Dietrich von Hildebrand: Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes
Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes
Quelle: Dietrich von Hildebrand: Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, aus dem Englischen übertragen von Josef Seifert, Josef Habbel Verlag Regensburg 1968 (375 Seiten; Imprimatur Regensburg, den 21. März 1968 i. V. J. Erhardsberger). Die Anmerkungen (Zahlen im Klammer) wurden bei der Digitalisierung nicht wie im Original zu jedem Kapitel und am Ende der Seite, sondern durchnummeriert am Ende des Buches, wiedergegeben. Anmerkung 66 wurde bei der Digitalisierung hinzugefügt. Die Abkürzung hl. wurde ausgeschrieben, die Rechtschreibung der gegenwärtigen Form angeglichen.
Inhaltsverzeichnis
- 1 VORREDE
- 2 I. TEIL: WAHRE UND FALSCHE ERNEUERUNG
- 2.1 1. Kapitel: PROGRESSISMUS - KONSERVATISMUS: EINE FALSCHE ALTERNATIVE
- 2.2 2. Kapitel: DIE BEDEUTUNG DES KONZILS
- 2.3 3. Kapitel: THESE-ANTITHESE
- 2.4 4. Kapitel: FALSCHE REAKTIONEN
- 2.5 5. Kapitel: VERLEBENDIGUNG DER RELIGION
- 2.6 6. Kapitel: CHRISTLICHE OFFENBARUNG UND PHILOSOPHIE
- 2.7 7. Kapitel: DIE AUFGABE DES CHRISTLICHEN PHILOSOPHEN HEUTE
- 2.8 8. Kapitel: KAIROS
- 2.9 9. Kapitel: OPTIMISMUS UND CHRISTLICHE HOFFNUNG
- 3 II. TEIL: GEFAHREN UNSERER ZEIT
- 3.1 10. Kapitel: DIE CHRISTLICHE HALTUNG DER EIGENEN ZEIT GEGENÜBER
- 3.2 11. Kapitel: HISTORISCHER RELATIVISMUS
- 3.3 12. Kapitel: EVOLUTIONISMUS, PROGRESSISMUS UND ECHTER FORTSCHRITT
- 3.4 13. Kapitel: WISSENSCHAFTSFETISCHISMUS
- 3.5 14. Kapitel: FREIHEIT UND WILLKÜR
- 3.6 15. Kapitel: SCHEINEHRLICHKEIT
- 3.7 16. Kapitel: EPOCHALISMUS
- 4 III. TEIL: DIE SÄKULARISIERUNG DES CHRISTENTUMS
- 5 IV. TEIL: DAS HEILIGE UND DAS WELTLICHE
- 6 EPILOG
- 7 ANHANG: TEILHARD DE CHARDINS NEUE RELIGION
- 8 Anmerkungen
VORREDE
Wenn wir uns manches vergegenwärtigen, was Kierkegaard über den Glauben und die religiöse Grundhaltung schreibt - und dann einen Blick auf gewisse Aufsätze werfen, die von verschiedenen katholischen Priestern und Laien in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, so können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Verfasser solcher Aufsätze nicht nur ihren katholischen Glauben verloren haben, sondern nicht einmal mehr das Wesen der auf göttliche Offenbarung gegründeten Religion verstehen.
Wir sind dann versucht, uns die Frage zu stellen, ob diese „progressistischen" Katholiken je eine wirkliche religiöse Erfahrung, je das Urerlebnis der Konfrontation mit dem absoluten Herrn hatten: Furcht und Zittern vor dem unendlich heiligen Gott und die beseligende Begegnung mit Christus, der Epiphanie Gottes. Können sie denn noch die Worte des Memorials von Pascal verstehen?
GOTT ABRAHAMS, GOTT ISAAKS, GOTT JAKOBS
NICHT DER PHILOSOPHEN UND GELEHRTEN
GOTT JESU CHRISTI
NUR AUF DEN WEGEN,
DIE DAS EVANGELIUM LEHRT, IST ER ZU FINDEN.
GRÖSSE DER MENSCHLICHEN SEELE
FREUDE, FREUDE, FREUDE
UND TRÄNEN DER FREUDE
JESUS CHRISTUS
JESUS CHRISTUS
ICH HABE MICH VON IHM GETRENNT, ICH HABE
IHN GEFLOHEN, MICH LOSGESAGT VON IHM,
IHN GEKREUZIGT.
MÖGE ICH NIE VON IHM GESCHIEDEN SEIN.
VOLLKOMMENE UND LIEBEVOLLE ENTSAGUNG.
EWIGE FREUDE FÜR EINEN TAG BUSSE
AUF ERDEN. (1)
Dieses Buch wendet sich an alle, die sich noch der metaphysischen Situation des Menschen bewusst sind, an alle, in denen noch eine Sehnsucht nach Gott und ein Bewusstsein ihrer Erlösungsbedürftigkeit lebt - auch wenn sie der Gehirnwäsche moderner Schlagworte ausgesetzt waren. Dieses Buch richtet sich an alle, die inmitten des lärmenden Marktgeschreis billiger und hohler Formeln für die Stimme Christi noch nicht taub geworden sind, deren Verstand noch nicht der Faszination erlegen ist, die von einem angeblichen Mündiggewordensein des modernen Menschen ausgeht; an jene, in denen sich ein Sinn für wirkliche Tiefe und Größe findet, die den Abgrund noch sehen können, welcher Plato von einem Russel, Shakespeare von einem Brecht, Newman von einem Robinson scheidet.
Wir sind überzeugt, dass die große Mehrheit der Katholiken noch nicht durch Schlagworte verwirrt ist und noch nicht im Strom des typisch unreifen Hochmuts mitschwimmt, der in der Illusion liegt, die Menschen seien jetzt „reif" geworden. Wir sind ferner überzeugt, dass viele außerhalb der Kirche die metaphysische Situation des Menschen im Lichte eines wahren Realismus sehen, wie er sich schon in Platons Phaidon und Phaidros befindet. Wir meinen das Bewusstsein jenes geheimnisvollen Bruches in der menschlichen Natur und das Wissen darum, dass der Mensch „nur ein Schilfrohr das zerbrechlichste in der Welt" (Pascal) und zugleich der Herr der Schöpfung ist. Dieser Realismus schließt ein, dass man den inneren Zwiespalt im Menschen nicht übersieht und fühlt, dass er der Erlösung bedarf.
Auf diesem Hintergrund wollen wir zwei Themen behandeln; erstens die philosophisch erkennbaren grundlegenden Wahrheiten, die von der Offenbarung wesenhaft vorausgesetzt sind und die Grundwahrheiten unseres Glaubens, die das Konzil in ihrem unvergänglichen Glanz aufs neue vor den Augen der Welt entfaltet hat; zweitens die Verwirrungen, Apostasien, Zeichen des Glaubensverlustes, die man unter denen findet, die lärmend behaupten, sie seien die wahren Interpreten des Konzils. Auf dem Hintergrund dieses wahren Realismus - der das Fundament der Religion ist und den die Frohbotschaft des Evangeliums wesenhaft voraussetzt - wollen wir versuchen, all die furchtbaren Irrtümer zu erkennen, die jetzt durch sogenannte „progressistische Katholiken" verbreitet werden, ohne jedoch die Fehler zu übersehen, die sich in der Vergangenheit in das Leben der Kirche eingeschlichen haben.
Möge uns Gott Seine Gnade schenken, damit unser Geist aufs neue von Christus, der göttlichen Wahrheit, erleuchtet werde und unsere Herzen trunken seien von der unaussprechlichen Heiligkeit des Gottmenschen. Möge Gott allen Katholiken die Gnade gewähren, wieder zu erleben, was die Präfation der Weihnachtsmesse ausspricht: „Denn die geheimnisvolle Menschwerdung des Wortes zeigt dem Auge unseres Geistes das neue Licht Deiner Herrlichkeit; indem wir Gott so mit leiblichen Augen schauen, entflamme Er in uns die Liebe zu unsichtbaren Gütern."
Wenn dieses Buch auch nur in bescheidenster Weise dazu beiträgt, den erstickenden Nebel der Säkularisierung zu zerstreuen und die Augen der Seelen für die Herrlichkeit Christi und das wahre „sentire cum ecclesia" zu öffnen, so würde ich dies als das größte, unverdiente Geschenk Gottes betrachten:
„Verachte nicht das Flehen Deines Volkes, o allmächtiger Gott, das in seiner Betrübnis zu Dir aufschreit, sondern eile ihm gnädig in seiner Bedrängnis zu Hilfe um der Verherrlichung Deines Namens willen durch Christus unsern Herrn."
I. TEIL: WAHRE UND FALSCHE ERNEUERUNG
1. Kapitel: PROGRESSISMUS - KONSERVATISMUS: EINE FALSCHE ALTERNATIVE
Wenn man die erleuchtete Enzyklika „Ecclesiam suam“ Papst Pauls VI. oder die herrliche Konstitution über die Kirche liest, so steht einem die Größe des Zweiten Vatikanischen Konzils vor Augen. Jedoch beim Lesen oder Hören vieler Äußerungen, die teils von berühmten, teils von weniger berühmten Theologen oder von Laien gemacht werden, die uns ihre selbstgebraute dilettantische Theologie anbieten - kann man nur mit tiefer Trauer und ernsten Befürchtungen erfüllt werden. Es ist wirklich schwer, sich einen größeren Widerspruch vorzustellen als den, der zwischen den offiziellen Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils und solch platten, oberflächlichen, ja sinnlosen Äußerungen besteht, die von allen Seiten mit einer Schnelligkeit hervorschießen, wie sie für Epidemien typisch ist. Auf der einen Seite finden wir den wahren Geist Christi, die authentische Stimme der Kirche; wir finden Texte, die in Form und Inhalt eine erhabene, übernatürliche Atmosphäre atmen. Auf der anderen Seite finden wir eine deprimierende Säkularisierung, einen völligen Verlust des sensus supranaturalis, einen Schlamm von Konfusionen.
Diese Epidemie eines theologischen Dilettantismus führt zu einer Entstellung der wahren Botschaft des Konzils, die sich vor allem in der falschen Alternative äußert, vor die heute jeder gestellt wird: entweder man nimmt die säkularisierten Ideen des Progressismus an oder man gilt als Konservativer, der zugleich mit diesen Ideen auch die Autorität des Konzils ablehnt.
In Wirklichkeit läuft die entscheidende Kluft aber gerade zwischen den offiziellen Kundgebungen des Konzils einerseits und immer häufigeren platten Äußerungen gewisser Theologen und Laientheologen anderseits. Hören wir nur die Worte aus der Dogmatischen Konstitution über die Kirche: „Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch Seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche wider scheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündigt... Deshalb möchte sie [die Kirche] in treuer Übereinstimmung mit der Lehre der früheren Konzilien (2) ihren Gläubigen und der ganzen Welt ihre Natur und universale Sendung eingehender erklären." - Vergleichen wir damit die Worte Hans Küngs: „In der Kirche sind alle Formulierungen von Menschen - und grenzen als menschliche an Irrtum... Eine polemisch definierte Wahrheitsaussage - und das ist das Dogma - grenzt in besonderer Weise an Irrtum."(3) Jedem, der Ohren hat zu hören und Augen zu sehen - kann der Abgrund nicht entgehen, der zwischen Inhalt und Form der Konzilsaussage und solchen Äußerungen besteht. Auf der einen Seite finden wir den wahren Geist Christi, die authentische Stimme der Kirche - auf der anderen nicht nur den Verlust des sensus supranaturalis, sondern auch ein von einem rein natürlichen Standpunkt aus unlogisches Umherwerfen mit Schlagworten - eine Fülle von Verwechslungen und Konfusionen primitivster Art. Nein! Ein solcher Gegensatz hat nichts mit „konservativ" und „progressiv" zu tun: Es ist der Kontrast zwischen dem wahren katholischen Geist und einem flachen, relativistischen Säkularismus.
Doch es ist schon irreführend, diese falsche Alternative mit den Ausdrücken „progressiv" und „konservativ" zu bezeichnen. Man setzt dabei meist voraus, dass jeder entweder „konservativ" oder „fortschrittlich" sein müsse. Auf alle Fälle wird man sehr schnell in den einen oder den anderen Topf geworfen. Manchmal begrüßt man auch, wie etwa Karl Rahner, das Vorhandensein beider Lager - wobei man die Progressisten als die Vertreter der Dynamik und die Konservativen als die Bremser betrachtet. in beiden sieht Rahner notwendige und berechtigte Elemente, die einander in Liebe ertragen sollten.
Wir möchten aber fragen: Sind die Begriffe „konservativ" und „progressiv" wirklich auf die gegenwärtigen Gegensätze innerhalb der Katholiken sinnvoll anwendbar? Charakterisiert man mit diesen Begriffen die einander gegenüberstehenden Gruppen adäquat? Wird durch die Verwendung der Termini „konservativ" und „progressiv" nicht eine falsche Alternative eingeführt und der Blick vom Wesentlichen abgelenkt?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns kurz auf die wahre Bedeutung der Begriffe „konservativ" und „progressiv" besinnen. Wir sehen hier von vornherein von ihrer Bedeutung auf politischem Gebiet ab, weil uns das zu weit vom Thema abführen würde, und wollen nur kurz auf ihren allgemeinen, menschlichen Sinn hinweisen. Es gibt zweifellos Menschen, die an dem Bekannten, Gewohnten hängen, noch unabhängig von seinem spezifischen Gehalt. Etwas ist ihnen lieb und vertraut, weil sie daran gewöhnt sind, weil es den selbstverständlichen Rahmen für ihr Leben abgibt. Alles Neue, Ungewohnte erschreckt sie und erfüllt sie mit Verdacht - eben weil es ihnen ungewohnt ist. Wir können solche Menschen ihrem Temperament nach als „konservativ" bezeichnen. Für einen anderen Menschentypus hingegen besitzt alles Neue, Ungewohnte eine besondere Anziehungskraft: etwas ist ihnen lieb, weil es neu ist; das Gewohnte langweilt sie eher; die Gewohnheit hat sie für seinen Gehalt abgestumpft. Sie verlangen nach Wechsel und genießen etwas um so mehr, je neuer es ihnen ist. Solche Menschen können wir als „progressiv" bezeichnen. Solange es sich um eine bloße temperamentmäßige Veranlagung handelt, ist gegen beide nichts zu sagen. Warum sollen Menschen nicht verschieden veranlagt sein? - Sobald diese ihre Veranlagung aber ihre Stellung zur Wahrheit und zu echten Werten beeinflusst, übt sie offenbar eine völlig illegitime, unsachliche Wirkung aus. Wenn es um grundlegende Wirklichkeiten geht - wie das Wesen der geistigen Person, den Unterschied von Leib und Seele, die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, den objektiven Gegensatz von Gut und Böse, dann ist allein die Frage wesentlich, was wahr und was falsch ist. Diesen Dingen gegenüber von einer konservativen oder fortschrittlichen Einstellung zu sprechen ist eindeutig sinnlos. Etwa zu sagen: ich halte an der Freiheit des Willens fest, weil ich daran gewöhnt bin, weil man bisher immer der Meinung war, der Mensch sei frei, wäre ebenso unsinnig wie zu sagen: ich bezweifle sie, weil sie bisher angenommen wurde, weil sie nicht „neu" ist, während ihre Leugnung ein neuer, dynamischer Gedanke ist.
Hier lautet die einzig sinnvolle Aussage: wir sind davon überzeugt, weil es in Wirklichkeit so ist - weil der Mensch tatsächlich frei ist.
Angesichts einer solchen Frage, bei der es allein auf die wahre Antwort ankommt, von „konservativ" und „fortschrittlich" zu sprechen, ist nicht nur sinnlos, sondern sogar ausgesprochen dumm. Denn jedes andere Motiv als das der Wahrheit ist ebenso unsachlich, wie wenn jemand ein Bild für schön hält, bloß weil es sein Vetter gemalt hat. Wir müssen ein für allemal verstehen, dass an allem Wahren und wahrhaft Wertvollen festzuhalten – unabhängig von allen Schwankungen der Zeitmode - nicht das Symptom einer konservativen Haltung ist, sondern die Antwort auf eine im Wesen der Wahrheit und des Wertes gelegene Forderung. Es wäre offensichtlich ein Unsinn, jemanden als konservativ zu bezeichnen, weil er sein ganzes Leben daran festhält, dass zwei und zwei vier ist. Sobald jemand nicht versteht, dass das Festhalten an einer Wahrheit - unabhängig von aller temperamentmäßigen Veranlagung - die einzig vernünftige, sachgemäße Antwort ist, sondern dies als konservative Haltung bezeichnet, beweist er, dass er das Wesen der Wahrheit nicht verstanden hat. Das gilt für jeden Menschen, der angesichts von Behauptungen, bei denen es allein auf die Wahrheitsfrage ankommt, die Begriffe „konservativ" und „progressiv", „neu" oder „alt" in den Mund nimmt.
Ebenso unsinnig wäre es nicht zu verstehen, dass wir immer erneut streben müssen, tiefer in das Seiende einzudringen, zu den elementaren Einsichten neue Differenzierungen hinzuzufügen, neue Aspekte zu entdecken - oder auf sittlichem Gebiet den Forderungen des erkannten Guten in unserem Leben mehr und mehr zu genügen. In diesem Streben nach Vertiefung der Erkenntnis oder nach Fortschritten im Guten den Ausfluss einer progressistischen Haltung zu sehen, (weil nicht alles „beim Alten" bleibt) wäre zweifellos lächerlich.
Es gibt z. B. keine konservativen oder progressiven Philosophen; es gibt nur solche, die zur Wahrheit vordringen, die etwas vom Seienden erkannt haben und solche, die sich in Konstruktionen und Irrtümer verlieren und uns geistige Kartenhäuser anstelle der adäquaten und ehrfürchtigen Erkenntnis der Wirklichkeit anbieten. Unseligerweise spielt aber für viele die Frage, ob jemand ein konservativer oder ein fortschrittlicher Denker ist, die Hauptrolle. Dann ist jedoch aus der rein temperamentmäßigen Anlage eine Pseudogesinnung, ein Idol geworden.
Der Konservative hält sich für den Soliden, Nüchternen, für den Treuen - einfach, weil er an dem Vergangenen festhält, weil es „bisher" immer so war - ohne nach der Wahrheit zu fragen.
Der Fortschrittliche berauscht sich an seiner vermeintlichen Dynamik, er fühlt sich als Träger des Rhythmus der Geschichte, als ein von diesem Rhythmus Umfangener, an ihm Teilnehmender und in ihm Schwimmender. Er bildet sich ein, der Vertreter des „Lebens" zu sein - gegenüber dem Verstaubten, Veralteten. Er ersetzt die Frage, ob etwas wahr ist, durch die Frage, ob etwas lebendig, zeitgemäß, neu - ob es „geschichtsgerecht" ist.
Es ist nicht schwer zu sehen, wie beide - sowohl der Konservative als auch der Fortschrittliche - gänzlich unsachlich sind und sich in hochmütigen Illusionen bewegen, sobald sie solche Maßstäbe an die Wirklichkeit und an Werte anlegen.
Es ist Immer eine große Gefahr, eine bestimmte Haltung als Norm zu wählen - unabhängig von dem Objekt, um das es geht und dem die Haltung gilt. Die Haltung, die im Laboratorium objektiv und sachlich gefordert ist - eine neutrale, unaffektive, prüfende Haltung - wäre gänzlich unobjektiv, unsachlich, unangemessen, wenn uns jemand in glühender Nächstenliebe entgegenkäme und uns heroische Wohltaten erwiese. Das Objekt, seine Natur, sein Wert sowie das jeweilige Thema der Situation muss unsere Haltung formen, wenn wir uns richtig verhalten sollen. Objectum format actum, sagt sehr richtig die Scholastik. Ein tiefer Wesenszug der Person ist ja ihre Transzendenz - ihre Fähigkeit, etwas so zu erkennen, wie es ist,(4) auf ein Gut zu antworten wegen seines Wertes (5) - auf das Objekt eingehen, ihm die Antwort geben zu können, die ihm gebührt.(6) Und darum ist es ein jämmerlicher Immanentismus, eine gänzlich unsachliche Haltung - wenn man ohne Rücksicht auf das Objekt, das auf dem Spiele steht, „konservativ" oder „progressiv" ist.
Wenn es sich um Dinge handelt, die ihrem Wesen nach unveränderlich sind, wie der Satz vom Widerspruch, die Natur der geistigen Person, oder der Unterschied von Leib und Seele, ist es geboten, immer an ihnen festzuhalten und zu verstehen, dass hier jeder „zeitgemäße" Wechsel der Auffassungen unsinnig ist, weil diese Wirklichkeiten sich erstens wesenhaft nicht „mit der Zeit" verändern können (7) - und weil sie zweitens zu allen Zeiten dem Menschen in ihrer vollen Wirklichkeit gegeben und unbezweifelbar erkennbar sind.(8) Hier ist das Festhalten nicht „konservativ", sondern einfach sachlich.
Dort, wo es sich zwar auch nicht um wechselnde Objekte und Situationen handelt, sondern nur um eine Art der Erkenntnis, die wesenhaft „fortschreitet" und in welcher neue Entdeckungen frühere Auffassungen prinzipiell umstoßen können, ist die vom Objekt ausgehende Forderung eine andere. Das ist der Fall bei aller empirischen Erkenntnis, z. B. in den Naturwissenschaften oder der Medizin. Hier wechselt zwar nicht die Wirklichkeit - die Wahrheit erfordert hier ebenso ein Festhalten an ihr - aber die empirische Erkenntnisart lässt immer die Möglichkeit einer Entthronung früherer Meinungen offen und enthält die Möglichkeit eines kontinuierlichen Fortschreitens. Hier ist das Fortschreiten kein Zeichen einer fortschrittlichen Haltung, sondern das dem Gegebenen Entsprechende, das sachlich Geforderte.
Wenn es sich hingegen um Dinge handelt, die ihrem Wesen nach veränderlich sind, wie die zivilisatorische oder wirtschaftliche Situation eines Volkes, ist es gefordert, nicht an irgendeiner Norm starr festzuhalten, sondern der objektiv wechselnden Situation Rechnung zu tragen. Diese Bereitschaft, dem Wechselnden Rechnung zu tragen, ist also auch hier kein Zeichen von Fortschrittlichkeit, sondern die sachgemäße, vernünftige Haltung.
Wer sich richtig und sachlich verhält, wird darum notwendig bald als konservativ, bald als progressiv erscheinen. Dies ist keine Alternative, sondern fließt in ein und derselben Person aus der gleichen Wurzel - der Fähigkeit zu transzendieren, auf das Objekt angemessen einzugehen.
Eine völlig neue Situation liegt aber vor, wenn es sich nicht nur um mit der natürlichen Vernunft erkennbare ewige Wahrheiten und Werte handelt, sondern um Religion. Dann ist es noch viel unsinniger, im Festhalten an der geoffenbarten Wahrheit ein Zeichen von Konservatismus zu erblicken. Denn hier - wo es sich um Wahrheiten handelt, die unser natürliches Erkenntnisvermögen prinzipiell übersteigen, wo wir vollkommen auf die Offenbarung angewiesen sind - gewinnt die Forderung, an der geoffenbarten Wahrheit unabhängig von allem Zeitgeist unverrückbar festzuhalten, eine noch viel elementarere Bedeutung.
Zum Wesen des katholischen Glaubens gehört das Festhalten an der unveränderlichen, göttlichen Offenbarung, sowie die Überzeugung, in der Kirche einer Wirklichkeit zu begegnen, die dem Auf und Ab der Kulturen und dem Rhythmus der Geschichte enthoben ist. (9)
Die göttliche Offenbarung und der mystische Leib Christi sind von allen natürlichen Gebilden so vollkommen verschieden, dass der Begriff „konservativ" einen falschen Beigeschmack erhält, sobald man damit die Treue gegenüber Christus und der heiligen Kirche meint und den unveränderten Glauben an die unwandelbare geoffenbarte Wahrheit, wie sie uns unter dem Beistand des Heiligen Geistes im depositum fidei überliefert ist.(10) Auch ein Mensch, der keineswegs von Natur aus „konservativ" ist und jeden Fortschritt und jede Veränderung zum Guten in den Bereichen begrüßt, die wandelbar sind,(11) muss in Bezug auf das unfehlbare Lehramt der Kirche „konservativ" sein, sofern man da dieses Wort überhaupt gebrauchen darf. Hier ist das unverrückbare Festhalten an der geoffenbarten Wahrheit, der Glaube an die Gottheit Christi und das unfehlbare Lehramt der Kirche, gleichbedeutend mit Katholischsein. Ebenso ist jeder, der dies nicht tut, nicht ein fortschrittlicher, sondern k e i n Katholik mehr.
Dieser Tatbestand wird aber (zugunsten eines als „Fortschritt" maskierten Abfalls vom Glauben) dadurch verschleiert, dass man mithilfe der Etiketten „konservativ" – „progressiv" die Gläubigen zwingt, sich angesichts einer falschen Alternative zu entscheiden: entweder sollen sie jede Erneuerung ablehnen, auch die wahre, z. B. die Entfernung von Elementen, die sich durch menschliche Gebrechlichkeit in die Kirche eingeschlichen haben, ihrem Wesen aber entgegengesetzt sind (wie ein übertriebener Legalismus, ein zu großer Abstraktionismus, Druck in Gewissensfragen, Missbrauch der Autorität in Klöstern usw.) - oder sie sollen den „Wechsel", den „Fortschritt" im Sinne der „liberalen" Progressisten mitmachen, was in Wirklichkeit das Aufgeben des katholischen Glaubens bedeutet.
Diese falsche Alternative verbirgt völlig die Tatsache, dass es auch einen dritten Standpunkt gibt, der weder konservativ noch progressistisch ist - den Standpunkt derer, die die offiziellen Erklärungen des Konzils und ihre richtigen Auslegungen begrüßen, doch dabei mit aller Entschiedenheit die falschen Interpretationen ablehnen, die die Botschaft des Konzils durch sogenannte progressistische Theologen und Laien erfährt: Jenseits der falschen Alternative: „Progressismus - Konservatismus" gibt es eine dritte Position.(12) Sie ist gegründet auf den unerschütterlichen Glauben an Christus und das unfehlbare Lehramt Seiner heiligen Kirche. Sie hat als unbezweifelte Grundlage den Glauben, dass in der von Gott geoffenbarten Lehre der Kirche keine Veränderung möglich ist.(13) Der wahre Katholik erkennt keine Möglichkeit eines Wandels dieser Lehre an, es sei denn im Sinn einer expliziteren Formulierung dessen, was schon im Glauben der Apostel implizit enthalten war, oder was notwendig daraus folgt. (Genau in diesem Sinn spricht Kardinal Newman von Dogmenentwicklung). Er hält daran fest, dass die christliche, übernatürliche Sittlichkeit, die Heiligkeit, die in der heiligen Menschheit Christi geoffenbart und in allen Heiligen verwirklicht ist, keinem Wandel unterworfen ist und immer dieselbe bleibt.(14)
Mit allen wahren Katholiken halten wir daran fest, dass in Christus umgestaltet, in Ihm eine neue Kreatur zu werden, das Ziel unserer Existenz ist, gemäß den Worten des heiligen Paulus: „Dies ist der Wille Gottes, eure Heiligung."(15) In dieser Einstellung wissen wir um den radikalen Unterschied zwischen dem Reich Christi und dem Reich dieser Welt, um den Kampf zwischen dem Geist Christi und dem Geist Satans, der alle vergangenen Jahrhunderte hindurch bestanden hat und durch alle künftigen andauern wird bis zum Ende der Welt. Wir glauben, dass die Worte Christi „Wäret ihr von der Welt gewesen, so hätte die Welt euch geliebt; da ihr aber nicht von dieser Welt seid, hasst euch die Welt" heute ebenso gültig sind, wie zu irgendeiner anderen Zeit.
Das ist einfach der katholische Standpunkt ohne irgend einen Zusatz von progressiv oder konservativ. Es ist eine Haltung, in der wir uns über jede Änderung freuen, die das instaurare omnia in Christo vermehrt, und die das Licht Christi in neue Bereiche des Lebens trägt. Es ist dies in der Tat ein Aufruf an die Katholiken, alles mit dem Geist und der Wahrheit Christi zu konfrontieren – gelegen oder ungelegen - ohne Rücksicht auf den Geist unserer Zeit oder den irgendeiner früheren Epoche. Eine solche Erneuerung folgt dem Ruf des heiligen Paulus „Prüfet alles; was gut ist, behaltet!" In dieser Einstellung wollen wir deshalb alles Gute in unserer Zeit freudig bejahen,(16) alles Falsche und Schlechte aber klar erkennen und bekämpfen, weil es jede wahre Erneuerung in Christus nicht nur verhindert, sondern ihr feindlich entgegengesetzt ist, und weil alles Böse und Falsche Christus umso mehr beleidigt, je „dynamischer" und „lebendiger" es ist. Wir wissen, dass wahrem Fortschritt und wahrer Erneuerung nicht nur alles Erkalten oder Ersterben des Lebens Christi entgegengesetzt ist, sondern erst recht alles „Lebendige" und „Fortschrittliche", das mit der Lehre Christi unverträglich ist. So sagt der heiligen Johannes in seinem zweiten Brief: „Jeder, der fortschreitet und nicht in der Lehre Christi verbleibt, hat Gott nicht... Wenn einer zu euch kommt und diese Lehre nicht hat, so grüßt ihn nicht, denn wer ihn begrüßt, hat teil an seinen bösen Werken." (Joh. 2, 9-11).
In dieser Einstellung würdigen wir in tiefer Ehrfurcht all die großen Geschenke aus früheren christlichen Jahrhunderten, die die sakrale Atmosphäre der Kirche adäquat wiedergeben, z. B. den Gregorianischen Choral und die wunderbaren lateinischen Hymnen. Wir sind davon überzeugt, dass die „Bekenntnisse" des heiligen Augustinus, die Schriften des heiligen Franz von Assisi oder die Werke der heiligen Theresia von Avila eine niemals veraltende Botschaft an alle Jahrhunderte enthalten. Unsere Haltung möge eine tief ehrfürchtige Liebe zur Kirche in all den Formen sein, in denen sie lebt oder sich ausprägt - ein wahres sentire cum ecclesia.
Diese dritte Antwort auf die gegenwärtige Krise ist somit keine zaghafte, kompromissbereite Haltung, sondern eine sehr ausdrückliche und entschiedene, in der wir weder in die Vergangenheit starren noch auf eine bloß irdische Zukunft blicken, sondern auf die Ewigkeit hin gerichtet sind.
So leben wir voll im gegenwärtigen Augenblick der Geschichte: Denn volle Gegenwart kann nur erlebt werden, wenn es uns gelingt, uns von der Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft zu befreien, wenn wir nicht länger in einem sinnlosen Lossteuern auf den nächsten Augenblick befangen bleiben. Im Licht der Ewigkeit allein erhält jeder Augenblick im Leben eines Individuums oder einer Gemeinschaft seine volle Bedeutung, sein wahres Gewicht. So können wir auch der gegenwärtigen geschichtlichen Epoche nur gerecht werden, indem wir im Lichte der ewigen Bestimmung des Menschen auf sie blicken - im Lichte Christi.
In dieser Haltung erfüllt uns ernste Sorge und tiefes Bangen, dass im jetzigen Augenblick ein Säkularismus in das Leben der Kirche einbreche. Wir betrachten die gegenwärtige Krise als die schwerste in der ganzen Geschichte der Kirche. Dennoch sind wir voll Hoffnung, dass die Kirche siegreich über alle Versuchungen triumphieren wird nach dem Worte des Herrn: „Und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen."
2. Kapitel: DIE BEDEUTUNG DES KONZILS
Das Hauptthema und das Ziel des Konzils ist in der Konstitution über die Kirche angegeben:
„Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch Seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet (vgl. Mk 16,15). Die Kirche ist nämlich in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innerste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit. Deshalb möchte sie in treuer Übereinstimmung mit der Lehre der früheren Konzilien(17) ihren Gläubigen und der ganzen Welt ihre Natur und universale Sendung eingehender erklären." (I, 1)
Es gehört zur Natur der Kirche, dass es in ihr nicht nur das Wachsen der expliziten dogmatischen Formulierungen der geoffenbarten Wahrheit gibt, sondern auch von Zeit zu Zeit eine Reform. Jede wahre Reform aber ist eine Rückkehr zu Christus, eine Erneuerung des wahren Lebens der Kirche, das zu allen Zeiten ein und dasselbe ist.(18) Durch die zweitausendjährige Geschichte der Kirche hindurch bezeugen alle Konzilien den übernatürlichen Rhythmus ihres Lebens; dieser schließt einerseits die Verurteilung aller Häresien(19) ein, die von jeher in die Kirche einzudringen suchen - und, damit verbunden, die immer explizitere und klarere Formulierung der geoffenbarten Wahrheit (diesen Prozess beschreibt Kardinal Newman in „The Development of Christian Doctrine"); anderseits schließt er immer wieder eine Erneuerung des authentischen Lebens der Kirche ein, wie wir sie auch in den Reformen innerhalb der religiösen Orden finden - etwa der Reform des Benediktinerordens, die von Cluny ausging, oder der Reform des Franziskanerordens durch den heiligen Bernardin(20).
Weder organisches Wachstum, noch Reformen haben etwas mit einer Veränderung oder Evolution des wahren Wesens der Kirche im Lauf der Geschichte zu tun. Im Gegenteil: Dieser übernatürliche Rhythmus von Wachstum und Erneuerung ist das genaue Gegenteil der angeblichen Entwicklung des Weltgeistes in der Geschichte, wie Hegel sie lehrt. Er ist von der Anpassung der Kirche an den Geist einer Zeit gänzlich verschieden; wir finden ihn im Leben der Kirche, er entspringt ihrer übernatürlichen Lebenskraft.
Doch innerhalb dieses übernatürlichen Rhythmus im Leben der Kirche müssen wir die beiden erwähnten Prozesse klar voneinander unterscheiden. Der erste besteht in einem organischen Wachsen der Formulierungen der geoffenbarten Wahrheit, in einem immer expliziteren Aussprechen der Wahrheit, die in der Offenbarung Christi immer schon implizit enthalten war. Diese Wahrheit ist nicht nur in sich selbst unwandelbar, sondern sie ist auch in der Offenbarung des Alten und Neuen Bundes „unwandelbar dargeboten".(21)
Der zweite Prozess ist eine Erneuerung, das Abschütteln säkularer Einflüsse, die auf Grund der menschlichen Gebrechlichkeit und zeitbedingter Strömungen in die Praxis der Kirche und in das religiöse Leben der Gläubigen eingedrungen sind(22). Diese Erneuerung ist das Gegenteil von einer Evolution oder „Progression". Sie ist vielmehr das Zurückgehen auf den unverfälschten Geist der Kirche, ein Prozess der Reinigung und Wiederherstellung ihres wahren Lebens. Diese Notwendigkeit einer immer wiederholten Erneuerung gibt in dramatischer Weise Zeugnis von dem Kampf zwischen dem Geist Christi und dem Geist dieser Welt, von dem Kampf zwischen den beiden Städten - den der heiligen Augustinus in „De civitate Dei" beschreibt. Diese Erneuerung besteht in einer immer wiederholten Befreiung von allen Sichten und Gewohnheiten, die mit Christus unverträglich sind. Solcherart war die Reform des heiligen Gregor VII., oder die zahlreicher Konzilien, vor allem des Konzils von Trient. Doch während bei der Erneuerung früherer Konzilien die Betonung auf dem Kampf gegen säkularisierende Einflüsse und gegen eine allgemeine Lauheit lag, liegt bei diesem Konzil das Gewicht auf der Befreiung von Enge, auf einer Verjüngung der Kirche, die gewisse Formen der Erstarrung und Legalisierung überwinden soll, welche das wahre Antlitz der Kirche zu verdunkeln drohten. Dies ist eine neue Dimension der Erneuerung; aber wir müssen nachdrücklich betonen, dass das weder eine Abschwächung noch ein Verschwimmen des Antagonismus bedeutet, der zwischen dem Geist Christi und dem Geist „dieser Welt", zwischen der Kirche und dem saeculum besteht(23).
Die Überwindung der Enge ist kein Kompromiss mit der Zeit, noch eine Anpassung an den Geist unserer Epoche, sondern vielmehr ein Durchbruch zu der Weite und Freiheit, die allein der Geist Christi geben kann - einer Weite,die jene geheimnisvolle „coincidentia oppositorum"(24) einschließt, die dem Übernatürlichen eigen ist: die Versöhnung von Dingen, die einander auszuschließen scheinen. Ein Beispiel für diese ausschließlich im Übernatürlichen mögliche Versöhnung von scheinbar unvereinbaren Haltungen ist das unerbittliche Ablehnen aller Irrtümer, das „Anathema"(25), das die Kirche über alles mit Christus Unverträgliche ausspricht einerseits - und anderseits eine zärtlich-mütterliche Haltung, eine lebendige Liebe zum Irrenden, die Achtung vor seiner personalen Würde und der Eifer, jedem Körnchen Wahrheit gerecht zu werden, das in seinem Irrtum enthalten sein mag. Ein anderes Beispiel ist die klare Scheidung zwischen dem Sakralen und Profanen einerseits - und anderseits das „Instaurare omnia in Christo", d. h. dass wir alles mit dem Geiste Christi durchdringen, alles in Seinem Lichte sehen und tun.
3. Kapitel: THESE-ANTITHESE
Wenn man seine tiefe Besorgnis über die schweren Irrtümer äußert, die unter progressistischen Katholiken weit verbreitet sind, kann man leicht hören: „Ja, das musste kommen - es ist eine starke Reaktion gegen frühere Irrtümer, Missbräuche und Versäumnisse. Nach einer gewissen Zeit wird diese Reaktion ihre Übertriebenheit verlieren und die rechte Einstellung wird gefunden werden."
Eine solche Antwort scheint uns sehr unbefriedigend, weil sie selbst auf schwerwiegenden Irrtümern beruht, vor allem auf einer falschen Vorstellung von dem Weg, auf dem der Mensch der Wahrheit näher kommt. Noch bedenklicher ist, dass der Trost, den man uns mit einer solchen Antwort anbietet, auf einem vollständigen Missverstehen des einzigartigen Vorgangs der Dogmenentwicklung beruht, in dem die unfehlbare Kirche(26) die geoffenbarte Wahrheit immer detaillierter formuliert.
Wir wollen zunächst auf den ersten Irrtum eingehen: Der irrtümlichen Idee, die Wahrheit werde erreicht, wenn das Pendel der Geschichte von einer Seite zur anderen ausschlägt und endlich in der Mitte zur Ruhe kommt, liegt eine populäre Interpretation der Hegelschen Dialektik von These, Antithese und Synthese zu Grunde. Doch selbst in ihrer nicht popularisierten Form, ob man sie auf den Rhythmus der Geschichte anwenden kann oder nicht, beschreibt diese Dialektik sicher nicht den Prozess, der zur Wahrheitsfindung führt. Die Synthese braucht der Wahrheit in keiner Weise näher zu liegen als die These oder Antithese.
Natürlich denken wir hier nicht an eine ausgesprochen falsche These, deren kontradiktorisches Gegenteil natürlich wahr ist. Die Behauptung etwa, dass keine objektive Wahrheit existiert, ist ein reiner Irrtum. Ihre kontradiktorische Antithese, nämlich dass es eine objektive Wahrheit gibt, ist wahr. In diesem Fall wäre eine Synthese aus These und Antithese unmöglich, weil beide Sätze kontradiktorisch sind. Unser Interesse gilt hier konträren Gegensätzen, d. h. Sätzen, die beide falsch sein können.
Die populäre Interpretation Hegels besagt, es sei unaufhaltsam, dass der menschliche Geist in ein Extrem fällt; dies sei - wieder unaufhaltsam - gefolgt von einem Umschlagen ins entgegengesetzte Extrem, worauf dann endlich in der Mitte zwischen beiden der Ausgleich erreicht werde. - Dort liege dann die Wahrheit.
Dabei müssen wir zwei Thesen unterscheiden, die in dieser Behauptung enthalten sind: Die erste besagt, historisch dialektische Bewegung sei eine Tatsache; man finde in der Geschichte immer, dass eine Epoche auf die vorhergehende in gegensätzlicher Weise reagiert; als Ergebnis dieser Bewegung finde das historische Pendel in der Mittelposition das resultierende Gleichgewicht; die zweite besagt, dass dieser Endpunkt der Bewegung des historischen Pendels, die Mitte zwischen den beiden Extremen, die Wahrheit oder zumindest einen Fortschritt in der Wahrheitsfindung bedeute. Diese letztere Behauptung interessiert uns hier vor allem.
Man nimmt z. B. an, dass auf eine Zeit, in der Autorität überbetont wurde, eine starke Reaktion folgen werde, die Freiheit hervorhebt und mit jeder Autorität aufzuräumen sucht. Ferner nimmt man an, dass nach diesen zwei Extremstellungen des historischen Pendels die abschließende Stellung in der Mitte liegen wird - endlich wird man also sowohl dem Wert von Autorität als auch dem von Freiheit gerecht werden.
Wir geben zu, dass der Begriff der Mitte als eines glücklichen Mittelwegs sich auf vieles anwenden lässt, vor allem im Bereich des Physischen und rein Psychologischen(27). Zum Beispiel soll das Essen weder zuviel noch zu wenig gesalzen sein; die Temperatur in einem Raum sollte weder zu hoch noch zu niedrig sein.
Sobald es sich aber um die Erforschung der Wahrheit handelt, um ideologische Kontroversen, um antithetische Haltungen der Welt gegenüber, um entgegengesetzte Weltanschauungen, lässt sich die Mittelwegstheorie nicht mehr anwenden. Hier liegt die Wahrheit über beiden Extremen, nicht in der Mitte zwischen beiden. In jedem Extrem gleitet man in diesen Fällen aus der wahren, gültigen Behauptung oder Haltung in einen Irrtum. Obwohl die aufeinander folgenden Extreme gegensätzlich zu sein scheinen, haben sie den entscheidenden Irrtum gemeinsam. Die wahre Position unterscheidet sich von beiden Extremen viel mehr als diese voneinander.
Denken wir z. B. an die Zeit des liberalen Individualismus, in der die Realität und der Wert der Gemeinschaft weitgehend übersehen wurde. Diese Auffassung vom Menschen wurde später durch eine Übertreibung der Gemeinschaft ersetzt, wobei die Rolle des Individuums soweit reduziert wurde, dass man es nur noch als „Teil der Gemeinschaft" auffasste und seinen Wert davon abhängig machte, was es für die Gemeinschaft leistete. Im Gegensatz zum neunzehnten Jahrhundert lag im ersten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts die Betonung auf der Gemeinschaft auf Kosten des Individuums. Der Kollektivismus machte große Fortschritte, vor allem nach dem 1. Weltkrieg. Noch ganz unabhängig davon, dass dieser Kollektivismus in Russland, Deutschland und bis zu einem gewissen Grad in Italien durch brutale Gewalt gestützt wurde, gewannen die kollektivistischen Ideen des Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus immer weitere Verbreitung.
Hier kommt es darauf an zu sehen, dass Individualismus und Kollektivismus nicht zwei Extreme sind, zwischen denen die Wahrheit liegt. In Wirklichkeit sind Individuum und Gemeinschaft sosehr aufeinander zugeordnet, dass es unmöglich ist, der individuellen Person oder Gemeinschaft und ihrer Natur gerecht zu werden, wenn eines auf Kosten des andern überbetont wird. Im selben Augenblick, in dem wir ihre tiefe Bezogenheit aus dem Blick verlieren, in dem wir eines gegen das andere ausspielen, werden wir notwendig zugleich auch blind für das Wesen und den Wert dessen, was wir überbetonen. Extreme sind nicht unvollständige Wahrheiten. Und so merkwürdig es scheinen mag, der Individualismus überschätzt nicht Wert und Würde der individuellen Person, noch überschätzt der Kollektivismus die Gemeinschaft. Im Gegenteil, beide verlieren den Sinn für das wahre Wesen, den Wert und die Würde der Person und der Gemeinschaft.
Weit entfernt davon, eine Lehre zu sein, die wenigstens der individuellen Person und ihrem Wert gerecht wird, ist der Individualismus vielmehr die Frucht einer fortschreitenden Leugnung der Wesenszüge der individuellen Person. Diese ganze Entwicklung begann während der Renaissance; der Begriff der Person wurde eines Wesenszuges nach dem anderen beraubt. Zunächst leugnete man, dass der Mensch auf Gott hingeordnet und sein Ziel die ewige Vereinigung mit ihm sei; dann leugnete man überhaupt die Unsterblichkeit der Seele; endlich den freien Willen usw. Man begann mit der Vermessenheit, aus dem Menschen einen Gott zu machen und endete damit, ihn zu einem höher entwickelten Tier oder einem Bündel von Sinnesempfindungen zu machen, Im Zug dieser Strömung ist es verständlich, dass man die wesenhafte Fähigkeit des Menschen nicht mehr verstand, anderen Menschen tief verbunden zu sein und mit ihnen eine Gemeinschaft zu bilden.
Ein ähnlich destruktives Ergebnis hatte die Reaktion auf den Individualismus in der Idolisierung der Gemeinschaft. Jedes Verständnis für den wirklichen Wert und die Würde der Gemeinschaft ging verloren, und diese wurde durch ein bloßes Kollektiv ersetzt, das man nach dem Muster materieller Substanzen auffasste.
So sehen wir klar, dass Individualismus oder Kollektivismus nicht nur eine einseitige Betonung des Individuums oder der Gemeinschaft ist, sondern gerade auch eine Entstellung der Realität, die man dabei zu seinem Idol erhebt. Die Wahrheit kann deshalb niemals in der Mitte zwischen beiden Extremen liegen, dadurch erreichbar, dass das Pendel in der Mitte stehen bleibt, d. h. wenn sich ein gemäßigter Individualismus mit einem gemäßigten Kollektivismus verbindet. Nein, der Irrtum, der diesen beiden „Ismen" zu Grunde liegt, kann nur überwunden werden, indem man über die ganze Ebene hinausgeht, auf der dieser Pseudogegensatz besteht. Man muss die Wahrheit über diesen Gegensätzen erkennen. Diese Wahrheit kann man keineswegs als die Synthese aus der vorhergehenden These und Antithese betrachten. Sie wird von beiden Gegensätzen verschiedener sein, als diese je voneinander sein können.
Dieses Beispiel unter unzähligen anderen mag genügen, um zu zeigen, dass diese Art Thesen und Antithesen nicht unvollständige Wahrheiten sind, sondern vielmehr beide Karikaturen und Missverständnisse der Natur und des Wertes der Realitäten, die sie auf den Thron zu setzen suchen. Wenn wir an die wahre Schau der individuellen Person wie der Gemeinschaft denken, wie wir sie etwa beim heilige Augustinus finden, so sehen wir klar, dass diese keine Mitte zwischen Individualismus und Kollektivismus ist. Wo finden wir den Wert der individuellen Person tiefer gesehen als in den Confessiones und wo die Glorie personaler Vereinigung und der Gemeinschaft herrlicher beschrieben als in De civitate Dei?
So sehen wir, dass es ganz falsch ist, die schweren Irrtümer, die sich bei so vielen Katholiken eingeschlichen haben, als natürliche Reaktionen auf frühere Irrtümer zu betiteln. Sich mit der Aussicht zu trösten, dass nach einiger Zeit das Pendel in die Mitte zwischen beiden Irrtümern zurückkommen und so die Wahrheit erreichen wird, ist nicht nur ein Zeichen geistiger Trägheit und Harmlosigkeit, sondern heißt auch den Wunsch zum Vater des Gedankens machen.
Doch die progressistischen Katholiken fallen einem noch primitiveren Irrtum zum Opfer. Sie glauben, indem sie gegen frühere Irrtümer und Versäumnisse einfach reagieren, unausweichlich die Wahrheit zu erreichen. Nun ersetzen sie ja wirklich einen früheren Irrtum durch etwas Entgegengesetztes, nur leider nicht, was seinen Charakter als Irrtum betrifft.
Wir beweisen eine auffallend lächerliche Form von Naivität, wenn wir die jetzt herrschende Antithese auf Irrtümer der vorigen Epoche als Sieg der Wahrheit und bemerkenswerten Fortschritt preisen.
Die Worte, die man 1815 von den Bourbonen nach ihrer Restauration in Frankreich sagte: „Sie haben nichts vergessen und nichts dazugelernt" gelten für die Menschen im allgemeinen hinsichtlich ihrer Reaktionen auf die Vergangenheit. Gerade indem sie auf die Vergangenheit blicken, könnten sie bemerken, dass die damalige Antithese nicht besser war, als vorhergehende Thesen - das Reagieren so schlecht wie das Agieren. Aber dies ist gewöhnlich nicht der Fall. Man ist von der Illusion erfüllt, die eigene antithetische Reaktion auf vergangene Irrtümer stelle einen Durchbruch zur Wahrheit dar.
Man macht aus den Ansichten der gegenwärtigen Zeit ein Absolutum. Wir werden später sehen, was die eigentliche Aufgabe eines wahren Philosophen in jeder Zeit ist, besonders aber in unserer, nämlich: sich selbst frei zu machen von dem Rhythmus mehr oder minder automatischer Reaktionen und zu der wahren Sicht emporzusteigen, die jenseits und über all dem Antagonismus zwischen der jetzigen und der vorigen Epoche liegt. Unglückseligerweise finden wir aber, dass manche Philosophen die eigentliche Aufgabe des Philosophen darin zu erblicken glauben, die Strömungen und Tendenzen, die in ihrer Zeit „in der Luft" liegen, begrifflich zu formulieren. Sie spielen die Gegenwart gegen die Vergangenheit aus und können so in ihrem Überlegenheitsgefühl über vergangene Zeiten schwelgen, anstatt zu begreifen, dass der Ruf, der an sie als Philosophen ergeht, eine Einladung ist, zur Wahrheit emporzusteigen, die über dem bloß historischen Rhythmus liegt.
Aber die Verwirrung wird noch viel größer, wenn man nicht mehr versteht, dass die Kirche niemals diesem alternierenden Rhythmus unterworfen sein kann, was ihren übernatürlichen Charakter als mystischen Leib Christi angeht, ihr unfehlbares Lehramt und den Gnadenstrom, der der Menschheit in den Sakramenten gewährt ist. Die Entfaltung der Fülle der göttlichen Offenbarung durch die Jahrhunderte, in denen wir ihre immer weitere Explizierung erleben, ist gerade das Gegenteil von dem Rhythmus, in dem Thesis und Antithesis einander folgen. Es ist vielmehr ein organisches Wachsen unter der Führung des HI. Geistes, in dem ein und dieselbe göttliche Offenbarung vor allen Irrtümern und Häresien bewahrt wird und in dem der glorreiche Schatz des katholischen Glaubens immer ausdrücklicher formuliert wird gerade dank der Widerlegung dieser Häresien.(28)
In den Heiligen aller Jahrhunderte ergreift uns dieselbe Qualität der Heiligkeit, dieselbe Umgestaltung in Christus, unbeschadet aller Unterschiede zwischen den individuellen Persönlichkeiten und der verschiedenen Natur der Sendung, die von der historischen Situation gefordert war. In der Persönlichkeit solcher Heiliger wie des heiligen Petrus, des heiligen Augustinus, des heiligen Franz von Assisi, der heiligen Katharina von Siena, des heiligen Vinzenz von Paul, des heiligen Pfarrers von Ars oder des heiligen Don Bosco finden wir denselben Duft von Heiligkeit, denselben glorreichen Abglanz der heiligen Menschheit Christi, dieselbe Sublimität der übernatürlichen Sittlichkeit, die alle natürliche Sittlichkeit unvergleichlich überragt, selbst die edelste, wie die eines Sokrates.
Aber die Kirche hat auch einen natürlichen Aspekt. Insofern sie eine Institution ist, die aus Menschen besteht, ist sie auch dem Einfluss des wechselnden Rhythmus der Geschichte ausgesetzt. Und deshalb hat die Kirche immer und immer wieder die Aufgabe, alle diese Einflüsse abzuwehren und der Menschheit aufs neue die ungetrübte Fülle der göttlichen Wahrheit offenbar zu machen, die wahre Botschaft Christi an alle Menschen.(29)
4. Kapitel: FALSCHE REAKTIONEN
Leider begegnen wir heute bei progressistischen Katholiken fast immer einer bloßen Reaktion auf die Enge und den Legalismus einer früheren Epoche. Ein solches bloßes Reagieren ist besonders deshalb so schlimm, weil die Änderung, die heute tatsächlich gefordert ist, meist eine Ergänzung unvollständiger Wahrheit oder das Ersetzen doppeldeutiger Formulierungen durch eindeutige ist.
Wir haben gesehen, dass die Wahrheit jenseits einer falschen These und deren Antithese liegt und nicht in einer bloßen Synthese aus beiden, dass sie über einem falschen „Agieren" und einem ebenso falschen Reagieren liegt und nicht in der Mitte zwischen beiden, und dass es deshalb erst recht naiv ist zu glauben, die Wahrheit bestehe in einer bloßen Reaktion auf die Irrtümer früherer Generationen. Aber dies gilt noch mehr, wenn es sich um eine unvollständige Wahrheit handelt. Eine unvollständige Wahrheit ist nämlich kein Irrtum. Das ist mit größtem Nachdruck zu betonen. Wenn wir an die menschliche Freiheit denken, so ist z. B. der Determinismus ein ausgesprochener Irrtum und keine unvollständige Wahrheit. Die Aussage andererseits, dass der Mensch mit freiem Willen begabt ist, ist eine große Wahrheit, aber sie ist unvollständig, solange wir die Freiheit des Willens noch nicht von Willkür unterschieden haben und solange wir den Unterschied zwischen ontologischer und moralischer Freiheit nicht sehen.(30) Freilich ist der Grad dieser Unvollständigkeit sehr verschieden. Manchmal ist es nur die Unvollständigkeit, die selbstverständlich die Entdeckung jeder Wahrheit begleitet, denn man muss die vielen anderen Wahrheiten, die denselben Gegenstand betreffen, hinzufügen. In diesem Sinn ist alle vom Menschen erkannte Wahrheit unvollständig. Manchmal aber meint man mit Unvollständigkeit einer Wahrheit auch die Tatsache, dass nur ein Aspekt eines Seienden gesehen wird, andere gleich bedeutende aber nicht.
Doch Unvollständigkeit der Wahrheitserkenntnis kann auch zum Irrtum werden. Dies geschieht dann, wenn die unvollständige Wahrheit eine Frage nicht beantwortet, auf die zu antworten sie vorgibt. So ruft jede unvollständige Wahrheit in dem Augenblick Irrtümer hervor, in dem sie Vollständigkeit beansprucht.
Jedoch der Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit, der hier verlangt wird, besteht in dem Vervollständigen der Erkenntnis und nicht darin, die unvollständige Wahrheit durch eine Antithese zu ersetzen, wodurch man nicht eine ebenso unvollständige Wahrheit ausspricht, sondern einen ausgesprochenen Irrtum, da man ja die unvollständige Wahrheit leugnet. Platos Einsicht in die Verschiedenheit der Seele vom Leibe und ihre ontologische Überlegenheit über den Leib ist eine fundamentale Wahrheit; aber sie ist unvollständig, insofern er der Rolle und dem Wert des Leibes nicht ganz gerecht wird. Trotzdem bleibt die Einsicht Platos ganz wahr, ungeachtet ihrer Unvollständigkeit. Wenn aber jemand auf diese Unvollständigkeit dadurch reagiert, dass er die Seele für ein bloßes Epiphänomen leiblicher Prozesse erklärt, so spricht er statt einer unvollständigen Wahrheit einen vollständigen Irrtum aus.
Selbst in einem Fall, in dem die Unvollständigkeit ernster und sogar gefährlich ist, stellt das Aufstellen der gegenteiligen Position alles eher als einen Fortschritt dar. Indem Descartes die Natur der Seele, der ,res cogitans und ihre Verschiedenheit von der Materie, der res extensa, betonte, übersah er das Phänomen des Lebens und betrachtete die Tiere als bloße Automaten.
Bergson beantwortete diese Unvollständigkeit damit, dass er das Phänomen des Lebens hervorhob. Während er aber dem Leben mehr gerecht wird, verfehlt er, es klar von der geistigen Person zu unterscheiden. Dies ist sicher kein „Fortschritt."
Dasselbe gilt für die Reaktion auf eine andere Unadäquatheit, die in Descartes' Konzeption der Seele als res cogitans (denkendes Ding) enthalten ist - eine Unadäquatheit, die mit Recht als chosisme" (Verdinglichung) bezeichnet worden ist. Aber wenn man gegen diese Unadäquatheit des „chosisme" dadurch protestiert, dass man die Seele auf ein bloßes Epiphänomen leiblicher Prozesse reduziert und die tiefe Wahrheit leugnet, dass die Seele eine nichtmaterielle Substanz ist, fällt man in einen schweren, folgenreichen Irrtum.
Worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, ist zu sehen, dass eine unvollständige Wahrheit kein Irrtum ist und dass eine bloße Reaktion, in der man die gegenteilige These verteidigt, nicht zu einer Vervollständigung der Wahrheit, sondern zu einem Irrtum führt.
Ich Licht dieser Unterscheidungen werden wir jetzt die falschen Reaktionen untersuchen, die durch katholische Denker verbreitet werden, in der Meinung, damit die Enge zu überwinden, die früheren Zeiten eigen war.
Über die Ehe
Die traditionelle Auffassung von der Ehe enthält eine unvollständige Wahrheit. Die übertriebene, ja beinahe ausschließliche Betonung des Aspektes der Prokreation führte zu einer weitgehenden und fast völligen Missachtung der Rolle, die der gegenseitigen Liebe in der Ehe zukommt.(31) Jahrhunderte hindurch haben viele katholische Theologen (im Gegensatz z. B. zu einem heiligen Franz von Sales) jede Erwähnung der spezifischen Natur der bräutlichen Liebe und ihrer tiefsten Bedeutung für die Ehe vermieden. Es war das große Verdienst Papst Pius XII., die beredtesten Worte für die Natur und den Wert dieser besonderen Art der Liebe zu finden.
So richtig es war, den großen und edlen Zweck der Prokreation zu betonen, so kann man der Natur der Ehe doch nur gerecht werden, wenn man ebenfalls ihre Bedeutung und ihren hohen Wert als Liebesgemeinschaft begreift, als letzte Vereinigung zweier Personen. Ferner kann das Mysterium der Prokreation selbst nur adäquat begriffen werden, wenn man es auf dem Hintergrund dieser Liebesgemeinschaft erfasst, wenn man es als die superabundante Frucht aus dieser Liebeseinheit sieht.(32)
Es ist also klar, dass die Lehre, die ausschließlich die Prokreation betont, eine unvollständige Wahrheit ist; sie bedarf deshalb der Vervollständigung durch eine Lehre, die auch dem Wert der ehelichen Liebe gerecht wird.
Doch in Büchern und Artikeln, die progressistische Katholiken über die Ehe schreiben, begegnen wir nicht dieser Vervollständigung - die ihren Ausdruck in der bewundernswürdigen Rede fand, die Kardinal Leger auf dem Konzil hielt - sondern finden dort eher eine bloße Reaktion, die der früheren ausschließlichen Betonung der Prokreation einfach entgegengesetzt ist. Nicht nur wird der moralisch bedeutende Unterschied zwischen künstlicher Empfängnisverhütung und natürlicher Geburtenregelung(33) nicht mehr gesehen, sondern man leugnet selbst die bräutliche Liebe im tiefsten Sinn dieses Wortes trotz all dem Preisen und Geschrei, das man um sie erhebt. Man erklärt sie durch das Schlagwort „Selbsterfüllung." Man übersieht das eigentliche Geheimnis des Sexuellen, weil man es als bloß biologischen Instinkt wie Hunger und Durst auffasst und von hygienischen Gesichtspunkten aus betrachtet. Doch wie wir in verschiedenen Büchern betont haben(34), kann das Sexuelle nur verstanden werden, wenn man seinen dienenden Charakter der Liebe gegenüber begreift, seine Bestimmung als Ausdruck und Erfüllung bräutlicher Liebe.(35) Die falsche Interpretation des Sexuellen öffnet Tür und Tor allen unseligen Irrtümern über die Ehe, bis zur Leugnung ihrer Unauflöslichkeit.(36)
Über Selbstliebe und Nächstenliebe
Eine ähnliche Unvollständigkeit und die darin lauernden Verwirrungen findet man in Formulierungen wie: Gott und meine Seele allein zählen; alle anderen Dinge sind nur Mittel. Solches ist oft in asketischen Büchern betont worden und hat im Leben frommer Katholiken Gestalt angenommen, vor allem unter Ordensleuten. Sicherlich schloss der Rat, nur auf Gott und unsere eigene Heiligung zu blicken und alles übrige als Mittel dazu zu betrachten, die Nächstenliebe nicht aus, da diese wesenhaft zu unserer Heiligung gehört; ohne sie wäre ja unsere Heiligung unmöglich. Jedoch so wahr es ist, dass die Verherrlichung Gottes der letzte Ruf an jeden einzelnen von uns ist, so können doch andere Personen nie als bloßes Mittel dafür betrachtet werden. Das ist auch klar in dem Gebot Christi zum Ausdruck gebracht, „Gott über alles zu lieben und seinen Nächsten wie sich selbst." Das heißt, wir sollten für dessen Heil und Heiligung auch brennen propter seipsum (um seiner selbst willen), aus Liebe zu ihm, und nicht ausschließlich wegen der Verherrlichung Gottes, obwohl diese ohne Zweifel den absoluten Primat(37) haben sollte.
Nun ist ein typisches Beispiel einer falschen Reaktion auf eine unvollständige Wahrheit die Theorie, die etwa von Gregory Baum (im „Commonweal") vorgebracht wurde, und die besagt: Während in früheren Zeiten das Trachten der Christen nur Gott und der Seele allein galt, sollte jetzt unser ausschließliches Interesse die Rettung des Nächsten sein. Dies ist wieder eine bloße Reaktion und in keiner Weise die erforderte Vervollständigung der Wahrheit. Es ist ein entgegengesetzter, noch schwererer Irrtum.
Gott ist immer das Hauptthema, und meine Heiligung so wie die meines Nächsten sind gleich bedeutend, weil beide Gott verherrlichen. In dieser sublimen Sphäre lassen sich die Begriffe Egoismus und Altruismus nicht mehr anwenden. Weil die Verherrlichung Gottes über alles übrige den Vorrang haben sollte, und weil Gott durch meine eigene Heiligung ebenso verherrlicht wird wie durch die meine Nächsten, ist sie von gleicher Bedeutung.
Es bleibt aber gleichwohl wahr, dass die erste Aufgabe für jeden seine eigene Heiligung ist und nicht die seines Nächsten. Meine Hauptaufgabe ist, Gott nicht durch Sünden zu beleidigen und Ihn durch meine Heiligung zu verherrlichen. Dies geht schon aus der einfachen Tatsache hervor, dass mein Einfluss auf meine eigene Umgestaltung in Christus unermesslich viel größer ist als auf die Heiligung irgend eines anderen Menschen. Es liegt in meiner Macht, mich mit der Hilfe der Gnade einer Beleidigung Gottes zu enthalten, doch nicht, meinen Nächsten davon abzuhalten.
Beziehung zwischen Gottes- und Nächstenliebe
Der Begriff der Caritas einem Nächsten gegenüber ist oft auch durch fromme, gutmeinende Katholiken in einem anderen Sinne missdeutet worden. Diese Fehldeutung zeigte sich besonders in einer Auffassung der Nächstenliebe als Liebe zu einem anderen „nur um Christi willen." Man nahm an, es sei christlicher und gottwohlgefälliger, vollkommener und übernatürlicher, wenn alles Gute, das man seinem Nächsten erweist, alle Opfer, die man bringt, um ihm zu helfen, mit der ausschließlichen Intention vollbracht werden, Christi Geboten nachzufolgen, wobei man gegen den Nächsten als solchen indifferent bleiben solle. Man meinte, diese Haltung fließe ausschließlich aus der Liebe zu Christus, wobei es nicht erlaubt sei, dass sich ein Interesse an der „individuellen Person" unseres Nächsten in unsere Liebe zu Christus mische, und so unsere Herzen teile und der völligen Hingabe an Christus etwas wegnehme. So konnte man Äußerungen hören wie diese: „Glaube mir, ich tue dies ausschließlich um Christi willen.
Dieser kranke Mensch als solcher kümmert mich gar nicht." Verschiedene schwere Irrtümer und Verwechslungen waren der Ursprung dieser Interpretation der Liebe um Christi willen, d. h. der übernatürlichen Liebe. Offenbar gibt es einen großen und entscheidenden Unterschied zwischen der Nächstenliebe und allen anderen natürlichen Liebeskategorien, wie Eltern- oder Kindesliebe, bräutliche oder Freundesliebe. Unser Nächster ist potentiell jeder Mensch, ob er uns anzieht oder nicht, ob wir ihn leiden können oder nicht, wie immer sein Charakter sein mag. Durch eine bestimmte Situation, sei es, dass er etwas braucht oder uns um etwas bittet, oder dass er in Gefahr ist, wird er unser Nächster. Aber die Nächstenliebe, so verschieden sie von jeder anderen menschlichen Liebe auch sein mag, schließt keineswegs ein Interesse an dieser einzigartigen, Individuellen Person als solcher aus, ein Interesse für ihr Wohlergehen, eine wirkliche intentio benevolentiae, die ihr gilt. Das allein macht es möglich, sie Liebe zu nennen. Sie erwärmt den Nächsten mit dem Hauch der Güte, sie umarmt schützend seine Seele, sie bleibt siegreich dem treu, was sein objektives Gut ist, unabhängig von seiner Reaktion, von seiner freundlichen oder ablehnenden Antwort.
Nun ist es eine fundamentale Wahrheit, dass diese eigentliche Nächstenliebe, die Caritas im Paulinischen Sinn, nur möglich ist als eine Frucht unserer Liebe zu Gott in Christus und durch Christus. Zwischen Caritas und einer bloß humanitären „Nächstenliebe" klafft ein Abgrund. Hier mag es genügen zu betonen, dass die unwiderstehliche, siegreiche Güte der Caritas, die in Christus inkarniert ist, nur in der Seele eines Menschen wohnen kann, dessen Herz von Christus aufgeschmolzen ist, der die Male Christi in seiner Seele empfangen hat. Nur der kann eine echte Caritas haben, der Gott aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüte liebt und der jedes menschliche Wesen im Lichte der Offenbarung Christi sieht. Ich denke hier nicht an den ausschließlich übernatürlichen Aspekt der Caritas, von der wir im Glauben wissen, dass ihr Prinzip uns bei der heiligen Taufe eingegossen worden ist. Ich denke hier nur an die Qualität des Aktes der Caritas, die für jeden, der einen Sinn für das übernatürliche hat, in der heiligen Menschheit Christi sichtbar ist und auch in allen Heiligen widerstrahlt und sich von jeder humanitären Liebe unterscheidet. Diese Qualität der Liebe kann in der Seele eines Menschen nur als Liebesantwort auf Gott in und durch Christus verwirklicht werden.
Mögen wir verstehen, dass es ja gar kein Motiv für diese Antwort der Liebe auf einen bösen Menschen gäbe, auf einen Menschen, der abstoßend, gemein und brutal ist, wenn wir ihn nicht im Lichte der Offenbarung Christi sähen, als ein Wesen, von Gott mit einer unsterblichen Seele geschaffen, für die auch Christus am Kreuz gestorben ist. Es gibt keine andere mögliche Motivation für eine solche Liebe.
Wenn man die Natur der Caritas versteht, sieht man den Irrtum klar, der darin liegt, seinen Nächsten ausschließlich als eine Gelegenheit zu betrachten, einen Akt des Gehorsams gegen Christus zu vollziehen. Die siegreiche Qualität, von der der heilige Paulus so wunderbar spricht, schließt das wirkliche, volle Interesse am Nächsten um seiner selbst willen(38) ein. Die oben erwähnte Interpretation der „Liebe um Christi willen" macht aus der Liebe zum Nächsten ein bloßes „sich Benehmen, als ob wir ihn liebten." Doch Christus sagte: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" und nicht: „Verhalte dich, als ob du ihn liebtest!" Eine solche „Nächstenliebe nur um Christi willen" ist deshalb keine wirkliche Caritas, ja dieser „Akt des Gehorsams" gegen Christus ist nicht einmal ein Akt des Gehorsams, weil er gerade den Inhalt des Gebotes Christi nicht erfüllt. Die so denken, missdeuten die Worte Christi: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan" - sie haben vergessen, dass Christus diese individuelle Person, diesen Nächsten, mit unendlicher Liebe liebt. Den Nächsten als Gelegenheit für einen verdienstvollen Akt zu „benützen", schließt ein Ignorieren der Kostbarkeit ein, mit der er dadurch beschenkt ist, dass Christus ihn liebt und für ihn am Kreuz gestorben ist. Doch bedauerlicherweise finden wir hier wieder, dass dieser pseudo-übernatürlichen Haltung der Vergangenheit von progressistischen Katholiken durch einen anderen, viel schwereren Irrtum begegnet wird: Um das echte Interesse zu betonen, das wir der individuellen Person des Nächsten entgegenbringen sollen, interpretieren sie die Worte Christi: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan" so, als ob wir Christus ausschließlich im Nächsten finden könnten. Die Liebe, die eine Antwort auf Christus selber ist, auf den unendlich Heiligen, auf die Epiphanie Gottes, wird durch die Nächstenliebe ersetzt. Die Folge davon ist, dass die Gottesliebe in den Hintergrund gedrängt wird, wenn sie nicht gänzlich verschwindet. Dieser Irrtum ist offenbar viel schwerer, weil er das erste Gebot Christi ignoriert, Gott zu lieben, und dies steht schließlich an erster Stelle. So falsch es ist, die Liebe ausschließlich auf Gott zu beschränken und die volle Nächstenliebe zu leugnen, so ist es doch noch viel schlimmer, die direkte Liebe zu Gott auszuschließen, die immer den absoluten Primat haben muss.(39)
Das Wort Christi, dass wir Ihn in jedem Nächsten finden, verliert außerdem jeden Sinn, wenn wir nicht verstehen, dass Christus, der in Seiner heiligen Menschheit unendlich liebenswert ist, uns durch diese Worte befähigt, unsern Nächsten zu lieben, selbst wenn wir keinen Grund haben, ihn wegen seines Charakters zu lieben. Die Kostbarkeit jedes Menschen mit unsterblicher Seele, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes, wird uns in dem Wort Christi geoffenbart, dass wir Ihn in unserm Nächsten finden. Dies setzt aber eindeutig die direkte Liebe zu Christus als Grundlage der Nächstenliebe voraus.(40)
Die Caritas ist unmöglich ohne die Liebe zu Gott in Christus und durch Christus, ohne die Ich-Du-Gemeinschaft mit Christus. Dies kann nicht genug betont werden. Nur in dieser Ich-Du-Beziehung zu Christus, nur indem wir unsere Herzen durch Ihn aufschmelzen und entflammen lassen, kann die Caritas in unserer Seele leben. Dies sehen wir deutlich im Leben der Heiligen. Sobald wir glauben, die Nächstenliebe sei die einzige Weise, Gott zu lieben, ist die Folge, dass die Caritas mit all ihrer strahlenden, sublimen Heiligkeit durch eine bloß humanitäre Nächstenliebe ersetzt wird, die in Wirklichkeit nicht einmal den Namen Liebe verdient, sondern nur ein blasses Wohlwollen ist.
Eine andere Fehldeutung ist dadurch aufgedeckt, diesmal der Worte des heiligen Johannes: „Wer sagt, er liebe Gott und seinen Nächsten hasst, der ist ein Lügner" (1 Joh. 4, 20). Diese Worte werden nun so ausgelegt, als würden sie bedeuten, man liebe Gott einfach dadurch, dass man seinen Nächsten liebt.(41) In Wirklichkeit ist aber die Nächstenliebe hier als Beweis dafür begriffen, dass wir die wahre Liebe zu Gott in und durch Christus haben. Dieser Beweis ist in zwei Wahrheiten gegründet: Erstens ist die Nächstenliebe die notwendige Folge der Gottesliebe; zweitens ist die Nächstenliebe in der Liebe zu Christus begründet und setzt diese deshalb notwendig voraus. Die Beziehung ist hier ähnlich der zwischen unserer Liebe zu jemandem und den ihr entsprechenden Taten, die wir ihm erweisen. Diese sind offenbar ein Prüfstein für unsere Liebe zu ihm. So könnten wir in Anlehnung an die Worte des heiligen Johannes sagen: Wer sagt, er liebe seinen Freund und sich nicht um sein Wohl kümmert, ist ein Lügner. Das Fehlen guter Taten wird mit Recht als Beweis dafür aufgefasst, dass wir nicht wirklich lieben; denn Taten sind der Beweis der Liebe. Doch es wäre ganz falsch zu sagen, gute Taten seien nicht nur der Beweis, sondern auch ein adäquater Ersatz für Liebe, als wären wohlwollende Taten einfachhin gleichbedeutend mit Liebe und nicht vielmehr ihr Ausfluss und dadurch ein Zeugnis von ihrer Gegenwart.
Über die Rolle der natürlichen Güter
Die berechtigte Furcht, die fromme Katholiken vor einer ungeordneten Anhänglichkeit an endliche Güter hatten, führte oft zu einer misstrauischen Haltung allen geschaffenen Gütern gegenüber. Diese Haltung ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich eine unvollständige Wahrheit oft auswirkt. Es ist sicher gut und notwendig, sich der Gefahr bewusst zu sein, dass man leicht in ungeordneter Weise an irdischen Gütern hängen kann; aber anderseits ist es sicher ein sehr bedauerlicher Fehler, der in vielen Predigten und religiösen Büchern verbreitet wurde, den Wert natürlicher Güter zu unterschätzen oder gänzlich zu übersehen. Eine unglückliche Mischung von christlichem und stoischem oder hyperasketischem Geist brachte viele Christen dazu, in jedem natürlichen Gut (wie menschlicher Liebe, Ehe, Kultur, Kunst, Wissenschaft) nur mehr eine drohende Gefahr zu sehen, in ungeordneter Weise an einer Kreatur zu hängen. Diese Christen übersahen, dass im inneren Wert dieser Güter eine Botschaft Gottes liegt, ein Strahl, der seine unendliche Herrlichkeit widerspiegelt. Unter der Bedingung, dass unser Verhältnis zu ihnen von Christus durchformt ist, dass die Botschaft in ihnen erfasst wird, dass sie uns bewegen und unsere Herzen in Dankbarkeit zu Gott erheben, haben diese Güter in Wahrheit eine positive Sendung. Die zu negative Haltung, die man früher oft allen geschaffenen Gütern gegenüber einnahm, rief eine Reaktion hervor. Aber diese Reaktion ist bedauerlicherweise wieder nicht die geforderte Ergänzung einer unvollständigen Wahrheit. Sie enthält im Gegenteil ein völliges übersehen der Gefahr, dass geschaffene Güter uns von Gott abkehren können.(42) Man wendet sich vielmehr ganz den geschaffenen Gütern zu, und zwar so, dass man die unendliche Überlegenheit der übernatürlichen Güter nicht mehr sieht.
Die Notwendigkeit, sich allen geschaffenen Gütern in Christus zu nahen, wird noch weniger verstanden. So ersetzt ein rüder Naturalismus den hyperasketischen Supranaturalismus. Dies ist wiederum ein typischer Fall einer bloßen Reaktion anstatt einer Vervollständigung. Und diese Reaktion ist wiederum schlimmer als die vorhergehende Enge. Denn einerseits macht das echte „instaurare omnia in Christo" keineswegs blind für den Unterschied zwischen der Welt übernatürlicher und selbst der sublimsten natürlichen Güter; es schließt vielmehr einen spezifischen Sinn für die absolute Überlegenheit der übernatürlichen Herrlichkeit über alle natürliche Schönheit und Gutheit ein; anderseits macht uns die Anerkennung dieser Überlegenheit nicht weniger empfänglich für die hohen Werte geschaffener Güter; nein, wir sollten vielmehr dadurch befähigt werden, sie in ihrer tiefsten Bedeutung zu begreifen, wie ein heiliger Franz von Assisi in seiner vollen Antwort auf die Schönheit der Natur.
Doch die falsche Reaktion mancher progressistischer Katholiken geht noch weiter. Sie führen nicht nur einen unchristlichen Naturalismus ein, sondern werden auch Opfer eines ausgesprochenen Säkularismus, denn sie versäumen, zwischen hohen natürlichen Gütern und weltlichen Gütern zu unterscheiden.(43) Wir finden in der heiligen Liturgie folgendes Gebet: „dass wir lernen mögen, die weltlichen Dinge zu verachten und die himmlischen zu lieben" (despicere terrena caelestia desiderare). Diese Verachtung weltlicher Güter richtete sich in der Vergangenheit oft fälschlicherweise auch auf alle natürlichen Güter, statt nur den weltlichen zu gelten. Dies war sicher eine bedauerliche Verwirrung, die nach einer Berichtigung verlangte. Aber gerade diejenigen, die uns laut auffordern, aus dem sogenannten Ghetto herauszukommen, versäumen ebenso wie die Anhänger eines engen Hyperasketismus, die notwendige Unterscheidung zwischen weltlichen und natürlichen Gütern zu machen. Jene dehnten die Reserve weltlichen Gütern gegenüber auch auf die natürlichen Güter aus; diese dehnen die positive Einstellung natürlichen Gütern gegenüber auch auf alle weltlichen Güter aus. Darin liegt offenbar ein vollkommener Säkularismus. Dieser erreicht seinen Höhepunkt, wenn die Begeisterung mancher Katholiken sogar Dingen gilt, die nicht nur weltlich sind, sondern die sogar einen ausgesprochenen Unwert verkörpern in ihrer Absurdität, Vulgarität und Unreinheit, wie so viele Arten moderner Musik und moderner Tänze.
Über den Wert menschlicher Liebe
Es ist eine Tatsache, dass in die katholische Gedankenwelt oft Ideen eindrangen, die ihren Ursprung mehr in einer stoischen oder orientalischen Mentalität als in der Lehre Christi haben. Ein Beispiel dafür ist die Vorstellung, jede Liebe zu einer Kreatur, außer der Nächstenliebe, sei mit religiöser Vollkommenheit unverträglich. So wertvoll das Bestreben ist, alles zu vermeiden, was uns von der Liebe Gottes trennen könnte, so falsch ist die Vorstellung, Kindes- und Elternliebe, Freundes- oder bräutliche Liebe sei mit religiöser Vervollkommnung unverträglich. Vorausgesetzt, dass unsere Liebe zu Kreaturen ein amare in Deo(44) ist, dass sie in Christus umgestaltet ist, (wodurch sie keineswegs ihren spezifischen Charakter verliert), gibt es nicht die geringste Unverträglichkeit zwischen diesen Liebeskategorien und religiöser Vervollkommnung. Die Liebe des heiligen Augustinus zur heiligen Monika verminderte sicher nicht seine Gottesliebe, noch verringerte die glühende Liebe des heiligen Ludwig von Frankreich zu seiner Gemahlin Marguerite seine Heiligkeit. Wenn diese Liebe zu Geschöpfen in Christus umgestaltet ist, zeugt sie vielmehr in spezifischer Weise von der Heiligkeit der Liebenden.
Doch wieder müssen wir von Seiten progressistischer Katholiken eine falsche Reaktion beobachten: Sie widersetzen sich zwar mit Recht der oben erwähnten falschen Haltung, aber indem sie diese durch einen bloßen Naturalismus ersetzen. Sie leugnen mit Recht die Unverträglichkeit zwischen Gottesliebe und der Liebe zu Geschöpfen, aber sie übersehen die Notwendigkeit des amare in Deo, die große Aufgabe, jede natürliche Liebe in Christus umzugestalten. Mehr noch, nur eine solche Umgestaltung kann wirklich die Intention erfüllen, die in der Natur der Freundesliebe oder der ehelichen Liebe liegt, die zu erfüllen sie aber von sich aus nicht die Kraft hat. Viele Katholiken sehen die Gefahr nicht mehr, dass unsere Herzen von Gott abgezogen werden. Schlimmer noch ist, dass sie den absoluten Primat der Liebe zu Christus leugnen. Statt der geforderten Korrektur, die darin bestehen würde, die Möglichkeit des amare in Deo zu betonen, leugnen sie alle Gefahren unserer gefallenen Natur, die sich in eine natürliche Liebe einschleichen können und fallen in einen heidnischen Naturalismus.
Die übertriebene Angst vor der Möglichkeit eines Konfliktes zwischen der Liebe zu einem Geschöpf (außer der Nächstenliebe) und religiöser Vervollkommnung war in der Vergangenheit so weit verbreitet, dass viele Ordensregeln Freundschaften zwischen Ordensmitgliedern verbieten. Doch das Leben der Heiligen lehrt uns etwas anderes. Die Worte der heiligen Liturgie, die sich auf den letzten Besuch des heiligen Benedikt bei seiner Schwester Scholastika beziehen, lauten: „Sie bat den Herrn, und ihr Gebet hatte mehr Gewicht, da sie mehr liebte." - Da aber diese Liebe eindeutig die Bruderliebe ist, so zeigt sich klar, dass die besondere Liebe zu einem Geschöpf, wenn sie ein amare in Deo ist, nicht als Hindernis für die totale Selbstschenkung an Gott betrachtet werden kann.(45)
Aber hier finden wir wieder eine falsche Reaktion von Seiten progressistischer Katholiken. Indem sie das Recht der Freundschaft zwischen Ordensmitgliedern betonen, glauben sie auch, dass eine oberflächliche Kameradschaft berechtigt sei. Sie fühlen nicht mehr die Unverträglichkeit einer oberflächlichen Geselligkeit mit der geheiligten Atmosphäre eines religiösen Ordens, mit der völligen Selbsthingabe an Christus, mit dem letzten Ruf, in der Tiefe zu leben.
Statt die frühere Enge dadurch zu durchbrechen, dass sie den Unterschied zwischen einer heiligen Freundschaft in Christus und einer bloß natürlichen Kameradschaft klar herausstellen und dann zeigen, wie die bloße Kameradschaft wirklich mit jedem religiösen Leben unverträglich ist, die heilige Freundschaft aber in keiner Weise, fallen diese Katholiken einem noch schlimmeren Irrtum zum Opfer: Sie verlieren den Sinn für den Unterschied zwischen dem Sakralen und Profanen und öffnen einer Säkularisierung des religiösen Lebens Tür und Tor.
Über Autorität
Ein anderer Typus falscher Reaktionen richtet sich gegen Missbräuche. Psychologisch gesehen, ist es besonders verständlich, dass Missbräuche starke Reaktionen zur Folge haben. Aber auch hier führen bloße Reaktionen nicht zur richtigen Haltung und zur wahren Sicht.
In religiösen Orden und in Seminaren gab es sicher viele Missbräuche der Autorität, die zu einer Depersonalisierung und sogar zu einer Abstumpfung des Gewissens führten. Indem man formalen Gehorsam zur Haupttugend machte, kam die Persönlichkeit des Seminaristen in Gefahr, dadurch ausgehöhlt zu werden, dass man den Wesensunterschied zwischen moralischen Tugenden und bloß disziplinärer Korrektheit verwischte und Dinge überbetonte, die wegen der „parvitas materiae" unbedeutend waren; damit erreichten die Vorgesetzten fast unausweichlich, dass der Sinn für die Hierarchie der Werte erstickt wurde.
Enge, Ängstlichkeit und manchmal Geistesgestörtheit waren das Ergebnis.
Das Zweite Vatikanische Konzil brachte in dieser Hinsicht eine große Befreiung. Aber leider fallen viele progressistische Katholiken, statt die wahren Intentionen des Konzils zu verstehen und zu sehen, worin die Korrektur dieser Missbräuche eigentlich besteht, wieder in eine bloße Reaktion, in der sie den hohen Wert von etwas deshalb missverstehen oder leugnen, weil es missbraucht wurde. Sie haben die „klassisch-falsche" Haltung einem Missbrauch gegenüber: sie verlieren die Sicht für den wahren Wert des missbrauchten Dinges und wollen mit diesem aufräumen.
Etwas Schlechtes kann man nicht missbrauchen. Der Unwert jeden Missbrauchs setzt deshalb den Wert des Missbrauchten voraus. Wenn der Missbrauch von Autorität und Gehorsam eine Verfälschung ihres Wesens einschließt, so sollte die Überwindung dieses Missbrauchs im Hervorheben des erhabenen Wertes des missbrauchten Dinges bestehen - des wahren heiligen Gehorsams und wahrer religiöser Autorität.
Kleinlichkeit und autoritäre Gewalttätigkeit sind unverträglich mit der wahren, heiligen, liebevollen Autorität des Abtes und Superiors in einem Orden oder Seminar. Sie sind unverträglich mit der Achtung vor der menschlichen Seele, mit der zitternden Verantwortung einer wahren Autorität und mit der Großzügigkeit und Weitherzigkeit, die den Vorgesetzten befähigt, klar zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden. Die „Lösung" progressistischer Katholiken besteht nicht darin, die Missbräuche zu beseitigen, sondern die heilige Autorität aufzugeben und sie durch eine profane, nur technische zu ersetzen und den heiligen Gehorsam durch eine bloß profane Loyalität. Die progressistischen Katholiken versäumen, die Bedeutung und Schönheit des heiligen Gehorsams zu begreifen, die innere Freiheit, die er dem Gehorchenden verleiht, die glorreiche Selbstschenkung aus Liebe, aus der er fließt. Charakteristisch für diese Mentalität ist der jüngst in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Aufruf eines Priesters(46), die Priester sollten auch eine Gewerkschaft gründen: Sie sollten dem Beispiel der meisten andern Berufe folgen und eine Gewerkschaft bilden, die ihre Interessen gegenüber der religiösen Autorität des Bischofs zu verteidigen hätte. Das ist sicher ein extremer Fall, aber er ist charakteristisch für das Missverständnis des Geistes des Konzils, das sich bei vielen findet. Wenn Säkularisierung der Weg ist, die Enge und die autoritären Missbräuche in religiösen Orden, Seminaren und in der Hierarchie der Kirche zu überwinden, wenn das Priestertum als ein Beruf angesehen wird wie der eines Arztes, Advokaten, eines Arbeiters oder Lehrers, und nicht mehr als Berufung verstanden wird, dann fragt man sich, warum religiöse Orden überhaupt noch existieren sollten. Warum sollte man dann überhaupt noch ein Gehorsamsgelübde ablegen? In Wirklichkeit ist die Säkularisierung nicht der Weg, auf dem man die Missbräuche oder die Enge überwindet, die man in religiösen Orden und der Verwaltung mancher Diözesen finden mag. Säkularisierung ist vielmehr das Aushöhlen der raison d´être religiöser Orden und Diözesen. Der wahre Weg, diese Missbräuche zu überwinden, ist wieder vom Konzil gewiesen.(47)
Gewissensfreiheit
Das „Dekret über Religionsfreiheit" erklärt alle Arten von Zwang in religiösen Dingen für unverträglich mit dem Geiste Christi.(48) Es ist eine elementare Versuchung des Menschen, die sich in der Geschichte immer wieder zeigt, dass er einen anderen Menschen mit Gewalt in die Kirche zu bringen sucht, wenn es nicht auf andere Weise möglich ist; sei es aus Herrschsucht oder aus wirklicher Liebe zu ihm. Doch jeder Zwang auf diesem Gebiet ist nicht nur eine Verletzung der elementarsten Rechte des Menschen, sondern die Anwendung von Gewalt und Druck, so erfolgreich sie auch in gesetzlicher und jeder äußerlichen Hinsicht sein mag, kann niemals zu einer wahren Bekehrung führen. Die Apostel wendeten in ihrem Apostolat niemals Gewalt und Druck an. Im VI. Jahrhundert reiste der heilige Martin von Tours bis nach Trier, um den Kaiser zu beschwören, im Kampf gegen den Arianismus keine Waffengewalt zu gebrauchen.
Aber unglücklicherweise wird die Verurteilung jeden Zwanges von vielen progressistischen Katholiken ganz im Gegensatz zum Geist des Konzils(49) als eine Einladung verstanden, nicht mehr für die Bekehrung der Nicht-Katholiken zu brennen.(50) Sie nahen Nicht-Katholiken ohne den brennenden Eifer für ihre Bekehrung, ja sogar ohne die Hoffnung darauf. Sie haben vergessen, dass jeder wahre Katholik, jeder, der wirklich glaubt, dass die göttliche Offenbarung Christi der Kirche anvertraut wurde und dass die Kirche durch ihr unfehlbares Lehramt diese Wahrheit bewahrt, in jedem Nicht-Katholiken einen Katechumenen in spe sehen muss. Das halten sie vielmehr für Anmaßung, Intoleranz, Missachtung der Freiheit einer andern Person, „Triumphalismus." Sie behaupten, Pluralismus sei ein Zeichen geistiger Lebendigkeit. Sie gehen sogar so weit zu behaupten, die Katholiken sollten von den Atheisten lernen.
