Catechismus Romanus IV. Teil: Vom Gebet und vom Vaterunser

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Catechismus Romanus
IV. Teil: Vom Gebet und vom Vater unser

(Quelle: Das Religionsbuch der Kirche, Catechismus Romanus gemäß Beschluß des Konzils von Trient für die Seelsorger herausgegeben auf Geheiß des Papstes Pius V.. In deutscher Übersetzung herausgegeben von Dr. Michael Gatterer SJ, zweites Buch – IV Bändchen, übersetzt von Engelbert Maass S.J., Felizian Rauch Verlag Innsbruck-Leipzig 1940 (3. Auflage); Imprimatur Nr. 2417. Apostolische Administratur Innsbruck, 9. Juni 1939 Carl Lampert Provikar.; Als Vorlage zur Übersetzung diente die bei Tauchnitz, Leipzig erschienene Ausgabe des Catechismus Romanus, die genau den Text des in Rom erstmals gedruckten Originals wiedergibt. Die Gliederung in Teile und Kapitel ist ursprünglich und offiziell. Die fetten Nummern geben die Nummerierung wieder, die Andreas Fabricius, Professor der Philosophie in Löwen († 1581) erstmals einführte; sie sind nicht in allen Ausgaben gleich. Die in eckigen Klammern stehenden Zusätze sind von Dr. Michael Gatterer (außer wenn sie innerhalb gewöhnlicher Klammer stehen). Die Anmerkungen wurden bei der Digitalisierung im Text in Klammer, die Stellen der Heiligen Schrift nach den Abkürzungen der Einheitsübersetzung [Anhang] wiedergegeben); siehe: Catechismus Romanus III. Teil: Von den Geboten.

Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Betende Hände - Albrecht Dürer

Vom Gebet

1 Unter den Amtspflichten des Seelsorgers ist kaum eine für das Wohl des gläubigen Volkes so dringend, wie die Unterweisung über das Gebetsleben des Christen. Denn Wesen und Wirksamkeit des Gebetes wird vielen unbekannt bleiben, wenn der Eifer des Hirten nicht ständig und gewissenhaft für Belehrung sorgt. Eine der wichtigsten Sorgen des Pfarrers muss daher sein, die andächtigen Zuhörer gut zu belehren, um was und wie man zu Gott beten soll.

Alle Vorzüge des für uns ganz notwendigen Gebetes enthält aber jene erhabene Formel, die wir der Güte Christi des Herrn verdanken: Er hat sie den Aposteln und durch sie und ihre Nachfolger allen Christgläubigen kundgetan. Ihr Wortlaut und Inhalt muss daher unserm Gedächtnis und Herzen so vertraut sein, dass sie uns immer zur Hand sind.

Um nun dem Seelsorger für den Gebetsunterricht der Gläubigen eine zuverlässige Anleitung zu geben, wird hier das Wichtigste vorgelegt, gesammelt aus den bewährtesten Schriften über diesen Gegenstand. Falls mehr erwünscht wäre, kann der Seelsorger aus jenen Quellen selber schöpfen.

Erstes Kapitel: Notwendigkeit des Gebetes

2 Vor allem muss das Volk über die Notwendigkeit des Gebetes belehrt werden. Das Gebet ist uns nämlich keineswegs als bloßer Rat nahegelegt, sondern als strenge Pflicht vorgeschrieben.

Das lehren klar die Worte Christi, des Herrn: »Man muss beständig beten« (Lk 18, 1). Auch die Kirche betont dieselbe Notwendigkeit in den bekannten Einleitungsworten zum Pater noster: »Durch heilsame Vorschriften gemahnt und durch göttliche Unterweisung angeleitet, wagen wir zu sprechen.« Eben wegen dieser Notwendigkeit des Gebetes für die Christen hat der Sohn Gottes den Jüngern auf ihre ausdrückliche Bitte: »Herr, lehre uns beten« (Lk 11, 1) die rechte Weise zu beten vorgelegt (Lk 11,2 ff), und damit uns zugleich die sichere Hoffnung gegeben, das Erbetene auch zu erlangen, ja, Er selbst ist uns Vorbild geworden, da Er das Gebet nicht nur eifrig übte, sondern sogar ganze Nächte darin verharrte. Ebenso sind später die Apostel nicht müde geworden, den zum Christentum Bekehrten immer die Gebetspflicht ans Herz zu legen. So ermahnt der hl. Petrus und der hl. Johannes die Gläubigen hierüber mit eindringlichen Worten (Z. B. 1 Petr 3, 7; 4, 7; 1 Joh 3, 22; 5, 14. 16). Ebenso erinnert der Völkerapostel im Hinblick auf die Bedeutung des Gebetes an vielen Stellen seiner Briefe die Christen an dessen Heilsnotwendigkeit (Z. B. Kol 4, 2; Röm 15, 30; Eph 6, 18; Phili 4, 6; 1 Tim 2, 1. 8; 5, 5).

3 Übrigens zwingen uns die vielen seelischen und körperlichen Bedürfnisse und Nöte geradezu, die Zuflucht zum Gebet zu nehmen als zum besten Dolmetsch unserer Hilflosigkeit und zum wirksamsten Vermittler dessen, was wir brauchen. Da nämlich Gott niemand etwas schuldig ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als von Ihm durch Bitten zu erflehen, was wir brauchen. Darum hat Er uns das Gebet gegeben als das notwendige Mittel zur Erreichung unserer Wünsche. »Denn es steht geschrieben,« sagt der hl. Hieronymus, »jedem, der bittet, wird gegeben werden. Wenn dir also nicht gegeben wird, so wohl deshalb, weil du nicht bittest. Bittet also und ihr werdet empfangen« (Zum 7. Kap. d. Evang. nach Mt). 4 Wenigstens von manchen Dingen ist es ganz sicher, dass man sie nur durch das Gebet erhält. So kommt die wirksame Kraft, böse Geister zu vertreiben, vorzüglich dem Gebet zu, und eine Art von Teufeln kann anders gar nicht ausgetrieben werden, als durch Fasten und Beten (Mt 17, 21).

Darum berauben sich jene vieler und großer Gnaden, die sich nicht an treue und eifrige Übung des Gebetes gewöhnen. Es ist nämlich nicht nur gutes, sondern auch anhaltendes Gebet nötig, um zu erlangen, was man begehrt.

Zweites Kapitel: Nutzen des Gebetes

1 Die Gebetspflicht wird überaus süß durch den großen Nutzen und die reichen Früchte des Gebetes. Deren führt die Hl. Schrift eine Menge an, so dass der Seelsorger seine Gläubigen darüber, wie es eben nottut, gut belehren kann. Wir greifen aus der Fülle nur einige heraus, die uns besonders zeitgemäß dünken.

Die erste Frucht besteht in der Ehre, die wir Gott durch das Gebet erweisen. Ist das Gebet doch eine Übung der Gottesverehrung, die in der Hl. Schrift mit dem Weihrauch verglichen wird: »Wie Weihrauchduft steigt mein Gebet zu dir empor«, sagt der Prophet (Ps 140, 2). Durch das Gebet anerkennen und bekennen wir nämlich, dass wir Gott ganz unterworfen sind; dass Er der Urheber alles Guten ist; dass wir auf Ihn allein unsre Hoffnung stellen müssen, da Er der einzige Hort unsrer Sicherheit und unsres Heiles, unsre alleinige Zuflucht ist. An diese erste Gebetsfrucht gemahnen uns unter andern die Worte: »Ruf zu mir am Tage der Not und retten will ich dich; du aber wirst mich preisen« (Ps 49, 15).

2 Mit der ersten verbindet sich eine zweite gar reiche und süße Frucht: die Erhörung unsrer Bitten durch Gott. Ist ja nach einem Ausspruch des hl. Augustin das Gebet ein Himmelschlüssel. »Das Gebet«, so sagt er, »steigt empor und Gottes Erbarmen neigt sich herab; mag die Erde noch so tief und der Himmel hoch sein, Gott hört doch des Menschen Stimme, wenn nur sein Herz rein ist« (Predigt 116 de tempo). Wahrlich, die Kraft und Wirkung des Gebetes ist so groß, dass wir dadurch die Fülle himmlischer Gaben erhalten: den Heiligen Geist, den wir uns zum Führer und Helfer von Gott erflehen können; Bewahrung und Reinheit des Glaubens; Abwendung der Strafen; Schutz Gottes in Versuchungen, und Sieg über den Teufel. Und schließlich ist im Gebet ein Übermass ganz besonderer Freude verborgen, weshalb der Herr spricht: »Bittet, so werdet ihr empfangen und eure Freude wird vollkommen sein« (Joh 16, 24).

3 Ein Zweifel darüber, ob der gütige Gott das rechte Gebet wohl erhört, ist vollständig ausgeschlossen. Das beweisen viele Zeugnisse der Heiligen Schrift. Da sie allen zugänglich sind, führen wir nur beispielsweise folgende Stellen aus Isaias an: »Dann wirst du rufen und der Herr wird erhören; du wirst schreien und er wird sagen: Ich bin schon da« (Jes 58, 9). Und die andere: »Es wird geschehen: noch bevor sie rufen, werde ich erwidern, und während sie noch reden, sie schon erhören« (Jes 65, 24). Beispiele von solchen anzuführen, die bei Gott Erhörung gefunden haben, unterlassen wir; es sind ihrer fast unzählige und sie sind wohl bekannt.

4 Nicht selten jedoch geschieht es, dass wir von Gott nicht erhalten, worum wir bitten. Das ist wahr. Aber gerade dann hat Gott am meisten unsern Nutzen im Auge. Denn entweder gibt Er uns größere und reichere Gaben, oder das, um was wir bitten, ist uns nicht nötig und nicht nützlich; ja vielleicht wäre seine Gewährung ganz überflüssig und sogar schädlich. Nach einem Wort des hl. Augustin »verweigert Gott manches aus Huld, was er aus Zorn gewährt« (Predigt 58 de verb. Domini). - Mitunter beten wir auch so gedankenlos und nachlässig, dass wir nicht einmal selbst darauf achten, was wir sagen. Nun ist aber das Gebet eine Erhebung des Geistes zu Gott. Wie können wir also, wenn wir unsern Geist, der doch auf Gott gerichtet sein sollte, beim Beten frei umherschweifen lassen und dabei ohne Eifer und ohne alle Ehrfurcht und Liebe die Gebetsworte leichtfertig hersagen, wie können wir Christen den leeren Schall eines solchen Geredes Gebet nennen? Kein Wunder, wenn dann Gott unsern Wünschen nicht willfährt, da wir durch unsere Nachlässigkeit und Unachtsamkeit beim Gebete beinahe beweisen, dass wir unsere Bitten selber nicht ernst nehmen; oder Dinge begehren, die uns schaden würden.

5 Denen aber, die mit Aufmerksamkeit und Andacht beten, wird viel mehr gegeben, als sie von Gott verlangen. Das wird vom Apostel im Brief an die Christen von Ephesus bezeugt (Eph 3, 20) und durch das bekannte Gleichnis vom verlornen Sohn klar gemacht. Dieser würde es schon als einen sehr großen Erfolg seiner Bitte angesehen haben, wenn ihn der Vater auch nur als Taglöhner aufgenommen hätte. Ja Gott überhäuft uns geradezu mit Gnaden und spendet seine Gaben reichlich und schnell, nicht erst, wenn wir Ihn ausdrücklich darum bitten, sondern schon, wenn wir die rechte Gesinnung im Herzen tragen. Das will die Hl. Schrift mit dem bekannten Worte sagen: »Der Armen Sehnen erhört der Herr« (Ps 9, 38). Schon dem innersten stillen Wunsch der Dürftigen kommt Gott entgegen, ohne auf dessen Äußerung zu warten.

6 Dazu kommt als dritte Frucht des Gebetes die Übung und Mehrung der Tugenden, vor allem des Glaubens [der Glaube wird nämlich durch jedes Gebet betätigt]; denn ohne Gottesglauben kann man unmöglich recht beten. »Wie sollen sie den anrufen, heißt es, an den sie nicht glauben« (Röm 10, 14)? Der Glaube der Christen wird ferner durch das Gebet größer und fester und zwar um so mehr, je eifriger sie beten.

Besonders der Glaube an die liebevolle Vorsehung Gottes. Gottes Vaterliebe verlangt nämlich nachdrücklich, dass wir in jedem Anliegen zu Ihm gehen und alles von Ihm erbitten. 7 Er könnte uns zwar alles im Überfluss schenken auch ohne Bitte ja ohne jeden Gedanken unserseits, wie Er den vernunftlosen Tieren alles zum Leben Notwendige gibt. Aber als allgütiger Vater will Er von seinen Kindern gebeten sein. Er will, dass wir Ihn täglich ernstlich bitten und dadurch immer vertrauensvoller beten lernen. Er will durch fortwährende Erhörung unsrer Bitten seine Güte gegen uns von Tag zu Tag beweisen und offenbar werden lassen.

8 Auch die Liebe zu Gott wird vermehrt. Denn wenn wir Ihn ausdrücklich anerkennen als den Urheber jegliches Guten und all unsres Glückes, müssen wir Ihn doch mit immer größerer Liebe umfangen. Und wie Liebende durch gegenseitige Aussprache und Beisammensein noch mehr in Liebe entbrennen, so werden auch gottliebende Menschen, je häufiger sie sich im Gebet an seine Güte wenden und so gleichsam Zwiesprache mit Ihm halten, jedes Mal mit größerer Freude erfüllt und zu noch innigerer Liebe und Hingabe angetrieben.

9 Diese fortwährende Übung des Gebetes verlangt Gott noch aus einem andern Grund: Wir sollen nämlich dadurch zu inbrünstigem Gebetseifer gelangen und durch diesen anhaltenden Eifer so voranschreiten, dass wir solcher Gnadengeschenke würdig werden, die zu empfangen unser tugendarmer und engherziger Geist vorher nicht einmal fähig gewesen wäre.

Ferner will Gott, dass wir uns der Tatsache klar bewusst werden und bleiben, wie wir ohne den Beistand der Gnade des Himmels durch unser Bemühen nichts zustande bringen; und dass wir deshalb aus ganzer Seele dem Gebete obliegen.

Im Gebet haben wir auch die stärkste Waffe gegen die grimmigen Feinde unsrer Natur, wie der hl. Hilarius sagt: »Gegen die Kriegsmacht des Teufels müssen wir unter dem Klang des Gebetes zu Felde ziehen« (Zum Psalm 69).

10 Eine vierte vorzügliche Frucht des Gebetes ist diese: Obwohl wir infolge unsrer angebornen Schwäche zum Bösen geneigt und voll schmählicher Wünsche sind, verwehrt uns Gott doch nicht, dass wir Ihn durch das Gebet in unsern Sinn (Geist und Herz) aufnehmen. Wenn wir dann so zu Ihm beten und seiner Gnaden würdig zu werden uns bemühen, erhalten wir den ernsten Willen nach voller Reinheit, Tilgung aller unsrer Sünden und ein makelloses Herz.

11 Endlich fünftens widersteht das Gebet nach einem Ausspruch des hl. Hieronymus (Zu Jer 7, 16) dem Zorn Gottes. Daher sprach Gott zu Moses: »Lass mich« (Ex 32, 10)!, als Er das Judenvolk strafen wollte, Moses aber durch sein Gebet Ihn hinderte. Denn nichts vermag den erzürnten Gott mehr zu besänftigen, ja Ihn auch dann noch zurückzuhalten und seine Zornesglut zu beschwichtigen, wenn Er schon zum Schlag ausholt gegen die Frevler - als das Gebet frommer Menschen.

Drittes Kapitel: Arten und Stufen des Gebetes

1 Nach der Notwendigkeit und dem Nutzen des Gebetes sollen die Gläubigen auch seine verschiedenen Arten kennen lernen. Das ist nach dem Zeugnis des Apostels notwendig zur vollkommenen Erfüllung der Gebetspflicht. Wo er nämlich im (1.) Brief an Timotheus zu frommen und andächtigem Beten auffordert, da zählt er sorgfältig die verschiedenen Arten des Gebetes auf: »Vor allen Dingen dringe ich darauf,« sagt er, »dass man Gebete, Bitten, Fürbitten und Danksagungen verrichte für alle Menschen« (Tim 2, 1). Der Unterschied zwischen diesen Arten ist freilich ein etwas feiner. Wenn der Seelsorger aber der Ansicht ist, eine Aufklärung darüber werde für seine Zuhörer von Nutzen sein; so mag er unter andern Autoren die hl. Hilarius und Augustinus zu Rate ziehen (Ep in Ps 59 ad vers. Dirigatur oratio; Ep. 59 ad Paul. in sol. quaest. 5).

2 Indes zwei Hauptarten des Gebetes dürfen durchaus nicht übergangen werden: das Bittgebet und das Dankgebet. Auf diese lassen sich alle übrigen zurückführen. Denn wenn wir in tiefer Ehrfurcht vor Gott hintreten, tun wir es entweder um von Ihm etwas zu erbitten, oder um Ihm für die Wohltaten zu danken, mit denen seine göttliche Güte uns unablässig überhäuft. Diese beiden Gebetsarten hat Gott selbst als die notwendigsten bezeichnet, wenn Er durch den Mund Davids spricht: »Rufe zu mir am Tage der Not, und retten will ich dich; du aber sollst mich preisen« (Ps 49, 15). - Und wahrlich, wie notwendig es ist, dass wir uns (durch das Bittgebet) an die göttliche Güte und Freigebigkeit wenden, wer sähe das nicht, wenn er das Elend und die furchtbare Not der Menschheit betrachtet? 3 Wie geneigt sich aber Gottes Liebe dem Menschengeschlecht erweist, und wie Er seine Güte über uns förmlich ausschüttet, wissen alle, die sehen und verstehen wollen. Denn wohin wir blicken und wohin wir unsere Gedanken lenken, allüberall leuchtet uns der wunderbare Glanz der göttlichen Milde und Güte entgegen. Was besitzen die Menschen, das nicht von Gottes Freigebigkeit herrührt? Wenn aber alles Gabe und Geschenk seiner Güte ist, wie sollten wir nicht alle nach Kräften dem allgütigen Gott Lob, Preis und innigen Dank darbringen?

Beide Pflichten jedoch, nämlich Gott zu bitten und Ihm zu danken, haben viele Stufen, deren eine höher und vollkommener ist als die andere. Damit nun die Gläubigen nicht bloß beten, sondern möglichst gut die doppelte Gebetspflicht erfüllen, muss ihnen der Seelsorger die höchste und beste Weise zu beten vorlegen und sie eindringlich dazu aufmuntern.

4 Welches ist aber die beste Weise oder die höchste Stufe des Gebetes? Doch wohl die, deren sich gottliebende und heilige Menschen bedienen. Diese steigen, gestützt auf den festen Boden des wahren Glaubens, gleichsam auf den Stufen heiliger Gesinnung und eifrigen Bittens empor zur klaren Glaubenserkenntnis (Beschauung) der unendlichen Macht, der unermesslichen Güte und Weisheit Gottes. Dadurch gelangen sie dann zur sicheren Hoffnung, alles zu erlangen, was sie sich erbitten, sowohl für das gegenwärtige Leben, als besonders die Fülle der unbegreiflichen Güter, die Gott denen verheißen hat, die seine göttliche Hilfe mit kindlich frommen Herzen anflehen. Von diesen zwei Fittichen [Glaube und Hoffnung] gleichsam in den Himmel emporgehoben, gelangt ihre Seele voll liebenden Eifers zu Gott und erweist Ihm zuerst alle Ehre durch jubelnden Dank dafür, dass Er sie mit so großen Wohltaten begnadet hat; dann aber trägt sie Ihm mit der beispielosen Liebe und Ehrfurcht des einzigen Kindes gegen den liebevollsten Vater ohne Zagen all ihre Anliegen vor.

Für diese Gebetsweise verwendet die Hl. Schrift das Wort »ausschütten«. »Ich schütte aus vor ihm mein Flehgebet« sagt der Prophet, »und tu ihm meine Trübsal kund« (Ps 141, 3). Mit diesem Ausdruck will sie sagen, der Beter verschweigt und verbirgt nichts, sondern gießt alles aus in das Herz des liebevollsten Vater-Gottes, zu dem er sich voll Vertrauen geflüchtet. Und dazu ermahnt unsre vom Himmel stammende Glaubenslehre mit den Worten: »Gießt aus das Herz vor ihm« (Ps 61, 9) und »wirf deine Sorgen auf den Herrn« (Ps 54,23). Diese Gebetsstufe deutet der hl. Augustin an, wenn er in seinem Enchiridion (Handbuch) sagt: »Was der Glaube vorstellt, darum bittet die Hoffnung und Liebe« (Enchirid. c. 2).

5 Auf einer tieferen Gebetsstufe stehen: jene mit Todsünden Belasteten, die durch den so genannten toten Glauben ernstlich sich aufrichten und zu Gott emporsteigen wollen, aber infolge ihrer erstorbenen Kraft und großen Glaubensschwäche sich kaum von der Erde zu erheben vermögen. Jedoch im Bewusstsein ihrer Schuld und von Gewissensbissen gepeinigt, flehen sie voll Demut und Zerknirschung wie aus weiter Ferne zu Gott um Verzeihung ihrer Sünden und um Frieden. Ihr Gebet dringt zu Gott und wird erhört. ja der barmherzige Gott ladet sie sogar huldvoll ein: »Kommet her zu mir«, sagt Er, »ihr alle, dIe ihr elend und beladen seid, und ich werde euch erquicken« (Mt 11, 28). Zu diesen Sündern gehörte jener Zöllner, der nicht wagte, seine Augen zum Himmel zu erheben, jedoch nach der Versicherung des Herrn gerechtfertigt aus dem Tempel ging, ganz anders als der Pharisäer (Lk 18, 14).

6 Auf einer andern Gebetsstufe stehen die vom Glauben noch nicht Erleuchteten (die Ungläubigen), deren Vernunftlichtlein Gott in seiner Güte erhellt, so dass sie von lebhaftem Verlangen und heftiger Begierde nach der Wahrheit erfasst werden. Solche bitten dann mit der größten Inbrunst um Erkenntnis derselben. Und wenn sie in dieser Gesinnung verharren, wird Gottes Güte ihr Gebet nicht zurückweisen. Wir sehen das bestätigt durch das Beispiel des Hauptmanns Cornelius (Apg 10). Denn niemand, der ernstlich bittet, findet die Pforten der göttlichen Barmherzigkeit verschlossen.

7 Auf der untersten Stufe stehen jene, die ihre Schandtaten und Laster nicht nur nicht bereuen, sondern Sünden auf Sünden häufen und sich doch nicht schämen, Gott immer wieder um Verzeihung zu bitten, trotzdem sie in ihren Sünden verharren wollen. Solche dürften nicht einmal bei Menschen wagen, um Vergebung zu bitten. Ihr Gebet wird von Gott auch nicht erhört. Denn so steht von Antiochus geschrieben: »Es betete dieser Verruchte zum Herrn, von dem er doch keine Verzeihung erlangen sollte« (2 Makk 9, 13). Solche Unglückliche müssen daher dringend ermahnt werden, dass sie den Willen zu sündigen aufgeben und sich ernstlich und aufrichtig zu Gott bekehren.

Viertes Kapitel: Um was man beten soll

1 Die Frage, um was wir beten sollen und um was nicht, wird bei den einzelnen Bitten des »Vaterunser« genau beantwortet. Hier mag die allgemeine Mahnung an die Gläubigen genügen, nur um sittlich Gutes und Erlaubtes zu bitten; denn sonst würden sie die abweisende Antwort erhalten: »Ihr wisset nicht, um was ihr bittet« (Mt 20, 22).

Was man erlaubterweise wünschen darf, um das darf man auch bitten. Das beweist die inhaltschwere Verheißung des Herrn: » Was ihr immer wünschet, darum möget ihr bitten und es wird euch zuteil werden« (Joh 15, 7). Damit verspricht Er uns, das alles zu gewähren.

2 Als Regel für unsre Wünsche muss dies gelten: Zu allererst muss sich unser innigstes Verlangen auf Gott unser höchstes Gut richten. Sodann sollen wir das wünschen, was uns am meisten mit Gott verbindet; hingegen alles aus unsrem Wünschen und Begehren entfernen, was uns von Ihm trennen oder diese Trennung anbahnen könnte.

