinden. 

Wenn die Fakten gesichert sind, ist die geistliche und moralische Auswertung möglich. Dann kann man ihre objektive Bedeutung erhellen. Nur mit Hilfe historischer Forschung kann Mythenbildung verhindert werden. Nur ein von historisch-kritischem Bewusstsein geprägtes geschichtliches Gedächtnis ist fähig, im Lichte des Glaubens die Früchte der Umkehr und der Erneuerung zu tragen: "Aus jenen schmerzlichen Zügen der Vergangenheit ergibt sich eine Lektion für die Zukunft, die jeden Christen veranlassen muss, sich ganz fest an das vom Konzil geltend gemachte goldene Prinzip zu halten: <Die Wahrheit erhebt nicht anders Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt>."<ref>TMA, 35.  Das Konzilszitat stammt aus Dignitatis humanae, l. </ref>

Am Beispiel: Verhältnis von Christen und Juden

Eines der Felder, wo eine besondere Gewissenserforschung unausweichlich ist, ist das Verhältnis zwischen Christen und Juden<ref>Das II, Vatikanum hat dieses Thema in der Erklärung Nostra aetate mit großem Nachdruck behandelt.</ref>. "Das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk ist verschieden vom Verhältnis zu allen anderen Religionen."<ref>Johannes Paul II., Ansprache anlässlich des Besuches der römischen Synagoge (13. April 1986), 4 (AAS 78,1986,1120; L`Osservatore Romano dt. vom 18. April 1986). </ref> Dennoch muss gesagt werden: "Die Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Christen ist eine schmerzliche Geschichte ... In der Tat, die Bilanz dieser Beziehungen in zwei Jahrtausenden ist leider negativ."<ref>So das Urteil im jüngsten Dokument der Kommission für die Religiösen Beziehungen zum Judentum Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah, Rom, l6. März 1998, 3.</ref>

Die Feindseligkeit oder das Misstrauen vieler Christen gegenüber den Juden im Laufe der Zeit ist eine bedrückende historische Tatsache. Es ist Grund zu tiefem Bedauern für alle Christen, die sich klarmachen, dass Christus ein Nachkomme Davids war, dass Maria und die Apostel als Kinder des jüdischen Volkes geboren wurden, dass die Kirche genährt wird von den Wurzeln des guten Ölbaums, in den die Zweige des wilden Ölbaums der Heidenvölker eingepfropft sind (Röm 11,17-24), dass die Juden unsere geliebten Brüder und Schwestern sind und dass sie in einem gewissen aber wahren Sinn "unsere älteren Brüder"<ref>Ebd. 7.</ref> sind.  Die Schoah, der Judenmord, war freilich das Ergebnis der ganz und gar heidnischen Ideologie des Nationalsozialismus, der, getrieben von einem erbarmungslosen Antisemitismus, nicht nur den Glauben der Juden verachtete, sondern die Menschenwürde des jüdischen Volkes negierte. Dennoch "kann man sich fragen, ob die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten nicht doch auch von antijüdischen Vorurteilen begünstigt wurde, die in den Köpfen und Herzen einiger Christen lebendig waren. Haben die Christen den Verfolgten und darunter besonders den Juden jede mögliche Hilfe gewährt?"<ref>Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah, 5.</ref>

Zweifellos gab es viele Christen, die ihr Leben riskierten, um das Leben ihnen bekannter Juden zu retten und ihnen beizustehen. Auf der anderen Seite aber scheint es auch wahr zu sein, dass "neben all diesen mutigen Männern und Frauen der geistliche Widerstand und die konkrete Aktion anderer Christen nicht diejenige war, die man von einem Jünger Christi erwarten durfte"<ref>Ebd. 6. </ref>. Diese Tatsache bedeutet für alle Christen von heute einen Appell an das Gewissen zu einem "Akt der Reue (teschva)"<ref>Ebd. 5. </ref>. Er soll ein Ansporn sein, die Anstrengungen zu verdoppeln, "sich zu wandeln und im Denken zu erneuern" (Röm 12,2) sowie ein "moralisches und religiöses Gedächtnis" angesichts der dem jüdischen Volk geschlagenen Wunden aufrechtzuerhalten. Was in diesem Bereich schon alles getan wurde, kann bekräftigt und vertieft werden. 