Wieder sehen wir die Entstellung der großen, wunderbaren Botschaft des Konzils. Man ersetzt das gewalttätige Ungestüm des Zwanges nicht durch den Sanftmut eines heiligen Franz von Sales, sondern durch die Gleichgültigkeit der Frage gegenüber, ob ein Mensch die volle Wahrheit findet oder nicht. Das negative Element, das manchmal mit dem Missionseifer verbunden war, ist genug um die Mission selbst aufzugeben. Schlimmer noch, man verwechselt die Gewissensfreiheit in Bezug auf jeden äußeren Druck oder Zwang mit dem Fehlen der inneren Verpflichtung, sein Herz zur Offenbarung Gottes in Christus zu erheben und sich zu Seiner wahren Kirche zu bekehren.
Wissenschaft und Depositum Fidei
Das Zweite Vatikanische Konzil hat der Wissenschaft gegenüber eine neue Haltung eingenommen. Statt die Verteidigung des katholischen Glaubensgutes gegenüber antireligiösen Interpretationen wissenschaftlicher Entdeckungen zu betonen, hat das Konzil den Wert wissenschaftlichen Fortschritts als solchen hervorgehoben. Es ist in der Tat eine große und schwere Aufgabe, die geoffenbarte Wahrheit unversehrt zu bewahren und zugleich allen echten wissenschaftlichen Entdeckungen gerecht zu werden. Ein echter Widerspruch zwischen geoffenbarter Wahrheit und Wissenschaft kann jedoch niemals bestehen. Nicht wissenschaftliche Entdeckungen als solche, sondern nur ihre falschen philosophischen Interpretationen können mit der geoffenbarten Wahrheit unverträglich sein.
Man macht sich nicht genügend klar bewusst, dass Naturwissenschaftler oft ihren Entdeckungen eine philosophische Interpretation geben, die man scharf von den Konsequenzen ihrer wissenschaftlichen Entdeckungen als solchen unterscheiden muss. Denn Naturwissenschaftler sind sich nur selten darüber klar, dass sie durch ihre philosophischen Interpretationen die Grenzen ihrer eigenen Wissenschaft überschreiten. In der Biologie ist das häufiger der Fall als in der Chemie oder Physik. Der Begriff der „Entwicklung" hat zum Beispiel viele philosophische Voraussetzungen und Implikationen. Und was Soziologie oder Psychiatrie betrifft, so ist hier die Rolle der Philosophie noch unvergleichlich größer. Denn hier sind philosophische Voraussetzungen und Behauptungen untrennbar mit dem Eigenbereich dieser Wissenschaften verbunden und kommen nicht nur als „Grenzüberschreitungen" von außen hinzu, wie im Fall der Chemie, Physik oder z. T. der Biologie; vielmehr stehen hier bestimmte philosophische Theorien schon am Anfang der wissenschaftlichen Arbeit und sind eng mit ihr verbunden. Alle Versuche von Seiten der „Wissenschaftler", das zu leugnen und ihre Wissenschaft wie eine „Naturwissenschaft" zu betrachten, gründen in einer groben Selbsttäuschung. Die philosophischen Voraussetzungen, die von Anfang an mit einer solchen wissenschaftlichen Arbeit Hand in Hand gehen, können allerdings mit der geoffenbarten Wahrheit unvereinbar sein. Wenn das der Fall ist, so deshalb, weil sie falsch sind. Keineswegs sind sie dann durch echte wissenschaftliche Methoden bewiesen, auch wenn das von Soziologen und Psychologen oft behauptet wird. Der Marxismus ist z. B. nicht das Resultat einer rein soziologischen Forschung, sondern er baut auf einer vollkommen falschen Philosophie auf.
Die Aufgabe, die wissenschaftlichen Beobachtungen und Schlüsse von den philosophischen Voraussetzungen und Interpretationen zu unterscheiden, ist heute dringender als je zuvor. Das ist eine wichtige Aufgabe für christliche Philosophen und Theologen. Indem sie sie erfüllen, werden sie erweisen, dass alle Widersprüche zwischen wissenschaftlichen Entdeckungen und geoffenbarter Wahrheit nur scheinbar bestehen. Die Grundlage für die Erfüllung dieser Aufgabe ist eine tiefe Verwurzelung in der philosophisch erkennbaren Wahrheit und ein unerschütterlicher Glaube an die geoffenbarte Wahrheit, sowie das klare Verständnis für ihren absoluten Primat.
Dieses allgemeine Problem besteht z. B. bei der Exegese der heiligen Schrift. Hier müssen wir wieder verschiedene Bedeutungen von „Exegese" unterscheiden.
Erstens gibt es eine wissenschaftliche Exegese, die auf philologischen und historischen Forschungen beruht, die sprachliche Richtigkeit der Übersetzungen und Texte zu prüfen hat, und die Chronologie der verschiedenen Evangelien oder die Authentizität gewisser Teile des Alten Testaments u. ä. feststellt.
Zweitens gibt es eine kritische Exegese auf Grund von philosophischen Erwägungen. Die Infragestellung der historischen Authentizität bestimmter Teile der Schrift hängt dabei unweigerlich vom eigenen philosophischen Standpunkt ab.(51)
Drittens gibt es eine spezifisch religiöse Schriftauslegung, die z. B. von der Bedeutung der Gleichnisse handelt und die in die unerschöpfliche Fülle der Worte Christi eindringt.
Die erste Aufgabe ist eine eigentlich wissenschaftliche Arbeit. Wie bei aller historischen und philologischen Forschung kann hier mit der Zeit ein Fortschritt erzielt werden. Sie hat weiter wie alle streng wissenschaftlichen Unternehmen die Eigenart, Teamarbeit nicht nur zuzulassen, sondern sogar zu fordern.
Die zweite ist nicht in demselben Sinn wissenschaftlich. Wenn jemand die Echtheit der Wunder des Herrn bezweifelt, so spielen ganz offenbar als Begründung für diesen Zweifel philosophische Überlegungen die Hauptrolle. Wenn jemand behauptet, man könne nicht erwarten, dass ein Mensch von heute an die wirkliche Erscheinung des Engels Gabriel bei der Verkündigung glaubt, so wird seine Position offenbar nicht durch streng wissenschaftliche Argumente im ersten Sinn gestützt. Glaube an die Unwahrscheinlichkeit, ja sogar Unmöglichkeit von Wundern ist nicht von wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern von bestimmten philosophischen Voraussetzungen genährt. Also besteht die Gefahr, dass falsche philosophische Ansichten, ebenso wie plausible moderne Vorurteile einen Menschen hindern können, historische Echtheit zuzugeben.
Die dritte Art der Schriftauslegung liegt nicht mehr im Bereich der Wissenschaft. Hier hängt der Wert der Interpretation völlig vom Genius des individuellen Theologen ab und vor allem von seiner religiösen Tiefe und einem besonderen Charisma. Die Interpretation eines Kirchenvaters, eines Heiligen oder eines wahren Mystikers hat viel mehr Interesse und Gewicht als die eines Professors für Exegese. Das tiefere Eindringen in die unergründliche Tiefe der Gleichnisse und Worte des Herrn ist nicht durch wissenschaftliche Studien garantiert, sondern nur durch die religiöse Erkenntnis einer individuellen Person, die immer dem unfehlbaren Lehramt der Kirche unterworfen bleibt. (Hans Urs von Balthasar macht die in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Bemerkung, dass vor dem Tridentinum die großen Theologen meistens große Heilige und Mystiker waren, während diese Einheit nach dem Tridentinum weitgehend zerrissen wurde). Diese dritte Art der Exegese ist also - wie andere Teile der Theologie - nicht im strengen Sinn wissenschaftlich, nicht einmal im eingeschränkten Sinn der zweiten; diese eigentliche Auslegung der Heiligen Schrift hängt vielmehr vom Genius und der Heiligkeit des betreffenden Theologen ab. Auf jeden Fall setzt diese Arbeit zumindest homines religiosi voraus, und nicht bloße Professoren.
Nun betrifft die Neuerung, nach der unsere Zeit verlangt, einzig und allein die erste Art der streng wissenschaftlichen Exegese. Was die zweite Art anlangt, so kommt offenbar ein aggiornamento überhaupt nicht in Frage. Das intellektuelle Klima unserer Zeit ist solcher Art, dass es einen adäquaten Zugang zu den Wundern und übernatürlichen Ereignissen im Evangelium bedroht. Um das ungeheuerliche Ausmaß dieser Bedrohung zu begreifen, brauchen wir nur an den Fetischismus der Wissenschaft(52) zu denken, an den unter Philosophen so weit verbreiteten historischen Relativismus, an alle Angriffe auf die wirkliche Bedeutung der Wahrheit und die „Uminterpretationen" ihres Begriffs(53) und an die Bultmannische Forderung einer Entmythologisierung,(54) die in der Verwechslung von Religion und Mythos ihre Wurzeln hat.
Aggiornamento hat auch keinen Sinn für die dritte Art der Exegese. Jeder echte Beitrag, der hier geleistet wird, ist vom Lauf der Geschichte unabhängig; ein großer homo religiosus, ein Heiliger und Mystiker, der mit der Gabe der Auslegung beschenkt ist, kann in jeder historischen Epoche leben, wobei es vollkommen gleichgültig ist, in welcher - denn der Wert seiner Auslegung der Heilige Schrift ist von der Zeit unabhängig.
Doch all das ist von den progressistischen Katholiken, die die Aufgeschlossenheit des Konzils gegenüber der Wissenschaft und wissenschaftlichen Entdeckungen auf allen Gebieten gänzlich falsch interpretiert haben, vollkommen vergessen worden. Sie glauben im Grunde, dass die Schriftauslegung und die Lehre der Kirche den falschen philosophischen Interpretationen wissenschaftlicher Ergebnisse angepasst werden sollte, oder gar schlechten Philosophien, auf denen viele soziologische und psychologische Theorien aufbauen, die fälschlicher Weise als rein wissenschaftliche Resultate dargestellt werden. Bewaffnet mit Schlagworten wie dem von der Anpassung an den wissenschaftlichen Geist der Zeit oder an die geschichtliche Epoche, in der der Mensch reif und mündig geworden sei, fordern die Progressisten das Recht, Änderungen an der Lehre der Kirche selbst vorzunehmen. Das zeigt sich vor allem in ihrem Versuch, die im Evangelium berichteten Wunder in einem bloß symbolischen Sinn auszudeuten - ja dieser Versuch erstreckt sich sogar auf die zentralen Mysterien der Verkündigung der jungfräulichen Geburt und der Auferstehung.(55)
Um den völlig unwissenschaftlichen Charakter einer Flut ähnlicher Argumente aufzudecken, wollen wir als Beispiel das Argument einiger katholischer Exegeten heranziehen, die behaupten, dass die berühmte Stelle aus dem Evangelium nach Matthäus – „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes..." (XVI 17-19) - nicht authentisch sein könne, weil der heilige Petrus doch sicher Christus nicht später verleugnet haben würde, wenn er wirklich geglaubt hätte, dass Er der Sohn Gottes ist.
Dieses Argument hat offenbar absolut nichts mit Wissenschaft zu tun. Es baut auf einer psychologischen Vermutung auf - die überdies von einer sehr schlechten Psychologie getragen ist. Zu glauben, dass der Mensch in allen seinen Handlungen konsequent ist, heißt die menschliche Gebrechlichkeit vergessen. Selbst einer, der einen absoluten Glauben an Christus hat, kann ihn bei unzähligen Gelegenheiten verleugnen. Unser tägliches Leben beweist uns in Wirklichkeit ständig, wie leicht wir in unseren Taten unserem Glauben widersprechen können. Garantiert denn der echte Glaube eines Menschen schon, dass er bereit ist, als Märtyrer zu sterben? Darüber hinaus ist die Verleugnung des heiligen Petrus ein typischer Fall für die Tragödie der immanenten Logik einer Situation. Die Absicht, Jesus zu folgen, um zu sehen, was mit ihm geschehen werde, sowie der Entschluss, sich nicht zu erkennen zu geben, um dieses Ziel zu erreichen, ließ den heiligen Petrus ein Opfer der immanenten Logik werden, die von dieser Entscheidung diktiert wurde. Es ist dies ein klassisches Beispiel der menschlichen Gebrechlichkeit und enthüllt in einzigartiger Weise die tragische Situation des Menschen, die gerade in dem geheimnisvollen Widerspruch liegt - zwischen der größten Liebe, dem unerschütterlichen Glauben eines Menschen und seinen Taten. Was würde ein Dostojewski oder ein Kierkegaard zu den Schlussfolgerungen einer Exegese sagen, die auf einer so armseligen Psychologie aufbaut?
Sicherlich verstand Petrus vor Pfingsten nicht klar, dass Christus gekommen war, um die Menschheit durch seinen Tod am Kreuz zu erlösen. Er schalt den Herrn, als er ihm sein Leiden und seinen Tod vorhersagte. Es ist deshalb mehr als verständlich, dass trotz seines festen Glaubens, dass Jesus Christus der Sohn des lebendigen Gottes war, der heilige Petrus im Augenblick der Gefangennahme Christi verwirrt und erschreckt war.
Niemand kann ernstlich behaupten, dass ein solches psychologisches Herumraten mancher Exegeten den Namen Wissenschaft verdient und noch viel weniger, dass es irgendeinen Einfluss auf die Anerkennung der Echtheit des Textes des heiligen Matthäus(56) haben sollte. Alle ähnlichen Argumentationen sind aber nur ein besonders drastischer Beweis für den Gegensatz zwischen den Konzilstexten und den Artikeln und Büchern, in denen progressistische Katholiken sich auf das Konzil berufen, in Wirklichkeit aber die Welt mit ihrem Säkularismus überschwemmen zu wollen scheinen. Wir werden auf diesen wesentlichen Punkt wieder zurückkommen, wenn wir über den Fetischismus der Wissenschaft sprechen, der für unsere Zeit charakteristisch ist.
5. Kapitel: VERLEBENDIGUNG DER RELIGION
Es war eines der Hauptanliegen des Konzils, das religiöse Leben der Gläubigen zu verlebendigen, ihr Leben mit der Christlichen Offenbarung zu durchdringen. Wie notwendig dies war, wird klar, sobald wir uns vor Augen führen, in welchem Ausmaß ein ritualistischer, juridischer und formalistischer Begriff von Religion Verbreitung gewonnen und das Licht Christi und Seiner Kirche verdunkelt hatte.(57) Wenn wir die bewundernswürdigen Schriften Kardinal Newmans (z. B. seine „Discourses for mixed Congregations") mit den Lehrbüchern für Ethik und Dogmatik vergleichen, die weitgehend in den Seminaren verwendet wurden, sehen wir klar einen drastischen Unterschied. Newman erschließt die volle Herrlichkeit der Christlichen Offenbarung, unserer Berufung zur Heiligkeit, der Qualität der Heiligkeit selbst in ihrer Schönheit. In den erwähnten Büchern hingegen finden wir oft einen trockenen Abstraktionismus und einen rationalistischen Zug, aber kaum eine Spur von dem erlösenden Hauch der Epiphanie Gottes in Christus.
Die Gefahr der Verknöcherung besteht in jeder Institution. Selbst wenn die Institution eine übernatürliche ist, wie die Kirche, sind die menschlichen Personen in ihr nicht von dieser Gefahr ausgenommen. Wie wir erwähnt haben, beweist sich die ewige, übernatürliche Lebenskraft der Kirche ihre ganze Geschichte hindurch gerade in der Tatsache, dass diese Neigung zur Verknöcherung immer durch eine ständige Erneuerung überwunden wurde.
Um die Natur der Erneuerung zu klären, die heute vonnöten ist, wollen wir kurz auf einige Beispiele einer legalistischen oder formalistischen Einstellung eingehen, einer Einstellung, die in der Tat naturalistisch ist, weil sie daher stammt, dass man die Kirche als rein menschliche Institution betrachtet und - wenigstens in der Praxis – ihren übernatürlichen Charakter aus dem Blick verliert.
Religion wurde den Kindern oft in derselben Art wie Geschichte oder Rechtschreibung beigebracht. Statt die Geheimnisse des christlichen Glaubens in einer ihrem einzigartig „außergewöhnlichen" Charakter angemessenen Weise darzustellen, die sich an die ganze Person wendet, haben Religionslehrer sie oft wie einen bloßen Wissensstoff behandelt, in einer Art neutraler Objektivität.
Im Gegensatz dazu sollte der wahre Religionslehrer den Schülern das Bewusstsein vermitteln, dass es sich hier um etwas handelt, was von jedem andern Gegenstand völlig verschieden ist. Er sollte eine wahrhaft religiöse Atmosphäre schaffen, die im Kind Gefühle des Staunens und der Ehrfurcht erweckt und die zugleich der Sehnsucht nach Gott entspricht, die in jeder menschlichen Seele lebt.
Religiöse Wahrheit, die sich an den Glauben wendet, kann nicht wie jeder andere Gegenstand gelehrt werden, der entweder an ein bloßes Wissen oder an ein rationales Verstehen appelliert. Religionsunterricht sollte also eine Einführung in den Glauben bedeuten, ein Erwecken des Sinnes für das Mysterium, eine Entwicklung der Ehrfurcht in der Seele des Kindes. Religion nur wie einen Lerngegenstand unter andern zu behandeln, ist ein Beispiel für eine unglückselige Neutralisierung der Religion, die zu einer Erstarrung und Verödung führt, zu einer Religion, die nicht unser ganzes Leben durchformt.
Ein anderes Beispiel dafür ist die Gefahr, wirklichen Glauben durch eine bloße Loyalität der Kirche gegenüber zu ersetzen. Statt der unerhörten Gnade gewahr zu sein, einer heilige Messe beiwohnen zu dürfen, gehen viele Katholiken am Sonntag zur Kirche, ebenso wie sie eine profane Pflicht erfüllen aus Loyalität gegen den Staat oder die Institution, zu der sie gehören; d.h. sie erfüllen diese Pflicht bloß, weil sie eben gerade Katholiken sind. Hier wird wirklich der Geist durch den Buchstaben ersetzt. Dieses Ersetzen eines heiligen Gehorsams und dankbarer Liebe durch Loyalität beweist den Verlust jeden Verständnisses für das Übernatürliche und die wahre Natur der Kirche. Man betrachtet dabei die Kirche wie eine bloß menschliche Institution. Ich erinnere daran, wie oft man während der ersten Judenverfolgungen von 1933-36 Katholiken sagen hören konnte, dass man Hitler keinen Feind der Kirche nennen könne, solange er die Kirche nicht angreife. Diese Katholiken verstanden nicht, dass die Kirche jedes Mal angegriffen wird, wenn Gott durch eine Ungerechtigkeit beleidigt wird. Sie behandelten die Kirche, als wäre sie ein Staat, der sich solange nicht einmischt, als nicht einer seiner Bürger angegriffen wird. Sie waren für die Universalität der Kirche blind geworden. Sie hatten die Worte Papst Benedikts XV. vergessen, der gesagt hat: „Ich bin der Vater aller, ob sie es annehmen wollen oder nicht, ob sie es wissen oder nicht." Sie hatten vergessen, dass der heilige Ambrosius dem Kaiser Theodosius das Betreten der Kirche verweigert hat, weil er 6000 unschuldige Menschen in Samos hatte umbringen lassen. Der heiligen Ambrosius fragte nicht, ob diese unschuldig Ermordeten in Samos Katholiken waren oder nicht. Die Auffassung der Kirche als einen Staat, oder noch schlimmer, als einen Klub, ist tatsächlich eine katholische „Ghetto-Mentalität". Die Katholiken, die nicht verstehen, dass die Kirche im Gegensatz zu allen natürlichen Institutionen keine andern „Interessen" hat als die Gottes, haben wirklich aus der Kirche ein Ghetto gemacht.
Wieder ein anderes Beispiel dieser vertrockneten Religiosität ist ein Phänomen, das man treffend „Beamtentum" nennen könnte. Wir meinen damit, dass viele Priester sich oft benehmen, als seien sie bloße Beamte der Kirche, anstatt den Geist der heiligen Salbung auszustrahlen, den liebevollen Eifer für die Verherrlichung Gottes und dafür, die Gläubigen zu Christus zu führen. Ihre Art, die heilige Messe zu feiern, macht den Eindruck, als erfüllten sie nur eine Berufspflicht. Ihr Kontakt mit den Gläubigen ist ähnlich dem zwischen einem steifen Beamten und seinen Klienten. Im Unterschied zu Priestern, die ein unmoralisches Leben führten oder ganz in weltlichen Geschäften verstrickt waren - eine Gefahr, die in der Renaissance besonders groß war - haben diese Beamten-Priester kein schlechtes Gewissen. Sie kommen sich sehr korrekt und anständig vor. Dies macht ihre Haltung, wenn sie auch weniger unmoralisch ist, gefährlicher. Sie tragen zu der Ghetto-Mentalität bei, insofern ihre Beamten-Haltung sie zu einem legalistischen und ritualistischen Verhältnis zur Religion führt. Nicht nur neigen sie dazu, ihr eigenes religiöses Leben auf Korrektheit und Loyalität zu beschränken, sondern sie bringen auch die Gläubigen dazu, dieselbe Haltung einzunehmen. So erinnere ich mich an die Sylvester-Predigt eines Dominikaners, der sagte: „Die Hauptfrage, die wir uns bei der Gewissenserforschung am Ende des Jahres stellen sollten, ist: Wie oft habe ich das Sakrament der Eucharistie empfangen?"
Diese ritualistische Auffassung von unserem religiösen Leben lässt keinen Raum für die Umgestaltung in Christus, denn diese schließt ein, dass unser ganzes Leben in Christus seinen Mittelpunkt hat und dass unsere ganze Person für Christus Zeugnis ablegt in unserem Kontakt mit der Welt. Doch viele Katholiken, die den katholischen Glauben wie ein bloßes Erbe übernommen haben, ähnlich wie sie zu einer bestimmten Nation gehören, haben versäumt, jemals zu einem vollen Bekenntnis ihres Glaubens zu kommen, zum lnnewerden dessen, was es bedeutet, ein Glied des Mystischen Leibes Christi zu sein, und deshalb sind sie ganz verloren und hilflos, wenn sie mit Atheisten in Berührung kommen. Sie geben nach oder schweigen zumindest, wenn Atheisten etwas mit der Christlichen Offenbarung Unverträgliches sagen oder etwas, was eine völlige Unkenntnis der Kirche verrät. Sie schweigen, weil sie den Katholizismus für etwas halten, was nur für Katholiken ist, für diejenigen, die ihm angehören, wie sie ihrer Familie und ihrem Staat angehören. Er hat deshalb keine Beziehung zu den „Außenstehenden" und „geht sie nichts an". Solche Katholiken haben aus der allumfassenden Kirche, die sich an jedes menschliche Wesen mit der Frohbotschaft des Evangeliums wendet, ein bloßes Ghetto gemacht.
Ein anderes weitverbreitetes Symptom für die Legalisierung und Formalisierung der Religion ist die Überbetonung der Organisation. Voller personaler Einsatz, sowie der unmittelbare Kontakt von Person zu Person wird mehr und mehr durch Organisationen ersetzt. Die Leistungsfähigkeit von Organisationen im Bereich der Zivilisation in den Tätigkeiten der sozialen, praktischen Ordnung hat die Illusion erzeugt, dass diese mechanisierte, unpersönliche Art Probleme zu lösen gerade das ist, was das religiöse Leben braucht. Doch Religion ist ein Bereich, in dem alles vom persönlichen Kontakt abhängt.
Ein typisches Beispiel dieser Illusion war die Art, in der viele die ursprüngliche Idee der katholischen Aktion interpretierten, die Pius XI. in seiner herrlichen Enzyklika „Pax Christi in regno Christi" dargelegt hat. Hier richtete der Papst an jeden einzelnen Laien den Ruf, sein ganzes Leben mit dem Geist Christi zu durchdringen, alle seine Tätigkeiten mit diesem Geist zu beleben und forderte zu einer neuen Vereinigung der Laien im Apostolat auf. Dieser sublime Aufruf zu vollem persönlichem Einsatz wurde von vielen bloß als Aufforderung zu einer organisierten Tätigkeit aufgefasst, als wäre die Hauptaufgabe, Zentralstellen für alle katholischen Organisationen zu errichten.
Die Überschätzung der Organisation als solcher fand ihren reinsten Ausdruck in den Worten eines berühmten deutschen Erzbischofs, der in ihrem Preis so weit ging, dass er sagte: „Die katholischen Vereine sind das achte Sakrament der Kirche". Die Depersonalisierung der religiösen Tätigkeit, die dieser Geist hervorrief, hängt offensichtlich eng mit dem oben erwähnten Beamtentum zusammen. Um den gewaltigen Unterschied zwischen der vollen Hingabe des Einzelnen und den Tätigkeiten religiöser Organisationen zu sehen, so nützlich und notwendig diese auch sein mögen, brauchen wir nur die Bekehrung einer Banlieue (Vorort) von Paris durch einen italienischen Priester mit der Arbeit irgendeiner wohltätigen katholischen Organisation zu vergleichen. Pater Lhandes erzählt uns in seinem Buch von diesem Priester, der zu Menschen kam, die in unbeschreiblicher Armut wie Tiere lebten, in Promiskuität und in einem wütenden Hass auf Christus und die heilige Kirche. Bei seiner Ankunft warf ihm ein Knabe, da er seinen Talar sah, einen Stein an den Kopf, so dass ihm das Blut über das Gesicht lief. Er aber hob den Stein auf und sagte: „Dank dir, mein Lieber, dieser Stein wird der Grundstein meiner Kirche sein." Dieser heroische Einsatz, die unerschöpfliche Geduld, mit der er jede Beleidigung beantwortete, seine Liebe und die Bereitschaft, alle Demütigungen anzunehmen, öffnete die Tür für das Apostolat. Verschiedene Pariser Pfarrer taten sich mit diesem Priester zusammen, und katholische Studenten kamen jede Woche einen Tag, um mit diesen Arbeitern zu leben und ihnen zu helfen. Nach zwanzig Jahren dieses persönlichen Apostolats kam ein volles Drittel aller Priesterberufungen in Paris aus dieser Banlieue.(58)
Der Grund für Legalisierung und Formalisierung besteht gerade darin, dass man sich der Welt des Übernatürlichen mit natürlichen Kategorien nähert. Diejenigen, die für diese Verknöcherung und diesen Legalismus verantwortlich waren, behielten ihre weltliche Art des Denkens und Handeins bei, obwohl sie in abstracto das Übernatürliche betonten. Sobald sie die streng abstrakte Ebene verließen, erstickte ihre Religiosität in einer weltlichen Atmosphäre. Ihr Ethos verschleierte die authentische christliche Offenbarung. Weltliche Wirklichkeiten wurden als Vorbilder für religiöse Realitäten genommen. Abwesend war der Atem Christi, die Epiphanie Gottes, abwesend war der Duft der Heiligkeit, der Glanz des Übernatürlichen - alles so glorreich; verkörpert in den Heiligen und homines religiosi, die wir erwähnt haben. Das Fehlen von all dem entzieht der Religion das Leben, schafft das katholische Ghetto und entkleidet die Botschaft Christi ihrer unwiderstehlichen Kraft.
All dies sind Merkmale einer legalisierten und formalisierten Auffassung von Religion. Und auf dem Hintergrund solcher Formen der Religiosität müssen wir den Aufruf des Zweiten Vatikanischen Konzils zu einer Verlebendigung der Religion verstehen.(59) Pater Lombardi schrieb darüber schon vor Konzilsbeginn in seinem Buch, in dem er davon sprach, wozu das Konzil aufrufen sollte. Eins von den Dingen, die er erwähnte, war, dass die Bischöfe weniger Verwalter als Väter ihrer Diözesen sein sollten.
Es ist schwer zu begreifen, wie man die Belebung der Religiosität in einer Säkularisierung der Religion suchen kann, wie sie von progressistischen Katholiken propagiert wird. Wenn die Religion unser Leben durchdringen soll, so ist die erste Voraussetzung, dass sie selbst authentische Religion sein muss. Der erste Schritt zu einer Belebung der Religion ist daher, bloßes Lernen durch eine Entdeckung der Herrlichkeit des christlichen Glaubens zu ersetzen. Die Kirche muss verstanden und anerkannt werden als der Mystische Leib Christi, und profane Loyalität muss durch heiligen Gehorsam und glühende Liebe zur Kirche ersetzt werden. Mehr noch, statt die Kirche der vergangenen Jahrhunderte dauernd mit dem Vorwurf von Enge und Legalismus zu beschuldigen, sollte man lieber auf die Schar von Heiligen und großen religiösen Persönlichkeiten blicken, die in dieser Periode wirkten. Sie sind das wahre Vorbild echter Lebendigkeit, das wirkliche Gegenteil von Menschen, die in einem katholischen Ghetto leben. Ihrem Beispiel sollte man nacheifern, um den dürren, formalistischen und legalistischen Begriff von Religion zu überwinden. Lasst uns an einen Don Bosco, einen Lacordaire, an einen Newman denken, (um nur einige Beispiele zu erwähnen), und wir werden den Weg sehen, der zu einer wirklichen Verlebendigung führt.(60)
Wahre Verlebendigung erfordert, dass der übernatürliche Geist Christi voll zum Durchbruch gelangt. Das bedeutet, dass man jede Abstumpfung für den Unterschied zwischen bloß Natürlichem und dem Übernatürlichen bekämpft. Aber unglücklicherweise treten die progressistischen Katholiken für ein noch größeres Verwischen dieses Unterschiedes ein. Sie glauben, die Verlebendigung könne durch eine Säkularisierung erreicht werden. Sie wollen den Einfluss natürlicher Kategorien noch erhöhen. So schlagen sie als Heilung gerade die Krankheitsursache selbst vor, die in der Vergangenheit zur Legalisierung und Formalisierung des religiösen Lebens geführt hat. Indem sie sich für eine volle, ausgesprochene Säkularisierung einsetzen, meinen sie irrigerweise, das Gegenmittel gegen eine Verknöcherung und einen Legalismus sei in einem weltlichen Aktivismus und einem bohémien-haften Freiheitsideal gelegen. Sie vergessen, dass in der vertrockneten, formalistischen, ritualistischen und legalistischen Auffassung von Religion eben das falsch war, dass der Buchstabe mehr betont wurde als der Geist, dass der Heilige Geist durch Abstraktheit wie durch einen Schleier verdeckt wurde, und dass man rein natürlichen Methoden einen zu großen Platz einräumte. Der Sieg Christi in jedem Bereich des Lebens ist das eigentliche Ziel; aber die Sterilität einer erstarrten Frömmigkeit dadurch überwinden zu wollen, dass man den Geist Christi durch das saeculum, das heilige Feuer Christi durch eine bloß weltliche Begeisterung ersetzt, dass man die übernatürliche Lebendigkeit der Heiligen durch ein nervöses, hektisches und profanes Bemühen um die moderne Welt ersetzt: das ist in Wirklichkeit ein „Begräbnis des christlichen Glaubens und Lebens"(61)
Es ist leicht, uns lebendig und frei zu fühlen, wenn wir das Eine Notwendige dabei vergessen - das unum necessarium - und all unsere Energie weltlichen Beschäftigungen zuwenden; wenn uns z. B. die Reinigung der Elendsviertel (62) mehr beschäftigt als die Umgestaltung in Christus. Was die Progressisten „das katholische Ghetto Verlassen" nennen, ist in Wahrheit das Verlassen des Katholischen, aber nicht des Ghettos. Sie möchten die universale Kirche durch das Ghetto eines Säkularismus ersetzen, durch die Gefangenschaft in einem erstickenden Immanentismus, durch die Isolierung in einer Welt, die im Schatten des Todes sitzt, in umbra mortis. Die Verbindung zwischen Religion und Leben dadurch herzustellen, dass man die Religion dem saeculum anpasst, führt nicht zu einer Einheit zwischen Religion und täglichem Leben, sondern bedeutet vielmehr, dass man die Religion dadurch aushöhlt, dass man sie durch bloß weltliche, irdische Dinge ersetzt.
Es ist ohne jeden Zweifel richtig, dass Priester manchmal die Menschen durch ihre religiöse Mittelmäßigkeit abgestoßen haben, durch die Tatsache, dass ihre Persönlichkeit die religiöse Atmosphäre vermissen ließ. Oft waren sie harmlose Spießbürger und jeder Art von Elan gegenüber misstrauisch. Sie waren unfähig, die Botschaft Gottes, die in großen Kunstwerken oder andern hohen natürlichen Gütern liegt, zu verstehen. Das waren in der Tat bedauerliche Züge. Aber der Weg sie zu überwinden, ist sicher nicht, die Priester aufzufordern, in ein anderes Extrem zu fallen, nämlich, ihre vorige Enge durch ein unterschiedsloses Schwärmen für jeden Bestseller zu ersetzen - oder einen Geschmack zu haben, der für jede Gemeinheit unempfindlich ist. Dies würde heißen, eine Form der Mittelmäßigkeit durch eine andere zu ersetzen. Die Progressisten meinen, dass die Enge die einzige Art von Mittelmäßigkeit ist. Sie übersehen, dass es eine noch schreiendere Art von Mediokrität ist, den Sinn für die Gemeinheit dessen zu verlieren, was aller wahren Größe und Kultur entgegengesetzt ist, und über jede vulgäre Flachheit begeistert zu sein; auf jeden Fall ist sie noch unverträglicher mit Religion.(63) So ist es klar, dass der Säkularismus, den die progressistischen Katholiken verteidigen, die Antithese zur religiösen Verlebendigung ist. Wenn wir sagen, dass die Religion unser tägliches Leben durchdringen soll, so bedeutet dies in Wahrheit, dass wir durchbrechen zur Realisierung der letzten, übernatürlichen Wirklichkeiten, dass wir unsere primäre Berufung verstehen sollten, die eigentliche Bedeutung unseres Lebens, die in der Umgestaltung in Christus liegt.(64) Wir sollten uns dann nicht länger ausschließlich von der immanenten Logik unseres Berufslebens oder unseren täglichen Aufgaben beherrschen lassen, sondern sie und alle Dinge im Lichte Christi sehen. Unsere Liebe zu Christus, unsere persönliche Hingabe an Ihn, sollte wahrhaft wie eine Melodie durch alle Situationen unseres Lebens klingen. Katholiken, die der Meinung sind, die Erfüllung der ihnen von der immanenten Logik ihres täglichen Lebens diktierten Pflichten sei alles, was von einem Christen verlangt wird, reden dem geraden Gegenteil einer Verbindung von Religion und täglichem Leben das Wort. Diese Auffassung bedeutet, Religion in einem solchen Maß zu säkularisieren, dass sie von der immanenten Logik unseres täglichen Lebens absorbiert wird und wir deshalb zufrieden denken können, wir hätten alles getan, was Gott von uns fordern kann, wenn wir unsere Aufgaben erfüllt haben. In Wirklichkeit weicht diese Haltung der Begegnung mit Christus aus. Die so handeln, sind nur dem Namen nach Christen. Die entscheidende Frage ist, ob durch das Licht Christi unser tägliches Leben tief verändert und Christus angepasst – oder ob die christliche Religion der immanenten Logik unserer alltäglichen Beschäftigung angepasst wird. In dieser falschen Weise, die Verbindung der christlichen Religion mit unserem täglichen Leben zu suchen, können wir das Ersetzen von Heiligkeit durch Tüchtigkeit wiedererkennen.(65)
Dieser Irrtum, der die Vorschläge von Männern wie Daniel Callahan oder Michael Novak und anderen bestimmt, beweist den Verlust des sensus supranaturalis (des Sinnes für das Übernatürliche). Die Qualität der Heiligkeit und die Selbstoffenbarung Gottes in Christus werden einfach nicht gesehen oder, wenn gesehen, werden sie missverstanden oder abgewertet. Das Ideal mancher dieser Reformer ist, dass ein Katholik anstatt nach der Umgestaltung in Christus zu streben und Zeugnis für die Christliche Offenbarung abzulegen, danach trachten sollte, sich so wenig als möglich von einem humanitären Philanthropen zu unterscheiden.
6. Kapitel: CHRISTLICHE OFFENBARUNG UND PHILOSOPHIE
Es gibt heute unter vielen Katholiken eine wachsende Verwirrung über die Beziehung zwischen Christlicher Offenbarung (und in Folge davon: der katholischen Kirche) und Philosophie.
Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil waren viele Katholiken davon überzeugt, dass man ein strenger Thomist sein müsse, um ein orthodoxer Katholik sein zu können(66). Jetzt, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil glauben viele, die Kirche müsse, um zeitgemäß zu sein, ihre Verbindung mit dem Thomismus fallen lassen und sich mit einer ganz anderen Philosophie verbinden, etwa dem Heideggärschen Existentialismus, oder der Hegelschen Philosophie. Diese Katholiken scheinen zu meinen, dass das Band zwischen Christlicher Offenbarung und Philosophie mehr oder weniger zufällig ist. Sie nehmen an, es sei nur historischer Einfluss dafür verantwortlich gewesen, dass sich die Kirche zuerst mit platonischer und später mit aristotelischer Philosophie verbunden habe. Das ist eine naive Übervereinfachung, die eine große Verwirrung zur Folge hat.
Wir müssen von allem Anfang an verstehen, dass es eine wesenhafte Verbindung zwischen der Christlichen Offenbarung und grundlegenden philosophischen Wahrheiten gibt:
Die Existenz einer objektiven Wahrheit, die Realität der geistigen Person, die Verschiedenheit von Leib und Seele, die Objektivität von moralisch Gut und Böse, die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, die Existenz eines persönlichen Gottes, all dies und vieles mehr ist von der Christlichen Offenbarung wesenhaft eingeschlossen. Jedes Wort im Neuen Testament setzt offenbar diese elementaren Grundwahrheiten voraus. Und deshalb kann eine Philosophie, die sie leugnet, niemals von der Kirche angenommen oder geduldet werden. Natürlich setzt ein echter christlicher Glaube nicht eine philosophische prise de conscience (Bewusstmachung) dieser Wahrheiten voraus und noch viel weniger ihre philosophische Formulierung. Aber wahrer Glaube schließt eine implizite Annahme dieser grundlegenden natürlichen Wahrheiten ein und deshalb schließt er kategorisch jede Philosophie aus, die sie leugnet.
Die Natur der jüdisch-christlichen Offenbarung enthält in sich selbst eine absolute Unverträglichkeit mit jedem erkenntnistheoretischen, metaphysischen oder moralischen Relativismus, mit jedem Materialismus, Immanentismus, Subjektivismus, ganz zu schweigen von einem Atheismus.(67)
Was also die grundlegenden natürlichen Wahrheiten betrifft, die notwendig von der christlichen Offenbarung vorausgesetzt sind, kann man niemals davon sprechen, dass die Verbindung zwischen der Kirche und einer bestimmten Philosophie historisch bedingt sei. Diese wesenhafte Verbindung zwischen Christlicher Offenbarung und Philosophie muss man allerdings klar sowohl von der Rolle unterscheiden, die eine bestimmte Philosophie oder ein philosophisches System bei rationalen Begründungen der Lehre der Kirche (z. B. der geoffenbarten Sittlichkeit) spielt, als auch von dem Einfluss, den eine gegebene Philosophie auf theologische Spekulationen hat.
Doch die Beziehung zwischen Philosophie und Christlicher Offenbarung ist mit der Tatsache nicht erschöpft, dass jede Philosophie, die diese wesentlichen Wahrheiten leugnet, mit dem depositum catholicae fidei (dem katholischen Glaubensgut) unverträglich ist. Denn die Philosophien, die sie anerkennen, sind noch weitgehend verschieden, je nach dem Maß, in dem sie der Christlichen Offenbarung adäquat entsprechen. So sehr verschiedene Philosophien auch in den erwähnten grundlegenden Wahrheiten übereinstimmen mögen, so wird doch eine Philosophie, die über diese fundamentalen Wahrheiten hinaus der Fülle des Seienden mehr gerecht wird, auch aus demselben Grund geeigneter sein, z. B. die Beziehung zwischen natürlicher und übernatürlicher Sittlichkeit zu klären. Eine Philosophie wiederum, die tiefer in das Mysterium der Person eindringt, trägt auch mehr zum Verständnis des Inhalts der geoffenbarten Wahrheit bei, dass der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist, oder zum tieferen Eindringen in das letzte Geheimnis der zwei Naturen in der einen Person Christi. Wir können deshalb in diesen Fällen sagen, dass eine solche Philosophie der geoffenbarten Wahrheit adäquater entspricht.
So gibt es objektive Gründe, die die Kirche bewegen können, eine Philosophie einer andern vorzuziehen, obwohl beide die fundamentalen Wahrheiten annehmen, die ab ovo und notwendig von der Christlichen Offenbarung vorausgesetzt werden. Diese Gründe sind von einem bloßen historischen Einfluss ganz unabhängig. Obwohl Freiheit in der Diskussion aller philosophischen Probleme herrschen sollte, - solange diese prinzipiellen Bedingungen erfüllt sind - ist es durchaus möglich, dass eine philosophische Konzeption mehr mit der Offenbarung in Einklang steht als eine andere und dass sie aus diesem Grunde von der Kirche explizit als die ihre angenommen wird.
Wir werden im nächsten Kapitel über das Ziel der Philosophie selbst sprechen - ihre möglichst adäquate und tiefe Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Aber in diesem Zusammenhang kommt es uns besonders auf die Übereinstimmung eines philosophischen Gedankens mit der Christlichen Offenbarung an. Für jeden überzeugten Katholiken braucht es wohl kaum gesagt werden, dass diese beiden Gesichtspunkte letztlich und objektiv zusammenfallen; aber formal sind sie zwei verschiedene Gesichtspunkte.(68)
Drittens spielen bei der Entscheidung der Kirche für ein bestimmtes philosophisches System auch pädagogische Gesichtspunkte eine Rolle. Eine Philosophie mag vielleicht tiefer und in ihrer Wahrheit einer anderen überlegen sein und also auch der Christlichen Offenbarung adäquater entsprechen. Vom Standpunkt des Lehrens aus mag sie aber mehr Ansatzpunkte für Irrwege bieten; sie mag größeren Missverständnissen ausgesetzt sein als eine andere Philosophie. Das Vorziehen eines geschlossenen Systems wie des Thomismus war sicher zumindest teilweise dadurch motiviert, dass es den Geist vor philosophischen Abenteuern schützt, die zu Häresien führen können.
Die augustinische Philosophie und die Tradition des heiligen Anselm und Bonaventura ist sicher der Christlichen Offenbarung nicht weniger angemessen als die thomistische Philosophie. Aber sie hat nicht den Charakter eines geschlossenen Systems. Ihre Offenheit für neue Erkenntnisse ist sicher von einem rein philosophischen Gesichtspunkt aus ein Vorteil, aber pädagogisch gesehen ist sie nicht ohne Gefahren. Ein geschlossenes System legt sich als Grundlehre für die philosophische Erziehung der Priester und als Material für eine Festung gegen mögliche häretische Verirrungen nahe.
Wir behaupten keineswegs, dass die drei hier erwähnten Beziehungen zwischen Kirche und Philosophie die einzigen seien. Aber ihr Verständnis möge für die Einsicht genügen, dass die Kirche niemals willkürlich auf Grund von bloß historischen Einflüssen eine Philosophie für eine andere eintauschen könnte.
Wir leugnen auch nicht, dass bei der Entscheidung der Kirche für ein besonderes philosophisches System auch historische Einflüsse eine Rolle spielen. Der Einbruch eines averroistischen Aristotelismus in die christliche Welt im dreizehnten Jahrhundert spielte z. B. sicher für die Ablösung der augustinischen Tradition durch den Thomismus eine entscheidende Rolle. Aber dies war keineswegs der einzige Grund dafür. Wir dürfen nicht dem verheerenden Irrtum verfallen, dass jede Philosophie auf Grund der historischen, intellektuellen Situation von der Kirche angenommen werden könnte, gleichgültig welche innere Verbindung sie zum Christentum hat. Wir müssen heute mit aller Entschiedenheit betonen: Was immer das intellektuelle Klima im Laufe der Geschichte sein mag, keine Philosophie, die die fundamentalen philosophischen Wahrheiten leugnet, die von der Offenbarung wesenhaft und notwendig vorausgesetzt sind, könnte je von der Kirche angenommen oder auch nur toleriert werden.
Die Rolle der Philosophie Platons in den Schriften der Kirchenväter ist sicher nicht nur einem historischen Einfluss zu verdanken. Sie ist vor allem in der Tatsache begründet, dass in dieser Philosophie die oben erwähnten Wahrheiten entweder ausdrücklich oder zumindest implizit enthalten sind. Sie sind dort niemals geleugnet. Es wäre unmöglich gewesen, andere griechische Philosophien aufzunehmen, wie den Sophismus, den Skeptizismus der späteren Akademie, den Epikuräismus oder Stoizismus. Dasselbe gilt für den thomistischen Aristotelismus, der im späten Mittelalter eine so bedeutende Rolle zu spielen begann. Aristoteles' Philosophie hätte nie aufgenommen werden können, hätte er diese Grundwahrheiten nicht mehr oder weniger anerkannt. Das zeigt sich am deutlichsten darin, dass die Kirche ja die thomistische Fassung des Aristotelismus annahm, die averroistische aber verurteilte.
Die über die bloße Verträglichkeit hinausgehende innere Affinität zwischen der Lehre der Kirche und einer Philosophie sollte erst recht von einem rein historischen Einfluss klar unterschieden werden. Die Rolle des Augustinismus in der patristischen und früh mittelalterlichen Philosophie war auch durch den hohen philosophischen Rang dieser Philosophie und durch ihre tiefe innere Affinität mit der Christlichen Offenbarung bestimmt. Der edle Klang des Platonismus, die Rolle, die er der Kontemplation einräumt, die tiefe Ehrfurcht, die ihn prägt, sein nach oben gerichteter Blick: diese und andere Eigenschaften legten den Platonismus denen nahe, die eine philosophische Grundlage für die Lehre der Kirche suchten.
Im Lichte aller dieser Unterschiede sollten wir der heutigen Diskussion des Verhältnisses zwischen Kirche und Philosophie begegnen. Viele der progressistischen Katholiken, die heutzutage nach einer „neuen Philosophie" verlangen, scheinen nämlich keine Ahnung von dem wirklichen Verhältnis zwischen den Wahrheiten des katholischen Glaubens und einer Philosophie zu haben, die die Kirche als natürliche Führerin zur Wahrheit und als Hilfe für den Glauben empfehlen kann. Der Begriff einer „neuen" Philosophie enthält eine verderbliche Doppeldeutigkeit. Man könnte damit meinen, dass die traditionelle Philosophie durch Philosophien ersetzt werden sollte, welche die fundamentalen, natürlichen Wahrheiten leugnen, die von der Christlichen Offenbarung vorausgesetzt werden.(69) Wie wir gesehen haben, wäre eine solche „neue Philosophie" mit der Kirche völlig unvereinbar. Man könnte mit diesem Begriff aber auch auf philosophische Ergänzungen der traditionellen Philosophie abzielen, so u. a. das Ersetzen unbefriedigender und schwacher Begründungen. Vor allem das Letztere stellt nämlich wirklich eine legitime Aufgabe dar, solange man dabei realisiert, dass die Schwäche eines Beweises (oder die Falschheit einer Begründung) nicht genügt, um die Wahrheit einer These zu widerlegen. Die Tatsache, dass Philosophen übereinstimmend eine fundamentale Wahrheit festhalten, (wie z. B. die reale Verschiedenheit der Seele vom Leib, die Möglichkeit, absolute, objektive Wahrheit zu erkennen, die Freiheit des Willens), ist entscheidender als ihr Gegensatz bezüglich der Begründung dieser Wahrheit. In der natürlichen Theologie gibt es viel mehr Übereinstimmung als Gegensätzlichkeit zwischen einem heiligen Anselm und einem heiligen Thomas. Es ist unvergleichlich viel bedeutender, dass der heilige Thomas auch die Existenz Gottes sowie deren rationale Erkennbarkeit mit Hilfe der Vernunft betont, als dass er den ontologischen Gottesbeweis des heiligen Anselm ablehnt. Ebenso haben sowohl die Erkenntnislehre des heiligen Thomas als auch die des heiligen Augustinus ihren Platz in einer Philosophie, die die Kirche angenommen hat, weil beide die Existenz objektiver Wahrheit betonen sowie auch die Möglichkeit, objektive und absolut gewisse Erkenntnis zu gewinnen. Solange die philosophische „Neuerung" nicht die Grundwahrheiten zu untergraben versucht, die von der Christlichen Offenbarung vorausgesetzt und von der traditionellen Philosophie anerkannt sind, kann eine in diesem Sinn „neue" Philosophie für die Kirche sehr gut annehmbar sein.
Eine ähnliche Beziehung besteht zwischen Theologie und Dogma. Eine Theologie, die irgendeinen Glaubensartikel leugnen würde - oder ihm auch nur eine von der Tradition verschiedene Interpretation gäbe - wäre damit schon notwendigerweise falsch. Wenn Änderungen am Katechismus - wie die Auslassung der Lehre über die Hölle - nicht nur aus pädagogischen Erwägungen gemacht würden, sondern auf Grund einer „neuen Theologie", die nicht mehr an diese geoffenbarten Wahrheiten glaubt, so wäre diese Theologie offenbar häretisch. Ebenso wäre jede Theologie häretisch, die die reale gottmenschliche Präsenz Christi im Altarssakrament, die jungfräuliche Empfängnis Christi, die wahrhafte Auferstehung Christi oder das ewige Leben leugnen würde.(70) Hingegen können viele theologische Theorien, die nicht die geoffenbarte Wahrheit als solche betreffen, durch andere ersetzt werden. Bestimmte Theorien über Gnade, Freiheit und Prädestination sollten z. B. zweifellos besser formuliert werden. Aber alle wirklich geoffenbarten Wahrheiten, die ihren eindeutigen Ausdruck in den dogmatischen Formulierungen gefunden haben, können niemals durch eine „neue Theologie" ersetzt werden.(71)
7. Kapitel: DIE AUFGABE DES CHRISTLICHEN PHILOSOPHEN HEUTE
Da also die göttliche Offenbarung gewisse fundamentale, natürliche Wahrheiten voraussetzt, müssen wir jetzt eine Frage von großer Bedeutung stellen: Welche Haltung soll ein katholischer Philosoph heute einnehmen, in einem Augenblick, in dem der Thomismus nicht mehr allgemein als die einzige Philosophie angesehen wird, die der göttlichen Offenbarung angemessen ist?
Bevor wir uns aber in diese Frage vertiefen, müssen wir uns über den organischen Entfaltungsprozess in der Philosophie klar werden, auf den wir im 3. Kapitel hingewiesen haben, als wir die Dialektik von These, Antithese und Synthese untersuchten. Das prinzipielle Erfordernis für alle bedeutenden philosophischen Einsichten ist die unvoreingenommene Analyse der intelligiblen Data (Gegebenheiten) im Kosmos; jede philosophische Entdeckung beginnt mit einem echten Staunen und Fragen und setzt die Bereitschaft voraus, der Stimme des Seienden in all seinen intelligiblen Wesenszügen zu lauschen. Wir haben über diesen unmittelbaren Kontakt mit dem Gegebenen ausführlich in unserem Buch „What is philosophy?“(72) gesprochen. Dieser unmittelbare Kontakt mit dem Seienden offenbart sich in der Geschichte der Philosophie überall dort, wo große Einsichten gewonnen werden, wie etwa Platons Entdeckung zweier ganz verschiedener Arten der Erkenntnis im Menon oder Aristoteles' Entdeckungen in der Logik in seinem Organon, oder die Unterscheidung des heiligen Augustinus zwischen uti und frui.
Einem unmittelbaren, intuitiven Kontakt mit dem Gegebenen, einem immer erneuten Befragen der Wirklichkeit entspringt auch jener bescheidenere Vorgang eines echten Wachstums in der philosophischen Erkenntnis, der dann stattfindet, wenn eine unvollständige Wahrheit ihre Vervollständigung findet. Es muss aber noch einmal ausdrücklich betont werden,(73) dass eine unvollständige Wahrheit kein Irrtum und auch keine relative Wahrheit ist. Eine unvollständige Wahrheit ist ebenso wahr, wie eine vollständige Wahrheit, obwohl sie nach einer Ergänzung verlangt. Der Satz, dass das sittlich Gute ein Wert ist und nicht etwas bloß subjektiv Befriedigendes, ist absolut wahr, wenn auch unvollständig, weil darin der spezifische Charakter der moralischen Werte im Unterschied zu ästhetischen, intellektuellen usw. noch nicht gemacht ist.(74) Unzählige Beispiele von unvollständigen Wahrheiten könnten genannt werden, die alle trotz ihrer Unvollständigkeit absolut wahr sind.
Das Vervollständigen einer unvollständigen Wahrheit kann aber verschiedene Formen annehmen: Einmal kann es eine weitere Differenzierung sein, eine größere Ausdrücklichkeit durch die Entdeckung neuer Unterschiede im Rahmen der schon erkannten Wahrheit. Eine andere Form der Vervollständigung ist die Entdeckung eines neuen Aspekts eines Seienden. Dies hat den Charakter einer Bereicherung. Wieder eine andere Form der Vervollständigung liegt in einem noch tieferen Eindringen in ein Seiendes, einem Fortschreiten, das in früheren Einsichten gründet, aber neue Dimensionen eines Seienden begreift und dadurch zu neuen Unterscheidungen und Zusammenhängen vordringt. Diese Art der Entwicklung kann sich sowohl in dem Lebenswerk eines einzelnen Philosophen als auch im Lauf der Geschichte der Philosophie finden. Ein dritter, entscheidender Vorgang im Wachstum des philosophischen Erfassens der Wahrheit ist die Befreiung einer früher erkannten Wahrheit von den mit ihr verbundenen Irrtümern. So war die große erkenntnistheoretische Entdeckung Platons im Menon mit Irrtümern, wie der Lehre von der Präexistenz der Seele verknüpft. Jene große Wahrheit von diesem Irrtum zu befreien, indem man zeigt, dass dieser Irrtum keineswegs notwendig mit jener Entdeckung verbunden ist, bedeutet einen echten Fortschritt in der Philosophie.(75) Kants Entdeckung der Verschiedenheit zwischen hypothetischer und kategorischer Verpflichtung und seine ausdrückliche Betonung des kategorischen Charakters sittlicher Verpflichtung war eine sehr bedeutende Einsicht. Aber er verband sie mit dem unglücklichen ethischen Formalismus des moralischen Imperativs, indem er alle Sittlichkeit von einem Wert auf der Objektseite trennen wollte.(76) Hier nimmt die Befreiung der Wahrheit vom Irrtum einen andern, komplizierteren Charakter an.
Ein vierter Wachstumsprozess in der Philosophie besteht darin, dass man schwache Argumente für eine bedeutende Wahrheit durch überzeugende ersetzt. Das ist eine besonders dringende Aufgabe; denn, wie wir gesehen haben, meinen heute naiv erweise viele, große Einsichten seien falsch, weil die Argumente, die man für sie angeführt hat, nicht gültig sind.
Eine fünfte Form des Fortschritts in der Philosophie besteht darin, dass man grundsätzliche Irrtümer entlarvt, die in der Geschichte der Philosophie lange Zeit hindurch den Weg zur Wahrheit versperrt haben. Dies geschieht manchmal einfach dadurch, dass man den äquivoken Gebrauch eines Begriffes aufzeigt. Husserl enthüllte zum Beispiel die Äquivokation, die sich in dem Begriff Urteil verbirgt, der zugleich den personalen Akt einerseits und anderseits den Satz bezeichnet, der aus Subjekt, Prädikat und Kopula besteht - in der Tat zwei vollkommen verschiedene Wirklichkeiten!
Diese kurzen Hinweise mögen genügen, um klarzumachen, dass wirkliches Wachstum im Erobern philosophischer Wahrheit weder automatisch vor sich geht, noch vom Rhythmus von These, Antithese und Synthese beherrscht wird. Natürlich kann man im Laufe der Geschichte manchmal den Rhythmus von These und Antithese finden, aber die Erreichung der Wahrheit ist in keiner Weise durch die darauffolgende Synthese gewährleistet, wie wir schon im 3. Kapitel gesehen haben. Die Synthese muss der Wahrheit keineswegs näher liegen als die vorhergehenden „Stadien", sie kann im Gegenteil noch weiter von ihr entfernt sein. Auf dem Hintergrund dieser Analyse erhebt sich nun die Frage, welche Haltung der katholische Philosoph im jetzigen Augenblick einnehmen soll. So falsch es war, in einem strengen Thomismus eingesperrt zu bleiben, und jede philosophische These als Irrtum zu bekämpfen, die in dieses System nicht hineinpasste; so schlimm es war zu glauben, alle philosophischen Fragen seien schon durch den Thomismus beantwortet, so ist doch die Einstellung noch schlimmer, der wir heute bei vielen progressistischen katholischen Philosophen begegnen. Unter diesen gibt es verschiedene Typen.
Da gibt es zunächst den Philosophen, der im Augenblick, da sein Glaube an den Thomismus als das letzte Wort in der Philosophie erschüttert wird, mehr oder weniger zum Relativisten wird. Die Desillusionierung, die er in Bezug auf den Thomismus erfährt, unterhöhlt seinen Glauben an philosophische Wahrheit als solche. Statt die großen Einsichten des heiligen Thomas von verschiedenen Irrtümern zu befreien, statt alles in seiner Philosophie mit der Fülle des Seienden zu konfrontieren und so die vom heiligen Thomas entdeckten Wahrheiten durch neue Unterscheidungen und Differenzierungen zu ergänzen, wird er ein historischer Relativist. Das ist offenbar das Gegenteil eines Fortschritts oder gar einer größeren geistigen Weite und Geöffnetheit. Ein solcher Mann gleicht vielmehr einem, der von der Frau, die er liebte, enttäuscht wurde und nun überhaupt an der Möglichkeit verzweifelt, eine Frau könne jemals treu sein.
Ein anderer Typus von katholischen Philosophen verlässt die Burg des Thomismus nur, um irgendeiner modernen Philosophie zum Opfer zu fallen. Ohne die Wirklichkeit zu befragen, ohne dass er sich staunend dem Seienden öffnet, tauscht ein solcher Philosoph die vollständige Annahme des thomistischen Systems gegen eine vollständige - ebenso unkritische - Annahme Heideggers oder Hegels, Kants, Deweys oder sogar Freuds ein. Er verzweifelt nicht an der Möglichkeit, philosophische Wahrheit zu erreichen, aber er gibt sich irgendeiner Philosophie in derselben unkritischen Weise hin, wie zuvor dem Thomismus, nur mit dem großen Unterschied, dass die Philosophie, zu der er sich jetzt wendet, keine unvollständige Erkenntnis der Wahrheit, sondern ein Berg von vollständigen Irrtümern ist und eine Philosophie, die schon in ihrer Grundlage mit der Christlichen Offenbarung unverträglich ist, da sie gerade die notwendig von der göttlichen Offenbarung eingeschlossenen Wahrheiten leugnet. Statt deshalb auf großen katholischen Denkern fußend, ein Denken zweiter Hand zu betreiben, denkt er jetzt zweiter Hand auf der Grundlage säkularer, z. T. sogar antichristlicher Philosophien. Abgesehen davon, dass er fortfährt, Denken zweiter Hand zu betreiben (wobei er eine bedauerliche konservative Tendenz beweist), vollzieht sich in seinem geistigen Leben ein tiefer Wandel. Denn jetzt sucht er in einem Denken Obdach, das grundsätzlich mit der Christlichen Offenbarung unverträglich ist und ihn deshalb in Versuchung bringt, den Wahrheiten der göttlichen Offenbarung zu widersprechen. Hier kann man wirklich die Worte der Bibel anwenden: "... und die letzten Taten dieses Menschen werden ärger sein als die ersten." (Lk. XI, 26)
Ein dritter Typus moderner katholischer Philosophen glaubt, man könne einen engen Thomismus dadurch überwinden, dass man ein Gebräu aus Kant, Thomas und Hegel, oder einem anderen einflussreichen Denker herstellt. Diese Menschen gewahren nicht, dass die vorige Enge nicht aus dem Inhalt des Thomismus herrührte, sondern aus der irrigen Meinung, dass man in dem festen Gefüge eines geschlossenen Systems auf alles eine Antwort finden könne. Das Befragen der Wirklichkeit war oft durch ein bloßes Verteidigen eines Systems ersetzt worden. Ohne den wirklichen Grund für die frühere Enge zu verstehen, verfehlt auch dieser dritte Typus seine Überwindung. Statt zur Wirklichkeit zurückzugehen und sich vorurteilslos in das Gegebene zu versenken, glauben diese Menschen der Wahrheit näher zu kommen, wenn sie den Thomismus mit irgendeinem anderen System vermischen. Auch die übersehen oft die absolute Unverträglichkeit vieler dieser neu herangezogenen Gedanken mit der göttlichen Offenbarung.
Die richtige Antwort des katholischen Philosophen heute erfordert einen tief ehrfürchtigen und organischen Kontakt mit den großen Einsichten der traditionellen Philosophie, verbunden mit einem ununterbrochenen Befragen der Fülle des Seienden selbst, in dem er versucht, die großen Wahrheiten, die in der Vergangenheit philosophisch erobert wurden, durch weitere Richtigstellungen, Differenzierungen und neue Einsichten zu vervollständigen.(77)
8. Kapitel: KAIROS
Der heilige Paulus ermahnt Timotheus, das Evangelium zu verkünden „opportune importune" (sei es gelegen oder ungelegen). Die Sendung, Christi Botschaft zu verkünden, ist also von allen Umständen unabhängig: ob sie die Verkündigung des Wortes Gottes leicht machen oder nicht, ob die Predigt der Frohbotschaft zu Verfolgungen der Kirche oder auch zum Verlust großer Vorteile führt, oder ob das alles nicht eintritt - das sind Rücksichten, die auf das Apostolat der Kirche keinen Einfluss haben sollten. Ein klassisches Beispiel für die Befolgung dieses Pauluswortes war das Verhalten des heiligen Ambrosius, der dem Kaiser Theodosius verbot, die Kirche von Mailand zu betreten, weil er die Ermordung von 6000 unschuldigen Menschen in Samos erlaubt hatte. Die Größe und der apostolische Mut dieser Tat wird uns noch viel mehr ergreifen, wenn wir bedenken, dass Theodosius der große Schutzherr der Kirche war. (78)
Doch gibt es auch einen spezifischen Ruf der historischen Stunde. Die Thematizität der Wahrheit und ihrer Verkündigung in der Geschichte spielt in der göttlichen Sendung der Kirche eine Rolle. In einem gegebenen historischen Augenblick kann etwas dringender werden als es vorher war.
Es kann in einem bestimmten Augenblick die Definition eines neuen Dogmas, eine Zustimmung, eine Verurteilung oder sonst ein apostolisches Eingreifen gefordert sein.
Es kann sogar eine Situation geben, die aus vielen Gründen verlangt, dass sich die Kirche jeder Verurteilung und jedes Eingriffs enthält, so voll gerechtfertigt dieser auch an sich sein mag. Worte haben auch ihre bestimmte Stunde in der Geschichte, die Wahrheit und der Wert von Worten aber besteht unabhängig von der Zeit und der Geschichte. Also muss die Kirche, ihrer göttlichen Sendung gehorchend, nicht nur zu jeder Zeit und in jedem Jahrhundert die unvergängliche, ewige Wahrheit der Offenbarung in ihrer ganzen „Länge, Breite und Tiefe" ungeschmälert verkünden - das ist ihre „alte" Aufgabe, die zugleich in jedem Augenblick neu thematisch wird - sondern in der göttlichen Sendung der Kirche spielt auch die besondere historische Thematizität gewisser Wahrheiten eine Rolle. Die historische Stunde verlangt auch die Wachheit gegenüber positiven, historischen Bedingungen, die besonders günstige Möglichkeiten für die pastorale und missionarische Sendung der Kirche bieten. Und gerade darauf bezieht sich der Begriff Kairos vor allem. Solange sich das importune auf Verfolgungen und Gefahren für Stellvertreter der Kirche selbst bezieht, findet das Wort des heiligen Paulus offenbar seine Anwendung. Keine solchen Gefahren sollten jemals die Verkündigung der christlichen Lehre oder irgendein anderes Eingreifen der Kirche hindern. Aber wenn die Situation in einem Augenblick so ist, dass jedes Eingreifen das Übel nur vergrößern würde, gegen das die Kirche kämpft, dann finden die Worte des heiligen Paulus nicht notwendig ihre Anwendung. Dabei ist allerdings klar, dass die Umstände des Augenblicks nur das Unterlassen eines Eingreifens gebieten können, niemals einen Kompromiss mit einem Irrtum oder Übel.
Um die Bedeutung des Kairos zu klären, ist es nötig, kurz den Begriff der historischen Thematizität zu analysieren:
Uns beschäftigt in diesem Zusammenhang nicht die historische Thematizität im Leben der Philosophie, der philosophischen prise de conscience bestimmter fundamentaler Wirklichkeiten, die vorher nur stillschweigend vorausgesetzt waren; hier wollen wir uns vielmehr auf die historische Thematizität beschränken, insofern sie die Mission der Kirche betrifft.
Eine Art dieses Rufes der Stunde bezieht sich auf falsche Theorien, sobald sie in einem gegebenen historischen Augenblick von politischen Strömungen oder von einer Regierung vertreten werden. Ein solcher Augenblick war zum Beispiel der der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland. Die Verurteilung des Totalitarismus und Rassismus war in diesem Augenblick gefordert. Obwohl diese als solche schlecht sind und in jedem historischen Augenblick schlecht waren, so wurde doch ihre ausdrückliche Verwerfung durch die Tatsache thematisch, dass der Nationalsozialismus 1933 die Macht erlangte. Vor diesem Augenblick hatten die Bischöfe tatsächlich den Nationalsozialismus verurteilt und gemeinsam die Fahne der Exkommunikation hochgehalten. Unglückseligerweise aber unterließen die deutschen Bischöfe 1933, diese Verurteilung aufrechtzuerhalten - gerade in dem Augenblick, da eine erneute und noch feierlichere Verurteilung gefordert war.
Nun gibt es zwei Gesichtspunkte für die Thematizität einer Verurteilung. Zunächst hat die Kirche die Aufgabe zu sprechen, sobald eine Bewegung auftritt, die von falschen und üblen Theorien inspiriert ist, die offenkundig mit dem christlichen Glauben unverträglich sind. Dies trifft bei der Verurteilung aller Häresien zu. Und das taten die deutschen Bischöfe im Fall des Nationalsozialismus (der 1921 anfing), bevor er an die Macht kam.
Der zweite Gesichtspunkt bezieht sich auf die einzigartige pastorale und missionarische Chance, die in einem gegebenen historischen Augenblick besteht. Es besteht zum Beispiel kein Zweifel, dass sich tausend Menschen zur Kirche bekehrt hätten, wenn die Bischöfe den Nationalsozialismus mit einem absoluten non possumus verurteilt hätten, und wie ein Felsen inmitten des schwankenden und verschreckten deutschen Volkes gestanden wären. Vom missionarischen Gesichtspunkt aus war das eine Stunde, wie sie in der Geschichte eines Landes vielleicht einmal in zweihundert Jahren kommt. Das ist der Kairos. Es ist die besonders günstige historische Gelegenheit, die der Kirche in ihrer apostolischen Tätigkeit geschenkt wird.
Es gibt andere Arten des Rufs der Stunde, die nicht dieselbe Bedeutungsschwere besitzen, noch in derselben Weise das Innerste des kirchlichen Lebens berühren. Sie beziehen sich auf das, was man aggiornamento nennt. Wir denken hier an all die Lebensbedingungen in einer bestimmten historischen Epoche, durch die sich der apostolischen Tätigkeit der Kirche besondere Möglichkeiten bieten. So ist zum Beispiel die ungeheure technische Entwicklung der westlichen Zivilisation heute auch ein Teil des Kairos.
Die veränderten Lebensbedingungen, die nach einem aggiornamento verlangen, ebenso wie die intellektuellen und moralischen Grundzüge eines Zeitalters können neutral sein, nur positiv, oder von einem Standpunkt aus positiv, von einem andern negativ.
Doch wenn sie ausgesprochen negativ und mit Unwerten verbunden sind, vor allem mit moralischen, so ist der Ruf der Stunde ihre Verurteilung.
Weil eine Antipathie gegenüber der Verurteilung säkularer „Häresien" und religiöser Verirrungen für die Mentalität unserer Zeit charakteristisch ist, ist es notwendig, besonders zu betonen, dass der Ruf der Stunde, die günstige Gelegenheit, die dem Apostolat der Kirche in einem bestimmten historischen Augenblick geboten wird, nicht nur die Auswertung positiver Elemente der Zeit einschließt, sondern auch die ausdrückliche und eindeutige Verurteilung der Irrtümer und üblen geistigen Strömungen. Das Verurteilen und Entlarven von Irrtümern wird heute weitgehend als etwas angesehen, was dem Geist der Liebe entgegen ist. Man versteht das Grundprinzip nicht mehr, das der heiligen Augustinus ausgesprochen hat - interficere errorem, diligere errantem (töte den Irrtum, liebe den Irrenden). Man nimmt an, dass diese beiden Taten einander widersprechen, während in Wirklichkeit Liebe notwendig das „Töten" des Irrtums einschließt. Wir werden dieses weitverbreitete Missverständnis in einem späteren Kapitel ausführlicher behandeln.(79) Hier mag es genügen hervorzuheben, dass es gerade die letzte Liebe der Kirche für alle Menschen ist, die nach der Verurteilung der Irrtümer verlangt, und dass diese Verurteilung ein wesentlicher Bestandteil der Antwort auf den Ruf der Stunde ist.
Die Verurteilungen der großen Häresien - Arianismus, Pelagianismus, Nestorianismus, Monophysitismus – sie alle sind eine Antwort auf einen echten Ruf der historischen Stunde. Das erste Thema war natürlich immer die Wahrheit - die Bewahrung der göttlichen Offenbarung vor allen Entstellungen. Aber die Notwendigkeit, eine bestimmte Häresie in einem bestimmten Augenblick zu verurteilen, kommt vom Ruf der Zeit.
Die Thematizität einer Verurteilung wird dann noch erhöht wenn es sich um das Ausstreuen gefährlicher Irrtümer in der Gesellschaft oder um das gewaltsame Aufzwingen schlimmer Irrtümer durch einen totalitären Staat handelt, wie im nationalsozialistischen Deutschland oder in den kommunistischen Ländern. Dass mit der Verurteilung eine Wahrheit ausgesprochen wird, ist offenbar vorausgesetzt; aber auch die pastorale Verantwortung ist in hohem Maß thematisch. Die Wahrheit gerade in diesem Augenblick auszusprechen, die Menschen gegen einen ansteckenden und gefährlichen Irrtum zu schützen und durch dieses Zeugnis das Licht Christi vielen Menschen außerhalb der Kirche zu bringen, ist eine dramatische Forderung des Kairos. Manchmal verbieten allerdings praktische Gründe höchster Ordnung jede ausdrückliche Verurteilung eines Übels.
Das war z. B. der Fall, als die Kirche im 2. Weltkrieg Hitler nicht direkt und offen wegen seiner furchtbaren Judenverfolgungen angriff. Die Erfahrung hatte nämlich gezeigt, dass jeder derartige Eingriff durch die Kirche die Gewalttätigkeit und Raserei dieser Verfolgungen nur erhöht hätte. Das Interesse der Verfolgten gebot in diesem Augenblick der Kirche, von jeder offenen Verurteilung Abzustehen(80), so gerecht diese auch als moralisches Urteil immer gewesen wäre. Es ist eine große Versimplifizierung der Forderungen der Geschichte und zugleich ein verhängnisvolles Missverständnis des Kairos, wenn man schreit: „Die Kirche hat die Aufgabe, die Wahrheit ohne Rücksicht auf Folgen zu verkünden!" Sich angesichts eines Ereignisses öffentlich auszusprechen und dadurch die pastoralen Chancen auszunützen, die damit verknüpft sind, kann dazu führen, dass die übel jener Personen nur noch vermehrt werden, deren Leiden uns gerade an erster Stelle bewegten zu handeln.
So stellt der Kairos ein sehr subtiles und komplexes Gebilde dar, denn es müssen viele oft einander widersprechende Faktoren berücksichtigt werden. Aber es bedeutet ein verhängnisvolles Missverständnis des Kairos, nicht die Grundunterscheidung zwischen dem Thema der Wahrheit und dem der Geschichte zu machen. Nehmen wir an, dass die historische Thematizität das Aussprechen bestimmter Wahrheiten besonders dringend macht, so bleibt doch der Wert, den diese Aussagen auf Grund ihrer Wahrheit haben, völlig verschieden von dem Wert, den sie dadurch erhalten, dass sie in diesem besonderen Augenblick ausgesprochen werden. Nicht nur hängt dieser letztere Wert von dem ersten ab, (denn die historische Stunde kann von der Kirche nur die Verkündigung der Wahrheit, niemals die eines Irrtums verlangen), sondern die Wahrheit der Aussage bleibt auch der Hauptgrund für ihre Bewertung - nicht ihre historische Thematizität. Immer wenn ein Mensch der historischen Thematizität erlaubt, den Vorrang über die Wahrheit zu erringen, hört er auf, eine gesunde Beziehung zur Wahrheit zu haben. Im selben Augenblick ist er kein wirklicher Wahrheitssucher mehr. Er ist dann zumindest in Gefahr, in den Sog des historischen Relativismus zu geraten. Und die Macht, die gewisse Ideen in einem bestimmten historischen Augenblick haben, wird ihn vielleicht zu der Meinung verführen, dass ein Kompromiss mit ihnen eine günstige Gelegenheit für einen Sieg Christi schaffen würde. Doch das führt unvermeidlich dazu, den wahren Ruf der Stunde zu versäumen, wie das 1933 bei der Bischofskonferenz in Fulda der Fall war.
In seiner extremen Form ist dieser Irrtum unter „fortschrittlichen" Katholiken weit verbreitet, die dazu neigen, den Ruf des Kairos einfach mit der Anpassung an die Mentalität oder das geistige Klima einer Zeit zu identifizieren. Die Vertreter dieser Adaptionssucht geben vor, ihre Haltung sei in den Worten des heiligen Paulus begründet: „Ich wurde den Römern ein Römer, ein Grieche den Griechen, ich wurde allen Menschen alles."
Sie interpretieren diese Worte so, als würden sie bedeuten, echtes Apostolat schließe nicht nur unsere Anpassung ein, sondern auch die Anpassung der Botschaft Christi an die besondere Mentalität der Personen, die wir für Christus zu gewinnen suchen. Wir müssen ihre Sprache sprechen - und das heißt, ihre Denkart und Verhaltensweise annehmen - um ihre Seelen zu erreichen.
Nun kann dies sicher in einem fruchtbaren und legitimen Sinn verstanden werden.(81) Aber es kann auch eine Perversion dessen bedeuten, was die Worte des heiligen Paulus ausdrücken. Wir müssen deshalb zwei verschiedene Bedeutungen von „Anpassung" unterscheiden.
Es ist durchaus berechtigt, nach dem größtmöglichen Verständnis des Menschen zu trachten, dem wir die Botschaft Christi mitteilen möchten. Wir sollten uns erstens bemühen, seine Situation kennen zu lernen, seine Denkart, seine guten und schlechten Neigungen, seine Not und seine Sehnsucht, die Wahrheit, die ihm aufgegangen ist, die Irrtümer, denen er zum Opfer gefallen ist. Das ist unvermeidlich, wenn wir wissen wollen, wo wir mit unserem Apostolat anfangen sollen. Wir sollten zweitens suchen, in liebender Ehrfurcht bei der Tür einzutreten, die schon durch die von ihm erkannten Wahrheiten geöffnet ist, wie es der heilige Paulus auf dem Areopag getan hat, als er sich des Ausdrucks vom „unbekannten Gott" bediente. Drittens sollten wir diejenigen seiner Bräuche annehmen und sogar begrüßen, die der christlichen Wahrheit und dem christlichen Ethos nicht widersprechen. Viertens sollten wir an all seine mehr oder minder bewusste Sehnsucht nach Gott anknüpfen.
Alle moralischen Werte, mit denen er vertraut ist, alle Schönheit, die er in der Natur entdeckt hat, alle natürlichen Wahrheiten, die in seinem Weltbild eine Rolle spielen und in seiner Religion eingeschlossen sind, können einen Ausgangspunkt für unser Apostolat bilden. Und wenn echte und gültige Elemente in seiner Religion enthalten sind - wie der Sinn für das Heilige, die Sehnsucht nach dem Absoluten, der Glaube an ein Jenseits, echte Frömmigkeit, echte Sammlung - so sollten wir daraus Brücken zur christlichen Frohbotschaft machen. Doch die Weigerung, uns auf einen Kompromiss mit irgendeinem Irrtum einzulassen, in dem er befangen ist, und, geboren aus der Liebe zu Christus und aus christlicher Liebe zu diesem Bruder, ein unermüdliches Bemühen, ihn von seinen Irrtümern zu befreien, sollte damit Hand in Hand gehen.
Und gerade an diesem Punkt könnte man die Worte des heiligen Paulus gewaltsam im Sinne eines falschen Irenismus umdeuten. Statt an der Ausbreitung der wahren Botschaft Christi mitzuwirken, verändert unser Eifer, uns dem Bruder anzupassen, diese Botschaft derart, dass ihre Annahme eigentlich gar keine Konversion mehr verlangt.(82) Die Sprache des Nichtkatholiken zu sprechen, darf deshalb niemals bedeuten, die Botschaft Christi zu verfälschen, indem man sie in Begriffe übersetzt, die mit ihr unverträglich sind, oder indem man sie einem Ethos anpasst, das der wahren Atmosphäre Christi widerspricht.
Der Versuch, die Lehre Christi dem Geist einer bestimmten Epoche anzupassen, schließt ein, dass die göttliche Offenbarung veruneigentlicht und für den Geist der Zeit zugeschnitten wird. Das ist jedoch die Karikatur des Rufes des Kairos. Damit unterhöhlt man die raison d'être der Kirche und ihres Apostolates. Wenn die Lehre der Kirche nicht auf der unveränderlichen, göttlichen Offenbarung gegründet ist, sondern sich mit der Zeit ändern kann - wenn es nicht dasselbe Evangelium ist, das bei jedem Ruf des Kairos die ganze Geschichte hindurch verkündet wird - dann bricht die Berechtigung der apostolischen Mission der Kirche „Gehet hin und lehret alle Völker" zusammen.
9. Kapitel: OPTIMISMUS UND CHRISTLICHE HOFFNUNG
Viele Katholiken meinen heute, dass ein lebendiger Glaube einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft einschließe. Jeder, der die Tradition betont, oder vor der durch die Geschichte vielfach bewiesenen menschlichen Gebrechlichkeit warnt, wird von ihnen beschuldigt, dass ihm Optimismus, Kühnheit und eine gesunde Einstellung dem Leben gegenüber fehle. Diese Katholiken glauben, ein solches optimistisches Ethos sei der rechte Beweis für Lebendigkeit des Glaubens und Geöffnetheit für den Ruf der Stunde. Sie legen den Ideen „junger Menschen" als der Stimme der Zukunft eine entscheidende Bedeutung bei. Ihre Haltung beweist, dass ihre Geneigtheit, eine Meinung anzunehmen, nicht so sehr in deren Wahrheit gründet, sondern eher in der bloßen Tatsache, dass sie wahrscheinlich „die Stimme der Zukunft" ist. So berechtigt es nun ist, sich für die voraussichtliche „Stimme der Zukunft" zu interessieren, so liegt doch nicht der mindeste Grund vor, an einer Idee einfach deshalb Gefallen zu finden, weil Aussichten auf ihre zukünftige Verbreitung bestehen.(83) Hier stehen wir wieder vor einem Übergriff auf Rechte, die die Wahrheit allein besitzt.
Diese Katholiken sehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir schauen düster auf die Gefahren unserer Zeit, die ihrerseits wieder nur Vorspiel einer noch drohenderen Zukunft sind, und dies führt dazu, sich aus der Welt in einer Stimmung zurückzuziehen, die lähmende Furcht mit bedauernder Resignation verbindet; oder wir nehmen einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft an – „eine gesunde Einstellung" - und wir stimmen heiter zu, mit den Zeiten voranzuschreiten.
Aber das ist eine weitere falsche Alternative. In ihr fehlt gerade die wirklich christliche Haltung, die ein nüchternes Sehen aller Gefahren der Situation, die durch den Fall des Menschen geschaffen ist, mit einer unerschütterlichen Hoffnung verbindet, deren Grund der Glaube ist, dass Christus die Welt erlöst hat. Wir müssen vor allem den grundsätzlichen Unterschied zwischen Hoffnung und Optimismus verstehen; denn beide zu verwechseln ist auch eine Form der Säkularisierung. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, eine umfassende Wesensanalyse der Hoffnung zu geben. Aber es sollte ohne weiteres verständlich sein, dass in jeder Hoffnung eine Beziehung auf eine Vorsehung liegt, ein Vertrauen auf ein gütiges Eingreifen Gottes, das die Verkettung der Umstände löst, die sich aus allen impersonalen Faktoren ergibt. Selbst ein Mensch, der vorgibt, keinen Glauben zu haben, setzt gleichwohl in dem Augenblick, in dem er hofft, eine Vorsehung voraus, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Ganz verschieden von Hoffnung ist die Haltung eines Menschen, der auf Grund seiner unbändigen Vitalität der Verzweiflung entgeht, selbst wenn er vom schwärzesten Schicksal bedroht ist. Statt der Demut der Hoffnung trägt er vielmehr eine Selbstsicherheit zur Schau, indem er sich fähig fühlt, es mit jeder Situation aufzunehmen.
In diesem Zusammenhang gilt unser Hauptinteresse aber nicht dem Unterschied zwischen Hoffnung und dem vitalen Optimismus eines einzelnen Menschen, sondern vielmehr dem Gegensatz zwischen einem optimistischen Ausblick auf die Entwicklung der Geschichte und der christlichen Haltung der geschichtlichen Zukunft gegenüber. Wir brauchen nur an die nüchterne Haltung der Apostel oder Heiligen der Zukunft gegenüber zu denken, um die Tiefe dieses Gegensatzes zu sehen. Bei ihnen finden wir keinen optimistischen Ausblick auf die Zukunft. Sie nahmen keineswegs an, dass durch die immanente Entwicklung der Geschichte Fortschritt gewährleistet sei. Noch weniger hatten sie die Überzeugung, dass die Christen optimistisch in die Bewegung der Geschichte eintreten sollten.
Ihre Haltung zeigt statt dessen gleichzeitig ein klares Gewahren des unablässigen Kampfes zwischen Christus und dem Geist der Welt und eine unerschütterliche Hoffnung auf Gottes Hilfe in diesem Kampf. Sie decken unerbittlich alle Gefahren auf, die gegenwärtigen sowohl als die in der Zukunft drohenden. Zugleich aber beweisen sie einen unerschütterlichen Glauben an den Sieg Christi. Sie sind weder Pessimisten noch Optimisten. Sie sind die einzigen wahren Realisten. Sie sehen die Welt, wie sie ist, ohne Illusionen, aber sie sehen über diese Welt hinaus.
Klar der ständigen Angriffe Satans auf die Welt bewusst, sind sie in dem Glauben fest gegründet, dass Christus die Welt erlöst hat; sie wissen, dass Er uns aufgerufen hat, mit Ihm zu kämpfen. Sie sind von der trostvollen und seligen Überzeugung erfüllt, dass nichts den Menschen, der Christus sucht, von Seiner Liebe zu trennen vermag.
Der Unterschied zwischen dieser christlichen Haltung der Zukunft gegenüber, die in den Heiligen verkörpert ist, und dem optimistischen Ausblick dessen, der sich der Zukunft heiter naht, der in der Geschichte selbst eine Art Wirken des Heiligen Geistes sieht, ist offenkundig.(84) Christliche Hoffnung macht uns nicht blind für die Gefahren; sie setzt im Gegenteil voraus, dass wir die Wirklichkeit sehen, wie sie ist. Aber der Hoffende weiß, dass Gott über der Welt ist. Indem er auf Ihn vertraut, auf Seine unbegrenzte Liebe, ist er vor depressiver Resignation bewahrt. Hoffnung bricht durch allen Immanentismus durch, sie ist wesenhaft transzendent.
Sicherlich wurzelt in der vitalen Struktur des Menschen ein Element des Vorwärtsblickens, der freudigen Erwartung. Dies ist eine Art Kraft, die uns vorwärts treibt; sie ermutigt uns, den kommenden Tätigkeiten entgegenzublicken. Diese frohe Erwartung des Zukünftigen ist sicher ein Zeichen von Gesundheit und ein willkommener Ansporn im täglichen Leben des Menschen. Aber sobald sie uns die Zukunft in einem rosigen Licht sehen lässt, sobald sie uns für die Bedrohung durch wirkliche Gefahren blind macht, sobald sie sich in „Optimismus" verwandelt, wird sie zu einem Rauschgift, das gefährliche Illusionen erzeugt. Dies ist besonders schlimm, wenn es um die historische Zukunft und die Mission der Kirche geht. Wir werden dann leicht in verhängnisvoller Weise daran gehindert, den Maßstab der Wahrheit anzulegen, alles im Lichte Christi zu sehen und zu beurteilen und dem Rat des heiligen Paulus zu folgen: „Prüfet alles; was gut ist behaltet!" Wir fallen dann leicht der Illusion zum Opfer, wir würden auf den Ruf des Kairos antworten, wenn wir uns selbst und den Glauben der Zeit anpassen.
Ein Optimismus und „Progressismus", der aus einer öden Geschichtsideologie stammt, hat dann die heilige Nüchternheit und übernatürliche Kraft der Hoffnung ersetzt, die in den Heiligen lebt: „In Te, Domine, speravi, non confundar in aeternum."
„Auf Dich, o Herr, hab' ich gehofft, ich werde nicht zuschanden in Ewigkeit."
II. TEIL: GEFAHREN UNSERER ZEIT
10. Kapitel: DIE CHRISTLICHE HALTUNG DER EIGENEN ZEIT GEGENÜBER
Wir haben das unsinnige Ansinnen ziemlich lange behandelt, die Christliche Offenbarung solle dem Geist unserer Epoche angepasst werden. Im sechzehnten Jahrhundert hat Kardinal Kajetan die entscheidende Wahrheit in einen Satz zusammengefasst, als er sagte, die Religion solle nicht dem Menschen angepasst werden, sondern vielmehr der Mensch der Religion. Doch wenn auch die Verkehrtheit jeden Versuches, die Christliche Offenbarung dem Geist einer Zeit anzupassen, im Prinzip feststeht, so wird sich die erschreckende Unverträglichkeit eines solchen Versuches mit dem Wesen der von Gott geoffenbarten Religion erst vollkommen enthüllen, wenn wir die geistigen und intellektuellen Strömungen genauer untersucht haben werden, die für unsere Zeit charakteristisch sind - und die auf progressistische Katholiken eine derartige Faszination ausüben.
Es sei uns fern, die kulturelle und geistige Vielschichtigkeit unserer Zeit auf eine künstliche Einheitlichkeit zurückzuführen(85) oder die vielen positiven Elemente zu übersehen, die auch für sie charakteristisch sind, und ausschließlich der Vergangenheit zu huldigen, bloß weil sie vergangen ist. Wir müssen uns jedoch der tragischen Gefahren der Zeit, in der wir leben, voll bewusst sein. Wie wir nachdrücklich betont haben, ist es unsere Aufgabe, eine objektive und kritische Haltung unserer eigenen Zeit gegenüber einzunehmen. Eine solche Einstellung hat die Geschichte hindurch sehr viele hervorragende Geister ausgezeichnet.
Es wird immer Menschen geben, die im Strom der Ideen dahin treiben, die ihre Zeit beherrschen. Und es wird auch immer andere geben, die darüber untröstlich sind, dass nichts mehr so ist, wie es in ihrer Jugend war, oder die vom Zauberglanz einer versunkenen Wirklichkeit so angezogen werden, dass ihnen alles Vergangene über das Gegenwärtige erhaben zu sein scheint. Beide Neigungen sind unobjektiv: die erstere, weil man sich von einem Herdeninstinkt überwältigen lässt; die letztere, weil man von einer täuschenden Luftspiegelung der Vergangenheit hypnotisiert wird. Doch hat es immer auch Menschen gegeben, die weder gegen ihre Zeit voreingenommen, noch von ihr vergiftet waren. Das waren die wirklich unabhängigen Persönlichkeiten, die ihre Zeit schonungslos in allem kritisierten, was objektiv schlecht war und die alles anerkannten, was gut und positiv war.
In demselben Geist, der solche Menschen beseelte, wollen wir zunächst einige positive Züge unserer Zeit andeuten und dann die schweren Gefahren aufzeigen, die für sie auch charakteristisch sind. Das aggiornamento, das vom Zweiten Vatikanischen Konzil betont wird, schließt ein, dass die Kirche alle positiven Strömungen unserer Zeit fördert und in sich aufnimmt - diejenigen, die ihrem Wesen nach mit Christus verträglich sind und jene, die eine Frucht christlichen Lebens und Geistes sind. Die positiven natürlichen Züge der Zeit sollten jedoch nicht in die christliche Welt aufgenommen werden, ohne dass sie das Siegel Christi empfangen: sie müssen sozusagen ,getauft' werden.
Einer der rein positiven Züge unserer Zeit ist die wunderbare Entwicklung der Medizin. Diese ist eine offenbare Wohltat für die Menschheit, ein Fortschritt, der nicht nur entsetzliche Tragödien im menschlichen Leben – diesem Meer von Tränen - verhindern, sondern auch die geistige Bereicherung der Welt durch viele große Geister und Persönlichkeiten verlängern kann.