Hieraus lässt sich schließen, wie wir mit Rücksicht auf dieses höchste und vollkommenste Gut alle übrigen so genannten Güter wünschen und von Gott unsrem Vater erbitten sollen. 3 Die körperlichen und äußeren Güter, wie Gesundheit, Stärke, Schönheit, Reichtum, Ehre, Ruhm, kurz die Bequemlichkeiten des Lebens geben nämlich oft Anlass zur Sünde und können daher nicht ohne weiteres heilsam und gottgefällig erbeten werden, sondern nur mit der Einschränkung, insofern sie uns notwendig sind; so bleibt die rechte Einstellung auf Gott gewahrt. Wir dürfen also wie Jakob bitten: »Wenn mir der Herr Brot zu essen gibt und Kleider zum Anziehen, .... so soll der Herr mein Gott sein« (Gen 28, 20 f). Und wie Salomon: »Gib mir nur, was ich brauche zu meinem Unterhalt« (Spr 30, 8). 4 Wenn uns aber Gottes Güte mit allem zum Leben Nötigen versorgt, müssen wir der Mahnung des Apostels eingedenk sein: »Die welche kaufen, sollen sein, als besässen sie nichts; und die, welche die Güter dieser Welt benützen, als hätten sie nichts davon; vergeht doch die Gestalt dieser Welt« (1 Kor 7, 30f). Und des Psalmwortes: »Wenn Reichtum zuströmt, so hängt das Herz nicht dran« (Ps 61, 11). Wir sind ja nach der Lehre unsres Glaubens nur Nutznießer dieser Güter, und zwar so, dass wir auch andern davon mitteilen müssen. Und wir dürfen nie vergessen, dass uns Gesundheit und Überfluss an äußern Gütern nur verliehen sind, um Gott leichter dienen und dem Nächsten besser damit helfen zu können. 5 Auch um die das Leben verschönenden Güter des Geistes, wie Kunst und Wissenschaft, dürfen wir bitten, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie zur Ehre Gottes und zu unsrem Heile gereichen.

Ohne weitere Einschränkung und unbedingt dürfen wir, wie gesagt, nur die Ehre Gottes und alles, was uns Gott dem höchsten Gut näher bringen kann, wünschen, suchen und erbitten, wie Glauben, Gottesfurcht und Liebe. Darüber wird bei Erklärung der Vater-unser-Bitten ausführlich gehandelt.

Fünftes Kapitel: Für wen man beten soll

1 Die Gläubigen sollen nicht nur wissen, um was, sondern auch für wen sie beten sollen. Wir haben Dank- und Bittgebet unterschieden: zuerst soll nun vom Bittgebet gesprochen werden. Bitten muss man für alle ohne Ausnahme ohne Rücksicht auf Feindschaft, Rasse, oder Religion. Denn jeder ist unser Nächster, auch der Feind, Fremdling oder Ungläubige. Nach Gottes Gebot müssen wir sie lieben und folglich für sie beten, denn das fordert die Liebe. Daher die Mahnung des Apostels: »Ich dringe darauf, dass Gebete für alle Menschen verrichtet werden« (1 Tim 2, 1 f). Dabei muss man für sie zuerst um die Güter der Seele und erst dann um die des Leibes bitten.

2 Diese Gebetspflicht müssen wir vor allem gegen die Seelsorger üben, gemahnt durch das Vorgehen des Apostels, der an die Kolosser schreibt, sie sollen für ihn beten, dass Gott für seine Predigt eine Tür auftue (Kol 4, 3). In gleichem Sinn schreibt er an die Christen von Thessalonich (1 Thess 5, 25). Und in der Apostelgeschichte heißt es: »Die Kirche betete ohne Unterlass« (Apg 12, 5) für Petrus. An diese Pflicht erinnert uns auch der hl. Basilius in seinem Buch über das christliche Leben. Darin sagt er, man müsse für die beten, die das Wort der Wahrheit verwalten (Lib. mor. Reg. 56 c. 5.).

Beten müssen wir ferner für die weltliche Obrigkeit nach den Worten desselben Apostels (1 Tim 2, 2). Wie viel von frommen und gerechten Herrschern abhängt, weiß doch jedermann. Man muss daher Gott bitten, dass die, welche andern vorstehen, so sind, wie sie sein sollen.

Das Beispiel der Heiligen lehrt uns, auch für die Guten und Frommen zu beten. Denn auch sie bedürfen des Gebetes anderer. Gott hat dies deshalb so angeordnet, damit sie sich nicht überheben, im Bewusstsein, dass sie auf das Gebet der weniger Fortgeschrittenen angewiesen sind.

3 Auf ausdrücklichen Befehl des Herrn sollen wir auch für jene beten, die uns »verfolgen und verleumden« (Mt 5, 44).

Nach dem allbekannten Zeugnis des hl. Augustin (Ep 107) besteht schon seit den Zeiten der Apostel die Gewohnheit, für die von der Kirche Getrennten Gebete und Opfer darzubringen, damit die Ungläubigen zum wahren Glauben kommen, die Götzendiener von ihrem Irrwahn befreit werden, die Juden von ihrer Herzensfinsternis geheilt das Licht der Wahrheit erlangen, die Irrgläubigen zur gesunden Lehre und zum Gehorsam gegen die Kirche zurückkehren, die Schismatiker sich wieder mit der hl. Mutterkirche, deren Gemeinschaft sie verlassen, in aufrichtiger Liebe vereinen (Vgl. die Karfreitagbitten, die in der alten Kirche bei jeder eucharistischen Opferfeier gebetet wurden). Wie wirksam solche im rechten Geist verrichtete Bittgebete sind, beweist die große Zahl von Menschen jeden Standes, die Gott täglich der Macht der Finsternis entreißt, ins Reich seines geliebten Sohnes versetzt (Kol 1, 13) und so aus Gefäßen des Zornes zu Gefäßen der Erbarmung macht (Röm 9, 22 f). Ohne Zweifel trägt hierzu gerade das Gebet eifriger Christen ungemein viel bei.

4 Die Fürbitten für die Armen Seelen im Fegfeuer sind eine apostolische Einrichtung. Das beim hl. Messopfer hierüber Gesagte mag genügen.

5 Ob unbußfertigen Sündern (1 Joh 5, 16) Gebet und Opfer viel nützen, ist fraglich. Dennoch ist es der christlichen Liebe eigen, auch für sie unter Gebet und Tränen um Gottes Erbarmung zu ringen. 6 Wenn zuweilen heilige Menschen Flüche gegen Gottlose aussprachen, so sind das nach der Meinung der hI. Väter entweder Strafvorhersagungen, oder sie bezwecken die Vernichtung der Macht der Sünde, zugleich aber die Rettung des Sünders.

7 Innige Dankgebete gebühren Gott für seine unzähligen Wohltaten, die Er dem Menschengeschlechte stets erwies und noch täglich erweist. Besonders danken aber müssen wir Gott für die glorreichen Siege der Heiligen, die sie mit seiner Gnade über alle innern und äußern Feinde erfochten haben.

8 Das tun wir beim Englischen Gruß, wenn wir die Worte sprechen: »Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen.« Dadurch sagen wir Gott Lob und Dank für die himmlischen Gaben, mit denen Er die heilige Jungfrau überhäuft hat, und beglückwünschen zugleich die Jungfrau selbst ob ihrer ganz einzigen Seligkeit. - Ganz mit Recht hat die hl. Kirche diesem Dank eine Anrufung der hl. Gottesmutter hinzugefügt, in der wir uns flehentlich an sie wenden, sie wolle durch ihre Fürbitte uns Sünder mit Gott versöhnen und uns alle für dieses und das andere Leben notwendigen Güter erlangen. Wir »verbannte Kinder Evas« sollen also in diesem Tale der Tränen die Mutter der Barmherzigkeit und Fürsprecherin des gläubigen Volkes mit diesem Gebet (des englischen Grußes) unablässig anrufen, dass sie für uns Sünder bitte und uns Beistand und Hilfe gewähre, sie, deren ausgezeichneten Wert vor Gott und liebevollste Hilfsbereitschaft gegen uns Menschen nur ein gottloser Mensch in Zweifel ziehen kann.

Sechstes Kapitel: Zu wem man beten soll

1 Vor allem muss man zu Gott beten und seinen Namen anrufen. Das lehrt schon der bloße Naturtrieb im Menschenherzen; noch mehr die Hl. Schrift, wo wir den Befehl Gottes lesen: »Ruf zu mir am Tag der Not« (Ps 49, 15). Unter »Gott« sind natürlich die drei göttlichen Personen zu verstehen.

2 An zweiter Stelle nehmen wir die Zuflucht zu den Heiligen im Himmel. Dass man auch sie anrufen soll, ist sichere Lehre der hl. Kirche und wird von guten Christen nicht bezweifelt. Es genügt hier auf das schon früher Gesagte (3. Teil 2 Kap [8]) zu verweisen.

Um jedoch von dem einfachen Volke jeden Irrtum fernzuhalten, wird es gut sein, die Gläubigen über den Unterschied der Anrufung Gottes und der Heiligen zu belehren. 3 Ein solcher Unterschied besteht in der Tat. Denn Gott bitten wir, dass Er selbst uns Gutes verleihe oder Übles abwende. Zu den Heiligen hingegen beten wir, dass sie als Freunde Gottes bei Ihm unsere Sachwalter und Fürsprecher seien. Daher wenden wir auch zwei verschiedene Bittformeln an: zu Gott sagen wir »Erbarme dich unser«, »Erhöre uns«, und zu den Heiligen »Bittet für uns«. 4 Doch dürfen wir schon auch die Heiligen in einem gewissen Sinn bitten, dass sie sich unser erbarmen; sie sind ja überaus barmherzig. Wir können sie anflehen, dass sie sich unsrer Not erbarmen und uns unterstützen durch ihr Gebet bei Gott, dessen Freunde sie sind. Nur muss man sich durchaus hüten, etwas, was Gott allein zukommt, sonst jemanden zuzuschreiben. - Wenn man also vor dem Bilde eines Heiligen das Gebet des Herrn spricht, muss man es in der Gesinnung tun, den Heiligen zu bitten, er möge mit uns (das Vaterunser) beten und uns das erflehen helfen, was im Gebet des Herrn enthalten ist; und überhaupt bei Gott unser Mittler und Fürsprecher sein. Dass die Heiligen in der Tat dieses Amt innehaben, lehrt der hl. Apostel Johannes in der Geheimen Offenbarung (Offb 8, 3 f).

Siebtes Kapitel: Von der Vorbereitung zum Gebete

1 »Vor dem Gebet bereite deine Seele und sei nicht wie einer, der Gott versucht,« heißt es in der Hl. Schrift (Sir 18, 23). Man versucht Gott, wenn man zwar gut beten will, aber dabei schlecht lebt; oder wenn man, während man mit Gott redet, mit der Seele nicht bei Ihm ist. Weil soviel von der Seelenhaltung abhängt, in der man zu Gott betet, muss der Pfarrer seinen gläubigen Zuhörern den seelischen Weg zum Gebet zeigen.

Der erste Schritt auf diesem Weg ist ein wahrhaft demütiges, anspruchsloses Herz und die Erkenntnis seiner Sünden. Wer sich anschickt, vor Gott betend hinzutreten, muss sich beim Anblick seiner Sünden sagen, dass er nicht nur unwürdig ist, etwas von Gott zu erlangen, sondern auch nur vor seinem Angesicht zu erscheinen. - Dieser Vorbereitung gedenkt die Hl. Schrift an vielen Stellen z. B. »Der Herr hat auf das Gebet der Demütigen gesehen und ihre Bitten nicht verschmäht« (Ps 101, 18); oder »das Gebet der Demütigen durchdringt die Wolken« (Sir 35, 21). Der wohl unterrichtete Seelsorger wird genug Stellen finden, die dasselbe besagen, weshalb wir es nicht für nötig erachten, weitere anzuführen. Nur zwei bereits genannte Beispiele, die auch hierher gehören, wollen wir nicht übergehen: das vom Zöllner, der nicht wagte, seine Augen von der Erde zu erheben (Lk 18, 13), und das von der Sünderin, die vor Reueschmerz mit ihren Tränen die Füße des Herrn benetzte (Lk 7, 38). Beide beweisen, welche Kraft die Demut des Christen dem Gebete verleiht.

Als Folge der Erinnerung an die Sünden wird sich ein gewisser Reueschmerz einstellen oder wenigstens ein Gefühl des Schmerzes darüber, dass wir nicht Reue empfinden. Wenn der Sünder nicht beides oder wenigstens eines von diesen beiden Dingen (zum Gebete) mitbringt, kann er keine Verzeihung erlangen.

2 Einige Laster machen das Gebet vor Gott ganz besonders unwirksam: z. B. Mord und Gewalttätigkeit; von ihnen muss man die Hände rein halten. Von diesen Verbrechen spricht Gott durch den Propheten Isaias: » Wenn ihr eure Hände zu mir erhebet, werde ich meine Augen von euch abwenden; und wenn ihr noch so viel betet, ich werde euch nicht erhören, denn eure Hände befleckt Blutschuld« (Jes 1, 15). Ferner muss man Zorn und Zwietracht meiden, welche ebenfalls ein großes Hindernis für die Erhörung des Gebetes bilden. Davon schreibt der Apostel: »Ich will, dass die Männer an jedem Orte zum Gebet reine Hände erheben, frei von Zorn und liebloser Gesinnung« (1 Tim 2, 18). - Weiters dürfen wir uns bei Beleidigungen nicht unversöhnlich zeigen; denn solange wir so gesinnt sind, kann unser Gebet von Gott keine Verzeihung erlangen. Er selbst hat ja gesagt: »Wenn ihr zum Gebete hintretet und gegen irgend jemand etwas habt, so vergebet« (Mk 11, 25); und »Wenn ihr den Menschen nicht vergebet, so wird euer himmlischer Vater auch euch die Sünden nicht vergeben« (Mt 6, 15). - Auch dürfen wir nicht hart und herzlos gegen die Armen sein, denn von solchen gilt das Wort: »Wer vor des Armen Hilferuf sein Ohr verschließt, wird auch nicht Gehör finden, wenn er ruft« (Spr 21, 13). - Was soll man erst vom Stolz sagen? Wie sehr dieser Gott beleidigt, lehrt jenes Wort: »Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade« (Jak 4, 6 1 Petr 5, 5; Spr 3, 34). - Was endlich von der Verachtung des göttlichen Wortes? Davon sagt Salomon: »Wer sein Ohr wegwendet, auf dass er das Gesetz nicht höre, ein Gräuel ist selbst sein Gebet« (Spr 28, 9).

Durch das Gesagte ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass man bei Gott Erhörung findet, wenn man Ihn wegen einer den Menschen zugefügten Beleidigung, eines Mordes, des Zornes, der Hartherzigkeit gegen Arme, der Hoffart, der Verachtung des göttlichen Wortes und anderer Sünden um Verzeihung bittet.

3 Zur Vorbereitung der Seele gehört ferner ganz notwendig der Glaube; denn fehlt dieser, so fehlt auch die rechte Kenntnis der Allmacht des höchsten Vaters und seiner Barmherzigkeit, woraus doch das Vertrauen des Betenden erwachsen muss. So lehrte Christus der Herr selbst: »Alles,« sagt Er, »um was ihr im gläubigen Gebet flehet, werdet ihr erhalten« (Mt 21, 22). Über diesen Glauben bemerkt der hl. Augustin: »Wenn der Glaube fehlt, ist das Gebet umsonst« (Predigt 36 de verbis Domini). Das wichtigste Stück also, um recht zu beten, ist wie gesagt (3 Kap [4]), dass wir im Glauben fest und unerschütterlich sind. Der Apostel beweist dies aus dem Gegenteil: »Wie sollen sie den anrufen, an den sie gar nicht glauben« (Röm 10, 14)? Wir müssen daher den Glauben erwecken, um beten zu können und um den Glauben nicht zu verlieren, durch den wir erst heilsam zu beten vermögen. Der Glaube ist's, der betet, und das Gebet bewirkt dann, dass der Glaube frei von allem Zweifel unwandelbar und fest wird. In diesem Sinne mahnt der hl. Ignatius die, die im Gebete Gott nahen wollen: »Sei nicht zweifelmütig beim Gebete, selig ist, wer nicht zweifelt« ([Unechter] Brief 10 ad Heron). Glaube und Vertrauen sind also für die Erhörung unsrer Bitten bei Gott von größter Bedeutung nach der Mahnung des Apostels Jakobs: »Er bitte im Glauben, ohne im mindesten zu zweifeln« (Jak 1, 6).

4 Gründe zu diesem gläubigen Vertrauen beim Gebete gibt es viele. Da ist einmal Gottes unendlich gütiges Wohlwollen gegen uns, womit Er sich von uns Vater nennen lässt, damit wir uns als seine Kinder fühlen. Dazu kommt die fast unermessliche Zahl derer, die bei Gott schon Erhörung gefunden haben. - Da ist ferner jener oberste Fürsprecher, der uns allzeit beisteht: Christus der Herr, von dem der hI. Johannes sagt: »Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Fürsprecher beim Vater, Jesus Christus, den Gerechten; er selbst ist die Versöhnung für unsre Sünden« (1 Joh 2,1 f). Desgleichen der Apostel Paulus: »Christus Jesus, der gestorben oder vielmehr auferstanden ist, der zur Rechten Gottes sitzt und Fürsprache für uns einlegt« (Röm 8, 34). Ebenso an Timotheus: »Es gibt nur einen Gott und einen Mittler zwischen Gott und den Menschen: den Menschen Christus Jesus« (1 Tim 2, 5). Und an die Hebräer: »Darum musste er in allem seinen Brüdern ähnlich werden, um ein barmherziger und treu er Hoherpriester bei Gott zu sein« (Hebr 2, 17). Daher müssen wir, obschon der Erhörung durchaus unwürdig, im Vertrauen auf die Würde des allerbesten Fürsprechers Jesus Christus zuversichtlich erwarten, dass uns Gott alles geben werde, um was wir Ihn durch jenen in rechter Weise bitten. - 5 Endlich ist ja der Urheber unsres Gebetes der Heilige Geist; wenn wir unter seiner Leitung beten, haben wir auf Erhörung vollen Anspruch. Denn »wir haben den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater « (Röm 8, 15)! Und zwar hilft der Geist unsrer Schwachheit und Unwissenheit beim Gebete, ja der Apostel sagt sogar: »Er selbst tritt für uns ein mit unausprechlichen Seufzern« (Röm 8, 26). 6 »Wenn man aber im Glauben mitunter schwankt und sich nicht stark genug fühlt, so möge man mit den Aposteln rufen: »Herr vermehre uns den Glauben« (Lk 17, 5)! und mit dem Blinden (Ein Versehen: Es ist der Vater des besessenen Knaben Mk 9): »Hilf meinem Unglauben« (Mk 9, 24)!

Am sichersten werden wir aber die Erfüllung aII unsrer Wünsche von Gott erlangen, wenn wir außer dem lebendigen Glauben und Vertrauen noch unser ganzes Denken, Handeln und Reden nach Gottes Gesetz und Willen einrichten: »Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, so möget ihr bitten, um was ihr wollt: es wird euch zuteil werden« (Joh 15, 7), sagt Christus. Als unerlässliche Vorbedingung dieser durchschlagenden Kraft des Gebetes bleibt jedoch, dass wir Beleidigungen vergessen und gegen den Nächsten eine wohlwollende und gütige Gesinnung hegen.

Achtes Kapitel: Wie man beten soll

1 Viel kommt beim Gebet darauf an, wie es verrichtet wird. Gewiss ist Beten gut, aber nur dann, wenn gut gebetet wird. Wir erreichen oft nicht, um was wir beten, weil wir schlecht beten, sagt der Apostel Jakobus (Jak 4, 3). Daher muss der Pfarrer das gläubige Volk belehren über die beste Weise zu beten und zwar sowohl beim privaten wie beim gemeinsamen Gebet. Die entsprechenden Anordnungen für das Gebet des Christen sind in der Lehre Christi des Herrn enthalten.

Fürs erste muss man »im Geiste und in der Wahrheit« beten. Denn der himmlische Vater sucht solche, die Ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten (Joh 4, 23). So betet man, wenn das Gebet von Herzen kommt, wenn man wirklich ernstlich beten will. Ein solches Gebet »im Geiste« muss auch das mündliche Gebet sein.

Doch der Vorzug gebührt dem tief innerlichen Gebet: Gott, der auch die geheimen Gedanken der Menschen kennt, hört es, wenn es auch nicht mit dem Munde ausgesprochen wird. So hörte Er das Herzensgebet Annas, der Mutter Samuels, von der wir lesen, sie habe geweint und gebetet, aber bloß die Lippen bewegt (1 Sam 1, 13). Auch David betete so. Er sagt: »Mein Herz spricht zu dir: es sucht dich mein Angesicht« (Ps 25, 8). Beispiele dieser Art begegnen uns in der Hl. Schrift hin und hin.

2 Aber auch das mündliche Gebet ist nützlich und notwendig. Denn es erwärmt das Herz und entflammt die Andacht des Betenden, wie der hl. Augustin an Proba schreibt: »Durch Worte und Zeichen erwecken wir in uns zuweilen ein noch größeres heiliges Verlangen« (Dem Sinn nach bei Augustin ep. 130 [al. 121] c. 9). Auch fühlen wir uns mitunter durch einen starken Affekt, etwa der Gottesliebe gedrängt, unsre Gedanken mit Worten auszusprechen. Denn wenn z. B. das Herz voll ist von heiliger Freude, geht naturgemäß auch der Mund davon über. Auch gehört es sich, dass wir ein ganzes Opfer darbringen, des Leibes und der Seele. Das war die Gebetsweise der Apostel, wie wir aus vielen Stellen der Apostelgeschichte und der Briefe des hl. Paulus ersehen.

3 Was die zwei Arten des Gebetes, das private und das gemeinsame betrifft, so bedienen wir uns beim ersteren des gesprochenen Wortes, um wie gesagt die Andacht und den Eifer zu fördern; beim letztern, das zur Förderung der Frömmigkeit des gläubigen Volkes zu gewissen festgesetzten Zeiten verrichtet wird, kann man des gesprochenen Wortes überhaupt nicht entraten.

4 Dieses »Gebet im Geiste« ist eine Eigentümlichkeit des Christentums und wird von den Ungläubigen nicht geübt, wie Christus der Herr sagte: »Wenn ihr betet, so machet nicht viele Worte wie die Heiden, die da meinen ihres Wortschwalles wegen erhört zu werden. Macht es ihnen nicht nach! Euer Vater weiß ja, was euch not tut, ehe ihr ihn bittet« (Mt 6, 7. 8). Wenn der Herr mit diesen Worten eine gewisse Geschwätzigkeit verbietet, so verwirft Er damit durchaus nicht ein langes Gebet, das einer starken und andauernden Seelenstimmung entquillt; vielmehr muntert Er uns durch sein eigenes Beispiel dazu auf, da Er nicht nur ganze Nächte im Gebet durchwachte, sondern auch dreimal dasselbe Gebet wiederholte (Mt 26, 44). Man muss nur das Eine festhalten, dass sich Gott nicht durch leeren Wortschwall erbitten lässt.

5 Auch das Gebet der Heuchler ist kein Gebet im Geiste. Vor ihrer Weise warnt uns Christus der Herr mit diesen Worten: »Wenn ihr betet, so macht es nicht wie die Heuchler: die stellen sich gern in Synagogen und an Straßenecken hin und beten, um von den Menschen gesehen zu werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn. Willst du beten, so geh in dein Kämmerlein, schließ die Tür und bete zu deinem Vater im verborgenen. Dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten« (Mt 6, 5.6). Unter dem Kämmerlein kann hier das Menschenherz verstanden werden. Und es genügt nicht, dort einzutreten; man muss es auch zuschließen, damit nicht von außen her allerhand eindringe oder sich einschleiche und so die Lauterkeit des Gebetes gefährde. Dann wird der himmlische Vater, der aller Herzen und ihre geheimsten Gedanken durchschaut, das Verlangen des Betenden erfüllen.

6 Das Gebet erfordert ferner Beharrlichkeit. Die Wirksamkeit des beharrlichen Gebetes zeigt der Sohn Gottes im Gleichnis von jenem Richter, der weder Gott fürchtete noch einen Menschen scheute, schließlich aber durch die zudringliche Beharrlichkeit der Witwe besiegt, ihre Forderung erfüllte (Lk 18, 2ff). Man muss daher mit Beharrlichkeit zu Gott beten und darf nicht jene nachahmen, die das eine oder andere Mal beten und, wenn sie nicht gleich erhört werden, im Gebete nachlassen. Bei diesem Dienste darf es keine Lässigkeit geben, wie uns Christus und die Apostel lehren. Und wenn der Wille hierin zuweilen schwach werden möchte, so müssen wir Gott um Ausdauer bitten.

7 Weiters will der Sohn Gottes, dass wir in seinem Namen zum Vater beten. Denn erst durch das Verdienst und durch das Ansehen dieses Fürsprechers erhält das Gebet das Vorrecht, vom Vater im Himmel erhört zu werden. So lautet sein Wort bei Johannes: »Wahrlich, wahrlich, sage ich euch, wenn ihr den Vater in meinem Namen um etwas bitten werdet, so wird er es euch geben. Bisher habt ihr um nichts in meinem Namen gebeten. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen werde« (Joh 16, 23. 24). Und wiederum: »Um was ihr immer den Vater in meinem Namen bitten werdet, das will ich tun« (Joh 14, 13).