Wer trägt die Verantwortung für die Missstände in der Gegenwart?

"Die gegenwärtige Epoche weist neben viel Licht auch nicht wenige Schattenseiten auf."<ref>TMA, 36. </ref> Unter diesen Schattenseiten der Gegenwart muss an erster Stelle das Phänomen der Negation Gottes in den verschiedensten Varianten genannt werden. Es ist bedrückend, dass diese Leugnung von Gottes Sein und Wirken, besonders in ihrer theoretischen Begründung, vom Abendland ausging. Mit dieser "Gottesdämmerung" gehen eine Reihe von negativen Phänomenen einher: religiöse Indifferenz, verbreiteter Mangel an Verständnis für die transzendente Dimension des menschlichen Lebens, ein Klima des Säkularismus und ethischen Relativismus, Leugnung des Lebensrechtes der ungeborenen Kinder bis hin zur Legalisierung der Abtreibung und eine Unempfindlichkeit für den Schrei der Armen in allen Bereichen des Lebens der Menschheitsfamilie.

Die beunruhigende Frage stellt sich, inwieweit die Christen selbst mitverantwortlich sind für den Atheismus in seiner theoretischen und praktischen Ausprägung. Das II. Vatikanum hat in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" eine wohldurchdachte Antwort gegeben: "Gewiss sind die, die im Ungehorsam gegen den Spruch ihres Gewissens absichtlich Gott von ihrem Herzen fernzuhalten und religiöse Fragen zu vermeiden suchen, nicht ohne Schuld; aber auch die Gläubigen selbst tragen daran eine gewisse Verantwortung. Denn der Atheismus, allseitig betrachtet, ist nicht eine ursprüngliche und eigenständige Erscheinung; er entsteht vielmehr aus verschiedenen Ursachen, zu denen auch die kritische Reaktion gegen die Religionen, und zwar in einigen Ländern vor allem gegen die christliche Religion, zählt. Deshalb können an dieser Entstehung des Atheismus die Gläubigen einen erheblichen Anteil haben."<ref>Gaudium et spes, 19. </ref> 

Seit das wirkliche Antlitz Gottes uns Menschen in Jesus Christus geoffenbart ist, ist den Christen die unermessliche Gnade geschenkt, dieses Angesicht Gottes zu erkennen. Darum fällt ihnen aber auch die Verantwortung zu, so zu leben, dass sie anderen das wahre Antlitz des lebendigen Gottes kund machen. Sie sind berufen, die Wahrheit in der Welt aufleuchten zu lassen, dass Gott Liebe (agape) ist (1 Joh 4,8.16). Weil Gott Liebe ist, ist er auch die Trinität der Personen, deren Leben sich in einem unendlichen Austausch von Liebe vollzieht. Daraus folgt, dass der bessere Weg die wechselseitige Liebe ist, weil die Christen das Licht der Wahrheit, dass Gott Liebe ist, verbreiten: "Daran sollen alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt" (Joh 13,35). Von diesem hohen Anspruch her ist aber auch verständlich, warum das Konzil sagen konnte, dass Christen "durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch missverständliche Darstellung der Lehre oder auch durch Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren"<ref>Gaudium et spes, 19. </ref>. 

Wir wollen betonen, dass die Erwähnung dieser Fehler und Mängel der Christen in der Vergangenheit nicht nur als Sündenbekenntnis vor Christus aufgefasst werden soll, sondern auch als Lob und Verherrlichung des Herrn der Geschichte für seine barmherzige Liebe. Die Christen wissen nicht nur um die Existenz der Sünde, mehr noch: sie glauben an die "Vergebung der Sünden".

Aber die Sünden der Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzurufen, bringt unsere Solidarität mit denen zum Ausdruck, die uns im Guten wie im Versagen auf dem Weg der Wahrheit vorausgegangen sind. Der Gegenwart erwächst daraus ein starker Antrieb, sich zu den Forderungen des Evangeliums zu bekehren und damit ein Vorspiel der an Gott gerichteten Bitte um Vergebung einzuläuten, die uns den Weg ebnet, uns wechselseitig zu vergeben und uns miteinander auszusöhnen. 