Ein anderer solcher Zug ist der Idealismus, der sich in der Bereitschaft erweist, große Opfer zu bringen, um anderen Menschen zu helfen, sogar solchen in fernen Ländern. Dies ist sicherlich in der heutigen Jugend mehr ausgeprägt als in der Jugend früherer Epochen. Wir denken hier selbstverständlich nicht an den sublimen Heroismus der Heiligen vergangener Jahrhunderte, oder an die heroischen Bemühungen von Missionaren; dies steht unvergleichlich höher und liegt auf einer ganz anderen Ebene. Wir denken eher an eine rein natürliche Güte, ein Erwachtsein für die Leiden anderer Menschen und an ein Interesse an ihrem irdischen Glück, selbst wenn man sie nicht persönlich kennt.(86)
In unserer Zeit sind auch viele andere gute Eigenschaften verbreitet, die aber bestimmte mögliche Gefahren in sich bergen, solange sie nicht getauft sind. Unsere Aufgabe ist, ihren hohen Wert zu erkennen, ohne ihre Gefahren zu übersehen, so dass wir alle positiven Aspekte sehen und taufen, und dadurch von den Gefahren befreien können. So werden wir das „instaurare omnia in Christo" erfüllen - das Gründen aller Dinge in Christus.
Ein schöner Zug unserer Zeit, wenigstens im Bereich der abendländischen Kultur im freien Europa, in Kanada und den Vereinigten Staaten, ist der Sinn für soziale Gerechtigkeit, der das Leben in diesen Ländern prägt.
Während in früheren Zeiten Unterschiede in den äußeren Lebensbedingungen zu sehr als gottgegebene Realität betrachtet wurden, die den wenigen Begüterten nicht die Verpflichtung auferlegte, die Lebensumstände der unteren Klassen zu verbessern, ist heute der Sinn für die Rechte aller Menschen auf angemessene Löhne und auf Schutz gegen wirtschaftliche Ausbeutung weit verbreitet. Dieses Erwachen des Sinnes für soziale Verantwortlichkeit ist sicher ein tief positiver Zug in der Mentalität unserer Zeit. Aber Hand in Hand mit diesem positiven Zug finden wir oft auch eine Überbetonung der Rechte, ein Schwinden der Dankbarkeit und eine stolze Abneigung gegen Geschenke. Solche Haltungen führen zu einer Entmenschlichung der Gesellschaft, zu einer Neigung, jede persönliche Großzügigkeit durch Institutionen und Gesetze zu ersetzen, und zu einer Auflösung jener Freude, die uns allein die Dankbarkeit verleihen kann, die wir erleben, wenn wir etwas empfangen, was wir nicht als unser Recht fordern können. Das ist die Kehrseite eines äußerst guten Zuges unserer Zeit. Wir müssen die Gefahr dieser Kehrseite in Rechnung setzen, wenn wir die Früchte der sozialen Gerechtigkeit vor dieser Gefahr bewahren wollen. Dann können wir die soziale Gerechtigkeit auch klar von jener Tyrannei trennen, in der man dem Individuum durch Staatsgesetze moralische Haltungen aufzwingen will, die wesensgemäß nur spontan dem sittlichen Gewissen des Einzelnen entspringen können.(87) Ein anderer positiver Zug unserer Zeit ist, dass man danach trachtet, Kulturgüter auch der Allgemeinheit zugänglich zu machen, statt sie als Privileg der „oberen Zehntausend" zu betrachten. Natürlich bleibt dabei wahr, dass wirkliches Verständnis für Musik, Literatur, oder die schönen Künste immer vom künstlerischen Sinn des Individuums abhängen wird, secundum modum recipientis, (je nach dem Maße des Empfangenden), und dass deshalb immer ein großer Unterschied im Verständnis von Kunstwerken bestehen bleiben wird. Aber gerade weil das Maß künstlerischer Empfänglichkeit nicht mit dem wirtschaftlichen Stand der Menschen parallel läuft, stellt diese allgemeine Zugänglichkeit der Kulturgüter einen echten Fortschritt dar. Sie wird durch viele Einrichtungen in den Vereinigten Staaten und in Europa, z. B. durch die Volkshochschulen und die „Erwachsenenbildung", noch ausgeweitet. Die Mittel, die dieser Verbreitung der Kultur von der Technik geboten werden, sind an sich etwas Positives. Sie sind wertvoll, solange sie der Übertragung und Ausbreitung echter Kultur dienen (wirklich guter Musik, guter Vorträge usw.!) Diese Massenmedien haben aber insofern auch eine Kehrseite, als sie in gleicher Weise die Ausbreitung von künstlerisch wertlosem Zeug, von Unsittlichkeit, von billigen oder sogar gefährlichen Ideen erleichtern. In diesem Fall dienen sie dazu, die Seelen der Menschen vollständiger und allgemeiner zu vergiften als dies je zuvor möglich war.
Jeder, der - ganz zu Recht - den positiven Wert der Massenmedien hervorhebt, hat deshalb auch die entsprechende Pflicht, vor ihrem Missbrauch zu warnen und den Sinn für die Verantwortung bei ihrem Gebrauch zu wecken. Die Sorge dafür, Menschen aller Stände die Kultur zugänglich zu machen, sollte sich ebenso sehr im Kampf gegen die Ausbreitung von Gift äußern, wie in dem Bemühen, immer mehr Menschen mit der Wohltat hoher kultureller Güter zu beschenken.
Was den technischen Fortschritt als solchen angeht, so müssen wir sagen, dass es mehr als zweifelhaft ist, ob sich die Welt durch ihn wirklich zum Besseren verändert hat. Die Übel, die mit der Technisierung und Industrialisierung der Welt Hand in Hand gehen, sind offenbar. Aber die Industrialisierung ist eine der wenigen Entwicklungen in der Geschichte, die wirklich praktisch unaufhaltsam sind. Während bezüglich aller geistigen Dinge die Meinung, man könne sie nicht ändern, völlig falsch ist, während es ein schwerer Irrtum ist zu glauben, dass ein Gesetz der Geschichte uns Marxismus, Kollektivismus oder Säkularismus unaufhaltsam auferlegt, gibt es anderseits wirklich Dinge, die nicht durch ein freies Eingreifen der Menschen aufgehalten werden können. Technischer Fortschritt ist ein Beispiel dafür. Also müssen wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Vor allem müssen wir der Entstellung unserer Geisteshaltung durch die Technik widerstehen, die dadurch eintritt, dass wir sie zu einem Modellbild, zu einer Art causa exemplaris für alle übrigen Lebensbereiche machen. Dies würde uns dazu führen, einem Roboteridol zu huldigen.
Ein anderer, ausgesprochen positiver Zug unserer Zeit ist die größere Achtung vor der Seele des Kindes. Der Geist, der die edle Maria Montessori erfüllte, hat weite Verbreitung gefunden; wir finden ein Abnehmen der Gewohnheit, Kinder zu schlagen, und des Missbrauchs von Autorität im allgemeinen. Aber dieser positive Zug unserer Zeit hat auch seine Kehrseite. Deweys unglückseliges Ideal, jede Erziehung zu objektiven Werten auszuschließen und durch eine rein immanente Logik zu ersetzen, hat zu einer überaus bedauerlichen Ausschaltung wirklicher Erziehung geführt. Der Immanentismus, den er verteidigte, wird in keiner Weise der Natur des Menschen gerecht als einer Person mit sinnvollen, intentionalen Beziehungen zu einer Welt der Objekte. All zu viele moderne Erzieher haben das große Übel verkannt, das einem Kind zugefügt wird, wenn man jede geistige Anregung und jedes liebevolle Erschließen von Werten als eine Beschränkung seiner Freiheit betrachtet und die bedeutenden Aufgaben echter Autorität und gerechte Bestrafung bewusst ausschließt. Die neue Ehrfurcht vor der Seele des Kindes sollte deshalb mit dem Kampf gegen die falschen Vorstellungen von Erziehung und Freiheit verbunden sein, die heute mit an sich edlen Bestrebungen leider oft vermischt sind.
Diese Hinweise mögen genügen, deutlich zu machen, dass wir in keiner Weise für die positiven Aspekte unserer Zeit blind sind. Aber diese zu fördern und die Möglichkeiten zu nützen, die sie uns für das Apostolat bieten, kann nie in einer bloßen Anpassung bestehen. Sie müssen gleichsam getauft, in Christus neu gegründet werden (instaurari). Und untrennbar mit diesem Vorgang der Aufnahme ist der Kampf gegen alle negativen Elemente verbunden, die infolge des unseligen Rhythmus von falschen Reaktionen, den wir früher besprochen haben, mit den guten Zügen vermischt sind. Auch hier können wir wieder den gewaltigen Unterschied zwischen den Konzilsdekreten und den Ideen und Taten progressistischer Katholiken sehen.
Viele Katholiken sind kritiklos in den Geist unserer Zeit verliebt; sie bemühen sich um eine Anpassung der Kirche an diesen Geist. Selten sehen sie die guten Züge des „Zeitgeistes" zusammen mit ihren Kehrseiten - von den gänzlich schlechten Zügen unserer Zeit gar nicht zu reden. In Wirklichkeit aber verlangt die Zeit nach dem Gegenteil einer unterscheidungslosen Begeisterung für das Neue. Eine der größten Aufgaben, zu deren Erfüllung die Christen heute aufgerufen sind, ist gerade eine klare und nüchterne Untersuchung nicht nur des Guten, das man heute findet, sondern auch der Gefahren der Zeit.
11. Kapitel: HISTORISCHER RELATIVISMUS
Wer ohne große Vorurteile auf viele der intellektuellen Strömungen unserer Zeit blickt, muss ein überaus verhängnisvolles Phänomen beobachten: Man setzt vielfach die historisch soziologische Wirklichkeit von Ideen an die Stelle der Wahrheit.
Es ist gewiss eine sehr interessante Tatsache, dass in einer gegebenen historischen Epoche gewisse Ideen und Ideale eine große Rolle spielen, gewisse Strömungen, eine gewisse Mentalität. Wir brauchen nur an die Rolle zu denken, die die ritterliche Haltung der Troubadours und ihre neue Einstellung der Frau gegenüber im 12. und 13. Jahrhundert spielte, oder an die Rolle des Rationalismus im 18. Jahrhundert, oder an den Geist der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit all seinem Einfluss auf Lebensgefühl, Religion und Philosophie. Diese und viele andere wohl bekannte Beispiele nötigen uns, anzuerkennen, dass es tatsächlich eine interpersonale, historisch-soziologische Realität von Ideen, Idealen, und Haltungen dem Leben und der Welt gegenüber gibt.
Wie wir noch sehen werden, bedeutet dies natürlich nicht, dass in irgendeiner Epoche alle Menschen von diesen Idealen und Haltungen beherrscht sind. Es wäre eine große Übervereinfachung, eine geschichtliche Epoche als ein geschlossenes Ganzes zu betrachten, in dem alles durch bestimmte gemeinsame Ideale und eine gemeinsame Geistigkeit determiniert oder auch nur gefärbt ist. Jeder, der vorurteilslos auf die Geschichte blickt und nicht im Netz des Hegelianismus gefangen ist, muss zugeben, dass es in jeder historischen Epoche sowohl viele einander entgegengesetzte Strömungen gibt als auch viele Einzelpersönlichkeiten die von der allgemeinen Zeitströmung unabhängig sind und sie in einem Geist großer Objektivität und geistiger Freiheit bekämpfen - wie ein Sokrates, Plato, Augustinus, Pascal, Kierkegaard oder Newman.
Aber trotzdem ist es eine Tatsache, dass in einer gegebenen Epoche bestimmte Ideale und intellektuelle Haltungen bis zu einem solchen Grad eine interpersonale, historische Wirklichkeit gewinnen, dass man sagen kann: „Sie liegen in der Luft". Sie sind lebendig, färben und formen das geistige Klima einer Epoche. Diese historische Lebendigkeit mag auf bestimmte Länder beschränkt sein. Sie kann auch universaler sein und in einem bestimmten historischen Augenblick einen ganzen Kulturkreis beherrschen.
Der weitverbreitete und verhängnisvolle Irrtum unserer Zeit ist nun, diese interpersonale, soziale Realität, diese historische Lebendigkeit bestimmter Ideen, Ideologien oder Haltungen mit ihrer objektiven Gültigkeit zu verwechseln. Man versucht, ihre historische Lebendigkeit für ihre Wahrheit, ihre Gültigkeit und ihren Wert zu substituieren. Die Kategorien von wahr und falsch werden durch die Frage ersetzt, ob etwas heutzutage wirksam ist, oder ob es zu einer früheren Zeit gehört, ob es „geschichtsgerecht" oder „überholt", ob es „lebendig" oder „tot" ist. Die Frage, ob etwas „dynamisch" ist, scheint wichtiger zu sein, als ob es wahr und gut ist. Diese Substituierung ist ein offenkundiges Symptom für einen intellektuellen und sittlichen Verfall. Wenn in früheren Zeiten bestimmte Ideen und Ideale wegen ihrer historischen Kraft auf viele Geister großen Einfluss gewannen, so waren ihre Anhänger dennoch von ihrer Wahrheit und ihrem Wert überzeugt. Heute genügt jedoch vielfach allein die Tatsache der interpersonal-historischen Realität einer Idee dafür, dass Leute für sie schwärmen und sich unter ihrem Schutz wohlfühlen.
Bei dieser Entthronung der Wahrheit durch den sehr verworrenen Begriff von Lebendigkeit ist der Einfluss des Pragmatismus offenkundig. Fragen der Wahrheit und des Wertes werden als altmodisch, abstrakt und ohne jedes Interesse angesehen. Die allein ausschlaggebende Frage ist, ob etwas lebendig, dynamisch, ob es wirksam ist. Dies verrät den Wunsch, die Art der Verifikation naturwissenschaftlicher Hypothesen (durch die Beobachtung ihrer Brauchbarkeit, der Tatsache, dass sie „arbeiten") auf letzte metaphysische Wirklichkeiten auszudehnen. Das auffallendste Beispiel für dieses ausschließliche Interesse an der historisch-soziologischen Lebendigkeit und der damit verbundenen Ausschaltung der Wahrheitsfrage ist das „Gott ist tot"-Gefasel und die Art, wie es ernst genommen wird. Zweifellos kann dieser Satz nur bedeuten, dass der Glaube der Menschen an Gott nicht mehr lebendig ist. In demselben Sinn sagen wir etwa: Apollo oder Pan ist tot. Die Frage, ob Gott in Wirklichkeit existiert, hat offenbar für diese intellektuellen Totengräber kein Interesse, denn sobald diese metaphysische Frage gestellt wird, kann die Antwort nur entweder sein „Gott ist" oder „es gibt keinen Gott". Denn zu sagen, dass Gott wirklich existiert hat und dann gestorben ist, ist offenbar sinnlos, eine contradictio in adiecto (ein in sich widersprüchlicher Satz). Aber die Wahrheit ist entthront worden: die Frage nach Gottes objektiver Existenz wird nicht einmal mehr gestellt, weil man sie nicht mehr für bedeutsam erachtet. Man setzt ab ovo voraus, dass Gott eine Fiktion wie Apollo oder Pan ist und so fragt man nur mehr, ob diese erfundene Idee noch eine historisch-soziologische Lebendigkeit besitzt oder nicht. Gewiss, man kann sagen, die blaue Blume der Romantik ist tot, oder die griechische Mythologie ist tot. Solange man nur nach der historisch-soziologischen Lebendigkeit fragt, hat der Begriff des „Sterbens" einen gewissen Sinn.
Die Argumente, mit denen man das Schlagwort „Gott ist tot" stützt, beweisen vollends die Entthronung der Wahrheit und ihre Ersetzung durch den Begriff der historischen Lebendigkeit. Man hört Argumente wie die folgenden: „Gott ist tot, weil er sich in unserer Zeit als unwirksam erwiesen hat", oder „weil er nicht mehr in unsere Gesellschaftsordnung passt." Der intellektuelle und geistige Verfall unserer Zeit tritt besonders in der Tatsache zu Tage, dass solche oberflächlichen und dummen Äußerungen nicht nur in Zeitungen, sondern auch in Diskussionen an Universitäten so ernst genommen werden, ohne dass man dabei auch nur im mindesten wahrnimmt, dass hier stillschweigend die Wahrheitsfrage durch die Frage nach einer bloß historisch-soziologischen Realität ersetzt wird. Außerdem hält man den Satz „Gott ist tot" für eine neue und revolutionäre Äußerung, obwohl er nur ein oberflächliches Nachplappern Nietzsches ist.
Diese Entthronung der Wahrheit schließt verschiedene schwere Irrtümer ein. Erstens versucht man, die niemals veraltete edle Kraft der Wahrheit, und besonders der fundamentalen, metaphysischen und religiösen Wahrheit durch die kurzlebige soziologische Wirksamkeit und historische Modernität einer Idee zu ersetzen. Man versteht nicht mehr die ewige, unveränderliche Majestät der Wahrheit und ihre Anziehungskraft, von der der heilige Augustinus sagt: „Quid desiderat anima fortius quam veritatem?" („Was ersehnt die Seele mehr als die Wahrheit?") Man realisiert nicht mehr, dass, verglichen mit dem inneren Leben der Wahrheit, die bloße soziologische Realität einer Idee eine Eintagsfliege ist, ein flüchtiges Gebilde. Sie ist dazu bestimmt, über kurz oder lang durch andere Ideen, andere Strömungen, andere Haltungen, ersetzt zu werden. Doch während falsche Ideen nur im Sinne dieser kurzlebigen historischen Lebendigkeit wirklich sein können.
Was Kulturen angeht, so besitzt die Vielfalt einen Wert, ebenso wie der Pluralismus nationaler Charaktere. Wenn es jedoch um metaphysische oder ethische Wahrheit - und vor allem, wenn es um Religion geht - ist jeder Pluralismus ein Übel. Übel sind auch die vielen Schwankungen im Leben der Religion im Laufe der Geschichte. Pluralismus ist hier in keiner Weise wie im Fall der Kultur ein Zeichen von Leben, sondern einfach ein Symptom für die menschliche Gebrechlichkeit und das Ungenügen des Menschen. Große metaphysische und ethische Wahrheiten und die wahre Religion selbst sind dazu bestimmt, in den Menschen Wurzeln zu schlagen. Dass die historisch-soziologische Wirklichkeit hier die geschuldete Antwort(88) ist, verleiht dieser Lebendigkeit eine ganz eigene Bedeutung. Sie ist hier eine Herabkunft Christi in die Seele des Individuums und ein Errichten Seines Reiches in der interpersonalen Sphäre. Es ist die Dimension des Sieges Christi, von dem Er selbst sagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen."
Das Ersetzen der Wahrheit in ihrer transzendenten Existenz durch die soziologische Wirklichkeit ist ein Einsperren des Menschen und der Geschichte in einen trostlosen Immanentismus. Anderseits ist das Lebendigwerden der transzendenten Wahrheit im Menschen und in der Geschichte ein Sieg der Transzendenz über die Immanenz.
Diese Entthronung der Wahrheit ist der eigentliche Kern des historischen Relativismus. Im Unterschied zu früheren Formen des Relativismus ist er nicht eine Leugnung der Möglichkeit, absolute Wahrheit zu erreichen, sondern eher eine Interpretation der Wahrheit, in der die soziologische Realität die objektive, transzendente Existenz von etwas ersetzt. In diesem Sinn behauptet Professor Max Müller in München, die eigentliche Aufgabe des Philosophen bestehe darin, die Strömungen und Ideen begrifflich zu formulieren, die in seiner Zeit lebendig sind.(89) Man kann sogar von Philosophen die Meinung hören, dasselbe Wunder, das im Mittelalter ein Wunder gewesen sei, sei in unserer Zeit kein Wunder mehr - eine Behauptung, die unsinnig wäre, wenn die Wahrheitsfrage nicht durch die Frage der historisch-soziologischen Realität ersetzt worden wäre.
In der Philosophie Heideggers finden wir diese Substituierung in einer anderen Form wieder, wenn er behauptet, dass die Frage der Wahrheit oder Falschheit keinen Sinn gibt, solange etwas noch „unentdeckt" ist. So war nach ihm der Satz, dass die Sonne sich um die Erde bewegt, nicht falsch, bevor Kopernikus „entdeckte", dass sich die Erde um die Sonne dreht. Indem er die Realität der Wahrheit auf den Akt des Erkennens beschränkt, leugnet er jede transzendente Existenz, und jede transzendente Wahrheit.(90)
Die Ersetzung der Wahrheit durch die soziologisch-historische Realität bestimmter Ideen teilt das Schicksal jedes Relativismus, sowie aller Versuche, den elementaren Begriff der Wahrheit umzudeuten: es gibt letzte grundlegende Gegebenheiten, die man niemals leugnen kann, ohne sie stillschweigend und implizit wieder einzuführen.
Sein, Wahrheit, Erkenntnis sind solche letzte, unzurückführbare Gegebenheiten. So sehr auch der historische Relativist betont, an der Wahrheitsfrage nicht interessiert zu sein, da er sich nur um die interpersonale Lebendigkeit von Ideen kümmere, so setzt er doch in jedem Satz die Wahrheit voraus. Erstens beansprucht er für die Theorie Wahrheit, dass die Geschichte durch die Ideen charakterisiert sei, die in verschiedenen Epochen „in der Luft" liegen; zweitens erhebt die Feststellung, dass eine bestimmte Vorstellung jetzt „lebendig" sei, auch den Anspruch auf Wahrheit. über diese Frage kann man nämlich offenbar diskutieren. Der Kommunist wird behaupten, der Marxismus sei das Ideal der Stunde, die dynamisch wachsende Überzeugung; der Demokrat, die Idee der Demokratie liege in unserer Zeit in der Luft. Und in dieser Diskussion beansprucht ein jeder für seine Behauptung Wahrheit, Wahrheit in der klassischen, unveränderlichen, grundlegenden Bedeutung des Wortes.
Von den historischen Relativisten wird weiterhin gewöhnlich angenommen, dass die Verschiebung des Interesses von der Wahrheit auf die soziologisch-historische Realität einer Idee legitim sei und einen Fortschritt bedeute. Auch die Wahrheit dieser Behauptung wird stillschweigend vorausgesetzt - nämlich, dass diese Verschiebung wirklich einen Fortschritt bedeutet, wirklich das ist, was wir tun sollen. Dasselbe gilt für die Vorstellung, die Aufgabe des Philosophen bestehe darin, die Ideen zu formulieren, die in der Luft liegen. Wenn es um ihre eigenen Behauptungen geht, so beanspruchen Max Müller, Heidegger (und andere) Wahrheit im ursprünglichen Sinn. Es ist kein Zweifel darüber möglich, dass selbst ein Mann, der die allerabsurdeste Interpretation des Wahrheitsbegriffes erdacht hat, nicht umhin kann, den authentischen Wahrheitsbegriff vorauszusetzen und damit die beste und beredteste Widerlegung seiner „neuen" Interpretation zu liefern.
Die historische Lebendigkeit von Ideen trägt natürlich ungeheuer viel dazu bei, dass viele naive Menschen etwas für wahr halten. Für unkritische Geister ist die Tatsache, dass gewisse Ideen viele Anhänger besitzen, ein mächtiger Beweis für ihre Wahrheit. Dass diese Ideen völlig von außen auf sie zukommen, verleiht ihnen den Anschein von Objektivität, von einer Gültigkeit unabhängig von ihren eigenen Neigungen, und deshalb nehmen sie diese Ideen als wahr an. Für andere mag es mehr ein sozialer Druck auf ihren Herdeninstinkt sein, der sie diese Ideen aufschnappen lässt. Es sind dies die klassischen Wege, auf denen die doxa entsteht.
Anfälligkeit für die Dynamik populärer Ideen hat es immer gegeben; das ist eine typische Form der Gebrechlichkeit des menschlichen Geistes. Doch ist sie ganz verschieden von dem modernen Fehlen des Interesses für die Wahrheit, von der Vergiftung durch die „Lebendigkeit" von Ideen als solcher. Im ersten Fall wird die interpersonale, historische Realität von Ideen für einen Wahrheitsbeweis gehalten, oder sie ist die Ursache für ihre ahnungslose Übernahme. Auf alle Fälle hält man hier diese Ideen noch für wahr, und nicht nur für „in der Luft" liegend. Im Fall des modernen historischen Relativismus dagegen ersetzt man die Wahrheit ausdrücklich durch eine soziologische Realität: die Frage, die man angesichts einer Idee oder Theorie zu stellen hat, soll nur mehr lauten: Ist sie lebendig? Passt sie zum gegenwärtigen Zeitgeist?
12. Kapitel: EVOLUTIONISMUS, PROGRESSISMUS UND ECHTER FORTSCHRITT
Zwei andere gefährliche Zeitströmungen sind Evolutionismus und Progressismus. Diese Theorien unterscheiden sich vom historischen Relativismus darin, dass sie die Wahrheit nicht durch die historisch-soziologische Realität ersetzen. Sie meinen, jede nachfolgende Epoche sei der vorausgehenden an Wert überlegen und komme der Wahrheit näher. Sie sind also auch nicht in demselben Sinn relativistisch. Sie haben aber beide mit dem historischen Relativismus die unselige Illusion vom Vorrang der gegenwärtigen Zeit über alle früheren gemeinsam. Evolution und Fortschritt sind keine identischen Begriffe. Evolution betrifft die ontologische Sphäre. Es ist die naturwissenschaftlich nicht bewiesene Theorie, dass höheres Seiendes das Ergebnis von niedrigerem Seiendem ist(91) oder dass sich niedrigere Wesen in höhere verwandelt haben. Ob es eine solche Evolution im Bereich der apersonalen Natur gibt oder nicht, ist sehr umstritten. Doch den Begriff der Evolution auf den geschichtlichen Menschen, auf die Geschichte der Menschheit zu übertragen, ist offenbar sinnlos. Es gibt in der körperlichen Struktur des geschichtlichen Menschen keine Symptome einer ontologischen Veränderung, die genügen würden, eine Vorwärtsentwicklung anzuzeigen oder die Erlangung neuer geistiger Fähigkeiten wie des Intellekts oder des freien Willens. Und das ist die einzige Möglichkeit, auf die man den Begriff der „Evolution" zu Recht anwenden könnte. An diesem Punkt hört die „Evolution" deshalb auf, eine wissenschaftliche Hypothese zu sein, und wird zu einer höchst unwissenschaftlichen Ideologie - dem „Evolutionismus". Denn der Begriff einer Vorwärtsbewegung, die sich unabhängig vom freien Willen des Menschen vollzieht, unabhängig von seinen bewussten, intentionalen Akten, mit einem Wort ohne die freie Mitwirkung des Menschen, hat keinen Sinn, wenn man ihn auf seine Erkenntnis der mit Werten ausgestatteten Welt anwendet, auf seine Wertantworten(92), auf Freundschaft, Liebe, Sittlichkeit. Diejenigen, die den Begriff der Evolution auf die Geschichte der Menschheit ausdehnen möchten, sind in der Tat am Menschen als Person uninteressiert. Dieses fehlende Interesse für die Person drückt sich auch darin aus, dass die Sittlichkeit durch einen immanenten Prozess der Vervollkommnung ersetzt wird, der für den freien Willen und die Entscheidungen des Menschen keinen Platz lässt. Dies schließt eine völlige Depersonalisierung ein. Das ist einer der vielen schweren Irrtümer, die in der „Theologie-Fiktion“(93) Teilhard de Chardins enthalten sind.
Fortschritt im ursprünglichen Sinn bezieht sich hingegen auf eine qualitative und nicht auf eine ontologische Veränderung; ferner bezieht sich Fortschritt primär auf den Menschen als freie Person. Doch ist im Progressismus, der sich auf die Geschichte des Menschen bezieht, der Unterschied zwischen Evolution und Fortschritt im ursprünglichen Sinn insofern verwischt, als im Progressismus auch der Fortschritt im Sinne eines automatischen Vorgangs verstanden wird, obwohl er in Wirklichkeit die freie Mitwirkung des Menschen einschließt.
Hier gilt es jedoch einzusehen, dass diese These des Progressismus keineswegs durch die historischen Fakten bestätigt wird. Sie steht vielmehr ganz eindeutig im Widerspruch zur tatsächlichen Geschichte. Von Fortschritt kann man nur in bestimmten Bereichen sprechen. Es ist zweifellos wahr, dass der Mensch im Laufe der Geschichte eine unvergleichlich viel größere Kenntnis der materiellen Welt gewonnen hat. In den Naturwissenschaften. in der Medizin und vor allem in der Technik im weitesten Sinn des Wortes ist ein ungeheurer Fortschritt erreicht worden. Aber wenn wir nach einem wirklich menschlichen Leben fragen und dann vom Standpunkt eines wahren Humanismus auf die Geschichte blicken, so können wir unmöglich schließen, dass darin ein echter Fortschritt erreicht worden sei. In der kulturellen Entwicklung gibt es Aufstiege und Niedergänge. Es gibt Epochen von einer außerordentlichen kulturellen und geistigen Fülle, in denen oft aus einem Volk eine überwältigende Vielfalt von Genies hervorgeht. Perioden wie das fünfte Jahrhundert v. Chr. in Athen und das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert in Florenz sind aber geheimnisvolle Geschenke und in keiner Weise die Frucht eines ständigen Fortschritts. Ein automatischer Fortschritt in der menschlichen Geschichte, der - wie das Wachstum - einschließen würde, dass jeder Schritt vorwärts in der Zeit zugleich auch notwendig zu einer höheren Existenzstufe führt, steht hier offenbar außer Frage. Wer könnte behaupten, dass das zweite Jahrhundert v. Chr. auf einer höheren Kulturstufe stand als das fünfte Jahrhundert (v. Chr.) in Athen? Es ist unmöglich, die ständigen Auf und Nieder zu übersehen, die im Hinblick auf Kultur und wahren Humanismus in der Geschichte abwechseln. Doch wenn wir sagen, dass es vollkommen unhaltbar ist, eine stetige Aufwärtsentwicklung zu behaupten, so können wir dasselbe bezüglich eines Fortschritts sagen, der durch zwei Schritte vorwärts und einen Schritt rückwärts charakterisiert wäre. Die Tatsachen bestätigen in keiner Weise, dass es in der Geschichte auch nur einen solchen langsamen, unregelmäßigen Fortschritt gibt.
Der gewaltige Fortschritt, der in den Naturwissenschaften, in der Auswertung der Naturkräfte, in Technik und Medizin gemacht wurde und auch weiterhin gemacht werden wird, berechtigt uns in keiner Weise, von einem allgemeinen Fortschritt des Menschen in der Geschichte zu sprechen. Für jeden Menschen, der einen Sinn für Kultur hat, ist der gewaltige Niedergang klar, der heute im Bereich der Kunst, Architektur und Musik herrscht. Auch kann niemand einen allgemeinen Niedergang im Bereich der Philosophie leugnen. Wenn wir die Philosophie eines Platon und Aristoteles, eines heiligen Augustinus und heiligen Thomas oder eines Descartes mit logischem Positivismus, Pragmatismus Behaviorismus vergleichen, die einen so großen Einfluss auf das moderne Leben haben, ist es unmöglich, im Ernst und als ehrlicher Mensch von einem Fortschritt zu sprechen. Dasselbe gilt für den Lebensrhythmus, für Sitten, und vor allem für die Moral. Niemand kann behaupten, dass es in der Ehrfurcht, in der Tiefe einen Fortschritt gibt - und das heißt: im Bereich des eigentlich Menschlichen gibt es keinen Fortschritt.
Ein Fortschritt im vollen Sinn des Wortes (in Philosophie, Tugend, wahrer Menschlichkeit) ist nur im Leben einer individuellen Person möglich oder in bestimmten Bereichen menschlicher Tätigkeit innerhalb der Geschichte, nicht aber in der allgemeinen, gesamten Lebenshaltung der Menschen. Tatsächlich kann man vielmehr Zeichen einer zunehmenden Entmenschlichung feststellen. Diese ist oft geradezu die Folge außerordentlicher Fortschritte in Spezialfeldern menschlicher Tätigkeit. Hand in Hand mit dem Triumph der Technik und der Naturwissenschaften ist ohne jeden Zweifel das menschliche Leben weitgehend entmenschlicht worden. Gabriel Marcel hat diesen Prozess in seinem Buch „L'homme contre l'humain“(94) aufgezeigt und C. S. Lewis hat einige Züge dieser Entmenschlichung in seinem Buch „The Abolition of Man" analysiert. In den folgenden Kapiteln werden wir auf einige Formen dieser Entmenschlichung zurückkommen. Natürlich können alle diese verhängnisvollen Strömungen eines Tages verschwinden; eine Reaktion, um nicht zu sagen eine Rache der menschlichen Natur könnte sich gegen alle diese Einflüsse wenden. Aber gerade das würde wieder beweisen, dass es in der Geschichte der Menschheit keinen automatischen Fortschritt gibt, dass es in ihr als ganzer weder eine Entwicklung nach oben noch nach unten gibt.
Denen, die behaupten, es gäbe in der Geschichte wenigstens insofern einen Fortschritt, als die Achtung vor der Würde des Menschen, vor seinen Rechten und seiner politischen Freiheit ständig zunehme, können wir zweierlei entgegenhalten. Erstens: Das politische Gesicht unseres Jahrhunderts ist nicht nur durch die Demokratien Amerikas und Europas bestimmt, sondern auch durch die kommunistische Herrschaft über einen großen Teil der Menschheit, die sicherlich die systematischste und konsequenteste Leugnung der Würde und Rechte des Menschen darstellt, die es je gegeben hat. Sie übertrifft alle früheren wilden Tyrannenherrschaften. Unser Jahrhundert hat auch den Nationalsozialismus hervorgebracht, ein anderes, wenn auch weniger breites totalitäres System.
Zweitens: individuelle, politische Rechte sind nur ein Aspekt der Achtung der Würde des Menschen. Viele Züge der Demokratien unserer Zeit bedeuten einen großen Rückschritt in der bereits erreichten Achtung der Menschenwürde. Schon die Menschenplanung (human engineering) ist nicht auf die kommunistischen Länder beschränkt; dann aber ist der verhängnisvolle Amoralismus, der in vielen Gesellschaften der modernen Welt so verbreitet ist, ein noch viel tieferer Widerspruch zur menschlichen Würde als irgendeine politische Sklaverei. Die wachsende Blindheit für die wahre Würde des Menschen findet z. B. in der Art ihren Ausdruck, in der die schrecklichsten sexuellen Perversionen (wie Homosexualität) in Filmen gezeigt und von manchen Psychiatern empfohlen werden. Solche Verirrungen haben immer existiert, aber ihr verabscheuungswürdiger, antimoralischer, antimenschlicher Charakter wurde allgemein anerkannt. Die zunehmend neutrale Einstellung gegenüber diesen Perversionen und ihre ständige Zunahme ist die äußerste Stufe der Entmenschlichung und Depersonalisierung und übertrifft alles, was es - wenigstens seit das Christentum besteht je an Entwürdigung des Menschen gegeben hat. Der Versuch, an die Stelle des metaphysischen und moralischen Bildes vom Menschen und seinem Verhalten immer mehr ein psychologisches und soziologisches zu setzen, beweist vollends, dass man den Menschen nicht mehr als Person ernst nimmt; man leugnet damit nämlich seine Würde, seine Transzendenz(95) und seine Freiheit. Das tiefste Merkmal der Würde des Menschen ist, dass er Träger moralischer Werte werden kann, dass er für sein Handeln verantwortlich ist. Der Mensch ist seiner Natur nach ein metaphysisches Wesen, und dieser sein metaphysischer, transzendenter Charakter ist untrennbar mit seiner Willensfreiheit verknüpft, mit der Fähigkeit, sittlich gut zu sein oder zu sündigen. Wenn wir den Menschen aus der Welt von Gut und Böse herausnehmen, so sind wir zu einer Unkenntnis seines wahren Wesens verurteilt; wir haben es dann mit einem „es" und nicht mehr mit einem personalen Wesen zu tun. Es liegt eine Ironie darin, dass diese pseudopsychologische Betrachtungsweise gewöhnlich als eine „gütigere, freundlichere" Haltung Personen gegenüber gedeutet wird als die moralische Betrachtungsweise, als Zeichen einer größeren Einfühlung oder größerer Sympathie für die Menschen. In Wirklichkeit ist sie die größte Beleidigung der menschlichen Würde.
Man könnte jedoch einwenden: Es gibt offenbar trotzdem einen Fortschritt in der Geschichte; niemand kann die Tatsache bestreiten, dass das menschliche Universum im Lauf der Geschichte immer reicher wird. Selbst in kulturell mittelmäßigen Epochen gibt es immer einige neue, wertvolle Beiträge.
Und das ist tatsächlich wahr; wenn wir nicht an den allgemeinen kulturellen Stand einer Zeit denken, sondern nur an die geistigen und kulturellen Reichtümer, die in früheren Zeiten aufgehäuft wurden und die durch die Tradition potentiell den jeweils Lebenden zugänglich sind, dann wird das menschliche Universum objektiv immer reicher. Aber diese Bereicherung kann man nicht adäquat als „Fortschritt" bezeichnen.
Es ist wahr, dass ein Mensch, der im 19. Jahrhundert lebte, einen Gewinn daraus ziehen konnte, dass die Welt sowohl durch die architektonischen Wunderwerke des Mittelalters wie durch die geistige Herrlichkeit der griechischen Antike bereichert worden war, durch die große Welt der Musik des 17., 18. und 19. Jahrhunderts ebenso wie durch die einzigartige Blüte der Malerei und Skulptur in der Renaissance. Was Bernhard von Chartres von der Philosophie gesagt hat - dass wir jetzt mehr sehen, weil wir auf den Schultern geistiger Riesen der Vergangenheit stehen, wie Plato, Aristoteles, Augustinus - ist für die ganze geistige Welt wahr. Die Menschen sind in einer Zeit unvergleichlich reicher geworden, in der die geistigen Schätze eines Dante, Shakespeare, Cervantes, Moliere, Goethe, Dostojewski..., denen eines Aischylos und Sophokles hinzugefügt wurden. Wie unvergleichlich viel bedeutungsvoller ist das menschliche Universum durch Bach, Mozart und Beethoven geworden!
Doch obwohl im Laufe der Geschichte eine solche Bereicherung stattgefunden hat, gibt es auch eine entsprechende Verarmung. Wie viele herrliche Kunstwerke sind durch Kriege, Brände, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen zerstört worden? Wie viel von der Schönheit der Natur ist durch die Industrialisierung verdorben, wie viele herrliche Gebäude sind abgerissen worden, um durch Fabriken oder andere rein funktionelle Klötze ersetzt zu werden? Außerdem aber gibt es auch keine Garantie dafür, dass die Menschen, denen die Tradition eine größere Fülle kultureller Schätze anbietet, dieses Geschenk zu schätzen wissen. Ihr intellektuelles und geistiges Niveau mag zu einem solchen Ausmaß degeneriert sein, dass sie ihr überlegenes kulturelles Erbe nicht mehr verstehen. Deshalb bedeutet die objektive Bereicherung keinen Fortschritt für spätere Perioden der Geschichte. Sie können im Gegenteil - verwirrt durch die Fülle der für sie unverständlichen Größe der Vergangenheit – auf eine viel tiefere Stufe herabsinken. Ja noch mehr, man kann sagen, dass die Bereicherung des menschlichen Universums im Laufe der Geschichte durch alle Schätze der Kultur, alle großen Einsichten und Erfindungen, kaum dazu führt, dass der Beitrag oder die geistige Höhe einer späteren Periode größer ist, als die einer früheren. Die Geschichte lehrt uns im Gegenteil, dass die Leistungen der Griechen im Bereich der Plastik und der Literatur manchmal erreicht, niemals aber übertroffen worden sind. Dasselbe gilt für Dante, Shakespeare, Cervantes, Michelangelo, Bach, Mozart, Beethoven. Die Größe ihrer Werke ist später nicht einmal erreicht worden. Für diese Bereiche der Kunst, nämlich was die schöpferische Tätigkeit, (und nicht die Entwicklung einer Technik) betrifft, lässt sich das Wort Bernhards von Chartre nicht anwenden. Schöpferische Kunst ist ein reines, individuelles Geschenk. Und es ist sogar für spätere Generationen schwerer als für frühere, große Kunstwerke zu schaffen.
Doch Bernhard von Chartre hat von der Philosophie gesprochen, und hier ist es tatsächlich so, dass wir mehr sehen könnten als die Riesen der Vergangenheit dank ihrer Leistungen; aber selbst wenn wir uns diesen großen Vorteil zunutze machten und ein Stück weiter in die Wahrheit eindrängen, so würde das keineswegs bedeuten,
dass unser Beitrag größer wäre als der jener Riesen, auf deren Schultern wir stehen. Das ist ja gerade, was der berühmte Ausspruch in aller Bescheidenheit andeuten sollte. Die Größe des philosophischen Beitrags Platons ist niemals übertroffen worden; doch ein anderer Riese, der auf seinen Schultern stand, der heilige Augustinus, eroberte einen neuen Bereich der Wahrheit. Die Geschichte der Philosophie zeigt jedoch, dass im allgemeinen nicht einer auf den Schultern des andern steht. Im Gegenteil finden wir oft, dass die gültigen Einsichten der Vergangenheit ignoriert oder sogar geleugnet werden. Nur in den Naturwissenschaften gibt es eine immanente Logik, die sowohl zu einem gerechten Anerkennen früherer Ergebnisse als auch zu weiteren Beiträgen führt, also echten Fortschritt.
Progressismus und Evolutionismus sind arge Illusionen. Sie erzeugen beide eine unbegründete und unterscheidungslose Begeisterung für alles, was neu ist und einen Optimismus, der für die Gefahren der gegenwärtigen Zeit blind macht. Die Jünger des Progressismus sind aber zugleich auch die eigentlichen Totengräber jedes möglichen Fortschritts. Indem sie sich gegen die Tradition auflehnen, indem sie sich selbst ihren Vorfahren gegenüber für überlegen halten, indem sie an einen automatischen Fortschritt glauben, versäumen sie gerade den wirklichen Vorteil, von dem Bernhard von Chartre spricht. Sie weigern sich, auf den Schultern von Riesen zu stehen; sie stehen lieber auf ihren eigenen Füßen in der eitlen Illusion, dass sie mehr als die Riesen sehen können aufgrund des automatischen geschichtlichen Fortschritts, der sie selbst zu Riesen gemacht hat. Im Evolutionismus, wie er z. B. von Teilhard de Chardin vertreten wird, sind die verhängnisvollen Konsequenzen noch klarer. Die Anwendung einer rein biologischen Theorie auf den geschichtlichen Menschen schließt in Wirklichkeit auch einen völligen Amoralismus ein, weil ein sich selbst perfektionierender Fortschritt für den freien Willen keinen Platz lässt. Die Depersonalisierung als unvermeidliche Folge der vagen Theorien von Teilhard de Chardin ist vor allem in seinem Ideal von der „Übermenschheit" greifbar, einem Endstadium, in dem die individuelle Person in einem kollektiven Bewusstsein aufgeht.(96)
Nachdem wir gezeigt haben, dass die Vorstellung von einem automatischen Fortschritt in der Geschichte durch die Tatsachen nicht im geringsten bestätigt wird und daher illusorisch ist, wollen wir nun die Natur des echten Fortschritts erforschen, den wir erhoffen und um den wir uns bemühen sollten.
Erstens kann es einen sittlichen und religiösen Fortschritt im Leben des einzelnen Menschen geben. Dieser hat nichts mit einer Änderung unserer Überzeugungen zu tun - vorausgesetzt, dass sie wahr sind - sondern besteht vielmehr in einem diesen Wahrheiten und Werten angemesseneren Leben.
Echter Fortschritt in einem individuellen Leben schließt deshalb gerade Beharrlichkeit, Kontinuität ein -Treue gegenüber den unveränderlichen Werten.(97)
Er kann in keiner Weise als „Evolution" aufgefasst werden. Doch die Beharrlichkeit in unserer Hingabe an Gott, an Werte und an die Wahrheit ist gerade der Grund für eine Änderung unserer Haltung, indem wir uns diesen Idealen mehr und mehr anpassen. Wir werden im IV. Teil ausführlicher vom religiösen Fortschritt handeln. Wir möchten aber doch schon hier betonen, dass Kontinuität und Beharrlichkeit die notwendige Grundlage des Fortschritts im christlichen Leben sind. Fortschreiten im Sinne einer immer treueren Nachfolge Christi, eines sich immer mehr in Christus Umgestalten-Lassens, schließt eindeutig eine tiefe Treue Ihm gegenüber und einen unerschütterlichen Glauben an Ihn ein. Jede Hinwendung zu falschen Propheten ist nicht nur ein Rückschritt, der allen Fortschritt zerstört, den wir je erreicht haben können, sondern eine ausgesprochene Häresie.
Echter Fortschritt bezieht sich also auf eine Änderung des Ausmaßes, in dem man dem wahren Ziel seines Lebens entsprechend lebt. Unser Ziel ändert sich nicht, aber wir wachsen in der Erfüllung unserer sittlichen Verpflichtungen, im Erlangen von moralischen Tugenden, in sittlicher Bewusstheit, Treue und Beharrlichkeit. Das ist der Fortschritt, um den ein jeder ringen sollte, den wir erhoffen sollen und der mit der Gnade Gottes erreicht werden kann. Ebenso gibt es auch einen echten Fortschritt auf der Ebene der Gemeinschaft. Er besteht in einer größeren Konformität zwischen dem Leben einer Gemeinschaft und den unveränderlichen, göttlichen Normen.
Jedoch: wenn ein Mensch eine sittliche Bekehrung erlebt, eine völlige sittliche Änderung; wenn er moralisch schIechten Ideen widersagt, die sittliche Wertblindheit überwindet und seinen Weg zu wahrer Sittlichkeit findet, so wäre es ein äußerstes „Understatement", um nicht zu sagen schwer irreführend, von einem „Fortschritt" zu sprechen. In einem solchen Fall steht man vor einer Bekehrung, einer metanoia, einem Übergang vom Irrtum zur Wahrheit, einer Abkehr vom Bösen und Hinwendung zum Guten, einer völligen Änderung der Überzeugungen, der letzten persönlichen Ziele. Dies Fortschritt zu nennen wäre absolut falsch. Denn hier geht es nicht um einen Aufstieg von einer niedrigeren Stufe zu einer höheren, sondern vielmehr um einen Übergang von der Dunkelheit zum Licht, um eine Umkehr vom Bösen zum Guten. Es gehört zur Natur des Menschen als eines Wesens, das auf Grund unveränderlicher Normen Verpflichtungen unterworfen ist, sich um den Fortschritt im eigenen Leben und im Leben anderer zu bemühen, sowie auch um das Fortschreiten der Gerechtigkeit und des Friedens in der Gesellschaft. Dieser Fortschritt hat nichts mit dem automatischen Fortschritt des Evolutionismus und Progressismus zu tun und er steht natürlich in schärfstem Gegensatz zum historischen Relativismus. Wir wiederholen: Die Progressisten sind die Totengräber des wahren Fortschritts. Ihre Annahme, dass automatischer Fortschritt ein Gesetz der Geschichte sei, leugnet die moralische Verantwortlichkeit, von der jeder wahre Fortschritt abhängt. Wenn sie recht hätten, müssten wir um den Fortschritt gar nicht kämpfen. Ihr Wunsch, alle empfangenen Wahrheiten und Werte durch die neuesten Ideen zu ersetzen, unterhöhlt die Treue und Beharrlichkeit, durch die allein wahrer Fortschritt erreicht wird. Für sie ist es der Gang der Geschichte, der uns über Gültigkeit und Wert eines Zieles belehrt, und nicht das Wesen der Sache selbst; ihre Idolatrie des Fortschritts ist deshalb nichts als die Vergiftung durch die Illusion ihrer eigenen Überlegenheit. Die Progressisten ersetzen Kontinuität durch Diskontinuität und machen Fortschritt - der gerade im Voranschreiten in Richtung auf ein unveränderliches Ziel hin besteht - unmöglich. Ihre Verwechslung von Wandel als solchem mit Lebendigkeit, ihre Leugnung der unwandelbaren Wahrheit und ewiger Werte als Grundlage jeden echten Fortschritts, ihre Ablehnung der Wahrheit, dass die Umgestaltung in Christus, die Verähnlichung mit Gott,(98) „in dem es keinen Wechsel und keinen Schatten von Veränderung gibt" (Jak. 1, 13), das Ziel jeden wahren religiösen Fortschritts ist - all dies steht in schärfstem Gegensatz zur Lehre der Kirche, wie sie auch im II. Vatikanischen Konzil ihren Ausdruck findet:
„Affirmat insuper Ecclesia omnibus mutationibus multa subesse quae non mutantur, quaeque fundamentum suum ultimum in Christo habent, qui est heri, ho die Ipse et in saecula", (Cf. Hebr. 13, 8) „Omnia membra Ei conformari oportet, donec Christus formetur in eis." „Die Kirche bekennt überdies, dass allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund in Christus hat, der Derselbe ist, gestern, heute und in Ewigkeit." (Vgl. Hebr. 13, 8).(99)
„Alle Glieder müssen Ihm gleichgestaltet werden, bis Christus in ihnen Gestalt gewinnt."(100)
13. Kapitel: WISSENSCHAFTSFETISCHISMUS
In unserer Zeit sind die Naturwissenschaften und ihre Methoden immer mehr das Modellbild für alle Arten der Erkenntnis geworden. Selbst Attribute wie „objektiv“, „kritisch", „seriös", „zuverlässig", „nüchtern" werden mehr oder weniger mit „wissenschaftlich" identifiziert, und den Begriff des „Wissenschaftlichen" versteht man fast ausschließlich im Sinne der Naturwissenschaften. Folge davon ist, dass die systematische Erforschung jedes Gegenstandes immer mehr von dem Versuch beherrscht wird, die Art von Objektivierung und Neutralisierung erreichen, die in Laboratorien herrscht.
Die magische Anziehungskraft, die das Idealmodell der Naturwissenschaften auf die überklugen Intellektuellen unserer Zeit ausübt, ist so groß, dass es selbst da, wo sie mit Gegenständen zu tun haben, die gänzlich von denen der Naturwissenschaft verschieden sind, wie in Anthropologie, Soziologie und Psychologie - ihre größte Befriedigung ausmacht, erklären zu können, ihre Analyse „wissenschaftlich." Dadurch wollen sie ausdrücken, dass ihre Untersuchungsmethode ähnlich ist wie die der Naturwissenschaften, und vor allem, dass sie von Philosophie unabhängig ist. Sie verkennen die Tatsache, dass verschiedene Gegenstände jeweils verschiedene Untersuchungsmethoden verlangen, und übersehen dabei außerdem, dass das gewaltsame übernehmen naturwissenschaftlicher Methoden in Wirklichkeit eine philosophische Stellungnahme einschließt.(101) Doch die Erkenntniseinstellung, in den Naturwissenschaften so fruchtbar ist, wird tödliches Gift, sowie man sie auf die Wissenschaften vom Menschen anwendet. Sie führt unausweichlich zu Oberflächlichkeit, Entstellung der Wirklichkeit und Pseudo-Wissenschaft.(102)
Echte Wissenschaft widerspricht in keiner Weise der Philosophie. Ein unvoreingenommener Naturwissenschaftler weiß, dass Philosophie und Wissenschaft(103) sehr verschiedene Gegenstände und Aufgaben haben und dass demgemäss ihre Untersuchungsmethoden verschieden sein müssen. Man ist sich heute allgemein darüber klar, dass wissenschaftliche Fragen nicht von der Philosophie beantwortet werden können. Unglücklicherweise versteht man nicht ebenso gut, dass philosophische Fragen niemals mit Hilfe empirischer, wissenschaftlicher Methoden gelöst werden können. Das trifft leider ebenso für viele Philosophieprofessoren zu wie für die Allgemeinheit der halbgebildeten Intellektuellen unserer Zeit. Sofern diese Menschen philosophische Fragen überhaupt ernst nehmen und einer Untersuchung für wert halten, nehmen sie an, dass allein die Untersuchungs- und Verifikationsmethoden der Naturwissenschaften für ihre Beantwortung sorgen können.
Der Einbruch der „Wissenschaft" in den Bereich der Philosophie, den wir in unserer Zeit erleben, bedeutet, dass wir vom Immanentismus überschwemmt werden. Außer den arroganten übergriffen derer, die die Objektivierung einer Laboratoriumswissenschaft auf alle menschlichen Fragen ausdehnen möchten, führt dieser Immanentismus zu einer Kastrierung der Fähigkeit philosophischen Erkennens. Er bedeutet eine Umkehrung des Vorgangs, in dem der Mensch aus dem Netzwerk der ihn umgebenden Dinge heraustritt und von einem gewissen Abstand aus auf das Seiende blickt. Dieses Abstandnehmen hat den Menschen fähig gemacht zu staunen und nach dem zu fragen, was Gabriel Marcel die Geheimnisse des Seienden nennt.
Die moderne Verdrängung der Philosophie ist das genaue Gegenteil der bewundernswürdigen Emanzipation des menschlichen Geistes, die mit den Vorsokratikern in Griechenland beginnt und in Platon und Aristoteles gipfelt. Dieses Auftauchen des Geistes war wesenhaft eine Befreiung des Menschen von einer rein pragmatischen Einstellung den Dingen gegenüber; zur ausschließlichen Haltung des homo faber trat die des homo sapiens. Im goldenen Zeitalter der griechischen Philosophie fand diese Entwicklung ihren Höhepunkt, und ihr sind ähnliche intellektuelle Triumphe auf vielen Gebieten zu verdanken. Aus ihr ist auch die Wissenschaft geboren. Die Verdrängung der Philosophie, der Mutter der Wissenschaften im Namen der „Wissenschaft", wie sie heute allgemein versucht wird, ist ein rückschrittlicher Prozess, in dem man jene großartige Emanzipation des Geistes wieder aufgibt. Alle ausgeklügelten Laboratoriumstechniken und alles Geschwätz von Objektivität verschleiert nur ein Zurücksinken in die Dinge, einen immanentistischen Verfall. Philosophische Forschung mit ihrer Befreiung von den Fesseln des Pragmatismus wird tatsächlich durch laboratoriumshafte Objektivierung ersetzt, die trotz ihrer Neutralität mit Pragmatismus beladen ist. Dies aber bedeutet eine Preisgabe philosophischer Bewusstheit, Empfänglichkeit und Tiefe der Einsicht zugunsten der platten Faktizität eines reinen Immanentismus.
Die Totengräber der Philosophie fallen einer Selbsttäuschung zum Opfer, indem sie glauben, sie seien die wahren Realisten im Gegensatz zu den abstrakten und unrealistischen Philosophen. Denn wahrer Realismus schließt vor allem ein Erwachen für die metaphysische Situation des Menschen ein und eine staunende Erforschung der letzten Wirklichkeiten, die die Grundlage des geistigen Universums und des menschlichen Lebens bilden. Wahrer Realismus besteht gerade in der Fähigkeit, sich davor zu bewahren, von den rein pragmatischen, notwendigen Dingen des Lebens überwältigt zu werden. Wahrer Realismus schaut auf die Wirklichkeit jenseits der Stufe, auf der die Naturwissenschaft über sie Bescheid geben kann und wendet sich weder einer luftigen Welt von Fiktionen noch abstrakten Hypothesen zu, sondern den letzten, unwandelbaren Wirklichkeiten, die unvermeidlich von jeder rationalen Forschung vorausgesetzt sind - wie Wahrheit, Erkenntnis, die logischen Gesetze - und den entscheidenden Fragen, die jeden Menschen persönlich angehen, sobald er zu seiner metaphysischen Situation erwacht ist - wie sittlich Gut und Böse, der freie Wille, Verantwortung, Glück, Liebe, Transzendenz, Unsterblichkeit.
Dieser Wissenschaftsfetischismus geht Hand in Hand mit einem erkenntnistheoretischen Vorurteil - dass nämlich unsere Erkenntnis eines Seienden umso gewisser sei, je niedriger dieses metaphysisch steht. Ein physiologischer Gehirnvorgang scheint auf diese Weise eine viel seriösere und unbezweifelbarere Wirklichkeit zu sein, als ein Akt des Schließens. In dieser mit Vorurteilen belasteten Haltung betrachtet man das Universum á la baisse. Man hält es für gesichert, dass ein Instinkt realer ist als eine sinnvolle Antwort(104). wie Freude, obwohl uns die letztere in ihrer vollen Wirklichkeit nicht weniger gegeben ist. Diese Haltung schließt aber nicht nur das Vorurteil ein, dass man alle niedrigen Gegebenheiten erkenntnismüßig für gesicherter hält, sondern auch noch den Versuch, jede sinnvolle, geistige Wirklichkeit auf diese niedrigeren Gegebenheiten zurückzuführen, indem man die ebenso berühmte wie sinnlose „nichts-als"-Methode anwendet. So behauptet man zum Beispiel, Liebe sei im Grunde nichts als Sexualität.(105)
Vielleicht die gefährlichste Wirkung des Wissenschaftsfetischismus ist, dass man aus jedem Bereich des menschlichen Lebens einen Gegenstand für Laboratoriumsanalysen macht und damit den lebendigen Kontakt mit der Wirklichkeit zerstört. Der eheliche Akt, die intimste, geheimnisvolle Vereinigung zweier Personen, schließt kategorisch jede Laboratoriumsbeobachtung aus. Etwas, was seinem Wesen nach dazu bestimmt ist, eine gegenseitige Selbsthingabe zu sein, eine liebende, gegenseitige Durchdringung zweier Seelen, kann niemals im Augenblick des Vollzuges als Material für ein wissenschaftliches Experiment dienen. Ein Ehepaar, das seine Einwilligung gibt, in diesem Akt beobachtet und photographiert zu werden, entweiht nicht nur das Geheimnis dieser Vereinigung, sondern zerstört seine ganze Natur durch diese unangemessene Einstellung. Jeder Versuch der „Beobachtung" wird außerdem den gesamten psychologischen Aspekt derart verwandeln, dass das wahre Wesen der eheliche Vereinigung verfälscht wird und nur scheinwissenschaftliche Ergebnisse erreicht werden können.
Es gibt viele andere Dinge, die ihrem Wesen nach eine solche Analyse ausschließen. Wenn ein Mensch z. B. einen Akt der Reue zu erwecken suchte, um einem Psychologen die Möglichkeit zu geben, dieses „Phänomen" zu studieren, oder wenn er zu beten versuchte, um seinen Ausdruck für die Wissenschaft aufnehmen zu lassen, so könnten weder Reue noch Gebet echt sein.
Doch der entmenschlichende Einfluss, den diese Art von Experimenten auf das persönliche Leben ihrer Opfer hat, ist von viel größerer Bedeutung als die Verfälschung der Wissenschaft, die ihre Folge ist. Objektivation und reduktionistische Neutralisierung depersonalisieren das Leben der Menschen. Die Tatsache, dass Bücher wie das von Masters und Johnson (die den Geschlechtsakt und verschiedene Arten sexueller Perversionen beobachtet und photographiert haben) auf der Bestseller-Liste stehen, ist ein Beweis für die menschliche und moralische Verheerung, die infolge dieser Fetischisierung der „Wissenschaft" ausbricht. Der Leser wird nicht nur durch eine entstellte „Pseudo-Wirklichkeit" zum Narren gehalten, sondern auch sein menschliches Leben ist in Gefahr, völlig pervertiert zu werden, wenn er sich von einem solchen Geist beeinflussen lässt. Eine ähnliche Gefahr liegt in der falschen Selbstbeobachtung und Selbstbewusstheit, die von vielen Psychoanalytikern bestärkt wird. Die Intimität, die ganz persönliche Bedeutung und das innere Thema solcher Erfahrungen, ihre innere Gültigkeit werden im Namen der Wissenschaft zerstört. Es ist unmöglich, die zersetzenden Folgen zu überschätzen, die diese Neutralisierung und der Laboratoriumssituation angepasste Betrachtungsweise für den unmittelbaren, gesunden Zugang zu den Grundwirklichkeiten des Lebens sowie für jedes echte Glück hat. Diese Zerstörung des Humanen, diese Verarmung und depersonalisierende Aushöhlung aller tiefen und großen Erlebnisse führt vor allem zu einem noch nie da gewesenen sittlichen Verfall. Diese Folge aber ist die furchtbarste, denn sie betrifft die Beziehung des Menschen zu Gott und gefährdet sein ewiges Heil.
Hinter all diesen entmenschlichenden Praktiken steht die Vergötzung der Wissenschaft, eine Haltung, in der man versucht, alles auf die Ebene zu reduzieren, auf der es einen geeigneten Gegenstand für Studien nach dem Kanon der Naturwissenschaften abgeben kann. Es genügt, laut zu fordern, etwas müsse um der Wissenschaft willen untersucht werden, um alle Einwände dagegen zum Schweigen zu bringen. Die Wissenschaft wird eine Art Götze, dem ohne Zögern alles übrige geopfert wird. So groß die echten Errungenschaften der Wissenschaften sind und auch das Gut, das sie für den Menschen bedeuten - vor allem die Entdeckungen der Medizin - so absurd ist es, die Wissenschaft für das größte Gut für den Menschen zu halten oder gar für das höchste Gut in sich.(106)
Wir brauchen nur an die Worte Sokrates' zu denken: „Es ist besser für den Menschen, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun", um die innere Überlegenheit aller sittlichen Werte über die Wissenschaft zu erkennen und auch, dass sie ein höheres Gut für den Menschen bedeuten als alle Wissenschaft der Welt. Es ist überaus zweifelhaft, ob die Wissenschaft höher steht als echte Kunst, ob die Entdeckungen der Wissenschaft mehr bedeuten als ein König Lear von Shakespeare, die Neunte von Beethoven, oder die Medicäergräber von Michelangelo. Ist das objektive Gut, das solche Kunstwerke für die Menschheit bedeuten, das Glück, das sie dem Menschen bringen, die Bereicherung des menschlichen Lebens, des menschlichen Kosmos - nicht größer als die Wohltaten, die wir der Wissenschaft verdanken? - Darüber kann man diskutieren; mir jedoch scheint, dass die Überlegenheit großer Kunstwerke offenbar ist. Jedenfalls kann die Überlegenheit der sittlichen Werte über alle Wissenschaft nicht einen Augenblick bestritten werden. Sagt nicht Christus: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet?" (Mt. 16,28). Ebenso steht der Wert der Unversehrtheit eines wahrhaft menschlichen Lebens über dem der Wissenschaft; Liebe, Ehe, Kinder - das alles sind unvergleichlich höhere Güter als die Naturwissenschaft und wissenschaftliche Forschung.
Wir sagen nicht, diese Güter stünden höher als die Wahrheit. Denn die Erkenntnis metaphysischer und moralischer Wahrheit, das Wissen um den wahren Sinn des Lebens, um das Schicksal des Menschen, hat einen letzten Wert in sich selbst, und vor allem berühren wir durch diese Erkenntnis Wirklichkeiten, die in sich sogar einen unendlich viel höheren Wert besitzen als unsere eigene Existenz: Gott selbst; Gottes Existenz ist in sich unendlich viel wichtiger als die aller Menschen, zugleich aber ist sie auch die Grundlage unseres ewigen Lebens, mit dem verglichen die irdische Existenz ein Schatten ist und das allein diesem irdischen Leben einen letzten Sinn verleihen kann - sowohl dem unseren als dem Leben derer, die wir lieben. Denn so groß und tief diese Welt und unser Leben ist, so entsetzlich und tragisch wäre es, wenn am Ende von allem das Nichts, die Vernichtung von allen Gütern stünde.
Doch diese letzten Wahrheiten werden von den Götzendienern der Wissenschaft nicht einmal geleugnet, sondern sie halten meist schon die Frage danach für sinnlos; sie sind zum Großteil Relativisten.
Die Vergötzung der Wissenschaft hat also nichts mit dem Wort des heiligen Augustinus zu tun: „Quid desiderat anima fortius quam veritatem?" ("Wonach sehnt sich die Seele mehr als nach der Wahrheit?") Es handelt sich dabei um eine falsche Identifizierung von Wahrheit mit Naturwissenschaft - und nicht um das letzte Gewicht und den letzten Wert der Wahrheit. Es geht um eine Vergötterung der Naturwissenschaft und ihrer Methoden - und nicht um eine Vergötterung der Wahrheit.
Ja, dieser Fetischismus der Wissenschaft ist gerade mit einem Desinteresse an der Wahrheit als solcher verbunden. Nicht Wahrheit, sondern Wissenschaft ist das Idol. Sie spielt diese Rolle nicht, weil sie uns viele wissenschaftliche Wahrheiten vermittelt, sondern aufgrund einer magischen Anziehungskraft - wie ein Fetisch.
Alle tieferen Bereiche der Wahrheit und des Lebens in ihrer letzten Bedeutung für den Menschen werden durch den Wissenschaftsfetischismus reduziert oder zumindest übersehen.
Falsche Philosophien, die sich als Sozialwissenschaften ausgeben, interpretieren moralisch Gut und Böse als bloße Tabus. Unzählige Bücher und Artikel tragen bei, diesen Amoralismus zu verbreiten, indem sie von Promiskuität und anderen sittlichen Perversionen in einem neutralen Ton sprechen. Die Götzendiener des Fetisch Wissenschaft glauben, das menschliche Leben werde befreiter und glücklicher, wenn der Maßstab von Gut und Böse gefallen ist und wenn alle Bereiche des menschlichen Lebens von „wissenschaftlichen" Forschungsergebnissen aus betrachtet werden.
Sie übersehen, dass die Kategorien von sittlich Gut und Böse die Achse und zugleich die Atmosphäre des geistigen Universums bilden. Ohne sie verliert das menschliche Leben alle Größe und Tiefe, alle Farbe und Spannung; ohne sie wird das Leben zu einer einzigen unendlichen Langeweile. Die Ausschaltung von Gut und Böse zugunsten einer neutralen „wissenschaftlichen" Einstellung ist der Krebsschaden unserer Zeit: Man zersetzt und vernichtet damit die Grundlage des menschlichen Lebens, aller echten Glücksquellen, der geistigen Schöpfungen aller Jahrhunderte der christlichen Ära. Ja, noch mehr, dieser Amoralismus bedeutet einen Bruch mit der ganzen geistigen Tradition der Menschheit. Und diese Zersetzung ist noch von dem unerhörtesten Hochmut begleitet. Man blickt auf alle vergangenen Zeiten herab. Man fühlt sich überlegen an Intelligenz und an Mut, an geistiger Ehrlichkeit – weil man sich von allen Tabus befreit und von allen Fesseln der Konvention gelöst habe.
Doch wenn wir diese angebliche Intelligenz, Ehrlichkeit und Befreiung auf dem Hintergrund der tatsächlichen moralischen Auflösung betrachten, können wir sie nur als Zeichen von Dummheit ansehen, von Unehrlichkeit und Gefangensein in Hochmut und Begehrlichkeit.
14. Kapitel: FREIHEIT UND WILLKÜR
Es gibt eine pervertierte Auffassung von Freiheit, die heute weitgehend herrscht und in der man die Universalität und Objektivität der Wahrheit - die Tatsache, dass sie unserer Willkür entzogen ist - als eine erniedrigende Beschränkung unserer Freiheit erlebt. Die innere, Ausschließlichkeit der Wahrheit, das Ausschalten anderer Möglichkeiten, vor allem im Bereich der metaphysischen und ethischen Wahrheit, wird als eine unwillkommene Verpflichtung zu einer Hingabe angesehen.
Wir können diese Haltung mit der Reaktion von Soldaten im ersten Weltkrieg vergleichen, die giftige Gase einatmeten; daraufhin erlebten sie die frische Luft, die für den gesunden Menschen kräftigend und heilsam ist, als unerträglich erstickend. Ebenso sind diejenigen modernen Menschen, die von ihrer eigenen Willkür vergiftet sind, nicht mehr fähig, die befreiende Kraft der Wahrheit zu erleben. Sie erkennen nicht an, dass die Unveränderlichkeit und Eindeutigkeit der absoluten Wahrheit(107) etwas ist, was uns von den Fesseln der Selbstbezogenheit und des Immanentismus befreit und uns das unerhörte Privileg der Transzendenz verleiht.
Christus sagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen." Das gilt vor allem von der göttlichen geoffenbarten Wahrheit; doch jede grundlegende metaphysische und ethische Wahrheit hat in analoger Weise eine solche befreiende Wirkung. Denn es gibt eine tiefe Beziehung zwischen echter persönlicher Freiheit und dem verpflichtenden Einsatz, den die Wahrheit von uns fordert.(108)
Die Größe des freien Willens des Menschen besteht gerade in der Möglichkeit, der Forderung objektiver Werte zu entsprechen trotz all der widerstreitenden Instinkte, Stimmungen oder anderer Hindernisse.(109) Die wesenhafte Transzendenz des Menschen besteht in seiner doppelten Übereinstimmung sowohl des Verstandes, als auch des Willens mit der objektiven Wirklichkeit: in seiner Erkenntnis der Wahrheit und in seinem freien Akt, in dem er dem Ruf der sittlich bedeutsamen Werte(110) gehorcht - letzten Endes dem Ruf Gottes.
Ja, noch mehr: Der sublime Wert des Freiseins von innerem und äußerem Zwang enthüllt sich nur, wenn man ihn auf dem Hintergrund des wahren Wesens der inneren Freiheit des Menschen sieht. Warum ist es ein so schweres Unrecht, die Würde der Person durch irgendeine Art von Zwang zu vergewaltigen? Warum sind wir mit Recht empört, wenn wir erfahren, dass irgendeine äußere Gewalt versucht, den Menschen davon abzuhalten, so zu handeln, wie sein Gewissen ihm befiehlt? Es kann nur eine Antwort darauf geben: Die Würde des Menschen besteht darin, dass ihm die Fähigkeit der Selbstbestimmung gegeben ist. Diese Freiheit des Willens ist genau das Gegenteil von anarchischer Willkür; sie bedeutet, dass der Mensch die Macht hat, den großen Feind seiner Freiheit zu besiegen - seine Selbstbezogenheit, seinen Stolz und seine Begehrlichkeit. Zwang jeder Art leugnet implizit das Wesen der freien Person; er gefährdet die Transzendenz des Menschen, indem er ihn an der Ausübung seiner Fähigkeit hindert, dem frei zu entsprechen, was er klar als gut erkennt und was anzunehmen oder zu tun er gerufen ist.(111)
Betrachten wir aber den Menschen als ein Tier ohne freien Willen, oder interpretieren wir seine Freiheit als bloße Willkür, die ihn deshalb vom Sinn und Wert des Seienden und von Gott abgeschnitten sein lässt, so hört der äußere Zwang auf, schlecht zu sein. Hunde oder Katzen zu zwingen, ist nicht schlecht. Grausamkeit und Brutalität Tieren gegenüber ist sicherlich böse. Aber Zwang ist nicht notwendig grausam.
Diejenigen, die darauf bestehen, dass Verpflichtungen mit unserer Freiheit unverträglich sind, müssten daraus eigentlich den Schluss ziehen, dass der Mensch unfähig ist, je eine Gesellschaft zu bilden und deren Gesetze anzunehmen.
Die Existenz des Menschen in der Gemeinschaft setzt seine Fähigkeit voraus, sich selbst in Freiheit zu transzendieren und frei Verpflichtungen anzunehmen. In keiner Weise mit wahrer Freiheit unverträglich, bildet der Gehorsam sittlichen Verpflichtungen gegenüber vielmehr die Vollendung der transzendenten Freiheit des Menschen.(112)
Ohne die Wahrheit ist Freiheit sogar sinnlos. Diejenigen, die eine Illusion von der Wirklichkeit abschneidet, sind der Freiheit beraubt, die nur die Wahrheit gewähren kann. Die Hoffnung, einen Menschen von der Tyrannei seiner Verdrängungen zu befreien, setzt eine innige Verbindung zwischen Freiheit und Wahrheit voraus. Wenn gewisse Dinge aus dem Unterbewusstsein an die Klarheit des Bewusstseins gezogen werden, so erwartet man, dass dieser Konfrontation mit der Wirklichkeit eine Befreiung folgen wird. Diese Befreiung ist aber offensichtlich von sehr zweifelhafter Natur, solange die Person sich nur einer Verdrängung bewusst wird und diese nicht im Lichte metaphysischer und ethischer Wahrheit beurteilt. Es ist für viele Psychoanalytiker charakteristisch, dass sie versäumen, zwischen wirklicher Schuld und einem Schuldkomplex zu unterscheiden. Sie missachten die überwältigende Wirklichkeit der Kategorien von Gut und Böse. Ihre illusorische Weltanschauung macht das Gewissen eines Menschen blind, beraubt ihn seiner wahren Freiheit - auch wenn er sich nach der „Operation" noch so „wohlfühlt."
Die wesenhafte Beziehung zwischen Freiheit und Wahrheit tritt klar in dem einzigartigen Prozess der Befreiung zu Tage, der in einer echten und tiefen Reue vor sich geht.(113) Denn in der Reue durchstößt der Mensch den Nebel der Selbsttäuschungen, die aus seinem Hochmut stammen und tritt in das helle, befreiende Licht der Wahrheit.
Die Auflehnung gegen die Wahrheit im Namen der Freiheit kann man auch in der modernen Verurteilung der einwandfreiesten Form von Einfluss erblicken - der Bemühung, junge Menschen mit echten Werten in Berührung zu bringen. Die Erziehung sollte der Jugend die religiösen, metaphysischen und ethischen Wahrheiten anbieten, die das Zentrum der Wirklichkeit betreffen und ohne die wir in Illusionen dahinleben. Eine entsprechende Erziehung sollte diese Wahrheiten in einer Art darstellen, die dem Jugendlichen die Entdeckung ihres Wertes erleichtert. Doch es ist gerade dieses Wesen der Erziehung, welches viele als eine Beeinträchtigung der Freiheit der Kinder und Jugendlichen betrachten. In Wirklichkeit schneiden diese Erzieher die Seelen junger Menschen von der allerbedeutsamsten Wirklichkeit ab und prägen ihnen dadurch eine gewohnheitsmäßige Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar eine ausdrückliche Feindseligkeit gegenüber den wichtigsten Wahrheiten ein.
Eine Lehre der Freiheit, die in der Idee einer absoluten Wahrheit eine Bedrohung sieht, unterhöhlt außerdem das, was von vielen für den einzigen Wert gehalten wird - nämlich Demokratie. Demokratie als eine Form politischer und sozialer Existenz schließt nicht nur die Annahme gewisser objektiver Werte ein, die außer Diskussion stehen, sondern unveränderliche Verpflichtungen. Wahre Demokratie steht und fällt mit der klaren Unterscheidung zwischen Freiheit und Willkür.
Der Grund für die Unverträglichkeit zwischen Freiheit und allen Arten von Menschenplanung (human engineering) und Gedankenkontrolle sollte damit klar sein. Viele moderne Menschen schmeicheln sich mit der vertrauensseligen Überzeugung, dass sie in einem Zeitalter leben, in dem die Freiheit der Person voll geachtet wird. Ganz abgesehen von den totalitären Staaten übersehen sie die Menschenplanung und die milderen Formen der Gehirnwäsche, die auch in demokratischen Ländern bestehen und eine schwerwiegende Missachtung der Würde und der Freiheit der Person bedeuten. Diese Art von Nichtachtung der Freiheit gab es in früheren Zeiten viel weniger.
15. Kapitel: SCHEINEHRLICHKEIT
Hans Küng hat in einer Rede, die er auf dem Konzil hielt, behauptet (und diese Behauptung hat er seitdem bei vielen Gelegenheiten wiederholt), dass wir in einer Zeit leben, die durch intellektuelle und moralische Ehrlichkeit charakterisiert sei. Es scheint uns, dass Küng hier in einer Illusion befangen ist, die heutzutage besonders weit verbreitet ist.
Viele würden in der Behauptung übereinstimmen, dass unsere gegenwärtige Haltung dem Leben gegenüber viel „ehrlicher", viel „echter" sei als die des Viktorianischen Zeitalters mit all seiner Hypokrisie, seinem Konventionalismus und seiner Prüderie. Die öffentliche Meinung verurteilt nicht mehr Dinge, die die meisten Menschen zu allen Zeiten heimlich doch getan haben. Wir fühlen uns nicht mehr verpflichtet, ein höfliches und freundliches Benehmen zur Schau zu tragen, wenn wir tatsächlich innerlich nichts fühlen, was Freundlichkeit ähnlich sähe. Unserem Leben werden nicht mehr starre, künstliche und hohle Formen aufgezwungen. Wir fühlen uns nicht mehr verpflichtet, traditionellen Anschauungen beizupflichten. Der moderne Mensch spricht seine eigene Meinung in voller Ehrlichkeit aus. Selbst wenn eine herkömmliche Idee oder Lehre schön und erbaulich für den Geist ist, so möchte er doch realistisch darüber denken und sich vor behaglichen Illusionen hüten. Er möchte die Wirklichkeit so sehen, wie sie ist. Auch der Aufschwung der Wissenschaft in unserer Zeit beweist die Ehrlichkeit des modernen Menschen. Doch wenn wir diese besondere Ehrlichkeit des modernen Menschen genauer untersuchen, werden wir entdecken, dass sie in Wirklichkeit weitgehend eine Scheinehrlichkeit ist.
Erstens ist es vollkommen falsch zu glauben, dass eine Person, die nicht ihren moralischen Idealen gemäß lebt, deshalb unehrlich sei, oder anders ausgedrückt, dass Übereinstimmung zwischen den Prinzipien und dem Verhalten eines Menschen ein Zeichen von Ehrlichkeit sei. Es ist sicherlich wünschenswert, dass ein Mensch seinen sittlichen Überzeugungen entsprechend lebt - vorausgesetzt dass sie richtig sind. Aber der nur allzu häufige Widerstreit zwischen Verhalten und Überzeugung ist eine Tragödie, deren Wurzel die gefallene Natur des Menschen ist. Es ist jener immerwährende Konflikt, von dem Ovid sagt: „Video meliora proboque; deteriora sequor." („Ich sehe das Bessere und billige es; das Schlechte tu' ich) und der heilige Paulus drückt diesen Konflikt so aus: „Denn das Gute, das ich will, tue ich nicht; doch das Böse, das ich nicht will, tue ich." Das schließt in keiner Weise einen unehrlichen Charakter ein.
Gewiss, wenn ein Mensch nicht danach s t r e b t, das zu tun, was er als moralisch gut erkennt, wenn er der sittlichen Forderung gegenüber indifferent bleibt, dass unser Handeln sich nach unserer sittlichen Erkenntnis richten soll, wenn er das tut, von dem er weiß, dass es sittlich böse ist, ohne unter seinem schlechten Gewissen zu leiden, dann ist er tatsächlich vom sittlichen Standpunkt aus ein elender Mensch. Aber zu sagen, er sei unehrlich, ist ein großes „Understatement". Er ist viel schlimmer als unehrlich. Sein Verhalten verrät entweder eine zynische Bosheit oder brutale sittliche Skrupellosigkeit. Der Mensch aber, der sich bemüht und doch unfähig ist, dem gemäß zu leben, was er als sittlich gut erkannt hat, kann in keiner Weise unehrlich genannt werden. Ganz im Gegenteil: Wer zugibt, dass das moralische Gesetz und die sittlichen Werte voll gültig sind, obwohl er selbst versäumt hat, ihnen gemäß zu leben, gibt damit ein ausgesprochenes Zeichen seiner Ehrlichkeit. Wirklich unehrlich ist es hingegen - und das ist typisch für unsere Zeit - wenn Menschen die Wahrheit ihren Handlungen anpassen, wenn sie ihr de-facto-Verhalten als die Norm aufstellen und die objektive Gültigkeit moralischer Gesetze leugnen, weil es ihnen selbst nicht gelungen ist, danach zu leben.
Bevor wir also irgendetwas aus der formalen Übereinstimmung des Lebens eines Menschen mit seinen moralischen Überzeugungen schließen können, müssen wir zuallererst die Frage stellen, ob diese Übereinstimmung daher kommt, dass er nach seinen Überzeugungen lebt, oder vielmehr daher, dass er seine Überzeugungen zurechtgemacht hat, damit sie zu seinem Leben passen. Und wenn das erste der Fall ist, müssen wir weiter fragen, ob seine moralischen Überzeugungen wahr oder falsch, gut oder böse sind. Menschen, die oberflächliche, hohle und relativistische Theorien über moralische Werte haben, die sittliche Gebote als bloße „Tabus" betrachten, geben nichtsdestoweniger oft in konkreten Situationen die sittlich richtige Antwort. Sie schrecken davor zurück, eine grausame oder ungerechte Handlung zu vollbringen, weil sie sich in ihrem unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit der letzten Gültigkeit und Majestät moralischer Werte bewusst werden und klar die absolute, kategorische Forderung erfassen, die sittlich bedeutsame Güter in einer Situation an sie richten.(114) Die Menschen sind nämlich im allgemeinen in ihrer existentiellen Berührung mit dem Leben viel gescheiter und der Wahrheit näher als in ihren theoretischen Ansichten über das Leben. In solchen Fällen ist die Übereinstimmung zwischen Handeln und theoretischer Überzeugung keineswegs etwas Positives; vielmehr ist die Kluft zwischen ihren falschen Theorien und ihren Handlungen wünschenswert, und die Frage der Ehrlichkeit taucht hier gar nicht auf.
Es ist ein anderer, schwerer Irrtum zu glauben, dass ein Mensch, der moralisch wertblind geworden ist und deshalb offen unsittlich handelt, ehrlicher ist als einer, der seine Unsittlichkeit vor anderen zu verbergen sucht. Es ist sicherlich bedauerlich, wenn Menschen unsittlich handeln und aus bloßer Angst vor der öffentlichen Meinung ihr unsittliches Verhalten verbergen. Aber der Mensch, der in Promiskuität oder Ehebruch nichts Schlechtes sieht und schamlos davon spricht, ist sicherlich nicht besser, noch ist er ehrlich oder aufrichtig. Erstens bewies der sogenannte Viktorianische Hypokrit gerade durch seine Heuchelei wenigstens noch eine indirekte Achtung vor moralischen Werten. Der schamlose moderne Sünder anderseits, der jeden Sinn für die Immoralität und Niedrigkeit seiner Promiskuität verloren hat, verdient nicht das mindeste Lob für seine „Ehrlichkeit", denn er hat ja nicht mehr den geringsten Grund, seine moralischen Verirrungen zu verstecken. Er sieht nichts Empörenswertes mehr darin, und hat auch von der öffentlichen Meinung nichts zu fürchten, da es längst modern geworden ist, sich über Promiskuität nicht aufzuregen. Was einst den Bohémien berechtigte, sich als revolutionär zu betrachten - die Tatsache, dass er unverschämt der öffentlichen Meinung spottete – besteht nicht mehr. Es ist deshalb kaum zu verstehen, weshalb Schamlosigkeit heute als mutig oder ehrlich gepriesen werden soll.
Außerdem gibt es einen vollkommen einwandfreien Grund, unsere Sünden vor den Augen der Gesellschaft zu verbergen. Wir sind wenigstens verpflichtet, ein schlechtes Beispiel oder ein Ärgernis für andere zu vermeiden. Dies trifft nicht auf den Fall des Tartuffe zu - des Schuftes, der scheinheilig die Rolle einer wirklich tugendhaften Person spielt, in der Absicht, andere zu betrügen, die von seiner scheinbaren Tugendhaftigkeit angezogen werden. Das ist ein Fall von äußerster Unehrlichkeit. Doch die dieser Unehrlichkeit entgegengesetzte Ehrlichkeit kann man unmöglich in dem schamlosen Sünder erblicken, der es nicht für nötig hält, seine Sündhaftigkeit zu verstecken, sondern in dem tugendhaften Menschen, der aus Demut seine Tugenden verbirgt.
Ein anderer falscher Begriff von Ehrlichkeit, der heute weit verbreitet ist, tritt in der Behauptung zu Tage, dass unser äußeres Benehmen in voller Übereinstimmung mit unseren inneren Gefühlen und Stimmungen stehen solle. Ein Mensch, der sich einer höflichen Ausdrucksweise bedient, die seinen tatsächlichen Gefühlen nicht entspricht, wird auf diese Weise als unehrlich angesehen. Zweifellos können wir mit Recht von einer gewissen Unehrlichkeit und Unechtheit sprechen, wenn sich ein Mensch benimmt, als wäre er tief bewegt oder außer sich vor Freude, oder auch empört, während er in Wahrheit nichts von alledem fühlt. Aber es ist nichtsdestoweniger vollkommen falsch, unsere augenblicklichen Gefühle zum ausschließlichen Maßstab für unser äußeres Verhalten anderen Personen gegenüber zu machen. Unser Ausdruck sollte viel eher dem entsprechen, was unsere Haltung sein soll. Welche Gefühle wir auch anderen gegenüber im Augenblick haben, so sollten wir ihnen gegenüber doch immer höflich und aufmerksam sein. Das ist keineswegs unehrlich, ebenso wie es kein Zeichen von Ehrlichkeit ist, anderen Menschen gegenüber unfreundlich, unhöflich und unaufmerksam zu sein, weil man sich nichts aus ihnen macht.
Diese falsche Auffassung von Ehrlichkeit macht aus dem Sich-gehen-lassen und der Nachgiebigkeit sich selbst gegenüber ein Ideal. Sie schließt die Bereicherung des Lebens aus, die durch das Beobachten adäquater Formen ermöglicht wird - ja sie ist ihr direkt entgegengesetzt. Man ignoriert dabei die moralische Bedeutung und pädagogische Funktion, die solche Formen des sozialen Zusammenlebens besitzen. Gerade das, was einen Menschen mit guten Sitten auszeichnet, wird als ein Zeichen von Unehrlichkeit und Unechtheit abgewertet. Dieser Auffassung von Ehrlichkeit entsprechend wäre ein ungehobelter, grober Klotz, der in allem Selbstbeherrschung und Höflichkeit vermissen lässt, das Ideal eines ehrlichen Menschen.
Diese Scheinehrlichkeit zeigt sich in besonders grotesker Form, wenn sie die Beziehung des Menschen zu Gott berührt. Wie oft hören wir nicht heute über die Liturgie solche und ähnliche Bemerkungen: Warum soll ich das Confiteor beten, wenn ich keine Reue fühle? Warum soll ich mich meiner Sünden anklagen, wenn ich mich gerade ganz unschuldig fühle und nicht das geringste Bewusstsein von einer Sünde habe? Wie kann ich beten: De Profundis clamavi ad Te, Domine (Aus Tiefen ruf ich Herr, zu Dir), wenn mir gerade ganz heiter zu Mute ist? Die Antwort darauf ist, dass meine Gebete zu Gott der objektiven Wirklichkeit und nicht meiner zufälligen Stimmung entsprechen sollen. Ich weiß, dass ich ein Sünder bin und viele Sünden begangen habe. Ich weiß deshalb, dass ich Reue fühlen sollte. Diese objektive Wirklichkeit ist der Maßstab für die Worte der Gebete, in denen ich mich an Gott wende. Und das Thema der Liturgie ist die Übereinstimmung meiner Gebete mit der objektiven Situation des Menschen vor Gott und deshalb mit dem, was ich in dieser Konfrontation mit Gott fühlen sollte. Hier gerade sollte die Wahl meiner Worte nicht davon abhängen, was meine augenblicklichen Gefühle sind. Die Worte sind voller Bedeutung, weil sie meiner wahren Situation entsprechen und dem, was ich erleben sollte: die Worte sind der objektive Ausdruck der Haltungen, die mich formen sollen und in die ich hineinwachsen möchte. Deshalb ist es nicht Ehrlichkeit, sondern der Gipfel von Scheinehrlichkeit, was der Mensch bekundet, der den Sinn jedes Gebetes (ja überhaupt jedes kultischen Aktes) so missversteht, dass er sich stolz weigert, Worte auszusprechen, die nicht Ausdruck seiner augenblicklichen Stimmung sind. Indem er diese zufälligen Stimmungen für die einzig gültige Norm hält, beweist er seine Egozentrik und seinen kleinlichen, lächerlichen Eigensinn.
Doch dieser Irrtum reicht noch viel weiter. In der Liturgie nehmen wir ja am Gebet Christi und Seiner heiligen Kirche teil. Dieses Gebet, in das wir einstimmen, soll unsere Seelen formen, nicht unsere individuelle Begrenztheit ausdrücken. Es ist darüber hinaus ein Gebet, das aus einem Geist der Gemeinschaft mit allen Brüdern gesprochen wird. Deshalb kann ich in dem Bewusstsein beten, dass viele Menschen leiden und verfolgt werden. Auch wenn ich selbst gerade von Freude erfüllt bin, weiß ich doch, dass die Erde ein Tal der Tränen ist. Ich habe deshalb vollen Grund, ein De Profundis zu beten, auch dann, wenn ich selbst gerade nur dankerfüllte Freude über ein großes Geschenk empfinde, das ich empfangen habe, oder einen Psalm des Lobpreises und Dankes, wenn ich gerade schwer geprüft bin. Es sind übrigens oft dieselben Menschen, die die Liturgie auf Kosten des sogenannten „Privatgebetes" zu preisen suchen, weil dieses angeblich keine Gemeinschaft unter Menschen stiftet, und die zugleich diesen tiefen Gemeinschaftsaspekt des liturgischen Gebetes übersehen.