8 Ahmen wir den glühenden Eifer der Heiligen nach, den sie beim Beten an den Tag legten. Und verbinden wir mit der Bitte den Dank nach dem Beispiel der Apostel, die das stets zu tun pflegten, wie man beim hl. Paulus sehen kann.

9 Zum Gebet lasst uns Fasten und Almosen hinzufügen. Das Fasten steht sicher in naher Beziehung zum Gebet; denn wer mit Speis und Trank überladen ist, dessen Geist ist so gehemmt, dass er weder zu Gott emporblicken noch der Bedeutung des Gebetes sich recht bewusst werden kann.

Das Almosen steht gleichfalls mit dem Gebet in enger Verbindung. Denn wenn jemand dem auf fremde Güte angewiesenen Nächsten und Mitbruder nicht hilft, obwohl er könnte, wie kann der sich zu sagen getrauen, er habe die Liebe? Ist man aber der Liebe bar, wird man dann die Stirne haben, Gott um Hilfe zu bitten? Muss man nicht zuvor um Verzeihung dieser Sünde bitten und zugleich demütig Gott um seine Liebe anflehen?

Es ist daher göttliche Anordnung, dass das Heil der Menschen durch dieses dreifache Mittel gefördert wird. Wie wir nämlich durch die Sünde Gott beleidigen oder den Nächsten verletzen oder uns selbst schädigen: so versöhnen wir durch das Gebet Gott, durch Almosen machen wir die Beleidigungen der Mitmenschen wieder gut, und durch Fasten reinigen wir uns selbst von den Befleckungen des eigenen Lebens. Wenn auch jedes dieser Mittel gegen alle Arten von Sünden nützlich ist, so sind sie doch für die eben angeführten ganz besonders passend.

Vom Vater unser

Neuntes Kapitel: Von der Einleitung zum Gebet des Herrn
»Vater unser, der du bist im Himmel« 

1 Die von Jesus Christus selber stammende Formel des christlichen Gebetes lässt uns, bevor wir zu den eigentlichen Bitten kommen, mit einer Einleitung beginnen. Ihr Wortlaut legt die kindliche Gesinnung nahe, mit der wir vor Gott hintreten sollen, und ist daher geeignet, auch unser Vertrauen zu heben. Es ist darum Pflicht des Seelsorgers, diese Anrede dem gläubigen Volke genau und deutlich zu erklären, damit es mit größerer Freudigkeit zum Gebete herantritt und im Bewusstsein, mit dem Vater-Gott zu verkehren.

Die Einleitung ist dem Wortlaut nach ganz kurz, aber inhaltschwer und voller Geheimnisse. Das erste Wort, das wir nach Gottes Befehl und Anleitung dabei gebrauchen, ist das Wort

»Vater«.

Unser Erlöser hätte dieses erhabene Gebet gerade so gut mit einem Worte beginnen können, das mehr die Majestät Gottes zum Ausdruck bringt wie z. B. Schöpfer oder Herr; Er tat es aber nicht, weil das in uns auch Furcht erregen könnte. Vielmehr wählte Er ein Wort, das dem Betenden nur Liebe und Vertrauen zu Gott einflößt; denn was ist lieblicher als der Vatername, der ja ganz Nachsicht und Liebe atmet?

2 Warum Gott der Vatername gebührt, wird man dem gläubigen Volke leicht aus den Lehrstücken von der Schöpfung, Weltregierung und Erlösung zeigen können. Da Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, anders - als die übrigen Lebewesen, wird Er ob dieser einzigartigen dem Menschen verliehenen Auszeichnung mit Recht in der Hl. Schrift der Vater aller Menschen genannt, nicht nur der gläubigen, sondern auch der ungläubigen.

3 Aus der Weltregierung Gottes lässt sich dartun, dass Er in der Fürsorge für das Wohlergehen der Menschen eine außerordentliche Sorgfalt und Vorsehung zeigt und dadurch wahrhaft väterliche Liebe gegen uns beweist.

Um bei der Erklärung dieser Lehre die Vaterliebe Gottes gegen die Menschen noch deutlicher hervortreten zu lassen, wird es gut sein, dem Volke etwas über die Schutzengel zu sagen. 4 An der Seite jedes einzelnen Menschen steht nämlich ein himmlischer Geist, um ihn vor jedem erheblichen Schaden zu bewahren. Denn wie sich Eltern um Begleiter und Beschützer für ihre Kinder umsehen, wenn diese eine unsichere und gefährliche Reise unternehmen müssen, so gibt der himmlische Vater jedem einzelnen von uns auf dem Weg zum himmlischen Vaterland einen Engel mit, durch dessen Hilfe und Wachsamkeit wir die Fallstricke der Feinde meiden und ihre furchtbaren offenen Angriffe zurückschlagen können. Unter dem Schutz dieses Führers vermögen wir den rechten Weg einzuhalten, ohne uns durch den arglistigen Feind von der geraden Richtung zum Himmel abdrängen zu lassen. 5 Gott hat mit der Durchführung dieser seiner außerordentlichen Fürsorge für die Menschen die Engel betraut, weil sie ihrer Natur nach eine gewisse Mittelstellung zwischen Gott und den Menschen einnehmen.

Welche Wohltat das für uns ist, lässt sich aus zahlreichen Beispielen der Hl. Schrift dartun. Nach ihrem Zeugnis hat Gottes Güte gar nicht selten die Engel vor den Augen der Menschen Wunderzeichen tun lassen, woraus wir schließen sollten, diese Beschützer unsres Heils wirkten noch weit mehr zu unserm zeitlichen und ewigen Nutzen, ohne dass wir es sehen. Der Erzengel Raphael brachte als gottgesandter Führer und Reisebegleiter den jungen Tobias hin und zurück, rettete ihn vor dem Rachen eines ungeheuren Fisches und belehrte ihn über die in Leber, Galle und Herz des Fisches liegende Heilkraft. Er trieb den Teufel aus, bändigte ihn und verhinderte, dass er Tobias schädigte. Er belehrte den Jüngling über den würdigen und rechtmäßigen Gebrauch der Ehe und gab seinem erblindeten Vater das Augenlicht wieder (Tob ce 5 u. 6). 6 Die Befreiungsgeschichte des Apostels Petrus durch einen Engel (Apg. 12) bietet ebenfalls reichen Stoff, um das gläubige Volk über die auffallenden Wirkungen des fürsorglichen Schutzes der heiligen Engel zu belehren: der Seelsorger wird hinweisen, wie der Engel den finstern Kerker erleuchtete, den Petrus in die Seite stieß und vom Schlafe aufweckte, seine Ketten löste und die Fesseln zerbrach, ihn mahnte, aufzustehen, Schuhe und Kleider zu nehmen und ihm zu folgen; wie dann Petrus von dem Engel ungehindert durch die Wachen aus dem Kerker geführt ward, wie sich die Tür öffnete und er in Sicherheit gebracht wurde. Solche Beispiele finden sich, wie schon gesagt, in der Hl. Schrift in Hülle und Fülle. Wir erkennen daraus die gewaltige Größe der Wohltat, die Gott den Menschen durch die Engel, seine Dolmetscher und Boten, erweist.

Gott sendet uns seine Engel aber nicht bloß gelegentlich und in bestimmten Fällen, vielmehr ist jedem einzelnen von uns schon vom ersten Anfang unsres Daseins an ein Schutzengel beigegeben. Diese Lehre, sorgsam dargelegt, wird nicht verfehlen, die Gemüter der Zuhörer aufzurichten und sie zur ehrfürchtigen Anerkennung der wahrhaft väterlichen göttlichen Vorsehung zu bestimmen.

7 Um die Christen noch mehr von der - Vatersorge Gottes zu überzeugen, wird der Pfarrer ganz besonders den Reichtum der göttlichen Barmherzigkeit gegen das Menschengeschlecht verkünden und preisen. Denn obschon wir seit den Tagen des Stammvaters unsres Geschlechtes und unsrer Sünde bis heute Gott mit unzähligen Lastern und Missetaten beleidigt haben, bewahrt Er uns doch seine Liebe und lässt von seiner großen Fürsorge gegen uns nicht ab.

Wer da meint, Gott vergesse die Menschen, der ist ein Tor und fügt Gott die ungeheuerlichste Schmach zu. Gott zürnte darum dem Volk Israel wegen der gotteslästerlichen Behauptung, es sei vom Himmel verlassen: »Sie versuchten den Herrn,« heißt es nämlich im Buch Exodus, »und sprachen: Ist Gott in unserer Mitte oder nicht« (Ex 17, 7)? Und bei Ezechiel spricht Gott ebenfalls seinen Zorn gegen das Volk aus, weil es sagte: »Der Herr sieht uns nicht, der Herr hat das Land verlassen« (Ez 8, 12). Durch solche Zeugnisse müssen die Gläubigen von der gottlosen

Meinung abgehalten werden, Gott könnte den Menschen vergessen. Zu diesem Zweck lasse man sie auch die gegen Gott erhobene Klage des israelitischen Volkes hören, die beim Propheten Isaias steht, und wie Gott in einem lieblichen Gleichnis den törichten Vorwurf widerlegt. Da heißt es: »Sion sprach: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen,« und Gott antwortet: »Kann denn eine Frau ihres Kindes vergessen und sich nicht erbarmen des Sohnes ihres Schoßes? Und wenn sie seiner vergäße, so will doch ich deiner nicht vergessen; siehe in meine Hände habe ich dich gezeichnet« (Jes 49, 14-19).

8 Solche Stellen beweisen deutlich, dass Gott in keinem Fall die Menschen vergisst und ihnen die Beweise seiner väterlichen Liebe versagt. Um jedoch die Gläubigen noch mehr davon zu überzeugen, soll der Seelsorger als durchschlagenden Beweis das Beispiel der ersten Menschen anführen (Gen 3). Nachdem sie das göttliche Gebot verachtet und verletzt hatten, hören wir gegen sie die harte Anklage und das furchtbare Urteil: »Verflucht sei die Erde ob deiner Tat, in Mühen sollst du dich von ihr nähren, Dornen und Disteln soll sie dir tragen und das Kraut des Feldes sollst du essen.« Dann sehen wir sie aus dem Paradies verstoßen, und um ihnen jede Hoffnung auf Rückkehr zu benehmen, vor den Eingang des Paradieses einen Cherub gestellt mit einem zweischneidigen Flammenschwert in den Händen; überdies mit vielen innern und äußern Leiden von Gott gezüchtigt zur Strafe für die Ihm angetane Unbill. Wenn man das alles wahrnimmt, sollte man da nicht meinen, es sei um die Menschen geschehen? Sie seien jeder göttlichen Hilfe bar dem gänzlichen Verderben preisgegeben? Und dennoch leuchtet bei all diesen Äußerungen der göttlichen Strafgerechtigkeit ein Lichtschimmer der Liebe Gottes gegen sie auf. Es heißt ja: »Gott der Herr machte dem Adam und seiner Frau Röcke aus Tierfellen und bekleidete sie damit;« wohl der größte Beweis, dass Gott die Menschen zu keiner Zeit verlassen werde. Diese Wahrheit: »Gottes Liebe kann durch keine Beleidigung der Menschen erschöpft werden«, spricht auch David aus mit den Worten: »Wird wohl Gott in seinem Zorn seine Erbarmungen zurückhalten« (Ps 76, 10)? Und Habakuk, der Gott so anredet: »Wenn du zürnest, gedenkst du auch deiner Barmherzigkeit« (Hab 3, 2). Und Michäas: »Welcher Gott ist dir gleich, der du hinwegnimmst die Missetat und die Sünden nachsiehst dem Überreste deines Volkes. Er wird nicht weiter seinen Zorn auslassen, weil er die Barmherzigkeit liebt« (Mi 7, 18). Und wahrlich, so ist es: Wenn wir uns ganz verlassen und der Hilfe Gottes beraubt glauben, gerade dann sucht uns Gott in seiner unermesslichen Güte heim und sorgt für uns; dann hält Er das schon gezückte Schwert der Gerechtigkeit zurück und gießt ohne Unterlass die unerschöpflichen Schätze seiner Barmherzigkeit über uns aus.

9 Schöpfung und Weltregierung sind also ganz vorzüglich geeignet, Gottes liebevolles Schalten und Walten zu gunsten des Menschengeschlechtes zu zeigen. Aber beide überragt weit die dritte Wohltat, das Werk der Erlösung; dadurch offenbart unser all gütiger Gott und Vater seine große Liebe gegen uns geradezu im Übermass. Daher soll der Pfarrer seinen geistlichen Kindern diese großartigste Liebestat Gottes gegen uns gut darlegen und tief einprägen, sie sollen innerlich erfassen, dass sie als Erlöste in wunderbarer Weise Kinder Gottes geworden sind. »Denn er gab ihnen,« sagt der hl. Johannes, »die Macht, Kinder Gottes zu werden« und: »sie sind aus Gott geboren« (Joh 1, 12. 13).

Deshalb wird die Taufe, die wir als das erste Unterpfand und Denkmal der Erlösung empfangen, das Sakrament der Wiedergeburt genannt, denn wir werden dadurch als Kinder Gottes geboren. Der Herr selbst sagt: » Was aus dem Geiste geboren ist, ist Geist,« und: »Ihr müsst von neuem geboren werden« (Joh 3, 6. 7). Ebenso spricht der Apostel Petrus: »Ihr seid wiedergeboren nicht aus vergänglichem Samen, sondern aus unvergänglichem durch das Wort des lebendigen Gottes« (1 Pelr 1, 23). 10 Kraft dieser Erlösungstat [der hl. Taufe] haben wir nämlich den Heiligen Geist empfangen und sind der Gnade Gottes gewürdigt worden; durch diese Gabe nimmt uns aber Gott als seine Kinder an, wie der Apostel Paulus an die Römer schreibt: »Ihr habt ja nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch von neuem fürchten müsstet, sondern den Geist der Kindschaft, der uns rufen lässt: Abba, Vater« (Röm 8, 15). Bedeutung und Wirkung dieser Annahme an Kindesstatt legt der hl. Johannes also dar: »Sehet, welche Liebe uns der Vater erwiesen hat, dass wir Kinder Gottes heißen und es auch sind« (1 Joh 3, 1).

11 Nach Darlegung der Liebe des Vater-Gottes gegen seine Kinder muss das gläubige Volk daran erinnert werden, was es seinerseits einem so liebevollen Gott und Vater schulde. Es soll einsehen, wie sehr es seinem Schöpfer, Lenker und Erlöser Liebe und kindliche Gesinnung, Gehorsam und Ehrfurcht erzeigen muss und wie es Ihn mit zuversichtlichem Vertrauen anrufen soll.

Die Unwissenheit und verkehrte Gesinnung derer muss beseitigt werden, die da meinen, nur Glück und Wohlsein im Leben seien ein Beweis wahrer Liebe Gottes zu uns, Unglück und Widerwärtigkeiten hingegen, mit denen uns Gott heimsucht, seien ein Zeichen seiner feindseligen und ganz abgeneigten Gesinnung (Vgl. Job 19, 6ff). Solchen muss man entgegen halten, Gott lasse uns nicht aus Feindschaft zuweilen seine Hand fühlen; vielmehr schlägt Gott, um zu heilen, und schickt das Leid als Arznei. Er straft die Sünder, um sie durch die Züchtigung zu bessern und durch die zeitliche Strafe vom ewigen Verderben zu retten. Er sucht uns mit der Rute heim für unsre Sünden und mit Schlägen für unsre Missetaten, aber seine Barmherzigkeit wendet Er nicht ab von uns (Ps 88, 33f).

Daher muss man die Gläubigen ermahnen, sie sollen bei derartigen Züchtigungen die väterliche Liebe Gottes anerkennen und sich an das Wort des geduldigen Job erinnern und mit ihm sprechen: »Er verwundet und heilt, Er schlägt und seine Hände machen gesund« (Job 5, 18). Sie sollen sich zu eigen machen, was der Prophet Jeremias im Namen des israelitischen Volkes schrieb: »Du hast mich gezüchtigt und ich ward gebändigt wie ein junges Rind. Bekehre mich und ich werde mich bessern, denn du bist der Herr, mein Gott« (Jer 31, 18). Sie mögen sich das Beispiel des Tobias vor Augen halten, der in seiner Erblindung die züchtigende Vaterhand Gottes erkannte und ausrief: »Ich preise dich Herr, Gott Israels, weil du mich gezüchtigt und wieder geheilt hast« (Tob 11, 17).

12 Die Gläubigen müssen sich in jeder Trübsal besonders davor hüten, zu meinen, Gott kenne ihre Not nicht. Sagt Er doch selbst: »Nicht ein Haar eures Hauptes soll verloren gehen« (Lk 21, 18). Ja sie sollen sich mit dem göttlichen Ausspruch in der Geheimen Offenbarung trösten: »Die ich lieb habe, züchtige ich« (Offb 3, 19). Sie sollen sich beruhigen mit der Mahnung des Apostels an die Hebräer: »Mein Sohn, achte die Züchtigung des Herrn nicht gering, verzage nicht, wenn du von ihm zurecht gewiesen wirst. Denn wen der Herr lieb hat, den züchtigt er. Er schlägt jeden Sohn, den er gern hat. Bliebet ihr ohne Züchtigung, so wäret ihr unechte, nicht wirkliche Söhne. Wir standen unter der Zucht unsrer leiblichen Väter und hatten doch Ehrfurcht vor ihnen, sollten wir uns da nicht weit lieber dem Vater der Geister unterwerfen, um zu leben« (Hebr 12, 5-9)?

»Unser« 

13 Jeder einzelne ruft den Vater an und doch nennen wir ihn »unsern« Vater. Warum? Wir sollen die aus der Annahme an Kindesstatt sich notwendig ergebende Folgerung ziehen, dass alle Gläubigen Brüder sind und sich brüderlich lieben müssen. »Alle seid ihr Brüder, ... denn einer ist euer Vater, der im Himmel« (Mt 23, 8f), sagt der Herr. Daher nennen auch die Apostel in ihren Briefen die Gläubigen »Brüder«.

Ferner folgt daraus mit Notwendigkeit, dass durch diese Annahme an Kindesstatt die Gläubigen nicht nur untereinander Brüder werden, sondern auch Brüder des Mensch gewordenen Sohnes Gottes heißen und sind. So schreibt der Apostel an die Hebräer vom Sohne Gottes: »Er schämt sich nicht, sie Brüder zu nennen, indem er spricht: Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden« (Hebr 2, 11 f). Das hat schon viel früher David von Christus vorausgesagt (Ps 21, 23). Und Christus selbst spricht im Evangelium zu den Frauen: »Gehet und verkündet meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen, dort werden sie mich sehen» (Mt 28, 10). Bekanntlich hat Er das gesagt, als Er bereits von den Toten auferstanden und zur Unsterblichkeit gelangt war; es sollte ja nicht der Gedanke aufkommen, sein Bruderverhältnis zu uns sei durch die Auferstehung und Himmelfahrt gelöst worden. Ja durch die Auferstehung ward diese liebevolle Verbindung Christi so wenig aufgehoben, dass Er nach seinen eigenen Worten beim Weltgericht vom Thron seiner Majestät und Herrlichkeit aus die »geringsten« unter den Gläubigen mit »Brüder« anreden wird (Mt 25, 40).

14 Und wie sollten wir nicht »Brüder Christi« sein, da wir doch seine »Miterben« genannt werden? Er ist als »Erstgeborner« zum »Universalerben« eingesetzt (Hebr 1, 2); wir als Nachgeborne sind seine Miterben: [mehr oder weniger], je nachdem wir uns durch den Gebrauch der himmlischen Gnaden und durch Liebe als Diener und Mitarbeiter des Heiligen Geistes erwiesen haben. Von Ihm werden wir nämlich zur Tugend und zu heilbringenden Werken angetrieben und angefeuert. Im Vertrauen auf seine Gnade können wir mutig zum Kampfe für unser Seelenheil antreten. Haben wir ihn dann mit Klugheit und Ausdauer bestanden und unsern Lebenslauf vollendet, so werden wir vom himmlischen Vater den gerechten Siegeskranz erhalten, der allen, die dieselbe Lebensbahn laufen, bestimmt ist. »Denn Gott ist«, wie der Apostel sagt, »nicht ungerecht, dass er unsrer Arbeit und unsrer Liebe vergessen sollte« (Hebr 6, 10).

15 Wie herzlich wir das Wörtchen »unser«: aussprechen sollten, erhellt aus dem Wort des hl. Johannes Chrysostomus, der sagt, Gott erhöre den Christen gern, wenn er nicht nur für sich, sondern für andere betet; denn für sich zu beten, fordere die Natur, für andere die Gnade; für sich der Zwang der Not, für andere der Drang der brüderlichen Liebe. Er fügt noch hinzu: Lieber ist Gott das Gebet, das Ihm die Bruderliebe darbringt, als jenes, das die Not uns abringt (Hom. 14 Opus imperf. in Mt).

Wenn der Seelsorger über diesen für das Seelenheil so wichtigen Gegenstand spricht, muss er alle eindringlich ermahnen, wes Alters, Geschlechtes oder Standes sie auch seien, dass sie dieses allen gemeinsame Bruderverhältnis nicht vergessen, sich daher freundlich und bescheiden benehmen und nicht hochmütig über andere sich erheben. Und wenn es in der Kirche Gottes Rangstufen von mancherlei Ämtern und Würden gibt, so wird durch diese Verschiedenheit das enge Bruderverhältnis keineswegs aufgehoben. So geht ja auch im Menschenleib trotz der Verschiedenheit in Gebrauch und Tätigkeit der Glieder keinem Körperteil Aufgabe und Name eines Gliedes verloren. 16 [Um diese Wahrheit auf das Leben anzuwenden,] denke z. B. an einen König; hört er deswegen auf - vorausgesetzt, dass er Christ ist - ein Bruder aller derer zu sein, die der Gemeinschaft der Christgläubigen angehören? Gewiss nicht. Wieso das? Der Gott, dem Reiche und Herrscher ihr Dasein verdanken, ist eben kein anderer, als der, von dem Arme und Untergebene ihren Ursprung haben, sondern der Eine Gott ist Vater und Herr aller.

Also haben wir alle denselben Adel der geistigen Geburt, dieselbe Würde, gehören zum selben ruhmreichen Geschlecht, denn wir alle sind aus demselben Geiste, aus demselben Sakramente des Glaubens als Kinder Gottes geboren und haben das gleiche Anrecht auf dieselbe Erbschaft. Die Reichen und Mächtigen haben keinen andern Gottmenschen als die Armen und Schwachen, sie werden durch keine andern Sakramente geheiligt und haben keinen andern Himmel als Erbe zu erwarten. Wir alle sind Brüder und, wie Paulus an die Epheser schreibt, »Glieder des Leibes Christi, Fleisch und Bein von ihm« (Eph 5, 30). Das gleiche sagt der Apostel im Briefe an die Galater: »Alle seid ihr Kinder Gottes durch den Glauben an Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Da gilt nicht mehr Jude oder Heide, nicht mehr Sklave oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau. Ihr seid alle eins in Christus Jesus« (Gal 3, 26 ff).

Diesen Punkt müssen die Seelsorger genau behandeln; dabei sollen sie obige Lehre geschickt verwerten, denn sie eignet sich nicht nur zur Stärkung und Aufmunterung der Armen und Verachteten, sondern ebenso zur Zügelung und Zurückweisung der Anmaßung von Reichen und Mächtigen. Um diesem Übel zu steuern, drang ja der Apostel so auf die brüderliche Liebe und schärfte sie den Gläubigen ein.

17 Wenn du nun, mein Christ, dieses Gebet verrichten willst, so sei dir bewusst, dass du als Kind zu Gott, deinem Vater, kommst. Wenn du also gleich zu Beginn des Gebetes die Worte »Vater unser« sprichst, so denk daran, wie hoch dich der unendlich gütige Gott erhoben hat, Er, der will, dass du nicht wie ein Sklave zu seinem Herrn ungern und furchtsam herankommst, sondern froh und zutraulich wie ein Kind zum Vater eilest. Und hast du das bedacht, dann erwäge weiter, mit welchem Eifer und mit welch kindlicher Gesinnung du beten musst. Gib dir daher Mühe, dich so zu verhalten, wie es sich für ein wahres Kind Gottes ziemt, d. h. dein Beten und dein Tun darf nicht unwürdig sein deiner göttlichen Abkunft, durch welche dich der allgütige Gott geadelt hat. An diese Pflicht erinnert uns der Apostel, wenn er sagt: »Seid also Nachahmer Gottes als vielgeliebte Kinder« (Eph 5, 1). Man soll von uns eben in Wahrheit sagen können, was derselbe Apostel an die Thessalonicher schreibt: »Ihr alle seid Kinder des Lichtes, Kinder des Tages« (1 Thess 5, 5).