Sechstes Kapitel: PASTORALE UND MISSIONARISCHE PERSPEKTIVEN 

Im Licht der bisherigen Überlegungen stellen sich nun die folgenden Fragen: Was sind die pastoralen Ziele der Anerkennung einer Verantwortung der Kirche für die Sünden ihrer Glieder in der Vergangenheit, und warum tut sie hierfür Buße? Welche Implikationen sind damit für das Leben des Volkes Gottes verbunden? Was sind die Auswirkungen auf die Mission der Kirche und ihren Dialog mit den verschiedenen Kulturen und Religionen? 

Pastorale Zielsetzung

Unter den unterschiedlichen Aspekten, die das Schuldbekenntnis hat, können unter anderen folgende genannt werden:

- Das erste Ziel ist die "Reinigung des Gedächtnisses". Der Prozess einer neuen Erschließung der Vergangenheit ist notwendig, da die Ereignisse der Vergangenheit immer in der Gegenwart nachwirken und als Versuchungen von heute fortbestehen. Wenn in einem geduldigen Dialog ermittelt wurde, wer sich von wem in der Vergangenheit durch Taten oder Worte verletzt sieht, ist es möglich, alle diese Belastungen aufzuarbeiten und in ihrer aktuellen destruktiven Dimension zu tilgen. So kann der negative Einfluss schlimmer geschichtlicher Ereignisse auf das gegenwärtige Zusammenleben der Menschen beseitigt oder wenigstens eingedämmt werden. Die kirchliche Gemeinschaft hat darüber hinaus die Chance zu einem Fortschritt in der Heiligkeit, in die sie durch die Versöhnung und den Frieden im Gehorsam gegenüber der Wahrheit tiefer hineinwächst. In Tertio Millennio Adveniente unterstreicht der Papst diese Aussicht: "Das Eingestehen des Versagens von gestern ist ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes, der uns dadurch unseren Glauben zu stärken hilft, dass er uns aufmerksam und bereit macht, uns mit den Versuchungen und Schwierigkeiten von heute auseinanderzusetzen. "<ref>TMA, 33. </ref> Das Erinnern der Schuld, der Fehler und des Versagens in der Geschichte ist darum zu begrüßen, auch wenn heute sicher nicht mehr alles in lebendiger Erinnerung präsent ist. Um das Zerrbild der Kirchengeschichte als einer einzigen chronique scandaleuse zu vermeiden, darf man aber nie den Einsatz so vieler Christen bis hin zur Hingabe des Lebens für ihre Treue zum Evangelium und im Dienst der Nächstenliebe aus den Augen verlieren<ref>Man denke nur an das Zeichen des Martyriums: vgl. TMA, 37.</ref>.

 - Zweites pastorales Ziel ist die mit der ersten Zielbestimmung eng verbundene Aufgabe einer ständigen Erneuerung des Volkes Gottes. Mit den Worten des II. Vatikanischen Konzils kann dies so formuliert werden: "Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform (ad hanc perennem reformationem) gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist; was also etwa je nach Umständen und Zeitverhältnissen im sittlichen Leben, in der Kirchenzucht oder auch in der Art der Lehrverkündigung die von dem Glaubensschatz selbst genau unterschieden werden muss - nicht genau genug bewahrt worden ist, muss deshalb zu gegebener Zeit sachgerecht und pflichtgemäß erneuert werden."<ref>Unitatis redintegratio, 6. </ref> Alle Getauften sind aufgefordert, "hierbei ihre Treue gegenüber dem Willen Christi hinsichtlich der Kirche zu prüfen und tatkräftig ans Werk der notwendigen Erneuerung und Reform zu gehen (opus renovationis nec non reformationis)"<ref>Ebd. 4.</ref>. Das Kriterium einer wahren Reform und einer ehrlichen Erneuerung kann dabei kein anderes sein als die Treue zu Gottes Willen im Bezug auf Sein Volk<ref>Ebd. 6: "Jede Erneuerung der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung." </ref>. Dies setzt eine ernsthafte Anstrengung voraus, um sich von all dem zu befreien, was von diesem Willen wegführt, sei es dass es sich dabei um ein Erbe der Vergangenheit oder um Sünden der Gegenwart handelt.