Doch unsere Zeit verdient für ihre intellektuelle Ehrlichkeit ebenso wenig Lob wie für ihre moralische.
Früher haben Skeptiker und Relativisten die Existenz einer objektiven Wahrheit offen geleugnet. Doch der Angriff auf die Wahrheit durch den in unseren Tagen blühenden historischen Relativismus nimmt eine feinere und verstecktere Form an. Statt offen zuzugeben, dass man die objektive Wahrheit leugnet, gibt man dem ganzen Begriff der Wahrheit angeblich nur „eine neue Interpretation"; aber in Wirklichkeit führt diese „Neuinterpretation" in die gleiche Wüste des Skeptizismus und Relativismus. Dies ist sicher kein Fortschritt in der Richtung größerer intellektueller Ehrlichkeit.
In ähnlicher Weise gilt dies auch für die Angriffe auf die Religion: Wenn wir die derzeitigen Angriffe auf die Religion mit denen eines Voltaire oder Rénan vergleichen - so verabscheuungswürdig deren Mentalität auch war - so muss man doch sagen, dass frühere Zeiten ehrlicher und mehr geradeheraus waren. Die modernen Aufklärer versuchen den Eindruck zu erwecken, dass sie eine viel freundlichere Stellung gegenüber der Religion besitzen. Aber indem sie der Christlichen Offenbarung „neue Interpretationen" geben und den Unterschied zwischen göttlicher Offenbarung und Mythos verwischen, höhlen sie in Wahrheit die Transzendenz Gottes und des ewigen Lebens und damit das Wesen des Christentums aus; in ihrer freundlichen, scheinbar gläubigen Haltung gleichen sie tatsächlich Wölfen in Schafspelzen.
Außerdem gibt es heute eine philosophische Mode, den Eindruck von Tiefe durch eine überkomplizierte Sprache zu erwecken, die oft das vollständige Fehlen von Sinn verhüllt. Man löst die klassischen philosophischen Probleme durch Wortspiele mit neuerfundenen Begriffen oder indem man erklärt, die Fragen seien immer dumm gestellt worden, existierten nicht oder seien nicht von Bedeutung. Ist das ein Zeichen intellektueller Redlichkeit? Wenn man einige berühmte moderne Philosophen mit Plato, Aristoteles, Augustinus, Thomas oder Descartes vergleicht, so ist man unweigerlich genötigt zu schließen, dass viele unserer „großen" Geister unvergleichlich weniger ehrlich sind als die großen Denker der Vergangenheit.
Es gibt heute auch andere, minder unehrliche intellektuelle Strömungen, die angeblich in vollkommener Ehrlichkeit die Wirklichkeit bloßstellen, die bisher durch „unrealistische" Traditionen verdunkelt gewesen sei. Die positivistische Mentalität in ihren verschiedenen Erscheinungsformen meint z. B., dass die Wirklichkeit eines Seienden im umgekehrten Verhältnis zu seinem metaphysischen Rang stehe. Wir denken vor allem an jene, die (wie Freud) versuchen, jede geistige Realität auf eine nicht geistige zu reduzieren, die uns zu überzeugen suchen, dass die allergeistigsten Akte auf irrationale nicht-geistige Assoziationen zurückgeführt werden können, dass die Liebe in Wirklichkeit nichts als Sexualität und moralische Werte reiner Aberglaube seien. Die „Desillusionierung", die die Anhänger solcher Theorien im „unrealistischen" Menschen - das ist der Mensch, der noch nicht von ihren Theorien infiziert ist - bewirken möchten, soll zu Realismus und intellektueller Ehrlichkeit führen. Sie betrachten sich selbst als ehrlich, da sie nur den untersten Teil des Universums für real halten, da sie alle geistigen Beziehungen und alle Motivation auf mechanische Prozesse reduzieren, da sie das Universum seines geistigen Gehalts berauben, da sie alle objektiven Werte leugnen. Haben sie nicht eine realistische Ansicht des Universums angeboten? Haben sie nicht andere von ihren Illusionen befreit?
Sollte aber vielleicht die Reduktion des Universums, die sie durchführen, irrig sein, dann hätte es keinen Sinn, sie für ihre bemerkenswerte Ehrlichkeit zu loben. Und tatsächlich sind ihre Schlüsse weder wissenschaftlich noch philosophisch, sondern „abergläubisch." Ihre ganze Lehre beruht auf einer Leugnung des Seins der Dinge, so wie sie uns in der Erfahrung eindeutig gegeben sind. Sie behaupten, „hinter" die Dinge zu kommen, um zu entdecken, wie sie „wirklich sind". Der abergläubische Mensch zeichnet sich durch eben diese Eigenschaft aus: Er behauptet ununterbrochen, man müsse hinter die Dinge blicken, wie sie uns schlicht in der Erfahrung gegeben sind, um ihre „wahre Bedeutung" zu lesen.
Wenn wir uns die psychologischen Gründe für diese Betrachtungsweise à la baisse vor Augen halten - für diese pseudo-realistische Leugnung des geistigen Universums - dann sehen wir klar, dass Hochmut und geistige Trägheit die Wurzel dafür sind. Es liegt ein seltsamer Eigensinn darin, dass man ein Seiendes in einer Weise betrachtet, die in gar keinem Verhältnis zur wirklichen Natur der Sache steht, um die es geht, sodass das Ergebnis von vornherein zum Fehlschlag verurteilt ist. Es ist, als ob diese modernen „Realisten" darauf bestehen würden, Farben zu hören und Töne zu sehen. Solche Menschen weigern sich, mit der Natur der Wirklichkeit zu kooperieren.(115)
Solche Vorurteile kann man aber unmöglich ehrlich nennen; man sollte sich vielmehr erinnern, dass eine Art intellektueller Unredlichkeit in jedem Vorurteil zu finden ist, das eine philosophische oder wissenschaftliche Maske trägt. Wir sollten unser Lob für den wirklich ehrlichen Menschen sparen, der die volle Wirklichkeit des geistigen Universums zugibt und sich nicht von den intellektuellen Tagesmoden einschüchtern lässt.
Wir haben zuvor auf das dilettantische Gerede Bezug genommen, das in den Reihen zahlreicher katholischer Laientheologen, die Unverantwortlicherweise an vielen katholischen Universitäten angestellt worden sind, für Denken gehalten wird. Ihre törichten Diskussionen über Gott und die Welt, ihr Gefasel darüber, ob Gott noch „in unsere Gesellschaft passt", ob wir ihn noch „brauchen", beweist nicht nur den niedrigen Stand ihrer Intelligenz, sondern auch den Mangel an Ehrlichkeit. Wenn sie Fragen von letzter Bedeutung, die die Menschen die ganze Geschichte hindurch bewegt haben, in der trivialsten Weise und von Gesichtspunkten aus behandeln, die vollkommen inadäquat sind, so offenbaren sie ein pubertäres sich zur Schau-Stellen und Hochmut. Der mindeste Grad von Ehrlichkeit müsste sie auf die vollkommene Sinnlosigkeit ihrer Fragestellung aufmerksam machen. Wir wollen gewiss nicht leugnen, dass es viele andere und davon ganz verschiedene Strömungen in unserer Zeit gibt. Aber es steht auch außer Zweifel, dass viele Katholiken meinen, der Kirche zu dienen, sie zu stützen und ihr ein neues Ideal zu weisen, indem sie ihr Haltungen empfehlen, die hauptsächlich durch eine Scheinehrlichkeit charakterisiert sind.
16. Kapitel: EPOCHALISMUS
Ständig hört man das selbstgefällige Schlagwort: „Der Mensch ist endlich mündig geworden." Es gibt jedoch sehr viele Züge der gegenwärtigen Epoche - die Entthronung der Wahrheit durch den historischen Relativismus, den Fetischismus der Wissenschaft, die Verheerung unseres Lebens infolge der Laboratoriumsansicht von der Welt, und viele andere - die es mehr als zweifelhaft machen, dass der moderne Mensch wirklich und wahrhaft „mündig" geworden sei. Darüber hinaus liegt in dieser Idee schon e definitione eine Selbsttäuschung. Es ist ein charakteristisches Symptom der Unreife, sich besonders reif zu fühlen. Es ist ein Zeichen von Unreife, sich selbst reifer und unabhängiger vorzukommen als Menschen früherer Zeiten, zu vergessen, was man der Vergangenheit verdankt, und in einer Art pubertärer Selbstbehauptung sich zu weigern, irgendeine Hilfe anzunehmen. Man braucht nur an Dostojewskis meisterhafte Beschreibung der Entwicklungskrise zu denken - Kolja Krasotkin in den „Brüdern Karamasow", Hypolit im „Idiot", der Held im „Jüngling" - um die besondere Unreife des Menschen zu erfassen, der von seiner besonderen Reife überzeugt ist, der in der Vorstellung lebt, dass in ihm die Menschheit in einer noch nie da gewesenen Weise mündig geworden sei, der nur von dem einen Streben beherrscht ist - seine Unabhängigkeit zu zeigen. Seine lächerliche Kleinheit zeigt sich gerade darin, dass er auf alles Vergangene, das durch die Tradition an ihn herantritt, herabblickt - selbst auf die zeitlosesten Werte.
Die Illusion eines historischen Mündiggewordenseins ist sicherlich nicht ausschließlich unserer Zeit zu eigen. Im Zeitalter der sogenannten Aufklärung glaubten die Menschen ebenfalls, mündig geworden zu sein und blickten auf frühere Epochen wie auf Perioden der Dunkelheit und Unreife herab. Diese Illusion kehrt in der Sozialgeschichte von Zeit zu Zeit wieder und sieht der Pubertätskrise im Leben des Individuums auffallend ähnlich.
Doch die Versicherung vieler Zeitgenossen, diese immer wiederkehrende Prahlerei sei früher niemals berechtigt gewesen, heute dagegen sei der Mensch tatsächlich mündig geworden, macht nur noch deutlicher, welche Selbsttäuschung dieser Behauptung zugrunde liegt. Eines der vielen Anzeichen für die intellektuelle und moralische Unreife des gegenwärtigen Zeitalters ist die Tatsache, dass der Prozentsatz von wertlosen Büchern und Artikeln, die die Geister der Intellektuellen fesseln, heute größer zu sein scheint als zu irgend einer anderen Zeit der Geschichte.
Leider ist auch der Bereich des Religiösen von dieser Vollblüte der Geistlosigkeit nicht unberührt geblieben. Viele Diskussionen der sogenannten „Gott-ist-tot"-Bewegung stehen auf derselben Stufe wie Hitlers Gebrauch des Wortes „Gott". Ein italienischer Professor erzählte mir von einem Gespräch, das er mit Hitler hatte. Als er Hitler fragte, was er gegen den Kommunismus einzuwenden hätte, sagte dieser: „Was ich einzuwenden habe, ist, dass diese Menschen Atheisten sind." Dann begann er zu schreien: „Nichts ist schlimmer als ein Volk, das nicht mehr an Gott glaubt." Als aber der Professor ihn fragte, ob er mit „Gott" einen persönlichen Gott meine, gab Hitler zur Antwort: „Auf diese Frage möchte ich lieber nicht antworten." Der Grund dafür war natürlich, dass er mit „Gott" absolut nichts meinte; das Wort war nur eine Waffe, die er verwendete, um auf den katholischen Professor Eindruck zu machen. Vieles von dem, was sich heute als „theologische Diskussion" ausgibt, ist nicht weniger unehrlich. Und die Absurdität wird noch durch die Behauptung unserer modernen Aufklärer gesteigert, dass es sich dabei um etwas Neues handle; doch in Wirklichkeit ist es altes Zeug, Ideen, die man schon bei Voltaire, Feuerbach, D. F. Strauß, Comte, Nietzsche und anderen finden kann. Das einzig Neue an diesen Büchern ist ihr unvergleichlich niedrigeres intellektuelles und kulturelles Niveau und ihr absoluter Mangel an Originalität. Die geistigen Zwerge, die sie schreiben, erinnern an ein Wort Kierkegaards: „Da sie sich geweigert hatten, ihre Gedankenfreiheit zu gebrauchen, haben die Menschen die Redefreiheit als Ersatz gefordert."
Ein anderes Symptom der Unreife unserer Zeit ist ein zunehmendes Vertrauen in Schlagworte. Einst waren Schlagworte weitgehend darauf beschränkt, Massenbegeisterung im politischen Bereich zu entfachen; heute verfallen ihnen die Menschen mehr und mehr in allen Bereichen. Schlagworte treten in zunehmendem Maß an die Stelle von Argumenten oder Beweisen. Dies bedeutet einen erheblichen intellektuellen Niedergang, denn wirkungsvolle Schlagworte gehören zu den größten Feinden der Weisheit und Wahrheit. Sie sind für Intellektuelle verlockend, bloß weil sie die geistige Trägheit der Menschen ansprechen und ihnen die Möglichkeit geben, die Dinge zu klassifizieren, ohne sich der Mühe unterziehen zu müssen, ihre wahre Natur zu verstehen. Man kann nur staunen über die Wirksamkeit von Schlagworten für alle Arten der Propaganda. Die nationalsozialistische Propaganda war voll von Schlagworten und der Kommunismus hat sich ihrer mit großem Erfolg bedient. Jedermann kennt die Art und Weise, wie die Begriffe „Kolonialismus" und „Imperialismus" unterschiedslos angewendet wurden, um verschiedene Länder zu diskreditieren. Sie bleiben sogar da noch wirkungsvoll, wo sie in offenkundiger Unehrlichkeit von Sprechern kommunistischer Staaten ausgesprochen werden, die ihre eigenen Bürger in grausamerer Weise unterjochen, als je ein europäischer Staat seine Kolonien jenseits des Ozeans regiert hat. In all dem ist Hitlers Rat, eine Lüge sooft zu wiederholen, bis sie geglaubt wird, das herrschende Prinzip.
Diese Schlagworte gewinnen eine geheimnisvolle Macht über die Menschen und erregen Gefühle von Schuld oder Feindseligkeit unabhängig von Wahrheit und Falschheit. Gar mancher Mensch ist bereit, jeden beliebigen Unsinn zu schwätzen, nur um für einen „modernen Menschen" zu gelten - für einen „fortschrittlichen", einen, der „mündig" geworden ist. Der Einfluss dieser Schlagworte ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass ihr Inhalt vollkommen vage und schillernd ist. Die Propheten von morgen sind schnell überholt. Die Progressisten von gestern sind die „Reaktionäre" von heute. Es steht außer Zweifel, dass die heutigen „Fortschrittlichen" ein ähnliches Schicksal ereilen wird.
Es liegt eine besondere Form von Hochmut in der Idolatrie der eigenen Zeit. Sie erzeugt einen Geist von Ehrfurchtslosigkeit gegenüber jeder Tradition. Sie zerstört jede philosophische Forschung an der Wurzel, weil der Begriff von Wahrheit durch den der Zeitgemäßheit ersetzt wird. Dieser Stolz ist dem ähnlich, der sich in einer Idolatrie der eigenen Nation äußert, und den man „Nationalismus" oder „Chauvinismus" nennt. Und ebenso wie die Herrlichkeit und Macht (sei sie wirklich oder eingebildet) der eigenen Nation in einem Menschen das Gefühl seiner eigenen Minderwertigkeit kompensieren kann, so werden auch die wirklichen oder eingebildeten Vorzüge der eigenen Zeit von vielen Menschen dazu benützt, ihre eigene Unsicherheit zu kompensieren und ihren Stolz zu nähren. Diese Eingebildetheit auf die eigene Zeit - dieses Gefühl der Überlegenheit allen gegenüber, die nicht in der gleichen historischen Epoche leben, erfüllt heute für viele Menschen dieselbe psychologische Funktion wie der Stolz auf die arische Abstammung für viele Deutsche während der nationalsozialistischen Ära. Der allerunbedeutendste Deutsche - plötzlich durch die bloße Tatsache aufgebläht, dass er von reiner arischer Abstammung war - konnte damals auf den begabtesten Intellektuellen herunterblicken, nur weil dieser vielleicht eine jüdische Großmutter hatte. Es gibt einen allgemeinen Zug in der menschlichen Natur, nach einer solchen Kompensierung der eigenen Unterlegenheit oder nach möglichen Gründen zu suchen, sich in Stolz aufzublähen. Und die angebliche oder wirkliche Herrlichkeit der nationalen oder zeitlichen Gemeinschaft, zu der man gehört, bietet sich prächtig an, diese Funktion zu erfüllen. Obwohl dieser „Epochalismus" auch in früheren Zeiten existierte (ebenso wie der Nationalismus), so ist doch die Auflehnung gegen die Tradition heute besonders stark. Und es gibt keine objektiven Gründe, weder für die optimistischen Zukunftserwartungen noch für das übertriebene Entzücken über die Zugehörigkeit zu diesem Zeitalter, in dem so viel Relativismus, Entmenschlichung und Depersonalisierung herrscht.
III. TEIL: DIE SÄKULARISIERUNG DES CHRISTENTUMS
17. Kapitel: DIE FALSCHE VORSTELLUNG VON DER HOMOGENITÄT HISTORISCHER EPOCHEN
Bevor wir die Haltung untersuchen, die progressistische Katholiken den Gefahren unserer eigenen Zeit gegenüber angenommen haben, müssen wir zuerst von einem weitverbreiteten Irrtum allgemeiner Natur handeln. Es ist dies die Überzeugung - die häufig auch dort sichtbar ist, wo sie theoretisch geleugnet wird - dass jede gegebene geschichtliche Epoche eine geschlossene Entität darstelle, die durch eine alles durchziehende Mentalität geprägt sei. In Wirklichkeit gibt es in jeder historischen Epoche erstens Individuen, die in keiner Weise für ihre Zeit typisch sind - deren Geistigkeit und Auffassungen von denen der meisten Zeitgenossen abweichen - und zweitens auch verschiedene geistige Strömungen, die einander oft gänzlich entgegengesetzt sind.
Manche Soziologen und Historiker würden diese Gegensätze wahrscheinlich wieder als typisches Kennzeichen der besonderen historischen Epoche und ihres homogenen Charakters deuten. Sie würden sagen, das Problem, um das es geht - zum Beispiel die Frage der menschlichen Freiheit - sei für den Charakter einer bestimmten Epoche konstitutiv und die Tatsache, dass wir über diesen Gegenstand entgegengesetzte Meinungen finden können, beweise die Abhängigkeit aller von derselben Frage, die ihnen von ihrer Epoche gestellt würde. Aber das ist ein verzweifelter Versuch, die künstliche Theorie vom homogenen Zeitalter zu retten. Denn dieselbe Kontroverse steht oft in den verschiedensten Epochen im Mittelpunkt des Interesses. Das ist sicher im Fall der Freiheit wahr. In ein und derselben Epoche können wir entgegengesetzte Strömungen finden, die vollkommen verschiedene Interessen und geistige Einstellungen einschließen. Die allzu vereinfachte Geschichtsdarstellung, die hinter dem Begriff von einer geschlossenen Epoche steht, kann keiner Analyse standhalten.
Mit diesem Irrtum hängt auch die Übertreibung des Unterschiedes zwischen zwei verschiedenen historischen Epochen zusammen. Wie verschieden auch die äußeren Lebensbedingungen sein mögen, so bleibt doch der Mensch grundsätzlich immer derselbe. Der Stand der Technik, der Medizin und der Organisation des gesellschaftlichen Lebens ist heute ein ganz anderer als im Mittelalter, aber die Quellen wahren Glücks auf Erden bleiben dieselben: Liebe, Wahrheit, Ehe, Familie, die Schönheit in Natur und Kunst, schöpferische Tätigkeit. Obwohl die Umwandlungen in der Geschichte viele neue Probleme stellen, finden wir dieselben grundlegenden metaphysischen Gegensätzlichkeiten zu allen Zeiten, dieselben Dramen im Leben des Menschen. Es ist tatsächlich wahr, dass man in der Geschichte das Aufkommen und Untergehen von Lebensstilen festhalten kann, die eine Zeit lang die Existenz der Menschen prägen und ihren Ausdruck in der Architektur, in Sitten und in Moden des Verhaltens und Denkens finden.
Aber der Mensch ändert sich nicht in seinem Wesen, er bleibt denselben sittlichen Gefahren ausgesetzt; er ist zu allen Zeiten gleich erlösungsbedürftig und er ist zu allen Zeiten in gleicher Weise zu moralischer Vollkommenheit, ja sogar zur Heiligkeit berufen; für den Menschen aller Zeiten gelten die Worte des heiligen Augustinus: „Du hast uns für Dich erschaffen, o Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in Dir.(116)
Überdies - und das ist oft der Fall - können in tiefen und grundsätzlichen menschlichen Fragen zwei Zeitgenossen stärker voneinander abweichen als zwei Menschen verschiedener Zeiten. Der Unterschied zwischen Sokrates und Kallikles, wie er im Gorgias von Plato dargestellt wird, ist viel größer als der Unterschied zwischen Kallikles und Nietzsche. Beethoven und Rossini stehen einander viel ferner, als Beethoven und Bach. Michelangelo ist von seinem Zeitgenossen Bandinelli viel mehr verschieden, als von Phidias. Kardinal Newman steht Augustinus unendlich viel näher als Karl Marx. Es besteht ein viel größerer Unterschied zwischen Don Bosco und Garibaldi oder Comte, als zwischen Don Bosco und Franz von Assisi oder dem heilige Martin von Tours. Und zwar beziehen sich die Unterschiede, von denen wir hier sprechen, nicht nur auf den Bereich der Ideen, sondern auf die ganze geistige Welt, in der diese Menschen sich bewegten. Deshalb sind Begriffe wie „der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts" oder „der moderne Mensch" überaus vieldeutig und von zweifelhafter Natur. Es gibt keinen solchen „modernen Menschen." Es gibt nur intellektuelle und kulturelle Strömungen, die vorübergehend eine gewisse Vorherrschaft besitzen. Der Begriff des „modernen Menschen" als einer Norm, der wir uns alle anpassen sollten, ist deshalb entweder ein Betrug oder sinnlos. Selbst wenn man unter dem „modernen Menschen" nur den Träger einer vorübergehend herrschenden Mentalität versteht, kann er niemals eine Norm für uns sein. Diese „epochale" Mentalität kann entweder mit der Wahrheit in Einklang stehen oder nicht; sie kann gut oder schlecht, tief oder oberflächlich sein. Die bloße Tatsache, dass sie in einer gegebenen historischen Epoche vorherrscht, ist nicht der geringste Hinweis für die Haltung, die wir ihr gegenüber einnehmen sollen. Es kann sein, dass wir sie stärken und gutheißen sollen. Es kann aber auch sein, dass wir mit aller Kraft gegen sie kämpfen sollen. Nur wenn diese Mentalität in der Wahrheit gründet und gut ist, sollen wir sie gutheißen; in diesem Fall werden wir das auf Grund des ihr eigenen Wertes tun, unabhängig von ihrer historisch-sozialen Lebendigkeit, von ihrer zeitweiligen Vorherrschaft.
Eine zeitweilig herrschende Mentalität allen aufzudrängen, die sie nicht teilen, ist übrigens offenbar gegen den Geist der Freiheit und die Achtung vor der Würde der menschlichen Person und verletzt ein fundamentales Prinzip echter Demokratie - die Achtung der Minoritäten. Es ist weiter ein absurder Widerspruch, willkürlich zu bestimmen (wie so viele Intellektuelle es tun), was „der moderne Mensch" ist und dann zu behaupten, dieser sei die Norm für die Epoche, der sich alle anderen, die auch in derselben Zeit leben, anzupassen hätten. In Wirklichkeit blasen sie sich nur auf, indem sie ihre eigene Mentalität in den angeblichen „modernen Menschen" hineinprojizieren.
Doch besonders wichtig ist es zu sehen, dass die Einheit des Stils, die eine Epoche besitzen mag, uns niemals berechtigt, diese Einheit auf die Sphäre der Wahrheit oder Sittlichkeit auszudehnen. Es ist unmöglich, von einer Renaissance-, einer Barock- und einer modernen Wahrheit zu sprechen, oder von einer mittelalterlichen und einer modernen Moral, wenn wir unter Moral die wahre Natur sittlicher Haltungen verstehen und nicht Substitute für sittliche Werte - die in der Tat für eine bestimmte Zeit charakteristisch sein mögen.(117) Noch mehr gilt dies für den Bereich des Religiösen. Es gibt keine mittelalterliche Heiligkeit im Unterschied zu einer barocken, keine Heiligkeit des neunzehnten Jahrhunderts, die von der des zwanzigsten Jahrhunderts zu unterscheiden wäre. Die Umgestaltung in Christus ist wesenhaft immer dieselbe. Die Unterschiede, die wir in den Heiligen bemerken, haben ihren Grund viel mehr in den verschiedenen individuellen Persönlichkeiten als in den Zeiten, in denen sie lebten. Und wenn man von der für eine Zeit charakteristischen Frömmigkeit spricht (immer unter der Gefahr der Übervereinfachung), so kann sich das nur auf einen Typus von Frömmigkeit beziehen, der in keinem Widerspruch zu einem anderen steht, sondern vielmehr diesen ergänzt. Solange wir uns auf eine echte, christliche Frömmigkeit beziehen und nicht auf Abirrungen, ist der Unterschied, den wir innerhalb dieser Formen der Frömmigkeit finden, ähnlich dem, der zwischen den verschiedenen Formen der Verehrung besteht, z. B. der Verehrung des Kindes Jesus, des leidenden Christus oder des heiligsten Herzens Jesu.
Die Vorstellung von einer geschlossenen Epoche ist eng mit einer anderen falschen Annahme verschwistert - nämlich der, dass es im Laufe der Geschichte eine Art immanente Logik gibt, von der wir eine gewisse Kenntnis haben könnten. Wir haben schon die Irrtümer des Evolutionismus und Progressismus sowie der Hegelianischen Vorstellung von der historischen Dialektik besprochen. Es ist nicht wahr, dass die Aufeinanderfolge von geschichtlichen Epochen durch eine eindeutige Bewegung in ein und derselben Richtung charakterisiert ist, sei diese nun gut oder schlecht. In Wirklichkeit ist es vielmehr so, dass oft eine Zeit einer anderen weit zurückliegenden viel ähnlicher ist als der vorangegangenen. Die Hegelsche Theorie vom Weitgeist hat keine reale Grundlage. So herausfordernd und brilliant sie auch sein mag, so sehr sie von Hegels Genie Zeugnis geben mag, so bleibt diese Theorie doch eine reine Spekulation, die von einem naturalistischen Immanentismus geprägt ist. Daraus folgt trotz Hegels gegenteiliger Behauptungen, dass sie mit der Christlichen Offenbarung absolut unverträglich ist.
Wenn progressistische Katholiken die Kirche auffordern, sich der modernen Welt anzupassen, so machen sie gewöhnlich Andeutungen, dass es sich dabei zugleich um die zukünftige Welt handle. Sie wollen die Tatsache nicht wahrhaben, dass keine Garantie dafür besteht - eher dagegen - dass die Strömungen und Bewegungen von heute nicht schon morgen eine heftige Reaktion zum Gegenteil auslösen werden. Es wird vielleicht eine starke Reaktion gegen das Computer-Ideal geben, gegen den gegenwärtigen Amoralismus, gegen die heutigen Moden in Philosophie und Kunst. Diese Reaktionen müssen natürlich nicht kommen; aber es gibt keine Entschuldigung für ein vollkommenes Ignorieren ihrer Möglichkeit, um nicht zu sagen Wahrscheinlichkeit. Der Rationalismus der Aufklärung wurde von der Romantik abgelöst. Die Geschichte kennt viele solche Beispiele. Die Behauptung der Vorkämpfer des Progressismus, dass ihnen die Zukunft gehöre, ist vollkommen grundlos. Diese Behauptung bedeutet einen „reinen Akt des Glaubens", der weder durch die Wissenschaft, noch die Philosophie, noch die Geschichte, noch die Offenbarung gestützt wird. Es wäre absurd, feige und ein Verrat an ihrer Sendung, wenn die Kirche sich der modernen Zeit, der „Zukunft" anpassen wollte. Wie Papst Johannes XXIII gesagt hat: Die Kirche muss ihr Siegel allen Nationen und geschichtlichen Epochen aufprägen nicht umgekehrt. Die Offenbarung wendet sich an den Menschen aller Zeiten - an die „wesentliche" menschliche Person, deren unwandelbares Wesen allein uns ermächtigt, vom Menschen im allgemeinen zu sprechen. Wenn ein Mensch die Vorstellung vom geschlossenen, einheitlichen Charakter historischer Epochen nährt und den Unterschied zwischen verschiedenen Epochen übertreibt, so wird er von der Illusion erfasst werden, der Mensch unserer Zeit könne von der Botschaft Christi nur in einer vollkommen neuen Weise erreicht werden. Seine dilettantische Interpretation des Kairos, seine hauptsächliche Bemühung, den Menschen „unserer Zeit" zu erreichen, wird ihn verhindern, den Menschen aller Zeiten zu erreichen.
Die falschen Vorstellungen, historische Perioden seien intellektuell und psychologisch einheitlich und es gäbe eine immanente Logik in der Geschichte, führen zu dem Glauben, dass die Geschichte unserem Einflussbereich enthoben ist. So wahr diese Vorstellung auch sein mag, solange es sich um die technische Entwicklung handelt, so falsch ist sie, wenn man sie auf Ideologien und politische Systeme anwendet. Viele glaubten seinerzeit in Deutschland, dass der Nationalsozialismus unvermeidlich und dass sein Kommen unabhängig davon sei, ob sie es wollten oder nicht. Wir hören heute oft eine ähnliche Behauptung bezüglich des Marxismus und gewisser Formen des Kollektivismus. Man rät deshalb der Kirche, weise zu sein und sich darauf vorzubereiten, in einer kommunistischen Welt weiterexistieren zu müssen. Dieser Fatalismus bezüglich der Geschichte trägt der Willensfreiheit des Menschen nicht Rechnung, seiner Fähigkeit, einer anscheinend unausweichlichen Strömung entgegenzutreten und sie zu überwinden, ja nicht einmal die geschichtlichen Tatsachen werden dabei in Rechnung gezogen. Es ist wieder eine Hegelianische Konstruktion, die zu einer falschen Interpretation des Kairos führt.
Wir möchten nachdrücklich wiederholen: Es gibt keine geschlossene, homogene historische Epoche; es gibt keinen „modernen Menschen". Und vor allem: Der Mensch bleibt immer derselbe in seiner Wesensstruktur, in seinem Schicksal, in seinen Möglichkeiten, in seiner Sehnsucht und seinen sittlichen Gefahren. Und das ist wahr trotz aller Veränderungen, die in den äußeren Lebensbedingungen vor sich gehen. Es gibt und hat nur eine einzige entscheidende historische Veränderung in der metaphysischen und moralischen Lage des Menschen gegeben: die Ankunft Christi - die Erlösung der Menschheit und ihre Versöhnung mit Gott durch Christi Tod am Kreuz.
18. Kapitel: DIE FURCHT VOR DEM HEILIGEN
Wie eine belagerte Stadt ist die Kirche von den Irrtümern und Gefahren unserer Zeit umringt. Leider sind manche Katholiken nicht nur diesen Gefahren gegenüber ahnungslos, sondern sogar in verschiedenem Grad von ihnen infiziert.
Es gibt gewisse Theologen, die gegen das Einbrechen des Relativismus, des Amoralismus und der Laboratoriumseinstellung dem Leben gegenüber kämpfen. Sie werden alles ablehnen, was ihnen den echten Glauben an Christus und die unveränderlichen Lehren der Kirche zu unterhöhlen scheint. Doch ihre Reaktion auf Fehler vergangener Epochen - wie Legalismus, Verknöcherung und der Missbrauch von Autorität - ist so heftig, dass sie dazu neigen, die Gefahren unserer eigenen Zeit zu übersehen. Es ist immer schwer, sich von einem ungerechtfertigten Optimismus freizuhalten, wenn wir voller Freude über die Befreiung von bestimmten übeln sind - vor allem wenn diese übel schwer auf unserem Leben gelastet haben. Wir richten gleichsam unsere Aufmerksamkeit auf das Vermeiden der Fehler, die unser eigenes Verhalten in der Vergangenheit charakterisierten, statt sie auf gleich große oder noch schwerwiegendere Fehler zu lenken, die das entgegengesetzte Extrem darstellen. Wir haben im I. Teil behandelt, was oft tatsächlich infolge dieser falschen Reaktionen eintritt.
Es besteht kein Zweifel darüber, dass der Kirche in der Vergangenheit durch einen harten Legalismus und durch eine Art Pontifikalismus viel Schaden zugefügt wurde. Gewisse Prälaten zeigten in der Verwaltung ihres Amtes einen Esoterismus. Es besteht kein Zweifel, dass trotz der Stimme der Päpste - z. B. der Enzyklika „Rerum novarum" Leos XIII. - manche Priester und Bischöfe mehr daran interessiert waren, gute Beziehungen mit den Reichen und Mächtigen zu haben, oder zumindest eine größere Solidarität mit den „bien pensants" fühlten, als mit den Arbeitern oder Bauern. Manchmal zeigten sie sehr wenig, Mitgefühl mit den Leiden der Armen. Doch diese unseligen Fehler - die anderseits durch wunderbare Werke christlicher Nächstenliebe und durch heroische apostolische Tätigkeit aufgewogen wurden - rechtfertigen in keiner Weise die Ressentiments gegen die oberen Gesellschaftsschichten und den Geist des Klassenhasses und der Rivalität, der heute Elemente des Klerus infiziert, vor allem in Frankreich. Michel de St. Pierre hat diese Tatsache in seinen beiden Werken „Les nouveaux Prêtres" und „Sainte Colère"(118) gezeigt. In manchen Fällen haben diese Reaktionen das Extrem eines offenen Flirts mit dem Marxismus erreicht. Dies bedeutet nichts weniger als einen säkularistischen Abfall.
Nun sprechen wir hier von jenen Theologen und Laien, die sich einer Säkularisierung, dem Relativismus und Naturalismus widersetzen, jedoch durch einen ahnungslosen Optimismus in Gefahr sind, die Gefahren unserer Zeit zu verharmlosen und zu ignorieren - und ihnen dadurch zu erliegen. Hier sind ohne Zweifel manche unbewusste Strömungen am Werk. Die legitime Antipathie gegen jeden Esoterismus, gegen jede klerikale Herablassung den Laien gegenüber - besonders wenn sie den niedrigen Klassen angehören - hat in sehr vielen Fällen zu einem unseligen Bündnis mit einem Idol der Gleichheit geführt, das alle hierarchischen Strukturen zu zerstören sucht. In ihrer Furcht vor Esoterismus und Prälatentum sehen heutzutage viele Priester die wertvollsten kulturellen Züge der Kirche - wie die sakrale Atmosphäre der Liturgie - als ein esoterisches sich Zurückziehen vom einfachen Mann an. Überall wittern sie eine Vernachlässigung des „Mannes auf der Straße", einen unchristlichen Aristokratismus. Und in einem gewissen Maß dehnen sie dieses Misstrauen sogar auf die hierarchische Struktur im allgemeinen aus. Diese Antipathie gegen den „Pontifikalismus" macht sie gewöhnlich blind für die große Gefahr des Sich-gehen-lassens und vor allem für den Prozess der Entsakralisierung, der die moderne Welt charakterisiert. Sie scheinen sich der elementaren Bedeutung der Sakralität in der Religion nicht bewusst zu sein.(119)
So stumpfen sie den Sinn für das Heilige ab und untergraben dadurch wahre Religion. Ihre „demokratische" Einstellung lässt sie die Tatsache übersehen, dass in allen Menschen, die eine Sehnsucht nach Gott haben, auch eine Sehnsucht nach dem Heiligen lebt und ein Sinn für den Unterschied zwischen Sakralem und Profanem. Der Arbeiter oder der Bauer hat diesen ebenso gut wie der Intellektuelle. Wenn er ein Katholik ist, wird er sich danach sehnen, in der Kirche eine sakrale Atmosphäre zu finden; und dies bleibt wahr, ob die Welt städtisch und industrialisiert ist oder nicht. Er wird fähig sein, das esotorische „oben" und das göttliche „oben" zu unterscheiden. In keiner Weise wird er sich durch die Tatsache bedrückt fühlen, dass Gott unendlich über ihm und dass Christus der Gottmensch ist. Er blickt freudig zur Kirche mit ihrer göttlichen Autorität auf. Er erwartet von jedem Priester als einem Vertreter der Kirche, er werde eine andere Atmosphäre ausstrahlen als der Durchschnittslaie.
Viele Priester glauben, dass es der Kirche erst möglich wird, dem einfachen Mann in Liebe zu begegnen, wenn sie die sakrale Atmosphäre, die z. B. in den wunderbaren mittelalterlichen Kathedralen oder in den Barockkirchen herrscht, in denen auch die lateinische Messe zelebriert wurde, durch eine profane, funktionalistische, neutrale und eintönige Atmosphäre ersetzt haben. Doch das ist ein fundamentaler Irrtum. Diese Atmosphäre wird die tiefste Sehnsucht des einfachen Menschen nicht erfüllen. Sie wird ihm Steine statt Brot reichen. Statt die so verbreitete Ehrfurchtslosigkeit zu bekämpfen, helfen solche Priester tatsächlich mit, diese Ehrfurchtslosigkeit auszubreiten. Sie verstehen nicht, dass esoterischer Pontifikalismus in Wirklichkeit eine Form der Säkularisierung(120) ist, und dass sein wirkliches Gegenteil heilige Salbung ist, die alle Heiligen besaßen - der Geist der Ehrfurcht, die Verbindung von Demut mit einem Benehmen, das dem Gottesdienst angemessen ist.
Jeden, der Augen hat, zu sehen und Ohren, zu hören, wird die Erfahrung lehren, dass ein heiligmäßiger Priester mehr Seelen zu Christus zieht (vor allem unter den sogenannten „einfachen Menschen") als all jene, die dem Volk dadurch näher zu kommen meinen, dass sie eine Haltung annehmen, die den Stempel ihres heiligen Amtes vermissen lässt. Michel de St. Pierre hat diese Tatsache wunderbar in seinem Roman „Die neuen Priester" dargestellt. Diese Priester sprechen nicht zum tiefsten Zentrum im Menschen. Indem sie einfach auf den früheren Pontifikalismus reagieren, wenden sie sich bloß an eine oberflächliche, weltliche Schicht im Menschen. Sie mögen vielleicht eine Zeitlang Erfolg haben, indem sie mehr Menschen zur Kirche führen, indem sie das Leben ihrer Pfarrei aneifern: Aber sie werden die Menschen Christus nicht näher bringen;
noch werden sie ihren tiefsten Durst nach Gott und nach dem Frieden stillen, den die Welt nicht gibt, den Christus allein geben kann. Der Kairos ruft uns aber, die Menschen zu Christus zu ziehen, nicht nur sie in die Pfarrei zu bringen. Hans Urs von Balthasar hat dies so ausgedrückt (121): „Wo aber bleibt in unsern allerneuesten Gottesdiensten diese Anbetung? In der Meinung, sie sei entweder überflüssig, oder das Kirchenvolk sei nicht mündig genug sie zu leisten, bemüht sich die Phantasie des Klerus, die Zeit auf nützliche und abwechslungsreiche Weise auszufüllen bis in die kleinsten Winkel.
Gewiss erzeugt ein schöner Gemeindegottesdienst auch eine Art von Befriedigung. Der Pfarrer ist mit der Gemeinde zufrieden, wenn sie tüchtig mitgemacht hat. Die Gemeinde ist mit sich selber zufrieden, dass sie so eine schöne geistliche Feier hingekriegt hat. Es ist die Kirche, die mit sich selber zufrieden ist, es ist geistlicher Selbstgenuss der Gemeinde."
Diejenigen, die heilige Reserve mit Pontifikalismus verwechseln, und Sakralität mit Esoterismus, tragen einen eigenartigen Selbstwiderspruch zur Schau. Einerseits betonen sie die Offenheit gegenüber den Strömungen unserer Zeit; einerseits wünschen sie, die Ferne vom täglichen Leben zu vermeiden, die angeblich der früheren Auffassung vom Christentum eigen war - und anderseits ignorieren sie die elementarsten Züge der menschlichen Natur und fallen so in einen falschen Supranaturalismus. Zum Beispiel hörte ich einen Priester am Himmelfahrtstag in seiner Predigt sagen, der Verstand der Apostel sei verfinstert gewesen, als sie sich erlaubten, voll Schmerz über das Scheiden des Herrn zu sein. Denn, so fuhr er fort, Christus ist mitten unter denen, die in seinem Namen versammelt sind. Diese Behauptung übersieht die schlichte menschliche Tatsache, dass Sehen noch beglückender ist als Glauben. Obwohl auf Erden unsere Beziehung zu Christus auf dem Glauben gegründet ist, in dem wir wissen, dass Er in der Eucharistie gegenwärtig und auf andere Weise auch überall inmitten derer anwesend ist, die an Ihn glauben, so sehnt sich trotzdem jeder, der Christus wirklich liebt, glühend danach, Ihn von Angesicht zu Angesicht in alle Ewigkeit zu schauen. Und jeder wirkliche Christ begreift voll das unerhörte Privileg, das den Aposteln und Jüngern darin gewährt wurde, dass sie sich Seiner Gegenwart erfreuen durften, dass es Ihnen gewährt war, Ihn zu sehen, Seinen Worten zu lauschen, in tatsächlicher Gemeinschaft mit Ihm zu leben. Außer durch mystische Gnaden kann dieses Privileg durch keine Gemeinschaft ersetzt werden, die nur auf dem Glauben beruht. Diese tiefe Sehnsucht nach der voll erlebten Vereinigung mit Christus, nach dem Schauen Christi, durchzieht das Leben der Heiligen. Es klingt in den Worten des heiligen Johannes am Ende der Apokalypse an:
Veni Jesu Domine Komm Herr Jesus
Es ist in den letzten Versen des wundervollen Adoro Te von Thomas von Aquin ausgedrückt:
“Jesu quem vela turn nunc aspicio
Oro fiat illud quod tam sitio
Ut Te revelata cernens facie
Visu sim beatus tuae gloriae."
„O Jesus, den ich jetzt nur verhüllt erblicke,
ich bitte, dass geschehe, wonach ich so dürste:
dass ich Dein Angesicht unverhüllt schaue
und im Anblick Deiner Glorie selig sei."
Es gibt eine ähnliche Verkennung der menschlichen Natur und einen „entsprechenden" Supranaturalismus bei denen, die die Gegenwart Christi in unserem Nächsten in einem ganz falschen Sinn auffassen und behaupten, es mache wenig aus, ob wir uns an Jesus Christus selbst wenden oder Ihm in unserm Nächsten begegnen. So wahr es ist, dass wir Christus in unserm Nächsten finden sollten, so besteht doch ein Abgrund zwischen unserer Gemeinschaft mit Christus selbst und unserer Begegnung mit Ihm in unserm Nächsten. In einer direkten Ich-Du-Beziehung mit Jesus Christus - dem unendlich Heiligen - vereint zu sein, sollte die große Sehnsucht unseres Lebens sein, die Seligkeit, auf die wir hoffen. Das Sehen Christi in unserm Nächsten - selbst im unscheinbarsten und bösen Menschen - auf eine Stufe mit der direkten Gemeinschaft mit Ihm zu stellen, bedeutet sowohl ein Missverstehen der menschlichen Natur als auch der christlichen Erfahrung. Erstens gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Weise, in der ein Heiliger Christus widerspiegelt und der Weise, in der wir Ihn in jedem Durchschnittsmenschen finden.
Die Heiligen strahlen etwas von Christi Heiligkeit wider. Wir können die Qualität der Heiligkeit direkt verkosten. Christus in weniger vollkommenen Menschen zu finden, ist hingegen nur durch den Glauben möglich.
Außerdem setzt, wie wir schon gesagt haben(122), das Finden Christi in unserem Nächsten notwendig eine direkte Beziehung zu Christus selbst voraus. Nur weil Christus gesagt hat: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan" ist es möglich, Christus in unserm Nächsten zu sehen trotz aller Hindernisse, die dieser uns in den Weg legen mag.
Und darüber hinaus vergisst man allzu oft, dass sich Christi Worte auf die Taten unserem Nächsten gegenüber beziehen und nicht auf die einzig beseligende Erfahrung - das frui - der Liebesgemeinschaft mit Christus. Man könnte vielleicht einwenden, dass Taten, die wir unserem Nächsten erweisen, im buchstäblichen Sinne Christus selbst erwiesen werden. Doch es ist unmöglich zu behaupten, dass uns in der Gemeinschaft mit unserem Nächsten die gleiche Seligkeit zuteil wird, wie in unserer Gemeinschaft mit Christus. Die Begegnung mit Christus in unserem Nächsten ist ein Sieg der Caritas, und Caritas - wir wiederholen - konstituiert sich allein in der direkten Ich-Du-Gemeinschaft mit Christus.
Das Finden Christi in jedem - auch sündigen – Nächsten hebt weder den unendlichen ontologischen und qualitativen Unterschied zwischen Christus und dem Nächsten auf, noch den qualitativen Gegensatz.
Für den Nächsten gilt alles, was von uns selbst gilt: Er ist aus dem Nichts geschaffen, er ist aus sich nichts, er hat alles empfangen - Christus ist seit Ewigkeit, durch Ihn ist alles geschaffen, Er IST Gott, durch den wir alles empfangen; der Nächste ist voller Gebrechlichkeit und Sünden, er beleidigt Christus, seine Liebenswertheit ist nur aus dem Glauben erkennbar, dass Christus ihn erlöst hat und unendlich liebt - Christus ist der unendlich Heilige, Er wird von jeder Sünde beleidigt, Er ist der Erlöser, Er ist der Ursprung aller Liebenswertheit des Nächsten und in sich unendlich liebenswert; der Nächste soll sich bekehren, bereuen - Christus wird ihm vergeben, ihn wieder aufnehmen; der Nächste soll Christus anbeten - Christus soll angebetet werden; der Nächste empfängt die Seligkeit als freies Geschenk Gottes - Christus schenkt sie ihm; der Nächste wird gerichtet werden - Christus wird sein Richter sein; der Nächste kann Gott auf ewig verlieren - Christus IST GOTT. Christus ist unendlich barmherzig gegenüber dem Nächsten - der Nächste empfängt die unendliche Barmherzigkeit Christi, für die er ewig unendlich dankbar sein muss; Christus, die Zweite Göttliche Person, ist in sich unendlich selig - der Nächste kann nur durch Ihn selig werden und sich an Christi, an Gottes unendlicher Güte und Schönheit in dem Maße seiner Heiligkeit erfreuen. Denn die Heiligkeit Gottes ist der Sonne vergleichbar, die eines Menschen ihrem Abglanz.(123)
19. Kapitel: IMMANENTISTISCHER VERFALL
Die Säkularisierung des Christentums - dieses Pseudo-Aggiornamento - erreicht einen noch viel höheren Grad bei jenen „Intellektuellen" (Priestern und Laien), die von verschiedenen Formen des säkularistischen Immanentismus angesteckt sind, der in allen seinen Formen zu einer Auflösung des wahren christlichen Glaubens führt.
Teilhardismus (124)
In der vordersten Reihe innerhalb der Ränge der Immanentisten sind die Anhänger der Ideen von Teilhard de Chardin zu finden. Sogar viele, die diese Theologie-Fiktion (so hat Etienne Gilson Teilhards gnostische Interpretation der Christlichen Offenbarung genannt) nicht voll annehmen, stehen unter seinem Einfluss, indem sie die Ewigkeit durch die geschichtliche Zukunft ersetzen, indem sie die Verschiedenheit von Leib und Seele, von Geist und Materie leugnen, und indem sie wie Teilhard die Urgegensätze von Gut und Böse, Heiligkeit und Sünde, bloß als verschiedene „Evolutionsstadien" auffassen. Es sollte gar nicht nötig sein, auf die absolute Unverträglichkeit dieser Ansichten mit der Christlichen Offenbarung hinzuweisen. In Teilhards gnostischer „Christo genese" ist kein Platz für die Erbsünde, für die Erlösungsbedürftigkeit, und in der Folge davon kein Platz für die Erlösung der Welt durch Christi Tod am Kreuz. In dieser modernen Gnosis ist Jesus Christus nicht der Gottmensch, der den Menschen die Frohbotschaft bringt; er ist nicht die Epiphanie Gottes, der die Menschen durch seine unendliche Heiligkeit an sich zieht. Statt dessen wird er zu einer impersonalen Kraft, zu einer vis a tergo, zum Initiator und Endpunkt (Omega) eines kosmischen Evolutionsprozesses. Die Umgestaltung in Christus wird durch eine menschliche Evolution ersetzt, die sich über den Kopf des einzelnen hinweg vollzieht, unabhängig von seiner freien Entscheidung. Statt der Auferstehung des Leibes beim Jüngsten Gericht bietet uns Teilhard eine Identifizierung von Geist und Materie an als den Endpunkt einer Evolution; statt der beseligenden Anschauung Gottes (visio beatifica) - der ewigen Liebesgemeinschaft der Person mit Gott - verspricht er ein Eintauchen des individuellen Bewusstseins in das allgemeine Bewusstsein einer „Übermenschheit."(125)
Dass Teilhards Theologie-Fiktion viele für unsere Zeit typische intellektuelle Perversionen enthält, kann man nicht leugnen. Da ist vor allem der Evolutionismus und Progressismus. Zweitens gibt es bei ihm einen Hang zum historischen Relativismus, in dem Wahrheit - sogar geoffenbarte Wahrheit - von dem „Geist der Zeit" abhängig gemacht wird. Wir brauchen uns nur an sein Argument erinnern, man könne nicht länger erwarten, dass Menschen, die im „industriellen und wissenschaftlichen Zeitalter" leben, noch das glauben können, was den Glauben während zweier Jahrtausende christlichen Lebens gebildet hat. Drittens gibt es bei ihm einen materialistischen Zug, insofern der Wesensunterschied zwischen Leib und Seele, Geist und Materie verwischt wird. Und vor allem vertritt Teilhard ausdrücklich den modernen Naturalismus, indem er den Unterschied zwischen Natur und Übernatur aufhebt.
Eng verbunden mit Teilhards Immanentismus ist seine Tendenz, das Wunder des personalen Seins aus der Sicht zu verlieren - seine Abwertung der individuellen Existenz als etwas Begrenztes und Unvollkommenes zugunsten der kosmischen Energie apersonaler Kräfte. Diese Vorliebe für eine „überpersonale Entität" ist das genaue Gegenteil von der klaren Vision der Größe des Menschen, wie wir sie z. B. bei Pascal finden.
Pseudopersonalismus
Es gibt eine andere zeitgenössische Strömung, die im Gegensatz dazu die Person auf Kosten „apersonaler", „kalter" Prinzipien verherrlicht. Das ist die Haltung der Verkünder der verschiedenen Formen der „neuen Moral". Sie missdeuten vollständig den Begriff und die legitime Rolle von „Prinzipien". Ihren absurdesten Ausdruck findet diese falsche Auffassung in Fletchers „Situationsethik".(126) Aber diese Missdeutung der Prinzipien hat in den Geist vieler progressistischer Katholiken Eingang gefunden, wenn auch in einer weniger oberflächlichen Form. Sie findet ihren Ausdruck vor allem in der Unterscheidung zwischen „griechischer" Wahrheit und „personaler" Wahrheit in Christus. (Wir werden im folgenden Kapitel diese Konfusion im einzelnen besprechen). So versichern viele Katholiken, dass Christi Wort „Ich bin die Wahrheit" einen anderen, höheren Begriff der Wahrheit einschließt, einen, der nicht von Sätzen, sondern von einer Person ausgesagt wird. Sie betonen die Person als etwas allen Abstraktionen Entgegengesetztes und bemühen sich deshalb sehr, die „abstrakte Wahrheit" –„Prinzipien" - abzubauen, um eine „personale Wahrheit" zu verkünden.
Entmythologisierung (127)
Manchmal verbinden sich auch diese beiden entgegengesetzten Strömungen - die Teilhardsche Vernichtung und die „situationsethische" Übersteigerung der Person. Dies ist der Fall bei den Katholiken, die Bultmann folgen und behaupten, Christus sei nicht gekommen, um uns übernatürliche, unwandelbare, ewige, transzendente Wahrheit zu offenbaren, sondern nur um uns aufzurufen, Ihm nachzufolgen.(128)
Doch erstaunlicherweise legen Bultmann und seine Anhänger kein Gewicht auf die historische Person Jesu(129), sondern nur auf eine Art Kraft oder Prinzip - eine fiktive, nicht objektiv existierende „Person" - in den Seelen der „gläubigen" Menschen. Der Widerspruch, der darin liegt, ist offenbar: Von denen, die die Person gegenüber allen „Aussagen" hervorheben, die konkrete, individuelle Wirklichkeit des personalen Seins gegenüber abstrakten Prinzipien, - von denen, die die personale Wahrheit, die in Christus inkarniert ist, jeder „logischen Wahrheit" (jeder in objektiv gültigen Sätzen aussagbaren Wahrheit) gegenüberstellen - würde man sicherlich erwarten, dass sie die historische, individuelle Existenz der Person Jesu hervorheben. Aber es ist gerade diese konkrete Existenz des Gottmenschen, die im Namen der „Entmythologisierung" geringgeschätzt wird.
Dieses Bultmannische Begehren, das Evangelium zu entmythologisieren, findet einen sonderbaren Verbündeten in der pseudo-existentialistischen Antipathie gegenüber der Bedeutung, Würde und grundlegenden Funktion wahrer Sätze - der Prinzipien; denn die ganze Bewegung der Entmythologisierung schließt ein Verkleinern der objektiven, historischen Wirklichkeiten des Evangeliums ein. So wendet man sich gegen Prinzipien im Namen von Personen, und die Person schafft man ab im Namen des Prinzips der Entmythologisierung.
Diese ganze Konfusion hat ihre Wurzel in Heidegger, dessen Einfluss auf Bultmann, ebenso wie auf viele katholische Intellektuelle wohlbekannt ist. Heideggers Leugnung der Subjekt-Objekt-Situation bedeutet, dass es in seiner Philosophie keinen Platz für ein „Du" gibt. Wie Gabriel Marcel mit Recht betont, entfaltet sich das wahre „Ich" nur in der Gemeinschaft mit einem „Du". Deshalb ist die wahre, volle Würde der Person - dieser einzigartigen, und unvergleichlich neuen Dimension des Seins - in der Philosophie Heideggers verdunkelt, trotz seiner Betonung, dass das „Dasein" (Mensch) dem „Vorhandenen" (Dingen) überlegen sei.
Rationalisierung des Mysteriums
Heideggerismus kann man auch in dem Versuch gewisser Theologen sehen, die Mysterien, die uns im Evangelium geoffenbart worden sind, durch eine obskure und abstrakte Metaphysik zu ersetzen. Dies ist besonders offenkundig in ihrer Interpretation des zentralen Mysteriums der Inkarnation.
Das Nizenische Credo spricht mit großer Einfachheit und Klarheit von diesem unergründlichen Geheimnis. Dagegen ersetzt z. B. Karl Rahner dieses Mysterium durch eine obskure, abstrakte Spekulation: Gott sagt sich selbst im Menschen aus; und jeder, der sein Leben annimmt, der Ja zum Leben sagt, vollzieht etwas der Inkarnation Analoges.(130)
Nun ist die Verbindung einer eindeutigen Tatsache mit einem absoluten Mysterium das Hauptkennzeichen der geoffenbarten Wahrheit. Doch in Rahners Spekulation werden die Tatsachen ihrer Eindeutigkeit völlig beraubt und die Mysterien werden durch verwirrende und verworrene Rationalisierungen ersetzt. Das Verschleiern der Mysterien und die Substituierung nebuloser Metaphysik für die geoffenbarte, klare und unergründliche Wahrheit steht außerdem in offenem Widerspruch zu dem viel hinausposaunten Wunsch, die Religion dem Menschen unserer Zeit näher zu bringen. Die Tatsachen der Offenbarung mit all ihrer lichtvollen Konkretheit und ihrem undurchdringlichen Geheimnis haben die Seelen der einfachsten wie der gebildetsten Menschen zweitausend Jahre hindurch bewegt. Doch die trübe Metaphysik, die man an ihre Stelle setzt - abgesehen von der Tatsache, dass sie weder die Botschaft Christi noch wahre Philosophie ist - kann für den Nicht-Intellektuellen niemals irgendeine Bedeutung haben.
Es scheint uns, dass diese dunklen Spekulationen der Intellektuellen, die man „Progressisten" nennt, aus dem ernstlichen Wunsch stammen, so viel als möglich von einem christlichen Glauben zu retten, den sie in Gefahr sind völlig zu verlieren - vom echten christlichen Glauben, den wir unverändert durch alle Jahrhunderte finden, sei es bei einem Franz von Sales, einer heiligen Theresia von Lisieux oder einem Pfarrer von Ars. Aber dieser verzweifelte Versuch - so ernst er auch gemeint sein mag - ist absolut unverträglich mit der Lehre der heiligen katholischen Kirche.
Szientismus
Der Wissenschaftsfetischismus, von dem wir früher gesprochen haben, hat auch bei Gliedern der katholischen Kirche Einlass gefunden. Dies ist offenkundig im Fall Teilhard de Chardins. Doch viele, die sich von Teilhards Gnosis nicht angezogen fühlen, nehmen nichtsdestoweniger stillschweigend die Identifizierung von Wahrheit mit „naturwissenschaftlicher Wahrheit" an. Das zwingt sie dazu, einen anderen Begriff von Wahrheit zu konstruieren, um einen Raum für den christlichen Glauben zu retten.
Der Einfluss des Wissenschaftsfetischismus wirkt sich bestimmend in der Vorstellung aus, die so vielen teuer ist, dass es nötig sei, das Evangelium zu verändern, d. h. alles daraus zu entfernen, was dem Menschen, der im wissenschaftlichen Zeitalter lebe, unzumutbar sei.
Wie wir im 4. Kapitel andeuteten, kann zwischen geoffenbarter Wahrheit und Wissenschaft gar kein Widerspruch bestehen, nur zwischen geoffenbarter Wahrheit und gewissen philosophischen Spekulationen, Interpretationen, Ableitungen oder Voraussetzungen, die in irgendeiner Form illegitimerweise mit bestimmten wissenschaftlichen Entdeckungen verbunden werden.
Die angebliche Unverträglichkeit der Wissenschaft mit den Wundern, die im Evangelium berichtet werden, erinnert mich an eine Geschichte, die mir ein Franziskanerpater vor vielleicht fünfzig Jahren erzählte. Ein Arzt sagte ihm, man könne von ihm als einem Naturwissenschaftler doch offenbar nicht erwarten, an die jungfräuliche Geburt Christi zu glauben. Der Franziskanerpater gab ihm zur Antwort: „Um zu wissen, dass gewöhnlich Mütter keine Jungfrauen sind, muss man wirklich kein Arzt sein." Chesterton hat über diesen Gegenstand in seinem Buch „Orthodoxy" ein paar Worte zu sagen:
„In den modernen Gesprächen ist eine idiotische Gewohnheit aufgekommen. Man sagt, dass ein so und so beschaffenes Glaubensbekenntnis in einem Jahrhundert geglaubt werden kann, nicht aber in einem anderen. Irgendein Dogma, so sagt man uns, war im zwölften Jahrhundert glaubwürdig, ist aber im zwanzigsten Jahrhundert unglaubhaft. Doch was ein Mensch glauben kann, hängt von seiner Philosophie ab und nicht vom Stundenschlag des Jahrhunderts. Wenn ein Mensch an ein notwendiges, unveränderliches Naturgesetz glaubt, kann er in keinem Jahrhundert an ein Wunder glauben. Wenn ein Mensch an einen Willen hinter dem Naturgesetz glaubt; dann kann er an jedes Wunder in jedem Jahrhundert glauben."
Niemand behauptet, dass Atheisten an Wunder glauben sollten. Wenn man aber an die Existenz eines persönlichen und allmächtigen Gottes, des Schöpfers Himmels und der Erde, glaubt, dann ist es absolut lächerlich anzunehmen, dass irgendein wissenschaftlicher Fortschritt den Glauben an Wunder unmöglich machen könne. Große Wissenschaftler früherer Zeiten und bedeutende moderne Naturwissenschaftler wie Planck, Pasteur, Carrel und unzählige andere, waren übrigens überzeugte Christen. In Wahrheit hat der Grad der erreichbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse nichts mit der Annahme der Christlichen Offenbarung zu tun, denn der Glaube schließt immer einen Sprung ein, der alle natürliche Erkenntnis transzendiert. Sagte nicht der heilige Paulus, dass Christus für die Griechen eine Torheit bedeute? Der Abgrund zwischen dem Gläubigen und dem Rationalisten, der den Glauben ablehnt, bestand zu allen Perioden der Geschichte des Christentums. Die heutige Revolte gegen Wunder und jedes Einbrechen des Übernatürlichen ist deshalb nichts Neues. Rousseau erklärte, er würde gerne Christus anbeten, wenn die Wunder aus dem Evangelium entfernt würden. Denselben Geist finden wir bei Voltaire und den Enzyklopädisten.
Als Antwort auf Gottes Offenbarung des Alten und des Neuen Testaments schließt der Glaube ein Transzendieren dessen ein, was wir mit unserer Vernunft begreifen können, eine Transzendenz unserer natürlichen Erkenntnis. Es ist deshalb klar, dass der Glaube durch keine wissenschaftliche Entwicklung verändert werden kann. Selbst philosophische Einsichten sind von der Entwicklung der Naturwissenschaften unabhängig; umso mehr gilt dies für die von Gott geoffenbarte Wahrheit.
Doch man gewinnt oft den Eindruck, dass progressistische Katholiken nur das als seriös und wirklich betrachten, dem die Naturwissenschaften beipflichten; sie beschränken sich auf das, was wir „die Laboratoriumsansicht des Universums" genannt haben. Da sie nicht verstehen, dass der menschliche Aspekt vom Universum voll gültig ist, werden solche Personen für die metaphysische Tiefe und Bedeutung von Kategorien wie „oben" und „unten" völlig blind. Die Tatsache, dass im Universum, wie es die Naturwissenschaft betrachtet, kein Platz für diese Begriffe ist, verringert ja nicht im geringsten die Wirklichkeit und objektive Gültigkeit dieser Kategorien, die unvermeidlich in der räumlichen Analogie von „oben" und „unten" ausgedrückt werden. „Oben" bleibt eine fundamentale Analogie für die Dinge, die metaphysisch über uns erhaben sind, ihrem Wert und ihrem ontologischen Rang nach; „unten" für die Dinge, die ihrem Wert und ihrer Seinsart nach geringer sind als der Mensch. Die Worte des heiligen Paulus „Suchet, was oben ist" behalten ihre volle Bedeutung für den Menschen, auch wenn man im räumlichen Universum „oben" und „unten" nicht finden kann. Seine Augen im Gebet zu erheben behält seine volle Bedeutung, auch wenn es unsinnig ist zu glauben, dass Gott - der jenseits aller räumlichen Begrenzung ist - im buchstäblichen Sinn „über den Wolken" ist. Die tiefe und unwandelbare Bedeutung dieser Analogien hat Gabriel Marcel in leicht verständlicher Form ausgeführt, und nur ein Tor kann behaupten, dass sie ihre Bedeutung in irgend einer Weise durch die Entdeckungen der Naturwissenschaften verloren haben oder dass sie von diesen auch nur im leisesten berührt sind.(131)
Bei vielem, was man heute liest und hört, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Menschen, die solches schreiben und sagen, einfach nicht mehr willens sind, den Glauben im vollen und eigentlichen Sinn anzunehmen. Sie scheinen zu vergessen, dass der Urgestus des Glaubens die uns gegebene Umwelt und alle natürliche Erkenntnis völlig übersteigt. Wenn wir dem Sprung ins Dunkle ausweichen wollen (einem Sprung, der auf einer überwältigenden, lichtvollen Gegebenheit gegründet ist), dann müssen wir uns auch darüber klar sein, dass ein Glaube in dieser Haltung unmöglich ist und wir eben nicht mehr glauben.
20. Kapitel: DIE UNTERGRABUNG DER WAHRHEIT
Verliebt in unsere Zeit, blind für alle ihre charakteristischen Gefahren, vergiftet von allem, was modern ist, fragen viele Katholiken nicht mehr, ob etwas wahr ist, ob es gut und schön ist, oder ob es einen Wert in sich selbst besitzt. Sie fragen nur, ob es zeitgemäß, „geschichtsgerecht" ist, ob es zum „modernen Menschen" und dem Zeitalter der Technik passt, ob es herausfordernd, interessant, dynamisch, kühn oder fortschrittlich ist.
Doch es gibt noch eine andere Strömung, die subtiler ist als die Unterordnung der Wahrheit unter das Zeitgemäße. Es ist der Versuch, den Begriff der Wahrheit in einer Weise zu interpretieren, die der Aushöhlung seines Inhalts gleichkommt. Dieser Irrtum tritt in einer orthodoxen und religiösen Verkleidung auf und ist deshalb für den Glauben noch gefährlicher. Wir denken im besonderen an die immer populärer werdende Unterscheidung zwischen einem „griechischen" und einem „biblischen" Begriff von Wahrheit.(132)
Es ist ein typischer Zug unserer soziologisch orientierten Zeit, die allergrundsätzlichsten Gegebenheiten so darzustellen, als seien sie in bestimmten Nationen und Kulturen entstanden.
Diese intellektuelle Mode wird besonders absurd, wenn man sie auf den Begriff der Wahrheit anwendet. Der authentische Begriff der Wahrheit ist in der Tat so grundlegend und unentbehrlich, dass jeder Versuch, ihm eine „neue" Interpretation zu geben, ihn im selben Atemzug wieder voraussetzt. Wahrheit ist keine nationale, kulturelle oder epochale Eigenheit. Wahrheit bedeutet die Übereinstimmung eines Urteils mit der Wirklichkeit, mit den existierenden Tatsachen. Das ganze Gewicht eines Satzes liegt darin, dass etwas tatsächlich so und so ist. Der Bereich des Seienden, auf den sich mein Urteil bezieht, mag verschieden sein, doch die Wahrheit bleibt dieselbe. Der Satz kann sich auf ein allgemeines Gesetz, auf einen Wesenszusammenhang oder auf eine konkrete Tatsache beziehen. Die Sätze „Moralische Werte setzen eine Person voraus" und „Napoleon starb in Sankt Helena" sind qua Wahrheit nicht verschieden, so verschieden auch die Wirklichkeiten sind, auf die sie sich beziehen.
Ein wahrer Satz, ob in der Philosophie oder in den empirischen Wissenschaften, ist einer, der objektive Gültigkeit besitzt und damit der Falschheit jeden Irrtums sowie der Ungültigkeit einer behaupteten Illusion oder Fiktion entgegengesetzt ist. Ja, noch mehr, die Wahrheit eines Urteils, das sich auf eine konkrete Tatsache bezieht - die sogenannte historische Wahrheit -, unterscheidet sich nicht von der Wahrheit allgemeingültiger Sätze. Die Quelle ihrer Wahrheit ist die wirkliche Existenz der Tatsache. Zu sagen, dass es eine Wahrheit gibt, die einen historischen Charakter hat, ist deshalb ganz doppeldeutig. Die Wirklichkeit, auf die sich die Wahrheit bezieht, ist im erwähnten Fall sicherlich ein historisches Ereignis. Aber die Wahrheit selbst ist nicht geschichtlich. Dass Napoleon in Sankt Helena starb, ist wahr, war vor fünfzig Jahren genauso wahr und wird immer wahr bleiben. Deshalb gibt es keine „geschichtliche Wahrheit", sondern nur eine Wahrheit über geschichtliche Ereignisse.
Obwohl Wahrheit in erster Linie von einem Urteilssatz ausgesagt wird, so bleibt sie doch gänzlich auf die Existenz eines Seienden bezogen - sei es ein konkretes Faktum oder ein idealer Sachverhalt. Mit anderen Worten, die Seele der Wahrheit ist die Existenz des Seienden, auf das sie sich bezieht. Die Frage „Ist es so oder nicht?" ist gleichbedeutend mit der Frage „Ist es wahr, oder nicht?" In der Wahrheit etwas bloß ,Logisches' zu sehen, etwas, was sich bloß auf die Ebene der Begriffe beschränkt, heißt ihr urbedeutsames existentielles Gewicht übersehen.
Was über die Frage entscheidet, ob ein Urteil wahr ist oder nicht, ist ausschließlich die Wirklichkeit des Seienden, das zur Frage steht. Wir müssen uns deshalb klar bewusst machen, dass Wahrheit so weit reicht wie Sein.
Die Wahrheit ist das Echo des Seins. Es ist deshalb absolut falsch, künstlich irgend einen Gegensatz zu schaffen zwischen „griechischer Wahrheit", die sich angeblich auf die Ebene der Sätze bezieht, und „biblischer Wahrheit", die sich angeblich auf Wirklichkeit und Sein bezieht. Die Bezogenheit auf das Sein ist unlösbar mit der Wahrheit verbunden, ob das Seiende nun metaphysischer oder historischer Natur ist, ob die Existenz, die zur Frage steht, die einer allgemeinen, notwendigen Wesenheit oder die eines konkreten, individuellen Faktums ist. Jedem möglichen Seienden entspricht die Wahrheit eines potentiellen Urteils über seine Existenz oder über das Wesen seiner Existenz. Es gibt nichts, was jenseits des Bereiches der Wahrheit liegen könnte, sei es im Bereich unserer möglichen Erkenntnis oder außerhalb ihrer Reichweite, sei es ein Mysterium oder etwas, was wir mit unserer Vernunft durchdringen können. Selbst ein Agnostiker setzt voraus, dass es eine Wahrheit gibt, obwohl er behauptet, wir könnten sie nicht erreichen. Wir sehen nun klar, dass es äußerst lächerlich ist, die Urgegebenheit(133) der Wahrheit, und die völlig unumgängliche Wahrheitsfrage als eine Spezialität des griechischen Geistes zu interpretieren. In jeder alltäglichen Frage wird von der einfachsten Person ebenso wie von der gebildetsten Wahrheit vorausgesetzt. Ob wir jemanden fragen „Wie spät ist es?", „Wie viele Einwohner hat München?" oder ob wir fragen „Ist die Seele unsterblich?" - immer setzen wir Wahrheit voraus.
Ob wir einen Menschen als Lügner beschuldigen oder ihm trauen, ständig setzen wir die Wahrheitsfrage voraus.
Doch man stellt die Behauptung auf, dass „griechische Wahrheit" von „biblischer Wahrheit" nicht nur deshalb verschieden sei, weil die erstere philosophisch und die letztere angeblich geschichtlich ist, sondern auch, weil griechische Wahrheit mit dem Bereich der Erkenntnis zusammenfällt (ethischer, metaphysischer oder logischer), während „biblische Wahrheit" den Bereich des Glaubens betrifft. Es ist wichtig zu sehen, dass die hier hervorgerufene Verwirrung daher rührt, dass man diese bei den ganz verschiedenartigen Unterscheidungen durch eine Äquivokation miteinander vermischt: diejenige zwischen philosophischer und historischer Wahrheit; und die ganz andere zwischen Erkenntniswahrheit und Glaubenswahrheit. Zu behaupten, dass biblische Wahrheit - „der Glaube" - sich ausschließlich auf historische Tatsachen beziehe, ist ganz sicher unrichtig. Obwohl tatsächlich geschichtliche Ereignisse sowohl im Alten wie im Neuen Testament eine besondere Rolle spielen, so gibt es doch viele ganz grundlegende Gegenstände des Glaubens, die nicht der Geschichte angehören, jedoch Teil der göttlichen Offenbarung sind. Dass Moses den Dekalog auf dem Berge Sinai empfangen hat, ist eine geschichtliche Tatsache. Aber den Inhalt des Dekalogs kann man unmöglich ,geschichtlich' nennen. Dass Gott dem Menschen diese Gebote gegeben hat, könnte man noch etwas Geschichtliches nennen, aber ihre innere Gutheit und allgemeine Gültigkeit ist sicherlich kein historisches Faktum. Das Wort Christi: „Wer seinen Bruder Raka nennt, ist der Hölle wert", ist gewiss keine geschichtliche Wahrheit. Oder wenn Christus sagt „Wer an mich glaubt, wird das ewige Leben erlangen", so ist dies wieder eine allgemeine Wahrheit, die für jedes menschliche Wesen gilt. Das Mysterium der Barmherzigkeit Gottes, das uns im Gleichnis vom verlorenen Sohn geoffenbart wird, ist erst recht kein historisches Ereignis. Es ist also völlig falsch zu behaupten, dass die Bibel, vor allem das Neue Testament, nur von geschichtlichen Ereignissen spricht.(134)
Sicherlich haben alle Wahrheiten der Bibel, besonders die des Neuen Testaments, einen existentiellen Charakter im Kierkegaardschen Sinn des Wortes. Sie beziehen sich alle auf die letzte, göttliche Wirklichkeit und auf das eine Notwendige, auf das unum necessarium. Doch dieser existentielle Charakter kann nicht dadurch ausgedrückt werden, dass man, wie manche es tun, sagt, diese Wahrheiten hätten eine geschichtliche Färbung. Diese Ausdrucksweise ist, wie wir gesehen haben, doppeldeutig. Jedenfalls aber scheint man damit sagen zu wollen, dass eine ,historische Wahrheit' weniger absolut ist als eine nicht historische Wahrheit, oder dass sie in irgendeiner Weise vom Lauf der Geschichte abhängt.
Es gibt wirklich einen Unterschied zwischen Erkenntnis und Überzeugung auf der einen Seite und göttlicher Offenbarung und Glaube auf der anderen. Er betrifft aber in keiner Weise den Begriff der Wahrheit. Wahrheit ist immer eine und dieselbe. Er besteht vielmehr in der ungeheuren Verschiedenheit der Dinge, die prinzipiell unserer Vernunft zugänglich sind, von jenen, die uns in der göttlichen Offenbarung mitgeteilt werden und die all unser rationales Erkenntnisvermögen grundsätzlich übersteigen.
Daraus ergibt sich der entscheidende Unterschied zwischen einer Überzeugung, die auf dem Glauben und einer, die auf rationaler Erkenntnis aufbaut.
Der Unterschied zwischen Gegenständen unserer Vernunfterkenntnis und den Gegenständen des Glaubens ist offenkundig. Aber dieser Unterschied hat für den Begriff der Wahrheit keine Konsequenzen. Die heilige Dreifaltigkeit, die visio beatifica (beseligende Anschauung), die Auferstehung des Fleisches - all dies existiert entweder oder es existiert nicht, und die Verkündigung dieser Mysterien ist entweder wahr oder falsch. Der Satz „Christus ist von den Toten auferstanden" ist qua Wahrheit nicht von irgend einem anderen wahren Satz verschieden - so völlig unvergleichlich auch die Wirklichkeit ist, über die er eine Aussage macht.
Doch wir müssen noch einen anderen wichtigen Unterschied machen, wenn wir den Glauben und die natürliche Erkenntnis vergleichen. Er schließt keine ,doppelte Wahrheit' ein, sondern ist von entscheidender Bedeutung innerhalb des Glaubens. Es ist der Unterschied zwischen Glaube an, und Glaube dass, der u. a. von Martin Buber und Gabriel Marcel gemacht wurde.(135)
Ohne jeden Zweifel besteht zwischen beiden ein entscheidender Unterschied: dem Akt der Hingabe an Christus, der Antwort auf die unaussprechliche Epiphanie Gottes in der heiligen Menschheit Christi einerseits und anderseits dem Akt, in dem wir die Geheimnisse glauben, die uns Christus oder die heilige Kirche lehrt. Der erste Akt - der Glaube an - ist die religiöse Grunderfahrung. Es ist die Antwort Abrahams auf Gott, als er sich wie Staub und Asche vorkam in der Konfrontation mit der absoluten Person, mit der völligen Andersheit Gottes, mit der unendlich geheimnisvollen Erhabenheit, die Rudolph Otto in seinem Buch „Das Heilige" beschreibt.
Diese vollkommene, anbetende Hingabe unserer selbst an den persönlichen Gott ist der Glaube an. Wir finden ihn an vielen Stellen der heiligen Schrift erklärt - in der Antwort der Apostel auf den Ruf Christi, in dem geheilten Blindgeborenen, der auf die Frage Christi „Glaubst Du an den Sohn Gottes?" und auf Sein Wort, Er sei es, niederfiel und Ihn anbetete. Dieser Akt ist nicht eine Überzeugung, sondern eine spezifische Hingabe an eine Person. Er ist nur möglich in Beziehung auf eine Person. Ja, noch mehr, es muss die Hingabe an die absolute Person sein, entweder direkt an Gott (wie bei Moses), oder an den sich selbst offenbarenden Gott in Christus (wie bei den Aposteln). Der Glaube an ist nicht eine theoretische Antwort wie der Glaube, dass etwas existiert. Im Unterschied zur theoretischen Antwort, die sich auf einen Sachverhalt bezieht, ist dieser Glaube an ein allumfassender Akt, in dem die Person Gott nachfolgt, Ihm anhängt, sich selbst mit Verstand, Wille und Herz an die absolute Person Gottes hingibt. Es ist eine Antwort auf den heiligen, lebendigen Gott, die eine Hingabe in jeder Hinsicht verlangt, ein Aufgeben jeder kritischen Distanz, jeglichen ,Beweisens' und Prüfens. Doch zugleich ist der Mensch in diesem Akt von der unerschütterlichen Überzeugung durchdrungen, dass diese Antwort die gebührende ist, und das Gegenteil von einem bloßen Überwältigtwerden vom Dynamismus irgendeiner Sache - das Gegenteil von einem Mitgerissenwerden, wie wir es in einer unwiderstehlichen Leidenschaft erleben, einem Weggeschwemmtwerden von einer Kraft, die stärker ist als wir selbst. Nein, dieser Glaube an ist von der freien Sanktion beseelt, die ich in „Christliche Ethik“(136) herausgearbeitet habe. Er ist in dem Erlebnis gegründet, die inkarnierte, absolute Wahrheit zu berühren, dem lebendigen Gott in Christus gegenüberzustehen. Das war das Erlebnis des heilige Paulus auf seinem Weg nach Damaskus und das Pascals, wie er es in seinem berühmten Memorial beschrieben hat: „Feuer, Feuer". In jedem inneren Gebet zu Gott ist eine ausdrückliche Aktualisierung dieses Glaubens an eingeschlossen.
Der Glaube dass richtet sich auf alle jene Wirklichkeiten, die Christus uns geoffenbart hat. Wir glauben, dass es ein ewiges Leben gibt, dass unser Leib wirklich am Jüngsten Tag auferstehen wird, dass unser ewiges Heil davon abhängt, ob wir Christus nachfolgen oder nicht; und wir glauben dies alles, weil Christus es uns geoffenbart hat. Dieser Glaube dass ist eine ausgesprochene theoretische Antwort; seine Gegenstände sind Sachverhalte und nicht Personen. So verschieden er auch von einer bloß rationalen Überzeugung ist, die in einer Erkenntnis (z. B. einer metaphysischen Wirklichkeit) gründet, so steht der Glaube dass dieser doch näher als der Glaube an; denn hier ist das Thema die Wahrheit: wir glauben, dass das, was Christus uns sagt, wahr ist, d. h. dass es wirklich so ist, wie er uns sagt.
Nun ist es klar, dass beide - sowohl der Glaube an, als auch der Glaube dass in unserem christlichen Glauben enthalten sind. Der Glaube an ist gerade die Grundlage für den Glauben dass. Objektiv ist unser Glaube an Christus die Grundlage dafür, dass wir glauben, dass das, was Er uns geoffenbart hat, Wahrheit ist. Darüber hinaus gehört der Glaube an zu jedem vollen religiösen Leben. Gewiss besteht die Gefahr, dass viele Menschen die Religion wie ein bloßes Erbe übernehmen - in diesem Fall wird der Glaube dass die Oberhand über den Glauben an gewinnen und der letztere wird in den Hintergrund gedrängt. Doch jeder, der einen Glauben an hat, wird immer auch einen Glauben dass haben.
Die Rolle der Wahrheit im Glauben dass ist offenbar. Sie ist im Credo sichtbar. Es wäre unsinnig, wie Sartory und andere zu behaupten, dass eine Person den Inhalt ihres Glaubens dass nicht für wirklich, tatsächlich und objektiv gültig zu halten braucht und sein Bekenntnis im Credo nicht für wahr.
Doch jetzt müssen wir noch hinzufügen: Auch im Glauben an ist das Wahrheitsthema keineswegs abwesend. Wer an Gott glaubt, ist notwendig auch überzeugt, dass Gott objektiv, unabhängig von seinem Glauben existiert. Wer an Christus glaubt, ist notwendig zugleich fest davon überzeugt, dass Christus wirklich Gott ist.(137) Jedem Glauben an entspricht also nicht nur ein Glaube dass, der sich auf die von Gott geoffenbarten Wahrheiten bezieht, sondern auch ein anderer, der sich auf die Person selbst bezieht, an die wir glauben. Wenn wir z. B. schöne Musik hören und tief davon bewegt sind, so ist unser Erlebnis sicher nicht ein Urteil, dass diese Musik schön ist. Es ist vielmehr der direkte Kontakt mit der Schönheit der Musik, ein Ergriffensein von ihr und eine Antwort der Begeisterung. Aber ohne jeden Zweifel halten wir dabei das Urteil ,diese Musik ist schön' implizit für wahr. Dies ist nur ein schwacher Vergleich, aber er mag genügen um zu zeigen, in welcher Weise jeder Glaube an implizit einen Glauben einschließt, dass der Gegenstand unseres Glaubens, die Person, an die wir glauben, existiert und dass sie in allem so ist, dass ihr der Glaube an gebührt.
Christus, an den ich glaube, dem ich mich hingebe, ist die absolute Person. Ich glaube, dass Er Gott ist, die Epiphanie Gottes. So wichtig es also ist, den Glauben an vom Glauben dass zu unterscheiden und zu sehen, dass der erste die Grundlage des zweiten ist, so unmöglich ist es, die beiden in einer Weise zu trennen, die nahelegen würde, der Glaube an könne je ohne einen Glauben dass existieren. Die zwei Haltungen - die Hingabe an die Person Christi als Gott, und der Glaube, dass Christus Gottes Sohn ist - sind tatsächlich verschieden; aber trotzdem ist der Glaube, dass Er der Sohn Gottes ist, unlösbar mit dem Glauben an Christus verbunden. Es ist für jeden gläubigen Christen absolut unmöglich, nicht zu glauben, dass Christus objektiv der Sohn Gottes ist. In der Frage Christi an seine Jünger: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" und in der Antwort Petri: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes" ist der Glaube dass deutlich gegenwärtig. Und er ist ebenso im Hohepriesterlichen Gebet ausgedrückt: „Sie haben geglaubt, dass du mich gesandt hast." In bei den Fällen, dies sei nochmals betont, ist die Frage nach der Wahrheit voll gegenwärtig - Wahrheit in der letzten, allumfassenden, unweigerlich vorausgesetzten Bedeutung des Wortes. Und diese Wahrheit hat keine „geschichtliche Komponente", was immer dieser vieldeutige Begriff besagen mag.
Es ist auch doppeldeutig zu behaupten, ,Glaube' im biblischen Sinn bedeute einfach, Christus nachzufolgen. Das ist die These, die Thomas Sartory vertritt und die jene außerordentliche Konfusion einschließt, die er durch seine Wortspiele hervorruft. Nun ist es sicherlich wahr, dass der lebendige Glaube, den etwa Kierkegaard betont, die Nachfolge Christi miteinschließt; er schließt mehr ein als unsere Überzeugung, das, was Christus geoffenbart hat, sei wahr; er schließt ein, dass Christus in unserer Seele lebt, dass wir uns Christus immer neu hinschenken und dass wir alles in seinem heiligen Licht sehen. Aber Glaube als solcher, den der heilige Paulus klar von Hoffnung und Liebe unterscheidet, ist nichtsdestoweniger unlösbar mit der Überzeugung verknüpft, dass Christus der Sohn Gottes ist, die Epiphanie Gottes. Er ist unlösbar mit der Gottheit Christi verknüpft. Diesen Mittelpunkt des Glaubens zu leugnen, (sowohl des Glaubens an, als des Glaubens dass) bedeutet den Glauben vernichten, auf den sich das Evangelium immer wieder bezieht. Zu behaupten, dass Wahrheit in der ursprünglichen Bedeutung im Glauben keine Rolle spiele, heißt den Verlust des Glaubens bekennen.
Es liegt ein schreiender Widerspruch in der Vorstellung Sartorys und anderer, dass nur der „Glaube an Christus" und die Treue Ihm gegenüber in unserem Leben absolut seien, dass hingegen jeder Satz, der das ausdrückt, was implizit im Akt des Glaubens enthalten ist, der geschichtlichen Entwicklung unterworfen sei. Das ist ein bloßes Spielen mit Worten - das, nebenbei, seit Heidegger eine sehr moderne Methode geworden ist, Probleme zu lösen.
Die Heiligen sind die großen Zeugen Christi und der Erlösung der Welt durch Christi Tod am Kreuz. Sie zeigen uns in der Umgestaltung ihrer Persönlichkeit in Christus klar die unzerreißbare Verwobenheit des Glaubens an und des Glaubens dass. In ihnen haben sich die Worte des heiligen Paulus erfüllt: „Ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir." Im Leben der Heiligen wird die zentrale Bedeutung unserer Nachfolge Christi offenbar, die die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, und das Wandeln auf den Pfaden des Herrn einschließt - mit einem Wort: die Verwirklichung der ganzen natürlichen und übernatürlichen Sittlichkeit. Das zu betonen ist sicherlich in voller Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche. Es findet seinen klassischen Ausdruck in der katholischen Rechtfertigungslehre, die gegenüber der lutherischen sola-fides-Theorie daran festhält, dass die Rechtfertigung nicht von der Heiligung gelöst werden kann und dass nur der Glaube, der von der Liebe durchformt ist (fides caritate formata) zum Heile führen kann. Aber diese wahre Nachfolge Christi setzt nicht nur einen Glauben an Christus voraus, sondern auch den Glauben dass, wie er im apostolischen oder Nizenischen Credo ausgedrückt ist. Wenn es unmöglich ist, die sola fides an die Stelle der fides caritate formata zu setzen, so ist es ein noch schwererer Irrtum, den Glauben durch die Nachfolge Christi ersetzen zu wollen; denn die Grundlage der Nachfolge Christi ist der Glaube an Christus. Und diese Hingabe an Christus kann nicht von dem festen Glauben losgelöst werden, dass Gott IST und dass Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist. Durch diese Tatsache wird die volle Thematizität der Wahrheit im Glauben enthüllt. Wir sehen also, dass der „biblische Glaube", wie er von Thomas Sartory und vielen anderen vertreten wird, ein vieldeutiger Begriff ist, der zu einer hoffnungslosen Verwirrung führt. Sein „biblischer" Glaube ist weder der wirkliche Glaube an noch die wirkliche Nachfolge Christi und die wahre Hingabe an Ihn, die uns in den Heiligen aufleuchtet.
Die ganze Auflösung der Wahrheit kommt in der Antwort zum Ausdruck, die ein Theologe auf die folgende Frage gegeben hat: „Hat der Engel Gabriel wirklich der Jungfrau Maria verkündigt, dass sie vom Heiligen Geist empfangen und Christus gebären werde?" - Er antwortete: „Das ist eine orientalische Wahrheit." Diese Antwort schließt ein, dass es verschiedene Arten von Wahrheit gebe, eine orientalische und eine okzidentale (oder griechische), eine alte und eine neue. Solche Taschenspielerkunststücke mit dem Begriff Wahrheit erinnern mich an eine Unterscheidung, die der Präsident des Vereins für Mathematik im Nazi-Deutschland zwischen jüdischer und arischer Mathematik machte.