»Der du bist im Himmel« 

18 Alle, die den rechten Gottesbegriff haben, wissen, dass Gott überall gegenwärtig ist. (Das ist natürlich nicht so zu verstehen, als bestände Gott aus Teilen, von denen der eine diesen, der andere einen andern Ort einnimmt: denn Gott ist ein Geist und daher unteilbar.) Wer könnte es auch wagen, Gott nur an einem bestimmten und begrenzten Ort gegenwärtig zu denken, da Er doch selbst von sich sagt: »Erfülle ich nicht Himmel und Erde« (Jer 23, 24)? Das heißt, Gott umfasst Himmel und Erde und alles, was sie enthalten, mit seiner Kraft und Macht, während Er selbst von keinem Orte umschlossen wird. Denn Gott ist allen Dingen nahe entweder als Schöpfer oder als ihr Erhalter, ohne von Raum und Grenzen eingeschlossen oder derart beschränkt zu sein, dass Er seinem Wesen und seiner Macht nach nicht überall gegenwärtig wäre. Das drückt David mit den Worten aus: »Wenn ich zum Himmel emporsteige, so bist du da« usw. (Ps 138, 8 ff).

Wenn es nun auch wahr ist, dass Gott überall und in allen Dingen gegenwärtig ist, ohne, wie schon gesagt, selbst begrenzt zu sein, so spricht doch die Hl. Schrift oft davon, dass Er im Himmel wohne. Der Grund hierfür ist offenbar der, weil die sichtbaren Himmelskörper den hervorragendsten Teil der Welt darstellen, da sie der Auflösung unzugänglich (Nach der alten Naturauffassung), an Kraft, Größe und Schönheit den andern Körpern überlegen und durch bestimmte, regelmäßige Bewegung ausgezeichnet sind.

Wenn Gott daher in der Hl. Schrift sagt, dass Er im Himmel wohne, so klingt das wie eine Einladung an den Menschengeist, die am Himmelszelt zumeist sich offenbarende Macht und Majestät Gottes zu betrachten. Dabei wird aber immer wieder die Tatsache betont, es gebe in der ganzen Welt kein Plätzchen, das Gottes Wesen und Macht nicht erfüllte.

19 Bei Betrachtung dieser Wahrheit sollen aber die Gläubigen nicht nur das Bild des gemeinsamen Vaters, sondern auch des göttlichen Herrschers vor Augen haben. So werden sie, wenn sie beim Gebet Geist und Herz zum Himmel erheben, daran denken, dass das hoheitsvolle Wesen und die göttliche Majestät unsres Vaters, »der im Himmel ist«, ebenso christliche Demut und Ehrfurcht fordert, wie der Vatername Hoffnung und Vertrauen weckt.

Zugleich geben diese Worte dem Betenden schon im voraus den Gegenstand des Gebetes an. Denn all unser Bitten um Hilfe in irdischen Dingen ist eitel und eines Christen unwürdig, wenn dadurch nicht die Verbindung mit den himmlischen Gütern und dem letzten Ziele hergestellt wird. Der Seelsorger soll daher die gläubigen Zuhörer zu dieser Gesinnung beim Gebete ermuntern unter Berufung auf das Wort des Apostels Paulus: »Wenn ihr mit Christus auferstanden seid, sucht, was droben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt. Was droben ist, habt im Sinn, nicht was auf der Erde« (Kol 3, 1f).

Zehntes Kapitel: Die erste Bitte des Vaterunsers
»Geheiligt werde dein Name« 

1 Um welche Dinge man Gott bitten soll und in welcher Reihenfolge, das hat unser aller Herr und Meister selbst gelehrt und geboten. Weil das Gebet der klare Ausdruck unsres Begehrens und Liebens ist, wird unser Beten dann recht und verständig sein, wenn sich die Reihenfolge der Bitten nach der Rangordnung der begehrenswerten Dinge richtet. Nun verlangt aber die wahre Liebe, dass wir all unser Begehren auf Gott richten, der das höchste Gut selber ist und deshalb mit einer ganz besondern und überragenden Liebe geliebt zu werden verdient. Man kann aber Gott nicht von Herzen und einzig lieben, wenn man nicht seine Ehre und Verherrlichung allen andern Dingen und Wesen vorzieht. Denn was wir und andere Gutes haben, überhaupt alles, was den Namen »Gut« verdient, stammt von Gott und steht hinter Ihm, dem höchsten Gut, weit zurück.

Um uns also die rechte Ordnung beim Beten zu lehren, hat der Heiland diese Bitte in bezug auf das höchste Gut als erste und wichtigste den andern Bitten vorangestellt. Damit wollte Er uns lehren: bevor wir begehren, was wir oder die Nebenmenschen brauchen, sollen wir nach Gottes Ehre verlangen, und dies unser aufrichtiges Verlangen Gott vortragen. Auf diese Weise bleibt die Liebespflicht gewahrt, die uns Gott mehr lieben heißt als uns selbst, und das, was wir Gott wünschen, uns zuerst erbitten lässt, dann erst, was wir für uns selbst begehren.

2 Man ersehnt und erbittet aber nur, was einem abgeht. (Gott kann aber seiner Wesenheit nach unmöglich einen Zuwachs erfahren, noch kann das göttliche Sein durch irgend etwas vergrößert werden; ist doch jede Vollkommenheit in Ihm auf eine für uns unerklärbare Weise enthalten). Es versteht sich daher von selbst, dass wir für Gott von Ihm nur um etwas, was außer seiner Wesenheit liegt, bitten, nämlich um seine äußere Verherrlichung. Wir wünschen und beten also, dass Gottes Name den Heiden immer mehr bekannt, dass sein Reich mehr und mehr ausgebreitet werde und dass sich täglich mehr Menschen seinem göttlichen Walten unterwerfen. Diese drei Dinge: Name, Reich und Unterwerfung gehören nicht zum innersten Wesens gute Gottes, sondern kommen von außen her.

3 Die Gläubigen werden Sinn und Bedeutung dieser Vaterunserbitten besser verstehen, wenn sie der Seelsorger darauf aufmerksam macht, dass die Worte »Wie im Himmel also auch auf Erden« auf jede der drei ersten Bitten bezogen werden können, nämlich »Geheiligt werde dein Name wie im Himmel, also auch auf Erden«, ferner »Zu uns komme dein Reich wie im Himmel also auch auf Erden« und »Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden«.

Wenn wir nun beten, dass Gottes Name geheiligt werde, so verstehen wir das so, dass die Heilighaltung und Verherrlichung des göttlichen Namens stets zunehme. Der Heiland will aber nicht sagen - darauf mache der Pfarrer die Gläubigen aufmerksam - Gottes Name solle auf Erden in derselben Weise verherrlicht werden wie im Himmel, so dass die irdische Verherrlichung der himmlischen an Umfang und Wert gleichkäme, was natürlich unmöglich ist: sondern dies solle aus Liebe, aus innerstern Eife heraus geschehen.

4 Gewiss ist es richtig, dass der göttliche Name an sich einer Heiligung nicht bedarf, denn er ist »heilig und ehrfurchtgebietend« (Ps 110, 9), wie Gott selbst seiner Natur nach heilig ist und nicht heiliger werden kann, Er, der von Ewigkeit her alle Heiligkeit besitzt; - aber ebenso sicher ist, dass Gottes Name auf Erden viel zu wenig verherrlicht, ja nicht selten durch Flüche und gotteslästerliche Reden entehrt wird. Deswegen wünschen und beten wir, dass Ihm Lob, Ehre und Herrlichkeit zuteil werde nach dem Vorbild der himmlischen Lobpreisung, Verehrung und Verherrlichung. Mit andern Worten, unsre Gottesverehrung soll nach dem Beispiel der Himmelsbürger eine Huldigung des Verstandes, des Herzens und des Mundes sein, ein vollkommener innerer und äußerer Lobpreis, ein Jubel unsres ganzen Wesens über den erhabenen, reinen, herrlichen Gott.

So geht denn unser Gebet dahin: Wie die Heiligen des Himmels in vollem Einklang Gott loben und preisen, so sollen alle Völker des Erdkreises Ihn erkennen, ehren und anbeten; es sollen alle Sterblichen Christen werden und zwar solche, die sich Gott ganz weihen aus der festen Überzeugung heraus, es gebe nichts Reines und nichts Heiliges, das nicht von der Heiligkeit des göttlichen Namens, der Quelle aller Heiligkeit herkomme.

5 Es sagt nämlich der Apostel, »die Kirche sei im Wasserbad gereinigt worden durch das Wort des Lebens« (Eph 5, 26). »Wort des Lebens« bedeutet aber den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, in dem wir getauft und geheiligt werden. Weil es also für keinen Menschen wahre Versöhnung, Reinheit und Unschuld geben kann, ohne dass über ihn der göttliche Name angerufen wird, daher ersehnen und erflehen wir von Gott, das ganze Menschengeschlecht möge die Finsternisse des schändlichen Unglaubens verlassen, und durch die Strahlen des göttlichen Lichtes erleuchtet, die Kraft dieses Namens anerkennen, in ihm die wahre Heiligkeit suchen, im Namen der heiligsten und unteilbaren Dreifaltigkeit getauft werden, und so durch die mächtige Hand Gottes die volle Heiligkeit erlangen.

6 Unser Wünschen und Flehen erstreckt sich aber auch auf jene, die sich durch Laster und Sünden befleckt und so die Taufunschuld und das Gewand der Taufgnade verloren haben. Infolgedessen hat in diesen Unseligen der unreine Geist wiederum seinen Sitz aufgeschlagen. Deswegen begehren und erbitten wir von Gott, dass auch in ihnen sein Name geheiligt werde, dass sie in sich gehen und sich besinnen, im Sakrament der Buße die frühere Heiligkeit zurückgewinnen und wieder zu einem reinen und heiligen Tempel und Wohnort Gottes werden.

7 Endlich beten wir, dass Gott in aller Menschen Geist sein Licht leuchten lasse, auf dass sie deutlich sehen, »jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk komme von oben herab vom Vater der Lichter« (Jak 1, 17) und sei uns von Gott verliehen. Von diesem Licht erleuchtet sollen sie Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Leben und Gesundheit, kurz alle Güter des Leibes und der Seele, mögen sie außer uns liegen, zu unsrer Natur gehören oder übernatürlich sein, dankbar aus der Hand dessen entgegennehmen, von dem nach dem Gebete der Kirche »alles Gute herkommt« (Fünfter Sonntag nach Ostern). Wenn die Sonne mit ihrem Licht, die Sterne mit ihrer Bewegung und ihrem Lauf dem Menschengeschlechte dienen, wenn wir durch die uns umgebende Luft leben, wenn die Erde mit einer Fülle von Getreide und Früchten alle ernährt, wenn wir durch die Leitung der Obrigkeit Ruhe und Frieden genießen: dies alles und unzählige andere Wohltaten dieser Art verdanken wir der unendlichen Güte Gottes. Auch was man in der Sprache der Philosophie zweite [d. h. geschöpfliche] Ursachen nennt, müssen wir gleichsam als wunderbar geschaffene zu unserm Wohl bestimmte Gotteshände ansehen, mit denen Er seine Gaben austeilt, ja weit und breit ausgießt.

8 Der tiefste Gehalt dieser Bitte zielt aber dahin, dass alle in der Kirche die heiligste Braut Christi und unsre Mutter anerkennen und ehren. In ihr allein fließt der reiche, nie versiegende Quell zur Abwaschung und Tilgung aller Sündenmakel; aus ihm schöpfen ihre heilende und heiligende Kraft alle Sakramente, durch die uns Gott wie durch himmlische Kanäle den Gnadentau und Regen zur Heiligung zuführt. Der Kirche allein und den Kindern, die sie in ihrem Schoße trägt und an ihrem Busen nährt, kommt es eigentlich zu, jenen Namen anzurufen, der allein »unter dem Himmel den Menschen gegeben ist, durch den wir selig werden sollen« (Apg 4, 12).

9 Bei Behandlung dieser Bitte muss der Pfarrer mit besonderem Nachdruck dies einschärfen: Ein gutes Kind betet nicht nur mit Worten zum Vater-Gott, sondern bemüht sich auch, dass aus seinem ganzen Leben und Tun die Heilighaltung des göttlichen Namens hervorleuchte. Möchte es doch niemand geben, der um die Heiligung des göttlichen Namens wohl häufig betet, aber durch die Tat ihn verunglimpft und entehrt, ja sogar zuweilen Schuld wird an Gotteslästerungen! Von solchen sagt der Apostel: »Durch eure Schuld wird der Name Gottes unter den Heiden gelästert« (Röm 2, 24). Und beim Propheten Ezechiel lesen wir: »Sie kamen zu den Heidenvölkern; wohin sie aber kamen, entweihten sie dort meinen heiligen Namen, indem man von ihnen sagte: das Volk des Herrn sind sie, und dennoch mussten sie aus seinem Lande wegziehen« (Ez 36, 10). Denn nach dem sittlichen Leben der Anhänger einer Religion pflegt die unerfahrene Menge die Religion selbst und derer Stifter zu beurteilen. Wer sich daher im Beter und Leben nach der christlichen Religion, die er angenommen hat, richtet, ist für andere ein mächtiger Ansporn, den Namen des himmlischen Vaters zu loben und ihm Ehre und Verherrlichung zu erweisen. Die Menschen durch Übung hervorragender Tugendwerke zum Lobpreis des göttlichen Namens aufzumuntern, hat uns der Herr übrigens zur Pflicht gemacht; beim Evangelisten steht sein Wort geschrieben: »So lasset denn euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und den Vater preisen, der im Himmel ist« (Mt 5, 16). Und der Apostelfürst schreibt: »Führt einen guten Wandel unter den Heiden, damit sie euch aus den guten Werken erkennen und Gott preisen« (1 Petr 2, 12).

Elftes Kapitel: Die zweite Bitte des Vaterunsers
»Zu uns komme dein Reich« 

1 Das Himmelreich, um das wir in der zweiten Bitte flehen, ist Mittelpunkt und Endziel der gesamten Verkündigung des Evangeliums. Davon ging Johannes der Täufer bei seiner Bußpredigt aus, indem er sprach: »Tut Buße, denn das Himmelreich hat sich genaht« (Mt 3, 2). Nicht anders begann der Erlöser des Menschengeschlechtes seine Lehrtätigkeit (Mt 4, 17). Und in der Bergpredigt, in der Er seinen Jüngern das Heil verkündete und die Wege zum wahren Glück wies, war das Himmelreich Thema wie Ausgangspunkt: »Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich« (Mt 5, 3). Und als Ihn einmal einige zurückhalten wollten, begründete Er die Notwendigkeit seiner Abreise also: »Auch andern Städten muss ich das Reich Gottes verkünden, denn dazu bin ich gesandt« (Lk 4, 43). Später befahl Er den Aposteln, gleichfalls dieses Reich zu verkünden. Und einem, der Ihn bat, zuvor hingehen zu dürfen, um den Vater zu begraben, gab Er zur Antwort: »Du geh hin und verkünde das Reich Gottes« (Lk 9, 60). Auch nach seiner Auferstehung redete Er mit den Aposteln über das Reich Gottes, wenn Er ihnen während der vierzig Tage erschien (Apg 1, 3).

Es müssen daher die Seelsorger diese zweite Bitte mit besonderer Sorgfalt behandeln, damit die Zuhörer die ganze Tragweite und Notwendigkeit dieser Bitte verstehen. 2 Zunächst wird ihnen zu einer guten und genauen Erklärung der Gedanke gute Dienste tun, dass der Herr diese Bitte nicht nur in Verbindung mit den übrigen, sondern auch für sich allein zu gebrauchen befahl mit den Worten: »Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, dann wird euch dies alles hinzugegeben werden« (Mt 6, 33). Dabei leitete Ihn die Absicht, dass wir das, um was wir da bitten, auch mit ganzer Seele suchen.

Diese Bitte umfasst eigentlich die ganze Fülle himmlischer Gaben, die zur Erhaltung unsres leiblichen und geistlichen Lebens notwendig sind. [Dass Gott der König dieses Reiches uns all das wirklich geben will, ist außer jedem Zweifel.] Oder halten wir etwa den des Königstitels würdig, der sich um das Wohl seines Reiches nicht kümmert? Wenn nun schon menschliche Herrscher für die Wohlfahrt ihres Reiches besorgt sind, mit welch liebevoller Sorge wird dann der König der Könige Leben und Heil der Menschen schirmen? In dieser Bitte um das Reich Gottes ist daher alles enthalten, was wir für diese Pilgerschaft, oder besser gesagt Verbannung, nötig haben. All das zu geben, hat Gott in seiner Güte noch ausdrücklich versprochen durch den Zusatz: »Alles übrige wird euch dazugegeben werden.« Damit hat Er seine wirklich königliche Freigebigkeit gegen das Menschengeschlecht klar kund getan. Der Gedanke an diese unendliche Güte hat David zu dem Liede begeistert: »Der Herr ist mein König, mir wird nichts mangeln« (Ps 22).

3 Inständiges Bitten um das Reich Gottes ist jedoch nicht genug. Wir müssen auch unsrerseits alle Mittel anwenden, es zu suchen und zu finden. Die fünf törichten Jungfrauen flehten voll Verlangen: »Herr, Herr, tu uns auf« (Mt 25, 11)! Und doch wurden sie abgewiesen und zwar mit Recht, weil ihrer Bitte die notwendige Voraussetzung (der eigenen Mitarbeit) fehlte. Der Herr selbst hat ja gesagt: »Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird ins Himmelreich eingehen« (Mt 7, 21).

4 Daher werden die Seelsorger die reichen Schätze der Heiligen Schrift fleißig ausschöpfen, um in den Gläubigen ein starkes Sehnen nach dem Himmelreich zu wecken.

Der Schrift sollen sie daher Gedanken entnehmen, um dem Volk den unheilvollen Zustand unsres Daseins lebhaft zum Bewusstsein zu bringen, es zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung zu bestimmen und so seine Gedanken auf das hohe Glück und die Fülle der unaussprechlichen Güter des ewigen Vaterhauses zu lenken. Wir sind ja wirklich Verbannte und leben mitten unter unversöhnlichen, von unauslöschlichem Hass gegen das Menschengeschlecht erfüllten Dämonen. Dazu der innere Zwiespalt zwischen Leib und Seele, zwischen Fleisch und Geist, der uns ständig mit Furcht vor dem Untergang erfüllen muss. Ja, wenn wir uns bloß fürchten müssten I Wir würden sicher auch tatsächlich zugrunde gehen, wenn uns nicht die mächtige Hand Gottes schirmte. Diesen Druck unsres Elends fühlend, ruft der Apostel aus: »Ich unglückseliger Mensch, wer wird mich erlösen von diesem todbringenden Leib« (Röm 7, 24)?

5 Dieser traurige Zustand unsres Geschlechtes, den wir lebhaft genug fühlen, wird uns noch klarer durch einen Vergleich mit den übrigen Wesen und geschaffenen Dingen. Weder in den vernunftlosen noch in den empfindungslosen Wesen finden wir ein häufigeres Versagen in den Handlungen oder im Empfinden oder in den Naturtrieben, so dass sie ihr Ziel nicht erreichten. Das kann jeder an den Tieren auf dem Lande und im Wasser beobachten. Und wenn wir zum Himmel emporblicken, leuchtet uns da nicht ganz klar das Wort Davids ein: »In Ewigkeit, o Herr, steht fest dein Wort (Gesetz) am Himmel« (Ps 118, 89). Da ist nämlich ein regelmäßiger und ständiger Kreislauf ohne das geringste Abweichen von dem durch Gott festgestellten Gesetz. Und wenn wir die Erde und das übrige Weltall betrachten, auch da keine oder nur geringe Ungesetzmäßigkeiten. Nur der arme Mensch fällt so oft; selten folgt er dem recht Erkannten; sehr oft gibt er das gut Begonnene wieder auf und lässt es liegen; was ihm jetzt als das Beste erscheint, missfällt ihm im nächsten Augenblick wieder, er verschmäht es und wendet sich Schändlichem und Schädlichem zu.

6 Und was ist der Grund einer solchen Unbeständigkeit und einer solchen Armseligkeit? Nichts anderes als die Verachtung der göttlichen Gnade. Wir verschließen das Ohr vor den göttlichen Mahnungen; wir wollen die Augen dem Lichte der göttlichen Offenbarungen nicht öffnen, und hören nicht auf die wohlgemeinten Gebote des himmlischen Vaters. Da ist es nun Aufgabe der Pfarrer, den Gläubigen über unser Elend die Augen zu öffnen, aber auch die Ursachen des Elends und die wirksamen Heilmittel ihnen in Erinnerung zu bringen. Reichen Stoff dafür können sie schöpfen aus den Schriften des hl. Johannes Chrysostomus und des hl. Augustin, besonders auch aus dem, was bei der Erklärung des apostolischen Glaubensbekenntnisses gesagt wurde. Wer das einmal erkannt hat, wird der nicht, selbst wenn er bisher ein Verbrecher war, das Beispiel des verlornen Sohnes im Evangelium nachahmen und mit Hilfe der zuvorkommenden Gnade Gottes sich zu erheben trachten, sich aufmachen und in die Arme des himmlischen Königs und Vaters eilen (Lk 15)?

7 Ist den Gläubigen der Nutzen dieser Bitte dargelegt, muss ihnen der Seelsorger auch ihren Inhalt aufzeigen. Dies ist um so notwendiger, als der Ausdruck »Reich Gottes« sehr vieldeutig ist. Eine derartige Erklärung nützt auch sonst dem Verständnis der Hl. Schrift, zur genauen Kenntnis der Bitte aber ist sie ganz notwendig.

In einer mehr allgemeinen, in der Hl. Schrift häufig vorkommenden Bedeutung bezeichnet der Ausdruck »Reich Gottes« die Oberhoheit Gottes über die Menschheit und das Weltall, und zugleich auch die Vorsehung, mit der Er alles lenkt und leitet. »In seiner Hand sind alle Erdengrenzen« (Ps 94,4), sagt der Prophet. In diesen »Grenzen« sind auch die unbekannten, im Schoß der Erde oder sonst in irgend einem Teile des Alls verborgenen Dinge mit inbegriffen. Diesen Sinn haben auch die Worte des Mardochäus: »Herr, Herr, allmächtiger König, deiner Macht ist alles unterworfen und niemand vermag deinem Willen zu widerstehen ... ; Du bist der Herr über alles und keiner kann deiner Majestät widerstehen« (Est 13, 9. 11).

8 Man versteht ferner unter »Reich Gottes« eine besondere Seite der göttlichen Vorsehung, nämlich jene außerordentliche Obsorge und Hut, in die Gott heilige und fromme Menschen nimmt. Von dieser ganz einzigen Fürsorge Gottes gilt das Wort Davids: »Der Herr ist mein Regent, mir wird nichts mangeln.« (Ps 22, f) Ebenso der Ausspruch des Propheten Isaias: »Der Herr, unser König, wird uns retten« (Jes 33, 22).

Wenn auch, wie schon gesagt, die Heiligen und Frommen diese königliche Oberhoheit Gottes bereits in diesem Leben in besonderer Weise genießen, so gilt doch [für alle, also auch für sie] Christi des Herrn Wort an Pilatus: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh 18, 36); d.h. es hat seinen Ursprung keineswegs von dieser geschaffenen und vergänglichen Welt wie die Herrschaft der Kaiser, Könige, Volksregierungen und Fürsten, mögen sie durch Volksbegehren und Volksentscheid Staaten und Länder regieren, oder mit Gewalt und Unrecht die Herrschaft an sich gerissen haben. Christus der Herr aber ist nach dem Worte des Propheten von Gott selbst zum König »bestellt« (Ps 2, 6).

Sein Reich ist nach einem Ausspruch des Apostels »Gerechtigkeit (Heiligkeit)«: »Das Reich Gottes«, sagt er, »ist Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geiste« (Röm 14, 17). 9 Christus der Herr herrscht nämlich in uns durch die inneren Tugenden des Herzens: durch Glaube, Hoffnung und Liebe. Durch diese Tugenden werden wir gleichsam seinem Reiche eingegliedert und durch ein Untertanenverhältnis ganz eigener Art für seinen Dienst und seine Verehrung geweiht. Wir können darum nach dem Apostelwort: »Ich lebe, doch eigentlich nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir« (Gal 2, 20), auch sagen: Ich herrsche, doch eigentlich nicht ich, sondern Christus herrscht in mir. Reich der Gerechtigkeit (Heiligkeit) wird es genannt, weil es durch die Gerechtigkeit (Heiligkeit) Christi des Herrn gegründet ist. Von diesem Reiche sagt der Herr beim Evangelisten Lukas: »Das Reich Gottes ist in euch« (Lk 17, 21).