- Drittes pastorales Ziel ist das Zeugnis, das die Kirche ablegt für die Barmherzigkeit Gottes und Seine befreiende und heilende Wahrheit, die sie im Lauf ihrer Geschichte immer neu erfahren durfte. Ein weiterer Aspekt des Zeugnisses ist der Dienst, mit dem die Kirche dazu beiträgt, die Übel der Gegenwart zu überwinden. Mit ihrem Gehorsam gegenüber dem Heilswillen Gottes dienen Christen den Menschen, damit alle den Glanz und die Schönheit von Gottes Wahrheit erkennen. 

Der Heilige Vater hat von der von vielen Bischöfen gewünschten Gewissensprüfung gesprochen, die auf die Sendung der Kirche in der Gegenwart gerichtet sein soll: "An der Schwelle des neuen Jahrtausends müssen die Christen demütig vor den Herrn treten, um sich nach den Verantwortlichkeiten zu fragen, die auch sie angesichts der Übel unserer Zeit haben."<ref>TMA, 36</ref> Was können sie zu ihrer Überwindung beitragen? 

Ekklesiale Implikationen 

Welche Folgerungen ergeben sich aus dem Schuldbekenntnis für das Leben der Kirche selbst? 

- Erstens muss sich ein Gespür entwickeln für die unterschiedliche Rezeption der einzelnen offiziellen kirchlichen Akte der Buße. Denn sie weisen eine große Bandbreite auf, unterscheiden sich in den religiösen, kulturellen sowie sozialen Kontexten und betreffen die einzelnen Personen in spezieller Weise. Es ist zu bedenken, dass bestimmte Ereignisse und Aussagen, die einem regionalen Geschichtskontext angehören, nicht einfach auf die universale Kirche bezogen werden dürfen und umgekehrt. In theologischer und pastoraler Hinsicht haben diese Akte erhebliche Konsequenzen für die Verbreitung des Evangeliums. Dabei kann man an die unter sich so verschiedenen Modelle und Konzeptionen einer Theologie der Mission denken. Einkalkulieren muss man auch das Verhältnis von geistlichem Gewinn und dem möglichen Preis, den man dafür zu zahlen hat. Von großer Bedeutung ist auch die Aufnahme und Darstellung dieser offiziellen kirchlichen Erklärungen in den Massenmedien, die oft die Aufmerksamkeit auf Nebensächliches lenken und den Blick auf die zentrale Botschaft des kirchlichen Bekenntnisses zu historischer Schuld verstellen. Nicht zu vergessen ist die Mahnung des Apostels, mit Klugheit und Liebe Rücksicht zu nehmen auf  "die Schwachen im Glauben" (Röm 14,1).

Große Bedeutung hat in der enger zusammenrückenden Welt eine stärkere Berücksichtigung der Kirchengeschichte aus der Perspektive der orientalischen Kirchen und der jungen Kirchen in den Ländern, in denen Christen nur eine Minderheit sind. 

- Zweitens muss das adäquate Subjekt genannt werden, das zu diesem Akt der öffentlichen Vergebungsbitte für die Fehler aus der Vergangenheit autorisiert ist. Es sind sowohl die Hirten der Ortskirchen, die als einzelne oder in einem kollegialen bischöflichen Akt diese Bitte aussprechen können. Es ist insbesondere der universale Hirte der Kirche, der Bischof von Rom, der für die Kirche als ganze sprechen kann. Bei dieser Vergebungsbitte und der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für die Verfehlungen der Vergangenheit muss man unterscheiden zwischen dem Lehramt der Kirche und der Autorität der Kirche. Nicht jeder Akt kirchlicher Autoritäten hat im eigentlichen Sinn lehramtliche Qualität. Wenn einer oder mehrere Träger der kirchlichen Autorität sich eines Verhaltens schuldig gemacht haben, das dem Evangelium widerspricht, bedeutet das nicht per se, dass darin das Charisma der bischöflichen Lehrvollmacht verwickelt ist, mit dem der Herr die Hirten der Kirche ausgestattet hat. Deshalb kann als Konsequenz der Vergebungsbitte des Papstes und vieler Bischöfe keineswegs die Rücknahme oder Relativierung früherer lehramtlicher Aussagen verlangt werden. 