Wenn der heilige Augustinus sagt: „Was ersehnt unsere Seele mehr als Wahrheit?" oder wenn er ausruft: „O Wahrheit, Wahrheit, wie innig verlangte das Mark meiner Seele nach Dir!" so meint er offenbar etwas, was über und jenseits der Wahrheit fundamental bedeutsamer Urteile liegt. Die Wahrheit wird hier als ein Ganzes betrachtet, als Eine, so wie wenn wir von dem Reich der Wahrheit sprechen. Hier wie in dem Wort: „Die Wahrheit wird euch frei machen" leuchtet die Würde und der Wert der Wahrheit auf. In diesem Begriff von Wahrheit als dem Glanz des Lichtes gegenüber der Dunkelheit, der Reinheit gegenüber der Unreinheit, der Eindeutigkeit gegenüber der Mehrdeutigkeit, der Klarheit und Gestaltetheit gegenüber dem Chaos, ist die ganze Würde des Seienden gegenüber dem Nicht-Seienden gegenwärtig. Wir rühren hier an eine letzte Gegebenheit, die bis in eine unvorstellbare Tiefe, in ein unfassbares Geheimnis reicht. Der Rahmen dieses Werkes erlaubt uns nicht, diesen Gedanken zu verfolgen, wir möchten nur folgende Stelle von Guardini zitieren:
„Platon muss ein ungeheures Erlebnis von Wahrheit gehabt haben - also nicht bloß der Feststellung von Richtigkeit, sondern der Innewerdung von Wahrheit, mit all der Sinnhoheit und Sinnfülle, die das unverdorbene Wort aussagt. Wahrheit bedeutet nämlich für Platon nicht nur die Richtigkeit und Klarheit der Einsicht, sondern für ihn eignet jeder echten Erkenntnis eine den jeweiligen konkreten Inhalt transzendierende Überwertigkeit."(138) Wir kommen diesem Begriff von Wahrheit näher, wenn wir die verschiedenen Abstufungen an Gewicht und Tiefe betrachten, die die Wahrheit eines Urteils annehmen kann - je nachdem, ob es sich um einen unbedeutenden, zufälligen, oder um einen bedeutsamen Inhalt handelt. Der Inhalt von Sätzen ist in sehr vieler Hinsicht verschieden: Bedeutend oder unbedeutend, tief oder oberflächlich, in sich notwendig oder bloß empirisch, fundamental oder speziell. Obwohl, wie schon gesagt, die inhaltlichen Unterschiede uns nicht erlauben, von verschiedenen Arten der Wahrheit zu sprechen, so erhält eine Wahrheit doch ein Gewicht, eine Bedeutung und einen Glanz gemäß dem Rang des in Frage stehenden Seienden. Der Glanz einer Wahrheit, die Werte betrifft, ist unermesslich größer, als wenn es sich nur um einen neutralen Sachverhalt handelt. Je höher das Seiende steht, auf das sich ein wahrer Satz bezieht, desto mehr können wir den glorreichen Wert der Wahrheit erfassen. Und doch - in jeder Wahrheit, selbst in der des bescheidensten Satzes, lebt ein Abglanz von der Herrlichkeit der Wahrheit, so schwach er auch sein mag.
Auf diesem Hintergrund müssen die Worte unseres Herrn verstanden werden: „Ich bin die Wahrheit." Hier stehen wir der einen, allumfassenden Wahrheit gegenüber, dem Reich der Wahrheit in seinem ganzen befreienden Glanz - doch in einer ganz neuen Wirklichkeit: Wahrheit als Person. Der Unterschied ist ähnlich dem zwischen der Gerechtigkeit und Güte und dem unendlichen Gutsein und Gerechtsein des lebendigen Gottes. Die unvergleichlich höhere Wirklichkeit, die das personale Sein gegenüber dem Impersonalen besitzt, ist hier sichtbar. In Christus sind wir mit der inkarnierten Wahrheit konfrontiert, dem fleischgewordenen Wort, in dem die überwältigende Herrlichkeit der Wahrheit eine letzte, personale Wirklichkeit hat. Als die Wahrheit, die uns erlöst, die uns frei macht, zieht uns Christus in das Reich der Wahrheit.
Kein Geschwätz über den Unterschied zwischen griechischer und biblischer Wahrheit kann jemals die Tatsache wegdiskutieren, dass Wahrheit in allen ihren Dimensionen das Rückgrat des christlichen Glaubens ist.(139)
Ob der Glaube eines Menschen auf Wahrheit oder Irrtum beruht, hat eine letzte Bedeutung. Wenn man die Position von Menschen wie Thomas Sartory mit der eines Kardinal Newman oder irgend eines Heiligen vergleicht, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele der progressistischen Katholiken in Wirklichkeit ihren christlichen Glauben verloren haben und nun verzweifelt versuchen, durch verworrene und prätentiöse Konstruktionen sich und andere über diese traurige Tatsache hinwegzutäuschen.
21. Kapitel: AMORALISMUS
Eines der unheilverkündendsten Symptome des Verfalls in der Kirche heute ist die wachsende Übernahme des modernen Amoralismus. Wenn wir sagen ,moderner Amoralismus", meinen wir nicht, dass heute m e h r unmoralische Taten begangen werden als früher, sondern wir verstehen darunter die Blindheit für moralische Werte, eine Indifferenz gegenüber der Frage nach Gut und Böse. Die Hinnahme des Aberglaubens, dass Gut und Böse Illusionen oder Tabus seien, ist eines der Zeichen der Zeit.(140)
Wir sprechen hier nicht von den Pseudophilosophen, die die Realität der Kategorien von sittlich Gut und Böse leugnen. Denn relativistische Pseudophilosophen hat es immer gegeben. Uns geht es hier vielmehr um jene perverse Lebensauffassung der Menschen, die sich in der wachsenden Tendenz äußert, die furchtbarsten Sünden so zu behandeln, als wären sie etwas gänzlich Neutrales wie rein physiologische Prozesse oder irgendein Vorgang in der apersonalen Natur. Freilich gab es immer zynische Menschen mit einer teuflischen Blindheit gegenüber der Welt moralischer Werte.(141) Aber sie betrachteten diese Welt nicht als überhaupt nicht vorhanden; sie hassten sie und lehnten sich gegen sie auf, wie Kain. Und es gab immer sehr viele Menschen, die mit einer teilweisen Wertblindheit(142) behaftet waren, wie Tom Jones mit seiner Blindheit für die Sünde der Unreinheit, die jedoch die Kategorien von Gut und Böse wenigstens in vielen anderen Bereichen als gültig anerkannten. Doch was dem gegenüber neu und für unsere Zeit charakteristisch ist, ist die moralische Neutralisierung der Welt durch die Ausschaltung der Ur-Kategorien von Gut und Böse.(143) Und dieser neue Amoralismus wird noch für einen Fortschritt gehalten, für eine Folge unserer ,Mündigkeit', eine Befreiung von den Fesseln traditioneller Tabus.
Es würde über den Rahmen dieses Buches hinausgehen, eine Untersuchung der Ursachen dieses beklagenswerten Verfalls anzustellen. Es muss hier genügen, an die Rolle zu erinnern, die dabei die Laboratoriumsansicht und die Fetischisierung der Wissenschaft gespielt hat. Besonders der Freudianismus ist für diese Haltung verantwortlich. Die Ironie, die in der Meinung liegt, eine amoralische Betrachtungsweise sei „objektiver", „wissenschaftlicher", wird noch dadurch erhöht, dass Freuds eigene Theorien von Mythen und Fiktionen wimmeln.(144) Dass Freud in der naivsten Weise von vielen Lehrern und Professoren in Amerika übernommen wird, hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Kategorien von Gut und Böse an den Mittelschulen und in der College-Erziehung praktisch ausgeschaltet werden.
Und jetzt ist dieser amoralistische Aberglaube in katholische Kreise eingedrungen. Über die zwei genannten Hauptgründe hinaus müssen wir jetzt auf zwei weitere Gründe dafür zu sprechen kommen, dass sich der Geist des Amoralismus mit so viel Erfolg unter Katholiken verbreitet: die Auflehnung gegen Verpflichtungen und die Reaktion auf einen legalistischen Moralismus.
Ich habe die Auflehnung gegen Verpflichtungen und das ganze Thema der Situationsethik in meinem Buch „Wahre Sittlichkeit und Situationsethik" behandelt. Sie hängt eng mit der falschen Auffassung von Freiheit zusammen, die wir schon früher besprochen haben und findet in der sogenannten Situationsethik, manchmal auch - zu Unrecht - als existentielle Ethik bezeichnet, ihren Ausdruck. Wir denken hier nicht an das unselige Buch von Fletcher, das nichts als ein frisch aufgewärmter Utilitarismus nach dem Muster Benthams ist, sondern an ethische Tendenzen in katholischen Jugendbewegungen und bei Autoren wie Graham Greene. Eine zweite Wurzel für diese amoralische Einstellung ist die Reaktion gegen einen legalistischen Moralismus, der zu einer Karikatur des herrlichen Reichtums und der Schönheit der sittlichen Gutheit führte. Er schränkte die ganze Sittlichkeit auf Verbote ein - eine Haltung, die Wilhelm Busch so ausdrückte: „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt." Leider fand diese Einstellung in vielen moraltheologischen Lehrbüchern ihren Niederschlag, vor allem da, wo man über die Ehe sprach. Man fand dort hauptsächlich eine Aufzählung all dessen, was verboten war, doch nichts über die positiven Werte, deren Entweihung die Wurzel der schrecklichen Sünde der Unreinheit ist. Mit dieser legalistischen Darstellung der Moral war das Fehlen der Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Sittlichkeit verbunden. Doch nicht nur der legalistische und negativistische Moralismus führte eine Reaktion herbei, sondern auch die Tatsache, dass in der Verkündigung des Wortes Gottes sittliche Vorschriften im Vergleich zu den Mysterien der Erlösung durch Christus überbetont wurden, wodurch der Glanz der übernatürlichen Sittlichkeit verdunkelt worden ist.
Doch so bedauerlich diese Unterlassungen auch waren, die Reaktion der moralischen Gleichgültigkeit ist noch bei weitem schlimmer.
Schon vor einigen Jahren, noch vor dem II. Vatikanischen Konzil, konnte man beobachten, wie solche amoralistische Tendenzen sich in Predigten einschlichen, wenn auch damals vielleicht mehr als ein Unterton. Einmal hörte ich eine Predigt, in der betont wurde, Christus sei nicht gekommen, um uns moralische Vorschriften zu verkünden, sondern das Reich Gottes. Obwohl der zweite Teil der Behauptung sicher wahr ist, so ist doch die Annahme, dass die Sittlichkeit im Reiche Gottes keine Rolle spiele, ein empörender Irrtum.
Wir müssen uns klar bewusst werden, dass gerade die innige und letztliche Verbindung von Moral und Religion ein Wesensmerkmal der Christlichen Offenbarung ist.(145) Die sittliche Gutheit und die ehrfurchtgebietende Absolutheit des Göttlichen sind in einer einzigartigen Weise in der Gegebenheit der Heiligkeit miteinander verschmolzen. In der heiligen Menschheit Christi ist diese Heiligkeit als etwas vollkommen Neues gegeben, als etwas, was jenseits aller Ideale liegt, die der menschliche Geist zu erfinden imstande ist. Und doch ist die Heiligkeit zugleich die Erfüllung und Verklärung aller natürlichen Sittlichkeit.(146)
Der Amoralismus, der sich unter Katholiken verbreitet, ist in der Tat eines der beunruhigendsten Anzeichen für den Verlust des wahren christlichen Glaubens. Güter wie das irdische Wohlergehen der Menschen, wissenschaftlicher Fortschritt, die Beherrschung der Naturkräfte, werden entweder für wichtiger gehalten als moralische Vollkommenheit und die Vermeidung von Sünden, oder sie erregen zumindest viel mehr Interesse und größere Begeisterung.(147)
Bezeichnend für diese Indifferenz gegenüber der Moral waren die Bemerkungen, die Karl Rahner während eines Gesprächs mit Kommunisten in Herrenchiemsee machte.(148) Er sagte, dass viele moralische Werte in Zukunft verschwinden könnten, nur die Würde der menschlichen Person und manche andere Werte müssten bewahrt werden. Nun ist aber die Würde der menschlichen Person (im eigentlichen Sinn dieses Wortes) kein sittlicher Wert, sondern ein sittlich bedeutsames Gut.(149) Die Würde des Menschen betrifft den hohen ontologischen Rang, den er als Person besitzt. Diese Würde erlegt uns sicherlich sittliche Verpflichtungen auf, so z. B. sie zu achten und nicht zu verletzen, andere Menschen nicht auszubeuten, ihre Rechte nicht anzutasten. Aber der Wert dieser Würde ist offensichtlich kein sittlicher Wert. Der Mensch besitzt diesen Wert einfach auf Grund der Tatsache, dass er nach Gottes Ebenbild, d. h. als Person geschaffen ist. Dass ein Mann von dem Format eines Karl Rahner eine solche relativistische Einstellung gegenüber der sittlichen Sphäre einnehmen kann und dass er nur ontische Werte(150) für unwandelbar hält, ist ein Zeichen dafür, welche Macht der Amoralismus in der Kirche gewonnen hat. Es ist, als ob der Sinn für die einzigartige innere Größe und das Gewicht sittlicher Werte unter einer großen Anzahl progressistischer Katholiken geschwunden wäre.(151) Sie sind unfähig geworden, die glorreiche Welt zu begreifen, die im Mittelpunkt der Philosophie Platons und in ihrer übernatürlichen Verklärung im Zentrum der heiligen Schrift steht. Sie betrachten die Sittlichkeit als eine eher geringfügige, rein innermenschliche Angelegenheit, die mit der Größe ontologischer Vollkommenheiten oder dem Fortschritt der Menschheit nicht zu vergleichen ist.(152)
Diese amoralistische Tendenz findet ihren theoretischen Ausdruck in Teilhard de Chardins Theologie-Fiktion. Hier wird die sittliche Frage ganz eindeutig durch eine ontologische Entfaltung ersetzt, die ein Resultat der Evolution ist; Sünde wird höchstens als eine niedrigere und Tugend als eine höhere Stufe der Evolution betrachtet - einer Evolution, die unabhängig von der freien Mitwirkung des Menschen vor sich geht. Somit wird geleugnet, dass nur das Sittliche zum unum necessarium gehört. Die Grundtatsache, dass allein die Sünde Gott beleidigt und allein die übernatürliche Sittlichkeit Ihn verherrlicht, wird von Teilhard nicht mehr ernst genommen.(153)
Manche Vertreter der „neuen Moral" begründen ihr Misstrauen gegenüber der traditionellen christlichen Moral durch den Hinweis auf die Schwäche vieler früherer Beweisgründe für die christliche Sittlichkeit. Deshalb sei die Kirche gezwungen, ihr Verständnis der christlichen Tugenden zu ändern. Ein typisches Beispiel für diesen Irrtum ist das Argument, das der Jesuitenpater W. Molinsky für seine Behauptung anführt, die Sündhaftigkeit eines vorehelichen Geschlechtsverkehrs, d. h. die Sünde der Unreinheit müsse jetzt bezweifelt werden, weil die Argumente, die der heilige Thomas für ihre Sündhaftigkeit anführt, schwach sind.(154) Hängt denn die Frage, ob Unreinheit eine Sünde ist, von den Begründungen des heiligen Thomas ab – die tatsächlich schwach sind?
Wurde die Sünde der Unreinheit nicht klar in der Heiligen Schrift verurteilt und in der ganzen Tradition vor dem heiligen Thomas?(155) Zweifellos sind die traditionellen Argumente für den Wert einer Tugend und den Unwert einer Sünde manchmal unzureichend und sollten durch bessere Begründungen ersetzt werden. Das würde einen Fortschritt in der ethischen Werterkenntnis darstellen. Aber das wäre nicht das Ersetzen einer „alten" durch eine „neue" Sittlichkeit.
Der Ausdruck „neue" Sittlichkeit ist irreführend, weil man mit Sittlichkeit immer sittliche Werte und Unwerte meint und niemals ihre philosophische Formulierung. Die letztere nennt man Ethik. In der christlichen Ethik kann es Änderungen geben, niemals aber in der christlichen Sittlichkeit.
Wie wir schon betont haben, ist die Vorstellung irrig, dass ein moralischer Wert oder Unwert sich dem Geist einer Zeit entsprechend ändern könne. Entweder war etwas fälschlich erweise als sittlich gut oder schlecht betrachtet oder zu Recht. Dass die Umstände einen großen Anteil an der Frage haben, wieweit man für seine Fehler schuldig ist und welches Gewicht ein moralischer Wert oder Unwert besitzt, ist immer von der Kirche anerkannt worden. Aber zu glauben, dass - außer rein positiven Geboten" - das, was zur Zeit eines heiligen Augustinus, eines heiligen Thomas oder eines heiligen Franz von Sales noch als Sünde galt, heute keine Sünde mehr sei, steht in eindeutigem Widerspruch zur Lehre Christi.
Es ist also mehr als erstaunlich, dass Bischof Simons von Indore (Indien) einen Artikel schreiben kann, in dem er behauptet, wir wüssten jetzt, dass sich alle Sittlichkeit nur auf die menschliche Wohlfahrt beziehe. Deshalb sollten gewisse Dinge, die früher als unsittlich galten, heute nicht mehr so bezeichnet werden. Er fügt hinzu, dass schließlich Christus in der Heiligen Schrift außer der Nächstenliebe keine moralische Vorschrift gegeben habe.
Nun ist es völlig falsch und absolut unverträglich mit der Christlichen Offenbarung zu sagen, dass alle Sittlichkeit ihren Ursprung im Wohlergehen des Menschen habe. Das innerste Wesen der Sittlichkeit ist die Verherrlichung Gottes und das innerste Wesen der Unsittlichkeit ist die Beleidigung Gottes.
Ist nicht die Sünde Adams und Evas die tragische Beleidigung Gottes, die die Menschheit von Ihm abgeschnitten hat?(156) Die These, dass das Gut und Wohlergehen des Menschen die einzige Norm für die Sittlichkeit sei, schmeckt sehr nach Utilitarismus und ist vollkommen irrig, selbst von einem rein philosophischen Gesichtspunkt aus.
Aber es ist kaum zu glauben, dass ein Bischof der heiligen Kirche sich erlauben konnte zu erklären, Christus habe uns im Evangelium keine spezifischen moralischen Gebote gegeben. Hat er die Bergpredigt vergessen mit ihrer eindringlichen Betonung der christlichen Grundtugenden? Hat er vergessen, was Christus dem Jüngling antwortete, der ihn fragte, wie er die Vollkommenheit erreichen könne? Antwortete Christus nicht, indem er die Gebote des Dekalogs aufzählte? Ist nicht das ganze Evangelium von der ausdrücklichen Forderung durchzogen, sittliche Gutheit zu erstreben und jede Sünde zu vermeiden?(157) Sagt Christus nicht, es sei dem Menschen besser, ihm würde ein Mühlstein um den Hals gehängt und er würde in die Tiefe des Meeres versenkt werden, als er gäbe ein einziges Ärgernis? Betont Christus nicht, es nütze dem Menschen nichts, wenn er die ganze Welt gewänne, an seiner Seele aber Schaden leide? Und gibt es nicht ein Jüngstes Gericht bei dem wir über unser Leben Rechenschaft ablegen müssen? Was wird uns denn in der Szene mit Maria Magdalena geoffenbart? In der Szene mit der Ehebrecherin? Setzt nicht die Glorie der Barmherzigkeit Christi den letzten Ernst ihrer Sünde voraus?
Selbst wenn Bischof Simons von den positiven Geboten spricht, die e definitione geändert werden können, so sind seine Gründe gegen die Verpflichtung, am Sonntag der heilige Messe beizuwohnen, sehr unglücklich. Er sagt, dass ohnedies die meisten Menschen am Sonntag nicht in die Messe gehen, und deshalb solle diese Verpflichtung aufgehoben werden.
In der Annahme, das tatsächliche Verhalten der Menschen solle die Norm für die Aufhebung positiver Gebote! der Kirche sein, stoßen wir wieder auf den großen säkularisierenden Irrtum unserer Zeit: auf die Vorstellung, dass die Religion dem Menschen angepasst werden solle und nicht der Mensch der Religion.
22. Kapitel: FALSCHER IRENISMUS
„Die Art und Weise der Formulierung des katholischen Glaubens darf keinerlei Hindernis bilden für den Dialog mit den Brüdern. Die gesamte Lehre muss klar vorgelegt werden. Nichts ist dem ökumenischen Geist so fern wie jener falsche Irenismus, durch den die Reinheit der katholischen Lehre Schaden leidet und ihr ursprünglicher und sicherer Sinn verdunkelt wird." „Dekret über den Ökumenismus" 11.
„In Frieden leben zu wollen ist oft die größte Grausamkeit. Wenn das Geschwür reif ist, muss man es mit Eisen schneiden und mit Feuer brennen. Wenn man dies unterlässt und es nur mit Balsam behandelt, so verbreitet sich die Verderbnis und führt manchmal zum Tod." Heilige Katharina von Siena, die Papst Paul VI. zur Kirchenlehrerin erhebt, Lett. 239, 185.
Eine Reaktion gegen die Härte vieler Verurteilungen von Häretikern in der Vergangenheit hat eine wachsende Abneigung gegen die Verurteilung von Häresien als solchen hervorgerufen. Und wie es gewöhnlich bei bloßen Reaktionen der Fall ist, die einen mehr emotionalen als rationalen Charakter haben, versäumt man, zwischen dem Missbrauch und dem missbrauchten Ding zu unterscheiden. Ein Mensch, der einige Male von anderen Menschen enttäuscht worden ist, wird leicht ein Misanthrop. In ähnlicher Weise verbreitet sich unter Katholiken immer mehr ein falscher Irenismus als eine Reaktion auf frühere Härte. Diese Menschen scheinen unfähig zu verstehen, dass das Anathema, das von der unfehlbaren Kirche über alle Häresien ausgesprochen wird, zum Wesen ihrer Sendung gehört(158) und darüber hinaus in keiner Weise mit der Liebe unverträglich ist. Ja, es ist sogar wesenhaft mit der Liebe verbunden.
Wir haben schon die Perversion besprochen, die man bei Menschen findet, welche die wesenhafte Ausschließlichkeit der Wahrheit als Beeinträchtigung ihrer Freiheit empfinden. Hier geht es um einen anderen Aspekt dieser Ausschließlichkeit - um die Bewahrung der Wahrheit gegen alle Angriffe auf sie. Und sogar die Katholiken, die die Ausschließlichkeit der Wahrheit als eine Befreiung erleben und gar nicht versucht sind, sich gegen die angeblich daraus folgende Einschränkung ihrer Freiheit aufzulehnen, glauben, dass der Kampf gegen Irrtümer lieblos sei. Das Anathema der Kirche scheint ihnen hart und unmenschlich. Sie haben das wunderbare Wort des heiligen Augustinus vergessen: „Interficere errorem; diligere errantem." („Töte den Irrtum; liebe den Irrenden.")
Sie wollen nicht annehmen, dass das Töten des Irrtums untrennbar mit der Liebe zum Irrenden verbunden ist. Ihr falscher Irenismus macht sie blind für den sieghaften Charakter des Anathema, wenn es von der unfehlbaren Kirche ausgesprochen wird.
Die reine, unverfälschte Bewahrung der unveränderlichen, göttlichen Offenbarung erfordert notwendig die Verurteilung aller Häresien. Wie von Christus und den Aposteln vorausgesagt, werden Häretiker immer und immer wieder in die Kirche einzudringen und sie zu zerstören suchen. Was wäre aus der göttlichen Offenbarung geworden, wenn die Kirche nicht den Arianismus, Pelagianismus, Nestorianismus und den Albingensianismus verurteilt hätte? Was wäre geworden, wenn man diese Häresien geduldet hätte? Was hat einen Kardinal Newman in die Kirche geführt, der diesen Schritt auf Grund seiner Liebe zu seinen anglikanischen Freunden nur schweren Herzens tat, wenn nicht die Einsicht, dass die Kirche immer die Wahrheit gegen alle Häretiker verteidigt hat und dass die Lehre der Kirche - trotz ihrer Entwicklung zu immer expliziteren Formulierungen - unbefleckt und sieghaft unverändert geblieben ist?
Das Anathema gegen alle Irrtümer, die wesenhaft mit der Offenbarung Christi unverträglich sind, ist nicht nur eine heilige Sendung, die von der Treue Christus gegenüber gefordert ist, sondern auch ein Ausdruck der heiligen Liebe der Kirche.(159) Der gebieterische Ruf, den Irrtum zurückzuweisen, fließt auch aus ihrer heiligen Liebe für alle Glieder des Mystischen Leibes Christi. Die Kirche muss sie davor beschützen, vom Irrtum vergiftet und dadurch von Christus entfernt zu werden. Die Kirche ist aber bei der Verurteilung aller Irrtümer auch von ihrer Liebe zu all denen bewogen, die noch außerhalb ihrer Herde sind, und denen das Licht Christi zu bringen sie beauftragt ist. Die Anathemata sind gerade der Beweis für die Führung des HEILIGEN und der Ausdruck des liebevollen Schutzes, den die Kirche ihren Gläubigen angedeihen lässt und ihres milden Versuches, diejenigen zu befreien und zu Christus zu ziehen, die vom Irrtum befallen sind.
Man soll aber auch nicht vergessen, dass sich das Wort des heiligen Augustinus nicht nur auf das Anathema bezieht, das ausschließlich dem unfehlbaren Lehramt der Kirche vorbehalten ist. Es schließt auch ein, dass jeder voll Eifer mithelfen sollte, seinen Nächsten von Irrtümern zu befreien, allerdings mit aller gebotenen Diskretion. Viele haben vergessen, dass wahre Liebe uns ebenso dazu veranlassen kann, nein zu sagen als ja.(160)
Wenn uns ein Mensch dafür gewinnen wollte, ihm bei einer schlechten Tat zu helfen, so ist klar, dass wir dies ablehnen müssten, nicht nur wegen der Beleidigung Gottes, die sein Vorschlag einschließen würde, sondern auch weil die Liebe zu ihm uns antreibt so zu handeln. Die Sünde, die er zu tun beabsichtigt und bei der wir mitwirken sollen, ist auch für ihn selbst ein großes Übel.
Doch dieses „Nein", das aus wahrer Liebe geboren ist, ist keineswegs auf die unmoralischen Vorschläge beschränkt, die ein anderer uns macht. Es bezieht sich auch auf die Irrtümer der Lehre, in denen er befangen ist. Die Bemühung, ihn vom Irrtum zu befreien, ist eine Pflicht, die uns die Liebe auferlegt.(161) Sicherlich sollten wir dies niemals in einer kalten, lehrhaften Weise tun, die voll Stolz ist. Im Gegenteil, das „Töten des Irrtums" sollte in jeder Phase eine glühende Liebe zum Nächsten beweisen. In unserem Kampf gegen den Irrtum sollten wir mit demütiger Dankbarkeit für das unverdiente Geschenk erfüllt sein, dass uns die Wahrheit geschenkt worden ist. Obwohl also die immanente Logik des „den Irrtum Töten" zu einer lieblosen Haltung führen kann, obwohl dies leider oft der Fall ist und wir uns unablässig vor dieser Gefahr hüten müssen, so ist dennoch von uns gefordert - als Folge der Liebe - dass wir nicht aufhören, um der Wahrheit willen gegen den Irrtum zu kämpfen. Wenn wir aus einem verwirrten Begriff von Liebe, aus Weichheit oder aus einem oberflächlichen ,Wohlwollen' heraus glauben, dass wir die irrende Person in ihrem Irrtum lassen sollen(162), dann haben wir sicher aufgehört, sie als Person ernst zu nehmen und an ihrem objektiven Gut ein Interesse zu haben – das sollte klar sein.
Falschem Irenismus begegnen wir oft auch bei Menschen, die die Notwendigkeit sehen, die Wahrheit zu verbreiten, die den Kampf gegen irrige Meinungen im Bereich der natürlich erkennbaren Wahrheit - in Wissenschaft oder Philosophie - annehmen, die aber, sobald es um die Verteidigung der von Gott geoffenbarten Wahrheit geht, grundlos behaupten, das „Töten des Irrtums" sei etwas Hartes und Liebloses. Diese Menschen verstehen nicht, dass Irrtümer noch unvergleichlich mehr nach einem Kampf rufen, wenn sie die göttliche Offenbarung betreffen, als wenn sie den Bereich der übernatürlichen Wahrheit nicht berühren, weil ihre Folgen im ersten Fall unvergleichlich schwerwiegender sind.(163)
Wie schon angedeutet, beschränkt sich dieser falsche Irenismus nicht auf die, welche unfähig oder nicht gewillt sind, die Gefahr zu sehen, die der Kirche in der Säkularisierung und in der Apostasie droht, die sich in den Reihen progressistischer Katholiken verbreiten. Selbst viele Menschen, die die Gefahr in der Kirche klar erkennen, glauben, es sei irgendwie lieblos, die Gefahren zu entlarven. Dies ist nur eine der falschen Reaktionen, die wir im I. Teil behandelt haben.
Die Tatsache, dass manchmal dem Kampf eines großen Theologen gegen einen Häretiker eine Dimension der Liebe fehlte, ist kein Einwand gegen die Entlarvung von Irrlehren als solche. Nehmen wir uns den heiligen Augustinus zum Vorbild, dessen Kampf gegen den Pelagianismus immer von Liebe zu den Häretikern durchdrungen war. Manche betonen oft sehr mit Recht, dass das Töten des Irrtums noch nicht die Liebe gegenüber dem Irrenden garantiert. Aber sie erinnern sich selten an den wirklich entscheidenden Punkt: wahre Liebe verlangt absolut das Töten des Irrtums! Wenn deshalb auch das Töten des Irrtums nicht notwendig wahre Liebe einschließt, so schließt doch wahre Liebe notwendig das Töten des Irrtums ein. Falscher Irenismus wird von einer missverstandenen Liebe im Dienst einer bedeutungslosen Einheit motiviert. Er stellt Einheit über Wahrheit. Nachdem er das wesenhafte Band zwischen Liebe und Verteidigung der Wahrheit aufgelöst hat, geht es dem Irenisten mehr darum, Einheit unter allen Menschen zu erreichen, als sie zu Christus und seiner ewigen Wahrheit zu führen. Er ignoriert die Tatsache, dass wirkliche Einheit nur in der Wahrheit erreicht werden kann. Das Gebet Christi „ut omnes unum sint", „auf dass sie alle eins seien"(164) schließt ein, dass sie in Ihm eins sein mögen und darf nicht von der anderen Stelle bei Johannes getrennt werden: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wer nicht durch die Türe in den Schafstall eingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und Räuber... Ich bin die Tür zum Schafstall... Wer durch mich eingeht, wird gerettet werden... Ich habe auch andere Schafe, die nicht von diesem Schafstall sind; auch jene muss ich herbeiführen und sie werden meine Stimme hören und es wird ein Hirte und eine Herde sein."(165)
IV. TEIL: DAS HEILIGE UND DAS WELTLICHE
23. Kapitel: DER DIALOG UND SEINE GEFAHREN
Sorge wegen der Isolierung der Kirche in der modernen Welt spielte im Zweiten Vatikanischen Konzil eine große Rolle und führte zu einem Versuch, mit anderen Religionen und auch mit der modernen atheistischen Welt in einen Dialog einzutreten. Diese Betonung des Dialogs(166) bedeutet, dass die Kirche sich nicht mehr damit zufrieden gibt, Religionen, die nicht vom Licht Christi erleuchtet sind, oder auch atheistische Irrtümer einfach abzulehnen. Eine solche Zurückweisung der Irrtümer ist zwar eine der wichtigsten apostolischen Aufgaben der Kirche und muss immer grundlegend und unentbehrlich bleiben. Doch die Kirche ist begierig, alle wahren Elemente in andern Religionen zu entdecken, geduldig auf sie zu lauschen und Wege zu suchen, auf denen das Licht Christi sie durchdringen kann. Die Kirche versucht auch, die Gründe für die schwere Krankheit des Atheismus zu verstehen und zu entdecken, was getan werden könnte, um die Hindernisse wegzuräumen, welche die Atheisten davon abhalten, ihren Weg zu Gott zu finden.
Dialog bedeutet, dass man den andern ernst nimmt und ihm in Ehrfurcht und Liebe naht; aber er schließt nicht im geringsten die Veränderung der göttlichen Offenbarung ein, damit diese zu den Ansichten des Dialogpartners passe und man dadurch leichter zu einer Übereinstimmung komme. Dialog bedeutet nicht, dass auch nur ein Iota von der wesentlichen Lehre der Kirche geändert oder so interpretiert werden kann, dass ein Glied einer andern Religion oder ein Atheist die Lehre der Kirche „sich einverleiben" kann, ohne seine frühere Stellungnahme aufzugeben.
Dasselbe gilt für den Ökumenismus, der in seiner eigentlichen Bedeutung etwas Großes und Schönes ist, jedoch ein gefährliches Schlagwort, wenn er so interpretiert wird, als erlaubte er eine Änderung der Lehre, oder schließe zumindest deren Möglichkeit ein. Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich ganz klar gegen diesen missverstandenen Ökumenismus ausgesprochen: „Nichts ist dem Ökumenismus so fern wie dieser falsche Irenismus, durch den die Reinheit der katholischen Lehre gefährdet und ihr wahrer und sicherer Sinn verdunkelt wird,"(167) Wenn wir deshalb einen Dialog führen, dürfen wir uns niemals von den Irrtümern anderer anstecken lassen. Unglücklicherweise erleben wir gerade das bei den progressistischen Katholiken, die die intellektuellen Strömungen unserer Zeit idolisieren. Ihr Verhalten erinnert mich an einen Brief, den ich von einem Jesuitenpater vor vielen Jahren erhalten habe. Er enthielt einen liebevollen und witzigen Bericht über einen, Mitbruder, der die jungen Menschen, die von der Naziideologie infiziert waren, dadurch anzusprechen suchte, dass er in der Frage des Antisemitismus Kompromisse machte. „Mein lieber Mitbruder" schrieb er, „hat die Ermahnung des heiligen Paulus ,weine mit den Weinenden' so interpretiert, als würde sie lauten: ,Werde verrückt mit den Verrücktem´.“
Viele dieser Katholiken kommen sich demütig vor, wenn sie den Anspruch aufgeben, dass der Kirche allein die Fülle der göttlichen Offenbarung anvertraut worden ist. Aber in Wirklichkeit beweisen sie nur ihren Mangel an Glauben, ihre Unsicherheit und eine Mischung von Selbstbestätigung und Minderwertigkeitsgefühl - und all das ist sehr weit von Demut entfernt. Ein Relativist oder Skeptiker zu sein, davor zurückzuscheuen sich uneingeschränkt der Wahrheit hinzugeben, ist sicher ein typischer Auswuchs des Hochmuts. Schon die Annahme einer evidenten natürlichen Wahrheit ist ein Zeichen für eine gewisse Demut - die Hingabe an die absolute göttliche Wahrheit aber ist die Seele wahrer Demut.
Für einen Katholiken ist die unentbehrliche Voraussetzung für einen wahren und fruchtbaren Dialog mit der Welt eine absolute Hingabe an Christus und ein unnachgiebiges Festhalten an der göttlichen Wahrheit, die durch Ihn geoffenbart und in den Dogmen der heiligen katholischen Kirche ausgedrückt worden ist. Denen, die diesen absoluten Glauben nicht haben und diese Hingabe nicht vollziehen, sollte man in aller Entschiedenheit sagen, dass sie weder geeignet noch berufen sind, einen Dialog über die Kirche zu beginnen.
In „Ecclesiam Suam“ spricht Papst Paul VI. klar von den verschiedenen Arten von Dialog, die dem Grad der Übereinstimmung zwischen den Überzeugungen des Partners und der katholischen Lehre entsprechen. Offenbar ist die bedeutendste und erste Frage, die man sich stellen muss, ob man einen Dialog im Rahmen des Ökumenismus oder des Religionsgespräches führt, oder ob man mit Atheisten spricht. Hier ist nicht der Ort, auf die Vieldeutigkeit des Begriffes „Atheismus" einzugehen und seine verschiedenen Arten zu unterscheiden (von denen jede eine andere Art von Dialog erfordert). Doch es gibt einen Zweig des Atheismus, über den wir hier ausführlicher sprechen müssen, weil die Frage nach einem Dialog mit ihm in jüngster Zeit besonders aktuell geworden ist.
Es bleibt äußerst zweifelhaft, ob zwischen Katholiken und atheistischen Kommunisten ein wirklicher Dialog geführt werden kann. Wir sagen „wirklicher" Dialog, weil leider angebliche ,Dialoge' zwischen Katholiken und Kommunisten, die zu großer Verwirrung der Gläubigen führen, überall wie Pilze aus dem Boden schießen.
Solange Atheismus nur eine theoretische Überzeugung ist, ist ein Dialog mit Menschen dieser Überzeugung möglich. Aber wenn (wie beim Nationalsozialismus und Kommunismus) der Atheismus ein entscheidendes Element einer kämpferischen, hoch organisierten Partei ist, vor allem einer Partei, für die Worte Propagandawaffen geworden sind, so fehlt dem Dialog seine unerlässliche Grundlage - nämlich die beiderseitige Annahme, dass der Austausch von Worten eine theoretische Diskussion darstellt. Wenn für einen der Teilnehmer der Dialog nur ein Mittel unter anderen für einen politischen Propagandakampf ist, so ist eine echte Diskussion unmöglich. Und das ist eindeutig der Fall, wenn man mit einem Mitglied oder Agenten einer kommunistischen Partei oder mit dem offiziellen Vertreter eines kommunistischen Staates spricht. Ein Dialog mit einem Kommunisten ist nur in dem Fall möglich, dass ein individueller Mensch theoretisch ein überzeugter Kommunist, aber nicht Repräsentant eines kommunistischen Staates ist oder als Mitglied einer kommunistischen Partei spricht. Eine öffentliche Versicherung der Aufrichtigkeit genügt natürlich nicht, die Echtheit eines solchen Dialogs zu garantieren.
Wegen der neuen Popularität solcher Bestrebungen mag es nützlich sein, die Gefahr näher zu untersuchen, die in der Annahme liegt, ein Katholik könne wirklich mit Kommunisten einen Dialog führen. Eine verhängnisvolle Gewohnheit von Theologen, die unter progressistischen Katholiken sehr populär sind, ist ihre doppeldeutige Ausdrucksweise. Ein Musterbeispiel dafür ist ihre Verwendung des Begriffs „Zukunft". Bald meinen sie damit Ewigkeit, bald wiederum die historische Zukunft - das heißt die Generationen, die im Lauf der menschlichen Geschichte kommen werden. Doch Ewigkeit und historische Zukunft sind so vollkommen verschiedene Wirklichkeiten, dass der Ausdruck „Zukunft" nicht für beides verwendet werden kann, ohne dass man in eine vollständige Äquivokation verfällt. Teilhard de Chardins naturalistische und evolutionistische Interpretation des Schicksals des Menschen hat offenbar diese Verwirrung sehr gefördert. Ewigkeit bezieht sich auf die individuelle Person. Sie ist die vita aeterna (das ewige Leben), das im Evangelium den wahren Nachfolgern Christi verheißen worden ist und das wir am Ende des apostolischen Credo bekennen. Das ewige Leben transzendiert die der Erfahrung zugängliche Welt; seine Wirklichkeit ist uns geoffenbart worden.
Die historische Zukunft schließt im Gegensatz dazu nicht die geringste Beziehung auf ein Nachleben ein. Sie bezieht sich überhaupt nicht auf den individuellen Menschen, sie ist nicht seine Zukunft. Sie bezieht sich auf die Menschheit, auf kommende Generationen. Es gibt natürlich auch für jedes Individuum eine natürliche Zukunft auf der Erde - die Zukunft des „morgen". Diese Zukunft ist eine wesenhafte Dimension der Zeit. Wir erfahren unser Leben als eine Bewegung auf die Zukunft zu, deren Verwirklichung wir zu erleben hoffen. Aber diese natürliche, „persönliche" Zukunft unterscheidet sich klar von der geschichtlichen Zukunft, auf die sich Evolutionismus und Progressismus beziehen. Die geschichtliche Zukunft, von der jeder irdische Messianismus spricht, ist z. B. eindeutig nicht auf die Lebenszeit einer individuellen Person beschränkt.
Diese geschichtliche Zukunft liegt ferner im Bereich der natürlichen, empirisch erkennbaren Welt, und wir können viele Dinge in ihr mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen, obwohl wir nicht wirklich wissen können, was in ihr geschehen, oder wann sie zu Ende sein wird. Doch das Wesentliche dabei ist, dass die geschichtliche Zukunft kein Gegenstand des Glaubens ist. Sie ist nichts Übernatürliches; sie transzendiert die Zeit nicht, sondern sie entfaltet sich gerade in der Zeit. Die geschichtliche Zukunft mit allem, was in ihr sein wird, ist ferner noch nicht wirklich; sie ist noch nicht. Niemand lebt schon in der geschichtlichen Zukunft. Die Ewigkeit liegt nicht in der Zukunft; nur wir werden erst in der Zukunft das ewige Leben erlangen. Gottes Ewigkeit ist schon seit Ewigkeit; sie ist „jetzt und alle Zeit". Aber auch die Verstorbenen sind schon jetzt in der Ewigkeit.(168) Ewigkeit und geschichtliche Zukunft unterscheiden sich deshalb so absolut, dass es nicht berechtigt ist, sie so zu behandeln, als wären sie zwei Gattungen derselben Art „Zukunft". Es genügt auch nicht, die eine „absolute Zukunft" und die andere „nicht-absolute" oder einfachhin ,Zukunft' zu nennen. Der einzige Weg, auf dem man Äquivokation und Irrtum vermeiden kann, ist, den Gebrauch des Begriffs Zukunft auf die zeitliche oder geschichtliche Wirklichkeit zu beschränken.
Der Missbrauch der Sprache und die Verwirrung der Gläubigen, die infolge dieser Versuche, religiöse Fragen mit Kommunisten zu diskutieren, leicht eintreten kann, zeigte sich bei dem „Dialog", der im September 1966 in Herrenchiemsee stattfand.(169) Professor J. B. Metz und Pater Karl Rahner SJ versicherten, dass das Evangelium vor allem von der Zukunft spreche. Nun kann sich diese Behauptung offenbar nur auf das ewige Leben des Menschen beziehen, auf die Dinge, die Gegenstand der theologischen Tugend der Hoffnung sind. Aber da sie unmittelbar darauf die Feststellung machen, dass sich der Marxismus auch mit der Zukunft befasse, muss man schließen, dass die „Zukunft", von der man spricht, eine bloß irdische Zukunft ist, die die Erwartung eines irdischen Messianismus sein mag. Der Zusatz, dass es im Evangelium um die „absolute Zukunft" gehe, wird dem radikalen Unterschied zwischen Zukunft als Ewigkeit und Zukunft als dem bloß historisch Zukünftigen nicht gerecht.
Die Doppeldeutigkeit ist hier weniger ein Irrtum, als eine Irreführung; tatsächlich sind für die Kommunisten Ewigkeit und ewiges Leben bloße Illusionen oder ein Aberglaube. Für sie kann „Zukunft" nur etwas bedeuten, was der Menschheit in den zukünftigen Jahrhunderten bevorsteht. Es ist also nicht die Zukunft einer individuellen Person, sondern der Menschheit - des Menschengeschlechts. Nun ist es ganz und gar irreführend zu sagen, das Evangelium spreche vor allem von dieser Zukunft. Die Botschaft Christi befasst sich vor allem mit der Heiligung und dem ewigen Heil der individuellen Person. Die historische Zukunft wird im Evangelium an den eschatologischen Stellen berührt, an denen das Ende der Welt und die zweite Ankunft Christi vorausgesagt wird. Doch diese eschatologische Zukunft, die im Evangelium geoffenbart wird, kann von der Ewigkeit nicht losgelöst werden, auf die sie ausdrücklich bezogen ist. Sie verliert alle Bedeutung, wenn es keine Ewigkeit gibt - kein ewiges Leben, keinen Himmel und keine Hölle.(170)
Und wenn das Evangelium vom Wachstum des Reiches Gottes spricht - in dem Gleichnis vom Wachstum des Senfkörnleins - so geht es hierbei nicht um die allgemeine historische Zukunft.(171) Die ganze Betonung liegt auf dem Reiche Gottes, auf der Wirklichkeit des mystischen Leibes Christi und aller Seelen, die gerettet und geheiligt werden. Die Warnungen, die wir im Evangelium und beim heiligen Paulus finden, dass schlimme Zeiten kommen und dass falsche Christusse aufstehen werden, dass die Gläubigen versucht und dass viele vom Glauben abfallen werden, beziehen sich auf das geistige Leben der Kirche und nicht auf den natürlichen Lauf der Geschichte und die Entwicklung der Menschheit.
Eine Betonung der historischen Zukunft schließt unweigerlich eine kollektivistische Auffassung des Menschen ein, die durch die absolut personalistische Natur des Evangeliums ausgeschlossen ist, wo jede individuelle Person letztlich ernst genommen wird. Man vergisst heute allzu oft, dass die wahre Gemeinschaft, von der die Lehre der Kirche spricht, die Gemeinschaft des Mystischen Leibes Christi, die Gemeinschaft der streitenden, leidenden und triumphierenden Kirche, wesenhaft an die volle Würdigung der individuellen Person geknüpft ist. Sie hat nicht das geringste mit Kollektivismus zu tun, der das Individuum nur als ein Exemplar der Gattung betrachtet, als einen bloßen Teil des kollektiven Ganzen.
Keine Sehnsucht nach dem Dialog sollte uns deshalb für die Tatsache blind machen, dass das „Interesse für die Zukunft" auch nicht im geringsten eine Gemeinsamkeit des Anliegens von Katholiken und Kommunisten bedeutet. Ein ähnliches Bemühen, eine künstliche Basis für einen Dialog zwischen Katholiken und Kommunisten zu schaffen, findet man in dem vieldeutigen Gebrauch des Begriffes „Humanismus". Es gibt zweifellos verschiedene Begriffe von Humanismus. Wir können von einem natürlichen Humanismus sprechen - z. B. vom griechischen Humanismusideal oder von dem Goethes. Und es hat einen Sinn zu sagen, dass der christliche Humanismus von jedem bloß natürlichen Humanismus verschieden ist. Wenn Maritain das Christentum „L'Humanisme Integral" nennt, so zielt er damit zu Recht auf die Unvollständigkeit des heidnischen Humanismusideals ab. Man kann auch von einem atheistischen Humanismus sprechen, den Henri de Lubac in dem Buch „Drama des Humanismus ohne Gott" behandelt hat. Man kann in gewissem Sinn tatsächlich Nietzsches Ideal vom Übermenschen oder das Ideal Feuerbachs einen Humanismus nennen. Aber es hat überhaupt keinen Sinn, von einem marxistischen oder kommunistischen Humanismus zu sprechen.
Erstens ist der Materialismus des kommunistischen Glaubensbekenntnisses mit jedem humanistischen Ideal unverträglich. Wenn der Mensch nichts als höherentwickelte Materie ist, kann jedes Sprechen von ,Humanismus' nur eine Äquivokation darstellen. Gewisse Züge des Menschen als einer geistigen Person sind für jeden Humanismus wesentlich. Das humanistische Ideal schließt intellektuelle und sittliche Werte und deren Entwicklung ein. Doch die materialistische Auffassung vom Menschen lässt für diese Werte keinen Platz, selbst wenn offenbar die Kommunisten in der Praxis unvermeidlich intellektuelle Werte und Leistungen irgendwie in Rechnung setzen müssen.
Zweitens ist auch die Idee eines Determinismus gemäß den immanenten Gesetzen der ökonomischen Entwicklung (und der damit verbundene historische Relativismus) mit einem konsequenten Humanismus unvereinbar. Drittens schließt die totalitäre Natur des Kommunismus, der den individuellen Menschen als bloßes Mittel betrachtet und seinen Wert nur nach seiner Nützlichkeit für das Kollektiv bemisst, jede Vereinbarkeit von Kommunismus und Humanismus aus. Der Kommunismus wird von keiner Ideologie hinsichtlich seiner tiefen und konsequenten Depersonalisierung übertroffen. Die Person wird jedes Rechtes beraubt.
Wir könnten ebenso gut vom humanistischen Ideal des Nationalsozialismus sprechen, wo wir statt des reinen Materialismus des Kommunismus einen biologischen Materialismus finden - den Rassismus.
Aber es wäre offensichtlich sinnlos, den Nationalsozialismus als eine Art von Humanismus zu betrachten. Er ist wie der Kommunismus ein schrecklicher Anti-Humanismus mit einem ähnlichen Kult der Depersonalisierung. Doch, wie leicht vorherzusagen, sprechen von einem kommunistischen Humanismus bedenkenlos viele Menschen, die entschieden leugnen würden, dass man den Nationalsozialismus je als eine Form des Humanismus bezeichnen könnte - obwohl der letztere jedem echten Humanismus nicht mehr entgegengesetzt ist als der erstere.
Was wir über den äquivoken Gebrauch des Begriffes „Zukunft" gesagt haben, gilt ebenso für den doppeldeutigen Gebrauch des Begriffes ,Humanismus'. Der Versuch, ein angebliches „gemeinsames Interesse" am ,Humanismus' als Ausgangspunkt für einen Dialog zu nehmen - von Christentum und Kommunismus als von zwei verschiedenen Formen von Humanismus zu sprechen und dann noch zu sagen, die Zukunft werde zeigen, welcher den menschlichen Bedürfnissen erfolgreicher entspricht - das heißt das Wesen des Dialogs und des Humanismus grotesk entstellen. Eine solche Missinterpretation der Tatsachen führt nicht zu einem Dialog, sondern eher zu einem erwünschten (und gefährlichen) Minimalisieren der Unterschiede zwischen Christentum und Kommunismus.
Wenn Rahner „sich fragt", warum die Kommunisten eine Koexistenz der zwei Versuche, das humanistische Ideal zu erreichen, nicht akzeptieren, beweist er seine Blindheit gegenüber dem Wesen des Kommunismus. Es ist für den Kommunisten vollkommen konsequent, dass sie das Christentum nicht tolerieren; denn sie sind sich bewusst, dass das, was die Christen Humanismus nennen, in der kommunistischen Ideologie keinen Platz hat und in der Tat ein ausgesprochenes Hindernis für ihre Pläne darstellt. Der doppeldeutige Gebrauch von Begriffen durch Katholiken dient deshalb nur der kommunistischen Propaganda und verbreitet unter den Katholiken selbst Verwirrung. Das Zweite Vatikanische Konzil hat nicht diese Art von Dialog befürwortet.(172)
24. Kapitel: ÖKUMENISMUS UND SÄKULARISIERUNG
„Man wird sich bewusst, dass die Kirche mit einer schweren Krise konfrontiert ist. Unter dem Namen einer Neuen Kirche, einer post-konziliaren Kirche, sucht manchmal eine andere Kirche als die Jesu Christi sich zu gründen: eine anthropozentrische Gesellschaft, die von einer „immanenten Apostasie" bedroht ist, und die sich in eine Bewegung eines allgemeinen Aufgebens hineinziehen lässt unter dem Vorwand der Verjüngung, des Ökumenismus oder der Anpassung."(173)
Wenn man liest, was das Konzil über den Ökumenismus sagt, muss man sich wundern, wie progressistische Katholiken es fertig bringen, explizit Ökumenismus und Säkularisierung zu verbinden. Sie möchten die Kirche säkularisieren, und zugleich schwärmen sie für eine mögliche Gemeinschaft mit religiösen Menschen außerhalb der Kirche. Nun gibt es, wie die Enzyklika Ecclesiam Suam klar zeigt, verschiedene Grade der Gemeinsamkeit, zunächst mit der byzantinischen Ostkirche, dann mit den Protestanten, dann mit den Juden, dann mit den Moslems und schließlich mit den Hindus und Buddhisten.
Da sich der Begriff „Ökumenismus" nur auf die Einheit aller Christen bezieht, „Religionsgespräch" auf den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen, ist es offenbar unkorrekt, diese beiden Begriffe auf den Dialog mit den Kommunisten auszudehnen, wie dies besonders mit dem Begriff „Ökumenismus" oft geschieht.
Wahrer Ökumenismus schließt ein, dass man die Elemente betont, die die katholische Kirche mit den anderen christlichen Bekenntnissen gemein hat. Nun ist es wohlbekannt, dass die orthodoxe Kirche den Kampf zwischen Christus und dem Geist „dieser Welt" besonders betont.
Sie besteht auf dem Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Das ist auch der Grund, warum die Orthodoxen oft, wenn auch ungerechterweise, die katholische Kirche beschuldigt haben, zu viele Kompromisse mit dem Profanen, mit der desakralisierten Mentalität der modernen abendländischen Welt zu machen. Wie können diejenigen, die die Zeichen der Unverträglichkeit des Geistes Christi mit dem Geist dieser Welt auszulöschen suchen, die das Leben der Kirche zu entsakralisieren suchen, erwarten, dadurch zu einer tieferen Verbundenheit mit der Ostkirche zu gelangen? Die Betonung des Gegensatzes zwischen Christus und der Welt ist einerseits etwas Urkatholisches(174) und anderseits genau das, was die Ostkirche im römischen Katholizismus vermisst. Ist also nicht die Säkularisierung, die von den progressistischen Katholiken befürwortet wird, das beste Mittel, jede Möglichkeit einer tieferen Beziehung und Einheit mit der Ostkirche zu untergraben?
Eine ähnliche Analyse, die zu einem ähnlichen Schluss führt, lässt sich auf den Lutheranismus anwenden. Luthers Angriffe auf die Kirche waren zum Teil gegen ihre Weltlichkeit gerichtet. In seiner Lehre von der völligen Verderbtheit der Natur durch den Fall des Menschen, die zu der Behauptung führt, der Mensch könne nicht geheiligt werden, liegt implizit auch eine besondere Betonung der Ewigkeit. Obwohl diese Haltung der Natur gegenüber unrichtig ist, so bleibt bei Luther doch der Primat Gottes, Christi des Erlösers und des ewigen Lebens erhalten.
Luther trennt Himmel und Erde in einer falschen Weise; indem er leugnet, dass moralische Werte eine Rolle für unser Heil zu spielen haben, gibt er den Menschen der sündigen Welt preis: Er säkularisiert also den Menschen, aber er säkularisiert nicht die Religion. Er ist weit davon entfernt zu glauben, dass irgendeine Haltung unserm Nächsten gegenüber (um nicht das Wort ,Menschheit' in den Mund zu nehmen) jemals unsere direkte Beziehung zu Christus und unseren Glauben an Christus ersetzen könnte. Die Worte vieler Bach-Kantaten beweisen den absoluten Primat, den Luther den himmlischen Gütern gegenüber alle Gütern dieser Welt zuerkennt.
Ist nun das Ziel des Ökumenismus, eine Gemeinschaft mit Menschen zu pflegen, die einen evangelischen Glauben im Sinne Luthers, Melanchthons, Bachs oder Mathias Claudius' haben? Oder mit liberalen Protestanten wie Robinson, Cox oder Fletcher, die ihren Glauben an Christus verloren haben und die mit Protestanten, die noch glauben, wie Billy Graham, nichts gemein haben? Offenbar kann das Ziel des Ökumenismus nur eine Einheit mit orthodoxen Protestanten sein. Und weit davon entfernt, eine Brücke zu ihnen zu bauen, baut die Säkularisierung in Wirklichkeit eine trennende Mauer zwischen uns und gläubigen Protestanten auf; denn der Primat des Himmlischen über das Irdische ist sicher ein positives Element im orthodoxen Protestantismus, ebenso wie die Ablehnung des Säkulum. Begegnungen mit säkularisierten Protestanten können in keiner Weise als Beweise eines echten Ökumenismus betrachtet werden, denn in solchen Fällen ist die einzig mögliche gemeinsame Diskussionsbasis die Säkularsierung - d. h. wir begegnen denjenigen, die ihren Glauben an Christus verloren haben, indem wir ihn selbst verlieren.(175)
Was die Juden betrifft, so sollte klar sein, dass der Geist des Ökumenismus nur zu einer Gemeinschaft mit den Orthodoxen oder den ,konservativen' Juden führen kann - d. h. mit jenen Juden, die noch an das Alte Testament glauben. Trotz der tiefen dogmatischen Unterschiede, die die Juden von den Christen trennen, ist doch ihr Glaube an das Alte Testament, ihr tiefer Glaube an Gott, ihre Ehrfurcht, ihr Sinn für das Heilige, eine gewaltige gemeinsame Grundlage für eine Begegnung.
Im Hinduismus und Buddhismus finden wir eine tiefe Überzeugung von der Unwirklichkeit dieser Welt – der maya. So unannehmbar diese Lehre auch für jeden Christen sein muss, so ist doch die Überzeugung, dass die Fülle der Wirklichkeit jenseits dieser Welt liegt, eine wertvolle unvollständige Wahrheit. Obwohl diese überweltliche Wirklichkeit in einer anderen Richtung gesucht wird, so ist doch die metaphysische Inferiorität der empirischen Welt im Vergleich zur absoluten Wirklichkeit ein gemeinsames Element, das eine Grundlage für eine gewisse Gemeinschaft darbietet. Gemeinsam ist auch die Betonung der Sammlung und der Sinn für den Unterschied zwischen dem Sakralen und dem Profanen, der auch in den östlichen Religionen von großer Bedeutung ist.(176)
Es ist also nicht schwer zu sehen, dass die Säkularisierung, die gewisse Katholiken der Kirche vorschlagen, die Möglichkeit jedes Ökumenismus sowie jedes Religionsgesprächs untergräbt.
Sicherlich ist die Säkularisierung an erster Stelle ein Übel, weil sie einen Abfall von Christus einschließt, und aus diesem Grund bekämpfen wir sie auf jeder Seite dieses Buches. Doch es muss auch betont werden, dass Säkularisierung wahrem Ökumenismus und echtem Religionsgespräch hindernd im Weg steht.
25. Kapitel: RELIGIÖSE LEBENDIGKEIT UND VERÄNDERUNG
Die Kampagne derer, die sich selbst als die Avantgarde der Kirche erklären, schließt sowohl die Anschwärzung der Vergangenheit der Kirche ein als das Verkünden der Veränderung als eines Zeichens von Lebendigkeit. Wir haben gesehen, dass Veränderung ein doppeldeutiger und irreführender Begriff ist, da er sich auf zwei absolut verschiedene Phänomene beziehen kann: erstens auf einen radikalen Wandel - z. B. das Ersetzen eines Ideals oder einer Überzeugung durch eine andere; und zweitens kann er Veränderung im Sinne von Wachstum bedeuten, - das Wachsen unserer Liebe, unserer Frömmigkeit, unseres Verständnisses. Wir haben auch gesehen, dass moralischer Fortschritt nicht in Veränderung im ersten Sinn bestehen kann.(177)
Für den Christen besteht aller Fortschritt nur im zweiten Sinn von Veränderung - im Überwinden von Unvollkommenheiten und im immer größeren Mitwirken an der Entfaltung unserer Heiligung, die der Herr uns in Seiner Lehre und Seinen Sakramenten anbietet. Nach diesem Fortschritt zu streben ist allerdings so wesentlich für den Christen, dass Kardinal Newman sagt, dass ein Mensch, der einen hohen Grad von Vollkommenheit erreicht hat, wenn er dies für genug hielte, schlimmer daran sei, als ein Mensch, der erst am Beginn des Weges zur Vollkommenheit stünde, jedoch von der Sehnsucht erfüllt sei, vollkommen in Christus umgestaltet zu werden.
Jeder Fortschritt in der Richtung der Umgestaltung in Christus schließt notwendig Kontinuierlichkeit und Beharrlichkeit ein; absolute Treue zu Christus, wachsende Liebe zu Christus und wachsenden Abscheu vor der Sünde und vor falschen Propheten. Diese Stabilität und Kontinuierlichkeit ist das Gegenteil von Erstarrung und Selbstgefälligkeit. Die Bereitschaft, sich verändern und in Christus umgestalten zu lassen, ist tief mit der Kontinuität eines unerschütterlichen Glaubens an Christus verbunden(178), denn der Fortschritt, nach dem der Christ strebt, schließt ein immer erneutes Zurückkehren zu Christus ein, von dem uns unsere gefallene Natur abzieht. Zeigt nicht unser Leben, wie wir von Untreue bedroht sind, von Erschlaffung in unserem Eifer, von einem ständigen Sog zur Oberflächlichkeit? Worin kann wahrer Fortschritt bestehen, wenn nicht in unserer Rückkehr zu Christus?
Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass Lebendigkeit immer Veränderung einschließt und dass sich die Religion verändern müsse, wenn sie lebendig bleiben wolle. Sicherlich sind wir auf dieser Erde Wesen, die der Veränderung ausgesetzt sind. Unser geistiges und unser leibliches Leben unterliegt einem Prozess der Veränderung und Entwicklung. Doch diese Veränderung, die in unserer zeitlichen Existenz gründet, bedeutet nicht, dass die Gegenstände unserer Überzeugungen und Liebe sich auch verändern. Wahrheit - vor allem übernatürliche Wahrheit - verändert sich nicht, noch verändern sich jemals die Werte oder ihre Forderung nach Beharrlichkeit und beständigem Festhalten an ihnen. Inmitten allen Wechsels können wir in unseren tiefsten Haltungen unverändert bleiben, in unseren grundlegenden Überzeugungen und in unserer Liebe. Im Bereich des Glaubens bedeutet Lebendigkeit, dass unser Glaube und unsere Liebe niemals zu bloßen Gewohnheiten werden, dass wir niemals aufhören zu staunen und immer neu in die unergründliche Tiefe der Offenbarung einzutauchen, die die Quelle einer immer wachsenden religiösen Lebendigkeit ist; Lebendigkeit bedeutet, dass wir immer und immer wieder unsere volle Hingabe an Gott vollziehen.(179)
Das Wesen der Veränderung, die in unserer Liebe und in unserem Gehorsam Christus gegenüber als Frucht des Heiligen Geistes eintritt, gleicht derjenigen, die wir mit den Worten ausdrücken: „Meine Liebe zu Dir wächst immer mehr an Intensität und Tiefe". Es ist jene Veränderung, die jedem Wachstum in der Vollkommenheit eigen ist. Aber offenbar ist dies nicht die Veränderung, von der die progressistischen Katholiken schwärmen und die sie irrtümlicherweise für das Wesen von Lebendigkeit halten. Ihre Auffassung von gesunder Veränderung bezieht sich auf einen Wechsel unserer Ansichten und Überzeugungen, auf den Ersatz einer Liebe durch eine andere. Diese Veränderung schließt Diskontinuierlichkeit, Untreue und vollkommenes Fehlen von Beharrlichkeit ein. Menschen, die häufig ihre Überzeugung wechseln, die von einem falschen Propheten zum andern laufen, beweisen keine Lebensfülle. Im Gegenteil: Ihr Hin-und-her-Schwanken ist nur ein scheinbares Leben. In diesem Zustand vermag nichts in ihrer Seele Wurzel zu fassen und alles in ihnen wird totgeboren sein. Diese Art von Veränderung als ein Zeichen geistiger Lebendigkeit anzusehen bedeutet einen ähnlichen Irrtum, wie Pluralismus in Philosophie und Religion für ein Zeichen intellektueller Lebendigkeit zu halten.
Wenn aber eine tiefgehende Bekehrung im geistlichen Leben einer Person eintritt, so kann man nicht sagen, diese Bekehrung vollziehe sich innerhalb ihres religiösen Lebens; eine solche metanoia geht vielmehr unserem religiösen Leben voraus oder ist gerade sein Beginn. Der Begriff ,Fortschritt' oder ,Wachstum' wäre gänzlich unangemessen, um dieses entscheidende Phänomen zu treffen. Doch ist es wichtig zu sehen, dass die radikale Veränderung einer religiösen Konversion nicht deshalb ein Zeichen von Lebendigkeit ist, weil sie eine Veränderung, sondern weil sie eine Umkehr vom Irrtum zur göttlichen Wahrheit, weil sie ein Übergang vom Tod zum Leben ist. Der heilige Augustinus hatte das im Auge, wenn er von den Kämpfen, die seiner Bekehrung vorausgingen, sagt: „Ich schwankte noch, dem Leben zu leben und dem Tode zu sterben."
Wir haben immer wieder den Absolutheitscharakter der von Gott geoffenbarten Wahrheit hervorgehoben. Doch es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass weder im Ziel des religiösen Lebens des Einzelnen, noch in der Lehre der Kirche irgendein Platz für eine grundsätzlich Veränderung ist. Diejenigen, die sagen: „Wir wollen nicht mehr vom Leiden Christi und von der Auferstehung hören; wir wollen nicht länger nach Heiligkeit streben; was man uns geben muss, sind neue Ideen, neue Auffassungen, neue Ziele; sonst wird unser religiöses Leben vertrocknen." -Alle, die dies sagen, verraten unmissverständlich, dass ihr Glaube tot ist. Sie können nicht verstehen, dass die Mysterien unseres christlichen Glaubens unerschöpflich und unergründlich sind. Unter Veränderung oder Fortschritt in der Kirche kann man das Wachstum des Reiches Gottes in den Seelen der Menschen verstehen, das Wachsen der Heiligkeit aller Glieder des Mystischen Leibes Christi. Man kann damit auch das Wachsen der expliziten Formulierung der göttlichen Offenbarung meinen, die der Kirche anvertraut worden ist.
Aber niemals kann darunter irgendeine Veränderung im Sinne der Substituierung eines neuen Dogmas oder Glaubensinhalts für einen alten verstanden werden. Es ist ein Wesensmerkmal der wahren Kirche, dass sie ungleich allen rein menschlichen Institutionen und Gemeinschaften immer ein und dieselbe bleibt in dem Glauben, den sie bewahrt. Die Identität der Kirche der Katakomben mit der Kirche vom Konzil von Nizäa, der Kirche des Tridentinums mit der Kirche der Vatikanischen Konzile ist ein Zeichen, dass sie eine göttliche Einrichtung ist. Eine Kirche von „morgen", die eine Kirche von „gestern" ersetzen würde, wäre ein Widerspruch zum Wesen der Kirche. Der, dessen Herz mehr von der Vorstellung einer veränderlichen Kirche getroffen ist als von der glorreichen Identität und Stabilität der Kirche, hat den sensus supranaturalis verloren und beweist, dass er die Kirche nicht mehr liebt.
Wie wir im ersten Teil erwähnt haben, sind die Veränderungen, die zu einer Erneuerung und Verlebendigung in der Kirche führen, im wesentlichen eine Befreiung von den Untreuen, die in das Heiligtum der Kirche einbrechen. Erneuerung schließt deshalb vor allem ein kontinuierliches Zurückgehen auf den einen unwandelbaren Ruf des Herrn ein, auf das authentische, reine und unwandelbare Ziel der Heiligkeit. Erneuerung in der Kirche ist deshalb das genaue Gegenteil vom wechselnden Rhythmus der Geschichte.
Zweifellos gibt es viele Dinge an der Oberfläche der Kirche, die sich gemäß den wechselnden historischen Bedingungen verändern. Aber die Berücksichtigung der gegebenen historischen Situation kann nur positive Bestimmungen oder Gebote betreffen. Gewisse religiöse Bräuche, die einer bestimmten Zeit gut entsprachen, mögen in einer anderen Zeit nach Veränderung verlangen. Die Einschränkung des Fastens in der neuen Zeit ist z. B. notwendig aufgrund der zurückgehenden Vitalität und der nervösen Spannung des modernen Lebens. Aber es wäre falsch, diese Veränderung einen ,Fortschritt' zu nennen, denn sie bedeutet keine Entfernung eines Unwertes und auch keinen Ersatz eines niedrigeren Wertes durch einen höheren.
Doch als Pius X. die tägliche Kommunion empfahl, ließ er eine Praxis wieder aufleben, die in den ersten christlichen Jahrhunderten weitverbreitet war; und in dem Maß, in dem dieses Sakrament in rechter Weise empfangen wurde, bedeutete sein täglicher Empfang ein Wachsen der Vollkommenheit im Leben der Gläubigen. Ebenso mag eine Veränderung im kanonischen Recht, die bestimmte Missbräuche ausschaltet, zu einem Fortschritt im Leben der Kirche führen. In unserer Diskussion der soziologisch-historischen Realität von Ideen (Kap. 11) sahen wir, dass die Lebendigkeit von Ideen, die zu einer bestimmten Zeit ,in der Luft liegen', einen besonderen Charakter annimmt, wenn diese Ideen wahr sind und sich auf etwas beziehen, was einen eindeutigen Wert besitzt. In diesem Fall nimmt die soziologisch-historische Wirklichkeit den Charakter einer Erfüllung an, weil das Gute und Wahre verkündet und befolgt werden sollte.
Die Wahrheit ist dazu bestimmt, unter den Menschen zu herrschen: Der Sieg der Wahrheit und der Werte ist die Erfüllung einer Forderung.(180) Verglichen mit der Wirklichkeit und Lebendigkeit, die die Herrschaft wahrer Ideen - oder der Sieg des Guten besitzt, ist die historische Realität von Irrtümern nur eine Scheinlebendigkeit. Doch die historische Realität der Kirche hat noch eine unvergleichlich höhere Bedeutung. Noch ganz abgesehen von dem Ausmaß, in dem sie von den Menschen angenommen wird, ist die einfache Tatsache, dass die Kirche existiert, ein Sieg für Christus. Die Tatsache, dass die sichtbare Kirche durch die Sakramente einen Gnadenstrom in die Seelen der Menschen ergießt, dass sie vom Heiligen Geist geleitet wird, dass sie inmitten der Welt der Menschheit die unverfälschte göttliche Offenbarung verkündet, die Botschaft von der göttlichen Barmherzigkeit, stellt eine einzigartige historisch-soziologische Wirklichkeit dar. Dass die Kirche die Menschen zur Bekehrung aufruft und sie ermahnt, nach Heiligkeit zu streben, ist in sich eine einzigartige Verwirklichung des Reiches Christi. Die Tatsache, dass menschliche Wesen demütig ihre Sünden bekennen und dass das Wort Gottes „importune, opportune" verkündet wird, ist ein einzigartiger Triumph des Geistes Christi. Die Existenz der ununterbrochenen apostolischen Sukzession und der vielen religiösen Orden bezeugen den unbestreitbaren Sieg Christi über die Welt. Und wer könnte angesichts der Schar von Heiligen in den zwei Jahrtausenden des Christentums, von denen jeder einzelne einen Einbruch des Übernatürlichen in diese Welt darstellt, leugnen, dass die Worte auf dem Obelisken vor Sankt Peter volle Wirklichkeit angenommen haben: „Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat."
Doch obwohl allein die Existenz der Kirche ein Zeichen einer einzigartigen und lichtvollen Lebendigkeit ist, unabhängig von ihrer Ausbreitung in der Welt, so gibt es doch eine unendliche Reihe von Verwirklichungen des Reiches Gottes, die noch eintreten sollten. Deshalb fahren die Gläubigen fort, täglich zu beten: „Zu uns komme Dein Reich." Unzählige Menschen sitzen noch in umbra mortis (im Schatten des Todes); unzählige Glieder des Mystischen Leibes sind noch nicht in Christus umgestaltet. Wie Kardinal Newman sagt, zieht Christus uns laue und untreue Diener immer wieder „an den Banden Adams" in Seine Kirche: „Und was sind diese Bande? Es ist die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes im Antlitz Jesu Christi; es ist das Sichtbarwerden der Eigenschaften und Vollkommenheiten des Allmächtigen Gottes; es ist die Schönheit Seiner Heiligkeit, die Süßigkeit Seiner Barmherzigkeit, der Glanz Seines Gesetzes, die Harmonie Seiner Vorsehung, die ergreifende Musik Seiner Stimme, die der Widersacher des Fleisches und der Verteidiger der Seele gegen die Welt und den Teufel ist." (181)
26. Kapitel: RELIGION UND SCHÖNHEIT
Schönheit spielt im religiösen Kult eine bedeutende Rolle. Schon der Akt der Anbetung einer Gottheit schließt wesenhaft die Sehnsucht ein, den Kult, der dieser Gottheit geweiht ist, mit Schönheit zu erfüllen. Dieses Streben nach Schönheit im religiösen Kult als „Ästhetizismus" zu brandmarken (wie dies manche Katholiken seit kurzem mit zunehmendem Ärger tun), verrät sowohl eine falsche Auffassung von der Gottesverehrung, als auch von der Schönheit.(182) Dies wird klar, wenn man das Wesen des Ästhetizismus betrachtet, statt sich dieses Begriffes nur als eines destruktiven Schlagworts zu bedienen.
Ästhetizismus ist eine pervertierte Einstellung der Schönheit gegenüber.(183) Der Ästhet genießt schöne Dinge, wie man einen guten Wein genießt. Er naht ihnen nicht mit Ehrfurcht und Verständnis für den Wert, den das Schöne in sich selbst besitzt und der nach einer adäquaten Antwort verlangt, sondern sieht in ihnen nur eine Quelle seiner subjektiven Befriedigung. Selbst wenn er einen raffinierten Geschmack hat und ein bemerkenswerter Kenner ist, kann der Ästhet auf Grund seiner Einstellung dem Wesen der Schönheit unmöglich gerecht werden. Vor allem ist er allen anderen Werten gegenüber gleichgültig, die dem Objekt eigen sein mögen. Was immer das Thema einer Situation auch sei, er blickt auf alles ausschließlich vom Standpunkt seines ästhetischen Genusses oder der Lust. Sein Fehler liegt nicht darin, dass er den Wert der Schönheit überschätzt, sondern dass er andere fundamentale Werte ignoriert - vor allem moralische Werte.
Einer Situation von einem Standpunkt aus zu nahen, die ihrem objektiven Thema nicht entspricht, stellt immer eine große Perversion dar.
Es ist z. B. pervers, wenn jemand ein menschliches Drama, das nach Mitleid, Sympathie und helfendem Eingreifen verlangt, so betrachtet, als wäre es nur ein Objekt psychologischer Studien. Wissenschaftliche Analyse zum einzigen Gesichtspunkt zu machen, von dem aus man an eine Situation herantritt, ist vollkommen unobjektiv, ja sogar abstoßend; man missachtet damit das objektive Thema und erklärt es für ungültig. Abgesehen davon, dass er alle Gesichtspunkte außer dem „ästhetischen" und alle Themen außer dem der Schönheit ignoriert, entstellt der Ästhet auch die wahre Natur der Schönheit in ihrer Tiefe und Größe. Wie wir in andern Büchern gezeigt haben, schließt jede Vergötzung eines Gutes notwendig auch das Verständnis seines wahren Wertes aus.(184) Die größte und eigentlichste Würdigung eines Gutes ist nur möglich, wenn wir es an seiner objektiven Stelle in der gottgegebenen Hierarchie des Seienden sehen.
Würde sich jemand weigern, in die Messe zu gehen, weil die Kirche hässlich oder die Musik wenig schön ist, wäre er des Ästhetizismus schuldig, denn er hätte den religiösen Gesichtspunkt durch den ästhetischen ersetzt. Doch es ist das Gegenteil von Ästhetizismus, die hohe Funktion der Schönheit in der Religion zu würdigen; sowohl die legitime Rolle zu verstehen, die sie im Kult spielen sollte, als auch die Sehnsucht religiöser Menschen, all die Dinge mit der größten Schönheit auszustatten, die sich auf den Gottesdienst beziehen. Diese wahre Würdigung der Schönheit ist vielmehr eine organische Frucht der Ehrfurcht, der Liebe zu Christus und des Aktes der Anbetung selbst. Doch unglückseligerweise behaupten heute manche Katholiken, dieses Verlangen, den Kult mit Schönheit auszustatten, stehe im Gegensatz zur evangelischen Armut. Dieser schwere Irrtum scheint oft dadurch unterstützt zu werden, dass man sich schuldig fühlt, weil man sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber gleichgültig war und die berechtigten Forderungen der Armen nicht beachtete. Im Namen der evangelischen Armut, sagt man uns dann, sollten die Kirchen kahl, einfach und aller „unnötigen Zierereien" bar sein.
Doch die Katholiken, die das sagen, verwechseln evangelische Armut mit der Prosa des Alltags der modernen Welt. Sie übersehen ganz die Tatsache, dass das Ersetzen der Schönheit durch Komfort, und der Luxus, der oft darin enthalten ist, der evangelischen Armut mehr entgegengesetzt ist, als es Schönheit - selbst in ihren überschwänglichsten Formen - je sein könnte. Der funktionalistische Begriff vom Überflüssigen ist sehr vieldeutig und ein bloßer Auswuchs des Utilitarismus. Er widerspricht den Worten des Herrn: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein". In „The New Tower of Babel", haben wir zu zeigen versucht, dass alle Kultur ein superabundantes (überfließendes) Geschenk ist, etwas, was einem utilitaristischen Geist als überflüssig erscheinen muss. Doch Gott sei Dank ist die Haltung der Kirche und der Gläubigen jahrhundertlang nicht utilitaristisch gewesen.
Der heilige Franziskus, der in seinem eigenen Leben die evangelische Armut aufs äußerste befolgte, hat niemals behauptet, dass die Kirchen trocken, kahl und ohne Schönheit sein sollten. Im Gegenteil, Kirche und Altar konnten ihm nie schön genug sein. Dasselbe kann man etwa auch vom heiligen Pfarrer von Ars oder von der heiligen Theresia von Avila sagen.(185)
Es entsteht ein lächerlicher Widerspruch, wenn um der evangelischen Armut willen künstlerisch wertvollste Kirchen niedergerissen und - unter großen Kosten – durch prosaische und kahle Gotteshäuser ersetzt werden. Nicht die Schönheit und der Glanz der Kirche ist unverträglich mit dem Geist der evangelischen Armut und gibt den Armen Ärgernis, sondern vielmehr der unnötige Luxus und Komfort, der heute so weit verbreitet ist. Wenn die Priester zur evangelischen Armut zurückkehren wollen, dann sollten sie bedenken, dass in den Vereinigten Staaten und in Deutschland der Klerus vielfach die elegantesten Wägen, die besten Kameras, die modernsten Fernsehgeräte besitzt. Viel zu trinken und zu rauchen steht in eindeutigem Gegensatz zur evangelischen Armut - doch sicher nicht die Schönheit und Pracht der Kirchen. Einerseits behauptet man, die Kirchen sollten kahl sein, anderseits errichtet man in Pfarren und auf den Campus katholischer Colleges hässliche Gebäude für Gesellschaftszwecke, die mit jeder Art von unnötigem Luxus ausgestattet sind; und dies tut man im Namen der sozialen Fürsorge und des Gemeinschafsgeistes.
Sogar in Klöstern kann man ähnliche Entwicklungen finden. Diese neuen Formen sind nicht nur offenbar der evangelischen Armut entgegengesetzt, sondern sie strahlen auch eine spezifisch weltliche Atmosphäre aus. Die Klubsessel und dicken Polster haben eine ungesunde Weichheit. Solche Gebäude verbinden meisterhaft drei schlechte Eigenschaften: Kostspieligkeit, Hässlichkeit und eine Einladung zu dem Sich-gehen-Iassen, das für die Dekadenz typisch ist, die den Menschen unserer Zeit bedroht.
Manchmal nehmen die Argumente für den Ikonoklasmus eine andere Form an: Man kann gelegentlich Priester sagen hören, die Messe sei etwas Abstraktes, Dunkles, und deshalb sollten die Kirchen und besonders der Altar schmucklos sein. In Wirklichkeit ist die heilige Messe ein ungeheures Mysterium, das unser rationales Verstehen übersteigt, aber sie ist in keiner Weise etwas Abstraktes.
Das Abstrakte ist spezifisch rational und dem Realen, Konkreten, Individuellen entgegengesetzt. Die Welt des Übernatürlichen, die Wirklichkeit, die uns geoffenbart worden ist, transzendiert die Welt des Rationalen, aber schließt nicht den geringsten Gegensatz zum Realen und Konkreten ein. Sie ist ganz im Gegenteil die letzte, absolute, wenn auch unsichtbare Wirklichkeit. Die Messe ist also im höchsten Sinn eine konkrete Wirklichkeit, ein J e t z t: Christus selbst ist wahrhaft gegenwärtig. Die Wirkung und das existentielle Gewicht der heiligen Liturgie wurzelt gerade in der Tatsache, dass sie in keiner Weise abstrakt ist und sich nicht nur an unseren Intellekt oder an einen nackten Glauben wendet, sondern vielmehr zur ganzen menschlichen Person in unzähligen Weisen spricht. Sie zieht den Gläubigen in die heilige Atmosphäre Christi hinein durch die sakrale Schönheit und den Glanz der Kirchen, durch die Farbe und Schönheit der Gewänder, durch den Stil ihrer Sprache, durch die sublime Musik des Gregorianischen Chorals.
Manchmal behaupten progressistische Katholiken auch, dass jene, die gegen den modernen Ikonoklasmus kämpfen, sich um das „Unwesentliche" kümmern, da das Thema das Mysterium der heiligen Messe und der Eucharistie ist.(186)
Wenn das Wort „wesentlich" nur auf das wahre Thema der heiligen Messe hinweisen soll und wenn man damit nur betonen möchte, dass dieses unvergleichlich bedeutender ist als irgend etwas anderes, dann ist es wirklich nicht wesentlich, ob die Kirche, in der die heilige Messe gefeiert wird und in der die Gläubigen die heilige Kommunion empfangen, schön ist oder nicht.
Dann haben natürlich die Gewänder des Priesters keine wesentliche Bedeutung, noch die liturgische Musik, ja selbst die liturgischen Texte nicht. Dann sind nur die Worte wesentlich, durch die die Transsubstantiation vollzogen wird.
Wenn aber „wesentlich" einfach wichtig heißen soll, und wenn man dann Gewänder, Musik und Texte unwesentlich nennt, weil man sie für unwichtig hält, dann haben wir es mit einem Irrtum zu tun.(187) Denn es besteht ein tiefes, bedeutsames Verhältnis zwischen dem inneren Wesen von etwas und seinem adäquaten Ausdruck. Und dies gilt ganz besonders von der heilige Messe.
Die sichtbare Erscheinung, das „Antlitz", unter dem dieses Mysterium sich darbietet, spielt eine entscheidende Rolle und darf nicht als etwas betrachtet werden, was willkürlichem Wechsel überlassen werden kann.(188) Trotz der Tatsache, dass das, was ausgedrückt wird, unendlich viel wichtiger ist, als sein Ausdruck.
Die Beziehung zwischen dem Seienden, das sich ausdrückt und seinem Ausdruck ist ganz einzigartig. Vor allem in der irdischen Existenz des Menschen spielt der Ausdruck eine entscheidende Rolle, wenn auch das, was sich ausdrückt, viel bedeutsamer ist.
Obwohl das wirkliche Thema der heiligen Messe die Vergegenwärtigung des Mysteriums des Kreuzesopfers Christi und die Eucharistie ist, so sollte man doch - gerade je mehr man dies versteht - ein großes Gewicht auf die sakrale Atmosphäre legen, die von den Worten, Bewegungen, von der Musik und der Kirche, in der die heilige Messe gefeiert wird, ausgeht. Im Gegensatz zu jeder gnostischen Verachtung der Materie und des äußeren Ausdrucks ist es ein spezifisch christlicher Grundsatz, dass geistige Haltungen auch in unserem äußeren Benehmen ihren Ausdruck finden sollten, in unseren Bewegungen, im Stil unserer Worte. Die ganze Liturgie ist von diesem Grundsatz durchformt - so ähnlich, wie auch der Raum oder das Gebäude, in dem feierliche oder heilige Dinge geschehen, eine Atmosphäre ausstrahlen sollte, die ihnen entspricht. Sicherlich wird die Wirklichkeit dieser Mysterien nicht davon tangiert, dass ihr Ausdruck unangemessen ist. Aber es liegt dennoch ein spezifischer Wert darin, dass sie den adäquaten Ausdruck finden.
Wie falsch ist es deshalb, die Schönheit einer Kirche oder der Liturgie als etwas zu betrachten, was uns zerstreut und vom wirklichen Thema der liturgischen Mysterien zu etwas Oberflächlichem abzieht! Diejenigen, die schreien, dass die Kirche kein Museum ist und dass der wirklich fromme Mensch gegenüber diesen unwesentlichen Dingen gleichgültig sei, beweisen ihre Blindheit für die große, bedeutsame Rolle, die ein adäquater und schöner Ausdruck spielt. Letztlich stammen solche Anschauungen auch aus einer Blindheit für die Natur des Menschen. Obwohl diese Menschen „existentiell" zu sein behaupten, sind sie in Wirklichkeit sehr abstrakt. Sie vergessen, dass die wirkliche Schönheit eine spezifische Botschaft von Gott enhält, die unsere Seele emporhebt – wie Platon sagt: „Im Anblick der Schönheit wachsen der Seele Flügel." Darüber hinaus erhebt die sakrale Schönheit, die mit der Liturgie verknüpft ist, niemals den Anspruch, thematisch wie in einem Kunstwerk zu sein; als Ausdruck hat sie vielmehr eine dienende Funktion.
Fern davon, das religiöse Thema der Liturgie zu verdecken, lässt sie es vielmehr noch tiefer aufleuchten. Also hat Schönheit nicht nur eine Bedeutung, wenn sie das Thema ist (wie bei einem Kunstwerk), sondern auch wenn sie eine nur dienende Funktion für ein anderes Thema hat. Zu betonen, dass die Liturgie schön sein sollte, bedeutet keineswegs eine Entstellung der Religion durch eine ästhetische Auffassung von ihr. Die Sehnsucht nach Schönheit in der Liturgie kommt einfach aus dem Sinn für den spezifischen Wert, der in der Adäquatheit des Ausdrucks liegt.
Manchmal nimmt der Ikonoklasmus auch eine utilitaristische Tönung an und fasst die Schönheit der Liturgie dann weniger als eine Ablenkung vom Wesentlichen auf, sondern betont, man solle auf alle Schönheit verzichten, da sie in keiner Weise unentbehrlich sei.
Wert aber bedeutet nicht Unentbehrlichkeit. Das Grundprinzip der Superabundanz in aller Schöpfung und Kultur offenbart sich gerade in Werten, die nicht für einen bestimmten Zweck oder ein bestimmtes Thema unentbehrlich sind. Die Schönheit der Natur ist für den Haushalt der Natur nicht unentbehrlich, noch ist die Schönheit der Architektur für unser Leben unentbehrlich. Aber der Wert der Schönheit in Natur und Architektur wird durch die Tatsache nicht verringert, dass sie ein reines Geschenk ist, das superabundant die bloße Nützlichkeit transzendiert. Die Schönheit und die sakrale Atmosphäre der Liturgie sind aber nicht nur als solche etwas Kostbares und Wertvolles (als adäquater Ausdruck des religiösen Aktes der Anbetung), sondern sie sind auch für die Entfaltung der Seelen der Gläubigen von großer Bedeutung. Immer wieder haben die Anhänger der liturgischen Bewegung betont, dass kitschige Gebete und Lieder das religiöse Ethos der Gläubigen entstellen, indem sie an Zentren im Menschen appellieren, die weit vom Religiösen entfernt sind; sie ziehen den Menschen in eine Atmosphäre, die das Antlitz Christi verdunkelt und entstellt. Sakrale Schönheit ist deshalb von großer Bedeutung für die Formung eines wahren religiösen Ethos unter den Gläubigen. In „Liturgie und Persönlichkeit" habe ich ausführlich über die tiefe Funktion gesprochen, die der Liturgie bei unserer Heiligung zukommt, obwohl das Thema der Liturgie die Verherrlichung Gottes ist. In der Liturgie preisen wir Gott und danken Ihm, wir nehmen an Christi Opfer und Gebet teil. Indem sie uns einlädt, mit Christus zu Gott zu beten, spielt die Liturgie auch in unserer Umgestaltung in Christus eine entscheidende Rolle. Und diese Rolle ist nicht auf den übernatürlichen Teil der Liturgie beschränkt. Sie bezieht sich auch auf ihre Form, auf die sakrale Schönheit, die in den Worten und der Musik der heiligen Messe oder des Gottesdienstes verkörpert ist. Diese Tatsache zu übersehen ist ein Zeichen großer Primitivität, Mediokrität und eines Mangels an Realismus.
Es ist eines der größten Ziele der liturgischen Bewegung gewesen, unpassende Gebete und Lieder durch die sakralen Texte der offiziellen liturgischen Gebete und durch den Gregorianischen Choral zu ersetzen. Heute erleben wir aber eine Verkrüppelung dieser liturgischen Bewegung, da viele versuchen, die sublimen lateinischen Texte der Liturgie in eine lässige Umgangssprache zu übersetzen. Sie verändern sogar willkürlich die Liturgie selbst, um sie „unserer Zeit anzupassen." Der Gregorianische Choral wird im besten Fall durch mittelmäßige Musik ersetzt, im schlimmsten Fall durch Jazz und „Rock and Roll." Ein so grotesker Ersatz verhüllt den Geist Christi unvergleichlich mehr als frühere sentimentale Andachtsformen. Diese waren sicherlich unangemessen. Doch Jazz ist nicht nur indäquat, sondern der sakralen Atmosphäre der Liturgie antithetisch entgegengesetzt. Er ist mehr als eine Entstellung, er zieht die Menschen in eine ausgesprochen weltliche Atmosphäre. Er spricht etwas in ihnen an, was sie taub macht für die Botschaft Christi.(189)
Selbst wenn die sakrale Schönheit nicht durch profane Vulgarität sondern durch neutrale Abstraktionen ersetzt wird, hat dies schwerwiegende Folgen für das Leben der Gläubigen; denn wie wir erwähnt haben, zeichnet sich die katholische Liturgie dadurch aus, dass sie sich an die ganze Persönlichkeit des Menschen wendet. Die Gläubigen werden nicht nur durch ihren Glauben oder durch Symbole im eigentlichen Sinn in die Welt Christi gezogen, sie werden auch durch die Schönheit der Kirche in eine höhere Welt gehoben, durch ihre sakrale Atmosphäre, durch den Glanz des Altars, den Rhythmus der liturgischen Texte, die Erhabenheit des Gregorianischen Chorals oder einer anderen wirklich sakralen Musik - z. B. einer Messe von Bach, Mozart, Beethoven oder Bruckner. Selbst der Duft des Weihrauchs hat in dieser Hinsicht eine bedeutungsvolle Funktion. Das Beschreiten aller Wege, die uns ins Heiligtum führen können, ist tief realistisch und tief katholisch. Es ist wahrhaft existentiell und spielt eine große Rolle, indem es uns hilft, unsere Herzen emporzuheben.