Christus herrscht zwar durch den Glauben in allen, die der Mutterschoß der heiligen Kirche umfängt. Auf eine besondere Weise jedoch herrscht Er in jenen, die sich durch Glaube, Hoffnung und Liebe auszeichnen und sich als reine lebendige Glieder Gott hingegeben haben. Von diesen gilt: in ihnen ist das Reich der göttlichen Gnade.

10 Es gibt aber noch ein Reich Gottes, das der Himmelsherrlichkeit (Glorie). Von diesem spricht Christus der Herr beim Evangelisten Matthäus also: »Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmet das Reich in Besitz, das seit der Weltschöpfung für euch bereitet ist« (Mt 25, 34). Um dieses Reich bat den Herrn, wie der Evangelist Lukas erzählt, der Räuber, der in bewundernswerter Weise seine Verbrechen einbekannte und sprach: »Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst« (Lk 23, 42). Auch beim hl. Johannes finden wir dieses Reich erwähnt: »Wer nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Heiligen Geiste, kann nicht ins Reich Gottes eingehen« (Joh 3, 5). Ebenso spricht davon der Apostel im Briefe an die Epheser: »Kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Habgieriger, das sind Götzendiener, hat ein Erbteil an Christi und Gottes Reich« (Eph 5, 5). Daher gehören auch einzelne Gleichnisse Christi des Herrn, in denen Er vom Himmelreiche spricht (Mt 13).

11 Zuerst muss man jedoch das Reich der Gnade (in sich) gründen, denn unmöglich kann in einem die Herrlichkeit (Glorie) Gottes herrschen, wenn nicht zuvor seine Gnade in ihm geherrscht hat. Die Gnade ist ja nach dem Worte des Erlösers »die Quelle, die ins ewige Leben emporspringt« (Joh 4, 14). Und was ist schließlich die Himmelsherrlichkeit anderes als die vollkommene und vollendete Gnade? Solange wir nämlich mit diesem gebrechlichen und sterblichen Leibe bekleidet sind, solange wir in dieser unsichern Pilgerschaft und Verbannung hilflos und fern vom Herrn irren (2 Kor 5, 6), straucheln und fallen wir oft, weil wir die Stütze des Reiches der Gnade wegwerfen. Wenn uns aber einmal das Licht des vollkommenen Reiches Gottes in der Herrlichkeit aufleuchtet, werden wir in Ewigkeit fest und standhaft bleiben. Denn dann wird jeder Fehler und jedes Hindernis weggeräumt, jede Schwäche wird durch Kraft ersetzt und Gott selbst wird in unsrem Leib und in unsrer Seele herrschen. Dies wurde schon bei Behandlung des apostolischen Glaubensbekenntnisses eingehend dargelegt, als von der Auferstehung des Fleisches die Rede ging (l. Teil 168 ff).

12 Nachdem der Reich-Gottes-Begriff im allgemeinen dargelegt wurde, muss gesagt werden, was in dieser Bitte gemeint ist.

WIr bitten Gott um die Ausbreitung des Reiches Christi, das ist der Kirche; also um Bekehrung der Heiden und Juden zum Glauben an Christus den Herrn und zur Erkenntnis des wahren Gottes; um Rückkehr der Häretiker und Schismatiker zur gesunden Lehre und zur Gemeinschaft mit der Kirche, die sie verlassen haben; um Erfüllung und Verwirklichung des Wortes, das Gott durch den Mund des Propheten Isaias gesprochen hat: »Erweitere den Raum deines Zeltes und die Decken deiner Wohnstätten breite aus ... mache lang deine Zeltseile und befestige die Pflöcke! Denn zur Rechten und zur Linken wirst du vordringen, . . . . weil dein Schöpfer über dich herrschen wird« (Jes 54, 2. 3. 5). Und des andern: »Die Heiden werden in deinem Lichte wandeln und Könige im Glanze, der dir aufgegangen. Erhebe ringsum deine Augen und sieh, diese alle scharen sich zusammen und kommen zu dir. Deine Söhne kommen von ferne und deine Töchter erheben sich von allen Seiten« (Jes 60, 3f).

13 In der Kirche selbst gibt es leider solche, die Gott mit dem Munde bekennen und mit den Werken verleugnen (Tit 1, 16). Sie haben einen entstellten Glauben und in ihnen wohnt und herrscht der Teufel wie in seinem eigenen Hause. Darum bitten wir auch, dass Gottes Reich zu diesen komme, damit die Finsternisse der Sünde in ihren Herzen durch die Strahlen des göttlichen Lichtes aufgehellt und sie selbst wieder zur früheren Würde der Gotteskindschaft erhoben werden. [Wir beten also], dass der himmlische Vater aus seinem Reiche nicht nur alle Irrlehren und Spaltungen entferne, sondern auch alle Ärgernisse und Veranlassungen zur Sünde beseitige und die Tenne der Kirche säubere; so wird sie Gott willig die schuldige Ehrfurcht und Huldigung erweisen und einen ruhigen und ungestörten Frieden genießen.

14 Wir bitten ferner, dass Gott allein in uns lebe, dass Er allein in uns herrsche; für den Tod [der Sünde] soll ferner kein Platz mehr sein, er werde verschlungen im Siege Christi unsers Herrn. Dieser breche alle Herrschaft, Gewalt und Macht der Feinde und unterwerfe alles seinem Reiche.

15 Die Pfarrer sollen also das gläubige Volk angelegentlich, entsprechend der Bedeutung dieser Bitte, belehren, welche Gedanken und Erwägungen man hegen soll, um sie mit Andacht vor Gott auszusprechen.

Demnach werden sie zuerst die Gläubigen ermahnen, Sinn und Bedeutung jenes vom Erlöser vorgetragenen Gleichnisses sich vor Augen zu halten: »Das Himmelreich ist einem Schatze zu vergleichen, der in einem Acker verborgen ist; wenn ihn ein Mensch entdeckt, hält er ihn geheim, geht vor Freude hin, verkauft alles, was er hat, und kauft den Acker« (Mt 13, 44). So hält der, der einmal die Reichtümer Christi des Herrn kennen gelernt hat, alles andere im Vergleich zu ihnen für gering; Geld und Gut und Macht erscheinen ihm wertlos. Es gibt ja in der Tat nichts. was mit diesem kostbarsten Schatze verglichen werden, ja was neben ihm überhaupt noch Wert haben könnte. Die das einmal erfasst haben, rufen mit dem Apostel: »Ich halte alles für Schaden und erachte es für Kehricht, um Christus zu gewinnen« (Phil 3, 8).

Das [Reich der Gnade] ist die kostbare Perle im Evangelium (Mt 13, 46); wer dafür den ganzen Erlös für seine verkaufte Habe hingibt, wird ewige Seligkeit genießen. 16 O wie glücklich wären wir, wenn uns Jesus Christus nur soviel Licht gäbe, dass wir die Perle der göttlichen Gnade, durch die Er in den Seinen herrscht, zu sehen vermöchten! Dann würden wir all das Unsere, ja uns selbst drangeben, um sie zu erwerben und zu bewahren. Dann könnten wir endlich ohne Bedenken sagen: »Wer wird uns trennen von der Liebe Christi« (Röm 8, 15)?

Wenn wir aber die großartige Herrlichkeit des Reiches der Glorie kennen wollen, hören wir nur, was der Prophet und der Apostel davon sagen und denken: »Kein Auge hat es gesehen und kein Ohr hat es gehört und in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben« (Jes 64, 4; 1 Kor 2, 9).

17 Gar sehr wird es zur Erhörung unsres Gebetes beitragen, wenn wir uns vor Augen halten, wer wir eigentlich sind: nämlich Nachkommen Adams, mit Recht aus dem Paradies verjagt und verbannt, deren Unwürdigkeit und Nichtswürdigkeit Gottes tiefsten Hass und ewige Strafen herausforderten. Wir haben daher alle Ursache demütig und kleinlaut zu sein. Für uns schickt sich ein Gebet voll christlicher Demut. Voll Misstrauen gegen uns selbst sollen wir wie der Zöllner zur Barmherzigkeit Gottes unsre Zuflucht nehmen, alles seiner Güte zuschreiben und Ihm ewig Dank sagen, Ihm, der uns seinen Geist gegeben hat, in dem wir rufen dürfen: »Abba, Vater« (Röm 8. 15; Gal 4, 6).

18 Befassen wir uns ferner ernstlich mit dem Gedanken: Was müssen wir tun und was meiden, um ins himmlische Reich zu gelangen?

Denn nicht zum bequemen Nichtstun sind wir von Gott berufen worden. Sagt Er doch: »Das Himmelreich bricht sich mit Gewalt Bahn und Gewalttätige reißen es an sich« (Mt 11, 12); und: »willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote« (Mt 19, 18). Es genügt also nicht, um das Reich Gottes bloß zu bitten; die Menschen müssen sich zugleich auch ernstlich anstrengen. Sie müssen mit der Gnade Gottes kräftig mitarbeiten auf dem Weg, der zum Himmel führt.

Gott wird uns sicher nie verlassen, denn Er hat uns seinen beständigen Beistand versprochen. Nur auf das Eine müssen wir acht geben, dass wir weder Gott noch uns selbst verlassen. Und Gottes Hilfe ist überreich: Alles was Er im Reich seiner Kirche niedergelegt hat für uns Menschen zur Pflege des Gnadenlebens und zur Erreichung des ewigen Heiles: teils unsichtbare Hilfen, wie die Scharen der heiligen Engel, teils sichtbare, wie die Sakramente, diese Gnadengeschenke voll himmlischer Kraft. In all diesem ist so viel göttlicher Schutz und Beistand für uns enthalten, dass wir uns nicht nur gegen das Reich unsrer grimmigen Feinde zu sichern vermögen, sondern den Zwingherrn selbst samt seinem gottlosen Anhang zu Boden schmettern und zertreten können.

19 Endlich sollen wir aus ganzer Seele den Geist Gottes bitten, dass Er unser ganzes Tun nach seinem Willen gestalte; dass Er die Herrschaft Satans vernichte, so dass dieser am Jüngsten Tag keine Macht über uns hat; dass Christus siegt und triumphiert, seine Gesetze auf der ganzen Welt Geltung erlangen und seine Gebote befolgt werden; dass keiner an Ihm zum Verräter werde oder fahnenflüchtig; dass sich vielmehr alle so betragen, um einmal zuversichtlich vor dem Antlitz des Gott-Königs erscheinen und das ihnen von Ewigkeit her bestimmte himmlische Reich in Besitz nehmen zu können, wo sie in Vereinigung mit Christus die ewige Seligkeit genießen werden.

Zwölftes Kapitel: Die dritte Bitte des Vaterunsers
»Dein Wille geschehe« 

1 Christus der Herr hat gesagt: »Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird ins Himmelreich eingehen, sondern nur wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der wird ins Himmelreich eingehen« (Mt 7, 21). Wer demnach in den Himmel kommen will, muss um die Erfüllung des göttlichen Willens beten. Daher steht diese Bitte hier gleich nach der Bitte ums Himmelreich.

2 Damit nun die Gläubigen sehen, wie notwendig wir brauchen, was wir in dieser Bitte begehren, und wie wichtig die Heilsgüter sind, die wir im Falle der Erhörung erlangen, müssen die Seelsorger zeigen, unter welchen Armseligkeiten und Mühen das Menschengeschlecht infolge der Sünde des Stammvaters leidet.

3 Gott hat nämlich von Anfang an die Geschöpfe mit dem Trieb nach dem eigenen Wohlergehen ausgestattet und so begehren und suchen sie mit natürlichem Drang ihr Ziel, von dem sie nur durch Dazwischentreten eines äußern Hindernisses abweichen. So war am Anfang auch im Menschen der Trieb zu Gott, seinem Ursprung und dem Urheber seines Glückes, herrlich und vortrefflich, um so mehr als der Mensch mit Verstand und freiem Willen ausgestattet war. Aber während die vernunftlosen Wesen den anerschaffenen Naturtrieb bewahrten und im ursprünglichen guten Zustand bis heute verharren, hat das arme Menschengeschlecht die rechte Richtung verlassen. Denn es verlor nicht bloß die Güter der ursprünglichen Heiligkeit, womit es von Gott über seine Naturanlagen erhoben und ausgestattet worden war, sondern durch seine Schuld geriet auch das der Seele eingepfIanzte Tugendstreben auf Irrwege. Heißt es doch: »Alle sind abgewichen, alle insgesamt sind verdorben, keiner ist, der Gutes täte, auch nicht einer« (Ps 52, 4). Denn »Sinnen und Trachten des Menschenherzens sind aufs Böse gerichtet von Jugend an« (Gen 8, 21). Darin liegt offenbar der Grund, warum niemand aus sich am Guten Geschmack hat, vielmehr alle zum Bösen geneigt sind und zahllose böse Begierden in den Menschen herrschen: willig, ja leidenschaftlich lassen sie sich zu Zorn, Hass, Stolz, Streberei und fast zu jeder Art von Schlechtigkeit fortreißen.

4 Den Höhepunkt des Elends bedeutet es, dass wir viele der Übel, in denen wir doch ständig uns befinden, gar nicht einmal mehr als solche ansehen. Das beleuchtet grell die ungeheure Verderbnis der Menschen: von ihren Leidenschaften und Lüsten geblendet, sehen sie gar nicht, dass das, was sie für heilbringend halten, zumeist tödliches Gift ist; ja sie stürzen sich geradezu auf diese schädlichen Dinge wie auf begehrens- und erstrebenswerte Güter, und vor dem, was wirklich gut und ehrbar, haben sie wie vor etwas Widerlichem einen förmlichen Ekel.

Über diese unsre Selbsttäuschungen und verkehrten Ansichten spricht Gott mit folgenden Worten seinen Abscheu aus: » Weh euch, die ihr das Schlechte gut und das Gute schlecht nennt, die Finsternis als Licht und das Licht als Finsternis hinstellt, das Bittere in süß und das Süße in bitter verkehrt« (Jes 5, 20). 5 Um uns unser Elend recht deutlich zum Bewusstsein zu bringen, vergleicht uns hier die Heilige Schrift mit solchen, die den richtigen Geschmack verloren haben und infolgedessen die gesunde Nahrung verschmähen und nach schädlicher Verlangen tragen.

Auch mit Kranken vergleicht sie uns. Denn wie diese ohne vorausgehende Heilung die Pflichten und Obliegenheiten der Gesunden und Normalen nicht übernehmen können, so können auch wir gottgefällige Handlungen ohne die Hilfe der göttlichen Gnade nicht vollbringen. - 6 Wenn wir in diesem Zustande trotzdem manches erreichen, so handelt es sich doch nur um Unbedeutendes und für die Erlangung der ewigen Seligkeit hat das geringen oder gar keinen Wert. Und gar erst Gott geziemend lieben und verehren übersteigt so himmelhoch unsre menschlichen Kräfte, dass wir es niemals zustande brächten, wenn wir uns nicht mit Hilfe der göttlichen Gnade vom Boden erheben könnten.

7 Sehr gut wird das menschliche Elend noch durch einen andern Vergleich ausgedrückt: Wir werden nämlich mit Kindern verglichen, die sich selbst überlassen, unbesonnen alles haben möchten. Und wir sind wirklich unverständige Kinder, leerem Geschwätz und unnützem Tun ergeben, sobald wir ohne göttlichen Beistand sind. Darum tadelt uns die (göttliche) Weisheit also: »Wie lange noch, ihr Kinder, liebt ihr Kindereien und begehrt nach Torenart das, was euch schadet« (Spr 1, 22)? Und der Apostel mahnt: »Werdet nicht Kinder im Denken« (1 Kor 14, 20). Ja, wir sind noch hilfloser und unwissender als Kinder. Diesen fehlt freilich gar sehr die menschliche Klugheit, sie können sie jedoch mit der Zeit erlangen. Wir hingegen können nach der heilsnotwendigen göttlichen Klugheit ohne Gottes Anregung und Hilfe nicht einmal verlangen. Denn ohne den Beistand Gottes verschmähen wir die wahren Güter und stürzen uns freiwillig ins Verderben.

8 Wer nun von der geistigen Blindheit durch Gottes Gnade befreit, dieses Elend der Menschen betrachtet, wer aus der Gefühllosigkeit erwacht, das Gesetz der Glieder empfindet, das Widerstreben der sinnlichen Begierden gegen den Geist wahrnimmt und unsern natürlichen Hang zum Bösen deutlich erkennt: wie kann der anders, als mit ganzem Eifer nach einem geeigneten Heilmittel gegen diesen Krebsschaden unsrer Natur suchen, und Verlangen tragen nach der heilenden Lebensregel für die sittliche Führung des Christen? Und das eben begehren wir, wenn wir zu Gott beten: »Dein Wille geschehe«. Weil wir durch Ungehorsam und Missachtung des göttlichen Willens in dieses Elend geraten sind, ist uns gegen diese großen Übel nur das eine Mittel von Gott gegeben: Endlich einmal nach Gottes Willen, den wir durch die Sünde verachtet haben, leben und unser ganzes Denken und Tun an dieser Richtschnur messen. Und damit wir das erreichen können, flehen wir inständig zu Gott: »Dein Wille geschehe.« 

9 Um das müssen auch die voll Inbrunst beten, in deren Herzen Gott bereits herrscht, die von den Strahlen des göttlichen Lichtes erleuchtet sind und infolgedessen durch die Gnade dem Willen Gottes gehorchen. Denn auch solche empfinden den Widerstreit der eigenen Begierden wegen der unsrer sinnlichen Natur anhaftenden Neigung zum Bösen. Auch so besteht für uns hienieden noch die große Gefahr, dass wir von den Begierden, »die in unsern Gliedern Krieg führen« (Jak 4, 1) gezogen und verlockt, wieder vom Weg des Heiles abirren. Vor dieser Gefahr warnt uns Christus der Herr mit den Worten: »Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet, der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach« (Mt 26, 41).

10 Es liegt nämlich nicht in der Macht des Menschen, nicht einmal des durch Gottes Gnade gerechtfertigten, die fleischlichen Begierden so niederzuhalten, dass sie sich nie mehr regen. Zwar heilt die Gnade Gottes den Geist der Gerechtfertigten; das gilt aber nicht vom Fleische, von dem der Apostel schreibt: »Ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt« (Röm 7, 18). Denn mit dem Verlust der ursprünglichen Gerechtigkeit verlor der erste Mensch auch sozusagen den Zügel für seine Begierden; und nachher konnte die Vernunft sie nie mehr so in die Gewalt bekommen, dass sie nichts Widervernünftiges begehren. Daher schreibt der Apostel, dass in diesem Teil unsres Wesens die Sünde d. h. der Zunder der Sünde wohnt (Röm 7, 17). Damit gibt er uns zu verstehen, dass wir da nicht etwa nur zeitweilig einen Gast beherbergen; wir müssen vielmehr unser ganzes Leben lang diesen Bewohner unsres Leibes in unsern Gliedern dulden wie in seinem eigenen Hause. Also von Feinden im eigenen Hause, ja im eigenen Innern werden wir unermüdlich angegriffen; daher begreifen wir leicht die Notwendigkeit, zu Gott zu fliehen und Ihn zu bitten, dass sein Wille in uns geschehe.

Ferner muss man darauf hinarbeiten, dass die Gläubigen den Inhalt dieser Bitte kennen. 11 Wir übergehen da vieles von den an sich guten und gehaltvollen Erörterungen der Scholastiker über den Willen Gottes; nur sei bemerkt, dass hier unter Wille die »Voluntas signi« verstanden wird, d. h. das, was uns Gott zu tun oder zu meiden befiehlt oder mahnt (Die Gebote und Verbote und die Mahnungen Gottes sind Wirkungen und daher Zeichen seines Willens. Vgl. S. Thomas I 19, 11. 12). Es ist daher im Wort Wille alles zusammengefasst, was von uns zur Erlangung der himmlischen Seligkeit verlangt wird, mag es sich nun auf den Glauben oder die Sitten beziehen; mit andern Worten alles, was uns Christus der Herr entweder selbst oder durch seine Kirche zu tun befiehlt oder verbietet. Von diesem Willen schreibt der Apostel Paulus: »Seid nicht unverständig, sondern lernt den Willen des Herrn verstehen« (Eph 5,17).

12 Wenn wir also beten: »Dein Wille geschehe«, flehen wir vor allem, der himmlische Vater möge uns die Kraft verleihen, den göttlichen Geboten zu gehorchen und Ihm zu dienen »in Heiligkeit und Gerechtigkeit alle Tage unsres Lebens« (Lk 1, 74); alles nach seinem Wink und Willen zu vollbringen; die uns in der Heiligen Schrift ans Herz gelegten Pflichten zu erfüllen; kurz wir bitten, dass wir unter seiner Führung und mit seiner Hilfe alles tun, was sich für solche ziemt, »die nicht aus dem Willen des Fleisches sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1, 13), dass wir nach dem Beispiel Christi, »der gehorsam geworden bis zum Tode, ja bis zum Tod am Kreuze« (Phil 2, 8) lieber alles zu leiden bereit sind, als im geringsten von seinem Willen abweichen.

13 Diese Bitte wird der mit inniger Liebe und feurigem Eifer aussprechen, dem es gegeben ist, die hohe Würde jener zu erkennen, die Gottes Willen tun; der die ganze Wahrheit des Wortes erfasst: »Gott dienen und gehorchen, heißt herrschen«; und des Ausspruches des Herrn: »Wer immer den Willen meines himmlischen Vaters tut, ist mir Bruder, Schwester und Mutter« (Mt 12, 50), d. h. mit dem bin Ich durch die innigsten Bande der Liebe und des Wohlwollens verbunden. Darum gibt es wohl keinen Heiligen, der nicht inbrünstig um die in dieser Bitte ausgesprochene große Gnade gebetet hätte. Alle übten dies Gebet als etwas ganz Vorzügliches, nur die Weise ist oft verschieden. Sehen wir nur, wie wunderlieb und mannigfaltig David diese Bitte gestaltet (Ps 118). Jetzt sagt er: »O mögen doch meine Wege darauf gerichtet sein, dass ich deine Gebote treu bewahre«! Dann wieder: »Lenke mich auf den Pfad deiner Gebote«! Und »Leite meine Schritte nach deinem Worte und kein Unrecht soll mich beherrschen«! Daher gehört auch das Wort: »Gib mir Einsicht und ich lerne deine Gebote ... deine Gerichte lehre mich ... gib mir Verständnis für deine Zeugnisse«! Und noch oft sagt er dasselbe, nur mit andern Worten. Diese Stellen sind sehr zu beachten und den Gläubigen zu erklären, damit sie alle den tiefen und heilsamen Gehalt dieser Bitte erkennen.

14 Mit der Bitte: »Dein Wille geschehe«, verabscheuen wir zweitens die Werke des Fleisches, von denen der Apostel schreibt: »Offenbar sind die Werke des Fleisches, als da sind: Unzucht, Unreinheit, Schamlosigkeit, Schwelgerei etc. (Gal 5, 19) und »wenn ihr nach dem Fleische lebet, werdet ihr sterben« (Röm 8, 13). Wir flehen also zu Gott, Er möge uns nicht dem Drang unsrer sinnlichen Begierden und unsrer Schwachheit folgen lassen, vielmehr unsern Willen nach dem seinen lenken. Von diesem Willen entfernen sich weit die Genussmenschen, deren Sinnen und Trachten im Irdischen stecken bleibt. Gierig jagen sie nach dem Ziel ihrer leidenschaftlichen Wünsche und in der Befriedigung schändlicher Begierden sehen sie die Seligkeit; daher nennen sie den glücklich, der all' seine Wünsche erfüllt sieht. Wir hingegen erbitten von Gott nach den Worten des Apostels, »dass wir nicht die Lüste des Fleisches pflegen« (Röm 13, 16), dass vielmehr sein Wille geschehe.

15 Es wird uns freilich nicht leicht, Gott zu bitten, dass Er unseren Begierden nicht willfahre. Den Geist zu solcher Gesinnung bringen, hat seine Schwierigkeit. Es ist scheinbar Selbsthass, wenn wir so bitten. Die Sinnenmenschen nennen es geradezu Torheit. Aber wir ertragen den Vorwurf der Torheit gern um Christi willen, der gesagt hat: » Wenn einer mir folgen will, so verleugne er sich selbst« (Mt 16, 24). Und das um so lieber, da wir überzeugt sind, dass es weit besser ist zu begehren, was gut und recht, als zu erlangen, was der Vernunft, der Tugend und den göttlichen Gesetzen widerspricht; und sicher trifft den ein schlimmeres Los, der seine unüberlegten und fleischlichen Begierden befriedigt sieht, als den, dessen in bester Absicht gehegte Wünsche nicht erfüllt werden.