- Drittens ist festzustellen, dass zuerst Gott der Adressat möglicher Vergebungsbitten ist. Die in Frage kommenden menschlichen Adressaten, vor allem wenn es sich um Gemeinschaften innerhalb oder außerhalb der Kirche handelt, können nur ganz spezifisch angesprochen werden unter Beachtung einer historischen und theologischen Kenntnis der Zusammenhänge. Dies betrifft sowohl geeignete Akte der Wiedergutmachung wie auch die Möglichkeit, ihnen von seiten der Glieder der Kirche den guten Willen und die Liebe zur Wahrheit zu bezeugen. Den Weg der Versöhnung kann man am besten beschreiten im Dialog und in wechselseitiger Bereitschaft, die Sünden der Vergangenheit zu bereuen. Dies hängt im einzelnen aber von dem religiösen Selbstverständnis des Dialogpartners ab. Die Wechselseitigkeit (Reziprozität) soll daher kirchlicherseits nicht zur absoluten Bedingung gemacht werden. Die Kirche sollte die Haltung zuvorkommender Liebe einnehmen, indem sie die Initiative ergreift und sich dabei nicht von der erhofften Reaktion der anderen Seite abhängig macht. 

- Viertens sind die möglichen Gesten einer Wiedergutmachung ins Auge zu fassen. Sie hängen ab vom Bewusstsein einer die Zeit überdauernden Verantwortung. Sie sind von symbolischem Charakter, können aber auch die Bedeutung einer wirksamen Wiederversöhnung bekommen, wenn man zum Beispiel an die Spaltung der Christenheit denkt. Für die nähere Ausgestaltung dieser symbolischen Gesten ist eine gemeinsame Vorbereitung mit den möglichen Adressaten und die Erwägung ihrer legitimen Wünsche und Vorstellungen in Aussicht zu nehmen.

- Fünftens ist der pädagogische Aspekt anzuführen. Ein endloses Weiterschleppen negativer Vorstellungen vom anderen darf keine Zukunft haben. Unerträglich wäre auch die Attitüde einer ständigen Selbstanklage, die das eigene Existenzrecht bezweifelt. Es muss klar werden, dass die Übernahme einer Verantwortung für die Sünden aus der Vergangenheit eine Art von Teilnahme am Mysterium des gekreuzigten und auferstandenen Christus ist, der sich die Schuld aller auf seine Schultern hat legen lassen. In dieser Perspektive, die aus dem Osterereignis hervorgeht, zeigen sich die Früchte sowohl für das Subjekt wie auch für den Adressaten der Bitte um Vergebung. Es sind Befreiung, Versöhnung und Freude, die denen zuteil werden, die diesen Weg aus dem Glauben heraus wagen. 

Konsequenzen für den Dialog und für die Mission 

Mehrere Auswirkungen auf den Dialog zwischen der Kirche und religiösen und gesellschaftlichen Gruppen wie auch für die Verwirklichung ihrer Mission sind von diesem kirchlichen Schuldbekenntnis zu erwarten. 

- Auf der Ebene der Mission muss man zunächst beachten, dass diese Akte der Vergebungsbitte nicht den Schwung der Evangeliumsverkündigung hindern, indem man die negativen Aspekte verschärft. Auf der anderen Seite ist aber nicht zu übersehen, dass dadurch auch die Glaubwürdigkeit der Botschaft wachsen kann, wenn nur deutlich wird, dass sie dem Gehorsam gegenüber der Wahrheit entspringen und Früchte der Versöhnung hervorbringen. Die Missionare "ad gentes" wissen sicher, in welchem Kontext sie diese öffentlichen Akte der kirchlichen Autorität ihren Hörern verständlich machen können. Zu beachten ist zum Beispiel, dass viele Christen nichteuropäischer Länder mit bestimmten Aspekten der europäischen Kirchengeschichte möglicherweise nicht viel anzufangen wissen. 

- In ökumenischer Hinsicht kann das Ziel kirchlicher Vergebungsbitten gar kein anderes als die vom Herrn gewollte Einheit sein. Von einem wechselseitigen Austausch der Vergebungsbitte darf man sich viel erhoffen, wenn es auch manchmal prophetische Gesten geben kann, die eine einseitige und uneingeschränkt großzügige Initiative fordern. 