So wahr es ist, dass pastorale Erwägungen den Gebrauch der Volkssprache wünschenswert machen können, so sollte doch die lateinische Messe - die stille Messe, und vor allem die in Gregorianischem Choral gesungene Messe – niemals aufgegeben werden. Es geht nicht darum, der lateinischen Messe noch eine Zeit lang einen gewissen Platz einzuräumen, bis alle Gläubigen an die Messe in der Volkssprache gewöhnt sind. Nein! - Wie die Konstitution über die heilige Liturgie klar feststellt, wird die Volkssprache für die Liturgie der Messe erlaubt, behalten aber die lateinische Messe und der Gregorianische Choral ihre volle Bedeutung.(190)
Das war die Intention des Motu Proprio Pius' X., worin er sagte, dass die einzigartige sakrale Atmosphäre der Diktion der lateinischen Messe sowie der Gregorianische Choral die Frömmigkeit der Gläubigen formen solle. So ist das Verlangen vieler Katholiken und auch der Una-Voce-Bewegungen nicht gegen den Gebrauch der Volkssprache gerichtet, sondern nur gegen die zunehmende Ausschaltung der lateinischen Messe und des Gregorianischen Chorals. Sie bitten einfach darum, dass man die Konstitution über die heilige Liturgie wirklich befolge.
Doch manche Katholiken geben heute sogar ihrem Wunsch Ausdruck, man solle die ganze äußere Form der Liturgie verändern, um sie dem Lebensstil unseres desakralisierten Zeitalters anzupassen. Ein solches Verlangen bezeugt eine Blindheit für das Wesen der Liturgie, und auch Ehrfurchtslosigkeit und Undankbarkeit gegenüber den sublimen Geschenken von zweitausend Jahren christlichen Lebens.(191)
Es beweist eine lächerliche Selbstsicherheit und Eigendünkel, wenn man glaubt, man könne diese traditionellen Formen fallen lassen und durch etwas Besseres ersetzen. Und dieser Eigendünkel ist bei denen besonders unangebracht, die die Kirche des „Triumphalismus" beschuldigen. Einerseits erklären sie den Anspruch der Kirche, sie allein besitze die volle göttliche Offenbarung, für einen Mangel an Demut, statt zu sehen, dass dieser Anspruch im Wesen der Kirche begründet ist und aus ihrer göttlichen Sendung fließt. Anderseits tragen sie selbst einen lächerlichen Hochmut zur Schau, indem sie annehmen, unsere Zeit sei allen früheren überlegen.
Wir können heute protestierende Stimmen hören, die z. B. behaupten, dass die Worte des Gloria oder andere Teile der Messe voll von langweiligen Ausdrücken des Preises und der Verherrlichung Gottes seien, während man sich lieber auf unser tägliches Leben beziehen sollte. Solcher Unsinn veranschaulicht aufs deutlichste, wie recht Lichtenberg hatte, wenn er sagte, ein Affe, der die Briefe des heiligen Apostels Paulus läse, würde in ihnen nur die Reflexion seines eigenen Spiegelbildes finden. Man fragt sich, ob unsere „modernen Theologen" uns nicht bald eine neue Version des ,Vater Unser' geben werden, wie Hitler es tat. Das Vater Unser betont nämlich ganz augenfällig den absoluten Primat Gottes, der einer typisch modernen Mentalität so zuwider ist. Nur die eine Bitte „Gib uns heute unser tägliches Brot" bezieht sich auf das irdische Wohlbefinden des Menschen; alle übrigen Bitten beziehen sich auf Gott, Sein Reich und unser ewiges Heil.
27. Kapitel: VERBA CHRISTI
Gewisse Experten der modernen Schriftexegese erklären, die Worte Christi, wie sie in den Evangelien berichtet werden, müssten nur ihrem Inhalt, nicht aber ihrem Wortlaut nach als authentisch betrachtet werden. Während wir hier von der Frage absehen, ob diese Theorie wahr ist oder nicht, taucht doch die Frage auf: Warum sollte der in den Evangelien berichtete Wortlaut durch einen anderen ersetzt werden?
Diejenigen, die dies befürworten, nehmen an, dass Christus zu den Menschen seiner Zeit in einer Sprache redete, die sie verstanden und die ihnen angepasst war, und deshalb sollte die Kirche seine Botschaft in die Sprache der jeweils gegenwärtigen Zeit übertragen. Diese Annahme beruht auf einer Äquivokation. Solange sie sich auf Predigten bezieht, ist sie richtig. Es ist klar, dass eine Bezugnahme auf die gegenwärtige Zeit in einer Predigt gefordert ist, obwohl sich diese Zeitnähe auch hier mit einer Schlichtheit und Zeitlosigkeit, mit einer sakralen Atmosphäre verbinden soll. Doch wenn sich diese Mahnung auf die Gleichnisse und Worte Christi bezieht, ist sie ganz unangebracht. Jede Veränderung der Worte Christi, wie sie uns überliefert sind, wäre eine Katastrophe; denn die Worte Christi haben eine einzigartige Ausstrahlung; sie erwecken nicht nur eine sakrale Welt, sondern in ihnen liegt auch eine geheimnisvolle, unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Kraft. Ihre Schlichtheit und Wirklichkeitsnähe ist in eine zeitlose, göttliche Atmosphäre getaucht. Sie haben unzählige Seelen durch zweitausend Jahre berührt - vom Einfachsten und Naivsten bis zu den größten Genies; sie haben ihr Leben verändert und ihnen den Weg zum Heil gewiesen. Der Klang der Worte Christi, die sie in dem Wortlaut, den wir kennen, besitzen, ist absolut unersetzlich.
Und ist es vielleicht ein Zufall, dass Jesus in Bethlehem in Palästina in einem bestimmten Augenblick der Geschichte geboren wurde? Gehört nicht die Wahl der Zeit und des Ortes auch zum Heilsplan und zur Offenbarung Gottes? Und sollte man nicht den evangelischen Wortlaut der Botschaft Christi, wie er aus der lebendigen, heiligen Tradition der jungen Kirche heraus von den Evangelisten aufgezeichnet worden ist, mit größter Ehrfurcht aufnehmen? Waren diese Worte nicht das Salz der ganzen Liturgie und die befruchtende Kraft im Leben und Denken der Kirchenväter und Kirchenlehrer? Was wäre aus der Kirche geworden, wenn in jeder Generation ein neuer Wortlaut dem jeweiligen Zeitstil angepasst worden wäre? - eine rationalistische Fassung der Worte im achtzehnten Jahrhundert, eine romantische am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts usw.?
Gehört es nicht zum Wesen der göttlichen Offenbarung, dass der Wortlaut der Botschaft Christi in seiner beispiellosen Schönheit durch alle Jahrhunderte ertönen soll, in seiner zeitlosen und doch zugleich immer zeitnahen, sakralen Atmosphäre und in seiner niemals verminderten Gewalt? Gehört es nicht zur Natur der göttlichen Offenbarung, dass diese Worte eine Unabhängigkeit von allen Stilen und Moden besitzen, von allen besondern Ausdrucksweisen, die für eine bestimmte Zeit charakteristisch sind, von jedem Dialekt und jeder Umgangssprache? Hat nicht eine zweitausendjährige Geschichte diese unerschöpfliche Fülle nicht nur des Inhalts, sondern auch der einzigartigen Ausdrucksweise der heiligen Schrift bewiesen? Ist nicht ihre Ausdrucksweise von allen Protestanten ehrfürchtig bewahrt worden, von der Orthodoxen Kirche ganz zu schweigen? Gehört es nicht zum Wesen der Botschaft Christi, dass sie sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrem Wortlaut die Menschen aus der wechselnden Atmosphäre dieser Welt in die heilige Welt, in die Welt Gottes hineinziehen sollen?
Es ist ein grundsätzlicher Irrtum zu glauben, dass die göttliche Botschaft in profanen, weltlichen Gefäßen dargeboten werden sollte, damit sie ein organischer Teil des Lebens der Gläubigen werde. Im Gegenteil, die ganze Liturgie gründet auf dem Prinzip, dass die Mysterien des Gottesdienstes in Gefäßen dargeboten werden sollen, die soweit als möglich eine Atmosphäre ausstrahlen, die der Sakralität ihres Inhalts entspricht.
Stattdessen finden wir heute eine Tendenz, das Neue Testament in eine nachlässige, um nicht zu sagen vulgäre Umgangssprache zu übersetzen! Aber das ist - wir müssen es wiederholen - ein großer Irrtum. Man vergisst, dass Christus ganz Mensch ist und ganz Gott, dass Seine Menschheit eine heilige ist, da Er Gott und Mensch in der Einheit einer Person ist. Seine Menschheit strahlt deshalb eine unbeschreibliche Heiligkeit aus. Diese Heiligkeit der Menschheit Christi ist ja gerade die Grundlage unseres Glaubens. Es war diese Epiphanie Gottes in Jesus, die die Apostel überwältigte und sie Christus nachfolgen ließ „relictis omnibus" – „indem sie alles verließen." Es ist die heilige Menschheit Christi, die jenseits aller möglichen von Menschen erfindbaren Ideale liegt und uns deshalb dazu bewegt, Ihn als Gott-Menschen anzubeten. Die Worte Christi in einer trivialen, alltäglichen Ausdrucksweise darzubieten, ist eine Art, das Bild Christi in den Seelen der Gläubigen zu zerstören und damit ihren Glauben zu gefährden. Wenn alle Propheten in einem feierlichen Ton zu uns sprechen, wenn die Briefe eines heiligen Paulus, Petrus und Johannes die Christliche Offenbarung in einer erhabenen und feierlichen Weise ausdrücken - welche abenteuerlichen Gedankengänge konnten dann Menschen dazu bringen, die Worte „Amen, amen, dico vobis" „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch", durch ein „let me tell you" („Hört mal zu") zu übersetzen - da doch der folgende Text von einem so letzten, prophetischen Gewicht ist: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen."
Man beraubt den Stil aller Feierlichkeit und Größe, all dessen, was immer mit religiösen Texten verbunden ist, besonders mit den Worten der Propheten im Alten Testament und vor allem mit der Botschaft des Gottmenschen Christus - und das alles tut man unter dem Titel der Bemühung, die Botschaft Christi den Gläubigen näher zu bringen. Aber dieses psychologisch missliche und primitive Bemühen führt in Wirklichkeit dazu, das Bild Christi zu verschleiern, ja sogar zu verfälschen und hilft dadurch mit, den Glauben an Seine Botschaft zu untergraben.
28. Kapitel: TRADITION
Wir haben schon die verheerende Entthronung der Wahrheit und des Wertes besprochen, die der historische Relativismus enthält. Wir haben auch hervorgehoben, dass diese geistige Krankheit unter progressistischen Katholiken ziemlich weit verbreitet ist. Jetzt möchten wir die paradoxe Tatsache aufdecken, dass der historische Relativismus die Geschichte ihres Wesens und ihres Sinnes beraubt. Einerseits wollen die Vorkämpfer des historischen Relativismus die Geschichte zum letzten Maß aller Dinge machen; sie möchten die Geschichte verabsolutieren. Es ist z. B. unter progressistischen Katholiken modern geworden, von der „Verantwortlichkeit der Geschichte gegenüber" zu sprechen. (Unsere Verantwortlichkeit gegenüber Gott wird dabei irgend wie in den Hintergrund geschoben). Aber anderseits hat die Entthronung der Wahrheit und die Leugnung aller objektiven Werte die Zerstörung der Tradition zur Folge. Und das heißt jeden Sinn der Geschichte leugnen.
Die Tradition aufzugeben kommt der Auflösung der Geschichte gleich, denn Geschichte setzt Tradition voraus. Der Vergleich, den man oft zwischen dem Leben einer individuellen Person und der Geschichte der Menschheit gezogen hat, kann vielleicht helfen, Licht auf die wesenhafte und unentbehrliche Rolle zu werfen, die der Tradition in der Geschichte zukommt. Wenn ein Mensch nicht die Fähigkeit besäße, die Vergangenheit zu bewahren, sondern ausschließlich vom gegenwärtigen Augenblick gespeist würde, so würde sein Leben aller Kontinuität entbehren; er wäre keine Person mehr. Eine Geschichte seines Lebens wäre unmöglich. Es gibt keine Geschichte von Hunden und Katzen. Geschichte kann es nur von Personen geben.
Tradition hat in der Geschichte der Menschheit eine ähnliche Funktion wie die Kontinuität in der Lebensgeschichte einer individuellen Person. Darüber hinaus erhält die Kontinuität im Leben des Individuums ihre tiefe Bedeutsamkeit allein durch die Tatsache, dass es große Wahrheiten und hohe Werte gibt, die, wenn sie einmal erschlossen worden sind, fordern, dass man beharrlich an ihnen festhält. Gäbe es keinen anderen Wert als den, „zeitgemäß" zu sein, so würde daraus in analoger Weise folgen, dass die Überlieferung von Wahrheit, von Idealen oder von kulturellen Schätzen bedeutungslos wäre und deshalb Geschichte keinen Sinn haben könnte. Kierkegaard drückt das so aus: „Wenn der Augenblick alles ist, ist der Augenblick nichts."
Sinnvolle Geschichte erfordert, dass es eine Überlieferung von Einsichten und Kunstwerken gibt, die zeitlos sind, d. h. die in ihrer Bedeutsamkeit, ihrer Wahrheit und ihrem Wert jenseits der Zeit liegen. Die Bedeutung der Tradition entspringt aus der Tatsache, dass es Dinge gibt, die eine Botschaft für den Menschen aller Zeiten enthalten, Dinge, die niemals veralten können auf Grund des Wertes, den sie in sich selbst besitzen, und auf Grund ihrer Wahrheit. Keine gültige und fruchtbare Tradition könnte jemals unabhängig von solchen zeitlosen Beiträgen existieren, wie dem eines Platon, Aristoteles, Augustinus, Dante, Shakespeare, Cervantes, Phidias, Michelangelo, Bach, Mozart, Beethoven usw. ... Sie sind immer zeitgemäß auf Grund ihrer Zeitlosigkeit, denn zeitlos sein heißt nicht: keine Beziehung zur Zeit haben, sondern vielmehr: gültig sein zu allen Zeiten.
Doch die progressistischen Katholiken, die behaupten: „Wir haben die Vergangenheit zu lange geliebt", unterhöhlen durch ihren Angriff auf die Tradition nicht nur den Sinn der Geschichte, sondern sie verraten oft auch eine bedauerliche historische Unwissenheit. Sie übertragen die menschliche Verantwortlichkeit Gott gegenüber auf die Geschichte. Aber wenn „Verantwortlichkeit der Geschichte gegenüber" irgendeinen Sinn haben soll, so versäumen diese progressistischen Katholiken, ihrer „Verantwortung" gemäß zu leben, indem sie entweder dilettantische Urteile über historische Fakten fällen, oder die Geschichte umdeuten, um ihren Vorurteilen Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Es gibt z. B. eine moderne Argumentation, die so lautet: Den Christen in vergangenen Jahrhunderten mangelte es an Liebe zu den Menschen und sie liebten nur Gott, während umgekehrt Atheisten, obwohl sie Gott ablehnten, die Menschen geliebt haben.(192) Es ist schwer zu sagen, ob in dieser Behauptung die Unkenntnis der Geschichte auffallender ist oder die Doppeldeutigkeit der Verwendung der Begriffe „Atheisten" und „Christen." Jeder, der auch nur irgendetwas über die zweitausend Jahre christlicher Geschichte weiß, ist mit der Tatsache vertraut, dass die Liebe zu Christus in einer einzigartigen Liebe zu den Armen erblühte, die sich darin bekundete, dass Christen sogar ihren Feinden verziehen.
Haben diese „modernen" Katholiken, die aus der Geschichte ihren Gott gemacht haben, niemals eine Biographie des heiligen Franz von Assisi, des heiligen Johannes von Gott oder des heiligen Vinzenz von Paul gelesen? Haben sie niemals etwas von den heroischen Opfern von Missionären gehört, die sich nicht ausschließlich um das Seelenheil der Heiden kümmerten, sondern die auch Hungrige speisten und Kranke pflegten (obwohl das erstere ein viel tieferes Interesse für ihre Mitmenschen verriet, als alle Sorge um deren irdische Wohlfahrt). Haben diese Katholiken, die so begierig sind, die Vergangenheit der Kirche anzugreifen, nie etwas von der Tatsache gehört, dass die Spitäler von Ordensleuten „erfunden" worden sind und Jahrhunderte lang ausschließlich von ihnen besorgt wurden? Haben sie nie gehört, dass sogar der mont de piété(193) von Ordensleuten eingeführt worden ist, oder dass der Orden der Trinitarier zu dem Zweck gegründet wurde, Christen zu befreien, die in der Gefangenschaft von Moslems waren? Niemand, der ohne Vorurteile die Kirchengeschichte studiert, kann leugnen, dass alle, die wirklich das Christentum lebten, eine glühende und erhabene Liebe zu ihren Nächsten hatten, und sogar zu ihren Feinden und Verfolgern. Ihre Liebe floss aus dem Wesen ihrer Heiligkeit, ihrer Umgestaltung in Christus. Sie stand immer im Zentrum der Lehre der Kirche. Diese Caritas war etwas vollkommen Neues, der heidnischen Welt Unbekanntes. Und es war gerade diese Liebe, die unzählige Heiden bekehrte.
Dass vielen Christen diese Nächstenliebe fehlte, kann niemand leugnen. Aber war dies so, weil sie statt dessen Gott liebten, oder weil sie schlechte Christen waren und Gott nicht genügend liebten, weil sie nicht genug in Christus umgestaltet waren, weil sie in der Tat mittelmäßige Christen waren? Die zweitausend Jahre christlicher Geschichte brachten einen Strom der Nächstenliebe und heroische Taten der Liebe zu den Menschen hervor. Und die Geschichte zeigt, dass diese Caritas in den Menschen je nach dem Maß ihrer Gottesliebe, ihrer Hingabe an Christus zu finden war. Da zu allen Zeiten die meisten Christen in ihrer Liebe zu Gott lau waren und versäumten, den Lehren Christi gemäß zu leben, litt ihre Liebe zum Nächsten an derselben Unvollkommenheit.
Die andere Hälfte des Argumentes, die besagt, dass die Atheisten in ihrer Menschenliebe hervorgeleuchtet haben, ist ebenso wenig mit einem Beweis zu belegen. Die Nationalsozialisten gestern und die Kommunisten heute sind die radikalsten Atheisten und vielleicht die radikalsten Hasser Christi, die jemals existiert haben. Und es wird in der Tat schwer möglich sein, in dem Mord an sechs oder sieben Millionen Menschen durch die deutschen Nationalsozialisten, oder im Mord der Kommunisten an einem Mehrfachen dieser Zahl einen Beweis ihrer Menschenliebe zu sehen. Sind Konzentrationslager und die Beraubung aller persönlichen Rechte der Menschen Merkmale einer besonderen Menschenliebe?
Wir wollen hier sicherlich nicht behaupten, dass jede Art von Atheismus notwendig solche Grausamkeiten zur Folge hat. Die Geschichte zeigt auch, dass es viele Atheisten gegeben hat, die ein wohlwollendes Interesse für ihre Mitmenschen bezeugt haben. Aber es ist keineswegs sicher, dass dieses wohlwollende Interesse (das sich übrigens vollkommen von der christlichen Nächstenliebe unterscheidet)(194) aus ihrem Atheismus stammt. Zu behaupten, dass die moderne Bemühung um soziale Gerechtigkeit ein Ausfluss des Atheismus ist, bloß weil viele Vorkämpfer humanitärer Bewegungen Atheisten waren, heißt die Tatsache ignorieren, dass auch viele gläubige Katholiken, Protestanten und Juden an diesen Bewegungen teilnahmen.
Die erhöhte Wirksamkeit und Fruchtbarkeit karitativer Organisationen, die die moderne Wissenschaft möglich macht, kann kaum als Symptom einer größeren Menschenliebe betrachtet werden. Der institutionelle Charakter der modernen karitativen Organisationen, die leicht dazu führen, die intime persönliche Hingabe an den Nächsten zu zerstören, die für die Caritas in früheren Zeiten bestimmend war, ist eindeutig kein Zeichen der erhöhten Nächstenliebe unserer Zeit. Wir haben in Kap. 10 als einen positiven Zug unserer Zeit hervorgehoben, dass besonders unter der Jugend heute oft ein großer Idealismus herrscht, eine Bereitschaft, Menschen in entfernten Ländern zu helfen. Sosehr also solche karitativen Organisationen zu begrüßen sind und auch ein der modernen Entwicklung der Technik und Wirtschaft angemessener Ausdruck der Nächstenliebe sein können, so können sie doch niemals den weit über jede organisatorische Tätigkeit hinausreichenden persönlichen Kontakt und die Zuwendung zum Nächsten ersetzen. Es wäre ein vollkommenes Missverständnis sowohl der tieferen Formen der Not des Mitmenschen als auch der Tiefe und des sittlichen Wertes der Nächstenliebe, wenn man irgendwie glaubte, die volle persönliche Liebe zum Nächsten mit ihrem glorreichen sittlichen Wert ließe sich je durch organisatorische Tätigkeiten ersetzen oder fände in ihnen einen hinreichenden Ausdruck.
Doch in diesem Zusammenhang kommt es uns vor allem darauf an, den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem humanitären Wohlwollen von Atheisten und der erhabenen christlichen Caritas zu sehen, von der der heilige Apostel Paulus spricht. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, muss den Unterschied erfassen, der zwischen der Haltung eines heiligen Franziskus, der den Leprakranken umarmte und dem humanitären Eifer mancher zeitgenössischer Atheisten besteht.
Viele progressistische Katholiken halten sich für sehr objektiv und demütig, wenn sie die schwarze Seite der Geschichte der Kirche unterstreichen -d. h. das Versäumnis vieler, dem Ruf Christi gemäß zu leben: Schließlich klagen sie ja doch ihre eigene Kirche an! In Wirklichkeit jedoch ist diese Haltung gar nicht das demütige mea culpa des Confiteor, sondern ein arrogantes vestra culpa; denn diese Katholiken haben die Solidarität mit der ,Kirche von gestern' aufgegeben. Folglich ist ihre Verurteilung der Vergangenheit unter dem Schein der Selbstanklage pharisäisch.
Wir leugnen nicht, dass die menschliche Geschichte der Kirche - wie jede menschliche Geschichte - ihre schwarzen Seiten hat. Wir möchten nur darauf dringen, dass man zugeben muss, wenn man eine objektive Sicht der Geschichte haben möchte, dass die Lehre der Kirche immer implizit alle Missbräuche verurteilt hat, die ihre Glieder eingeführt haben. Es gab Sünder in der Kirche gestern, es gibt Sünder in der Kirche heute. Doch die Kirche selbst, in ihrer göttlichen Lehre und ihren heiligen Sakramenten, in denen Gott selbst gegenwärtig ist und sein heiliges Leben spendet, steht glorreich unbefleckt mitten in einer Geschichte da, die von menschlicher Schwäche, Irrtümern, Unvollkommenheiten und Sünden befleckt ist.(195)
Und was die Geschichte der Kirche von der aller andern menschlichen Einrichtungen unterscheidet und ihren göttlichen Ursprung bezeugt, ist das Wunder der Schar von Heiligen, die sie im Lauf ihrer Geschichte hervorgebracht hat.
Wir haben in „Graven images: Substitutes for true morality" ausführlich von der Natur der Tradition gehandelt. Dort haben wir den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Tradition der Kirche, die auf der göttlichen Offenbarung beruht, und allen bloß menschlichen Traditionen behandelt. Die Offenbarung des Alten Testaments und die Selbst-Offenbarung Gottes in Christus stellen eine einzigartige Quelle göttlicher Wahrheit dar, die der Kirche von Gott anvertraut worden ist. Die einzigartige Natur dieser übernatürlichen Tradition drückt sich klar in der Tatsache aus, dass Identität mit der göttlichen Offenbarung, die den Aposteln anvertraut worden ist, das entscheidende - wenn auch nicht einzige - Argument für die Wahrheit jedes Dogmas ist.(196) Selbst die historische, kulturelle Tradition der Kirche - trotz ihrer gänzlichen Verschiedenheit von der übernatürlichen - ist auch von jeder anderen kulturellen oder ethnischen Tradition verschieden.(197) Die Schätze, die von der Kirche im Lauf der Jahrhunderte hervorgebracht wurden, sind ein Ausfluss des heiligen Lebens der Kirche - Beweise dieses Lebens. Das Thema der Werke der kulturellen Tradition der Kirche ist nicht eine Idee oder ein Mythos oder ein Schönheitsideal, sondern Christus, der Gottmensch und die Geschichte der Erlösung der Menschen! Wir denken hier nicht an Elemente, die auf eine bestimmte Epoche relativ sind, besondere Bräuche oder kanonische Vorschriften, sondern an die Schätze der christlichen Kultur und des christlichen Geistes, die aus dem heiligen Leben der Kirche selbst entsprungen sind. Wir denken an den Gregorianischen Choral, an die Hymnen und Rhythmen, die in einzigartiger Weise die Welt Christi ausstrahlen. Erwähnen wir z. B. die Liturgie der Karwoche, die Tenebrae, das Exsultet und die Allerheiligenlitanei, das Veni Creator spiritus, das Veni Sancte Spiritus, das Dies irae, das Stabat mater oder die Hymnen des heiligen Thomas von Aquin; denken wir an alle wunderbaren Kirchen: an San Vitale in Ravenna, die Hagia Sophia, San Marco in Venedig, das Baptisterium in Florenz, die Kathedrale von Chartre, St. Peter in Rom und unzählige andere. Sie sind unersetzliche Elemente des kulturellen Lebens der Kirche.
Doch von einem religiösen Gesichtspunkt aus erhält die kulturelle Tradition der Kirche noch einen völlig neuen Aspekt - eine Dimension der Gemeinschaft und Verbundenheit, die ein wesentliches Element des christlichen Ethos und unseres christlichen Glaubens ist. Es ist spezifisch christlich, dass sich die Gemeinschaft in Christus nicht nur auf die lebenden Glieder des Mystischen Leibes erstreckt, sondern auch auf jene, die im Fegefeuer oder im Himmel sind. Deshalb muss es für jeden echten Katholiken ein tief bewegendes Erlebnis sein, dieselben Gebete beten zu dürfen, die die heilige Kirche jahrhundertlang gebetet hat.
Der katholische Gemeinschaftsgeist erstreckt sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Wenn man fragt: „Wer sind unsere wirklichen Zeitgenossen?" im tiefsten Sinn des Wortes, dann sollten wir antworten: Die Heiligen aller Zeiten, von einem heiligen Petrus bis zu einem Pius X., von Maria Magdalena bis zu Maria Goretti, und alle Heiligen der Zukunft. Das ist deshalb so, weil die Heiligen eine lebendige Botschaft von letzter Bedeutung für jeden einzelnen darstellen, eine Botschaft, die die Wirklichkeit der Erlösung durch Christus und die Veränderung des Antlitzes der Erde durch die Herabkunft des Heiligen Geistes am Pfingsttag beweist.
Nein, wir haben die Vergangenheit nicht zu lange geliebt. Wir können die glorreiche Vergangenheit der Heiligen Kirche niemals genug lieben - vom Augenblick ihrer Geburt zu Pfingsten bis zu unseren Tagen. Obwohl wir alle menschlichen Gebrechlichkeiten beklagen, die sich an ihr zeigen, alle Einflüsse, die von der weltlichen Stadt, die in die Kirche einzudringen sucht, auf sie ausgeübt werden, so können wir trotzdem nicht genügend über das Wunder staunen, das die Existenz der Kirche verkörpert:
„Unam petii a Domino et hanc requiram: ut inhabitem in domo Domini omnibus diebus vitae meae."
„Eines nur erbat ich mir vom Herrn, nur dies will ich begehren: im Haus des Herrn zu weilen alle Tage meines Lebens."
29. Kapitel: DIE HEILIGEN
Nach all dem Gesagten kann man kaum mehr darüber erstaunt sein, dass die progressistischen Katholiken kein Interesse an den Heiligen mehr haben, ja sogar ihnen gegenüber ein Ressentiment beweisen, das an Feindseligkeit grenzt. Es ist dies eine religiöse Degenerationserscheinung, die mit dem Amoralismus zusammenhängt, den wir schon besprochen haben. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, der neue Mangel an Interesse für die Heiligen sei eine bloße Reaktion auf manche Übertreibungen und Missbräuche, die sich zeitweise in die Heiligenverehrung eingeschlichen haben.
Zweifellos ist die Verehrung gewisser Heiliger in der Vergangenheit übertrieben worden, vor allem in den lateinischen Ländern unter den einfachen und ungebildeten Leuten, in deren Gebeten gewisse Heilige zuweilen eine größere Rolle gespielt haben als der Herr selbst. In ihren Gedanken, ihren Nöten und wenn immer sie Hilfe von oben suchten, wendeten sie sich primär an die Mittlerschaft irgend eines populären Heiligen wie des heiligen Antonius oder des heiligen Josef.
Es ist sicherlich berechtigt, gegen derartige Missbräuche zu kämpfen.(198) Aber die Überbetonung eines Gutes berechtigt uns niemals, seinen Wert und seinen berechtigten Platz in der gottgegebenen Hierarchie des Seienden zu leugnen. Die Kritik an der übertriebenen Betonung der Vernunft im Rationalismus schließt z. B. keineswegs die Verurteilung der Vernunft als solcher ein; ganz im Gegenteil, diese Kritik ist nur dann berechtigt, wenn der hohe Wert und die gottgegebene Rolle der Vernunft klar anerkannt wird.
Die Überbetonung der Fürbitte von Heiligen und der Rolle, die die Heiligen im religiösen Leben spielen, vermindert nicht im geringsten die Bedeutung der Fürbittgebete. Und noch viel weniger kann sie das unaussprechliche Geschenk Gottes, das die Heiligen sind, und die ungeheure und wesentliche Bedeutung, die sie im mystischen Leib Christi haben, abschwächen.
In Kardinal Newman's Aufsatz über die heilige Jungfrau Maria finden wir eine vorbildliche Weise, diese Frage zu behandeln. Indem er gegen eine gewisse Übertreibung in populären Marienandachten kämpft, erklärt Newman ehrfurchtsvoll die erhabene und zutiefst katholische Verehrung der Mutter Gottes und den einzigartigen Platz, den sie in unserem religiösen Leben einnehmen sollte. Er ist von demselben Geist erfüllt, wenn er von den Heiligen spricht. Lassen wir uns deshalb von progressistischen Katholiken nicht täuschen, wenn sie sich über die Heiligen und die Rolle aufregen, die diese in der Kirche spielen. Würden sie sich wirklich nur gegen Missbräuche wenden, dann wäre ihre Haltung ähnlich der Newmans, und sie würden wie er gegen diese Missbräuche vorgehen. Im Gegensatz dazu finden wir bei ihnen deutliche Symptome einer Säkularisierung.
Ja, in der Tat: eines der Symptome für die Verminderung oder sogar den Verlust des sensus supranaturalis bei den progressistischen Katholiken ist ihre Einstellung den Heiligen gegenüber. Sie verstehen die ungeheure Bedeutung der Heiligen nicht mehr, der Tatsache, dass menschliche Personen trotz all ihrer Gebrechlichkeit ganz in Christus umgestaltet worden sind: Ja, die Tatsache - um Kardinal Newman zu zitieren – „der Existenz jener seltenen Diener Gottes -die ab und zu in der katholischen Kirche wie verkleidete Engel erscheinen und um sich her ein Licht verbreiten, da sie auf ihrem Weg zum Himmel wandeln", ist geradezu der Beweis dafür, dass Christus wirklich die Welt erlöst hat und dass der Heilige Geist am Pfingsttag auf die Gläubigen herabgekommen ist. Ein einziger Heiliger würde genügen, um die Wirklichkeit dieser Ereignisse zu beweisen, da seine Heiligkeit auf einer rein natürlichen Ebene niemals erklärt werden könnte. Jeder Heilige, dessen Persönlichkeit klar seine Umgestaltung in Christus offenbart, in dem die Qualität wahrer Heiligkeit mit an ihrem übernatürlichen Duft und Glanz sichtbar wird, ist zugleich auch ein Beweis für die Wirklichkeit der Erlösung der Welt durch Christus und ein Beweis für uns, dass trotz an unseres Elends und unserer Sündigkeit auch wir die volle Umgestaltung in Christus erreichen können.(199) Die Heiligen haben nicht nur durch ihr Sein unzählige Menschen bekehrt, sondern sie haben auch in vielen die Frage des heilige Augustinus wachgerufen: ,Si isti et illi, cur non ego?' (,Wenn diese und jene, warum nicht auch ich?')
Jeder Heilige ist eine Verwirklichung des Reiches Gottes, um dessen Ankunft wir im Vater Unser beten; denn in ihm hat die Gnade all ihre Früchte hervorgebracht und in seiner Persönlichkeit lebt ein Abglanz der heiligen Menschheit Christi. Ein einziger Heiliger verherrlicht deshalb Gott mehr, als aller Fortschritt bezüglich des irdischen Wohles der Menschen dies je könnte, ganz zu schweigen von „Evolutionsprozessen" oder „kosmischen Ereignissen." Darüber hinaus ist jeder Heilige ein unerhörtes Geschenk Gottes für uns. Uns wird die Gnade verliehen, Zeuge des Sieges Christi über ein menschliches Wesen zu sein, das Wesen der Heiligkeit selbst zu verkosten. Jeder Mensch, der dies nicht als ungeheures Geschenk erlebt, der nicht vor Wonne trunken ist angesichts der Tatsache, dass ihm gewährt wird, einen Blick in die übernatürliche Herrlichkeit zu tun, liebt Christus nicht wirklich und ist kein erwachter Katholik.
Für viele progressistische Katholiken sind rein menschliche Tätigkeiten und soziale Einrichtungen anziehender als Heiligkeit. Sie sind blind geworden für das lumen Christi. Das Ideal, das sie sich erwählt haben, ist weit entfernt von dem Aufruf, der von jedem Heiligen ausgeht. Nach sozialer Gerechtigkeit zu streben - so gut und verdienstlich das auch ist - setzt nicht voraus, dass wir uns selbst absterben, dass wir mit dem Geist dieser Welt brechen, dass wir Satan und aller Pracht dieser Welt widersagen. Doch in der glühenden, letzten Liebe zu Gott und den Menschen, die in jedem Heiligen lebt, trifft uns auch die Welt aller natürlichen und übernatürlichen sittlichen Forderungen in ihrem feierlichen, kategorischen Charakter mit dem ganzen Ernst der Ewigkeit; es berührt uns der „Atem des Ewigen", rüttelt unsere Gewissen auf und fordert auch von uns, Satan und allen seinen Werken zu widersagen.(200) Die Heiligen sind ein unangenehmer Weckruf für alle, die nicht nach ihrer eigenen Heiligung dürsten, für alle, die nicht die volle Veränderungsbereitschaft(201) besitzen. Weil diese progressistischen Katholiken in ihrer Bequemlichkeit nicht gestört werden möchten, weil sie nicht aus dem wirklichen Ghetto der „irdischen Stadt" herausgetrieben werden wollen, möchten sie die Heiligen abschaffen.
Die Heiligen bringen das übernatürliche unbequem nahe. Sie konfrontieren die Menschen mit dem Ethos der Heiligkeit und stören dadurch jene, die das Ziel des christlichen Lebens nach ihrem Belieben auslegen wollen.
All jene, die kein Interesse an der Existenz von Heiligen zeigen, die versuchen, die Heiligen soweit als möglich vom Leben der Kirche auszuschließen, beweisen nur, dass in ihrer Beziehung zu Christus etwas falsch ist. Wir sollten nicht vergessen, dass die kirchliche Lehre von der Rechtfertigung ausdrücklich die Möglichkeit betont, dass der Mensch vollkommen in Christus umgestaltet werden kann, dass jeder berufen ist, ein Heiliger zu werden.(202)
Gerade hier finden wir die tiefsten Unterschiede zwischen der katholischen Kirche und Luthers sola-fides-Lehre. Die Möglichkeit, ein Heiliger zu werden, ist zutiefst an die katholische Lehre von der Erbsünde geknüpft, an die freie Mitwirkung mit der Gnade, zu der jeder Getaufte berufen ist, an die Willensfreiheit sowie an viele andere fundamentale Elemente des Depositums des katholischen Glaubens. Wem also dieser ganz zentrale Punkt der katholischen Lehre nichts bedeutet, bekundet eine Haltung, die ein sehr schwerwiegendes Symptom dafür ist, dass er den echten Glauben verloren hat.
Aber die Wurzel dieser Neigung, die Heiligen auszuschalten oder ihre Bedeutung zu verringern, ist leider nicht ein missverstandener Ökumenismus gegenüber den Protestanten.
So bedauerlich es auch ist, die katholische Lehre zu verfälschen, um den Unterschied zu verwischen, der Katholiken vom Protestantismus trennt, so liegt doch dieser modernen Antipathie gegen die Heiligen noch viel mehr zu Grunde: der Verlust des sensus supranaturalis und das Angestecktsein vom Säkularismus. Und paradoxerweise trennt uns gerade dieser Säkularismus mehr von den orthodoxen Protestanten als die Heiligenverehrung.
Wir müssen noch auf einen weiteren Punkt hinweisen: auf die Größe und Schönheit der wahrhaft katholischen Lehre, dass die Heiligen für uns bei Gott bitten. Der Glaube, dass jene, die für alle Ewigkeit mit Gott vereinigt sind, im vollen Besitz der beseligenden Anschauung Gottes (der visio beatifica) fähig sind, für uns Fürbitte einzulegen – ja dass sie sogar angerufen werden, für uns zu bitten -, ist in der tiefen Gemeinschaft begründet, die zwischen der streitenden, der leidenden und der triumphierenden Kirche besteht. Eine herrliche Offenbarung des unzerreißbaren Bandes der Einheit in Christus und ein wunderbares Zeugnis der christlichen Caritas liegt in der Tatsache, dass wir uns an die Heiligen wenden und sie um ihre Fürbitte anrufen können. Die unerschöpfliche Liebe, mit der die Heiligen während ihres Lebens auf Erden ihre Brüder liebten und für sie beteten, wie Christus es uns gelehrt hat, hört nicht auf, wenn sie den status termini (das ewige Ziel) erreicht haben. So stark ist das Band, dass sie mit ihren Brüdern in Christus verbindet.(203)
Der Einwand, dass Gott diese Fürbitte nicht braucht, dass wir uns durch Christus direkt an Gott wenden können, ist ebenso unlogisch wie irrelevant. Sicherlich braucht Gott die Fürbitte der Heiligen nicht, um unsere Gebete zu erhören. Aber die Frage, ob Gott etwas „braucht" oder nicht, schließt einen falschen Anthropomorphismus ein. Gott in Seiner Allmacht braucht nichts. Die Frage, auf die es ankommt, ist, ob Gott es so gewollt hat. Und wenn es so ist, dann ist unsere Aufgabe, die unendliche Schönheit und Herrlichkeit der Geschenke zu begreifen, die Er gewollt hat. Die Wege, die Gott für die Erlösung der Menschheit gewählt hat, sind nicht der Ausdruck einer Notwendigkeit, sondern Seiner unbegrenzten Liebe. Für alle, die die glorreiche Schönheit der Gemeinschaft der Heiligen erfassen, des Mystischen Leibes Christi, der Tatsache, dass die Heiligen im Himmel voll Liebe für uns bitten, ist die Frage, ob das notwendig ist, abwegig. Sicherlich ist die Fürbitte der Heiligen nicht unentbehrlich, ja nicht einmal wesentlich für unser Heil, und Gott könnte es anders eingerichtet haben. Aber wir sollten Ihn für diese Fürbitte der Heiligen lobpreisen als für ein freies Geschenk Seiner unaussprechlichen Liebe(204)
Ebenso ungültig ist der andere Einwand, dass wir durch die Möglichkeit der Fürbitte unsere direkte Beziehung zu Gott in Christus zerstört und eine „Wand" zwischen Gott und dem Menschen errichtet hätten. Dies wäre wahr, wenn wir nicht mehr direkt zu Gott und Christus, dem Gott-Menschen beten würden und alle unsere Gebete nur Fürbittgebete wären. Doch das ist keineswegs der Fall. Nicht nur gilt unsere Anbetung ausschließlich Gott dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, sondern auch all unsere Gebete der Verherrlichung. In der kultischen Haupthandlung, im heiligen Messopfer wenden wir uns allein an Gott durch Christus: „Per ipsum et cum Ipso, et in Ipso est Tibi Deo Patri omnipotenti, in unitate Spiritus Sancti, omnis honor et gloria." „Durch Ihn und mit Ihm und in Ihm wird Dir Gott allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Ehre und Verherrlichung." Auch die Bittgebete richten sich primär direkt an Gott. Die Gebete, in denen wir uns an die Heiligen wenden, wie in der herrlichen Allerheiligenlitanei, wo wir ihre Fürbitte für uns bei Gott anrufen, sind wunderbare Blüten der Liebe, die aus dem wesentlichen Gebet wachsen, in dem wir uns direkt an Gott wenden. Wir vereinen uns mit allen Heiligen, deren Bitten mehr Gewicht haben, da ihre Liebe zu Gott und ihre Verdienste größer sind, um uns mit ihnen direkt an Gott zu wenden, der allein sie und uns erhören kann. Das kommt klar in der Liturgie jedes Heiligenfestes zum Ausdruck.
Es sollte nicht notwendig sein, in diesem Zusammenhang auf die einzigartige Stellung hinzuweisen, die die Allerseligste Jungfrau Maria innehat. Ihre Beziehung zu Christus und ihre Verbindung mit dem Heil der Menschheit kann mit der keines andern Heiligen verglichen werden. Alles, was wir über Gebete zu Heiligen gesagt haben, gilt vor allem für die heilige Jungfrau.
Die Heiligenverehrung ist eindeutig eine Konsequenz unserer liebenden Anbetung Christi. Jeder, dessen Herz durch die Heiligste Menschheit Christi berührt wurde, durch Seine unaussprechliche Heiligkeit und übernatürliche Schönheit, muss die Männer und Frauen lieben, die in Ihm umgestaltet worden sind und in denen wir einen Abglanz Seiner Heiligkeit finden. Mihi autem nimis honorati sunt amici tui Deus. (über alle Maßen verehre ich Deine Freunde, o Gott)(205) Diese Verehrung, dieser besondere Akt verehrender Bewunderung ist die Wertantwort, die einem Heiligen gebührt(206) und in der wir zu ihm aufblicken. Sie ist durch eine Welt von der Anbetung geschieden, die wesenhaft eine Antwort auf die absolute Person ist(207); sie ist aber auch vollkommen verschieden von jeder Art der Verehrung, Bewunderung oder Achtung, die unsere Antwort auf Persönlichkeiten bilden, die mit hohen natürlichen Werten ausgestattet sind, mit sittlichen Werten oder mit intellektuellen Gaben. Sie ist eine religiöse Verehrung, eine Antwort, die nur demjenigen Menschen gebührt, der die Heilige Menschheit Christi widerstrahlt, der mit allen Früchten der Gnade beschenkt ist, die er in erhabener, freier Entscheidung angenommen hat.
EPILOG
Wir haben immer und immer wieder die unglückselige Idee erwähnt, man solle die Botschaft Christi der modernen Welt anpassen. Wenn, wie es Hans Urs von Balthasar ausdrückt, „der moderne Mensch (wahrlich eine mythische Größe) zum Maßstab dafür erhoben wird, was das Wort Gottes sagen und nicht sagen darf", dann ist die Religion offenbar am Ende.(208) Christus muss für alle geschichtlichen Epochen ein Ärgernis sein, auf Grund des wesenhaften Gegensatzes, der zwischen dem Geist Christi und dem Geist dieser Welt herrscht. Echte Erneuerung der Kirche besteht, wie Urs von Balthasar betont, in der Entfernung von allem, was in der Kirche falsch ist - von unchristlichen Ärgernissen -, damit das wahre Ärgernis der Kirche offenbar werde, das im Wesen ihrer Sendung begründet ist.
Keine Schlagworte über Sentimentalität oder Devotionalismus früherer Zeiten können einen, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, über das niemals wechselnde Wesen der wahren Bedeutung und Berufung unseres Lebens täuschen: in Christus umgestaltet zu werden; und kein Schlagwort kann den wahren Christen jemals an der immerwährenden Gültigkeit der Worte Christi an Martha zweifeln lassen: „Martha, Martha, du kümmerst und sorgst dich um viele Dinge, aber eines ist notwendig."
Denen wiederum, die behaupten, die Zeit für Kontemplation sei eindeutig vorüber und wer „romantisch" zum Himmel aufblicke, sehe nichts als rauchende Kamine, da wir heute Gott nur inmitten der Aktivität finden könnten, antwortet Urs von Balthasar, dass derjenige, der nicht auf Gott hört, der Welt nichts zu sagen hat. Jeder, der wie so viele Priester und Laien heute sich um viele Dinge bis zur Erschöpfung kümmert, wird das eine Notwendige versäumen: Gott durch das Erlangen der Heiligkeit zu verherrlichen.(209) Kein sich-Berufen auf den Kairos, keine Kritik am Tridentinum, kein pharisäisches Überlegenheitsgefühl über den Katholizismus des neunzehnten Jahrhunderts, kein Betonen des Aktivismus und der Idee, Gott durch Geschäftigkeit, durch das Ausbrechen aus der Enge des Devotionalismus zu verherrlichen - kann den wahren Christen für die letzte Gültigkeit der Worte des heiligen Petrus blind machen: „Suchet, was oben ist!" Er wird klar den Antagonismus zwischen Christus und der Welt sehen: die sublime Liturgie der Taufe wird für ihn ihre volle Gültigkeit und ihren existentiellen Realismus behalten:
Abrenuntias Satanae? Widersagst Du dem Satan?
Abrenuntio. Ich widersage.
Et omnibus operibus eius? Und all seinen Werken?
Abrenuntio. Ich widersage.
Et omnibus pompis eius? Und all seiner Pracht?
Abrenuntio. Ich widersage.
Dieses Buch ist aus einem tiefen Schmerz über das Auftauchen falscher Propheten in der Stadt Gottes geschrieben. Es ist traurig genug, wenn Menschen ihren Glauben verlieren und die Kirche verlassen. Aber es ist viel schlimmer, wenn diejenigen, die in Wirklichkeit ihren Glauben verloren haben, in der Kirche bleiben und - wie Termiten versuchen, den christlichen Glauben durch ihre Behauptung auszuhöhlen, dass sie der göttlichen Offenbarung die Interpretation geben, die zum „modernen Menschen" passt. Ich möchte dieses Buch mit einem Appell an all jene schließen, deren Glaube nicht zerstört ist, sich vor diesen falschen Propheten zu hüten, die Christus der weltlichen Stadt ausliefern wollen, ähnlich wie Judas Jesus in die Hände Seiner Verfolger überliefert hat.
Wiederholen wir noch die Kennzeichen dieser falschen Propheten: Jeder, der die Erbsünde und die Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit leugnet, unterhöhlt dadurch die Bedeutung des Todes Christi am Kreuz und ist ein falscher Prophet. Jeder, der nicht mehr sieht, dass die Erlösung der Welt durch Christus die letzte Quelle wahren Glückes ist und dass nichts auf der Welt mit dieser einen glorreichen Tatsache verglichen werden kann, ist kein wahrer Christ mehr.
Jeder, der nicht mehr den absoluten Primat des ersten Gebotes Christi - Gott über alles zu lieben – anerkennt und behauptet, dass sich unsere Liebe zu Gott ausschließlich in unserer Liebe zum Nächsten ausdrücke, ist ein falscher Prophet. Wer nicht mehr versteht, dass die Sehnsucht nach der Ich-Du-Gemeinschaft mit Christus und die Umgestaltung in Christus das eigentliche Ziel unseres Lebens ist, ist ein falscher Prophet. Wer behauptet, dass alle Moral sich nicht primär in der Beziehung des Menschen zu Gott offenbart, sondern in den Dingen, die die menschliche Wohlfahrt betreffen, ist ein falscher Prophet. Jeder, der in dem Übel, das wir unserem Nächsten zufügen, nur das Unrecht ihm gegenüber und nicht die Beleidigung Gottes sieht, ist der Lehre von falschen Propheten zum Opfer gefallen.
Wer nicht mehr den radikalen Unterschied zwischen Caritas und humanitärem Wohlwollen sieht, ist für die Botschaft Christi taub geworden. Wer von „kosmischen Prozessen", von „Evolutionen" und von den Spekulationen der Wissenschaft mehr beeindruckt und entzückt ist als von dem Abglanz der heiligen Menschheit Christi in einem Heiligen, von dem Sieg Christi über die Welt, der in der Existenz jedes Heiligen liegt, ist nicht mehr vom christlichen Geist erfüllt. Wer sich um das irdische Wohlergehen der Menschheit mehr als um ihre Heiligung kümmert, hat das christliche Weltbild verloren. Kardinal Newman hat gesagt: „Die Kirche zielt nicht darauf, eine Schaustellung zu geben, sondern ein Werk zu vollbringen. Sie betrachtet diese Welt und alles, was in ihr ist, als einen bloßen Schatten, als Staub und Asche, verglichen mit dem Wert einer einzigen Seele. Sie hält dafür, dass es keinen Zweck für sie hat, irgendetwas zu tun, wenn sie nicht, auf ihre Weise, Gutes für die Seelen tun kann; sie sieht das Tun dieser Welt und das Tun der Seele als einfach inkommensurabel an, wenn man sie ihrer verschiedenen Ordnung nach betrachtet; sie würde lieber die Seele eines einzigen wilden Räubers in Kalabrien oder eines winselnden Bettlers von Palermo retten, als hundert Eisenbahnlinien kreuz und quer durch ganz Italien ziehen oder in allen Einzelheiten eine gesundheitliche Reform in jeder Stadt Siziliens durchführen, es sei denn, diese großen nationalen Werke bezweckten darüber hinaus ein geistliches Gut." (210)
Hüten wir uns vor falschen Propheten, die die wiederholten Warnungen des Heiligen Vaters Pauls VI. ebenso ignorieren, wie die klare Formulierung der verschiedenen Häresien und falschen Auffassungen, von denen die Welt heute voll ist, durch den Heiligen Stuhl. Hüten wir uns vor denen, die die Stimme des Stellvertreters Christi durch ihre lärmende Propaganda ersticken wollen. Doch wie schon zu Anfang dieses Buches gesagt: Obwohl mein Herz blutet angesichts der Verwüstungen im Weingarten des Herrn, der Besudelung des Heiligtums der Kirche, bin ich voller Hoffnung. Denn der Herr hat gesagt: „Und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen."
Ohne jede Spur von Optimismus, aber voller Hoffnung und Liebe für die Heilige Kirche, für den Mystischen Leib Christi, für die Stadt Gottes, und im Geiste tiefer, gehorsamer Ergebenheit gegenüber unserem Heiligen Vater Papst Paul VI., der uns ermahnte, in diesem Jahr des Glaubens das Nizäische Glaubensbekenntnis zu beten, lasst mich dieses Buch mit den Worten dieses Credo beschließen:
ET APOSTOLICAM ECCLESIAM.
ANHANG: TEILHARD DE CHARDINS NEUE RELIGION
Ich traf Teilhard de Chardin 1951 bei einem Diner, das von Father Robert Gannon SJ, dem damaligen Rektor der Fordham-Universität, veranstaltet wurde. Zuvor hatten ihn mir die berühmten Gelehrten Pater Henri de Lubac und Monsignore Bruno de Solages wärmstens empfohlen. Ich war deshalb voller Erwartungen. Nach der Mahlzeit setzte Teilhard in einem langen Expose seine Ansichten auseinander. Die Vorlesung war eine große Enttäuschung, denn sie bewies äußerste philosophische Verwirrung, besonders was Teilhards Auffassung von der menschlichen Person anging. Ich war damals aber noch mehr über seine theologische Primitivität erregt, da er den entscheidenden Unterschied zwischen Natur und Übernatur völlig ignorierte. Nach einer heftigen Diskussion, in der ich eine Kritik an seinen Auffassungen versuchte, hatte ich Gelegenheit, Teilhard persönlich zu sprechen. Als unser Gespräch Augustinus berührte, rief er heftig aus: „Erwähnen Sie diesen unglückseligen Mann nicht; er hat alles dadurch verdorben, dass er das Übernatürliche eingeführt hat!" Diese Bemerkung bestätigte den Eindruck, den ich vom krassen Naturalismus seiner Ideen gewonnen hatte; doch sie erschütterte mich auch noch in einer anderen Hinsicht: Diese Kritik am heiligen Augustinus - dem größten aller Kirchenväter - verriet Teilhards mangelnden Sinn für intellektuelle und geistige Größe.
Aber erst nach dem Lesen einiger Werke Teilhards wurde ich mir der katastrophalen Konsequenzen seiner philosophischen Ideen und der absoluten Unverträglichkeit seiner Theologie-Fiktion (wie sie Etienne Gilson bezeichnet) mit der Christlichen Offenbarung und der Lehre der Kirche völlig bewusst.
Viele Katholiken betrachten Teilhard als einen großen Wissenschaftler, der die Wissenschaft mit dem christlichen Glauben versöhnt habe, indem er angeblich eine grandiose neue Theologie und Metaphysik eingeführt hat, die den modernen naturwissenschaftlichen Entdeckungen Rechnung trägt und so in unser wissenschaftliches Zeitalter passt. Da ich kein kompetenter Beurteiler Teilhards als Wissenschaftler bin, möchte ich zu dieser Frage nur folgendes sagen: Erstens weiß jeder ernstzunehmende Denker, dass eine Versöhnung von Naturwissenschaft und christlichem Glauben niemals nötig war, weil wirkliche Wissenschaft (im Unterschied zu falschen Philosophien, die sich in wissenschaftliche Gewänder kleiden) niemals mit dem christlichen Glauben unverträglich sein kann. Wissenschaft kann die Wahrheit des christlichen Glaubens weder beweisen noch widerlegen.(211)
Bezüglich dieser Frage wollen wir nur noch an das Urteil einiger bedeutender Naturwissenschaftler über Teilhard erinnern. Jean Rostand hat über Teilhards Werke gesagt: „Teilhard ist kein Biologe; er hat weder die Ausbildung, noch die Kenntnisse, noch den Geist eines Biologen. Er ignoriert systematisch die Embryologie..."
Der Nobelpreisträger Sir Peter Medawar spricht von Teilhards geistiger Verwirrung und seiner übertriebenen Ausdrucksweise, die, wie er sagt, auf Hysterie schließen lasse. Er sagt von „Le phenomene humain", dieses Werk sei in seiner ganzen Vorgehensweise unwissenschaftlich:
„Teilhard praktiziert eine unexakte Wissenschaft und hat darin eine gewisse Geschicklichkeit erreicht. Er hat keine Ahnung, was ein logisches Argument ist und was ein Beweis. Er wahrt nicht einmal die herkömmlichen Formen wissenschaftlicher Schriftstellerei, obgleich er sein Buch ausdrücklich als wissenschaftliche Abhandlung bezeichnet. ... Ich habe Teilhards Buch mit wirklicher Pein, um nicht zu sagen, mit Verzweiflung gelesen und durchgearbeitet. Anstatt über die Lage des Menschen im allgemeinen die Hände zu ringen, sollten wir lieber unsere Aufmerksamkeit dem zuwenden, was reparabel ist: vor allem der Leichtgläubigkeit, mit der die Leser ein solches Täuschungsmanöver hinnehmen. Wenn es sich dabei noch um eine naive, passive Leichtgläubigkeit handelte, wäre sie noch zu entschuldigen, aber es ist allzu deutlich, dass die Menschen betrogen werden wollen."(212)
Doch das mag genügen. Da der Ruhmeskranz, der Teilhard umgibt, mit der Meinung zusammenhängt, dass er ein großer Naturwissenschaftler war, schien es nur wünschenswert zu bemerken, dass seine wissenschaftlichen Qualitäten umstritten sind.
Meine Absicht in diesem Artikel ist es aber, Teilhards philosophische und theologische Gedanken und ihre Beziehung zur Christlichen Offenbarung und der Lehre der Kirche zu untersuchen.
Ich möchte gleich zu Beginn klar aussprechen, dass es kein Leichtes ist, über Teilhard zu schreiben. Ich kenne keinen Denker, der so künstlich von einer Position in eine andere entgegengesetzte überspringt, ohne diesen Sprung auch nur zu bemerken oder sich dadurch beirren zu lassen. Man ist deshalb gezwungen, von den Grundsätzen seines Denkens zu sprechen und die logischen Konsequenzen klarzulegen, die sich aus dem Kernstück seiner Lehre - aus dem, was ihm am wichtigsten war - ergeben. Einer der auffälligsten philosophischen Ausfälle im System Teilhards ist seine Auffassung vom Menschen. Es ist eine große Ironie, dass der Verfasser von „Le phenomene humain" so völlig an der Natur des Menschen als Person vorbeigegangen ist. Er verfehlt vollkommen, den Abgrund zu erkennen, der eine Person von der ganzen apersonalen Welt um sie herum trennt, die ganz neue Dimension des Seins, die im Personsein liegt.
Teilhard sieht „Selbstbewusstsein" als den einzigen Unterschied zwischen dem Menschen und einem höher entwickelten Tier an. Aber ein Vergleich der begrenzten Art des Bewusstseins, das man bei Tieren beobachten kann, mit den vielfältigen Dimensionen des personalen Bewusstseins zeigt uns sogleich, wie falsch es ist, diesen Unterschied als eine bloße Steigerung des „Selbstbewusstseins" zu betrachten. Personales Bewusstsein äußert sich in der Erkenntnis - in dem lichtvollen Bewusstsein von einem Objekt, das sich uns in der Erkenntnis erschließt, in der Fähigkeit, unseren Geist der Natur des Gegenstandes anzupassen (adaequatio intellectus et rei); in einem Verstehen des Wesens der Sache.(213) Personales Bewusstsein offenbart sich ebenso in dem Akt des Schließens, in der Fähigkeit, Fragen zu stellen, Wahrheit zu suchen; und schließlich, keineswegs zuletzt, in der Fähigkeit, mit einer anderen Person eine Ich-Du-Gemeinschaft zu bilden.
All dies schließt eine vollkommen neue Art des Bewusstseins ein, eine gänzlich neue Seinsdimension. Doch dieses Wunder des menschlichen Geistes, das sich auch in der Sprache des Menschen und in seiner Rolle als homo pictor offenbart, wird bei Teilhard ganz und gar übersehen, weil er beständig das menschliche Bewusstsein nur als ein Gewahrwerden des Selbst auffasst, das sich stufenweise aus einem tierischen Bewusstsein entwickelt habe. Die Scholastiker haben die Dimensionen des personalen Seins treffend erfasst, indem sie die Person ein Seiendes nannten, das sich selbst besitzt. Verglichen mit einer Person schläft sozusagen alles nichtpersonale Seiende, es erduldet einfach seine Existenz. Erst in der menschlichen Person finden wir ein erwachtes Sein, ein Seiendes, das sich wirklich selbst besitzt, trotz seiner Kontingenz. Teilhards Versäumnis, der Person gerecht zu werden, tritt besonders deutlich zu Tage, wenn er in „Le phenomene humain" behauptet, dass ein kollektives Bewusstsein ein höheres Stadium der Evolution bedeuten würde.
„Die Idee ist, dass die Erde nicht mehr bloß von Myriaden von Denkkörnchen bedeckt sein wird, sondern in einer einzigen Denkschale beschlossen sein wird, so dass sie funktional nur mehr ein einziges unermessliches Denkkorn im Sternensystem bilden wird."
Hier verbinden sich verschiedene schwere Irrtümer. Erstens ist die Vorstellung von einem nicht-individuellen Bewusstsein in sich widersinnig. Zweitens ist es falsch anzunehmen, dass diese unmögliche Fiktion etwas Höheres darstellen würde als die individuelle, personale Existenz. Drittens ist die Idee eines „Überbewusstseins" in der Tat ein totalitäres Ideal: sie schließt einen vollständigen Gegensatz zu echter Gemeinschaft ein, die wesenhaft individuelle Personen voraussetzt.(214)
Die Existenz einer menschlichen Person ist so wesenhaft individuell, dass die Vorstellung einer Fusion von zwei Personen in eine, oder die einer Teilung von einer Person in zwei vollkommen unmöglich ist. Es ist auch unmöglich, eine andere Person sein zu wollen. Wir können höchstens wünschen, wie eine andere Person zu sein. Denn in demselben Augenblick, in dem wir eine andere Person „würden", existierten wir nicht mehr. Es gehört zum Wesen des menschlichen Seins als einer Person, dass sie ein und dasselbe individuelle Seiende bleibt. Gott könnte sie vernichten, obwohl die Offenbarung uns belehrt, dass dies niemals Gottes Absicht ist. Aber anzunehmen, dass ein menschliches Wesen seinen Charakter als Individuum aufgeben könnte, ohne durch eben diesen Akt ausgelöscht zu werden, zeugt von einer vollkommenen Blindheit gegenüber dem, was eine Person ist.
Manche Menschen behaupten, eine Art „Einheit mit dem Kosmos" zu erleben, die ihre individuelle Existenz „erweitert" und sich selbst als ein Erreichen eines „Überbewusstseins" darstellt. In Wirklichkeit aber existiert diese ,Einheit' nur in dem Bewusstsein der individuellen Person, die eine solche Erfahrung hat. Ihr Inhalt - d. h. das Fühlen einer Fusion mit dem Kosmos - ist in Wirklichkeit nur das sonderbare Erlebnis einer konkreten Person, und schließt in keiner Weise ein wirkliches, kollektives Bewusstsein ein, was in sich ein Unding ist.
Aus dem, was wir über Teilhards Ideal vom „kollektiven Menschen" gesagt haben, sollte klar sein, dass er nicht nur das Wesen des Menschen als Person, sondern auch das Wesen echter Gemeinschaft und Vereinigung von Personen nicht versteht. Denn wahre personale Gemeinschaft, in der eine viel tiefere Vereinigung erreicht wird als in einer ontologischen Fusion, setzt notwendig den individuellen Charakter der Person voraus. Verglichen mit der Einheit, die durch bewusste gegenseitige Durchdringung zweier Seelen im Ineinanderblick der Liebe erreicht wird, ist alle Fusion nichtpersonaler Wesen ein bloßes ,Nebeneinander'. Teilhards Ideal von einer „Übermenschheit" - seine totalitäre Auffassung von Gemeinschaft - zeigt dieselbe naive Ignoranz bezüglich des Abgrundes, der das herrliche Reich der personalen Existenz von der impersonalen Welt trennt. Dieses Ideal offenbart auch seine Blindheit für die Hierarchie innerhalb des Seienden und für die Hierarchie der Werte. Pascal beleuchtet bewunderungswürdig die unvergleichliche Überlegenheit einer einzigen Person über die ganze apersonale Welt, wenn er in der berühmten Stelle: „Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das Zerbrechlichste in der Welt", sagt: „doch selbst wenn das All sich zusammentäte um ihn zu vernichten, so wäre der Mensch doch größer als das, was ihn tötete; denn er weiß, dass er stirbt und kennt die Übermacht, die das All ihm gegenüber besitzt, das All jedoch ahnt nichts davon."
Ein anderer Aspekt von Teilhards Blindheit für den wesenhaft individuellen Charakter der Person ist sein maßloses Interesse an der Gattung Mensch. Wieder übersieht er die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren. Ein vorherrschendes Interesse für die Gattung ist normal, solange man es mit Tieren, wird aber absurd, wenn man es mit menschlichen Personen zu tun hat. Kierkegaard brachte dies zum Ausdruck, da er die absolute Überlegenheit des einzelnen Menschen über die Gattung Mensch betonte. Teilhards eigene Betrachtungsweise drückt sich in seiner Haltung gegenüber der Bombe von Hiroshima aus. Der angebliche Fortschritt der Menschheit, den er in der Erfindung der Atomwaffen sieht, bedeutet ihm mehr als die Zerstörung unzähliger Leben und die schrecklichsten Leiden der betroffenen Personen.
Es ist wahr, dass Teilhard ab und zu vom Personalen spricht und von der Überlegenheit des Personalen gegenüber dem Impersonalen. Ja, er weist sogar oft ausdrücklich die Möglichkeit zurück, dass die Existenz der individuellen Person aufgelöst werden könne. Er schreibt z. B. in „The Building of the Earth": „Da es weder Fusion noch Auflösung individueller Personen gibt, so muss das Zentrum, das sie alle zu erreichen suchen, notwendig von ihnen verschieden sein, d. h. es muss seine eigene Persönlichkeit, seine eigene autonome Wirklichkeit besitzen." Doch zwei Seiten später finden wir ihn begeistert von „der Einschmelzung (totalisation) des Individuums im kollektiven Menschen" reden.
Teilhard erklärt dann, wie sich dieser Widerspruch im Punkt Omega auflösen wird: „All diese sogenannten Unmöglichkeiten kommen unter dem Einfluss der Liebe zustande."
Es ist heute Mode geworden, Widersprüche als ein Zeichen philosophischer Tiefe gelten zu lassen. Gegensätze werden nur so lange als unverträglich angesehen, als die Diskussion auf einer logischen Ebene verbleibt, aber sobald man die religiöse Sphäre betritt, hält man alle Widersprüche für möglich. Doch diese Mode hebt keineswegs die wesenhafte Unmöglichkeit auf, einander Widersprechendes zu vereinigen.(215) Keine noch so große Zahl von modischen Paradoxen, von Gefühlsausbrüchen, von orientalisch aufgeputzten Ausdrücken kann Teilhards grundsätzlichen Ausfall des Verständnisses für das Wesen der Person verschleiern. Der Begriff der „Person" ist in Teilhards System jeder wirklichen Bedeutung bar infolge des Pantheismus, der seinem System zugrunde liegt. Worauf es ankommt ist, dass in Teilhards System der „kollektive Mensch" und die „Zusammenschmelzung" des Menschen ein Ideal darstellt, das objektiv mit der Existenz einer individuellen Person unverträglich ist - oder besser, das die Vernichtung der einzelnen Person notwendig einschließt.
Wir können nun verstehen, dass Teilhards monistische Tendenz ihn dazu führt, alle wirklichen Gegensätze aufzulösen. Er möchte die Integrität der Person erhalten - schwärmt aber für die Verschmelzung. Er reduziert alle Gegensätze auf verschiedene Aspekte ein und derselben Sache - und behauptet dann, dass der antithetische Charakter der in Frage stehenden Aussagen nur von einer Isolierung oder Überbetonung eines einzelnen Aspektes herrühre. Wenn man jedoch Teilhard genauer liest, kann man immer sagen, worauf er eigentlich abzielt. Eine Stelle über die Unterschiede zwischen Demokratie, Kommunismus und Faschismus in „The Building of the Earth" ist dafür bezeichnend. Ein oberflächliches Lesen dieser Stelle (die übrigens zufällig einige ausgezeichnete Abschnitte enthält) könnte den Eindruck erwecken, dass Teilhard den individuellen Charakter des Menschen nicht leugnet. Aber eine nähere, kritische Untersuchung im Zusammenhang mit anderen Stellen macht nicht nur klar den unmöglichen Versuch offenbar, die Individualität und die „Totalisierung" zusammenzubringen, sondern auch, worauf Teilhard abzielt, was sein Hauptideal, wo „sein Herz" ist: Es ist wieder einmal bei der ,Totalisierung', bei der ,Übermenschheit' im Punkt Omega.
Der Hang, Gegensätze aufzulösen, wirft auch ein Licht auf die falsche Auffassung, die Teilhard von der Gemeinschaft hat, von der Einheit von Personen. Sie ist ganz nach dem Modellbild der Fusion im Bereich der Materie aufgefasst und es fehlt in ihr vollkommen der radikale Unterschied zwischen Verbindungen im Bereich der Materie und der geistigen Vereinigung, die durch wahre Liebe zwischen individuellen Personen zustandekommt.(216) Für Teilhard ist die Liebe bloß „kosmische Energie": „Dieselbe Energie, die gewöhnlich die kosmischen Massen bewegt hat, erhebt sich jetzt von ihnen, um die Noosphäre zu bilden – welchen Namen soll man einem solchen Einfluss geben? Nur einen - Liebe."
Ein Mensch, der so etwas schreiben kann, hat ganz offenbar niemals das Wesen dieses erhabensten Aktes erfasst, der seiner Natur nach ein bewusstes, personales Sein voraussetzt und die Existenz eines Du.
In der Einstimmigkeit und Harmonie von Teilhards totalitärer Gemeinschaft gibt es keinen Platz für eine wirkliche Selbsthingabe in Liebe. Diese Einstimmigkeit und Harmonie wird durch ein Zusammenfließen in einen Geist herbeigeführt und ist deshalb vollkommen von der concordia verschieden, von der der heilige Augustinus spricht - der beseligenden Einheit, von der die Liturgie sagt: „Congregavit nos in unum Christi amor." Und diese beseligende Einheit ist kein „Ko-Denken", sondern vielmehr gegenseitige, erwiderte Liebe und Einheit in Christus, die in der persönlichen Antwort der Liebe gründet, mit der jedes Individuum Christus liebt.(217)
In einer monistischen Welt gibt es keinen Raum für eine „intentio unionis" und eine „intentio benevolentiae", die Grundzüge jeder wahren Liebe sind.(218) Denn in einer solchen Welt bewegt „kosmische Energie" alles unabhängig von der freien Antwort des Menschen. Wenn wir bloß analoge Dinge interpretieren, als bildeten sie eine ontologische Einheit (materielle Energie und personales Leben), oder wenn wir einen analogen Ausdruck im wörtlichen Sinne und univok gebrauchen, dann versperren wir uns notwendig das Verständnis des betreffenden Seienden. Jeder Monismus aber führt in letzter Konsequenz zu einem Nihilismus. Ein anderer, schwerer philosophischer Irrtum ist eng mit Teilhards Auffassung vom Menschen verknüpft: Nämlich sein Versäumnis, den substantiellen Unterschied zwischen Geist und Materie zu erfassen. Teilhard behandelt den vagen Ausdruck „Energie" so, als wäre er der Name für ein Genus (eine Gattung) und macht dann aus Materie und Geist zwei differentiae specificae (artbildende Unterschiede) dieser Gattung. Aber es gibt hier eben kein Genus „Energie". Energie ist ein Begriff, der sich auf diese beiden völlig verschiedenen Bereiche des Seienden nur in analoger Weise anwenden lässt. Teilhard hat das nicht verstanden: er spricht sogar von der „geistigen Energie der Materie".
In einem Brief schrieb er: „Wie Du weißt, bin ich immer versucht, eine Hymne auf die geistige Energie der Materie zu schreiben." Die Hymne an die Materie, die er später verfasst hat, drückt dieselbe Verwirrung aus.(219)
Teilhard ist also der Typus des Denkers, der in Konstruktionen und Hypothesen schwelgt, ohne sich viel um das Gegebene zu kümmern.
Maritain sagte einmal: „Der Hauptunterschied zwischen Philosophen ist, ob sie sehen, oder nicht sehen." Bei Teilhard finden wir viel Phantasie, aber keine Intuition, kein Lauschen auf das in der Erfahrung unmittelbar Gegebene. So steht es auch mit Teilhards Versuch, Bewusstsein in die unbelebte Materie hineinzuprojizieren: Dafür gibt es schlechterdings keinen Grund außer seinem Wunsch, ein monistisches System zu entwerfen.(220) Statt auf die Stimme des Seienden in der Erfahrung zu lauschen, interpretiert er willkürlich in das betreffende Seiende hinein, was gerade seinem System entspricht. Es ist in der Tat erstaunlich, dass ein Mann, der die traditionelle Philosophie und Theologie der Abstraktheit anklagt und ihr vorwirft, sie versuche, die Wirklichkeit einem geschlossenen System anzupassen, selber das abstrakteste und unrealistischste System anbietet, das man sich vorstellen kann und in das er die Wirklichkeit hineinzuzwängen sucht, indem er dem berühmten Beispiel des Prokrustes folgt.
Die Doppeldeutigkeit, die Teilhards Denken zugrunde liegt, zeigt sich auch in einer Stelle, in der er dem Kommunismus vorwirft, zu materialistisch zu sein, nur den Fortschritt im Bereich des Materiellen anzustreben und dabei den geistigen Fortschritt zu ignorieren. Seine Bewunderer könnten auf diese Stelle hinweisen als Beweis, dass Teilhard klar zwischen Geist und Materie unterschieden und die Überlegenheit des Geistes anerkannt habe. Doch diese Stelle unterscheidet zwar immer zwischen Geist und Materie, aber er betrachtet sie nur als zwei Stadien im Evolutionsprozess. Physische Energie wird in geistige Energie umgewandelt. Doch die Verschiedenheit beider bloß als zwei Entwicklungsphasen, als Stufen eines Prozesses zu betrachten, - oder, wie wir auch sagen können, diesen Unterschied nur für einen „graduellen" zu halten - heißt die Natur des Geistes vollständig verkennen. Monismus - das möchten wir noch einmal betonen - versperrt den Weg zu einem Verständnis des Seienden und erzeugt die Illusion, man könne vereinigen, was sich eben nicht vereinigen lässt.
Teilhards Nichtverstehen des Wesens des Menschen tritt auch klar in seiner stillschweigenden Leugnung des freien Willens zutage.
Teilhard schreibt in einem Brief: Oui, le développement moral et social de L'Humanité est bien la suite authentique et ,naturelle' de l'évolution organique." („Ja, die moralische und soziale Entwicklung der Menschheit ist wirklich die echte und „natürliche" Folge der organischen Evolution."(221)
Indem er das geistige Leben des Menschen auf einen Evolutionsprozess gründet - der per definitionem unabhängig vom freien Willen des Menschen vor sich geht und jenseits des Personalen liegt - leugnet Teilhard eindeutig die entscheidende Rolle des freien Willens des Menschen. Hier übersieht er also wieder den radikalen Unterschied zwischen dem Menschen als Person und einem höher entwickelten Tier; Willensfreiheit ist offenbar eine der bedeutsamsten und tiefsten Kennzeichen der Person.
Die Rolle der Willensfreiheit tritt in entscheidender Weise in der Fähigkeit des Menschen hervor, Träger moralischer Werte und Unwerte zu werden. Denn dieses höchste Kennzeichen des Menschen setzt freien Willen und Verantwortung voraus.(222) Doch Teilhard reduziert den Gegensatz zwischen Gut und Böse auf bloße Stadien innerhalb der Evolution, auf bloße Grade der Perfektion – und dieses Gerede ist ein klassischer Beweis philosophischer Impotenz. Ja, noch mehr, er übersieht die entscheidende Bedeutung der moralischen Frage, die so eindrucksvoll in dem unsterblichen Wort des Sokrates ihren Ausdruck findet: „Es ist besser für den Menschen, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun." Bei Teilhard wird das ganze Drama der menschlichen Existenz, der Kampf zwischen Gut und Böse in der Seele, ignoriert oder besser verwischt durch den evolutionären Entfaltungsprozess auf den Punkt Omega hin.(223)
Teilhards Denken ist somit hoffnungslos dem Christentum entgegengesetzt. Christliche Offenbarung setzt gewisse fundamentale natürliche Tatsachen voraus,(224) so die Existenz einer objektiven Wahrheit, die geistige Wirklichkeit der individuellen Person, den Unterschied zwischen Geist und Materie, die substantielle Verschiedenheit von Leib und Seele, die unwandelbare Objektivität von sittlich Gut und Böse, die Willensfreiheit, die Unsterblichkeit der Seele - und natürlich die Existenz eines persönlichen Gottes. Teilhards Stellungnahme zu all diesen Fragen offenbart einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen seiner Theologie-Fiktion und der Christlichen Offenbarung.
Diesen Schluss muss man unweigerlich ziehen, wenn man auf die oft wiederholten Argumente Teilhards für eine „neue" Interpretation des Christentums hört. Immer und immer wieder argumentiert er, dass wir nicht mehr erwarten dürften, der moderne Mensch, der in einer industrialisierten Welt und im Zeitalter der Wissenschaft lebt, könne die christliche Lehre so annehmen, wie sie in den letzten zweitausend Jahren gelehrt worden sei. Teilhards neue Interpretation des Christentums ist von der Frage bestimmt: „Was passt in unsere moderne Welt?" In dieser Betrachtungsweise verbinden sich historischer Relativismus und Pragmatismus mit einer völligen Blindheit für das Wesen von Religion. Wir haben den Mythos vom modernen Menschen in diesem Buch schon ausführlich behandelt. Hier genügt es zu betonen, dass der Mensch immer wesenhaft derselbe bleibt, was seine sittlichen Gefahren, seine sittlichen Verpflichtungen, seine Erlösungsbedürftigkeit und seine wahren Glücksquellen angeht. Wir behandelten in diesem Buch auch den katastrophalen Irrtum des historischen Relativismus, der auf der Konfusion zwischen der historisch-soziologischen Lebendigkeit einer Idee einerseits und ihrer Gültigkeit und Wahrheit anderseits beruht. Aber wenn es schon barer Unsinn ist, dass eine grundlegende natürliche Wahrheit im Mittelalter gültig gewesen sei, aber nicht mehr in unserer Zeit, so wird doch die Absurdität dieses Gedankens noch drastischer deutlich, wenn man ihn auf die Religion anwendet. Angesichts einer Religion kann es nur die Frage geben: Ist sie die wahre oder nicht? - Die Frage, ob etwas zur Mentalität einer Epoche passt oder nicht, kann nicht den geringsten Einfluss darauf haben, dass man eine Religion annimmt oder verwirft, es sei denn, man verrät das Wesen der Religion überhaupt.
Selbst jeder ernstzunehmende Atheist wird das zugeben. Er wird nicht sagen, dass wir heute nicht mehr an Gott glauben können; er wird sagen, dass Gott eine Illusion ist und immer eine war. Von der Ansicht, dass eine Religion dem Geist einer Zeit angepasst werden müsse, ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem absurden Gefasel, man müsse eine neue Religion erfinden, so wie es Bertrand Russel oder der Nazi-Ideologe Bergmann vorschlug.
Teilhard schrieb 1952 in einem Brief: „Wie ich zu sagen pflege, ist die Synthese aus dem christlichen Gott (dem Gott von oben) und dem marxistischen Gott (dem Gott von vorne), der einzige Gott, den wir von nun an im Geist und in der Wahrheit anbeten können." In diesem Satz ist in jedem Wort der Abgrund offenbar, der Teilhard vom Christentum trennt. Von einem marxistischen Gott zu sprechen ist sehr erstaunlich - um den gelindesten Ausdruck zu gebrauchen - und Marx hätte das niemals akzeptiert. Doch die Idee einer Synthese aus dem christlichen Gott und einem angeblichen marxistischen Gott, sowie die gleichzeitige Anwendung des Namens Gottes auf das Christentum und den Marxismus beweist die absolute Unverträglichkeit zwischen Teilhards Denken und der Lehre der Kirche.(225) Bezeichnend sind ferner die Worte „von nun an" und „können". Sie sind ein Schlüssel für Teilhards Denken und beweisen unmissverständlich seinen historischen Relativismus.
In seinem bedeutenden neuen Buch ,Le paysan de la Garonne' macht Jacques Maritain die Bemerkung, dass Teilhard sich sehr bemüht, an Christus festzuhalten. Aber, fügt Maritain hinzu „an welchem Christus"! Und hier finden wir in der Tat den grundsätzlichsten Unterschied zwischen der Lehre der Kirche und der Theologie-Fiktion Teilhard de Chardins. Teilhards Christus ist nicht mehr Jesus, der Gottmensch, die Epiphanie Gottes, der Erlöser; statt dessen ist er der Initiator eines rein natürlichen Evolutionsprozesses und zugleich sein Ziel, der Christus - Omega. Ein unvoreingenommener Geist muss hier fragen: Warum soll man diese „kosmische Kraft" Christus nennen? Es wäre der Gipfel von Naivität, sich durch die bloße Tatsache, dass Teilhard diese angebliche kosmogene Kraft „Christus" nennt, oder durch seinen verzweifelten Versuch, seinen Pantheismus in traditioneller katholischer Sprache auszudrücken, irreführen zu lassen. In seiner Grundkonzeption der Welt, die keinen Raum für die Erbsünde lässt, in dem Sinn, in dem sie die Kirche versteht, gibt es keinen Platz für den Jesus Christus der Evangelien. Denn wenn es keine Erbsünde gibt, verliert die Erlösung des Menschen durch Christus ihren inneren Sinn.
In der Christlichen Offenbarung liegt das Schwergewicht einerseits auf der Heiligung und Rettung jeder individuellen Person mit dem Ziel der beseligenden Anschauung Gottes und anderseits zugleich auf der Gemeinschaft der Heiligen. In Teilhards Theologie liegt das Gewicht auf dem kosmischen, irdischen „Fortschritt der Erde", auf der Evolution, die zu dem Christus-Omega führt. Es gibt keinen Platz für die Erlösung durch den Kreuzestod Christi, da das Schicksal des Menschen Teil einer pankosmischen Evolution ist.
So schneidet seine Konzeption vom Menschen mit ihrer impliziten Leugnung des freien Willens, ihrem versteckten Amoralismus und totalitären Kollektivismus, Teilhard von der Christlichen Offenbarung ab: - und das trotz seiner Versuche, seine Ansichten mit der Lehre der Kirche in Einklang zu bringen. Für einen Menschen, der schreiben konnte: „Ja, die moralische und soziale Entwicklung der Menschheit ist tatsächlich die authentische und natürliche Konsequenz der organischen Evolution" können Erbsünde, Erlösung und Heiligung, nicht mehr die geringste reale(226) Bedeutung haben." Es ist dabei bemerkenswert, dass Teilhard eine gewisse Ahnung von dieser Unverträglichkeit hatte: „Manchmal erschrecke ich ein wenig, wenn ich an die Umformung (transposition) denke, der ich mein Denken unterziehen muss, was die vulgären Begriffe ,Schöpfung', ,Inspiration', ,Wunder', ,Erbsünde', ,Auferstehung' usw. betrifft, um sie annehmen zu können."
Dass Teilhard den Ausdruck vulgär - wenn auch vielleicht nicht im abwertenden Sinn - für die Grundelemente der Christlichen Offenbarung und ihre Interpretation durch das unfehlbare Lehramt der Kirche verwendet, ist allein schon hinreichend, den gnostischen und esoterischen Charakter seines Denkens zu enthüllen.
Teilhard schreibt an Leontine Zanta: „Wie Sie schon wissen, sind mein Interesse und meine innere Beschäftigung vom Bemühen beherrscht, in mir selbst eine neue Religion (Sie können sie ein besseres Christentum nennen) aufzubauen und sie auszubreiten, in der der persönliche Gott aufhört, der große monolithische Herr früherer Zeiten zu sein und zur Weltseele wird; unser religiöser und kultureller Stand verlangt danach." Also nicht nur wird der Christus der Evangelien durch den Omega-Christus ersetzt, sondern auch der Gott des Neuen und Alten Testaments wird durch einen pantheistischen Gott ersetzt, „die Weltseele" - und das wiederum kraft des Arguments, dass Gott dem Menschen unseres wissenschaftlichen Jahrhunderts angepasst werden müsse.
Es ist kein Wunder, dass Teilhard dem heiligen Augustinus vorwirft, den Unterschied zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen eingeführt zu haben. In Teilhards pantheistischer und naturalistischer „Religion" gibt es keinen Platz für das Übernatürliche, noch für die Welt der Gnade. Für ihn besteht die Vereinigung mit Gott vor allem im Eingehen in einen evolutiven Prozess - nicht in einem Hineinwachsen in das übernatürliche Leben der Gnade, das unserer Seele durch die Taufe eingepflanzt worden ist. Man könnte fragen: Warum schließt das eine das andere aus?
Wenn Teilhards Vorstellung von einer Teilnahme an einem Evolutionsprozess Wirklichkeit wäre, könnte dies nur eine Form des concursus divinus sein. Doch so groß und geheimnisvoll der concursus divinus ist - das ist der Beistand, den Gott jedem Geschöpf jeden Augenblick verleiht und ohne den wir ins Nichts zurücksinken würden - so trennt doch ein Abgrund diesen natürlichen, metaphysischen Kontakt von der Gnade. Ob Teilhard ausdrücklich die Wirklichkeit der Gnade leugnet oder nicht, ist dabei ziemlich gleichgültig: seine Ekstase angesichts des natürlichen Kontaktes mit Gott in dem angeblichen Evolutionsprozess enthüllt klar die untergeordnete Rolle, die er der Gnade zuerkennt, wenn er ihr überhaupt eine Rolle belässt. Oder, anders ausgedrückt: Wenn man den persönlichen Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde, durch Gott, die Seele der Welt, ersetzt hat, wenn man den Christus der Evangelien in den Christus-Omega verwandelt hat, wenn man die Erlösung durch einen natürlichen Evolutionsprozess ersetzt hat, was bleibt dann noch für die Gnade übrig?
In Le paysan de la Garonne trifft Maritain diesen Punkt bewundernswürdig. Nachdem er zugestanden hat, dass Teilhards Schauspiel einer göttlichen Bewegung der Schöpfung auf Gott zu nicht der Größe entbehre, macht Maritain die Bemerkung: " ... doch was sagt er uns über den geheimen Weg, der uns mehr bedeutet als jedes Schauspiel? Was kann er uns über das Wesentliche sagen, über das Geheimnis des Kreuzes und das erlösende Blut, sowie über die Gnade, deren Gegenwart in einer einzigen Seele mehr Wert hat als die ganze Natur? Und was ist mit der Liebe, die uns zu Mit-Erlösern mit Christus macht und mit den segenbringenden Tränen, durch die Sein Friede in unsere Seele Eingang findet? Die neue Gnosis ist, wie jede andere Gnosis, eine „arme Gnosis"..."
Bei Teilhard finden wir eine völlige Umkehrung der christlichen Werthierarchie: für ihn stehen kosmische Prozesse höher als die individuelle Seele. Forschung und Arbeit stehen höher als moralische Werte. Tätigkeit als solche - d. h. jede Verbindung (association) mit dem Evolutionsprozess - ist bedeutsamer als Kontemplation, Reue über unsere Sünden und Buße. Fortschritt in der Eroberung und ,Totalisierung' der Welt durch Evolution steht bei ihm höher als Heiligkeit. Der Abgrund, der Teilhards Welt von der christlichen Welt trennt, wird klar, wenn man Newman mit Teilhard de Chardin vergleicht: Newman sagt in den ,Discourses to Mixed Congregations':
„Heilige Reinheit, heilige Armut, Verzicht auf die Welt, der Duft des Himmels, der Schutz der Engel, das Lächeln der seligen Jungfrau Maria, die Gnadengaben, das Eingreifen Gottes durch Wunder, die Gemeinschaft geistlicher Güter, das sind die hohen und kostbaren Dinge, die Dinge, zu denen man aufschauen, von denen man mit Ehrfurcht sprechen soll." Teilhard sagt: „Anbetung bedeutete einst, Gott den Dingen Vorziehen, indem man sie auf Ihn bezog und indem man sie Ihm aufopferte. Heute bedeutet anbeten sich selbst mit Leib und Seele dem Schöpfer Hingeben - sich selbst mit dem Schöpfer Verbinden - um die Welt durch Arbeit und Forschung ihrem Endziel näher zu bringen."
Teilhards doppeldeutiger Gebrauch von klassischen christlichen Begriffen wird einen Menschen, der einen sensus supranaturalis hat, niemals dazu bringen, ihn mißzuverstehen. Ein solcher Mensch kann niemals zu dem Schluss kommen, dass diese Theologie-Fiktion eine „mögliche" Ergänzung zur Christlichen Offenbarung sei. Er wird vielmehr mit Philippe de la Trinité einverstanden sein, wenn dieser sagt, dass sie „eine Entstellung des Christentums ist, die es in einen Evolutionismus mit einem naturalistischen, monistischen und pantheistischen Einschlag verwandelt hat."(227)
In Teilhards Schriften herrscht eine eigentümliche Verwirrung, ein Übergehen von einem Begriff in einen anderen - ein Kult der Äquivokationen, der tief mit seinem monistischen Ideal zusammenhängt. Er verwischt systematisch alle entscheidenden Wesensunterschiede, z. B. den Unterschied zwischen Hoffnung und Optimismus; zwischen christlicher Nächstenliebe (die wesenhaft einer individuellen Person gilt) und einem Wohlwollen gegenüber der Menschheit, in dem der einzelne Mensch nur mehr als eine Einheit der Gattung Mensch betrachtet wird. Teilhard ignoriert den Unterschied zwischen Ewigkeit und der irdischen Zukunft der Menschheit, die er beide in der Totalisierung des Christus-Omega zusammenschmelzt.
Sicherlich liegt etwas Rührendes in Teilhards verzweifeltem Versuch, eine traditionelle, gefühlsmäßige Anhänglichkeit an die Kirche mit einer Theologie zu verbinden, die der kirchlichen Lehre so völlig entgegengesetzt ist. Doch diese Anhänglichkeit an christliche Vorstellungen macht ihn zugleich nur noch gefährlicher als einen Voltaire, Rénan oder Nietzsche. Sein Erfolg bei der Verbrämung eines pantheistischen, gnostischen Monismus durch christliche Gewänder ist vielleicht nirgends so offenkundig, wie im „Göttlichen Bereich" (Le milieu divin).