16 Wir bitten indes nicht bloß, Gott möge unsre eigensinnigen Wünsche unerfüllt lassen, wenn unser Trachten augenscheinlich verderbt: ist - sondern es möge uns auch versagt werden, wenn wir zuweilen etwas begehren, was uns ein Gut dünkt, wozu aber in Wirklichkeit' der Teufel, freilich im Kleide eines lichten Engels, rät und drängt. So schien den Apostelfürsten der reinste Eifer und aufrichtige Liebe zu treiben, als er den Herrn vom Vorhaben, in den Tod zu gehen, abzubringen suchte; und doch schalt ihn der Herr ganz ernstlich, dass er durch das natürliche Gefühl und nicht durch die gotterleuchtete Vernunft sich leiten lasse (Mt 16, 23). Und als so heilige Männer wie Jakobus und Johannes voll Unwillen über die Samariter, die dem Meister die gastliche Aufnahme verweigert hatten, diesen baten, Er möge über die hartherzigen, rohen Menschen ein verzehrendes Feuer vom Himmel regnen lassen, schien diese Forderung nicht der denkbar größten Liebe zum Herrn zu entspringen? Aber der Herr tadelte sie mit den Worten: »Ihr wisset nicht, wes Geistes ihr seid! Der Menschensohn ist nicht gekommen, Seelen zu verderben, sondern zu retten« (Lk 9, 55).

17 Aber nicht bloß dann, wenn sich unser Verlangen auf offenbar oder versteckt Böses richtet, müssen wir Gott bitten, dass sein Wille geschehe, sondern auch dann, wenn es sich in Wirklichkeit um gar nichts Böses handelt. Das ist der Fall, wenn der Wille der unwillkürlichen natürlichen Neigung folgend, das der Natur Förderliche begehrt und das sie Bedrohende abweist. Wenn wir daher etwas derartiges erbitten wollen, sollen wir von Herzen sprechen: »Dein Wille geschehe«! Nehmen wir uns dabei Ihn zum Vorbild, von dem wir das Heil und die Heilslehre empfangen haben: von natürlichem Schauder vor den furchtbaren Qualen und dem bittersten Tod erfasst, stellte Er mitten im tiefsten Leid dennoch alles dem Willen Gottes des Vaters anheim, indem Er sprach: »Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine« (Lk 22, 42).

18 Aber wahrhaft erstaunlich ist die Verderbtheit der Menschen! Selbst wenn sie ihrer Begierlichkeit Gewalt antun und sie dem göttlichen Willen unterwerfen, können sie doch die Sünde nicht meiden ohne Hilfe Gottes, die uns vor dem Bösen bewahrt und zum Guten führt. Wir müssen daher zu dieser Bitte unsre Zuflucht nehmen und zu Gott flehen, Er möge das in uns Begonnene vollenden, den Aufruhr unsrer Begierden niederhalten, die Leidenschaften der Vernunft unterwerfen, kurz, uns gänzlich seinem Willen gleichförmig machen.

Endlich bitten wir, dass die ganze Welt zur Erkenntnis des Willens Gottes gelange, auf dass »das Geheimnis, das von aller Welt und Zeit her verborgen war« (Kol 5, 26), überall und allen bekannt werde.

19 Mit den Worten »Wie im Himmel, also auch auf Erden,« bitten wir um die rechte Weise und Ordnung unsres Gehorsams, dass nämlich dafür dieselbe Regel gelte, der im Himmel die heiligen Engel folgen und die die gesamte himmlische Geisterwelt beobachtet: Wie sie gern und mit größter Freude Gott auf jeden Wink gehorchen, so sollen auch wir uns bereitwilligst dem Willen Gottes fügen und zwar gerade so, wie Er es will. 20 Gott verlangt aber von uns, wenn wir Ihm eifrig dienen wollen, innigste Liebe gepaart mit größter Hochachtung, so zwar, dass wir die Hoffnung auf himmlischen Lohn, falls wir uns etwa deswegen Ihm geweiht hätten, nur darum hegen, weil es seiner göttlichen Majestät genehm ist, dass wir in dieser Hoffnung leben. Es gründe sich also unsre ganze Hoffnung auf die Liebe zu Gott, der als Lohn für unsre Liebe die ewige Seligkeit bestimmt hat.

Es gibt manche, die einem Herrn zwar mit Liebe dienen, aber des Lohnes wegen, dem eigentlich ihre Liebe gilt. Andere hingegen lassen sich nur von Hochschätzung und Liebe leiten, einzig und allein im Blick auf die Güte und Tugend dessen, dem sie dienen: daran denken sie, das bewundern sie an ihm, und darum schätzen sie sich glücklich, seinem Dienste sich widmen zu können.

21 In diesem Sinn ist der Zusatz »wie im Himmel, also auch auf Erden« aufzufassen. Wir müssen uns daher alle Mühe geben, Gott zu gehorchen, wie wir es von den seligen Geistern gesagt haben. Ihre Aufgabe ist, durch vollkommenen Gehorsam Gott zu loben, wie David im Psalm ausführt: »Lobet den Herrn alle seine Kräfte, ihr seine Diener, die ihr seinen Willen tut.« (Ps 102).

Man kann sich auch die Auslegung des hl. Cyprian (Cyprian, de or. domin. 17) zu eigen machen und unter »im Himmel« die Guten und Frommen, unter »auf Erden« die Bösen und Gottlosen verstehen; wir haben auch nichts dagegen, wenn man mit »Himmel« den Geist und mit »Erde« das Fleisch meint: wenn nur alles und alle in allem dem Willen Gottes gehorchen.

22 Diese Bitte enthält auch eine Danksagung. Denn wir ehren den heiligsten Willen Gottes und freudigen Herzens lobpreisen wir alle seine Werke, im vollen Bewusstsein, dass Er alles wohl gemacht hat. Denn da es feststeht, dass Gott allmächtig ist, müssen wir vernünftiger Weise folgern, dass alles auf seinen Wink gemacht ist. Und weil wir sagen und zwar mit Recht, Er sei das höchste Gut, so bekennen wir damit, dass keinem seiner Werke die Güte abgehe, da Er allen von seiner Güte mitgeteilt hat. Und wenn wir nicht in allem den göttlichen Ratschluss zu ergründen vermögen, so sprechen wir unzweideutig und ohne alles Zögern mit dem Apostel: »Unerforschlich sind deine Wege« (Röm 11, 33). Besonders aber ehren wir den Willen Gottes, weil wir von Ihm des himmlischen Lichtes gewürdigt wurden, denn »Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und in das Reich seines geliebten Sohnes versetzt« (Kol 1, 12. 13).

23 Zum Schluss möge noch eine Anleitung für die Betrachtung dieser Bitte ihren Platz finden: Man soll dabei auf das eingangs Gesagte zurückgreifen. Die Gläubigen sollen nämlich diese Bitte recht demütig aussprechen und erwägen, wie die Gewalt unsrer natürlichen Begierden dem Willen Gottes widerstreitet. Sie sollen bedenken, dass sie in dieser Hinsicht von allen andern geschaffenen Wesen übertroffen werden; denn von diesen heißt es: »Alles dient dir« (Ps 118, 91), während unsre Natur so schwach ist, dass sie, ohne durch den Beistand Gottes gehoben zu sein, ein gottgefälliges Werk nicht einmal beginnen, geschweige denn vollenden kann.

Da es aber, wie schon gesagt, nichts Herrlicheres und Besseres gibt, als Gott dienen und nach seinem Gesetz und seinen Geboten leben, was kann daher für den Christen begehrenswerter sein, als auf den Wegen des Herrn wandeln, im Herzen nichts sinnen und im Werk nichts unternehmen, was dem Willen Gottes zuwider wäre? Damit man aber mit dieser Übung beginne und beim Begonnenen eifrig verharre, greife man nach der Hl. Schrift und suche in ihr Beispiele von solchen, denen alles misslang, weil sie ihr Planen nicht nach dem Willen Gottes gerichtet haben.

24 Endlich mahne man die Gläubigen, dass sie sich im einfachen und unbedingten Willen Gottes beruhigen. Wenn etwa einer einen Platz einnimmt, der seiner Würde nicht zu entsprechen scheint, ertrage er seine Lage mit Gleichmut, und verlasse nicht seinen Stand, sondern »bleibe in dem Berufe, zu dem er berufen ist « (1 Kor 7, 20); das eigene Urteil unterwerfe er dem Willen Gottes, der für uns besser sorgt, als wir wünschen könnten. Wenn häusliche Sorgen, Krankheiten, Verfolgungen oder andere Mühen und Kümmernisse uns drücken, eines ist festzuhalten: nichts von all dem kann uns treffen ohne den göttlichen Willen, der der letzte Grund von allem ist. Daher dürfen wir uns nicht zu sehr aufregen, sondern sollen es starkmütig tragen und immer nur das eine sagen: »Der Wille des Herrn geschehe« (Apg 21, 14)! und mit dem hl. Job: »Wie es dem Herrn gefallen hat, so ist es geschehen, der Name des Herrn sei gebenedeit« (Job 1, 21)!

Dreizehntes Kapitel: Die vierte Bitte des Vaterunsers
»Unser tägliches Brot gib uns heute« 

1 In der vierten Bitte und den folgenden begehren wir dem eigentlichen Sinn und Wortlaut nach, was wir für Seele und Leib nötig haben. Diese Bitten stehen mit den vorausgehenden in engem Zusammenhang. Die sinngemäße Reihenfolge im Gebet des Herrn ist nämlich die, dass auf die Bitte um Göttliches die um den Unterhalt des Leibes und des zeitlichen Lebens folgt. Denn wie der Mensch selbst auf Gott als sein letztes Ziel hingeordnet ist, gleicherweise müssen sich auch die Güter des menschlichen Lebens nach den göttlichen richten. 2 Und zwar muss man sie deshalb wünschen und erbitten, entweder weil es so die göttliche Weltordnung fordert, oder weil wir ihrer zur Erlangung der göttlichen Güter bedürfen, mit andern Worten, weil wir nur mit ihrer Beihilfe das uns vorgesteckte Ziel erreichen: nämlich das Reich und die Ehre des himmlischen Vaters, sowie die treue Beobachtung der Gebote, in denen uns ja Gottes Wille kund getan wird. Gott und seine Ehre sei uns daher Ziel bei dieser Bitte nach ihrem ganzen Inhalt und Umfang.

3 Aufgabe des Seelsorgers wird es also sein, den gläubigen Zuhörern zu zeigen, beim Gebet um Nutznießung irdischer Dinge müsse man sein ganzes Sinnen und Trachten nach dem Willen Gottes richten und davon dürfe man sich in keiner Weise abbringen lassen. Denn nirgends vergeht man sich leichter im Sinne des Apostelwortes: »Um was wir bitten sollen, wie es sich gehört, wissen wir nicht« (Röm 8, 26), als gerade beim Gebet um die hinfälligen Dinge dieser Erde. Man muss also diese Güter erbitten, »wie es sich gehört«, damit wir nicht am Ende etwas Ungehöriges begehren und von Gott zur Antwort erhalten: »Ihr wisst nicht, um was ihr bittet« (Mt 20, 32).

Das sichere Unterscheidungszeichen des rechten vom ungehörigen Gebet ist aber die Gesinnung und Absicht des Betenden. Denn wer im Irdischen das Gute schlechthin erblickt und darin wie im ersehnten Ziele das Glück sucht und weiter nichts verlangt, - wer in dieser Gesinnung betet, der betet ohne Zweifel nicht, »wie es sich gehört.« »Wir bitten ja, nach einem Wort des hl. Augustin, um die zeitlichen Dinge nicht, weil sie für uns Güter, sondern weil es Lebensnotwendigkeiten sind« (Vgl. Augustin Lib. 2 de serm. Domini, c. 16). Auch der Apostel Paulus lehrt im Brief an die Korinther, man müsse alles, was zu den notwendigen Lebensbedürfnissen gehört, auf die Verherrlichung Gottes beziehen. »Ihr möget essen oder trinken oder etwas anderes tun,« sagt er, »tut alles zur Ehre Gottes« (1 Kor 10, 31).

4 Die Gläubigen sollen auch die große Notwendigkeit dieser Bitte einsehen. Darum wird der Pfarrer zeigen, wie sehr Lebensunterhalt und Lebenskultur von diesen äußeren Dingen abhängen. Diese Einsicht wird vertieft durch die Vergleichung der Lebensbedingungen unsres Stammvaters mit denen der übrigen Menschen. Zwar bedurfte auch er zur Verhütung des Kräfteverfalles der Nahrung, trotz des herrlichen Zustandes der Unschuld, der dann für ihn und die Nachkommenschaft durch seine Schuld verloren ging. Nichtsdestoweniger unterscheiden sich aber unsre Lebensbedürfnisse von den seinen gar sehr. Denn er bedurfte keiner Kleider zur Bedeckung des Körpers, keines Obdaches als Zuflucht, nicht der Waffen zur Verteidigung und nicht der Arzneien zur Gesundheit, abgesehen von vielen andern Dingen, die wir zum Schutz unsrer schwachen und gebrechlichen Natur nötig haben. Es genügte ihm zur Erhaltung unsterblichen Lebens die Frucht, welche der heilbringende Lebensbaum ohne Mühewaltung von seiner oder seiner Nachkommen Seite gespendet hätte. Bei all diesen Annehmlichkeiten des Paradieses wäre der Mensch jedoch nicht müßig gewesen; hatte ihn doch Gott zur Arbeit an diesen Aufenthalt der Wonne versetzt. Aber keine Tätigkeit wäre ihm beschwerlich und keine Aufgabe unangenehm gewesen. Durch Bebauung dieses Glücksgartens hätte er ständig die süßesten Früchte pflücken können und nie wäre er bei seiner Arbeit enttäuscht worden.

5 Seine Nachkommenschaft hingegen entbehrt nicht nur der Frucht des Lebensbaumes, auf ihr lastet dazu noch der furchtbare Richterspruch: »Verflucht sei die Erde ob deiner Tat. In Mühen sollst du dich von ihr nähren alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln soll sie dir tragen und du sollst das Kraut des Feldes essen. Im Schweiß deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis du zur Erde wiederkehrst, von der du genommen bist; denn du bist Staub und sollst wieder zu Staub werden« (Gen 3, 17ff). Uns trifft also das gerade Gegenteil von dem, was Adam und seiner Nachkommen Anteil gewesen wäre, hätte er auf das Gebot Gottes gehört. So aber ist alles zunichte geworden und hat sich für uns zu furchtbarem Unheil gewendet.

Dabei ist besonders drückend, dass oft der größte Aufwand, ja eine Unsumme von Mühe und Schweiß fruchtlos bleiben: wenn z. B. der Same auf schlechtes Erdreich fällt oder die keimende Saat vom Unkraut erstickt oder von Regengüssen, Sturm und Hagel in den Boden geschlagen oder von Brand und Rost zerfressen wird und zugrunde geht, so dass die Arbeit eines ganzen Jahres in wenig Augenblicken durch ein Unglück vom Himmel oder von der Erde her vernichtet wird. Das ist eine Folge unsrer entsetzlichen Sünden: ihretwegen wendet sich der Herr ab und versagt unsrer Arbeit seinen Segen, und so bleibt der schreckliche Urteilsspruch bestehen, den Gott am Anbeginn über uns gefällt hat.

6 Der Seelsorger möge daher diesen Punkt mit aller Sorgfalt behandeln, auf dass das gläubige Volk einsehen lerne, die Menschen geraten durch eigene Schuld in dieses Elend und diese Bedrängnis. Auch soll es wissen, dass man mit Schweiß und Arbeit nicht sparen darf, um sich den Lebensunterhalt zu erwerben; aber ebenso, dass alle Hoffnung trügerisch und jede Anstrengung vergeblich ist, wenn nicht Gott unsern Arbeiten seinen Segen gibt. Denn »weder der pflanzt noch der begießt, hat etwas zu bedeuten, sondern der das Gedeihen gibt, Gott« (1 Kor 3, 7). Und »wenn der Herr das Haus nicht baut, mühen sich die Bauleute umsonst« (Ps 126, 1).

7 Die Pfarrer sollen also darauf hinweisen, fast ohne Zahl seien die Dinge, deren Mangel wir entweder mit dem Verlust des Lebens oder wenigstens des Wohlbefindens büßen. Wenn die Christen einmal die Notwendigkeit dieser Dinge und dazu die Schwäche unsrer Natur recht erkannt haben, dann sehen sie sich gezwungen, zum himmlischen Vater zu gehen und Ihn inbrünstig um die irdischen und himmlischen Güter anzuflehen. Sie werden dann den verlornen Sohn nachahmen, der in der Fremde anfing, Mangel zu leiden; da aber niemand war, der ihm die Trebern der Schweine gab, seinen Hunger zu stillen, ging er endlich in sich und sah ein, es gäbe für sein Elend keine Linderung, außer wenn er sie vom Vater erbitte (Lk 15, 11 ff).

Mit noch größerem Vertrauen werden sich die Gläubigen zum Gebet begeben, wenn sie dabei der göttlichen Güte gedenken, wie nämlich der Vater dem Flehen der Kinder stets ein geneigtes Ohr leiht. Denn wenn Er uns mahnt, um Brot zu bitten, verheißt Er damit auch, dass Er es denen überreich geben wird, die Ihn in der rechten Weise darum bitten. Und wenn Er uns die rechte Weise zu beten lehrt, muntert Er uns dazu auf; mit der Ermunterung gibt Er zugleich den Antrieb und mit dem Antrieb die Bürgschaft und mit der Bürgschaft die sichere Hoffnung auf Erfolg.

8 Ist nun das Gemüt der Gläubigen wach und warm geworden, so muss man ihnen zeigen, um was wir in dieser Bitte flehen. Zunächst was das für ein

»Brot« 

ist, um das wir beten. Bekanntlich wird in der Hl. Schrift mit dem Worte »Brot« ganz Verschiedenes bezeichnet, vor allem aber doch zweierlei: erstens alles, was wir zur Nahrung und sonst zum Unterhalt des Leibes und des Lebens brauchen; zweitens alles, was wir für das übernatürliche Seelenleben von Gottes Güte erhalten haben.

Dass in dieser Bitte tatsächlich die Mittel zu unserm irdischen Lebensunterhalt gemeint sind, dafür bürgt die Lehre und die Autorität der hl. Väter. 9 Deswegen darf man denen kein Gehör schenken, die behaupten, es sei den Christen nicht erlaubt, um die Güter dieses irdischen Lebens Gott zu bitten. Denn außer der einstimmigen Lehre der hl. Väter sprechen gegen diesen Irrtum viele Stellen des Alten und Neuen Testamentes. Als z. B. einst Jakob ein Gelübde machte, betete er so: »Wenn der Herr mit mir ist und mich behütet auf dem Wege, auf dem ich gehe, und mir Brot zum Essen und Kleidung zum Anziehen gibt und wenn ich glücklich in das Haus meines Vaters zurückkehre, wird mir der Herr Gott sein und dieser Stein, den ich zum Denkmal aufgestellt habe, soll Haus Gottes genannt werden und den Zehnten von allem, was mir der Herr geben wird, werde ich dir zum Opfer bringen« (Gen 28, 20). Auch Salomon betete bestimmt um zeitlichen Lebensunterhalt mit den bekannten Worten: »Armut und Reichtum gib mir nicht, gib mir nur, was ich zum Leben brauche« (Spr 30, 8). Ja, der Erlöser des Menschengeschlechtes selbst hat uns um Dinge zu beten befohlen, die sich offenbar auf des Lebens Notdurft beziehen, wenn Er sagt: »Bittet, dass eure Flucht nicht im Winter oder am Sabbat geschehe« (Mt 24, 20). Und was soll man von folgenden Worten des hl. Jakobus sagen: »Ist jemand unter euch traurig, so bete er, ist ihm wohl, frohlocke er« (Jak 5, 13). Und was vom Apostel Paulus, der sich also an die Römer wendet: »Ich beschwöre euch bei unserm Herrn Jesus Christus und bei der Liebe des Hl. Geistes, helft mir in euren Gebeten zu Gott für mich, dass ich von den Ungläubigen in Judäa befreit werde« (Röm 15, 30f). Gott selbst hat also den Gläubigen gestattet, um Hilfe in ihren Lebensbedürfnissen zu bitten, und Christus der Herr hat ihnen dafür diese ganz vollkommene Bittformel hinterlassen. Daher fällt die Bitte [um irdische Güter] zweifellos unter die sieben Bitten [des Vaterunsers].

10 Wenn wir nun um das tägliche Brot beten, so verstehen wir darunter das zum Lebensunterhalt Notwendige: also Kleidung genug zum Bedecken und Speise genug zur Nahrung, gleichviel, ob es Brot, Fleisch oder Fisch oder sonst was sei. (Wir finden, dass sich schon der Prophet Elisäus dieser Ausdrucksweise bediente. Als er nämlich den König mahnte, den assyrischen Soldaten Brot zu geben, wurden ihnen die verschiedensten Speisen verabreicht (2 Kön 6, 22f). Dasselbe steht, wie wir wissen, auch von Christus dem Herrn geschrieben: »Er trat am Sabbat in das Haus eines Obersten der Pharisäer, um Brot zu essen« (Lk 14, 1). Wie wir sehen, soll mit diesem Ausdruck einfach Speise und Trank bezeichnet werden.) Um den vollen Sinn dieser Bitte zu verstehen, müssen wir also beachten, dass unter dem Wort »Brot« nicht Gewandung und Nahrung in Hülle und Fülle und ausgesuchter Feinheit verstanden werden darf, sondern das Notwendige in schlichter Einfachheit. So schreibt auch der Apostel: »Haben wir Nahrung und Kleidung, so lasst uns damit zufrieden sein« (1 Tim 6, 8). Und Salomons Wort wurde schon erwähnt: »Gib mir nur, was ich zum Leben brauche« (Spr 30, 8).

»Unser« 

11 Zu dieser Genügsamkeit und Sparsamkeit werden wir auch durch das Beiwort »unser« gemahnt. Denn wenn wir sagen »unser Brot«, beten wir um das, was wir für unsre Bedürfnisse und nicht zur Schlemmerei brauchen. »Unser« nennen wir es keineswegs, weil wir es durch eigene Arbeit ohne Gottes Zutun erwerben können. Heißt es doch beim Psalmisten: »Alle Wesen warten auf dich, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit; gibst du sie ihnen, so lesen sie auf; tust du die Hand auf, werden alle gesättigt mit Gutem« (Ps 103, 27f). Und an einer andern Stelle (Ps 144, 15): Aller Augen harren auf dich, o Herr, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit.« Also weil wir es brauchen und weil es uns vom Vater aller gegeben wird, der in seiner gütigen Vorsehung alle Lebewesen ernährt, (heißt es unser Brot).

12 Ferner heißt es noch deswegen »unser Brot«, weil wir es auf rechtliche Weise und nicht durch Lug und Trug und Dieberei erwerben müssen. Denn was wir auf krummen Wegen erschleichen, ist nicht unser, sondern fremdes Gut. Gar oft bedeutet übrigens solcher Erwerb oder Besitz nur Unheil, sicher aber Verlust. Hingegen ruht auf dem mit Ehrlichkeit und Fleiß erworbenen Eigentum gottesfürchtiger Menschen nach einem Wort des Propheten Zufriedenheit und wahres Glück. Es heißt nämlich: »Von deiner Hände Arbeit wirst du dich nähren. Heil dir, es wird dir gut gehen« (Ps 127, 2). Und an einer andern Stelle verspricht Gott denen, die mit ordentlicher Arbeit ihren Lebensunterhalt suchen, den Segen seiner Güte: »Segen wird der Herr über deine Kornböden senden und auf alle Werke deiner Hände und er wird dich segnen« (Dtn 28, 8).

Ferner erbitten wir uns von Gott nicht bloß, dass Er uns gebrauchen lasse, was wir mit unserm Schweiß und mit unsrer Kraft unter seinem, gütigen Beistand erworben haben - das heißt, nämlich mit Recht unser - wir beten auch um die rechte Gesinnung, auf dass wir das rechtmäßig Erworbene ebenso recht und vernünftig zu verwenden vermögen.

» Tägliches« 

13 Derselbe Gedanke der Genügsamkeit und Sparsamkeit liegt dem Worte »tägliches« zugrunde. Nicht um möglichst abwechslungsreiche und ausgesuchte Nahrung bitten wir damit, [denn solche kann man ja nicht täglich haben], sondern um die unsrer Natur nötige: Schämen mögen sich also bei dieser Bitte die, die von gewöhnlicher Speise und gewöhnlichem Getränk angeekelt, nach den erlesensten Gerichten und Weinsorten gelüstet.