- In der interreligiösen Begegnung ist es angezeigt, deutlich herauszustellen, wie das Schuldbekenntnis der Kirche der Fehler der Vergangenheit für die Christgläubigen mit der Forderung der Treue zum Evangelium übereinstimmt und wie sie so ein glänzendes Zeugnis ihres Glaubens an die Wahrheit und Barmherzigkeit Gottes, der sich in Christus geoffenbart hat, ablegen können. Zu vermeiden ist das mögliche Missverständnis dieser Akte der Vergebungs- und Versöhnungsbitten, als übernähme die Kirche selbst damit Vorurteile, die gegen das Christentum gehegt werden. Vielleicht sehen sich die Anhänger anderer Religionen angeregt und motiviert, die Fehler aus ihrer eigenen Vergangenheit einzusehen und anzuerkennen. Die Menschheitsgeschichte ist übervoll von Gewalt, Völkermorden, Menschenrechtsverletzung und Versündigung gegen das Völkerrecht, Ausbeutung der Schwachen und einer Vergötzung der Machthaber. Leider sind nicht wenige Religionen in ihrer Geschichte übersät von Intoleranz, Aberglauben, einem Sicheinlassen mit ungerechten Mächten und mit einer Negation der Würde und Freiheit des Gewissens. Die Christen sehen sich nicht als Ausnahme. Sie sind sich bewusst, wie sehr sie sich alle vor Gott als Sünder zu bekennen haben.

- Im Dialog mit den Kulturen ist die Komplexität und Pluralität der verschiedenen Mentalitäten im Auge zu behalten, mit denen ein Dialog über die Idee der Vergebungsbitte begonnen werden soll. Hier ist es dringlicher als sonstwo, diese Vergebungsbitte im Licht des Evangeliums und besonders im Hinblick auf das Geheimnis des gekreuzigten Herrn zu verdeutlichen. Es ist zu sagen, dass die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes die Quelle der Vergebung ist und weiter reicht als die Kirche in ihren sichtbaren Grenzen, als die in Raum und Zeit eine und dieselbe Gemeinschaft. Wenn es sicher auch sehr schwierig sein dürfte, die Vergebungsbitte in einer Kultur verständlich zu machen, der diese Idee völlig fremd ist, muss man dennoch eine günstige Gelegenheit wahrnehmen, um die theologischen und spirituellen Gründe im Licht der biblischen Botschaft zu vermitteln und auf ihren kritischen und prophetischen Charakter aufmerksam zu machen. Wo man mit einer von Vorurteilen bestimmten Gleichgültigkeit gegenüber dem Wort des Glaubens zu rechnen hat, muss man sich immer den doppelt möglichen Effekt kirchlicher Vergebungsbitten klarmachen. Die einen fühlen sich bestätigt in ihren negativen Vorurteilen und einer feindseligen Haltung voller Verachtung, während sich die anderen vom Wunder des "gekreuzigten Gottes"<ref>Diese starke Formulierung geht zurück auf den hl. Augustinus, De Trinitate I,13, 28 (CCL 50, 69,13); Ep.169,2 (CSEL 44,617); Sermo 342 A,1 (Misc. Agost. 314,22)</ref> angezogen sehen. Im heutigen kulturellen Kontext und besonders in der abendländisch-westlichen Welt bedeutet die "Reinigung der historischen Erinnerung" eine Verpflichtung, die Glaubende und Nicht-Glaubende miteinander verbindet. Eine solche gemeinsame Arbeit ist ein positives Zeugnis für die Lehre, die uns die Wahrheit erteilt.

- Im Verhältnis zur weltlichen Gesellschaft ist Wert zu legen auf die Differenz zwischen der Kirche als einem Geheimnis der Gnade und irgendeiner weltlichen Gesellschaftsbildung. Dennoch kann man den exemplarischen Charakter der kirchlichen Vergebungsbitte nicht genug herausstellen.

- Es ist zu hoffen, dass sie zu vergleichbaren Schritten ermutigt, eine "Reinigung des Gedächtnisses" und eine Versöhnung zu suchen gerade dort, wo sie sich in ganz bestimmten Zusammenhängen als vordringlich erweist. 