Für viele Leser klingen die Begriffe, die Teilhard hier verwendet, so vertraut, dass sie vielleicht ausrufen möchten: Wie können Sie ihn anklagen und sagen, er sei kein orthodoxer Christ? Sagt er nicht im „Milieu divin": „Was bedeutet es für eine Person, ein Heiliger zu sein, wenn nicht tatsächlich Gott mit allen Kräften anzuhängen"? Sicherlich - das klingt vollkommen orthodox. In Wirklichkeit aber bedeutet Teilhards Begriff vom Gott-Anhängen eine Verschiebung von den heroischen Tugenden, die einen Heiligen kennzeichnen, zu einer Mitwirkung an einem Evolutionsprozess. Die Bedeutung, die unserem Streben nach Heiligkeit im Bereich des Sittlichen zukommt, ist durch die Betonung, alle Fähigkeiten des Menschen sollten entfaltet werden - in Ermangelung eines besseren Wortes - durch Tüchtigkeit (efficiency)(228) ersetzt worden. Teilhard spricht das klar aus, obwohl er hier wieder einmal durch eine traditionelle Terminologie den entscheidenden Punkt verschleiert:
" ... Und was bedeutet Gott mit allen Kräften anzuhängen anderes, als in der um Christus organisierten Welt die genaue Funktion zu erfüllen, sei sie bescheiden oder bedeutend, zu der die Natur und die Übernatur sie bestimmt,"
Für Teilhard liegt also die eigentliche Bedeutung der einzelnen Person in der Erfüllung einer Funktion im Ganzen - im Evolutionsprozess; der einzelne ist nicht mehr berufen, Gott durch seine Nachfolge Christi zu verherrlichen, was das gemeinsame Ziel aller wahren Christen ist. Die Verschiebung des Kreuzes in den Christus-Omega ist ebenfalls in scheinbar traditionelle Begriffe gehüllt: „Zu den Gipfeln, die vor unserem menschlichen Auge verhüllt sind und zu denen empor wir das Kreuz tragen, erheben wir uns auf dem Weg des universalen Fortschritts, dem königlichen Weg des Kreuzes - d. h. dem Weg der menschlichen Bemühung, übernatürlicher Weise geordnet und verbreitert."
Hier können wir sehen, wie christliche Begriffe eine völlige Verwandlung erfahren, die uns überhaupt aus dem christlichen Kosmos herausnimmt - hinein in ein völlig anderes geistiges Klima. Manchmal nimmt Teilhard allerdings die christliche Maske ab und enthüllt offen seinen wirklichen Standpunkt. 1934 schrieb er aus China:
„Wenn ich infolge einer inneren Revolution meinen Glauben an Christus verlieren würde, meinen Glauben an einen persönlichen Gott, meinen Glauben an den Geist, dann - scheint es mir - würde ich doch meinen Glauben an die Welt weiterhin haben. Die Welt (der Wert, die Unfehlbarkeit und Gutheit der Welt), das ist - endgültig - das erste und einzige Ding, an das ich glaube." Aber so offenbar die Heterodoxie der Theologie Teilhards auch ist, manche Katholiken haben ihn doch zum Rang eines Kirchenlehrers, ja sogar eines Kirchenvaters erheben wollen. Und so ist er für viele verworren denkende Katholiken eine Art Prophet geworden. Dass progressistische Katholiken sich auf Teilhard stützen, ist natürlich nicht erstaunlich. Die „neuen" Theologen, die „neuen" Morallehrer begrüßen natürlich die Ansichten Teilhards, weil sie seinen historischen Relativismus teilen, d. h. seine Überzeugung, dass der Glaube dem „modernen Menschen" angepasst werden müsse. Ja, für viele progressistische „Katholiken" geht die Verwandlung der Christlichen Offenbarung durch Teilhard noch nicht weit genug. Aber anderseits ist es erstaunlich, dass auch viele gläubige Christen mitgerissen werden - dass auch sie die eindeutige Unverträglichkeit der Lehren Teilhards mit der Lehre der Kirche übersehen.
Diese Popularität wird allerdings weniger erstaunlich, wenn man sie in ihrem Zusammenhang mit dem zeitgenössischen intellektuellen und moralischen Klima betrachtet. In einer Epoche, die mit dem Heideggerischen Begriff von dem wesenhaft „geworfenen" Menschen und mit Sartres „Nauséa" vertraut ist, muss Teilhards strahlender und optimistischer Ausblick auf die Zukunft für viele eine willkommene Erleichterung sein. Seine Behauptung, dass wir ununterbrochen mit Gott mitarbeiten, was immer wir tun und wie unbedeutend unsere Rolle auch sein mag – dass alles „sakral" (heilig) ist - erleichtert verständlicherweise viele deprimierte Seelen. Eine andere Ursache für eine solche Begeisterung, vielleicht eine noch gewichtigere, ist, dass man von Teilhard sagt, er habe einen engen Asketismus und falschen Supranaturalismus überwunden.
Es ist auch zweifellos wahr, dass viele fromme Katholiken in der Vergangenheit natürliche Güter primär als potentielle Gefahren betrachteten, die sie von Gott abzuwenden drohten. Natürliche Güter, selbst wenn sie mit hohen Werten ausgestattet sind - wie Schönheit in Natur und Kunst, natürliche Wahrheit, menschliche Liebe - wurden mit verdächtigem Auge angeschaut. Diese Katholiken übersahen die positive Bedeutung, die natürliche Güter für den Menschen besitzen. Sie vertraten oft die Ansicht, dass natürliche Güter nur „benützt" werden sollten, niemals aber als solche gewürdigt werden und Interesse finden dürften. Doch in dieser Sicht vergaßen sie völlig den fundamentalen Unterschied zwischen natürlichen und weltlichen Gütern, wie Reichtum, Ruhm oder Erfolg.(229) Sie vergaßen, dass natürliche Güter, die in sich selber wertvoll sind, nicht nur „benützt" werden sollen, sondern um ihrer selbst willen gewürdigt - und dass es nur die weltlichen Güter sind, die man bloß „benützen" soll.
Man kann ferner auch nicht leugnen, dass diese unglückselige Simplifizierung sich oft in Seminaren und Klöstern verbreitete, wenn sie auch niemals ein Teil der Lehre der Kirche war. Deshalb kann Teilhard mit oberflächlicher Plausibilität die katholische Tradition anklagen, die Natur verächtlich gemacht zu haben; und weil er selbst die Natur verherrlicht, ist es verständlich, dass vielen sein Denken die gerechte Würdigung der natürlichen Güter zu sein scheint. Teilhards Behauptung, das traditionelle Christentum habe eine Kluft zwischen Menschlichkeit und christlicher Vollkommenheit geschaffen, hat auch auf viele ehrliche Katholiken Eindruck gemacht. In „Le milieu divin" schreibt er dem traditionellen Christentum die Vorstellung zu, „dass die Menschen erst ihre menschlichen Kleider ausziehen müssten, um Christen zu sein." Wiederum kann man nicht leugnen, dass diese Haltung im Jansenismus steckt oder dass sich jansenistische Tendenzen heimlich in den Geist vieler Katholiken eingeschlichen haben. So ist z. B. die urchristliche Lehre, die verlangt, dass wir selbst sterben müssen, um in Christus umgestaltet zu werden, oft in gewissen religiösen Gemeinschaften in einem Sinn ausgelegt worden, der ihr eine ungerechtfertigte, entmenschlichende Betonung verlieh. In manchen Klöstern und Seminaren ist tatsächlich die Auffassung gepflegt worden, die Natur müsse ertötet werden, bevor das übernatürliche Leben der Gnade erblühen könne. In der offiziellen Lehre der Kirche wurde aber eine solche Entmenschlichung offen abgelehnt. So sagte Papst Pius XII.: „Die Gnade zerstört die Natur nicht; sie verändert sie nicht einmal; sie verklärt sie." In Wirklichkeit ist die christliche Vollkommenheit so weit davon entfernt, Entmenschlichung zu verlangen, dass man sagen muss: Nur der Mensch, der in Christus umgestaltet ist, erlangt die wahre Erfüllung seiner menschlichen Persönlichkeit.
Worauf es hier jedoch ankommt, ist, dass Teilhard selber den Wert hoher natürlicher Güter vollkommen ignoriert und dass, entgegen seinen Behauptungen, in seinem monistischen Pantheismus eine wirkliche Entmenschlichung stattfindet. Wir haben gesehen, dass sein Ideal vom kollektiven Menschen und der Übermenschheit (Ultra-Humanität) notwendig eine Blindheit für die wahre Natur der individuellen Person einschließt, und als Folge davon für die ganze Fülle des menschlichen Lebens. Doch Entmenschlichung folgt auch unweigerlich aus seinem Monismus, der das wirkliche Drama des menschlichen Lebens - den Kampf zwischen Gut und Böse - minimalisiert und antithetische Gegensätze in bloß graduelle eines Kontinuums umdeutet.
Teilhards Versäumnis, der wirklichen Bedeutung natürlicher Güter gerecht zu werden, wird in dem Augenblick deutlich, in dem er auf ihre Bedeutung für die Ewigkeit zu sprechen kommt. Jedermann kann sehen, dass es ihm bei seiner Behandlung natürlicher Güter vor allem um menschliche Tätigkeiten geht, um die Vollendung von Arbeiten und Forschungen. Die höheren natürlichen Güter und die Botschaft, die sie von Gott enthalten, erwähnt er nicht, sondern nur Tätigkeiten, Leistungen und Errungenschaften im Bereich des Natürlichen. Auf diese Aktivität wendet Teilhard die Worte der Bibel an: „opera eius sequuntur illos" „Ihre Werke folgen ihnen nach"; aber er tut dies im Gegensatz zur ursprünglichen Bedeutung von „opera", wonach „Werke" ,moralische Handlungen' meint. Von noch größerer Tragweite ist die Beziehung, die Teilhard zwischen natürlichen Gütern als solchen und Gott ansetzt. Teilhard sieht keine Botschaft von der Herrlichkeit Gottes in den Werten, die in diesen hohen natürlichen Gütern enthalten sind; noch findet er in ihnen ein persönliches Erlebnis der Stimme Gottes. Statt dessen setzt er ein objektives und jenseits unserer Erfahrung liegendes Band zwischen Gott und unseren Tätigkeiten an, das aus dem concursus divinus stammt. Er sagt: „Gott ist in gewisser Weise an der Spitze meiner Feder, meiner Spitzhacke, meiner Nähnadel, meines Herzens, meines Gedankens."
Der eigentliche Gegenstand von Teilhards Begeisterung sind also nicht die natürlichen Güter selbst, sondern eine Abstraktion: die Evolutionshypothese. Die Natur, die ihn bewegt, ist nicht die Schönheit des Sichtbaren und Hörbaren, die alle großen Dichter besungen haben. Es ist nicht die Natur eines Dante, Shakespeare, Keats, Goethe, Hölderlin, Leopardi, nicht die Herrlichkeit eines Sonnenuntergangs oder Sonnenaufgangs, oder der sternenbesäte Himmel - die sichtbaren Hinweise auf Gott in der natürlichen Welt, die Kant, zusammen mit dem Sittengesetz, für die erhabensten Dinge überhaupt ansah.
Noch in einer anderen Hinsicht führt das Denken Teilhards notwendig zu einer Enthumanisierung des Kosmos und des menschlichen Lebens: In seinem Weltbild gibt es keinen Platz für einen Gegensatz zwischen Werten und Unwerten. Jeder Versuch jedoch, diese letztlich bedeutsamen, qualitativen Gegensätze zu leugnen, führt immer zu einer Nivellierung, ja sogar zu einem Nihilismus. Dasselbe ist der Fall, wenn die Hierarchie der Werte(230) übersehen wird, ja schon dann, wenn ein Mensch auf ganz verschieden hohe Werte mit demselben Grad von Begeisterung antwortet.
Der Grundsatz „alles ist heilig", der so erhebend und erfreulich klingt, kommt in Wirklichkeit einer nihilistischen Leugnung von hoch und niedrig, von gut und böse gleich. Diese trügerische und verführerische Einstellung, in der man alles lobt, führt in Wirklichkeit dazu, alles zu leugnen.
Dies erinnert mich an eine Bemerkung, die ein Geiger mir gegenüber einmal gemacht hat: „Ich liebe Musik so sehr" sagte er, „dass es mir keinen Unterschied macht, welche Musik es ist - wenn es nur Musik ist." Diese Bemerkung, die eine ganz außerordentliche Liebe zur Musik beweisen sollte, bewies in Wirklichkeit das Fehlen jedes echten Verständnisses für Musik und damit jeder Fähigkeit, Musik wirklich zu lieben. Genau dasselbe gilt für einen Menschen, der keine qualitativen Unterschiede innerhalb des Seienden anerkennt.
Untersuchen wir jetzt noch etwas näher die christliche Schau der Natur und vergleichen wir sie mit der Teilhards. Die Offenbarung Gottes in der Natur ist von der christlichen Tradition immer betont worden. Im Sanctus heißt es: „Pleni sunt coeli et terra gloria tua." „Himmel und Erde sind erfüllt von Deiner Herrlichkeit." Die Psalmen sind erfüllt vom Lob Gottes als des Schöpfers der Natur mit an ihren wunderbaren Zügen. Der Exemplarismus des heiligen Augustinus betont immer wieder die Botschaft Gottes in der Schönheit der Natur. Derselbe Gedanke ist der Grund für die Liebe des heiligen Franziskus zur Natur und allen Geschöpfen. Doch ein Sinn für diese natürliche Offenbarung Gottes setzt ein „zu Gott empor-Gerichtetsein" voraus, um einen Ausdruck Teilhards zu gebrauchen. Die natürliche Offenbarung spricht von Gott durch die wunderbare Weisheit, die die Schöpfung durchwaltet, und in den Werten der natürlichen Güter durch einen Abglanz von Gottes unendlicher Schönheit und Herrlichkeit. Unsere Antwort auf diese Offenbarung ist entweder zitternde Ehrfurcht und Staunen über die Weisheit, die sich in der Finalität des Kosmos und in seiner geheimnisvollen Fülle offenbart, ein Aufblicken zu Gott als dem Schöpfer, oder zumindest ein tiefes Erwachen für die Schönheit der Natur und den Wert aller hohen natürlichen Güter - und auch das hebt unseren Blick empor. In beiden Fällen sind wir fähig, die Botschaft von oben zu erfassen: dass alle wahren Werte ein Versprechen der Ewigkeit in sich tragen.(231) Indem wir unsere Herzen emporheben, können wir verstehen, dass diese echten Werte von Gottes unendlicher Herrlichkeit sprechen. All dies schließt unmissverständlich ein Aufblicken ein. Doch Teilhards „Natur" ist nicht mit einem „Emporgerichtetsein" verbunden, sie ist keine Botschaft von oben. Da für Teilhard Gott ,hinter' der Natur ist, sollen wir ihn im Christus-Omega erreichen, indem wir uns „nach vorwärts bewegen."
In Teilhards Vorwärtsbewegung, in der alles in einen evolutiven Prozess eingeht, verlieren die natürlichen Güter ihren wirklichen Wert. Ihre Verheißung von etwas Transzendentem wird durch eine bloß immanente Finalität ersetzt, durch ein Teilsein in einer Kette der Evolution. Wenn Evolution als die wichtigste und als die entscheidende Wirklichkeit angesehen - ja in der Tat vergöttlicht - wird, dann wird jedes natürliche Gut einerseits eine bloße Entwicklungsstufe in der Vorwärtsbewegung des Evolutionsprozesses und anderseits ein ödes und nichtssagendes Etwas, das durch einen nivellierenden Monismus von seiner wahren, qualitativen, ihm selbst innewohnenden Bedeutsamkeit losgelöst wird.
Damit hängt zusammen, dass wir hohen natürlichen Gütern nur dann gerecht werden können, wenn wir in ihnen den Abglanz einer unendlich viel höheren Wirklichkeit erblicken - einer Wirklichkeit, die von ihnen ontologisch verschieden ist. Dieser ,Botschaftscharakter' der natürlichen Güter ist wunderbar in Kardinal Newmans Wort über die Musik ausgedrückt: „Sieben Noten hat die Tonleiter, mach vierzehn daraus, gleichwohl, welch spärliches Rüstzeug für ein so gewaltiges Beginnen! Welche Wissenschaft bringt aus so wenig so viel hervor? Aus welch dürftigen Grundstoffen erschafft ein großer Meister seine neue Welt! Sollen wir sagen, all diese überfließende Intensität sei nur ein geistreicher Einfall oder ein Kunstgriff, wie irgendein Spiel oder eine Eintagsmode, ohne Wirklichkeit, ohne Sinn? Oder ist es möglich, dass das unerschöpfliche Hervorbringen und Anordnen der Töne – so reich, doch so einfach, so verschlungen, doch so wohlgeordnet, so mannigfaltig, doch so majestätisch – bloßer Schall sein sollte, der vorüberzieht und vergeht? Können jene geheimnisvollen Erschütterungen des Herzens, jene heftige Erregung, jenes seltsame Verlangen nach wir wissen nicht was, jene erhabenen Eindrücke, wir wissen nicht woher, durch etwas Wesenloses in uns erzeugt werden, das kommt und geht und in sich selbst beginnt und endet? Es ist nicht so: es kann nicht so sein. Nein, sie sind einer höheren Sphäre entsprungen, sie sind der Erguss der ewigen Harmonie in das Gefäß des geschaffenen Tons. Sie sind das Echo aus unserer Heimat, sie sind die Stimme der Engel oder das Magnifikat der Heiligen oder die lebendigen Gesetze der Herrschaft Gottes oder göttliche Attribute. Sie sind etwas über sie selbst hinaus, das wir nicht umfassen, nicht aussprechen können, obwohl ein sterblicher Mensch, vielleicht durch nichts anderes vor seinen Gefährten ausgezeichnet, die Gabe hat, sie hervorzulocken."(232)
Noch ein anderer Aspekt dieses Problems verdient Beachtung: Die Tatsache, dass Teilhard in der heutigen industrialisierten Welt eine höhere Evolutionsstufe sieht, beweist das Fehlen eines wirklichen Sinnes für die Schönheit der Natur und für die qualitative Botschaft Gottes, die in ihr liegt. Selbst der begeistertste Progressist kann nicht leugnen, dass die Industrialisierung die Schönheit der Natur immer mehr zerstört. Die Industrialisierung (obwohl sie wahrscheinlich ein unaufhaltsamer Prozess ist), stellt darüber hinaus keinen eindeutigen Fortschritt dar, weder vom Standpunkt des größeren menschlichen Glücks, noch von dem einer höheren Kultur oder dem eines wahren Humanismus. Wie Gabriel Marcel zu Recht in seinem Buch „Die Erniedrigung des Menschen" zeigt, birgt die Industrialisierung die Gefahr einer zunehmenden Entmenschlichung in sich .Das Ersetzen des ,Organischen' im menschlichen Leben durch das Künstliche - von der künstlichen Befruchtung bis zur Menschenplanung - ist für diese Entmenschlichung bezeichnend(233) Doch Teilhard springt unbekümmert von einer Begeisterung für die Natur auf einen Lobgesang der Technik und Industrialisierung über. Und wieder stehen wir vor seiner monistischen Nivellierung. Es ist nichtsdestoweniger klar, dass Teilhards erste Liebe der technische Fortschritt ist. Die Schöpfung Gottes ist durch den Menschen vollendet worden - nicht im Sinn des heiligen Paulus, nicht in einem Mitwirken mit der Natur, sondern indem man die Natur durch die Maschine ersetzt. Teilhards poetische Ausdrücke, wenn er etwa von seiner Vision der Evolution und des Fortschritts spricht, zeigen deutlich, dass er nie die echte Poesie der Natur oder der ,klassischen Formen der Schöpfung' gesehen hat.
Statt dessen sucht er in die Technik Poesie zu bringen - und beweist dadurch wieder seine monistische Leugnung der Grundunterscheidung zwischen dem Poetischen und dem Prosaischen, dem Organischen und dem Künstlichen, dem Heiligen und dem Profanen.
Sicherlich ist es immer eindrucksvoll, wenn ein Mensch eine tiefe Vision des Seins erreicht zu haben scheint, und statt das Seiende für selbstverständlich zu halten, eine volle und glühende Antwort darauf gibt. So ist es mit Teilhard de Chardin. Es liegt uns fern zu leugnen, dass er in der Materie viele Aspekte entdeckt hat, die gewöhnlich übersehen wurden. So z. B. verlangen die geheimnisvolle Struktur und Vielfältigkeit der Materie, die die Naturwissenschaft zunehmend entdeckt, nach einem echten Staunen über diese Wirklichkeit und nach einer Bewunderung dieser Schöpfung Gottes. Doch weil Teilhard den Wesensunterschied zwischen Materie und Geist nicht anerkennt - weil seine Antwort auf den Geist in keinem Verhältnis zu seinem Preis der Materie steht (ich erinnere hier nur an sein „Gebet" an die Materie) - so ist der Vorteil dieser ungewöhnlichen Einsicht in die Materie für ihn schnell verloren.(234)
Wir müssen diese Frage nach der ,Materie' in Entsprechung zu ihrem Rang in der Gesamtordnung des Seienden stellen. Es ist sicherlich bedauerlich, die Wunder zu übersehen, die in einem Geschöpf verborgen sind, das in der Hierarchie des Seienden am niedrigsten steht. Aber dieses übersehen beeinträchtigt keineswegs unsere Erkenntnis des höher stehenden Seienden: deshalb ist es keine Katastrophe. Hingegen das Niedrigere zu verstehen, indem man das Höhere übersieht, heißt unser ganzes Weltbild entstellen: und das ist eine Katastrophe. Außerdem: wenn man ein niedrigeres Gut ebenso sehr bewundert wie ein höherstehendes, missversteht man die hierarchische Struktur des Seienden und verliert damit die Grundlage, von der aus man sowohl höhere als auch niedrigere Dinge richtig einschätzen kann.
Teilhards Blindheit für die echten Werte, z. B. menschliche Liebe, zeigt sich klar in seinen unglückseligen Bemerkungen über Eros und Agape:
„Natürlich bin ich mit Ihnen einverstanden, dass die Lösung des Eros-Agape-Problems einfach in der Evolutionsbewegung liegt (dans l'Evolutif), im Genetischen, d. h. in der Sublimierung. (Man findet seine Lösung) im Geist, der durch die pankosmische Entwicklung (operation) aus der Materie entspringt."
Wir haben schon gesehen, dass Teilhards Konzeption von der moralischen Sphäre (Tugend und Sünde) mit der Christlichen Offenbarung unverträglich ist. Wir wollen jetzt dazu noch bemerken, dass in der Rolle, die er der moralischen Sphäre zuweist, auch ein Faktor liegt, der zur Entmenschlichung führt. Die einzigartige Berührung mit Gott, die wir in unserem Gewissen haben, in unserem Bewusstsein moralischer Verpflichtungen, spielt in Teilhards System keine Rolle. Er versteht nicht, dass der Mensch niemals im Reich der Natur in so innige Berührung mit Gott tritt, wie wenn er auf die Stimme seines Gewissens hört und sich bewusst mit seinem freien Willen sittlichen Forderungen unterwirft.(235) Wie blass ist im Vergleich dazu - rein menschlich und natürlich gesprochen - Teilhards Begriff von dem „Bewussten" und dem „Unbewussten", die Teil eines „kosmischen Fortschritts" sind.
Und wie blass sind die Reichweite und der Atem von kosmischen Ereignissen gegenüber der befreienden Transzendenz der echten Reue eines Menschen! Welches Ereignis könnte mehr Größe besitzen als die Antwort Davids auf die Anklage des Propheten Nathan? Die untergeordnete Rolle, die Teilhard dem bewussten, personalen Dialog des Menschen mit Christus einräumt - seine Vorliebe für eine objektive Mitwirkung am „Evolutionsprozess" - offenbart deutlicher als irgend etwas anderes den wahrhaft entmenschlichten Charakter dieser „neuen Welt."(236)
Viele Menschen lassen sich von einem Denker beeindrucken, der aus seinem eigenen Geist eine neue Welt konstruiert, eine Welt, in der alles miteinander verbunden und „erklärt" ist. Sie betrachten solche Konstruktionen als den größten Triumph des menschlichen Geistes: dementsprechend preisen sie Teilhard als einen großen synthetischen Denker. In Wahrheit aber kann man die Größe jenes Denkers nur daran messen, wie weit er die Wirklichkeit in ihrer Fülle und Tiefe und in ihrem hierarchischen Aufbau verstanden hat. Wenn man diesen Maßstab auf Teilhard anwendet, kann er offenbar nicht als ein großer Denker bezeichnet werden.
Wir wollen diese Betrachtungen mit zwei Zitaten abschließen.
Teilhard hat geschrieben: „(Christus) wird zur Flamme menschlicher Anstrengungen, er offenbart sich als die Form des Glaubens, die den modernen Bedürfnissen am meisten angepasst ist - eine Religion des Fortschritts, die Religion sogar des irdischen Fortschritts, ja, ich wage zu sagen: die Religion der Evolution."
Kardinal Newman sagt:
„Der heilige Paulus „arbeitete mehr als alle Apostel, und warum? Nicht um der Welt Zivilisation zu bringen, nicht um das Antlitz der Gesellschaft zu glätten, nicht um die Unternehmungen der Staatsregierungen zu unterstützen, nicht um Kenntnis zu verbreiten, nicht um Verstandeskultur zu betreiben, nicht um einer großen weltlichen Sache willen, sondern ... wie er anderswo sagt: „Allen bin ich alles geworden, um auf alle Fälle einige zu retten" (1 Kor. 9, 22) ... Der heilige Paulus sagt, Christus sei gekommen, „damit Er uns von der gegenwärtigen, bösen Welt erlöse, nach dem Willen Gottes und unseres Vaters" (Gal. 1, 4), nicht um die ganze Welt in einen Himmel zu verwandeln, sondern um den Himmel auf die Erde zu bringen. Dies ist immerdar der wahre Triumph des Evangeliums gewesen: Es hat Menschen zu Heiligen gemacht und vorbildliche Gestalten des Glaubens und der Heiligkeit ins Dasein gerufen, die außerhalb des Evangeliums unbekannt und unmöglich sind."(237)
Anmerkungen
1 Den vollständigen Text des Memorials siehe in Blaise Pascal, über Religion, Verlag Lambert-Schneider, Heidelberg 1963.
2 Siehe Fußnote Seite 28.
3 zitiert nach Joseph Thome: „Kurze Andeutungen zur Hilfe bei der Suche nach Einheit im Glauben." Herzogdruck, Eschweiler 1967.
4 VgI. D. v. H. „Sinn philosophischen Fragens u. Erkennens“ Kap. 1. „Sinn philosophischen Fragens u. Erkennens“
5 VgI. D. v. H. „Christliche Ethik“ Kap. III, Kap. XVII.
6 A. a. O., Kap. XVIII.
7 VgI. Kap. XI, XII, XX dieses Buches.
8 Vgl. D. v. Hildebrand „What is philosophy?“ und „Sinn phil. Fragens u. Erkennens" Kap. IV.
9 Wie im folgenden noch gezeigt und mit Konzilstexten belegt wird, gilt dies für die Kirche nur, insofern sie Hüterin des unveränderlich wahren katholischen Glaubensschatzes ist, insofern in ihren Sakramenten Christus selbst fortlebt und das übernatürliche, göttliche Leben gespendet wird und endlich, insofern dieses göttliche Leben in den Heiligen aller Jahrhunderte sichtbar wird und sich entfaltet, bis es in der Ewigkeit zur Vollendung gelangen wird. Die menschlichen Organisationen in der Kirche sind dagegen wesenhaft veränderlich und unvollkommen. Vor allem sind die Glieder der Kirche Sünder und voller Gebrechlichkeit. Doch jeder Irrtum eines Katholiken steht im Gegensatz zur Lehre der Kirche und jede Sünde eines Gliedes der Kirche richtet sich gegen die Kirche, den mystischen Leib Christi, und ist eine Beleidigung Christi, der in der Kirche fortlebt. VgI. Kap. V, XII, XXIII, XXIX dieses Buches. Anm. d. Übers.
10 VgI. S. 31, Fußnote 5 (Zitat der Konzilstexte).
11 VgI. Kap. II, XII.
12 Dass es sich bei diesem dritten, einfach katholischen Standpunkt keineswegs um eine "goldene Mitte" zwischen Progressismus und Konservatismus handelt, wird in Kap. III klar ausgeführt. - Anm. d. Übers.
13 VgI. dazu „Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung“ Kap. 1, 4; Kap. 3, 11; Kap. 6, 21.
14 Dies geht schon allein aus der Tatsache hervor, dass die Heiligkeit, wie die „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 40, Kap. 5 ausdrücklich wiederholt, eine Teilhabe am Wesen Gottes ist, "in dem es keinen Wechsel und keinen Schatten von Veränderung gibt." Vgl. Jakobus 1, 17; auch Matth. 5, 48; Mk. 14, 31: "Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen." -Anm. d. Übers.
15 Vgl. dazu bes. den Abschnitt über die allgemeine Berufung zur Heiligkeit in der "Dogmatischen Konstitution über die Kirche" 5. Kap. Vgl. auch vom Autor "Umgestaltung in Christus", Benzinger - Anm. d. Übers.
16 VgI. dazu beg. Kap. 10, II. Teil.
17 Diese Übersetzung des nicht ganz eindeutigen Ausdrucks „praecedentium Conciliorum argumento instans" entspricht der vom Autor verwendeten englischen Übersetzung. Sie ist auf alle Fälle inhaltlich voll gerechtfertigt, wenn man an die in Kap. III dieses Buches zitierten Stellen über die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes („Lumen gentium“ 12) denkt, an den Inhalt der Konstitutionen (vgl. bes. die in Kap. IV zitierten Stellen), und an die Hinweise auf die vergangenen Konzilien im „Dekret über Dienst und Leben der Priester“ 12 oder im „Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe“ 36. Vergleiche vor allem den Anhang zur "Dogmatischen Konstitution über die Kirche" über die Verbindlichkeit der Lehren eines Konzils. Auf Wunsch des Autors sei hier auch noch betont, dass es ja nur eine Lehre der Kirche gibt und dass deshalb die dogmatischen Formulierungen dieser Lehre auf vergangenen Konzilien nicht weniger Verbindlichkeit für den Glauben besitzen als die Formulierungen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die dogmatische Verbindlichkeit der Lehre der Kirche, wie sie vom II. Vatikanischen Konzil formuliert wird, beruht ja gerade ausschließlich auf ihrer vollen Übereinstimmung mit der göttlichen Offenbarung und mit der heiligen, unfehlbaren Tradition des kirchlichen Lehramtes, wie es auch in der "Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung" Kap. 1, 2 klar zum Ausdruck kommt.
Die zahlreichen und ausschließlich aus diesem Konzil zitierten Texte sollen deshalb vor allem deutlich machen, dass dieses Konzil vollkommen mit der unveränderlichen Lehre der göttlichen Offenbarung und der Kirche übereinstimmt und dass deshalb jede ausschließliche Berufung auf dieses Konzil - als handle es sich hier um eine "neue Theologie" - und jedes Aufgeben der Dogmen unter dem Titel einer "postkonziliaren Kirche", einen Abfall vom Glauben bedeutet, wie Pere de Lubac sagt (vgl. Kap. XXIV) und deshalb im offenen Gegensatz zur Lehre der Kirche steht, wie sie gerade in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils wieder ihren eindeutigen Ausdruck findet. - Anm. d. Übers.
18 VgI. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ II, 15 ... ”Ecclesia mater... filiosque ad purificationem et renovationem exhortatur, ut signum Christi super faciem Ecclesiae clarius effulgeat." „... die Mutter Kirche... ermahnt... ihre Söhne zur Läuterung und Erneuerung, damit das Zeichen Christi auf dem Antlitz der Kirche klarer erstrahle." 11, 9 "Per tentationes vero et tribulationes praecedens Ecclesia virtute gratiae Dei sibi a Domino promissae confortatur, ut infirmitate carnis a perfecta fidelitate non deficiat, sed Domini sui digna sponsa remaneat, et sub actione Spiritus Sancti, seipsam renovare non desinat, donec per crucem perveniat ad lucem, quae nescit occasum." ,Inmitten von Versuchungen und Trübsal voranschreitend wird die Kirche durch die Kraft der ihr vom Herrn verheißenen Gnade Gottes gestärkt, damit sie in der Schwachheit des Fleisches von der vollkommenen Treue nicht abfalle, sondern die würdige Braut des Herrn verbleibe und unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern, bis sie durch das Kreuz zu dem Lichte gelangt, das keinen Untergang kennt." VgI. a. a. O., III, 27.
19 VgI. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ II, 16, 17,II, 12, III, 25, 27.
20 Kardinal Newman beschreibt in wunderbarer Weise die wahre Erneuerung des kirchlichen Lebens, die vom heiligen Philip Neri ausging, indem er sie mit der Reformtätigkeit Savonarolas vergleicht; vgl. Newman, Sankt Phil. Neri - Theatinerverlag, München.
21 VgI. „Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung“ 1. Kap. 4; 3. Kap. 11; vor allem 6. Kap. 21: "In diesen Schriften zusammen mit der heiligen Überlieferung hat die Kirche immer die höchste Richtschnur des Glaubens gesehen und sieht sie noch darin. Denn, von Gott eingegeben, und ein für allemal aufgeschrieben, bieten sie das Wort Gottes selbst unwandelbar dar und lassen in den Worten der Propheten und Apostel die Stimme des HI. Geistes vernehmen."
22 Auch hier gilt: das göttliche Leben Christi und die Heiligkeit, zu der wir berufen sind, bleibt wesenhaft dieselbe. Aber unsere Heiligung ist ohne unsere Änderung, Erneuerung und Umgestaltung unmöglich; Das "Leben Christi in uns" verlangt unsere Veränderung und macht uns zu "neuen Menschen in Christus". VgI. Kap. XII. Anm. d. Übers.
23 „Quiconque verrait dans le Concile un relâchement des engagements antérieurs de l'Eglise, envers sa foi, sa tradition, son ascèse, sa charité, son esprit de sacriflce et son adhésion à la Parole et à la Croix du Christ, ou encore une indulgente concession à la fragile et versatile mentalité relativiste d' un monde sans principes et sans fln transcendante, à une sorte de christianisme plus commode et moins exigeant, ferait erreur." „Jeder der im Konzil eine Auflockerung der früheren verpflichtenden Bindungen (engagements) der Kirche gegenüber ihrem Glauben erblicken würde, gegenüber ihrer Tradition, ihrer Askese, ihrer Caritas, ihrer Opfergesinnung und ihrer Anhänglichkeit an das Wort und das Kreuz Christi, oder gar eine nachsichtige Konzession an die gebrechliche und schwankende, relativistische Mentalität einer Welt ohne Prinzipien und ohne transzendentes Ziel, an eine Art angenehmeres und weniger forderndes Christentum, würde sich im Irrtum befinden." Papst Paul VI., (zitiert nach Michel de Saint Pierre, Sainte Colère, Editions de la Table Ronde, Paris).
24 VgI. D. von Hildebrand: „Christliche Ethik“ Kap. 11. Nikolaus von Cusa sieht in Gott eine "coincidentia oppositorum omnium" - ein "Zusammenfallen aller Gegensätze", selbst unter Aufhebung des Widerspruchsprinzips. Von dieser Position unterscheidet sich die von Hildebrands vollständig: a. a. O. unterscheidet er zwischen vier grundverschiedenen Arten von metaphysischen Gegensätzen: 1. kontradiktorischen (wie Sein und Nichtsein), 2. konträren (wie gut und böse), 3. These - Antithese (vgl. Kap. III), 4. polaren Gegensätzen zwischen den Werten, die sich nur auf einer niedrigen Stufe des Seienden ausschließen und in Gott zusammenbestehen. Und ausschließlich im Sinne dieser vierten Art von Gegensätzen kann man Gott eine "coincidentia oppositorum" nennen.
25 Das „Anathema" im Sinne einer ausdrücklichen Verurteilung der häretischen Irrtümer wurde bei diesem Konzil aus pastoralen Erwägungen und auf Grund des Themas des Konzils den Konstitutionen nicht angefügt. Das bedeutet natürlich weder, dass die Kirche die früheren Verurteilungen von Häresien aufhebt, noch dass sie jetzt und in Zukunft darauf verzichten könnte, alle Irrtümer zu verwerfen, die der geoffenbarten Wahrheit widersprechen. Dies würde ihre Selbstaufhebung bedeuten. Denn nicht nur das Lehramt - die Predigt der wahren Lehre, sondern alle Ämter der Kirche ruhen auf der absoluten Wahrheit der göttlichen Offenbarung und wären ohne diese sinnlos. Vgl. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“, II, 12, 16, 17; III, 25. s. Kap. XXII dieses Buches. - Anm. d. Übers.
26 Mit Erstaunen muss man feststellen, wie die feierliche, erneute Formulierung des Dogmas von der Unfehlbarkeit der Kirche in der "Dogmatischen Konstitution über die Kirche" selbst unter Theologen weitgehend ignoriert wird; wie man von der "Unformulierbarkeit" der geoffenbarten Wahrheit spricht usw. (VgI. auch Kap. XI u. Kap. XX.) VgI. II, 12: „Universitas fidelium, qui unctionem habent a Sancto (cf. 102. 2 u. 27), in credendo falli nequit, atque hanc suam peculiarem proprietatem mediante supernaturali sensu fidei totius populi manifestat, cum "ab Episcopis usque ad extremos laicos fideles" universalem suum consensum de rebus fidei et morum exhibet. Illo enim sensu fidei, qui a Spiritu veritatis excitatur et sustentatur, Populus Dei sub ductu sacri magistern, cui fideliter obsequens, iam non verbum hominum, sed vere accipit verbum Dei (cf. Thess. 2, 13), semel traditae sanctis fidei (cf. lud. 3), indefectibiliter adhaeret, recto iudicio in eam profundius penetrat eamque in vita plenius applicat." III, 25 „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von ,dem Heiligen' haben (vgl. Jo 2, 20 u. 27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des gesamten Volkes dann kund, wenn sie" von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien" ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert. Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und geleitet wird, empfängt das Volk Gottes unter der Leitung des heiligen Lehramtes, wenn es diesem treu folgt, nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wirklich das Wort Gottes (vgl. 1 Thess. 3, 13), hält den einmal den Heiligen übergebenen Glauben (vgl. Jud. 3) unverlierbar fest, dringt mit rechtem Urteil tiefer in ihn ein und wendet ihn im Leben voller an". s. auch III, 25: „Haec autem infallibilitas, qua Divinus Redemptor Ecclesiam suam in definienda doctrina de fide vel moribus instructam esse voluit, tantum patet quantum divinae Revelationis patet depositum, sancte custodiendum et fideliter exponendum. Qua quidem infallibilitate Romanus Pontifex ... gaudet, quando, ut supremus omnium christifidelium pastor et doctor, ... doctrinam de fide vel moribus definitiva actu proclamat. Quare definitiones eius ex sese, et non ex consensu Ecclesiae, irreformabiles merito dicuntur... Tunc enim Romanus Pontifex non ut persona privata sententiam profert, sed ut universalis Ecclesiae magister supremus, in quo charisma infallibilitatis ipsius Ecclesiae singulariter inest, doctrinam fidei catholicae exponit vel tuetur. Infallibilitas Ecclesiae promissa in corpore Episcoporum quoque inest, quando supremum magisterium cum Petri Successore exercet. Istis autem definitionibus assensus Ecclesiae numquam deesse potest propter actionem eiusdem Spiritus Sancti, qua universus Christi grex in unitate fidei servatur et proficit." “Diese Unfehlbarkeit aber, mit welcher der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausstatten wollte, reicht so weit wie das heilig zu behütende und getreulich auszulegende Gut (depositum) der göttlichen Offenbarung. Dieser Unfehlbarkeit erfreut sich der römische Bischof, ... kraft seines Amtes, wenn er als Oberster Hirt und Lehrer aller Christgläubigen, ... eine Glaubens- oder Sittenlehre in einem endgültigen (definitivo) Akt verkündet. Daher heißen seine Definitionen mit Recht aus sich und nicht erst aufgrund der Zustimmung der Kirche unveränderlich (irreformabiles), da sie ja unter dem Beistand des Heiligen Geistes ausgesprochen sind, der ihm im heiligen Petrus verheißen wurde ... In diesem Falle trägt nämlich der römische Bischof seinen Spruch nicht als Privatperson vor, sondern legt die katholische Glaubenslehre aus und schützt sie in seiner Eigenschaft als oberster Lehrer der Gesamtkirche, in dem das der Kirche selbst eigene Charisma der Unfehlbarkeit in einzigartiger Weise innewohnt. Die der Kirche verheißene Unfehlbarkeit wohnt auch im Kollegium der Bischöfe, wenn es das oberste Lehramt zusammen mit dem Nachfolger Petri ausübt. Diesen Definitionen kann aber die Zustimmung der Kirche niemals fehlen, vermöge der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, kraft deren die gesamte Herde Christi in der Einheit des Glaubens bewahrt wird und voranschreitet." Anm. d Übers.
27 Zum Unterschied zwischen Geistigem und bloß Psychologischem vgl. vom Autor: „Über das Herz“ I, 2. - „Christliche Ethik“ (Kap. 27, S. 444/45). - Anm. d. Übers.
28 Dies kommt auch alles ganz klar in den schon zitierten und unzähligen anderen stellen der Konzilstexte, besonders den Dogmatischen Konstitutionen über die Kirche und die göttliche Offenbarung zum Ausdruck. Anm. d. Übers.
29 Vgl. z. B. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ II, 9, 15; III, 27; I, 1.
30 Vgl. D. von Hildebrand „Christliche Ethik“ Kap. 17, 23, 24,25.
31 Vgl. D. von Hildebrand, „Die Ehe“, Verlag Ars Sacra, J. Muller, München, S. 5 ff, S. 18-23, S. 27 ff.
32 Vgl. a. a. O., S. 19-21.
33 VgI. a. a. O., S. 20 ff.
34 VgI. bes. v. Hildebrand, „Reinheit und Jungfräulichkeit“, „Ehe", "Man and Woman".
35 Der schwindende Sinn für die furchtbare Sünde der Unreinheit unter manchen progressistischen Katholiken beweist klar die Tatsache, dass weder die wahre Natur der bräutlichen Liebe, noch der Charakter des ehelichen Aktes als einer gegenseitigen, personalen Selbstschenkung verstanden wird. VgI. auch mein Buch „Reinheit und Jungfräulichkeit“ I, 3; 11, 1, 3.
36 Ja, man versucht sogar von „katholischer" Seite, außerehelichen Geschlechtsverkehr, Ehebruch und Abtreibung zu rechtfertigen. (VgI. Kap. XIII, XXI). Alle diese Irrtümer und falschen Reaktionen stehen in äußerstem Gegensatz zur Lehre der Kirche, wie sie vom II. Vatikanischen Konzil ausdrücklich und feierlich wiederholt wurde. VgI. dazu die in Kap. XXI zitierten Konzilstexte.
37 Vgl. S. 55, Fußnote 11.
38 Dass der Nächste nicht ausschließlich um Gottes willen, sondern auch um seiner selbst willen geliebt werden soll, leuchtet an einem Konzilstext aus "über die Kirche in der Welt von heute" (24) auf: „Immo Dominus Iesus, quando Patrem orat "ut omnes unum sint ..., sicut et nos unum sumus"... aliquam similitudinem innuit inter unionem personarum divinarum et unionem filiorum Dei in veritate et caritate. Haec similitudo manifestat hominem, qui in terris sola creatura est quam Deus propter seipsam voluerit, plene seipsum invenire non posse ni si per sincerum sui ipsius donum." (cf. Lk 17. 33). „Ja, wenn der Herr Jesus zum Vater betet, "dass alle eins seien ... wie auch wir eins sind" ... deutet Er eine gewisse Ähnlichkeit an zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und der Liebe. Dieser Vergleich macht offenbar, dass der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst finden kann." - Anm. d. Übers.
39 VgI. „Lumen gentium“ II, 16, 17; V, 39, 40, 42: „ideoque donum primum et maxime necessarium est caritas, qua Deum super omnia et proximum propter illum diligimus," „Daher ist die erste und notwendigste Gabe die Liebe, durch die wir Gott über alles und den Nächsten um Gottes willen lieben," „Ex Liturgia ergo, praecipue ex Eucharistia, ut e fonte, gratia in nos derivatur et maxima cum efftcacia obtinetur illa in Christo hominum sacriftcatio et Dei gloriftcatio, ad quam, uti ad ftnem, omnia alia Ecclesiae opera contendunt," Vgl. Konstitution über die heilige Liturgie, 10. „Aus der Liturgie, besonders aus der Eucharistie, fließt uns wie aus einer Quelle die Gnade zu; in höchstem Maße wird in Christus jene Heiligung der Menschen und Verherrlichung Gottes verwirklicht, auf die alles Tun der Kirche als auf sein Ziel hinstrebt."
40 In seinem bewunderungswürdigen Buch „Le paysan de la Garonne" sagt Maritain mit Recht, dass die Formel „Christus in unseren Brüdern zu sehen" verkürzt ist und zu Missverständnissen Anlaß geben kann. (Vgl. S. 343, Desclee de Brower Paris 1966).
41 Es ist heute schon ein Gemeinplatz geworden, den man oft in Predigten hören kann, dass unsere Gottesliebe sich ausschließlich in unserer Nächstenliebe manifestiere.
42 VgI. Teilhard de Chardin, Le Milieu Divin, Edition du Seuil, S. 56 „Tout est sacre" (Alles ist heilig).
43 VgI. dazu vom selben Verfasser „Über das Herz“ III, Kap. 2 (Verlag Habbel, Regensburg); Dietrich von Hildebrand macht dort den entscheidenden Unterschied zwischen natürlichen Gütern, d. h. Gütern, die in sich selbst einen Wert besitzen (wie Wahrheit, Schönheit in Natur und Kunst, geliebte Menschen usw.) und weltlichen Gütern (wie Ruhm, Erfolg, Reichtum usw.), die subjektiv befriedigend für uns sind und die Tendenz haben, unsere Begehrlichkeit und unseren Hochmut in dem Maß anzusprechen, in dem wir unser Herz an sie hängen und sie nicht nur als Mittel zur Verwirklichung anderer Güter gebrauchen, die der größeren Verherrlichung Gottes dienen, was wir als Christen tun sollten. VgI. dazu auch das entscheidende Kap. III in „Christliche Ethik“, Patmos-Verlag. - Anm. d. Übers.
44 Vgl. mein Buch „Über das Herz“, III. Teil, Kap. 1, 2.
45 Vgl. z. B. heiligen Paulus, Gal. 1, 12; heiligen Theresia von Jesu „Leben", Kap. 40, 19.
46 Wir denken hier an Fr. Du Bay in der Diözese Los Angeles.
47 VgI. bes. „Konstitution über die Kirche“ III, 27; Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens 14; Dekret über die Priestererziehung 11.
48 VgI. bes. „Erklärung über die Religionsfreiheit“ 9-11.
49 VgI. a. a. O., 2. u. 3.
50 VgI. dazu etwa: „Die Suche nach neuen Gottesvorstellungen und nach einer vernunftgemäßen Moral gilt (den Rückständigen) als Tabu... Eine moderne Religion oder Weltanschauung, die für Menschen des 20. Jahrhunderts passt, darf nicht starr und unduldsam sein. Jedem muss die Möglichkeit garantiert werden, ganz persönlich nach Wahrheit zu suchen, mag dabei als Ergebnis der christliche „liebe Gott" herauskommen oder eine ganz andere Deutung des Daseins. Diese Freiheit erlaubt natürlich, sich mit Jesus Christus zu beschäftigen und seine Ideen anzunehmen, wenn man es für gut hält. Sie erlaubt aber auch, Jesus abzulehnen und andere Ideale aufzuspüren." („Streik gegen eine nutzlose Kirche" in „Voran" - Monatszeitschrift der Jungenschaft im Bund der Deutschen katholischen Jugend; Juli, August 1965).
51 Es gibt natürlich auch eine positive Aufgabe dieser Art von Exegese: z. B. die Klärung der geoffenbarten Wahrheit über das Verhältnis zwischen freiem Willen und Gnade, über die drei göttlichen Personen oder über die eine gottmenschliche Person Christi. VgI. Kap. VI, VII. - Anm. d. Übers.
52 Vgl. Kap. XIII.
53 VgI. Kap. XX.
54 Vgl. Kap. XIX.
55 Immer mehr katholische Theologen und Laien wagen, diese Grunddogmen offen zu leugnen. So leugnet etwa P. van Kilsdonk SJ (vgl. „De Tijd", 12. 10. 1966) ganz offen „die Empfängnis Jesu im Schoße seiner Mutter ohne Dazwischenkunft eines Mannes". Diese „biologische Auffassung von der alten Geschichte von der Jungfrauengeburt" lehnt er ab, Noch verbreiteter ist eine totale Konfusion, eine doppelsinnige Ausdrucksweise und der Zweifel an diesen Dogmen. In diesem Sinn äußerte sich Prof. P. Schoonenberg SJ in „De Tijd" (17, 12.1966), dass die Jungfrauengeburt "wahrscheinlich eine dichterische Ausdrucksweise" ist, Prof. P. Schillebeeck OP gibt auf diese Frage, wie er sagt, "keine klare Antwort". VgI. Gregorius Rhenanus, „Aufbruch oder Zusammenbruch?", Thomas-Verlag, Zürich, S, 7, In diesem Werk sagt der Autor von Pater Paulus Gordans Artikel über die Auferstehung: „In seinem Artikel wird nicht klar, ob die Auferstehung selbst ein wirkliches Ereignis war oder nur der Glaube an sie." Es ist absolut unmöglich, die vielen Theologen aufzuzählen, die das Dogma von der jungfräulichen Empfängnis Jesu, von der Auferstehung usw. leugnen oder zumindest es nicht eindeutig festhalten. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass auch nicht der geringste Zweifel darüber bestehen kann, dass das II. Vatikanische Konzil diese Grunddogmen in der klarsten und feierlichsten Weise bekräftigt hat, Jede "neue Deutung" dieser Dogmen, bzw. ihre Auflösung steht in offenem Gegensatz zum Konzil Aber selbst nur die Unentschiedenheit bezüglich dieser Fragen als „nachkonziliaren Geist" zu bezeichnen, ist eine ausgesprochene Ignorierung der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche", in der eindeutig und klar mit der feierlichen Erklärung der Unfehlbarkeit der D e f i n i t i o n e n (die die Kirche als dogmatisch erklärt), diese Grunddogmen bekräftigt werden. Aus der Fülle dieser Stellen in der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche" seien nur einige zitiert; Zur Gottmenschheit Christi vgl. etwa: VIII, 61. Dort wird Maria „alma divini Redemptoris Mater" „erhabene Mutter des göttlichen Erlösers" genannt und dann (62) hinzugefügt, dass sie Miterlöserin genannt wird, jedoch nur durch Christus: „Nulla enim creatura cum Verba incarnato ac Redemptore connumerari umquam potest". „Kein Geschöpf kann nämlich jemals mit dem eingeborenen Wort und Erlöser in einer Reihe aufgezählt werden." I, 5 „Ante omnia tamen Regnum manifestatur in ipsa Persona Christi, Filii Dei et Filii hominis". „Vor allem wird aber dieses Reich offenbar in der Person Christi selbst, des Gottes- und Menschensohnes". 1, 7 ist auch Paulus zitiert „Quia in ipso inhabitat omnis plenitudo divinitatis corporaliter" (Col. 2, 9). „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig" Christus als der einzige Mittler, vgl. VIII, 60, I, 8; Christus ist durch seinen Tod und seine Auferstehung, der Erlöser, der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen. VgI. I, 7 „Dei Filius, in natura humana Sibi unita, morte et resurrectione sua martern superando, hominem redemit et in novam creaturam transformavit" „Gottes Sohn hat in der mit sich geeinten Menschennatur durch Seinen Tod und Seine Auferstehung den Tod besiegt, den Menschen erlöst und ihn umgestaltet zu einem neuen Geschöpf" (vgl. Gal. 6, 15; 2 Kor. 5, 17). Die Verkündigung durch den Engel, die jungfräuliche Empfängnis und die gottmenschliche Natur der einen Person Christi, diese Dogmen, die zuinnerst zusammenhängen, werden in „Lumen gentium“ VIII, 53 eindeutig bekräftigt: „Virgo autem Maria, quae Angelo nuntiante Verbum Dei corde et corpore suscepit et Vitam mundo protulit, ut vera Mater Dei ac Redemptoris agnoscitur et honoratur." „Denn die Jungfrau Maria, die auf die Botschaft des Engels Gottes Wort im Herzen und im Leibe empfing und der Welt das Leben brachte, wird als wahre Mutter Gottes und des Erlösers anerkannt und geehrt". VIII, 63 die jungfräuliche Empfängnis: „Credens enim et oboediens, ipsum Filium Patris in terris genuit, et quidem viri nescia, Spiritu Sancto obumbrata, tamquam nova Heva, non serpenti antiquo, sed Dei nuntio praestans fldem, nullo dubio adulteratam." „Denn indem sie glaubte und gehorsam war, gebar sie den Sohn des Vaters selbst auf Erden, und zwar ohne einen Mann zu erkennen, vom Heiligen Geist überschattet, als neue Eva, die nicht der alten Schlange, sondern dem Boten Gottes einen durch keinen Zweifel getrübten Glauben schenkte." Die wahrhafte Auferstehung Christi von den Toten vgl. II, 9; I, 10; VII, 8; Das Dogma der Dreifaltigkeit, vgl. VIII, 66. Die eucharistische Gegenwart Christi als Gott und Mensch, vgl. II, 11; VII, 48. Die Wiederkunft Christi, das Jüngste Gericht, Himmel und Hölle VII, 48/49. Die unbefleckte Empfängnis VIII, 59. Die leibliche Aufnahme Mariä in den Himmel, die ihr allein von allen Menschen schon jetzt verliehen wurde, VIII, 68. VgI. auch „Mysterium fidei" und „Ecclesiam Suam“, wo Papst Paul VI. auf die modernen Irrtümer bezüglich dieser Dogmen hinweist. Aber nicht nur in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, sondern auch in den andern Konzilsdokumenten werden die Grunddogmen immer wieder als die letzte Wirklichkeit betont, ohne die wir, wie der heilige Paulus sagt, die elendsten aller Menschen wären. Besonders auch in der „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute" finden sich zahlreiche solcher Stellen. VgI. etwa 18: Über den Tod, die Auferstehung Christi und das ewige Leben: „Deus enim hominem vocavit et vocat, ut Ei in perpetua incorruptibilis vitae divinae communione tota sua natura adhaereat. Quam victoriam Christus, hominem a morte per mortem suam liberando, ad vitam resurgens adeptus est." „Gott rief und ruft nämlich den Menschen, dass er Ihm in der ewigen Gemeinschaft unzerstörbaren göttlichen Lebens mit seinem ganzen Wesen anhange. Diesen Sieg (über den Tod) hat Christus, da Er den Menschen durch seinen Tod vom Tode befreite, in seiner Auferstehung zum Leben errungen." Über das Jüngste Gericht, vgl. auch „über die Kirche in der Welt von heute", 17 „Unicuique autem ante tribunal Dei propriae vitae ratio reddenda erit, prout ipse sive bonum sive malum gesserit. (Cf. II Cor. 5, 10)." „Jeder aber muss vor dem Richterstuhl Gottes Rechenschaft geben von seinem eigenen Leben, wie er selber Gutes oder Böses getan hat." - Anm. d. Übers.
56 Wir sehen hier vom Problem ab, welche Bedeutung die Titel Christi in den Parallelstellen bei Lukas und Markus haben, die sich auf das Bekenntnis des heiligen Petrus in Matth. XVI beziehen.
57 VgI. „Über die Kirche in der Welt von heute" „gaudium et spes", 19 „Quapropter in hac atheismi genesi partem non parvam habere possunt credentes, quatenus, neglecta ftdei educatione, vel fallaci doctrinae expositione, vel etiam vitae suae religiosae, moralis ac socialis defectibus, Dei et religionis genuinum vultum potius velare quam revelare dicendi sint." „Deshalb können an dieser Entstehung des Atheismus die Gläubigen einen erheblichen Anteil haben, insofern man sagen muss, dass sie durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch irreführende Darstellung der Lehre oder auch durch die Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren."
58 Vgl. Pere Lhandes, La Banlieue de Paria.
59 Zur wahren Befreiung aus dem katholischen Ghetto: Vgl. z. B. „Lumen gentium“ 11, 9 „Itaque populus ille messianicus, quamvis universos homines actu non comprehendat, et non semel ut pulillus grex appareat, pro toto tarnen genere humano ftrmissimum est germen unitatis, spei et salutis. A Christo in communionem vitae, caritatis et veritatis constitutus, ab Eo etiam ut instrumentum redemptionis omnium adsumitur, et tamquam lux mundi et sal terrae (Math. 5, 13-16) ad universum mundum emittitur." „So ist denn dieses messianische Volk (die Kirche), obwohl es nicht in Wirklichkeit alle Menschen umfaßt und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoftnung und des Heiles. Von Christus zur Gemeinschaft des Lebens, der Liebe und der Wahrheit bestellt, wird es von Ihm auch als Werkzeug der Erlösung aller angenommen und als Licht der Welt und Salz der Erde (vgl. Math. 5,13-16) in alle Welt gesandt" und 11, 17 „Ita autem simul orat et laborat Ecclesia, ut in Populum Dei, Corpus Domini et Templum Spiritus Sancti, totius mundi transeat plenitudo, et in Christo, omnium Capite, reddatur universorum Creatori ac Patri omnis honor et gloria." „So aber betet und arbeitet die Kirche zu gleicher Zeit, dass die Fülle der ganzen Welt in das Volk Gottes eingehe, in den Leib des Herrn und Tempel des Heiligen Geistes, und dass in Christus, dem Haupte aller, jegliche Ehre und Verherrlichung dem Schöpfer und Vater des Alls gegeben werde."
60 VgI. dazu audl „Über die Kirdle in der Welt von heute", 21 „Ecclesiae enim est Deum Patrem eiusque Filium incarnatum praesentem et quasi visibilem reddere, ductu Spiritus Sancti sese indesinenter renovando et puriftcando. Id imprimis obtinetur testimonio ftdei vivae ..., Huius fidei testimonium praeclarum plurimi martyres reddiderunt et reddunt, Quae fides suam fecunditatem manifestare debet, credentium integram vitam, etiam profanam, penetrando, eosque ad iustitiam et amorem, praesertim erga egentes movendo. Ad praesentiam Dei manifestandam maxime denique confert caritas fraterna fidelium, qui spiritu unanimes collaborant ftdei Evangelii, et signum unitatis se exhibent," „Denn es ist die Aufgabe der Kirche, Gott den Vater und seinen menschgewordenen Sohn gegenwärtig und sozusagen sichtbar zu machen, indem sie sich selbst unter der Führung des Heiligen Geistes unaufhörlich erneuert und läutert; das wird vor allem erreicht durch das Zeugnis eines lebendigen und gereiften Glaubens... . Ein leuchtendes Zeugnis dieses Glaubens gaben und geben viele Märtyrer. Dieser Glaube muss seine Fruchtbarkeit bekunden, indem er das gesamte Leben der Gläubigen, auch das profane, durchdringt und sie zu Gerechtigkeit und Liebe, vor allem gegenüber den Armen, bewegt. Dazu, dass Gottes Gegenwärtigkeit offenbar werde, trägt schließlich besonders die Bruderliebe der Gläubigen bei, wenn sie in einmütiger Gesinnung zusammenarbeiten für den Glauben an das Evangelium und sich als Zeichen der Einheit Erweisen."
61 Pater Lombardi.
62 Wenn man etwa Daniel Callahans Schriften liest, gewinnt man den Eindruck, dass die Reinigung der slums für ihn mehr Gewicht hat als die Erlösung.
63 Wir denken hier an den Versuch, Jazz und Rock and Roll bei Gottesdiensten einzuführen.
64 VgI. etwa Dogmatische Konstitution über die Kirche, 6: „Ecclesia etiam, ,quae sursum est jerusalem´ et ,mater nostra´appellatur (Gal. 4, 26; cf. Apoc. 12, 17), describitur ut sponsa immaculata Agni immaculati (Apoc. 19, 7; 21, 2 et 9; 22, 17), Quam Christus ,dilexit et seipsum tradidit pro ea, ut illam sanctificaret´(Eph. 5, 16), et quam mundatam sibi voluit coniunctam et in delictione ac fidelitate subditam (cf. Eph. 5, 24), quam tandem bonis caelestibus in aeternum cumulavit, ut Dei et Christi erga nos caritatem, quae affinem scientiam superat, comprehendamus (cf. Eph. 3, 19). Dum vero his in terris Ecclesia peregrinatur a Domino (cf. 2 Cor. 5, 6), tamquam exsulem se habet, ita ut quae sursum sunt quaerat et sapiat, ubi Christus est in dextera Dei sedens, ubi vita Ecclesiae abscondita est cum Christo in Deo, donec cum Sponso suo appareat in gloria (cf. Col. 3, 1-4)", II, 6. „Die Kirche wird auch bezeichnet als "das obere Jerusalem" und als „unsere Mutter" (Gal. 4, 26; vgl. Apk. 12, 17); sie wird beschrieben als die makellose Braut des makellosen Lammes (Apk. 19 7; 21, 9; 22, 17), die Christus „geliebt hat und für die er sich hingegeben hat, um sie zu heiligen" (Eph. 5, 16) Nach seinem Willen soll sie als die von Ihm Gereinigte zu Ihm gehören und in Liebe und Treue Ihm untertan sein (vgl. Eph. 5, 26). Er hat sie schließlich auf ewig mit himmlischen Gütern überreich beschenkt, damit wir Gottes und Christi Liebe zu uns, die alles Erkennen übersteigt, begreifen (VgI. Eph. 3, 19). Solange aber die Kirche hier auf Erden in Pilgerschaft fern vom Herrn lebt (vgl. 2, Kor. 5, 6), weiß sie sich in der Verbannung, so dass sie sucht und sinnt nach dem, was oben ist, wo Christus zur Rechten des Vaters sitzt, wo das Leben der Kirche mit Christus in Gott verborgen ist, bis sie mit ihrem Bräutigam vereint in Herrlichkeit erscheinen darf (vgl. Kol. 3, 1-4). Zur Heilsnotwendigkeit des Glaubens und der letzten Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen, vgl. entsprechende Zitate aus den Konzilstexten in Kap. 14 „Freiheit und Willkür." Zur allgemeinen Berufung zur Heiligkeit vgl. die entsprechenden Zitate aus den Konzilstexten in Kap. 20 „Die Heiligen." Anm. d. Übers.
65 Vgl. D. v. Hildebrand „The New Tower of Babel" „Efftciency and Holiness."
66 (Anmerkung bei der Digitalisierung):
A) Pius XII., Enzyklika „Humani generis“ über einige falsche Ansichten, die die Grundlagen der katholischen Lehre zu untergraben drohen vom 12.8.1950: 31 Nach diesen Überlegungen versteht man leicht, warum die Kirche verlangt, dass ihre zukünftigen Priester in den philosophischen Fächern unterrichtet werden „nach der Methode, der Lehre und den Grundsätzen des Englischen Lehrers (C.I.C.: can. 1366, 2.). Sie weiß ja nach einer Erfahrung von Jahrhunderten gut, dass die Methode des Aquinaten sich vor andern bewährt, sowohl im Unterricht wie auch in der Suche nach verborgenen Wahrheiten; dass seine Lehre fernerhin in Harmonie mit der göttlichen Offenbarung steht und in wirkungsvoller Weise sichere Fundamente des Glaubens legt, wie auch mit Nutzen und Sicherheit die Früchte eines gesunden Fortschritts bringt (A.A.S. vol. XXXVIII, 1946, p. 387).
B) II Vatikanum, Dokument über die Priesterausbildung „Optatam totius“ 28.10.1965: 15 Die philosophischen Disziplinen sollen so dargeboten werden, dass die Alumnen vor allem zu einem gründlichen und zusammenhängenden Wissen über Mensch, Welt und Gott hingeführt werden. Sie sollen sich dabei auf das stets gültige philosophische Erbe (patrimonio philosophico valido) stützen (Vgl. Pius XII., Enz. Humani generis, 31 12. Aug. 1950: AAS 42 (1950) 571-575).
16 : ... Alumnen ... sodann sollen sie lernen, mit dem heiligen Thomas (von Aquin) als Meister (Doctor communis), die Heilsgeheimnisse in ihrer Ganzheit spekulativ tiefer zu durchdringen und ihren Zusammenhang zu verstehen, um sie, soweit möglich, zu erhellen.
C) Das stets gültige philosophische Erbe: Bernard Kälin, OSB, Lehrbuch der Philosophie, bearbeitet von Raphael Fäh OSB, Selbstverlag Benediktinerkolleg Sarnen 1957 (5. Auflage),
Bd 1 : Einführung in die Logik, Ontologie (Seinslehre-Metaphysik) Kosmologie, Psychologie, Kriteriologie (Erkenntnislehre), Theodizee (natürliche Gotteslehre) ; (Druckerlaubnis des Bischöflichen Ordinariates Chur vom 30.7.1957).
Bd 2 : Lehrbuch der Philosophie, umgearbeitet von Raphael Fäh OSB, Selbstverlag Benediktinerkolleg, Sarnen 19502 , Allgemeine Ethik, Besondere Ethik, Individualethik, Sozialethik (kulturelle Anthropologie) (Imprimatur Curiae, die 5.2.1945 Caminada Ep. Cur.).
D) II Vatikanum, Erklärung über die christliche Erziehung „Gravissimum educationis“ 28.10.1965, Nr 10 Gleicherweise widmet die Kirche den Hochschulen, insbesondere den Universitäten und Fakultäten, ihre angelegentliche Sorge. In der Tat ist sie bei denen, die ihr unterstehen, naturgemäß bestrebt, dass die einzelnen Disziplinen mit den ihnen eigenen Prinzipien, mit ihrer eigenen Methode und mit einer der wissenschaftlichen Forschung eigenen Freiheit so gepflegt werden, dass sich in ihnen die Erkenntnisse mehr und mehr vertiefen, die neuen Fragen und Forschungsergebnisse der voranschreitenden Zeit sorgfältige Beachtung finden und so tiefer erfaßt wird, wie Glaube und Vernunft sich in der einen Wahrheit treffen. Dabei dienen die Kirchenlehrer, besonders der heilige Thomas von Aquin, als Vorbilder (Paul VI., Ansprache vor dem Sechsten Internationalen Thomistischen Kongreß, 10. Sept. 1965: AAS 57 [1965] 788-792.). So soll gleichsam der christliche Geist bei dem gesamten Bemühen um die Förderung einer höheren Kultur öffentlich, stets und universell präsent sein. Die Studenten dieser Anstalten sollen zu Menschen herangebildet werden, die in ihrer Wissenschaft bestens bewandert, wichtigen Aufgaben im öffentlichen Leben gewachsen und Zeugen des Glaubens in der Welt sind (Vgl. Pius XII., Ansprache an die Professoren und Studenten der katholischen Hochschulen Frankreichs, 21. Sept. 1950: Discorsi e Radiomessaggi XII.,219-221; ders., Schreiben an den 22. Kongreß der "Pax Romana", 12. Aug. 1952: Discorsi e Radiomessaggi XIV,567-569; Johannes XXIII., Ansprache an den Verband katholischer Universitäten, 1. Apr. 1959: Discorsi, Messaggi, Colloqui I [Rom 1960] 226-229; Paul VI., Ansprache an den Akademischen Senat der katholischen Universität Mailand, 5. Apr. 1964: Encicliche e Discorsi di Paolo VI., II (Rom 1964) 438-443).
E) Paul VI., Ansprache an der päpstlichen Universität Gregoriana 12.3.1964: (entnommen: II. Vatik. „Optatam totius“ Nr. 16, Anmerkung 36)
„(Die Professoren) ... sollen mit Ehrerbietung die Stimme der Kirchenlehrer hören, unter denen der göttliche Aquinate einen hervorragenden Platz innehat; die Geisteskraft des engelgleichen Lehrers ist nämlich so gewaltig, seine LIEBE zur Wahrheit so aufrichtig und seine Weisheit bei den erforschenden, zu erklärenden und durch das Band der Einheit am passendsten zusammenfassenden höchsten Wahrheiten so groß, dass seine Lehre das wirksamste Mittel ist nicht nur für die sicher zu erstellenden Glaubensfundamente, sondern auch für den nützlichen und sicheren Empfang der Früchte eines gesunden Fortschritts„
F) Paul VI., Enzyklika „Mysterium fidei inefabillis“ über die Lehre und den Kult der Heiligsten EUCHARISTIE (3.9.1965) : Hierher paßt die ernste Mahnung des heiligen Augustinus über die verschiedene Art zu sprechen bei Philosophen und beim CHRISTEN: »Die Philosophen«, schreibt er, »sprechen freimütig, ohne Scheu, religiöse Menschen zu verletzen, über sehr schwer verständliche Dinge. Wir hingegen müssen eine festgelegte Ausdrucksweise befolgen, um zu vermeiden, dass ein zu freier Gebrauch der Worte eine gottlose Ansicht verursache auch über das, was sie bedeuten« (De Civit. DEI. X 23, Migne PL 41, 300).
67 Von den Anhängern der „Gott ist tot"-Bewegung, den „christlichen Atheisten", wie sie sich in den USA nennen, wird sogar diese Unverträglichkeit geleugnet. Es wird heute von Katholiken meist übersehen, dass diese (an sich auch mit dem Licht der natürlichen Vernunft) einsichtige Wahrheit, dass nämlich die göttliche Offenbarung viele natürlich erkennbare Wahrheiten notwendig voraussetzt, auch ein Dogma der Kirche ist, die lehrt, dass die Existenz Gottes mit dem Licht der natürlichen Vernunft sicher zu erkennen ist. VgI. „Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung“ 6.
„Die heilige Synode bekennt, „dass Gott, aller Dinge Ursprung und Ziel, mit dem natürlichen Licht der Vernunft aus den geschaffenen Dingen sicher erkannt werden kann" (vgl. Röm. 1, 20); sie lehrt, dass es seiner Offenbarung zuzuschreiben ist, „dass, was im Bereich des Göttlichen der menschlichen Vernunft an und für sich nicht unzugänglich ist, auch in der geenwärtigen Lage des Menschengeschlechtes von allen leicht, mit sicherer Gewißheit und ohne Beimischung von Irrtum erkannt werden kann."
Diese Erkenntnis setzt aber viele andere metaphysische Einsichten voraus; (dass es absolute Wahrheit gibt, das Wesen der Wahrheit, die Transzendenz der Erkenntnis, die Einsicht in intelligible Sachverhalte, das Widerspruchsprinzip, die Einsicht, dass nichts aus dem Nichts werden kann und dass alles Werdende, alles kontingente Seiende ein absolutes Sein voraussetzt, dass das, was uns im bewußten Erleben gegeben ist, keine Täuschung ist, keine Täuschung sein kann in dem Sinn etwa, dass es durch eine mechanische Kausalität hervorgerufen ist, usw. Diese dogmatische Lehre der Kirche geht also noch weit über die Feststellung hinaus, dass die Freiheit des Willens, die Absolutheit der Wahrheit, die Transzendenz der Erkenntnis usw. wesenhaft von der christlichen Offenbarung vorausgesetzt werden und dass ihre Leugnung mit der Lehre Christi unverträglich ist - nein, die Kirche lehrt sogar dogmatisch, dass diese Wahrheiten - unabhängig vom Glauben - mit dem Licht der natürlichen Vernunft mit Sicherheit erkannt werden können. VgI. auch „Die Kirche in der Welt von heute" 15. „Intelligentia enim non ad sola phaenomena coarctatur, sed realitatem intelligibilem cum vera certitudine adipisci valet, etiamsi, ex sequela peccati, ex parte obscuratur et debilitatur." „Die Vernunft ist nämlich nicht auf die bloßen Erscheinungen (phaenomena) eingeengt, sondern vermag intelligible (einsichtige) Wirklichkeit mit wahrer Sicherheit zu erreichen, wenn sie auch infolge der Sünde zum Teil verdunkelt und geschwächt ist." VgI. „Die Kirche in der Welt von heute", 14 „Itaque, animam spiritualem et immortalern in seipso agnoscens, non fallaci figmento illuditur, a physicis tantum et socialibus condicionibus fluente, sed e contra ipsam profundam rei veritatem attingit." „Wenn er daher die Geistigkeit und Unsterblichkeit seiner Seele bejaht, wird er nicht zum Opfer einer trügerischen Einbildung, die bloß von physischen und soziologischen Bedingungen herrührt, sondern er erreicht im Gegenteil die tiefe Wahrheit der Wirklichkeit." VgI. auch die in Kap. XII u. XXV zitierten Texte aus der Pastoralkonstitution „gaudium et spes" über die Objektivität sittlicher Normen, Gut und Böse, das Gewissen; vgl. bes. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, 16. -Anm. d Übers.
68 vgl. Fußnote 1 (dieses Kapitels). - Anm. d. Übers.
69 Vgl. Eugene Fontinell's Vorschläge in der bekannten amerikanischen Zeitschrift Cross Currents, Dezember 1965.
70 Vgl. dazu auch die in Kap. IV. S. 58 zitierten Stellen aus den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils. Anm. d. Übers.
71 Ein solcher Versuch einer „neuen Theologie" wird eindeutig von Leslie Dewart in seinem Buch „Die Zukunft des Glaubens" unternommen, in dem er u. a. sagt: „Der christliche Theismus könnte in der Zukunft dazu kommen, Gott nicht mehr als eine Person oder gar eine Dreiheit von Personen aufzufassen."
72 Vgl. auch: „Christliche Ethik“ Prolegomena, (Patmos, Düsseldorf 1959); „Sinn philosophischen Fragens und Erkennens", (P. Hanstein, Bonn 1950).
73 Vgl. Kap. III.
74 Vgl. „Christliche Ethik“, Kap. 3, 7, 8, 9, 15. - Anm. d. Übers.
75 VgI. „What is philosophy"?; „Sinn philosophischen Fragens und Erkennens" IV, 2.
76 VgI. „Christliche Ethik“, Kap. 17-19; Kap. 27.
77 Ich habe die Aufgabe des Philosophen heute bezüglich der Ethik in einem Vortrag ausgeführt, den ich an der Catholic University of America gehalten habe. Lassen Sie mich zitieren: „Manche Gefahren kommen daher, dass man wie Prokrustes handelt und den Menschen, die nicht in das Bett passen, das man für sie gemacht hat, die Füße abschneidet. Eine solche Vorgehensweise ahmen diejenigen nach, die begieriger sind, ein geschlossenes System zu präsentieren, als der Wirklichkeit gerecht zu werden, die glauben, dass Deduktion eine sicherere Erkenntnis ist als evidente Einsicht, und die sich weigern, eine Wirklichkeit zuzugeben, solange sie noch nicht ihre Beziehung zu andern Wahrheiten erklären können. Sie vergessen das wunderbare Wort Kardinal Newmans, der sagte, dass zehntausend Schwierigkeiten keinen einzigen Zweifel rechtfertigen und sie weigern sich, das zuzugeben, was Gabriel Marcel „die Geheimnisse des Seins" nennt. Mehr noch, wenn die Ideen eines großen Philosophen eine Schule geformt und den Charakter eines geschlossenen Systems angenommen haben, das wie ein Lehrbuch vorgetragen werden kann, so werden die Glieder dieser Schule nicht einmal dem Meister gerecht, dessen Jünger zu sein sie vorgeben. Auf Grund ihrer Liebe zum System als solchem sind sie geneigt, manche bedeutende Einsichten ihres Meisters zu übersehen, die in dieses System nicht hineinpassen." „Wir sollten lieber. ..die traditionelle Ethik revidieren, indem wir sie mit der Wirklichkeit konfrontieren; mit der Welt der sittlichen Gegebenheiten, die uns im Leben, in der Heiligen Schrift, und in den Heiligen dargeboten werden. Ein neues Überdenken aller Antworten in der Ethik ist erforderlich und das kann nur in einem unmittelbaren Kontakt mit der sittlichen Wirklichkeit und mit der Fülle der sittlichen Werte und Unwerte geschehen. Ein solcher Kontakt wird es möglich machen, dass man in vielen Fällen sieht, wie die Wahrheiten, die von der traditionellen Ethik erkannt sind, nach einer weiteren Differenzierung verlangen, nach einer Vervollständigung und Bereicherung. Vor allem wird er die Notwendigkeit sichtbar werden lassen, zu einer vollen prise de conscience vieler Wirklichkeiten zu kommen, die von der traditionellen Philosophie stillschweigend vorausgesetzt, jedoch nicht explizit anerkannt und ausdrücklich zugegeben werden. In einer solchen Refiexion würde die volle philosophische Bedeutung einer Wirklichkeit gewürdigt werden, die im unmittelbaren, lebendigen Kontakt mit der Wirklichkeit bekannt ist. Solcherart war zum Beispiel die ausdrückliche Anerkennung vier verschiedener Arten von Ursachen durch Aristoteles. Eine solche neue, kritische Untersuchung der Wirklichkeit schließt auch die Entfernung aller stillschweigenden, aber niemals gegebenen Voraussetzungen ein, die oft den Weg zu einer adäquaten Erkenntnis des wirklichen Wesens der Sittlichkeit versperren... In einem existentiellen Verhältnis zur Wirklichkeit, das, wie Gabriel Marcel so treffend sagt, der Erfahrung ihr ontologisches Gewicht zurückgibt, ist es unmöglich, die unbestreitbare Wirklichkeit des Wertes zu übersehen, auf die man sich ununterbrochen bezieht, die man unweigerlich voraussetzt, die zu den letzten Wirklichkeiten gehört, wie Sein, Wahrheit und Erkenntnis, und auf die man sich in demselben Atemzug beruft, in dem man sie zu leugnen sucht. Das datum (die Gegebenheit) des Wertes wird von der Philosophie aller Epochen vorausgesetzt. Doch wie dies oft geschieht, werden die undiskutierbar und offensichtlich vorausgesetzten Wirklichkeiten nicht ausgesprochen in einer philosophischen prise de conscience erfasst und man kann nur beiläufige Winke finden, die ihre Existenz andeuten. Weist nicht Aristoteles schon klar auf den Wert als auf eine vom objektiven Gut für die Person verschiedene Bedeutsamkeitskategorie hin, wenn er frägt: „Lieben die Menschen also das Gute oder was für sie gut ist"? (Nik. Ethik, 2, 1155 b. 21). Bezieht er sich nicht klar auf den Wert, oder das in sich selber Bedeutsame, wenn er bei vielen Gelegenheiten eine Haltung edler und gottähnlicher nennt als eine andere? ........ Darüber hinaus enthält das datum des Wertes nicht den leisesten Gegensatz zur traditionellen Philosophie. Seine klare Erkenntnis bedeutet nur den normalen Vorgang einer weiteren Differenzierung des Begriffes des bonum und eine Würdigung von etwas, was die traditionelle Philosophie beständig voraussetzt, ohne es allerdings philosophisch zu erfassen. „Indem er eine Idee, die von Anselm nahegelegt wird, entwickelt, weist Duns Scotus darauf hin, dass es im Menschen eine zweite edlere Affektion (Bewegung) oder Neigung gibt, der gemäß er das würdigt, was gut und vollkommen um seiner selbst willen ist, und an dem Gefallen findet, was wertvoll und schön ist, selbst wo dies keine Beziehung zu ihm selbst hat... (Von Father Allan Wolter, zitiert aus Christian Philosophie and Religious Renewal, edited by George F. McLean, O. M. I., The Catholic University of America Press. S. 4-8). Aber außer der positiven Sendung des katholischen Philosophen heute gibt es eine andere, die ihm die heutige Zeit auferlegt. In dem Sumpf der ideologischen und philosophischen Konfusionen, die heutigentages herrschen, ist es ein Gebot der Stunde, dass der katholische Philosoph weitverbreitete philosophische Mythen entlarvt, willkürliche Konstruktionen zerstört und moderne Pseudo-Philosophien widerlegt." VgI. dazu auch „Christliche Ethik“, beg. Kap. III. 78 Die Haltung, die der große Kardinal Saliege, Erzbischof von Toulouse, gegenüber dem Vichy-Regime einnahm, ist auch ein hervorstechendes Beispiel für das Verkünden des Wortes Gottes wo es „unzeitgemäß" (importune) ist.
79 Vgl. Kap. XXII.
80 Das war auch der Grund für das nicht nur berechtigte, sondern absolut gebotene Schweigen Papst Pius XII. in diesem Augenblick.
81 Vgl. dazu besonders die Ausführung der Grunderfordernisse und Arten des Dialogs in „Ecclesiam Suam“. Anm. d. Übers.
82 Dies steht jedoch in krassem Gegensatz zum Geist des Konzils und zum Missionsauftrag der Kirche, zu dem es wesenhaft gehört, dass die volle Wahrheit der Offenbarung Christi ohne Abstriche verkündet wird - und diese Wahrheit fordert unsere volle Bekehrung. VgI. etwa „Dogmatische Konstitution über die Kirche“, 8 „Haec est unica Christi Ecclesia, ... quam Salvator noster... in perpetuum ut „columnam et ftrmamentum veritatis" erexit. (1 TIm. 3, 15). „Dies ist die einzige Kirche Christi. ... die unser Erlöser... für immer als „Säule und Feste der Wahrheit" errichtet hat. (Tim. 3, 15)" und die zwei Grundthemen der Mission, a. a. O. II, 16, 17. Nachdem gesagt wird, dass Gott in seiner Barmherzigkeit durch die Erlösungstat Christi auch alle diejenigen retten wird, die ohne eigene Schuld Ihn nicht in der einen, wahren Kirche anbeten, die „jedoch nicht ohne die Hilfe der göttlichen Gnade das rechte Leben zu erreichen suchen" (16), heißt es: „At saepius homines a Maligno decepti, evanuerunt in cogitationibus suis, et commutaverunt veritatem Dei in mendacium, servientes creaturae magis quam Creatori (Rom. 1, 21 u. 25) vel sine Deo viventes ac morientes in hoc munda, extremae desperationi exponuntur. Quapropter ad gloriam Dei, et salutem istorum omnium promovendam, Ecclesia memor mandati Domini dicentis: „Praedicate Evangelium omni creaturae" (Mk. 16, 16) missiones fovere sedulo curat." „Sicut enim Filius missus est a Patre, et Ipse Apostolos misit... dicens: „Euntes ergo docete affines gentes, baptizantes eos in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti, docentes eos servare omnia quaecumque mandavi vobis " Quod solemne Christi mandatum annuntiandi veritatem salutarem Ecclesia ab Apostolis recepit adimplendum usque ad ultimum terrae ...Unde sua facit verba Apostoli: "Vae ... mihi est si non evangelizavero"! Praedicando Evangelium, Ecclesia audientes ad fldem confessionemque fldei allicit, ad baptismum disponit, a servitute erroris eripit, eosque Christo incorporat, ut per caritatem in Illum usque in plenitudinem crescant Ita autem simul orat et laborat Ecclesia, ut in Populum Dei, Corpus Domini et Templum Spiritus Sancti, totius mundi transeat plenitudo, et in Christo, omnium Capite, reddatur universorum Creatori ac Patri omnis honor et gloria." „Doch öfter wurden die Menschen vom Bösen getäuscht, sie wurden eitel in ihren Gedanken, vertauschten die Wahrheit Gottes mit der Lüge und dienten dem Geschöpf mehr als dem Schöpfer (vgl. Röm. 1, 21 und 25) oder sind, ohne Gott in dieser Welt lebend und sterbend, der äußersten Verzweiflung ausgesetzt. Daher ist die Kirche eifrig bestrebt, zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Heils all dieser Menschen die Mission zu fördern, eingedenk des Befehls des Herrn, der gesagt hat: „Predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung" (Mk 16, 16). Wie nämlich der Sohn vom Vater gesandt ist, so hat Er selbst die Apostel gesandt... mit den Worten: „Gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe. ..." Diesen feierlichen Auftrag Christi zur Verkündigung der Heilswahrheit hat die Kirche von den Aposteln erhalten und muss ihn erfüllen bis zu den Grenzen der Erde. ... Daher macht sie sich die Worte des Apostels zu eigen: „Weh... mir, wenn ich die Frohbotschaft nicht verkünde"! (Kor. 9, 16) ... In der Verkündigung des Evangeliums sucht die Kirche die Hörer zum Glauben und zum Bekenntnis des Glaubens zu bringen, bereitet sie für die Taufe vor, befreit sie aus der Knechtschaft des Irrtums und gliedert sie Christus ein, damit sie durch die Liebe bis zur Fülle in Ihn hineinwachsen. ... So aber betet und arbeitet die Kirche zu gleicher Zeit, dass die Fülle der ganzen Welt in das Volk Gottes eingehe, in den Leib des Herrn und Tempel des Heiligen Geistes, und dass in Christus, dem Haupte aller, jegliche Ehre und Herrlichkeit dem Schöpfer und Vater des Alls gegeben werde." Die Texte aus dem Konzil, die die beiden Dogmen von der Heilsnotwendigkeit der Kirche, des Glaubens und der Taufe - und dem allgemeinen Heilswillen Gottes in ihrer Verbindung zeigen und damit den letzten Ernst, mit dem wir alle verpflichtet sind, die Wahrheit zu suchen und uns zu bekehren, siehe im Kapitel „Freiheit und Willkür." Anm. d. Übers.
83 Es ist in Wirklichkeit ziemlich gefährlich zu glauben, man könne gerade die Elemente der Gegenwart bestimmen, die für die führenden intellektuellen Strömungen der Zukunft bezeichnend sein werden. Es hat manchmal Menschen gegeben, die eine quasi-prophetische Vision von zukünftigen Gefahren und Strömungen hatten - z. B. Kierkegaard oder Dostojewski (besonders in den „Dämonen") - aber bei der Behauptung, fähig zu sein, das geistige Klima der Zukunft vorhersehen zu können, sollten wir immer bedenken, dass wir auf einem sehr unsicheren Boden stehen. Vgl. auch Kap. XXIII.
84 So schreibt der heilige Paulus an Timotheus (2 Tim. 3, 4) „Wisse, dass in den letzten Tagen schlimme Zeiten hereinbrechen. Da werden die Menschen selbstsüchtig sein; geldgierig, prahlerisch, hochmütig, schmähsüchtig; den Eltern ungehorsam, undankbar, gottlos; lieblos, treulos, verleumderisch; zügellos, grausam, gemein; verräterisch, frech und aufgeblasen. Sie werden die Lust mehr lieben als Gott. Sie geben sich wohl den Schein der Frömmigkeit, lassen aber deren Kraft vermissen. ... Zu ihnen gehören jene, ... die stets lernbegierig sind und doch nie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen können. Wie Jannes und Mambres dem Moses entgegengetreten sind, so stellen auch diese sich der Wahrheit entgegen. ... Ich rechne schon mit der Hingabe meines Lebens. Die Zeit meiner Auflösung steht bevor. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Nun liegt für mich die Krone der Gerechtigkeit bereit. Der Herr, der gerechte Richter, wird sie mir an jenem Tage geben, und nicht bloß mir, sondern allen, die sich auf seine Wiederkunft freuen." Vor allem offenbaren aber die Worte, die Christus selbst über das Ende der Welt spricht, den Abgrund, der christliche Hoffnung von jeder Form von Optimismus trennt. VgI. dazu den Aufsatz über Teilhard de Chardin, Anhang dieses Buches. Anm. d. Übers.
85 Vgl. Kap. XVII; auch Kap. XI, XVI.
86 Sicherlich können diese gegenwärtigen Aktionen auch von einer echten, übernatürlichen caritas motiviert sein, wie z. B. das Werk von Dr. Walsh, von dem SS Hope und Dr. Dooley in Laos oder das Werk Pater Werenfried van Straatens: Sie erhalten dann entsprechend ihrer höheren Motivierung einen unvergleichlich höheren Wert. Doch dies kann nicht als für unsere Zeit charakteristisch angesehen werden. Solche Taten sind vielmehr der Ausdruck einer christlichen caritas, die wir in allen Jahrhunderten der christlichen Ära finden. Die Möglichkeit allerdings, die Leiden in einem großen Maßstab zu erleichtern, ist dem medizinischen und technischen Fortschritt zu verdanken und deshalb für unsere Zeit charakteristisch.
87 Wir denken hier natürlich nicht an die vielen gesetzlichen Formen des Schutzes der Armen, der Kranken und der alten Menschen; dies ist etwas absolut Positives und gebieterisch Gefordertes.
88 VgI. „Christliche Ethik“, Kap. 17, 18.
89 VgI. Max Müller „Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart." Heidelberg 1964, etwa S. 34 ff: „Das geschichtliche Bewußtsein verlangt, dass wenn es eine Geschichte des Seins, des Wesens und der Ordnungen und nicht nur des Seienden, des Faktums und des Geordneten evtl. gibt, dass auch diese Geschichte „erfahren" werde, wenn auch in einer neuartigen und erst zu bestimmenden Erfahrungsweise. .." „So führt sein (Heideggers) Denken notwendig zur Frage, ob es nicht einen Wesenswandel gäbe... einen Wandel des „Sinnes" selbst von Religion, Kunst, Politik, Wissenschaft, Sittlichkeit und Recht... die Geschichte des Seins als Wesensgeschichte ..." vgl. a. a. O., S. 144 ff; auch S. 148: „Wir stehen... in einem geschichtlichen Advent. Wenn dem nicht so wäre, so wäre diese ganze Besinnung, die wir hier durchführen, nicht möglich. Auch sie ist zeitgeschichtlich bedingt." Obwohl eine derartige philosophische Position den Namen „historischer Relativismus" heftig ablehnt, ist sie der Sache nach durchaus nicht von ihm verschieden. Das hat R. Lauth in „Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit" (München 1966) nachgewiesen in einer Widerlegung des historischen Relativismus, die von einer anschließenden Begründung aus dem System Fichtes unabhängig ist, und ihre volle Gültigkeit behält, auch wenn man diese ablehnt.