Nicht minder werden durch das Wort »täglich« die getroffen, denen der Prophet Isaias die schreckliche Drohung entgegenschleudert: »Wehe euch, die ihr Häuser an Häuser reiht und Acker zu Acker fügt, bis kein Platz mehr übrig ist. Wollt ihr denn allein im Lande wohnen« (Jes 5, 8)? Diese Menschen leiden an unersättlicher Habgier. Von ihnen gilt das Wort Salomons: »Der Geizige wird des Geldes nie satt« (Koh 5, 9). Auf die passt auch das Wort des Apostels: »Die reich werden wollen, geraten in Versuchung und in das Netz des Teufels« (1 Tim 6, 9).

Vom täglichen Brot reden wir auch deswegen, weil wir es zur Auffrischung der Lebenssäfte genießen, die täglich durch die natürliche Wärme aufgezehrt werden.

Der letzte Sinn dieses Wortes ist endlich der, dass wir [täglich d. i.] beständig darum bitten sollen. Dadurch werden wir in der Übung der Ehrfurcht und Liebe zu Gott erhalten und tief von der Tatsache durchdrungen, dass unser Leben und unser Wohl ganz und gar in Gottes Hand liegt.

»Gib uns« 

14 Diese zwei Wörtlein bieten offenbar reichen Stoff, um die Gläubigen zu ermuntern, dass sie vor der unendlichen Macht Gottes, in dessen Macht alles ruht, mit kindlicher Liebe und Ehrfurcht erfüllt seien, vor der niederträchtigen Prahlerei Satans aber: »Mir ist alles gegeben, und wem ich will, gebe ich es« (Lk 4, 6), tiefen Abscheu hegen. Denn auf Gottes Geheiß allein wird alles verteilt, erhalten und vermehrt.

15 Man könnte fragen, ob denn auch die Reichen nötig hätten, ums tägliche Brot zu bitten, da sie doch alles im Überfluss haben. Nun, sie brauchen freilich nicht zu bitten, dass ihnen gegeben werde, was sie durch Gottes Güte schon in Fülle haben; wohl aber müssen sie beten, dass sie nicht verlieren, was sie reichlich besitzen. »Deswegen sollen die Reichen«, wie der Apostel schreibt, »lernen, sich nicht zu überheben noch auf den unsichern Reichtum ihre Hoffnung setzen, sondern auf den lebendigen Gott, der uns alles reichlich zum Genusse gewährt« (1 Tim 6, 17). Der hl. Chrysostomus begründet diese Bitte also: »Es ist nicht genug, dass wir Speise genug haben; noch wichtiger ist, dass sie uns gereicht wird durch Gottes Hand; diese erst verleiht dem täglichen Brot seine gesunde und zuträgliche Kraft und bewirkt, dass die Speise den Leib stärkt und der Leib der Seele dient« (Hom. 14 op. imperf. in Matth.).

16 Aber warum gebrauchen wir die Mehrzahl »gib uns« und nicht »gib mir«? Das ist eben die Eigenart der christlichen Liebe, dass keiner auf sich allein bedacht ist, sondern jeder sich auch um den Nebenmenschen kümmert und bei der Sorge um den eigenen Nutzen auch der andern gedenkt. Dazu kommt, dass die Gaben Gottes dem einzelnen nicht zum alleinigen und ausschließlichen Besitz oder gar zu einem üppigen Leben gegeben werden, vielmehr, damit man vom Überfluss auch andern mitteile. Darum sagen die hl. Ambrosius und Basilius: »Das Brot der Hungernden ist es, das du zurückbehältst, die Kleider der Nackten sperrst du in deinen Schrank, das Geld zum Loskauf von Sklaven und zur Auslösung der Gepfändeten vergräbst du in der Erde« (Basil. homo in Le 12, 18 [Destruam horrea] n. 7).

»Heute« 

17 Das Wörtlein »heute« erinnert an die uns allen gemeinsame Schwäche. Man möchte zwar meinen, es müsste doch möglich sein, für einen Tag sich zu versorgen, wenn man auch nicht hoffen kann, für lange Zeit durch seine Mühe allein sich mit dem nötigen Lebensunterhalt zu versehen. Aber nicht einmal zu diesem Selbstvertrauen hat uns Gott die Möglichkeit gelassen, indem Er uns befiehlt, für jeden einzelnen Tag die Nahrung von Ihm zu erbitten. Daraus ergibt sich als notwendige Folgerung, dass wir alle Tag für Tag das Gebet des Herrn verrichten müssen, da wir alle des täglichen Brotes bedürfen.

Bisher war die Rede vom Brot, das mit dem Munde genossen wird und den Körper ernährt und erhält und das durch Gottes wunderbare Güte Gläubigen und Ungläubigen, Gottesfürchtigen und Bösen zuteil wird, denn Er »lässt seine Sonne aufgehen über Gute und Schlechte und regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5, 45). 18 Es muss nun noch über das geistliche Brot gesprochen werden, um das wir an dieser Stelle gleichfalls bitten. Man versteht darunter alles, was in dieser Zeit zum Wohl und Gedeihen des übernatürlichen Seelenlebens erfordert wird. Denn wie die Nahrung, die den Leib nährt und stärkt, mannigfaltig ist, so ist auch die Speise, die das geistliche Leben erhält, nicht bloß von einer Art.

So ist eine Speise der Seele das Wort Gottes. Sagt ja die ewige Weisheit: »Kommt und esset mein Brot und trinkt den Wein, den ich euch gemischt habe« (Spr 9, 5). Und wenn Gott der Herr den Menschen die Nahrung seines Wortes entzieht (was Er gewöhnlich tut, wenn Er durch unsre Sünden sehr schwer beleidigt wurde), dann heißt es, Gott sucht das Menschengeschlecht mit Hunger heim. Es steht nämlich beim Propheten Amos geschrieben: »Ich sende eine Hungersnot über das Land, nicht Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern zu hören das Wort des Herrn« (Am 8, 11).

Wie es nun ein sicheres Anzeichen des nahen Todes ist, wenn man keine Speise mehr zu sich nehmen oder die genommene nicht mehr behalten kann, so verrät es einen fast hoffnungslosen Seelenzustand, wenn Menschen das Wort Gottes nicht mehr suchen oder das Gebotene nicht mehr vertragen und dem Herrn die gottlose Rede entgegenschleudern: »Geh weg von uns, wir wollen von deinen Wegen nichts wissen« (Job 21, 14). In diesem Geisteswahn und in solcher Seelenblindheit befinden sich vor allem die, die ihre rechtmäßigen Hirten, die katholischen Bischöfe und Priester schmählich verlassen, der heiligen römischen Kirche den Rücken gekehrt und sich den Verfälschern des Wortes Gottes, den Häretikern, (als Schüler) in die Arme geworfen haben.

19 Brot ist ferner Christus der Herr. Er ist vor allem die Seelenspeise. Denn Er selbst hat von sich gesagt: »Ich bin das lebendige Brot, der ich vom Himmel herabgestiegen bin« (Joh 6, 41). Dieses Brot erfüllt die Seelen der Gotteskinder mit unglaublicher Lust und Wonne, vorzüglich dann, wenn sie von irdischen Drangsalen und Beschwerden heimgesucht sind. Ein Beispiel haben wir am heiligen Chor der Apostel, von denen es heißt: »Sie gingen voll Freude vom Hohen Rat hinweg« (Apg 5, 41). Voll von solchen Beispielen sind die Lebensbeschreibungen der Heiligen. Von dieser heimlichen Herzensfreude der Guten spricht Gott also: »Wer siegt, dem will ich von dem verborgenen Manna geben« (Off 2, 17).

20 Ganz besonders aber ist Christus der Herr unser Brot, wie Er im Sakrament der Eucharistie wesenhaft gegenwärtig ist. Dieses unbegreifliche Unterpfand seiner Liebe gab Er uns, als Er zum Vater zurückkehren wollte. Er sagte darüber: »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm (Joh 6, 56). Nehmt hin und esset, das ist mein Leib« (Mt 26, 26). Hierüber kann der Pfarrer das zur Erbauung der Gläubigen Dienliche dort finden, wo eigens über Bedeutung und Wesen dieses Sakramentes gehandelt wurde (Zweiter Teil 4. Kap.).

Das heiligste Sakrament heißt ganz mit Recht »unser Brot«, weil es nur für die Gläubigen da ist, d. h. für jene, die mit dem Glauben die Liebe verbinden und daher im Sakrament der Buße sich vom Sündenschmutz gereinigt haben. Diese vergessen nie, dass sie Kinder Gottes sind, und daher empfangen und verehren sie dies göttliche Sakrament mit größtmöglichster Heiligkeit und Andacht.

21 Aus zwei naheliegenden Gründen wird es »tägliches« Brot genannt: einmal weil es bei der Mysterienfeier der Kirche Christi täglich Gott dargebracht, und denen, die ein heiliges und kindliches Verlangen danach haben, dargereicht wird; dann weil man es täglich genießen soll, oder zum mindesten so leben muss, dass man es täglich, sofern es geschehen kann, würdig zu empfangen imstande ist. Die dagegen meinen, man dürfe diese heilsame Seelennahrung nur in langen Zwischenräumen genießen, mögen hören, was der hl. Ambrosius sagt: »Wenn es tägliches Brot ist, warum genießest du es erst nach einem Jahr« (Lib 5. de Sacr. c. 4)?

22 Bei Behandlung dieser Bitte sind die Gläubigen noch ganz besonders zu mahnen: Wenn sie in der rechten Weise Umsicht und Fleiß auf den Erwerb der lebensnotwendigen Dinge richten, sollen sie den Erfolg Gott überlassen und ihre Wünsche Seinem Willen unterwerfen: »Er wird nicht immer schwanken lassen den Gerechten« (Ps 54, 23). Denn entweder erhört Gott die an Ihn gerichtete Bitte, dann erhalten sie ohnehin, was sie wünschen; oder Er erhört sie nicht, dann ist es für Kinder Gottes ein ganz sicheres Zeichen, dass ihnen das Verweigerte nicht heilsam und nützlich wäre: denn Gott trägt für ihr Heil mehr Sorge als sie selbst. Diesen Punkt kann der Seelsorger durch Anführung der Gründe erläutern, die der hl. Augustin im Brief an Proba trefflich zusammenfasst (Augustin ep. 130 [al. 121] ad Probam viduam).

23 Zuletzt sollen noch die Reichen erinnert werden, sie hätten ihr Vermögen und ihren Reichtum Gott zu verdanken und sollten bedenken, dass sie deshalb mit Gütern überhäuft wurden, damit sie den Dürftigen davon mitteilen. Diese Lehre spricht der Apostel im ersten Brief an Timotheus aus (1 Tim 6, 6-10. 17-19). Daraus kann der Seelsorger kraftvolle inspirierte Gedanken entlehnen, um diesen Punkt mit großem Nutzen zu beleuchten.

Vierzehntes Kapitel: Die fünfte Bitte des Vaterunsers
»Vergib uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« 

1 Zahllos sind die Beweise für Gottes unendliche Macht, Weisheit und Güte; denn wohin immer man Augen und Gedanken wenden mag, begegnen einem untrügliche Zeichen seiner gewaltigen Kraft und liebevollen Herablassung. Indes die Größe seiner Liebe und seine wunderbare Zuneigung gegen uns offenbart nichts so sehr, als das unerforschliche Geheimnis des bittern Leidens Jesu Christi. Aus ihm entsprang der unversiegliche Quell zur Reinigung vom Sündenschmutz. In diesen Quell begehren wir, angetrieben durch Gottes Gnade, hinabzutauchen, um uns zu entsühnen, wenn wir beten: »Vergib uns unsre Schulden«.

2 Diese Bitte enthält gewissermaßen das höchste aller Güter, die der Menschheit durch Jesus Christus in Fülle zuteil geworden sind. Das lehrt schon Isaias, da er sagt: »Dem Hause Jakob wird die Missetat erlassen werden und das ist die größte Frucht, dass seine Sünde weggenommen wird« (Jes 27, 9). Darauf verweist auch David, wenn er die glücklich preist, die diese heilsame Frucht empfangen durften, indem er spricht: »Glücklich, wem die Schuld vergeben« (Ps 31, 1). Die Seelsorger müssen daher mit Fleiß und Genauigkeit den Wortlaut dieser Bitte betrachten und erläutern, da sie, wie man sieht, zur Erreichung des himmlischen Lebens von so großer Bedeutung ist.

3 Wir beginnen hier eine neue Gebetsart. Denn bisher haben wir Gott um Güter gebeten und zwar nicht bloß um ewige und geistliche Werte, sondern auch um vergängliche und auf das Erdenleben bezügliche: von jetzt ab flehen wir um Abwendung von Übeln, seelischen wie leiblichen, diesseitigen sowohl wie jenseitigen.

4 Da man beim Beten nur dann auf Erhörung rechnen darf, wenn man in der rechten Gesinnung betet, muss gezeigt werden, wie man gestimmt sein muss, wenn man Gott diese Bitte vorträgt. Die Pfarrer sollen also das gläubige Volk mahnen: Für den, der sich zu diesem Gebet anschickt, sei das erste Erfordernis, dass er seine Sünden erkennt; ferner, dass er darüber wahre Reue empfindet; endlich soll er fest überzeugt sein, Gott verzeihe bereitwillig dem Sünder, wenn er die eben genannte rechte Seelenstimmung gewonnen hat; sonst könnte leicht die schmerzliche Erinnerung und der quälende Gedanke an die Sünden Verzweiflung an der Verzeihung zur Folge haben, wie einst bei Kain und Judas, die nur den erzürnten und strafenden, nicht aber den gütigen und barmherzigen Gott vor Augen hatten. Wir müssen also bei dieser Bitte so gesinnt sein, dass wir wohl mit tiefem Bedauern unsrer Sünden gedenken, dann aber zu Gott als unserm Vater und nicht als unserm Richter die Zuflucht nehmen und Ihn bitten, Er wolle nicht nach der Strenge seiner Gerechtigkeit, sondern nach der Milde seiner Barmherzigkeit mit uns verfahren.

5 Zur Anerkennung unsrer Sündhaftigkeit werden wir leicht gebracht, wenn wir vernehmen, wie Gott selbst uns in der Hl. Schrifl dazu ermahnt. So heißt es bei David: »Alle sind vom rechten Wege abgewichen, sind unnütz geworden allzumal; keiner ist, der Gutes tut, auch nicht ein einziger« (Ps 13, 3). Im gleichen Sinn sagt Salomon: »Es gibt keinen Gerechten auf Erden, der nur Gutes tut und nicht sündigt«. Daher gehört auch der Ausspruch: »Wer kann sagen, rein ist mein Herz, ich bin frei von Sünden« (Spr 20, 9)? Eben um die Menschen von solcher Anmaßung abzuschrecken, hat Johannes geschrieben: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns« (1 Joh 1, 8). Und bei Jeremias heißt es: »Du sagst: Ich bin ohne Sünde und ohne Schuld ganz und gar, es lasse daher dein Zorn von mir ab. Siehe, ich werde mit dir ins Gericht gehen, weil du gesagt hast: Ich habe nicht gesündigt« (Jer 2, 35). Alle diese Aussprüche hat eigentlich Christus der Herr selbst durch den Mund anderer getan und sie dann bestätigt, indem Er uns diese Bitte vorschrieb und damit das Bekenntnis unsrer Sündhaftigkeit forderte. Eine andere Auslegung wäre gegen die Autorität des Konzils von Mileve, das erklärte: »Es wurde der Beschluss gefasst: Wer behauptet, die Worte im Gebet des Herrn »vergib uns unsre Schulden« würden von den Heiligen bloß aus Demut, nicht aber aus innerster Überzeugung gebraucht, der sei im Bann« (Denz 108). In der Tat, wäre ein Bittsteller nicht unerträglich, der nicht Menschen, sondern Gott belügt, indem er mit den Lippen um Vergebung fleht, und dabei im Herzen spricht, er habe eigentlich nichts, was ihm vergeben werden müsste?

6 Freilich ist die Erkenntnis der Sünden unerlässlich, es genügt jedoch nicht eine oberflächliche Erinnerung daran. Der Gedanke an unsre Sünden muss uns bitter sein, muss das Herz treffen, den Geist beunruhigen und einen innern Schmerz verursachen. Die Pfarrer müssen daher die Lehre mit Sorgfalt ausführen: die gläubigen Zuhörer sollen sich nämlich nicht bloß an ihre Sünden und Vergehen erinnern, sie müssen es vielmehr mit Betrübnis und Schmerz tun, damit sie sich voll innerer Zerknirschung zum Vater-Gott wenden und Ihn inbrünstig anflehen, Er möge ihnen die schmerzenden Sündenstacheln ausziehen.

Zu diesem Zweck sollen sie aber nicht bloß die Hässlichkeit der Sünden dem gläubigen Volk vor Augen zu stellen suchen, sondern auch die Unwürdigkeit und Erbärmlichkeit von uns Menschen: obschon nur verwesendes Fleisch und gemein durch und durch, wagen wir es dennoch, Gottes unbegreifliche Majestät und unfassbare Hoheit auf so unglaubliche Weise zu beleidigen; und das, nachdem wir von Ihm erschaffen, erlöst und mit unzählbaren und übergroßen Wohltaten überhäuft worden sind.

7 Und schließlich wozu? Um uns von Gott unserm Vater, dem höchsten Gut, zu trennen, und um schmählichen Sündenlohn der erniedrigendsten Knechtschaft des Teufels uns zu verschreiben; jenes [Geistes], der mit unsagbarer Grausamkeit in den Seelen derer herrscht, die das sanfte Joch Gottes abgeworfen und die zartesten Bande der Liebe, die unsre Seele mit dem Vater-Gott verknüpften, zerrissen haben, um zu ihm, dem erbittertsten Feind, überzugehen. Ganz mit Recht wird er in der Hl. Schrift »Fürst« und »Beherrscher der Welt«, »Fürst der Finsternis« und »Oberhaupt aller Kinder des Stolzes« genannt (Joh 14, 30; Eph 6, 12; Job 41, 25). Auf die, die unter der Tyrannei Satans schmachten, passt genau das Wort des Propheten Isaias: »Herr, unser Gott, es haben ganz andere Herrn als du über uns geherrscht« (Jes 26, 13).

8 Wenn es uns aber nicht rühren sollte, einen solchen Liebesbund gebrochen zu haben, müsste uns wenigstens das Unglück und die Trübsal, in die uns die Sünde gebracht hat, zu Herzen gehen: Verletzt wird die Heiligkeit der Seele, die, wie wir wissen, Braut Christi ist; geschändet wird der Tempel des Herrn solchen Tempelschändern aber gilt das Wort des Apostels: »Wenn einer den Tempel Gottes entweiht, den wird Gott verderben« (1 Kor 3, 17). Unzählig sind dann die Übel, die die Sünde über die Menschen bringt: David beschreibt dies beinahe endlose Verderben mit den Worten: »Nichts Heiles ist mehr an meinem Leib ob Deines Grolles; kein Friede ist in meinem Gebein ob meiner Sünden« (Ps 37, 4). Er kennt gar wohl die Furchtbarkeit dieses Unheils, da er bekennt, es gebe keinen Teil an ihm, der vom Pesthauch der Sünde unberührt geblieben; schon sei das Gift der Sünde ins Gebein gedrungen, d. h. Verstand und Wille, gleichsam die festesten Teile der Seele, sind schon davon ergriffen. Diese verheerende Pest meint die Hl. Schrift auch, wenn sie die Sünder lahm, taub, stumm, blind, kurzum: krank an allen Gliedern nennt.

Aber mehr noch als der Schmerz, den David über seine Sünden wie über ein Verbrechen empfand, ängstigt ihn der Gedanke an Gottes Zorn, den er durch die Sünde gegen sich herausgefordert hatte. Denn die Frevler führen Krieg mit Gott, der durch ihre Missetaten unglaublich beleidigt wird; sagt ja der Apostel: »Zorn und Grimm, Trübsal und Angst gebührt jeder Menschenseele die Böses verübt« (Röm 2,8 f ). Und wenn die sündhafte Handlung auch vorüber ist, so bleibt doch die Makel und Schuld der Sünde und dafür droht fort und fort Gottes Zorn, der der Sünde folgt wie der Schatten dem Körper. 9 Als David von diesen Stacheln gepeinigt wurde, da fühlte er sich angetrieben, für seine Sünden um Verzeihung zu bitten. Seinen fünfzigsten Psalm können die Pfarrer als Beispiel für einen solchen Schmerz anführen und ihren gläubigen Zuhörern zur Belehrung vorlegen, um sie gleich dem Propheten zum Reueschmerz d. h. zur wahren Buße und zur Hoffnung auf Verzeihung zu bewegen.

Den Nutzen eines solchen Vorgehens, um über unsre Sünden Schmerz empfinden zu lernen, zeigt Gottes Anrede an Israel beim Propheten Jeremias: um das Volk zur Buße zu bewegen, fordert Er es auf, sich die Übel, die der Sünde folgen, zu Herzen zu nehmen. »Siehe, sagt er, wie bitterböse es ist, dass du den Herrn deinen Gott verlassen hast und die Furcht vor mir nimmer bei dir ist, spricht der Herr der Heerscharen« (Jer 2, 19).

Von denen, die dieser so notwendigen Gesinnung der Erkenntnis und des Schmerzes über die Sünde entbehren, sagen die Propheten lsaias, Ezechiel und Zacharias, solche hätten »ein hartes, ein steinernes, ja ein diamanthartes Herz« (Jes 46, 12; Eze 36, 26; Sach 7, 12). Einem Steine gleich sind sie von keinem Schmerz erweicht und ohne Gefühl d. h. ohne heilsame Erkenntnis.

10 Aber das Volk darf vor lauter Entsetzen über die Schwere der Sünden nicht an der Möglichkeit der Verzeihung verzweifeln; daher müssen es die Pfarrer mit folgenden Gründen zum Vertrauen aufmuntern: Christus der Herr hat der Kirche die Gewalt gegeben, Sünden nachzulassen, wie im (10.) Artikel des hl. Glaubensbekenntnisses ausdrücklich gesagt wird; ferner hat Gott in dieser Bitte» Vergib uns unsre Schulden« die Größe seiner Güte und seines Wohlwollens gegen das Menschengeschlecht gezeigt. Denn wenn Gott nicht geneigt und bereit wäre, den Bußfertigen ihre Sünden zu vergeben, hätte Er uns gewiss nicht diese Gebetsformel vorgeschrieben. Prägen wir es daher tief unserm Herzen ein und halten wir daran fest: Der wird uns sicher die Milde des Vaters zuwenden, der uns befiehlt, ausdrücklich darum zu bitten. 11 Denn in dieser Bitte ist offenbar die Lehre enthalten: Gott ist gegen uns so gesinnt, dass Er den wahrhaft Reumütigen gern verzeiht. Freilich ist es Gott, gegen den wir durch Gehorsamsverweigerung sündigen; dessen weise Ordnung wir, soweit es an uns liegt, stören; den wir beleidigen und durch Wort und Tat verletzen. Aber dieser Gott ist der allgütige Vater; der alles vergeben kann, der ausdrücklich erklärt hat, dass Er auch alles vergeben will, der die Menschen sogar drängt, Ihn um Vergebung zu bitten, und ihnen die Worte in den Mund legt, mit denen sie es tun sollen. Es kann daher gar keinem Zweifel unterliegen, dass es mit Gottes Gnade in eines jeden Macht liegt, die Liebe Gottes wieder zu gewinnen.

Da der Beweis für Gottes volle Geneigtheit zu verzeihen den Glauben vermehrt, die Hoffnung stärkt und die Liebe entzündet, wird es gut sein, dafür auch Zeugnisse aus der Hl. Schrift und Beispiele von solchen anzuführen, denen Gott auf ihre Buße hin sehr große Sünden vergeben hat. Darüber ist schon in der Einleitung zu dieser Bitte und beim Glaubensartikel, der vom Nachlass der Sünden handelt, genug gesagt worden. Von da können die Pfarrer passende Gedanken nehmen; anderes mögen sie aus der Hl. Schrift schöpfen.

»Schulden« 

12 Um die gleiche Methode einzuhalten wie bei den früheren Bitten, soll nun erklärt werden, was hier unter »Schulden« zu verstehen ist, damit die Gläubigen nicht etwa durch die Mehrdeutigkeit des Wortes getäuscht, etwas anderes begehren, als man erbeten soll. Fürs erste muss man also wissen, dass wir keineswegs bitten, es möge uns die Liebe aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus unserm ganzen Gemüte nachgesehen werden, die wir ja Gott vor allen Dingen schulden: die Einlösung dieser Schuld ist einfach heilsnotwendig. Ferner umfasst das Wort »Schuld« den Gehorsam, die äußere und innere Gottesverehrung, sowie andere derartige Pflichten; natürlich beten wir nicht, dass wir hierzu nicht mehr gehalten sein sollen.