- Diese Sicht findet ihre Bestätigung in den Worten Johannes Pauls II. in einer Ansprache an die Teilnehmer eines Internationalen Symposiums: "Die Bitte um Vergebung ... betrifft an erster Stelle das Leben der Kirche, ihren Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums von der Erlösung, ihr Zeugnis für Christus, ihr Engagement für die Einheit, in einem Wort die Folgerichtigkeit, die das christliche Dasein prägen muss. Doch Licht und Kraft des Evangeliums, aus dem die Kirche ihre Lebenskraft gewinnt, bieten auch reiche Möglichkeiten, die Grundmuster und Aktionen der weltlichen Gesellschaft - unter voller Achtung ihrer Unabhängigkeit - zu erleuchten und zu unterstützen. ... An der Schwelle zum dritten Jahrtausend darf man hoffen, dass die Verantwortlichen in der Politik und die Völker - vor allem jene, die in dramatische, vom Hass und von der Erinnerung an alte Wunden genährte Konflikte verwickelt sind - sich vom Geist des Verzeihens und der Versöhnung leiten lassen, den die Kirche bezeugt, und sich um eine Beilegung der Streitigkeiten durch einen aufrichtigen und offenen Dialog bemühen."<ref>Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Symposiums zum Studium der Inquisition (31. Oktober 1998) 5.</ref> 

Siebtes Kapitel: ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 

Am Ende dieser Überlegungen über das Schuldbekenntnis der Kirche und seine Formen kann nur noch einmal betont werden, dass sich die Kirche in all ihren Äußerungen und gerade auch in diesen Akten der Bitte um Vergebung zuallererst an Gott wendet und ihn in seiner herrlichen Gnade und Barmherzigkeit rühmt und bekennt. Das Lob Gottes ist untrennbar verbunden mit der Würde der menschlichen Person, die ihre Vollendung in der Lebensgemeinschaft mit Gott findet, der den Menschen zum ewigen Leben berufen hat: "Gottes Herrlichkeit ist der lebendige Mensch das Leben des Menschen aber ist die Schau Gottes."<ref> Irenäus von Lyon, Adversus haereses IV, 20, 7 (N. Brox: FC 8/4, Freiburg 1997, 166): "Gloria enim Dei vivens homo, vita autem hominis visio Dei."</ref> Wenn die Kirche in dieser Weise handelt, bezeugt sie auch ihr Vertrauen in die Wahrheit, die frei macht (vgl. Joh 8,32). 

"Ihre Vergebungsbitte ist kein Trick, der sich mit Demut tarnt. Die Vergebungsbutte ist auch keine Absage an ihre zweitausendjährige Geschichte, die so reich ist in allen Bereichen der Caritas, der Kultur und der Heiligkeit. Die Kirche antwortet jedoch auf eine unwidersprechliche Herausforderung der Wahrheit, dass es neben all den positiven Aspekten auch die menschlichen Grenzen und Schwächen gegeben hat, die in vielen Generationen der Jünger Christi zu verzeichnen sind."<ref>Johannes Paul II., Ansprache vom 1. September 1999, in: L`Osservatore Romano, 2. September 1999, </ref>

Die erkannte Wahrheit ist Quelle der Versöhnung und des Friedens, da "die Liebe zur Wahrheit, die in Demut erforscht wurde, einer der großen Werte ist, der die Menschen von heute inmitten der Vielfalt der Kulturen zusammenführen kann"<ref>Ansprache im europäischen Zentrum für Kernforschung (CERN), Genf am 15. Juni 1982, in: Insegnamenti di Giovannni Paolo II, V,2, Vaticano 1982, 2321 (dt: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 40, 34-40). </ref>, wie Johannes Paul II. bei einer anderen Gelegenheit erklärte.

Aufgrund ihrer Verantwortung vor der Wahrheit kann die Kirche "die Schwelle des neuen Jahrtausends nicht überschreiten, ohne ihre Kinder dazu anzuhalten, sich durch Reue von Irrungen, Treulosigkeiten, Inkonsequenzen und Verspätungen zu reinigen. Das Eingestehen des Versagens von gestern ist ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes"<ref>TMA, 33. </ref>. Wir alle dürfen mit einem neuen Morgen rechnen. 

Anmerkungen

<references />

Weblinks