90 VgI. z. B. M. Heidegger „ein und Zeit" 44, c „Wahrheit ,gibt' es nur, sofern und solange Dasein (= Mensch) ist.. Die Gesetze Newtons wurden durch Newton wahr... Dass es ewige Wahrheiten gibt, wird erst dann zureichend bewiesen sein, wenn der Nachweis gelungen ist, dass in alle Ewigkeit Dasein war und sein wird... Wir setzen sie (die Wahrheit) nicht voraus als etwas ,außer' oder ,über uns', zu dem wir uns neben anderen, Werten' auch verhalten... Dieses im Sein des Daseins (= Menschen!) liegende ,Voraussetzen' verhält sich nicht zu nichtdaseinsmäßigem Seienden, das es überdies noch gibt, sondern einzig zu ihm selbst. Die vorausgesetzte Wahrheit, bzw. das ,es gibt', womit ihr Sein bestimmt sein soll, hat die Seinsart, bzw. den Seinssinn des Daseins selbst. Die Wahrheitsvoraussetzung müssen wir ,machen', weil sie mit dem Sein des ,wir' schon gemacht ist." „Sofern er (der Skeptiker) ist und sich in diesem Sein verstanden hat, hat er in der Verzweiflung des Selbstmords das Dasein und damit die Wahrheit ausgelöscht." ... usw VgI. vor allem M. Heidegger „Vom Wesen der Wahrheit" und „Nietzsche" (I, 1).
91 Diese Evolutionstheorie ist außerdem noch überaus doppeldeutig. Was mit naturwissenschaftlichen Methoden gezeigt werden könnte, ist höchstens, dass es im Reich des Organischen einen kontinuierlichen Wachstumsvorgang von niedrigeren zu höheren Formen gibt, ohne dass Entwicklungssprünge stattfinden. Was von Darwin und den „Evolutionisten" aber übersehen wird, ist die Tatsache, dass ein solcher kontinuierlicher Entwicklungsprozeß im Reich des Organischen auch nicht das Geringste für die von ihnen damit verbundene These besagen würde, dass niedrigere Formen in einer immanenten Entwicklung höhere „hervorbringen" könnten: diese darwinistische These ist vielmehr rein philosophischer Art und ein Irrtum, da jedes materielle Sein und seine Veränderung wesenhaft kontingent und determiniert ist und das absolute Sein Gottes als seine Ursache voraussetzt. Ohne sie zu unterscheiden, verbindet die Evolutionstheorie also zwei voneinander völlig verschiedene Thesen. Die erste ist eine naturwissenschaftliche Hypothese, die annehmbar ist, (solange es sich nicht um wesensverschiedene Wirklichkeiten handelt, wie organische Prozesse - und Seele, nichtpersonales Sein - und Personen, zwischen denen es niemals kontinuierliche „Übergänge" geben kann). Die zweite These ist ein rein philosophischer Irrtum eines Immanentismus und Materialismus. Vgl. Kap. IV, S. 43 ff. Vgl. dazu den Anhang über Teilhard de Chardin. - Anm. d. Übers.
92 Vgl. „Christliche Ethik“ Kap. 17.
93 Ausdruck von E. Gilson. S. Anhang über, Teilhard de Chardin'.
94 „Die Erniedrigung des Menschen" Gabriel Marcel. Verlag Josef Knecht, Frankfurt/Main.
95 Unter der Transzendenz des Menschen ist hier zunächst die Transzendenz seiner Erkenntnis verstanden, d. h. seine Fähigkeit, über sich selbst in der Erkenntnis hinauszuschreiten und Seiendes so zu erkennen, wie es objektiv, unabhängig vom erkennenden Subjekt, in sich selbst ist. (Vgl. D. von Hildebrand „Sinn philosophischen Fragens und Erkennens", Kap. I). Ferner ist unter Transzendenz des Menschen hier eine ganz neue Dimension dieses ,über sich selbst Hinausschreitens' verstanden, nämlich die Fähigkeit des Menschen, aus dem Gefängnis eines rein immanenten Strebens - nach eigener Befriedigung, eigenem Glück, nach Entfaltung seiner eigenen Entelechie, seiner Fähigkeiten, der eigenen Persönlichkeit - herausbrechen und auf Güter um ihrer in sich selbst ruhenden Bedeutsamkeit willen antworten zu können. Der Mensch kann auf Kunstwerke antworten um des Wertes willen, den sie in sich selbst besitzen, er kann andere Personen lieben auf Grund der Kostbarkeit, die ihrem Wesen in sich selbst eigen ist. (Diese Dimension der Transzendenz, die besonders allen sittlichen Werten eigen ist, hat Dietrich v. Hildebrand vor allem in „Christliche Ethik“, Kap. 3 und 17, „Die Wertantwort", klar herausgearbeitet.) Die Transzendenz des Menschen schließt damit aber auch seine Freiheit ein, seine Nichtdeterminiertheit von physischen oder psychologischen Ursachen und damit seine Fähigkeit, gut oder böse zu sein. (Vgl. „Christliche Ethik“, Kap. 15; Kap. 20-26.) Da der Mensch also verantwortlich ist und sittlich gut, aber auch böse und schuldig sein kann, leuchtet in Lohn und Strafe, die dem Menschen in diesem Leben nicht zuteil werden, eine neue Dimension der Transzendenz auf - ein Leben nach dem Tode. (Vgl. „Christliche Ethik“, Kap. 15; „Menschheit am Scheidewege": Kap. „Zum Wesen der Strafe", „Zur christlichen Idee des himmlischen Lohnes", „über die Unsterblichkeit der Seele".) Die Transzendenz des Menschen bedeutet also im tiefsten Sinn des Wortes seine Berufung zum ewigen Leben – das wiederum die Existenz und Transzendenz Gottes voraussetzt, d. h. einerseits das objektive, von unserem Erkennen und unserer Existenz unabhängige Sein Gottes, anderseits die Ewigkeit, Personalität und Unwandelbarkeit Gottes, die einschließt, dass Gott zwar die ganze Welt, alles kontingente Seiende, alle Menschen und Engel geschaffen hat, aber selbst von ihnen ontologisch absolut verschieden ist. Gott ist zwar in jedem Geschöpf gegenwärtig, insofern er es in jedem Augenblick im Sein erhält, aber sein Sein ist von dem der ganzen Schöpfung und damit von der ganzen Geschichte verschieden und unabhängig. Gott ist also nicht der Schöpfung immanent, wie jeder Pantheismus es lehrt, sondern transzendent, wie der heilige Augustinus es ausdrückt: „Du machst dies alles, bist aber nichts davon. „Tu haec omnia facis, nec fis." „De civitate Dei" IX, x. Anm. d. Übers.
96 VgI. dazu „Teilhard de Chardins neue Religion" Anhang
97 VgI. „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute", „Gaudium et spes", 4. „Tot implexis condicionibus affecti, plurimi coaeves nostri impediuntur quominus valores perennes vere dignoscant et simul cum noviter inventis rite componant": „Betroffen von einer so komplexen Situation, werden viele unserer Zeitgenossen gehindert, die ewigen Werte richtig zu erkennen und sie zugleich richtig mit dem, was neu erfunden wird, in Einklang zu bringen."
98 VgI. dazu „Christliche Ethik“, Kap. 15, S. 217: „Das ,Seid darum vollkommen wie euer himmlischer Vater vollkommen ist' ... bezieht sich eindeutig auf das Herz und die Quelle alles sittlich Guten, auf Gottes unendliche Güte... Dieses Vollkommensein wie unser himmlischer Vater zu interpretieren, als bedeute es eine Teilhabe an der ontischen Gutheit Gottes, hieße die Worte unseres Herrn zu dem fürchterlichen Versprechen Satans verkehren... „Ihr werdet sein wie Götter" (d. h. wie Gott selbst.)" Vgl. dazu auch Kap. XVIII dieses Buches, Schluß. - Anm. d. übers.
99 „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute", 10.
100 „Dogmatische Konstitution über die Kirche“, 7. Dieses Ziel kann aber niemand ohne seine freie Mitwirkung erlangen; (VgI. a. a. O. 48).
101 Vgl. Kap. IV, „Wissenschaft und Depositum fidei".
102 Vgl. Wilhelm Röpke, „Wirrnis und Wahrheit" Einleitung S. 11 ff. „Der vorliegende Band soll ein... Zeugnis dafür sein, dass ich ... mit Entrüstung und Ungeduld nicht gespart habe, sooft mir solcher rückgratloser Intellektualismus - auch solcher in christlichem Korsett, - begegnet ist. Da ich ihn als höchst verderblich, ja als das eigentliche Grundübel unserer Zeit ansehe, regen sich in mir die stärksten Kräfte des Widerstandes und der Gegenwirkung, wo immer ich ihn am Werk sehe. Ein Mann wie... Schumpeter - corruptio optimi pessima... - ist ein typischer Repräsentant eines schließlich zum Zynismus führenden Relativismus und Positivismus, der sich über den Bereich aller Wissenschaften ausgebreitet hat, aber besondere Verheerungen innerhalb der Sozialwissenschaften anrichtet. Wir begegnen hier einer Verengung des Horizontes des Intellektuellen, die seinem Wirken den eigentlichen Sinn raubt, einer Dehumanisierung, die in den Geisteswissenschaften am auffallendsten und beunruhigendsten ist, weil sie davor am meisten geschützt sein sollten. Hier, wo der Mensch als geistigmoralisches Wesen im Mittelpunkt steht, muss es geradezu verhängnisvolle Wirkungen haben, wenn diese Mitte eliminiert wird, indem ein technisch-mechanisches Denken, für das die Naturwissenschaften als beneidetes Muster gelten, die Oberhand gewinnt, und am verderblichsten müssen diese Wirkungen dann sein, wenn unter den Geisteswissenschaften gerade die Sozialwissenschaften, einer solchen Entwertung zum Opfer fallen. In dieser Entwicklung haben wir eine wahre geistig-moralische Krankheit unseres Jahrhunderts zu erblicken. Wir verstehen nicht die ungeheuren Probleme unserer Zeit und ihre – von Intellektuellen der hier geschilderten Art natürlich eifrig geleugnete - Kulturkrise, wenn wir den Irrweg vergessen, den die Wissenschaft zum Szientismus und Intellektualismus genommen hat."
103 Hier vor allem im Sinne empirischer Wissenschaften verstanden, (manchmal auch im Sinne von Mathematik). Wenn also ,Wissenschaft' hier der Philosophie gegenübergestellt wird, soll damit keineswegs ausgesagt werden, der Erkenntniswert, die objektive Gültigkeit und Gewißheit philosophischer Erkenntnis sei weniger groß als die der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Ganz im Gegenteil: Vom Standpunkt der Objektivität und Gewißheit der Erkenntnis aus ist die Philosophie die Königin der Wissenschaften. Denn ihr Gegenstand sind nicht nur empirische Fakten oder zufällige Wesensstrukturen, sondern einerseits unbezweifelbare Realerkenntnisse (des erkennenden Subjekts, Gottes, in mittelbarer Weise auch der Außenwelt) - und anderseits intelligible, notwendige Wesenheiten, die in sich über jede Erfindung und jeden Zufall erhaben sind und die zugleich die ewige Grundlage alles konkreten, zeitlichen Seienden bilden. Der Hauptgegenstand der Pilosophie sind also wesensnotwendige Sachverhalte, die mit absoluter Gewißheit erkannt werden können. Diese Ureinsichten Platons, des heiligen Augustinus und Descartes' gegen die Kantische Vernunftkritik und jeden Positivismus oder Psychologismus verteidigt und neu begründet zu haben, war das große Verdienst des frühen Husserl, Max Schelers, doch wohl noch klarer Adolph Reinachs (vgl. etwa „Was ist Phänomenologie?"; vor allem „Zur Phänomologie des Rechts – „Die apriorischen Grundlagen des Bürgerlichen Rechts", München 1953, beides Kösel-Verlag). Ihre durch viele entscheidende neue Erkenntnisse und Unterscheidungen innerhalb des ,Apriori-Problems' vertiefte philosophische Herausarbeitung fanden diese Einsichten in den beiden erkenntnistheoretischen Hauptwerken Dietrich von Hildebrands „Sinn philosophischen Fragens und Erkennens" (Hanstein, Bonn) und „What is philosophy"?, das demnächst in deutscher Sprache erscheinen soll. Anm. d. Übers.
104 VgI. „Christliche Ethik“ Kap. 17 und „Über das Herz“ II. Teil Kap. 2.
105 Vgl. dazu Prolegomena in „Christliche Ethik“, „Reinheit und Jungfräulichkeit“ I, Kap. I, 2.
106 VgI. „Christliche Ethik“ Kap. 3. Dort unterscheidet der Autor zwischen der in sich ruhenden Bedeutsamkeit eines Seienden, die er Wert nennt und dem objektiven Gut für die Person, (als verschieden vom bloß subjektiv Befriedigenden). Anm. d. übers.
107 VgI. dazu auch „Dekret über die Religionsfreiheit" 3: „ ... die höchste Norm des menschlichen Lebens (ist) das göttliche Gesetz selber..., das ewige, objektive und universale, durch das Gott nach dem Ratschluß Seiner Weisheit und Liebe die ganze Welt und die Wege der Menschengemeinschaft ordnet, leitet und regiert. Gott macht den Menschen Seines eigenen Gesetzes teilhaftig, sodass der Mensch unter der sanften Führung der göttlichen Vorsehung die unveränderliche (incommutabilem) Wahrheit mehr und mehr zu erkennen vermag. Deshalb hat ein jeder die Pflicht und also auch das Recht, die Wahrheit im Bereich der Religion zu suchen. ."
108 VgI. dazu „Dekret über die Religionsfreiheit", 2. „Weil die Menschen Personen sind, d. h. mit Vernunft und freiem Willen begabt und damit zu persönlicher Verantwortung erhoben, werden alle - ihrer Würde gemäß - von ihrem eigenen Wesen gedrängt (impelluntur) und zugleich durch eine moralische Pflicht gehalten, die Wahrheit zu suchen, vor allem jene Wahrheit, welche die Religion betrifft. Sie sind auch dazu verpflichtet, an der erkannten Wahrheit festzuhalten und ihr ganzes Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen. Der Mensch vermag aber dieser Verpflichtung auf die seinem eigenen Wesen entsprechende Weise nicht nachzukommen, wenn er nicht im Genuß der inneren, psychologischen Freiheit und zugleich der Freiheit von äußerem Zwang steht." Im Lichte des Glaubens leuchtet diese an unsere Freiheit gerichtete Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen und ihr entsprechend zu leben, in ihrem letzten, feierlichen Ernst auf. Ohne ihr mit seinem freien Willen zu entsprechen, kann kein Mensch das Heil erlangen. (Vgl. Dekret über die Religionsfreiheit 11). Obwohl Gott alle Menschen retten will und jedem Menschen die Möglichkeit des Heils anbietet (vgl. Dogmatische Kontitution über die Kirche, 16), zwingt Gott doch keinen Menschen durch Seine Gnade und so kann kein Mensch ohne freie Mitwirkung gerettet werden. Vgl. Dogmatische Konstitution. über die Kirche (11) 16: „Wer nämllch das Evangelium ChristI und Seine Klrche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen (sincero corde) sucht, Seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen. .." „da .. Er als Erlöser will, dass alle Menschen das Heil erlangen" (vgl. 1. Tim. 2, 4)." A.a.O., 2, 14: „Der eine Christus ist Mittler und Weg zum Heil, der in Seinem Leib, der Kirche, uns gegenwärtig wird; indem Er aber selbst mit ausdrücklichen Worten die Notwendigkeit des Glaubens und der Taufe betont hat (vgl. Mk. 16, 16; Jo. 3, 5), hat er zugleich die Notwendigkeit der Kirche, in die die Menschen durch die Taufe wie durch eine Tür eintreten, bekräftigt. Darum können jene Menschen nicht gerettet werden, die um die Katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht verharren wollen. Nicht gerettet wird aber (auch), wer, obwohl der Kirche eingegliedert, in der Liebe nicht verharrt und im Schoß der Kirche zwar „dem Leibe", nicht aber „dem Herzen" nach verbleibt." - Anm. d. Übers.
109 Vgl. dazu die ausführliche Behandlung der Freiheit in „Christliche Ethik“ II. Teil, II. Kap. 20-26. - Anm. d. Übers.
110 Vgl. „Christliche Ethik“, II. Teil I, Kap. 19, S. 316 ff. Dort macht Dietrich von Hildebrand den grundlegenden Unterschied zwischen sittlichen Werten (wie Großmut, Reinheit, Wahrhaftigkeit), deren Träger wesenhaft Akte oder Haltungen des Subjekts sind und sittlich bedeutsamen Werten, (wie die Würde der menschlichen Person), deren Träger Wirklichkeiten sind, die auf der Objektseite liegen und von denen der sittlich verpflichtende Ruf ausgeht. - Anm. d. Übers.
111 Der Mensch darf deshalb weder mit Gewalt zum Guten gezwungen, noch von ihm abgehalten werden. Vgl. dazu auch Dekret über die Religionsfreiheit 10: „... der Glaubensakt ist seiner Natur nach ein freier Akt, da der Mensch, von seinem Erlöser Christus losgekauft und zur Annahme an Sohnes statt durch Jesus berufen, dem sich offenbarenden Gott nicht anhangen könnte, wenn er nicht, indem der Vater ihn zieht, (vgl. Jo. 6, 44) Gott einen vernunftgemäßen (rationabile) und freien Glaubensgehorsam leisten würde. Es entspricht also völlig der Wesensart des Glaubens, dass in religiösen Dingen jede Art von Zwang von Seiten der Menschen ausgeschlossen ist."
112 Vgl. dazu „Christliche Ethik“ Kap. 23, 25.
113 VgI. „Umgestaltung in Christus" Kap. 2.
114 VgI. „Christliche Ethik“ Kap. 19, 28.
115 Diese grundlegenden, erkenntnistheoretischen Probleme hat Dietrich von Hildebrand in früheren Werken ausführlich behandelt. (VgI. „Sinn philosophischen Fragens und Erkennens" Kap. IV, V. Noch viel breiter in „What is philosophy?“ Kap. V, VII. „Christliche Ethik“ Prolegomena).
116 VgI. „Die Kirche in der Welt von heute" 10: „Attamen, coram hodierna mundi evolutione, in dies numeriosiores flunt qui quaestiohes maxime fundamentale, vel ponunt vel nova acuitate persentiunt: quid est homo? Quinam est sensus doloris, mali, mortis, quae, quamquam tantus progressus factus est, subsistere pergunt? Ad quid victoriae illae tanto pretio acquisitae? Quid societati homo afferre, quid ab ea exspectare potest? Quid post vitam hanc terrestrem subsequetur? Credit autem Ecclesia Christum, pro omnibus mortuum et resuscitatum (cf. 11 Cor. 5, 15) homini lucem et vires per Spiritum suum praebere ut ille summae suae vocationi respondere possit; nec aliud nomen sub coelum datum esse hominibus, in qua oporteat eos salvos fieri. Similiter credit clavem, centrum et finem totius humanae historiae in Domino ac Magistro suo inveniri. Affirmat insuper Ecclesia omnibus mutationibus multa subesse quae non mutantur, quaeque fundamenturn suum ultimum in Christo habent, qui est heri, hodie, Ipse et in saecula. (Cf. Hebr. 13, 8). Sub lumine ergo Christi, Imaginis Dei invisibilis, Primogeniti omnis creaturae (Cf. Col. 1, 19), Concilium, ad mysterium hominis illustrandum atque ad cooperandum in solutionem praecipuarum quaestionum nostri temporis inveniendam, omnes alloqui intendit." „Dennoch wächst angesichts der heutigen Weltentwicklung die Zahl derer von Tag zu Tag, die die letzten Grundfragen stellen oder mit neuer Schärfe spüren: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Leidens, des Bösen, des Todes - alles Dinge, die trotz solchen Fortschritts noch immer weiterbestehen? Wozu diese Siege, wenn sie so teuer erkauft werden mussten? Was kann der Mensch der Gesellschaft geben, was von ihr erwarten? Was kommt nach diesem irdischen Leben? Die Kirche aber glaubt: Christus, der für alle starb und auferstand (vgl. II Cor. 5,15), schenkt dem Menschen Licht und Kraft durch Seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung nachkommen kann; es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem sie gerettet werden könnten. Sie glaubt ferner, in ihrem Herrn und Meister den Schlüssel, den Mittelpunkt und das Ziel der ganzen Geschichte der Menschen zu finden. Die Kirche bekennt überdies, dass allen Wandlungen viele unwandelbare Wirklichkeiten zugrunde liegen, die ihren letzten Grund (fundamentum) in Christus haben, der Derselbe ist, gestern, heute und in Ewigkeit. Im Lichte Christi also, des Bildes des unsichtbaren Gottes, des Erstgeborenen vor aller Schöpfung (vgl. Kol. 1, 15), will das Konzil alle Menschen ansprechen, um das Geheimnis des Menschen zu erhellen und dabei mitzuwirken, dass für die dringlichsten Fragen unserer Zeit eine Lösung gefunden wird."
117 Dietrich von Hildebrand hat in seinem bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten Buch „Graven images -Substitutes for true morality" diese Substitute (wie Ehre, Anständigkeit, Loyalität) klar von den echten moralischen Werten unterschieden. Die letzteren sind in keiner Weise historisch bedingt, sondern unveränderlich, die Substitute hingegen können sowohl individuell als auch historisch-gesellschaftlich bedingt sein. - Anm. d. Übers.
118 Editions La Table Ronde. Paris 1966.
119 Die Einführung von Guitarre- und sogar Jazzmessen beweist das.
120 Vgl. Kap. 5 dieses Buches.
121 H. Urs von Balthasar „Wer ist ein Christ?"; Benziger-Verlag 1966 S. 38.
122 Vgl. Kapitel IV.
123 VgI. 1 Kor. 15, 41, 42. „Anders ist die Klarheit der Sterne; denn ein Stern ist vom anderen verschieden an Klarheit. So ist's auch mit der Auferstehung der Toten," VgI. auch die große heilige Theresia (von Avila) „Leben" Kap. 37; „Nachdem mir aber der Herr den großen Unterschied zwischen der Freude der einen und der anderen Himmelsbewohner zu erkennen gegeben, sehe ich wohl ein, dass auch auf Erden kein bestimmtes Maß in den Gaben ist, wenn es dem Herrn beliebt, sie mitzuteilen. Deshalb wünsche ich kein Maß zu haben im Dienste Seiner Majestät, sondern wollte mein ganzes Leben, alle meine Kräfte und Gesundheit darauf verwenden und aus eigener Schuld nicht das geringste versäumen, wodurch ich eine größere Freude erlangen kann. Und fragte man mich, ob ich lieber alle Mühseligkeiten der Welt bis zu ihrem Ende leiden und dann nur ein wenig mehr Glorie erlangen wollte, oder ob ich ohne alle Mühe eine etwas geringere Herrlichkeit haben möchte, so würde ich herzlich gern das erstere wählen, um nur eine etwas größere Erkenntnis der Vollkommenheiten Gottes genießen zu können; denn ich sehe ein, dass Gott mehr liebt und lobt, wer ihn besser erkennt." Kösel-Verlag 1967.
Die kleine heilige Theresia bedient sich, um die vollkommene und doch je nach dem Grad der Heiligkeit verschiedene Seligkeit zu beschreiben. des Vergleiches der verschieden großen, bis zum Rande gefüllten Gefäße. VgI. manuscrits autobiographiques S. 47; Carmel de Lisieux. 1957.
124 Vgl. dazu den Anhang über Teilhard de Chardin (mit Zitaten).
125 Viele Konzilstexte zeigen, dass diese Ansichten Teilhard de Chardins mit der Lehre der Kirche absolut unverträglich sind. Denken wir nur an die entscheidenden Stellen aus der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche" ,Lumen gentium' 48: „Die Kirche, zu der wir alle in Christus Jesus berufen werden und in der wir mit der Gnade Gottes die Heiligkeit erlangen, wird erst in der himmlischen Herrlichkeit vollendet werden, wenn die Zeit der allgemeinen Wiederherstellung kommt (Apg. 3, 21).
Christus hat, von der Erde erhöht, alle an sich gezogen (vgl. Jo. 12, 32). Auferstanden von den Toten (vgl. Röm. 6, 9), hat er seinen lebendigmachenden Geist den Jüngern mitgeteilt und durch ihn seinen Leib, die Kirche, zum allumfassenden Heilssakrament gemacht. Zur Rechten des Vaters sitzend, wirkt er beständig in der Welt, um die Menschen zur Kirche zu führen, und durch sie enger an sich zu binden, um sie mit seinem eigenen Leib und Blut zu ernähren und sie seines verherrlichten Lebens (gloriosae suae vitae) teilhaftig zu machen. Die Wiederherstellung also, die uns verheißen ist und die wir erwarten, hat in Christus schon begonnen... "
49; „Bis also der Herr kommt in seiner Majestät und alle Engel mit Ihm (vgl. Mt. 25, 31) und nach der Vernichtung des Todes Ihm alles unterworfen sein wird (vgl. 1 Kor. 15, 26-27), pilgern die einen von seinen Jüngern auf Erden, die andern sind aus diesem Leben geschieden und werden gereinigt, wieder andere sind verherrlicht und schauen „klar den dreieinigen Gott selbst, wie er ist" „in die Heimat aufgenommen und dem Herrn gegenwärtig (vgl. 2 Kor. 5, 8), hören sie nicht auf, durch Ihn, mit Ihm und in Ihm beim Vater für uns Fürbitte einzulegen, indem sie die Verdienste darbringen, die sie durch den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, Christus Jesus (vgl. 1 Tim. 2, 5), auf Erden erworben haben." 51: „Wenn nämlich Christus erscheint und die Toten in Herrlichkeit auferstehen, wird der Lichtglanz Gottes die himmlische Stadt erhellen und ihre Leuchte wird das Lamm sein (vgl. Apk. 21, 24). Dann wird die ganze Kirche der Heiligen in der höchsten Seligkeit der Liebe Gott und das „Lamm, das geschlachtet ist" (Apk. 5, 12), anbeten und mit einer Stimme rufen: „Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm: Lobpreis und Ehre und Herrlichkeit und Macht in alle Ewigkeit" (Apk. S. 13-14). VgI. auch die andern in diesem Kapitel zitierten Konzilstexte. Anm. d. Übers.
126 Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand „True morality and ist Counterfeits" Franciscan Herald Press, Auflage 1967, in der sich eine Auseinandersetzung mit Fletchers Buch findet.
127 Ein Versuch, das Evangelium zu entmythologisieren (vor allem bezüglich der Auferstehung), hat schon kurz nach Christus existiert und in 2 Tim. 2 hat der heiligen Paulus ihn schärfstens zurückgewiesen. - Anm. d. übers.
128 Einen ähnlichen Versuch finden wir bei Thomas Sartory in seinem Buch „Neu-Interpretation des Glaubens" (Benziger, Einsiedeln). VgI. S. 134: Zu der Stelle 1 Kor. 15-32 „Die Zeit ist kurz. Für die Zukunft sollen jene, die ein Weib haben, so sein, als hätten sie keines, und die weinen, als weinten sie nicht, und die sich freuen, als freuten sie sich nicht... denn die Gestalt dieser Welt vergeht" gibt Sartory folgenden Kommentar:
„Aus der unmittelbaren Naherwartung waren solche Ratschläge sinnvoll. Aber ihre Voraussetzung erwies sich als irrig. Christus ist nicht wiedergekommen und die Gestalt dieser Welt ist nicht vergangen. Rund 1900 Jahre trennen uns vom ersten Korintherbrief. Es wäre wenig sinnvoll, sich an solchen Texten für die Nachfolge Christi zu orientieren" ... Oder in „Fragen an die Kirche" (Deutscher Taschenbuchverlag) schreibt er: „Jesus nachfolgen heißt, den Weg gehen, den er gegangen ist, so leben, wie Jesus gelebt hat.
Aber was ist kennzeichnend gewesen für Jesu Art zu leben? Dietrich Bonhoeffer hat das mit dem schönen Wort gesagt: Jesus war der Mensch für andere."
Wie vollständig jeder derartige Immanentismus, der von Rudolph Bultmann übernommen und jetzt auch von „Katholiken" wie Thomas Sartory vertreten wird, der Lehre der Kirche entgegengesetzt ist, beweist jede einzelne Konstitution und jedes Dekret des II. Vatikanischen Konzils: „Bis es aber einen neuen Himmel und eine neue Erde gibt, in denen die Gerechtigkeit wohnt (vgl. 2 Petr, 3, 13), trägt die pilgernde Kirche in ihren Sakramenten und Einrichtungen, die noch zu dieser Weltzeit gehören, die Gestalt dieser Welt, die vergeht, und zählt selbst so zu der Schöpfung, die bis jetzt noch seufzt und in Wehen liegt und die Offenbarung der Kinder Gottes erwartet (vgl. Röm. 8, 19-22).
Mit Christus also in der Kirche verbunden und mit dem Heiligen Geist gezeichnet (et signati Spiritu Sancto), der „das Angeld unserer Erbschaft ist" (Eph. 1, 14) heißen wir wahrhaft Kinder Gottes und sind es (vgl. 1 Jo. 3, 1). Wir sind aber noch nicht mit Christus in der Herrlichkeit erschienen (vgl. KaI. 3, 4), in der wir Gott ähnlich sein werden, da wir Ihn schauen werden, wie Er ist (vgl. 1 Jo. 3, 2). „Solange wir im Leibe sind, pilgern wir ferne vom Herrn" (2 Kor. 5, 6), und im Besitz der Erstlinge des Geistes seufzen wir in uns, (vgl. Röm. 8, 23) und wünschen mit Christus zu sein (vgl. Phil. 1, 23). Die gleiche Liebe aber drängt uns, mehr für Ihn zu leben, der für uns gestorben und auferstanden ist (vgl. 2 Kor. 5, 15). Wir sind also bestrebt, in allem dem Herrn zu gefallen (vgl. 2 Kor. 5, 9), und ziehen die Waffenrüstung Gottes an, um standhalten zu können gegen die Nachstellungen des Teufels und zu widerstehen am bösen Tage (vgl. Eph. 6, 11-13). Da wir aber weder Tag noch Stunde wissen, so müssen wir nach der Mahnung des Herrn standhaft wachen, damit wir am Ende unseres einmaligen Erdenlebens (vgl. Hebr. 9, 27) mit Ihm zur Hochzeit einzutreten und den Gesegneten zugezählt zu werden verdienen (vgl. Mt. 25, 31-46) und nicht wie böse und faule Knechte (vgl. Mt. 25, 26) ins ewige Feuer weichen müssen (vgl. Mt. 25, 41), in die Finsternis draußen, wo „Heulen und Zähneknirschen sein wird" (Mt. 22, 13 und 25, 30). Denn bevor wir mit dem verherrlichten Christus herrschen können, werden wir alle erscheinen „vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder Rechenschaft ablege über das, was er in seinem leiblichen Leben getan hat, Gutes oder Böses" (2 Kor. 5, 10). Am Ende der Welt „werden die, welche Gutes getan haben, hervorgehen zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichtes" (Jo. 5, 29; vgl. Mt. 25, 46). Wir halten also dafür, dass „die Leiden dieser Zeit nicht zu vergleichen sind mit der künftigen Herrlichkeit, die an uns offenbar werden wird" (Röm. 8, 18; vgl. 2 Tim. 2, 11-12), und wir erwarten tapfer im Glauben „die selige Hoffnung und die Ankunft der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Erlösers Jesus Christus" (Tit. 2, 13), „der unseren Leib der Niedrigkeit (humilitatis nostrae) verwandeln wird zur Gleichgestalt mit dem Leibe seiner Herrlichkeit (configuraturn corpori claritatis suae)" (Phil. 3, 21). Er wird kommen, „um verherrlicht zu werden in seinen Heiligen und wunderbar in allen, die an Ihn geglaubt haben" (2 Thess 1, 10). Vgl. „Lumen gentium“ 7, 48. VgI. Auch „Konstitution über die heilige Liturgie" 1, 12: Deshalb flehen wir beim Opfer der Messe zum Herrn, dass Er „die geistliche Gabe annehme und Sich uns selbst zu einem ewigen Opfer vollende." Vgl. a. a. O., 6, 42 (Schluss). VgI. Die aus anderen Konzilstexten zitierten Stellen in Kap. IV.,Kap. V, Kap. XIII. - Anm. d. Übers
129 Das zeigt sich besonders klar in R. Bultmanns Buch „Jesus." Siebenstern-Taschenbuch S. 9-11; S. 140/41.
130 VgI. z. B. Karl Rahner, „Schriften zur Theologie", Bd. 4 (Neuere Schriften), Benziger Verlag „zur Theologie der Inkarnation"... „Gott nimmt eine menschliche Natur als die seine an, ... die, wenn von Gott als seine Wirklichkeit angenommen, dort schlechthin angekommen (ist), wohin sie kraft ihres Wesens immer unterwegs ist." ... „Die Menschwerdung Gottes ist daher der einmalige, höchste Fall des Wesensvollzuges der menschlichen Wirklichkeit, der darin besteht, dass der Menschist, indem er sich weggibt."... „Ein solcher Versuch bedeutet weder, dass die Inkarnation streng einsichtig sei, noch dass eine solche Möglichkeit (der Inkarnation) in jedem Menschen, dem solches Wesen eignet, verwirklicht werden müsse.". ..“Man könnte. .. den Menschen definieren als das, was entsteht, wenn die Selbstaussage Gottes, sein Wort, in die Leere des gott-losen Nichts liebend hinausgesagt wird; das abgekürzte Wort Gottes hat man ja den menschgewordenen Logos genannt. Die Abkürzung, die Chiffre Gottes ist der Mensch... Wenn Gott Nicht-Gott sein will, entsteht der Mensch. .." „Wer sein Mensch-sein ganz annimmt, der sagt, auch wenn er es nicht weiß, zu Christus Ja... der hat den Menschensohn angenommen, weil in ihm Gott den Menschen angenommen hat!"
131 Dabei werden die eigenen materialistischen Vorstellungen von vielen noch auf die Vergangenheit übertragen - u. a. von Bultmann - so als hätte nicht Paulus, Augustinus oder Thomas von Aquin u. a. ganz eindeutig gelehrt, dass die Transzendenz Gottes nicht in einem räumlichen Sinn zu verstehen ist, als stünde nicht seit immer schon in jedem Katechismus, dass Gott unkörperlich ist, dass er allgegenwärtig ist usw. - Anm. d. Übers.
132 Vgl. Father Bernard Lonergan SJ; vor allem seine Ansprache, die er am 12. Mai 1965 an der Marquette University gehalten hat. Ähnliche Ideen entwickelt Thomas Sartory.
133 VgI. „Christliche Ethik“, „Prolegomena".
134 Dies gilt also offenbar erstens für alle geoffenbarten Wahrheiten über Gott selbst (der sich ja schon Moses unter dem Namen „Ich bin der ICH BIN" geoffenbart hat, unter dem auch Christus seine Gottheit offenbart, wenn er sagt: „Ehe Abraham war, bin ich"); alle Eigenschaften Gottes wie seine Personalität, Dreifaltigkeit, Heiligkeit, Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, Barmherzigkeit, Liebe, die sich am tiefsten in der Epiphanie Gottes in Christus offenbaren, sind ewig, da Gott vor aller Schöpfung und in alle Ewigkeit ist. Dies gilt zweitens ebenso für alle Wahrheiten über Gut und Böse, das Wesen des Menschen, seine Bestimmung, das Wesen der Heiligkeit. Auch die Wahrheit der Sätze, die sich auf geschichtliche Ereignisse beziehen, ändert sich nicht mit der Zeit, wie der Autor eben ausgeführt hat. Hier ist jedoch auch die Wirklichkeit, auf die sich die Wahrheiten beziehen, ungeschichtlich, unveränderlich, ewig, und keinem Wandel unterworfen. Vgl. Kap. XI, XII, XXV. - Anm. d. Übers.
135 Diesen Unterschied hat schon der heiligen Augustinus gesehen, indem er zwischen „credere in Deum" und „credere Deo" unterscheidet.
136 VgI. Kap. 25.
137 Genau dies versucht Rudolph Bultmann zu leugnen. Vgl. etwa „Jesus Christus und die Mythologie", S. 41 ff, S. 45, S. 47-49; vor allem S. 73 ff., Furche-Verlag, Hamburg 1964. Vgl. auch „Jaspers-Bultmann", Pieper-Verlag, München. - Anm. d. Übers.
138 Vgl. „Stationen und Rückblicke", Werkbund Verlag, Würzburg 1966, (S. 45).
139 Dies kommt auch in den schon zitierten Konzilstexten in seinem ganzen Umfang klar zum Ausdruck. VgI. etwa „Die Kirche in der Welt von heute" 15, 16; „Dekret über die Religionsfreiheit" 1 ff, 4, 11. „Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung“ 5: „Deo revelanti praestanda est ,oboeditio fidei',... qua homo se totum libere Deo committit plenum revelanti Deo intellectus et voluntatis obsequium' praestando et voluntarie revelationi ab Eo datae assentiendo. Quae fides ut praebeatur, opus est praeveniente et adiuvante gratia Dei et internis Spiritus Sancti auxiliis, qui cor moveat et in Deum conferat, mentis oculos aperiat, ut det “omnibus suavitatem in consentiendo et credendo veritati." „Dem offenbarenden Gott ist der „Gehorsam des Glaubens" (Röm. 16, 26; vgl. Röm. 1, 5; 2 Kor. 10, 5-6) zu leisten. Darin überantwortet sich der Mensch Gott als ganzer in Freiheit, indem er sich „dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft" und seiner Offenbarung freiwillig zustimmt. Dieser Glaube kann nicht vollzogen werden ohne die zuvorkommende und helfende Gnade Gottes und ohne den inneren Beistand des heiligen Geistes, der das Herz bewege und Gott zuwende, die Augen des Verstandes öffne und jedem die Freude schenke, der Wahrheit zuzustimmen und zu glauben." VgI. vor allem „Dogmatische Konstitution über die Kirche“, 4, 8; „Für immer hat er (Christus) sie (die Kirche) als „Säule und Feste der Wahrheit" errichtet. (VgI. 1 Tim 3, 15), a. a. O., 9, 12, 14, 16, 17; vor allem 25. (VgI. 3. Kap. dieses Buches) und endlich 48: „. ..und (wir) erwarten tapfer im Glauben „die selige Hoffnung und die Ankunft der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus" (Tit 2, 13). Er wird kommen, „um verherrlicht zu werden in seinen Heiligen und wunderbar zu werden in allen, die geglaubt haben" (2 Thess. 1, 10). - Anm. d. Übers.
140 Ein analoges Phänomen schildert die „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute" 7: „Anders als in früheren Zeiten sind die Leugnung Gottes oder der Religion oder die völlige Gleichgültigkeit ihnen gegenüber keine Ausnahme und keine Sache von nur einzelnen mehr. Heute wird eine solche Forderung gar nicht selten als Forderung des wissenschaftlichen Fortschritts und eines sogenannten neuen Humanismus ausgegeben. Das alles findet sich in vielen Ländern nicht nur in Theorien von Philosophen, sondern bestimmt in größtem Ausmaß die Literatur, die Kunst, die Deutung der Wissenschaft und Geschichte und sogar das bürgerliche Recht."
141 Vgl. „Christliche Ethik“ Kap. 30, 33-35.
142 In „Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis" hat der Autor das Wesen und die Formen sittlicher Wertblindheit untersucht.
143 Zum Wesen der sittlichen Werte und ihrem Primat vgl. „Christliche Ethik“, Kap. 15; auch 16-19.
144 Wir leugnen damit nicht, dass Freud auch manche wertvolle Beiträge geleistet hat.
145 VgI. D. von Hildebrand, „Menschheit am Scheideweg", Kap. ,Religion und Sittlichkeit,'
146 VgI. „Christliche Ethik“, Kap. 36.
147 Das ist bei Teilhard de Chardin offenbar der Fall. Ähnliche Ideen finden sich in den Schriften Daniel Callahans, Michael Novaks u. a.
148 Herder-Korrespondenz, August 1966, Band 111, Nr. 8.
149 Vgl. „Christliche Ethik“, Kap. 19.
150 a. a. O., Kap. 10, „Ontische und qualitative Werte."
151 VgI. „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute" 16, 17. „Im Inneren seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer... zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies; meide jenes; denn der Mensch hat in seinem Herzen ein von Gott eingeschriebenes Gesetz, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird... Je mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto mehr lassen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten. Nicht selten jedoch geschieht es, dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn sich der Mensch zu wenig bemüht, nach dem Wahren und Guten zu suchen und das Gewissen durch die Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird." VgI. dazu auch besonders D. von Hildebrand „Christliche Ethik“ Kap. 30.
152 VgI. „Dekret über die Kommunikationsmittel", 6: „Das Konzil betont darum, dass der Vorrang der objektiven sittlichen Ordnung in allem und für alle gilt. Die Sittenordnung überragt alle übrigen menschlichen Ordnungen, die Kunst nicht ausgenommen, so wertvoll sie auch sein mögen, und bringt sie in das rechte Verhältnis. Allein die sittliche Wertordnung umfaßt die ganze Natur des Menschen, der ein geistbegabtes und zu Höherem berufenes Geschöpf ist. Wird sie in vollem Umfang getreu beachtet, ist sie für den Menschen der Weg zu seiner Erfüllung und zu seinem Heil." Zum Verhältnis zwischen Fortschritt und Sittlichkeit vgl. „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute" 37.
153 Vgl. „Konstitution über die heilige Liturgie", 109 b: „In der Katechese aber soll den Gläubigen gleichzeitig mit den sozialen Folgen der Sünde das eigentliche Wesen der Buße eingeschärft werden, welche die Sünde verabscheut, insofern sie eine Beleidigung Gottes ist." Vgl. auch „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute" 27 „Was ferner wider das Leben selbst gerichtet ist, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all dies und andere ähnliche Taten sind an sich schon verabscheuungswürdig (probra quidem sunt); sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie im höchsten Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers." Vgl. a. a. O., 28, 29 ff, „Dekret über Laienapostolat" 7; „Konstitution über die heilige Liturgie" 10: „In höchstem Maß werden in Christus die Heiligung der Menschen und die Verherrlichung Gottes verwirklicht, auf die alles Tun der Kirche als auf sein Ziel hinstrebt."
154 Vgl. Herder Korrespondenz, Dezember 1966, Band III, 12.
155 Es gibt leider unzählige, ähnliche Äußerungen von katholischen Theologen und Laien, die die Sündhaftigkeit der Unreinheit, unerlaubter Geburtenregelung, ja sogar der Abtreibung bezweifeln. Wie solche Äußerungen öffentlich vorgetragen werden können, so als würde die Kirche in allen diesen Fragen keine eindeutige Stellung mehr einnehmen, ist angesichts der Konzilstexte (von Ansprachen des Papstes gar nicht zu reden) vollkommen unverständlich. über die von der Kirche klarer als je formulierte wesenhafte Sündhaftigkeit der Unreinheit oder der Abtreibung (vom Augenblick der Zeugung an) kann überhaupt niemals die geringste Diskussion bestehen - so als ob hier nicht schon jeder Vorschlag und Gedanke einer Änderung im ausdrücklichen Gegensatz zur Lehre der Kirche stünde. Bezüglich der künstlichen Geburtenregelung wird ausdrücklich erklärt, dass es sich hier keineswegs nur um ein positives Gebot handelt; dass gewisse neue medizinische Ergebnisse erst ihrem sittlich bedeutsamen Wesen nach untersucht werden müssten, dass aber alle bisherigen Bestimmungen der Kirche diesbezüglich in voller Verbindlichkeit bestünden, was auch seither nicht aufgehoben worden ist. Die Stellung der Kirche könnte nicht eindeutiger sein.
In seinem Buch „Reinheit und Jungfräulichkeit“ und in seinem Buch über „Ehe" hat Dietrich von Hildebrand die wahre Eigenart und Würde der ehelichen Liebe in klassischer Weise herausgearbeitet. Damals stieß seine Auffassung von Ehe und Liebe bei vielen katholischen Theologen auf heftigen Widerstand. Doch diese Bücher wirken fast wie eine Vorwegnahme und weitere philosophische Ausführung dessen, was die Kirche in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes" über das Wesen der Ehe lehrt. In größtem Gegensatz zur Enge sehr vieler katholischer Literatur über dieses Thema, doch noch mehr in schärfstem Gegensatz zur modernen Auflösung der wahren Würde der Ehe, die sich gerade in den hohen moralischen Verpflichtungen äußert, die sie den Eheleuten auferlegt, spricht die Kirche im Sinne der Tiefe und Schönheit vieler Worte Pius' XII. von den ehrfurchtgebietenden hohen Werten der ehelichen Liebe und Treue, der ehelichen Gemeinschaft, und von der tiefen, geheimnisvollen Verbindung zwischen der ehelichen Liebe und dem Entstehen menschlicher Wesen, die zur ewigen Vereinigung mit Gott berufen sind. VgI. „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute", 48-51. „Die innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe in der Ehe, vom Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt, wird durch den Ehebund, d. h. durch ein unwiderrufliches personales Einverständnis gestiftet (foedere coniugii seu irrevocabali consensu personali instauratur). So entsteht durch den personal freien Akt, in dem sich die Eheleute gegenseitig schenken und annehmen, eine nach göttlicher Ordnung feste Institution, und zwar auch gegenüber der Gesellschaft. Dieses heilige Band unterliegt... nicht mehr menschlicher Willkür, Gott selbst ist der Urheber der Ehe", „Diese innige Vereinigung als gegenseitiges Sichschenken zweier Personen wie auch das Wohl der Kinder verlangen die unbedingte Treue der Gatten und fordern ihre unauflösliche Einheit."
„Mehrfach fordert Gott Braut- und Eheleute auf, in keuscher Liebe ihre Brautzeit zu gestalten und in ungeteilter Liebe ihre Ehe zu leben und zu entfalten. (ut casto amore sponsalia et indivisa dilectione coniugium nutriant atque foveant) ... Diese urmenschliche Liebe geht in frei bejahter Neigung von Person zu Person, umgreift das Wohl der ganzen Person, vermag so den leibseelischen Ausdrucksmöglichkeiten eine eigene Würde zu verleihen und sie als Element und besondere Zeichen der ehelichen Liebe zu adeln. Diese Liebe hat der Herr durch eine besondere Gabe seiner Gnade und Liebe geheilt, vollendet und erhöht. Eine solche Liebe, die Menschliches und Göttliches in sich eint, führt die Gatten zur freien gegenseitigen Hingabe ihrer selbst (ad mutuum sui ipsius donum)... und durchdringt ihr ganzes Leben; ja gerade durch ihre Selbstlosigkeit erfüllt sie sich und nimmt zu (immo ipsa generosa sua operositate perficitur et crescit). Sie ist deshalb viel mehr als bloß eine erotische Anziehung, die egoistisch gewollt, nur zu schnell wieder erbärmlich vergeht."
„Diese Liebe wird durch den eigentlichen Vollzug der Ehe in besonderer Weise ausgedrückt und findet darin ihre Erfüllung. Jene Akte also, durch die die Eheleute innigst und lauter einswerden, sind von sittlicher Würde; sie bringen, wenn sie human vollzogen werden, jene gegenseitige Selbstschenkung zum Ausdruck und vertiefen sie, durch die sich die Gatten gegenseitig in Freude und Dankbarkeit reichlich beschenken. Diese Liebe, die auf gegenseitige Treue gegründet und in besonderer Weise durch Christi Sakrament geheiligt ist, ist, Leib und Seele umfassend, im Glück und Unglück unauflöslich treu und deshalb unvereinbar mit jedem Ehebruch und jeder Ehescheidung." „Christus der Herr hat diese Liebe, die letztlich aus der göttlichen Liebe hervorgeht und nach dem Vorbild seiner Einheit mit der Kirche gebildet ist, in ihren verschiedenen Hinsichten reichlich gesegnet. Wie nämlich Gott einst durch den Bund der Liebe und Treue seinem Volke entgegenkam, so begegnet nun der Erlöser der Menschen und der Bräutigam der Kirche durch das Sakrament der Ehe den christlichen Gatten. Er bleibt fernerhin bei ihnen, damit die Gatten sich in gegenseitiger Hingabe und beständiger Treue lieben, so wie er selbst die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat... Im Geist Christi, durch den ihr ganzes Leben mit Glaube, Hoffnung und Liebe durchdrungen wird, gelangen sie mehr und mehr zu ihrer eigenen Vervollkommnung." „Durch ihre natürliche Eigenart sind die Institution der Ehe und die eheliche Liebe auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft zugeordnet und finden darin gleichsam ihre Krönung." Wo die Kirche von den Schwierigkeiten innerhalb der Ehe spricht, sagt sie: „Manche wagen es, für diese Schwierigkeiten unsittliche Lösungen anzubieten, ja, sie scheuen selbst vor der Tötung nicht zurück. Die Kirche aber erinnert daran, dass es keinen wahren Widerspruch geben kann zwischen den göttlichen Gesetzen hinsichtlich der Übermittlung des Lebens und dem, was echter, ehelicher Liebe dient."
„Das Leben ist daher von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt zu schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuenswürdige Verbrechen... Wo es sich um das Band zwischen ehelicher Liebe und verantwortlicher Weitergabe des Lebens handelt (de componendo amore coniugali cum responsabili vitae transmissione agitur) hängt die sittliche Qualität (Moralis igitur indoles rationis agendi) der Handlungsweise nicht nur von der guten Absicht und Bewertung der Motive ab, sondern von objektiven Kriterien, die sich aus dem Wesen der menschlichen Person und ihrer Akte ergeben.. Von diesen Prinzipien her ist es den Kindern der Kirche nicht erlaubt, in der Geburtenregelung Wege zu beschreiten, die das Lehramt in Auslegung des göttlichen Gesetzes verwirft." (Hier findet sich ein ausdrücklicher Hinweis auf das bis zur weiteren Prüfung volle Bestehenbleiben der bisherigen konkreten Beschlüsse des Lehramtes.)
„Mögen alle daran denken: Das menschliche Leben und die Aufgabe, es weiter zu vermitteln, haben nicht nur eine Bedeutung für die Zeit und können deshalb auch nicht von ihr allein bemessen und verstanden werden, sondern haben immer eine Beziehung zu der ewigen Bestimmung des Menschen." - Anm. d. Übers. 156 Vgl. „Konstitution über die Kirche“ 2. Vgl. S. 252, Anm.14.
157 VgI. „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“ 13: „So ist der Mensch in sich selbst zwiespältig. Deshalb stellt sich das ganze Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive, als Kampf dar, und zwar als einen dramatischen, zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis."
158 Denken wir nur an die Worte des heiligen Paulus: „Ich beschwöre dich vor Gott und Christus Jesus, dem einstigen Richter der Lebendigen und der Toten, bei seiner Wiederkunft und bei seinem Reiche: Verkündige das Wort! Tritt dafür ein, sei es gelegen oder ungelegen. überführe, weise zurecht und ermahne mit aller Geduld und Lehrweisheit. Denn es kommt die Zeit, da man die gesunde Lehre unerträglich findet und sich nach eigenem Sinn Lehrer über Lehrer schafft, um sich einen Ohrenschmaus zu verschaffen. Der Wahrheit verschließt man das Ohr und ergötzt sich an Fabeln. Du aber bleib in allem besonnen. Trage die Leiden. Vollzieh die Aufgabe als Verkünder der Heilsbotschaft. Versieh voll und ganz deinen Dienst!" 2 Tim 4. VgI. dazu auch den Brief an Titus.
159 VgI. Heilige Katharina von Siena (Lett. 109): „O süßes, liebliches Feuer (der Liebe), du vertreibst alle Kälte des Lasters, der Sünde und des Egoismus; du erwärmst und entflammst das trockene Holz unseres Willens und Herzens, so dass es sich entzündet und in heiligen Wünschen verzehrt, indem es liebt, was Gott liebt und haßt, was Gott haßt."
160 „Glaubt nicht, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen: Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert: denn ich bin gekommen, den Sohn gegen seinen Vater zu empören und die Tochter gegen ihre Mutter, die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter. So werden des Menschen Feinde seine eigenen Hausgenossen. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert," (Matth 10, 34 ff),
161 Vgl, „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 27.
162 VgI. Heilige Katharina von Siena (Lett. 239, 185): „Solche Menschen tun so, als ob sie es nicht bemerkten, wenn ihre Untergebenen sündigen, damit sie nicht verpflichtet sind, sie zu bestrafen; oder wenn sie bestrafen, tun sie es mit so großer Weichheit, dass sie dem Laster nur Salbe auflegen, denn sie fürchten immer, irgendjemandem zu mißfallen und dadurch in Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Das verrät ihre falsche Selbstliebe." „Wie gefährlich ist diese Furcht! Sie lähmt die heiligen Wünsche und tritt ihrer Verwirklichung hindernd entgegen; sie verblendet den Menschen, so dass es ihm unmöglich wird, die Wahrheit zu erkennen. .." (Lett. II).
163 Heilige Katharina von Siena (Lett. 109): f „Wehe! Wehe! Die Glieder Christi fallen der Verderbnis anheim, weil niemand sie züchtigt! ... Sie (Bischöfe und Priester) schauen ohne Unruhe zu, wie die Dämonen der Hölle die Seelen rauben, die ihnen anvertraut sind... sie sind verpflichtet, sie mit starker Hand zur Ordnung zu bringen, denn ein zu großes Mitleid stellt oft die größte aller Grausamkeiten dar."
164 Vgl. Joh.17, 21.
165 Vgl. Joh. 10, 1-16.
166 Vgl. dazu die Ausführung über die Grundelemente der berechtigten und erforderten Anpassung an den Dialogspartner in Kap. VIII.
167 VgI. Kap. XXII, Motto.
168 Vgl. Dogmatische Konstitution: „Lumen gentium" 48 ff.
169 Vgl. Herder-Korrespondenz, August 1966, Band III/2.
170 VgI. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 48-51.
171 Dieser Unterschied wird etwa in der „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute" 34, 37 klar gemacht.
172 VgI. „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute" 21. (Die Haltung der Kirche zum Atheismus): „Die Kirche kann, in Treue zu Gott wie zu den Menschen, nicht aufhören, voll Schmerz jene verderblichen Lehren und Maßnahmen, die der Vernunft und der allgemein menschlichen Erfahrung widersprechen und den Menschen in seiner angeborenen Größe entwürdigen (hominemque ab innata eius excellentia deiiciunt), mit aller Festigkeit zu verurteilen, wie sie sie auch bisher verurteilt hat. Jedoch sucht die Kirche die tiefer im Geiste der Atheisten liegenden Gründe für die Leugnung Gottes zu erfassen und ist im Bewusstsein vom Gewicht der Fragen, die der Atheismus aufwirft, wie auch um der Liebe zu allen Menschen willen der Meinung, dass diese Gründe ernst und gründlicher geprüft werden müssen. Als Heilmittel gegen den Atheismus führt die Kirche die geeignete Darlegung der Lehre an, die in ihrer leuchtenden Wahrheit allein die letzte Sehnsucht jedes menschlichen Herzens erfüllen kann, und vor allem den vollen, tiefen Glauben, deren Vorbild die Märtyrer sind, sowie die Umgestaltung aller Glieder der Kirche in Christus, den sie durch ihre übernatürlichen Tugenden der Welt sichtbar machen sollen." (Vgl. Kap. 5).
173 „On s'apercoit, que l'Eglise fait face a une crise grave. Sous le nom d'Eglise nouvelle, d'Eglise postconciliaire, c'est une autre Eglise que celle de Jesus-Christ qui, parfois, cherche à s'instaurer: une société anthropocentrique menacée „d'apostasie immanente" et qui se laisse entrainer dans un mouvement de démission générale, sous prétexte de rajeunissement, d'oecumenisme ou d'adaption." Pére de Lubac SJ; aus einer Ansprache, die er am Weltkongreß der Theologie in Toronto (1967) gehalten hat; zitiert nach „Temoignage Chrétien."
174 VgI. etwa „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute" 37: „Die ganze Geschichte der Menschheit durchzieht ein harter Kampf gegen die Mächte der Finsternis, ein Kampf, der schon am Anfang der Welt begann und nach dem Wort des Herrn (vgl. Mt. 24, 13; 13, 24-30, und 36-43) bis zum letzten Tag andauern wird. Der einzelne Mensch muss, in diesen Streit hineingezogen, beständig kämpfen um seine Entscheidung für das Gute, und nur mit großer Anstrengung kann er mit Gottes Gnadenhilfe seine eigene innere Einheit erreichen.
Deshalb kann die Kirche Christi, obwohl sie im Vertrauen auf den Plan des Schöpfers anerkennt, dass der menschliche Fortschritt dem wahren Glück der Menschen zu dienen vermag, nicht davon absehen, das Wort des Apostels einzuschärfen: „Macht euch nicht dieser Welt gleichförmig" (Röm. 12, 2), d. h. dem Geist des leeren Stolzes und der Bosheit, der das auf den Dienst Gottes und des Menschen hingeordnete menschliche Schaffen in ein Werkzeug der Sünde verkehrt."
175 Wie etwa Leslie Dewart's Buch ,Die Zukunft des Glaubens' beweist.
176 Damit sollen in keiner Weise die tiefen Unterschiede und z. T. Gegensätze geleugnet werden, die zwischen der östlichen und der christlichen Auffassung von ,Sammlung' und ,Heiligkeit' bestehen. Vgl. dazu bes. D. von Hildebrand „Die Umgestaltung in Christus" - ,Sammlung und Kontemplation'; Das wahre Sich-Verlieren!' Vgl. auch „Menschheit am Scheideweg" - ,Religion und Sittlichkeit.' - Anm. d. Übers.
177 Vgl. Kap. XII.
178 VgI. „Umgestaltung in Christus", Kap. I.
179 Man hat behauptet, dass „Veränderung der beständigste Zug der Kirche sei." (Vgl. „Triumph" Dec. 1966. Seite 34; vgl. dazu auch die in Kap. XVII zitierten Texte aus der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes").
180 VgI. D. von Hildebrand „Christliche Ethik“ Kap. 17, 18.
181 Kardinal N ewman, Henry, Discourses for mixed Congregations. Purity and Love, p. 51.
182 Vgl. „Konstitution über die heilige Liturgie" 122: „Zu den vornehmsten Betätigungen der schöpferischen Veranlagung des Menschen zählen mit gutem Recht die schönen Künste, insbesondere die religiöse Kunst und ihre höchste Form, die sakrale Kunst. Vom Wesen her sind sie ausgerichtet auf die unendliche Schönheit Gottes, die in menschlichen Werken irgendwie zum Ausdruck kommen soll, und sie sind um so mehr Gott, seinem Lob und seiner Herrlichkeit geweiht, als ihnen kein anderes Ziel gesetzt ist, als durch ihre Werke den Sinn der Menschen in heiliger Verehrung auf Gott zu wenden. Darum war die lebenspendende Mutter Kirche immer eine Freundin der schönen Künste. Unablässig hat sie deren edlen Dienst gesucht und die Künstler unterwiesen, vor allem damit die Dinge, die zur heiligen Liturgie gehören, wahrhaft würdig seien, geziemend und schön."
183 Vgl. D. von Hildebrand „Menschheit am Scheideweg" „Ästhetizismus und künstlerische Einstellung."
184 VgI. auch Kap. III., IV.
185 Vgl. heilige Theresia von Jesu ,Leben' (Kösel-Verlag München) 9. Kap. u. a.
186 Vgl. dazu und zum Folgenden „Konstitution über die heilige Liturgie" 5-11.
187 VgI. heilige Theresia von Avila „Leben" „Gunstbezeugungen Gottes" 25. (aus dem Jahre 1572).
„Ich hatte in einem Buche gelesen, es sei eine Unvollkommenheit, künstlich gearbeitete Bilder zu besitzen; deshalb wollte ich kein derartiges mehr in meiner Zelle haben. Schon ehe ich dies gelesen, schien es mir der Armut gemäß, nur Bilder von Papier zu haben, und darum wollte ich keine anderen mehr besitzen. Da vernahm ich aber in einem Augenblick, wo ich gar nicht daran dachte, vom Herrn die Worte: Das ist keine gute Abtötung; denn was ist besser, Armut oder Liebe? Weil nun die Liebe besser ist, so gib weder selbst etwas auf, noch entziehe auch deinen Schwestern etwas, was zur Liebe anregt. Das Buch handelt nur von den überflüssigen Verzierungen und dem zu reichlichen Schmuckwerk der Bilder und nicht von den Bildern selbst. Es ist ein Kunstgriff des bösen Feindes, dass er den Irrgläubigen eingibt, sich aller Mittel zur Erweckung der Andacht zu berauben, damit sie so ins Verderben stürzen. Meine Tochter, die treuen Christen müssen jetzt mehr denn je das Gegenteil von dem üben, was jene tun." (Kösel-Verlag, München 1960).
188 „Konstitution über die heilige Liturgie" 22. „Das Recht, die heilige Liturgie zu ordnen, steht einzig der Autorität der Kirche zu. Diese Autorität liegt beim Apostolischen Stuhl und nach Maßgabe beim Bischof. Auch den rechtmäßig konstituierten, für bestimmte Gebiete zuständigen Bischofsvereinigungen verschiedener Art steht es auf Grund einer vom Recht gewährten Vollmacht zu, innerhalb festgelegter Grenzen die Liturgie zu ordnen. Deshalb darf durchaus niemand sonst, auch wenn er Priester wäre, nach eigenem Gutdünken in der Liturgie etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern."
189 Vgl. „Konstitution über die heilige Liturgie" 124: „Die Bischöfe mögen darauf hinwirken, dass von den Gotteshäusern und anderen heiligen Orten streng solche Werke von Künstlern ferngehalten werden, die dem Glauben, den Sitten und der christlichen Frömmigkeit widersprechen und die das echt religiöse Empfinden verletzen, sei es, weil die Formen verunstaltet sind oder die Werke künstlerisch ungenügend, allzu mittelmäßig oder kitschig sind."
190 VgI. "Konstitution über die heilige Liturgie" 54, 116.
191 a. a. O., 112.
192 Vgl. Kap. XII.
193 Markt für billige Waren (analog dem Dorotheum, Flohmarkt etc.)
194 Um das zu sehen, braucht man nur die Pflege der Pestkranken durch einen atheistischen Arzt, wie sie von A. Camus in „Die Pest" geschildert wird, mit der glühenden Nächstenliebe vergleichen, mit der eine heilige Katharina von Siena mit Raimondo di Capua und Tommaso della Fonte in Siena die Pestkranken gepflegt hat. VgI. etwa Jörgensen, Leben der heilige Katharina von Siena.
195 In „Le paysan de la Garonne" Desclées de Brouwer, S. 274 zitiert J. Maritain Cardinal Journet: „Toutes leg contradictions gant levées,... dés qu' on a compris que leg membres de l'Eglise péchent, certes, mais en tant qu'ils trahissent l'Eglise; que l'Eglise n'est donc pas sang pechéurs, mais qu'elle est sang péché." „L'Eglise comme personne prend la responsabilité de la pénitence. Elle ne prend pas la responsabilité du péché." „Ce sont ses membres eux-memes pretres, laiques, clercs, évêques ou papes qui, en lui désobéissant, prennent la responsabilite du péché, ce n'est pas l'Eglise comme personne." On oublie que l'église comme personne est l'épouse du Christ, qu' il „se l'est acquise par gon propre sang" (Act. 20, 28)." „Alle Widersprüche verschwinden, sobald man versteht, dass die Glieder der Kirche sündigen, sicherlich, aber insofern sie die Kirche verraten; dass die Kirche deshalb nicht ohne Sünder ist, aber ohne Sünde." ... „Die Kirche als Person übernimmt die Verantwortung für die Buße, nicht für die Sünden. ... Die Glieder der Kirche, Laien, Kleriker, Priester, Bischöfe und Päpste, die der Kirche nicht gehorchen, sind für die Sünden verantwortlich, doch nicht die Kirche als Person... Man vergißt, dass die Kirche als Person die Braut Christi ist, „die Er sich durch Sein eigenes Blut erkauft hat." ...Apostelgeschichte 20, 28."
196 An dieser Stelle sei die Lehre der Kirche über das Verhältnis zwischen Heiliger Tradition, absoluter, ewiger Wahrheit und Geschichte ausführlicher zitiert. VgI. „Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung:
7. „Was Gott zum Heil der Völker geoffenbart hatte, das sollte - so hat er in Güte verfügt - für alle Zeiten unversehrt erhalten bleiben und allen Geschlechtern weitergegeben werden. Darum hat Christus der Herr, in dem die ganze Offenbarung des höchsten Gottes sich vollendet (vgl. 2 Kor. 1,20; 3,16-4), den Aposteln geboten, das Evangelium, das Er als die Erfüllung der früher ergangenen prophetischen Verheißung selbst gebracht und persönlich öffentlich verkündet hat, allen zu predigen als die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre und ihnen so göttliche Gaben mitzuteilen. Das ist treu ausgeführt worden, und zwar sowohl durch die Apostel, die durch mündliche Predigt, durch Beispiel und Einrichtungen weitergaben, was sie aus Christi Mund, im Umgang mit Ihm und durch Seine Werke empfangen oder was sie unter der Eingebung des heiligen Geistes gelernt hatten, als auch durch jene Apostel und apostolischen Männer, die unter der Inspiration des gleichen Heiligen Geistes die Botschaft vom Heil niederschrieben.
Damit das Evangelium in der Kirche für immer unversehrt und lebendig bewahrt werde, haben die Apostel Bischöfe als ihre Nachfolger zurückgelassen und ihnen „ihr eigenes Lehramt überHefert". Diese Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift beider Testamente sind gleichsam ein Spiegel, in dem die Kirche Gott, von dem sie alles empfängt, auf ihrer irdischen Pilgerschaft anschaut, bis sie hingeführt wird, Ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so wie Er ist (vgl. 1 Jo. 3, 2).
8. Daher musste die apostolische Predigt, die in den inspirierten Büchern besonders deutlich Ausdruck gefunden hat, in ununterbrochener Folge bis zur Vollendung der Zeiten bewahrt werden. Wenn die Apostel das, was auch sie empfangen haben, überliefern, mahnen sie die Gläubigen, die Überlieferungen, die sie in mündlicher Rede oder durch einen Brief gelernt haben (vgl. 2 Thess. 2, 15), festzuhalten und für den Glauben zu kämpfen, der ihnen ein für allemal überliefert wurde (vgl. Jud. 3). Was von den Aposteln überliefert wurde, umfaßt alles, was dem Volk Gottes hilft, ein heiliges Leben zu führen und den Glauben zu mehren. So führt die Kirche in Lehre, Leben und Kult durch die Zeiten weiter und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie selber ist, alles was sie glaubt.
Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen, (vgl. Lk. 2, 19, 51) durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.
Die Aussagen der heiligen Väter bezeugen die lebenspendende Gegenwart dieser Üerlieferung, deren Reichtümer sich in Tun und Leben der glaubenden und betenden Kirche ergießen. Durch dieselbe Üerlieferung wird der Kirche der vollständige Kanon der Heiligen Bücher bekannt, in ihr werden die Heiligen Schriften selbst tiefer verstanden und unaufhörlich wirksam gemacht. So ist Gott, der einst gesprochen hat, ohne Unter laß im Gespräch mit der Braut Seines geliebten Sohnes, und der Heilige Geist, durch den die lebendige Stimme des Evangeliums in der Kirche und durch sie in der Welt widerhallt, führt die Gläubigen in alle Wahrheit ein und lässt das Wort Christi in Gberfülle unter ihnen wohnen (vgl. Kol. 3, 16).
9. So ergibt sich, dass die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft...
10. Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird. Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft. Es zeigt sich also, dass die Heilige Üerlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass keines ohne die anderen besteht und dass alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen.
21. Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlaß das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reichtn ihnen zusammen mit der Heiligen Üerliefernng sah sie immer und sieht sie die höchste Richtschnur ihres Glaubens, weil sie von Gott eingegeben und ein für alle Male niedergeschrieben, das Wort Gottes selbst unwandelbar vermitteln und in den Worten der Propheten und der Apostel die Stimme des Heiligen Geistes vernehmen lassen.
197 Vgl. dazu Kap. XXVI.
198 Zum Kampf gegen alle Übertreibungen, Missbräuche oder Unterlassungen in der Heiligenverehrung vgl. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 51.
199 Vgl. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 50: „Wenn wir nämlich auf das Leben der treuen Nachfolger Christi schauen, erhalten wir neuen Antrieb, die künftige Stadt zu suchen (vgl. Hebr. 13, 14 und 11, 10). Zugleich werden wir einen ganz sicheren Weg gewiesen, wie wir, jeder nach seinem Stand, durch die irdischen Wechselfälle hindurch zur vollkommenen Vereinigung mit Christus, nämlich zur Heiligkeit kommen können. Im Leben derer, die, Schicksalsgenossen unserer Menschlichkeit, dennoch vollkommener dem Bilde Christi gleichgestaltet werden (vgl. 2 Kor. 3, 18), zeigt Gott dem Menschen in lebendiger Weise Seine Gegenwart und Sein Antlitz. In ihnen redet Er selbst zu uns, gibt Er uns Zeichen Seines Reiches, zu dem wir ob dieser großen Wolke von Zeugen (vgl. Hebr. 12, 1) und ob solcher Bezeugung der Wahrheit des Evangeliums mächtig hingezogen werden."
200 „Konstitution über die Kirche“ 42. „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm" (1 Jo. 4, 16). Gott aber gießt seine Liebe in unseren Herzen aus durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (vgl. Röm. 5, 5). Daher ist die erste und notwendigste Gabe die Liebe, durch die wir Gott über alles und den Nächsten um Gottes willen lieben. Damit aber die Liebe wie ein guter Same in der Seele wachse und Frucht bringe, muss jeder Gläubige das Wort Gottes bereitwillig hören und Seinen Willen mit Seiner Gnade in der Tat erfüllen, an den Sakramenten, vor allem der Eucharistie, und an den gottesdienstlichen Handlungen häufig teilnehmen und sich standhaft dem Gebet, der Selbstverleugnung, dem tatkräftigen Bruderdienst und der Übung aller Tugenden widmen. Denn die Liebe als Band der Vollkommenheit und Fülle des Gesetzes (vgl. Kol. 3, 14; Röm. 13, 10) leitet und beseelt alle Mittel der Heiligung und führt sie zum Ziel. Daher ist die Liebe zu Gott wie zum Nächsten das Siegel des wahren Jüngers Christi.
Da Jesus, der Sohn Gottes, Seine Liebe durch den Einsatz Seines Lebens für uns bekundet hat, hat keiner eine größere Liebe, als wer sein Leben für Ihn und die Brüder hingibt... Dieses höchste Zeugnis der Liebe vor allen, besonders den Verfolgern zu geben, war die Berufung einiger Christen schon in den ersten Zeiten und wird es immer sein. Das Martyrium, das den Jünger dem Meister in der freien Annahme des Todes für das Heil der Welt ähnlich macht und im Vergießen des Blutes gleichgestaltet, wertet die Kirche als hervorragendes Geschenk und als höchsten Erweis der Liebe. Wenn es auch wenigen gegeben wird, so müssen doch alle bereit sein, Christus vor den Menschen zu bekennen und Ihm in den Verfolgungen, die der Kirche nie fehlen, auf dem Weg des Kreuzes zu folgen." VgI. auch die in Kap. „Freiheit und Willkür" zitierten Konzilstexte.
201 VgI. „Umgestaltung in Christus" (Verlag Benzinger) Kap. 1.
202 VgI. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 39. „Es ist Gegenstand des Glaubens, dass die Kirche, deren Geheimnis die Heilige Synode vorlegt, unverlierbar heilig ist. Denn Christus der Sohn Gottes, der mit dem Vater und dem Geist als „allein Heiliger" gefeiert wird, hat die Kirche als Seine Braut geliebt und sich für sie hingegeben, um sie zu heiligen (vgl. Eph 5,25-26), Er hat sie als Seinen Leib mit sich verbunden und mit der Gabe des Heiligen Geistes reich beschenkt, zur Ehre Gottes. Daher sind in der Kirche alle, mögen sie zur Hierarchie gehören oder von ihr geleitet werden, zur Heiligkeit berufen gemäß dem Apostelwort „Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung" (1 Thess 4,3; vgl. Eph 1,4). „Ideo in Ecclesia omnes, sive ad Hierarchiam pertinent sive ab ea pascuntur, ad sanctitatem vocantur, iuxta illud Apostoli: Haec est enim voluntas Dei, sanctificatio vestra." a. a. O. 40: „Jesus der Herr, göttlicher Lehrer und Beispiel jeder Vollkommenheit, hat die Heiligkeit des Lebens, deren Urheber und Vollender Er selbst ist, allen und jedem einzelnen Seiner Jünger jeden Standes gepredigt: „Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." (Mt 5, 48). Allen hat Er den Heiligen Geist gesandt, dass Er sie innerlich bewege, Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüte und mit aller Kraft zu lieben (vgl. Mk 12,30) und einander zu lieben, wie Christus sie geliebt hat (vgl. Jo 13, 34; 15, 12). Die Nachfolger Christi sind nicht kraft ihrer Werke, sondern auf Grund Seines Gnadenbeschlusses berufen und in Jesus dem Herrn gerechtfertigt, in der Taufe des Glaubens wahrhaft Kinder Gottes und der göttlichen Natur teilhaftig und so wirklich heilig geworden. Sie müssen die Heiligkeit, die sie empfangen haben, mit Gottes Gnade im Leben festhalten und vervollkommnen. Vom Apostel werden sie gemahnt, zu leben „wie es Heiligen geziemt" (Eph 5, 3) und als von Gott erwählte Heilige und Geliebte herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Geduld" anzuziehen (Kol 3, 12), und die Früchte des Geistes zur Heiligung zu erwerben (vgl. Gal 5, 22; Röm 6, 22)."
„Zur Erreichung dieser Vollkommenheit sollen die Gläubigen die Kräfte, die sie nach dem Maß der Gnadengabe Christi empfangen haben, anwenden, um Seinen Spuren folgend und Seinem Bilde gleichgestaltet, dem Willen des Vaters in allem gehorsam, sich mit ganzem Gemüt der Ehre Gottes und dem Dienst des Nächsten hinzugeben. So wird die Heiligkeit des Gottesvolkes zu überreicher Frucht anwachsen, wie es die Kirchengeschichte durch so viele Heiligenleben lichtvoll zeigt."
203 VgI. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 49 „Bis also der Herr kommt in Seiner Majestät und alle Engel mit Ihm... pilgern die einen von seinen Jüngern auf Erden, die andern sind aus diesem Leben geschieden und werden gereinigt, wieder andere sind verherrlicht und schauen „klar den Dreieinigen Gott selbst, wie Er ist." Wir alle jedoch haben, wenn auch in verschiedenem Grad und auf verschiedene Weise, Gemeinschaft in derselben Gottes- und Nächstenliebe und singen unserem Gott denselben Lobgesang der Herrlichkeit. Alle nämlich, die Christus zugehören und Seinen Geist haben, wachsen in der einen Kirche zusammen und sind in Ihm miteinander verbunden (vgl. Eph 4, 16). Die Einheit der Erdenpilger mit den Brüdern, die im Frieden Christi entschlafen sind, hört keineswegs auf, wird vielmehr nach dem beständigen Glauben der Kirche gestärkt durch die Gemeinschaft geistlicher Güter. Dadurch nämlich, dass die Seligen inniger mit Christus vereint sind, festigen sie die ganze Kirche stärker in der Herrlichkeit, adeln den Kult, den sie auf Erden Gott darbringt und tragen auf vielfältige Weise zum weiteren Aufbau der Kirche bei (vgl. 1 Kor 12, 12-27). Denn in die Heimat aufgenommen und dem Herrn gegenwärtig (vgl. 2 Kor 5, 8), hören sie nicht auf, durch Ihn, mit Ihm und in Ihm beim Vater für uns Fürbitte einzulegen. Sie zeigen die Verdienste, die sie durch den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus (vgl. 1 Tim 2, 5) auf Erden erworben haben, indem sie in allem dem Herrn dienten und in ihrem Fleisch ergänzten, was an dem Leiden Christi für Seinen Leib, die Kirche, noch fehlt (vgl. Kol 1, 24). Durch ihre brüderliche Sorge also findet unsere Schwachheit reichste Hilfe." VgI. ff.
204 Vgl. dazu „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 60 „Jeglicher heilsame Einfiuß der seligen Jungfrau auf die Menschen kommt nämlich nicht aus irgendeiner Notwendigkeit der Sache selbst, sondern aus dem Wohlgefallen Gottes und fließt aus dem Vberfluß der Verdienste Christi, stützt sich auf Seine Mittlerschaft, hängt von ihr vollständig ab und schöpft aus ihr seine ganze Wirkkraft. Die direkte Vereinigung der Gläubigen mit Christus wird aber dadurch in keiner Weise gehindert, sondern vielmehr gefördert."
205 VgI. „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 50 „Wie die christliche Gemeinschaft unter den Erdenpilgern uns näher zu Christus bringt, so bindet uns auch die Gemeinschaft mit den Heiligen an Christus. Aus Ihm als Quelle und Haupt strömt jegliche Gnade und das Leben des Gottesvolkes selbst. So ziemt es sich also durchaus, diese Freunde und Miterben Christi, unsere Brüder und besonderen Wohltäter, zu lieben, Gott für sie den schuldigen Dank abzustatten, „sie hilfesuchend anzurufen und zu ihrem Gebet, zu ihrer mächtigen Hilfe Zuflucht zu nehmen, um Wohltaten zu erflehen von Gott durch Seinen Sohn Jesus Christus, der allein unser Erlöser und Retter ist." Jedes echte Zeugnis unserer Liebe zu den Heiligen zielt nämlich seinem Wesen nach letztlich auf Christus, der „die Krone aller Heiligen" ist, und durch Ihn auf Gott, der wunderbar in Seinen Heiligen ist und in ihnen verherrlicht wird."
206 VgI. D. von Hildebrand „Christliche Ethik“, Kap. 17, 18.
207 VgI. dazu etwa „Dogmatische Konstitution über die Kirche“ 66.
„Vor allem seit der Synode von Ephesus ist die Verehrung des Gottesvolkes gegenüber Maria wunderbar gewachsen in Verehrung und Liebe, in Anrufung und Nachahmung gemäß ihren eigenen prophetischen Worten: „Selig werden mich preisen alle Generationen, da an mir Großes getan hat, der da mächtig ist" (Lk 1, 48). Dieser Kult, wie er immer in der Kirche bestand, ist zwar durchaus einzigartig, unterscheidet sich aber wesenhaft vom Kult der Anbetung, der dem menschgewordenen Wort gleich wie dem Vater und dem Heiligen Geist dargebracht wird, und fördert diesen gar sehr." 208 Hans Urs von Balthasar „Wer ist ein Christ?", Basel, Benziger Verlag, S. 35.
209 VII. a. a. O., S. 83.
210 VgI. John Henry Kardinal Newman, „Die Kirche und der Zustand der Welt", Zeugen des Wortes, Herder 1949. „Difflculties of Anglicans", Val. I.
211 Vgl. Kap. 4 und Kap. 13 dieses Buches.
212 VgI. P. B. Medawar, „Jahrbuch für kritische Aufklärung, Club Voltaire" Szezesny, München 1963. VgI. dazu auch Gerhard Heberer (in rowohlts Monographien 116): „Pater Teilhard de Chardin lernte ich zuerst durch eine Veröffentlichung über die Steingeräte aus dem „Sinantropus" (=Homo erectus pekinensis) - Fundort von Choukoutien (seit 1927) kennen, die einen guten Eindruck auf mich machte und mich außerordentlich interessierte. Teilhard de Chardin ist mir dann durch verschiedene paläontologische Fachveröffentlichungen als Spezialkenner fossiler Säugetiergruppen bekannt geworden. Zweifellos leistete er gute Feldarbeit, aber es bestand kein Anlaß, ihn für einen Forscher zu halten, der seine Kollegen in auffallender Weise überragte. Erst das Studium allgemeiner Schriften über die Probleme der Evolution und der Hominiden-Phylogenie zeigte ein theoretisches Gefüge, in welchem das Faktenmaterial eingebettet dargestellt wurde, das methodisch derart abwegig-spekulativ, bis zum Abgleiten in mystifizierend-religiöse Regionen, erschien, dass ich längere Zeit darauf verzichtete, mich weiter mit dem Autor zu beschäftigen, denn hier war der Boden des naturwissenschaftlich Erfaßbaren weithin verlassen worden! Im Laufe der gegenwärtigen Teilhard de Chardin-Welle habe ich dann versucht, mir weitere Kenntnisse über ihn zu verschaffen, nicht zuletzt, um in Diskussionen mich nicht nur als unbelehrbar, sondern als durchaus im Bilde befindlich zu erweisen. Ich sah allerdings von der Methode her keinen Zugang zu dem geradezu glorifizierten Werk Teilhard de Chardins. Ich persönlich halte es für nicht richtig, wenn ein Paläontologe, von dem verbreitet wird, dass sein Name zu den führenden gehöre, für den angeblichen Wahrheitsgehalt seines spekulativ-mystischen Systems in Anspruch genommen wird. Dies ist weithin geschehen und geschieht immer weiter! Eine leicht emotional beeinflussbare Öffentlichkeit ist dieser Diskussion mehr oder weniger hilflos ausgeliefert und sieht nicht die, man möchte sagen, u n e r h ö r t e Mischung von Wissenschaft und Phantasie. Es soll damit nichts gegen die Konsequenz und Geschlossenheit des von Teilhard de Chardin aufgebauten subjektiven Weltbildes und seines philosophisch-mystischen Systems (in dem übrigens vieles durchaus nicht als originell bezeichnet werden kann - vgl. etwa die „monistischen" Grundthesen Teilhard de Chardins) gesagt sein. Dass mit diesem System die Strukturen dieser Welt richtig erkannt worden sind, wie das vielfach unterstellt wird, ist für einen Vertreter der bescheidenen Naturwissenschaften unmöglich anzunehmen. Aus diesem Grunde hatte es der Verfasser dieser Zeilen nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten gefunden, der Aufforderung Folge zu leisten, in das Patronats-Komitee für die deutschsprachige Herausgabe der Werke Teilhard de Chardins (Walter Verlag, Olten und Freiburg i. B.) einzutreten." Göttingen, Dezember 1965.
213 Vgl. D. von Hildebrand, „Sinn philosophischen Fragens und Erkennens", Kap. I, „What is philosophy?“ Kapitel I-IV.
214 Vgl. Dietrich von Hildebrand, „Metaphysik der Gemeinschaft", Teil I, Kap. 1.
215 VgI. „Christliche Ethik“, Kap. 11.
216 Vgl. dazu D. von Hildebrand, „Metaphysik der Gemeinschaft", Teil I.
217 VgI. dazu auch die in Kap. XXIX zitierten Stellen aus der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche", 48-51.
218 VgI. dazu D. von Hildebrand, „Metaphysik der Gemeinschaft", „Reinheit und Jungfräulichkeit“.
219 VgI. dazu „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute" 14: „Wenn er (der Mensch) daher die Geistigkeit und Unsterblichkeit seiner Seele bejaht, wird er nicht zum Opfer einer trügerischen Einbildung, die sich von bloß physischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen herleitet, sondern erreicht im Gegenteil die tiefe Wahrheit der Wirklichkeit."
220 VgI. August Brunner in „Stimmen der Zeit", Dezember 1959. „Das Werk Teilhards, soweit es nicht eigentlich fachwissenschaftlich ist, erweist sich also nicht als eine Darstellung von festgestellten Tatsachen, sondern als eine aus persönlichen Beweggründen geborene Weltansicht. Es braucht bei Teilhard nur eine kleine Akzentverschiebung, und man wird dazu kommen, zu behaupten, Seele und Geist hätten sich aus den natürlichen Kräften des Stoffes entwickelt, seien ein Überbau über den Stoff, entstanden durch den gleichen Umschlag vom Quantitativen ins Qualitative, den auch Teilhard annimmt."
221 VgI. D. von Hildebrand, „Christliche Ethik“, Kap. 15, 20-26.
222 VgI. Pastoralkonstitution « Gaudium et spes", 39.
223 VgI. „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute", 16, 17,27.
224 VgI. Kap. 6, 7 dieses Buches.
225 VgI. „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute", 19-22; 15-17.
226 Vgl. dazu die Kapitel 14, 19, 21, 29 dieses Buches sowie die dort zitierten Konzilstexte.
227 Vgl. dazu vor allem die in den Kapiteln 6, 7, 14, 19, 21, 29 dieses Buches zitierten Konzilstexte. VgI. dazu auch die offizielle Stellung des kirchlichen Lehramts. Nach wiederholten Mahnungen an Teilhard de Chardin erschien als höchste Sanktion am 30. Juni 1962, sieben Jahre nach dem Tode Teilhards das Monitum des heiligen Offiziums, das erklärt: „Gewisse Werke des Paters Teilhard de Chardin, darunter auch posthume, werden veröffentlicht und finden eine Anerkennung, die man nicht unbeachtet lassen kann. Unabhängig von jedem Urteil, das den positiv wissenschaftlichen Teil dieses Werkes angeht, zeigt sich auf dem Gebiet der Philosophie und Theologie klar, dass die oben angeführten Werke derartige Doppeldeutigkeiten enthalten, und darüber hinaus so schwere Irrtümer, dass sie die katholische Lehre verletzen. Die oberste Kongregation des heiligen Offiziums fordert deshalb alle Ordinarien sowie Oberen religiöser Gemeinschaften, Seminarleiter und Universitätsrektoren auf, die Geister - namentlich die junger Menschen - vor den in den Werken Pater Teilhard de Chardins und seiner Anhänger enthaltenen Gefahren zu schützen." (,Osservatore Romano', 30. Juni 1962).
228 Vgl, D. von Hildebrand, „The new Tower of Babel", "Efflciency and holiness".
229 Vgl. Kap. 4 dieses Buches „über die Rolle natürlicher Güter". Vgl. auch D. von Hildebrand „Über das Herz“, Teil III.
230 Auf den von Dietrich v. Hildebrand herausgearbeiteten Wertbegriff haben wir schon mehrmals hingewiesen und gesehen, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Scheler und Hildebrand darin besteht, dass dieser drei grundverschiedene Arten von ,Bedeutsamkeit' unterschied, die Scheler alle unter seinem dadurch verwirrenden Begriff, Wert' faßte. Deshalb hat Hildebrand noch mehr als Scheler die ,Werte' und das Verhältnis von Wert und Sein zu voller philosophischer „prise de conscience" gebracht. VgI. bes. „Christliche Ethik“, Kap. 1-14. VgI. dazu auch Bernhard Wenisch, „Der Wertbegriff bei Max Scheler und Dietrich von Hildebrand", Salzburg 1968. - Anm. d. Übers. 231 VgI. D. von Hildebrand, „Christliche Ethik“, Kap. 13, 14.
232 Vgl. dazu die Beiträge Dietrich v. Hildebrands zur Ästhetik in „Die Menschheit am Scheideweg".
233 Vgl. Wolfgang Kuhn in „Stimmen der Zeit". August 1963. (H. 11, Bd. 172, 1962/63). „Das fast unmerkliche Hinübergleiten in den dialektischen Materialismus ist nicht die einzige Gefahr, die in Teilhards Werk schlummert. Wie dieser Dialektische Materialismus lehrt auch Teilhard, dass der Mensch seine Weiterentwicklung selbst gestalten kann: der Mensch der Zukunft soll durch planmäßiges Einwirken auf die Entwicklung seines Körpers und Gehirnes seine organische Vererbung unter Kontrolle bringen. Am Ende dieser bewusst eugenisch gelenkten Entwicklung steht er dann in vollendeter Gestalt da. Zu welch grauenhafter Entwürdigung des Menschen derartige Phantastereien im Nationalsozialismus geführt haben, bedarf keiner besonderen Betonung mehr. Man versteht, warum Scherer in der Diskussion nach einem Vortrag Karischs gestand, dass es ihm „gerade bezüglich der Gedanken, die Teilhard zur Eugenik äußert, angst und bang wird" ..."
234 Vgl. Pastoralkonstitution „Gaudium et spes", 12-22.
235 VgI. dazu „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute", 16, 17; 27; 48-51 (zitiert in Kapitel „Amoralismus").
236 Dass dies in völligem Gegensatz zur Lehre der Kirche steht, zeigt sich am deutlichsten bei einem Vergleich mit den in Kap. 29 zitierten Konzilstexten. - Anm. d. Übers.
237 VgI. John Henry Newman, Predigten, Bd. IV, 10. Predigt. (Gesamtausgabe, Schwabenverlag Stuttgart).