Um was wir beten, das ist die Befreiung von unsern Sünden. So hat es schon der heilige Lukas verstanden, der für »Schulden« »Sünden« gesetzt hat (Lk 11, 4). Dadurch, dass wir sie begehen, werden wir nämlich vor Gott schuldig und laden auch noch verdiente Strafen auf uns, die wir entweder durch Genugtuung oder durch Sühneleiden abbüßen müssen. Von letzterer Art war die Schuld, von der Christus der Herr durch den Mund des Propheten spricht: »Was ich nicht raubte, musste ich ersetzen« (Ps 68, 5). Dieser göttliche Ausspruch gibt uns zu verstehen, dass wir nicht bloß Schuldner, sondern auch zahlungsunfähig sind.

Weil also der Sünder allein keineswegs genugzutun vermag, 13 muss man sich an Gottes Barmherzigkeit wenden; diese aber ist untrennbar von seiner Gerechtigkeit, die Er unbedingt gewahrt wissen will. Daher muss man zum abbittenden und schützenden Verdienst des Leidens unsers Herrn Jesu Christi seine Zuflucht nehmen, ohne das noch niemand Vergebung seiner Sünden erlangt hat; denn aus ihm strömt wie aus der Quelle der ganze Wert jeglicher Genugtuung. Der Lösepreis, den Christus der Herr am Kreuz geleistet hat und der uns durch die Sakramente, sei es durch den Empfang oder das aufrichtige Verlangen danach, zugewendet wird, ist so groß, dass er uns Vergebung aller Sünden erlangt und bewirkt, die wir in dieser Bitte begehren. 14 Und wir begehren nicht etwa bloß Nachlass kleiner und leicht verzeihlicher Verfehlungen, sondern auch großer Todsünden; freilich ist dieses Gebet bei schweren Vergehen nur dann wirksam, wenn es mit dem Empfang des Bußsakramentes oder mit dem Verlangen danach verbunden wird.

»Unsre Schulden« 

15 sagen wir in einem ganz andern Sinn, als wir im Vorausgehenden von »Unserm Brot« gesprochen haben. Denn unser Brot ist es, weil es uns durch Gottes Güte zuteil wird. Die Sünden aber sind unser, weil die Schuld ganz und gar auf unsrer Seite liegt; durch unsern Willen kommt ihnen die Sündhaftigkeit zu, denn Sünden sind sie nur, insofern sie freiwillig sind. Diese Schuld also, die auf uns lastet, gestehen wir ein und flehen zu Gott um Barmherzigkeit, ohne die es keine Verzeihung geben kann. Dabei gebrauchen wir keinerlei Entschuldigungen, schieben die Schuld auch nicht auf andere, wie Adam und Eva, unsre Stammeltern, taten. Wir verurteilen uns vielmehr selbst und machen, wenn wir verständig sind, das Gebet des Propheten uns zu eigen: »Lass mein Herz nicht gleiten zu boshaften Reden, um Entschuldigungen für meine Sünden zu suchen« (Ps 140,4).

»Vergib uns« 

16 Auch sagen wir nicht »vergib mir«, sondern »vergib uns«; denn die allumfassende brüderliche Gemeinschaft und Liebe verlangt von jedem einzelnen aus uns, dass wir auf das gemeinsame Heil der Nebenmenschen bedacht, auch für sie um Verzeihung bitten, wenn wir für uns solche Gebete verrichten. Diese Gebetsweise geht auf Christus den Herrn selbst zurück und wurde von der Kirche übernommen und stets geübt; am allermeisten hielten sich die Apostel selbst daran und brachten sie bei andern in Übung. Herrliche Beispiele von diesem brennenden Eifer, für das Heil der Nebenmenschen um Sündenvergebung zu beten, haben wir im Alten wie im Neuen Bund in Moses und Paulus. Der eine bat Gott: »Entweder vergib ihnen diese Missetat; wenn nicht, dann tilge mich aus deinem Buch« (Ex 32, 31 f); dieser schreibt: »Gern wollte ich selber mit dem Fluche beladen fern von Christus sein statt meiner Brüder« (Röm 9, 3).

»Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« 

17 Das Wörtlein »wie« kann in doppeltem Sinn genommen werden: entweder zur Bezeichnung der Ähnlichkeit, danach würden wir also beten: in der Weise wie wir unsern Beleidigern Unrecht und Kränkungen verzeihen, möge Gott auch uns die Sünden vergeben. Es kann aber auch die Bedingung ausdrücken: diesen Sinn hat Christus der Herr selbst dem Satz gegeben, als Er sprach: »Wenn ihr den Menschen ihre Sünden verzeiht, wird euer himmlischer Vater auch euch eure Sünden vergeben; wenn aber ihr den Menschen nicht verzeiht, so wird euer himmlischer Vater auch euch eure Sünden nicht vergeben« (Mt 6, 14 f). Mag man es nehmen wie man will, in jedem Fall wird die Notwendigkeit der Verzeihung betont: Wenn wir von Gott Vergebung unsrer Sünden erwarten, müssen wir notwendig gegen die Milde walten lassen, die uns Unrecht zugefügt haben. Ja, so sehr verlangt Gott von uns Vergessen der erlittenen Unbilden und gegenseitige wohlwollende Liebe, dass Er Gaben und Opfer derer zurückweist und verschmäht, die sich nicht miteinander versöhnt haben. 18 Übrigens verlangt schon das Naturgesetz, dass wir uns gegen andere so verhalten, wie wir wünschen, dass sie gegen uns gesinnt seien. Wahrlich, es wäre eine große Unverschämtheit, wenn einer Gott um Nachsicht der Strafe für seine Sünden bäte, während er selbst gegen seinen Nebenmenschen in feindlicher Stimmung verharren wollte.

Es müssen daher alle, denen Unrecht zugefügt wurde, zum Verzeihen geneigt und bereit sein. Schon durch die Fassung dieser Bitte müssen sie sich dazu gedrängt fühlen; und beim hl. Lukas befiehlt es Gott noch ausdrücklich: »Wenn dein Bruder wider dich sündigt, weise ihn zurecht, geht er in sich, dann vergib ihm; und sollte er sich siebenmal im Tage gegen dich verfehlen und siebenmal wieder zu dir kommen und sagen: es tut mir leid, so vergib ihm« (Lk 17, 3f.); und beim hl. Matthäus heißt es: »Liebet eure Feinde« (Mt 5, 44); der Apostel schreibt und lange vor ihm Salomon: »Wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen, wenn ihn dürstet, tränke ihn« (Röm 12,20; Spr. 25, 21). Endlich beim hl. Markus steht geschrieben: »Wenn ihr zum Gebete hintretet, vergebt, wenn ihr gegen jemand etwas habt; damit euer himmlischer Vater auch euch eure Sünden vergebe« (Mk 11, 25).

19 Da es jedoch für die gefallene Natur des Menschen nichts Schwierigeres gibt, als dem Beleidiger verzeihen, müssen die Seelsorger mit der ganzen Kraft des Herzens und Schärfe des Verstandes die Gemüter der Gläubigen zu der für einen Christen durchaus notwendigen milden und barmherzigen Gesinnung umzustimmen und zu bewegen suchen. Daher sollen sie die Aussprüche der Hl. Schrift, aus denen man Gottes Befehl zum Verzeihen heraushören kann, ausführlich behandeln. Sie sollen die sichere Wahrheit verkünden: wenn die Menschen Beleidigungen leicht verzeihen und die Feinde von Herzen lieben, so sei das ein gutes Zeichen, dass sie sich im Stande der Gotteskindschaft befinden. Denn wenn wir die Feinde lieben, wird in der Tat unsre Verwandtschaft mit Gott unserm Vater offenbar, der das im Zustande traurigster Gottentfremdung, ja Gottesfeindschaft befindliche Menschengeschlecht durch den Tod seines Sohnes vom ewigen Verderben erlöste und mit sich versöhnte. Den Schluss dieser eindringlichen Ermahnung bilde jener Befehl Christi, den wir nur zu unsrer großen Schande und zum eigenen Schaden überhören könnten: »Betet für die, die euch verfolgen und verleumden, dass ihr Kinder eures himmlischen Vaters seid« (Mt 5, 44 f).

20 Freilich bedarf es hier einer mehr als gewöhnlichen Klugheit der Seelsorger, damit niemand, der einerseits die Schwierigkeit, anderseits die unbedingte Verpflichtung dieses Gebotes erkennt, am Heil verzweifle. Es gibt nämlich Menschen genug, die das einmal erkannte Gebot, man müsse erlittenes Unrecht durch freiwilliges Vergessen aus der Welt schaffen und die Feinde lieben, ehrlich zu erfüllen wünschen und es auch nach Kräften erfüllen. Sie fühlen sich jedoch außerstande, sich jegliche Erinnerung an die Unbilden aus dem Sinn zu schlagen; es bleibt eben in der Seele noch ein Rest von Abneigung zurück. Darüber geraten sie in große Gewissensangst, ob sie wohl ehrlich und aufrichtig die Feindschaft aufgegeben hätten und dem Befehle Gottes gehorchen. Da müssen nun die Seelsorger auf den Widerstreit zwischen Fleisch und Geist aufmerksam machen: der sinnliche Teil des Menschen ist zur Rachsucht geneigt, während die gläubige Vernunft zum Verzeihen antreibt; deshalb besteht zwischen ihnen beständig Aufruhr und Kampf. Sie werden also dartun, dass man nicht am Seelenheil zu verzweifeln brauche, wenn die Triebe der verderbten Natur gegen die Vernunft aufbegehren und Widerstand leisten; wenn nur der Geist bei seiner Pflicht verharrt, nämlich beim Willensentschluss, die Unbilden zu verzeihen und den Nebenmenschen zu lieben.

21 Es könnte nun auch solche geben, die sich noch nicht entschließen können, das erlittene Unrecht zu vergessen und die Feinde zu lieben; infolgedessen lassen sie sich durch die dieser Bitte beigefügte Bedingung abschrecken und wollen das Gebet des Herrn überhaupt nicht verrichten. Um sie von einem so verhängnisvollen Irrweg abzubringen, müssen ihnen die Pfarrer folgende zwei Gründe entgegen halten: Einmal betet jeder Gläubige dieses Gebet im Namen der ganzen Kirche; nun gibt es aber in ihr gewiss so manche Gottesfürchtige, die ihren Schuldigern die Schulden, wie sie hier verstanden werden, vergeben haben. Dazu kommt, wenn wir Gott um etwas Bestimmtes bitten, bitten wir gleichzeitig auch um das, was wir von unsrer Seite zur Erfüllung der Bitte notwendig beitragen müssen. Beten wir z. B. um Verzeihung der Sünden, so beten wir auch um die Gnade wahrer Buße: wir beten um einen tiefinnern Reueschmerz, wir flehen um Kraft, die Sünden zu verabscheuen und sie mit kindlicher Aufrichtigkeit dem Priester zu beichten. Da wir also verpflichtet sind, denen zu verzeihen, die uns einen Schaden oder sonst ein Übel zugefügt haben, so beten wir, wenn wir Gott um Verzeihung unsrer Sünden bitten, zugleich auch um die Gnade der Versöhnlichkeit gegen unsre Feinde. Die Gläubigen also, die von der unbegründeten und schädlichen Furcht gequält werden, sie möchten durch das »Vaterunser« Gott noch mehr gegen sich einnehmen, sind von dieser Meinung durchaus abzubringen. Im Gegenteil, man muss sie mahnen, dies Gebet recht oft zu verrichten, damit sie vom Vater-Gott jene Seelenstimmung erlangen, die sie den Beleidigern verzeihen und die Feinde lieben lässt.

22 Soll diese Bitte wirklich fruchtbar sein, müssen wir zunächst ernstlich bedenken, dass wir als Bettler vor Gott erscheinen, um Ihn um Vergebung zu bitten. Da diese nur Bußfertigen gewährt wird, müssen wir von jener Liebe und Ehrfurcht beseelt sein, wie sie Büßern zusteht. Solchen ziemt es aber zu allermeist, sich ihre Sünden und Laster vor Augen zu halten und sie mit Reuetränen zu sühnen. Und mit dem Gedanken an die Vergangenheit muss sich noch die Vorsicht für die Zukunft verbinden, namentlich in jenen Dingen, die uns schon Gelegenheit zur Sünde waren und daher wieder Anlass werden könnten, den Vater-Gott zu beleidigen. So war David gesinnt, als er sprach: »Und meine Sünde ist immerdar vor mir« (Ps 50, 5) und ein anderes Mal: »Mit Tränen netz ich jede Nacht mein Bett und wasch mit ihnen meine Lagerstätte« (Ps 6, 7).

Man vergegenwärtige sich ferner den großen Gebetseifer derer, die von Gott auf ihr Gebet hin Verzeihung ihrer Sünden erlangt haben; wie jener Zöllner, der vor Scham und Schmerz von ferne stand, die Augen zu Boden schlug und nur an seine Brust klopfte und dies eine Gebet verrichtete: »O Gott, sei mir Sünder gnädig« (Lk 18, 13); oder wie die Sünderin, die von rückwärts an Christus den Herrn herantrat, mit Tränen seine Füße benetzte, mit ihren Haaren trocknete und sie sodann küsste (Lk 7, 38); oder endlich wie der Apostelfürst Petrus: »der hinaus ging und bitterlich weinte« (Mt 26, 75).

23 Auch ist zu bedenken, je schwächer wir Menschen sind und je mehr Neigung wir zu Seelenkrankheiten d. i. zu Sünden haben, um so mehr und um so öfter brauchen wir Arzneien: Buße und Eucharistie sind aber der kranken Seele Heilmittel; die soll das gläubige Volk möglichst oft gebrauchen. Ferner ist nach Ausweis der Hl. Schrift das Almosen ein geeignetes Mittel zur Heilung von Seelenwunden. Wer also diese Bitte recht gut verrichten will, soll, so gut er es vermag, wohltätig sein gegen Notleidende; welchen Wert das zur Tilgung von Sündenmakeln hat, bezeugt der Erzengel Raphael im Buch Tobias mit den Worten: »Das Almosen rettet vom Tode; es ist es, das von Sünden reinigt und Barmherzigkeit und ewiges Leben finden lässt« (Tob 12, 9). Dasselbe bezeugt Daniel, der den König Nabuchodonosor also mahnt: »Mach dich los von deinen Sünden durch Almosen, von deinen Missetaten durch Barmherzigkeit gegen die Armen (Dan 4, 24).

Die größte Wohltat aber und der beste Erweis von Barmherzigkeit ist: die Unbilden vergessen und wohlwollend gegen die gesinnt sein, die entweder dir oder den Deinen am Vermögen oder an der Ehre oder am Leibe Schaden zugefügt haben. Wer sich also einen besonders gnädigen Gott wünscht, der bringe Ihm seine Feindschaften zum Opfer, vergebe jede Beleidigung, bete bereitwilligst für seine Widersacher und ergreife jede Gelegenheit, sich ihrer anzunehmen. Da wir jedoch diesen Punkt schon behandelt haben, als vom vorsätzlichen Totschlag die Rede war, verweisen wir die Pfarrer auf jene Stelle. Schließen mögen sie diese Bitte mit dem Gedanken: nichts Ungerechteres gebe es noch lasse sich denken, als wenn einer, der gegen die Mitmenschen hartherzig ist und sich gegen niemand milde erweist, wenn der nun verlangte, dass Gott gegen ihn mild und gütig sei.

Fünfzehntes Kapitel: Die sechste Bitte des Vaterunsers
»Und führe uns nicht in Versuchung« 

1 Eines steht außer Zweifel: Haben die Gotteskinder Verzeihung ihrer Sünden erlangt, ist in ihnen die Begeisterung für den Dienst Gottes und die Ehrfurcht vor Ihm und das Verlangen nach dem himmlischen Reich entzündet, erfüllen sie alle Kindespflichten gegen die göttliche Majestät und überlassen sie sich ganz seinem väterlichen Willen und seiner liebevollen Fürsorge, dann wird der Feind des Menschengeschlechtes sicher seine ganze Arglist gegen . sie aufbieten, alle Minen springen lassen und sie so bedrängen, dass man fürchten muss, sie werden in ihrem Entschluss wankend werden, ihn aufgeben, wieder in die alten Laster zurückfallen, ja noch schlechter werden, als sie früher waren. Dann könnte man auf sie mit Recht das Wort des Apostelfürsten anwenden: »Es wäre besser für sie, wenn sie den Weg der Gerechtigkeit gar nicht kennen gelernt hätten, als dass sie ihn erkannten und sich dann von dem ihnen überlieferten heiligen Gebote wieder abwandten« (2 Petr 2, 21).

2 Darum wurde uns von Christus dem Herrn diese Bitte anbefohlen: täglich sollen wir uns Gott empfehlen und seine väterliche Fürsorge und seinen Schutz erflehen, in der sicheren Überzeugung, dass wir ohne Gottes Schutz in die Fallstricke des arglistigen Feindes geraten und nicht mehr loskommen. Übrigens heißt der Herr uns nicht bloß im Vaterunser zu Gott beten, Er wolle uns nicht in Versuchung fallen lassen, sondern auch in der Rede, die Er kurz vor seinem Tode an die hl. Apostel hielt, mahnte Er sie an diese Pflicht, indem Er trotz seiner Versicherung, dass sie rein seien (Joh 13, 10), sagte: »Betet, dass ihr nicht in Versuchung fallet« (Mt 26, 41). Diese wiederholte Mahnung Christi des Herrn macht es den Pfarrern zur strengen Pflicht, mit allem Fleiß das gläubige Volk zur häufigen Verrichtung dieses Gebetes zu bewegen; da uns Menschen vom bösen Feind zu jeder Stunde so viele Gefahren bereitet werden, müssen wir Gott, der allein wirksam helfen kann, immer wieder anflehen: »Führe uns nicht in Versuchung«.

3 Wie sehr sie dieser göttlichen Hilfe bedürfen, werden die Gläubigen leicht begreifen, wenn sie der eigenen Schwäche und Unwissenheit gedenken und sich an den Ausspruch Christi des Herrn erinnern: »Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach« (Mt 26, 41); wenn sie sich daran erinnern, wie schwer und wie unheilvoll der Mensch unter dem Einfluss des Teufels fallen kann, sofern er nicht von der Rechten Gottes gehalten wird. Was könnte diese menschliche Schwäche besser beleuchten als das Beispiel des hl. Chores der Apostel, - die eben noch voll Mut, beim ersten Schreck die Flucht ergriffen und den Erlöser im Stich ließen? Noch auffallender ist das Benehmen des Apostelfürsten: Er, der mit solchem Nachdruck seinen hervorragenden Mut und seine besondere Liebe zu Christus dem Herrn ausgesprochen und eben noch voll Selbstvertrauen erklärt hatte: »Auch wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen« (Mt 26, 35), - erschrak gleich darauf beim ersten Wort einer Magd zusammen und beteuerte mit einem Eidschwur, er kenne den Herrn nicht. Seiner so großen Bereitwilligkeit des Geistes entsprachen nämlich nicht die Kräfte. Wenn so heilige Männer ob der Schwäche der menschlichen Natur, der sie zuviel zutrauten, in schwere Sünden fielen, was haben dann nicht wir andern zu fürchten, die von ihrer Heiligkeit weit entfernt sind.

4 Der Pfarrer mache daher das gläubige Volk auf die Kämpfe und Gefahren aufmerksam, in denen wir uns ständig befinden, solang unsre Seele in diesem sterblichen Körper weilt, überall vom Fleisch, von der Welt und vom Satan bedrängt.

Was der Zorn, was die Begierlichkeit in uns vermögen, wie viele haben das nicht zu ihrem großen Schaden an sich erfahren müssen? Wer wird nicht von solchen Stacheln gequält, wer empfindet nicht ihre scharfen Spitzen? Wer wird nicht von diesen Feuerbränden versengt? Und der Stiche sind so viele und der Stöße so mannigfache, dass es schwer ist, ohne große Wunde davon zu kommen.

Außer diesen in uns selbst hausenden und lebenden Feinden gibt es noch jene grimmigen Widersacher, von denen geschrieben steht: »Unser Kampf geht nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Mächte, gegen die Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finstern Welt, gegen die bösen Geister unter dem Himmel« (Eph 6, 12). 5 Es kommen nämlich zu den Kämpfen im Innern Angriffe von außen und Überfälle der Teufel, die uns offen angehen und auf Schleichwegen in die Seele eindringen, so zwar, dass wir uns gegen sie kaum sichern können. »Fürsten« nennt sie der Apostel wegen der Erhabenheit ihrer Natur (denn in bezug auf die Natur überragen sie die Menschen und die übrigen sinnfälligen Geschöpfe). »Mächte« heißt er sie, weil sie nicht bloß durch die Natur, sondern auch durch Macht hervorragen. Auch »Beherrscher der finstern Welt« werden sie genannt; denn nicht die schöne und lichte Welt, d. h. die Guten und Frommen beherrschen sie, sondern die dunkle und finstere, jene Menschen nämlich, die durch ein Leben in Schmutz und Nacht, von Sünden und Lastern verblendet, ihr Vergnügen darin finden, dem Fürsten der Finsternis als ihrem Führer zu folgen. Der Apostel gibt den Teufeln auch den Namen »Geister der Bosheit«; denn wie es eine Bosheit des Fleisches gibt, so auch eine solche des Geistes. Die so genannte »fleischliche Bosheit« entzündet die Begierde nach sinnlichen Ausschweifungen und Genüssen. Unter »geistiger Bosheit« versteht man die bösen Neigungen und verkehrten Leidenschaften, die zum höheren Seelenleben gehören; diese sind im Vergleich mit jenen um so schlimmer, je höher und edler Geist und Vernunft sind. Und weil Satan als Geist der Bosheit vor allem darauf abzielt, uns des himmlischen Erbes zu berauben, sagt der Apostel »unter dem Himmel«. Daraus kann man leicht ersehen, dass die Stärke der Feinde groß, ihr Mut unbeugsam und ihr Hass gegen uns furchtbar und grenzenlos ist; ebenso, dass sie beständig gegen uns Krieg führen, so dass es mit ihnen keinen Frieden und keinen Waffenstillstand geben kann.

6 Wie vermessen sie aber sind, zeigt das Wort Satans beim Propheten: »Zum Himmel will ich emporsteigen« (Jes 14, 13). Er hat sich an die ersten Menschen im Paradies herangemacht; er richtete seine Angriffe gegen die Propheten; er verlangte leidenschaftlich, wie der Herr im Evangelium sagt, die Apostel »zu sieben wie den Weizen« (Lk 22, 31); er war frech genug, Christus dem Herrn selbst unter die Augen zu treten. Eben diese unersättliche Gier und nimmermüde Geschäftigkeit hat der hl. Petrus beschrieben, wenn er sagt: »Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen könne« (1 Petr 5, 8).

Und nicht etwa Satan (der Fürst der bösen Geister) allein versucht die Menschen, zuweilen gehen die Teufel scharenweise auf den einzelnen los. Das hat jener böse Geist eingestanden, der von Christus dem Herrn um seinen Namen gefragt, zur Antwort gab: »Mein Name ist Legion« (Mk 5, 9); es war nämlich eine ganze Menge böser Geister, die jenen armen Menschen gequält hatten. Und von einem andern heißt es: »Er nimmt sieben andere Geister mit sich, schlimmer als er und sie treten ein und wohnen daselbst« (Mt 12, 45).

7 Viele meinen, das alles seien nur Märchen, weil sie den Einfluss und den Ansturm der bösen Geister gar nicht spüren. Dass solche von den bösen Geistern nicht angegriffen werden, ist nicht zu wundern; haben sie sich ja selbst aus freien Stücken ihnen ausgeliefert. Menschen, die keine Frömmigkeit, keine Liebe, überhaupt keine Tugend haben, die sich für einen Christen gehört, sind schon ganz und gar in der Gewalt des Teufels und er hat nicht nötig, sie durch Versuchungen zu Fall zu bringen, da er schon so wie so, und zwar mit ihrer Einwilligung, in ihrer Seele haust.

Die sich aber Gott ergeben haben und schon auf Erden ein himmlisches Leben führen, werden ganz besonders vom Satan angefallen; sie hasst er mit ganzem Ingrimm und bereitet ihnen zu jeder Zeit Nachstellungen. Die Biblische Geschichte bietet eine Fülle von Beispielen, wie er heilige Menschen trotz ihrer Unerschrockenheit und Standhaftigkeit schließlich doch mit Gewalt oder List zu Fall gebracht hat. Adam, David, Salomon und andere, die aufzuzählen zu weit führen würde, haben wütende Angriffe der bösen Geister erfahren, sowie deren Verschlagenheit und Hinterlist, gegen die man mit bloß menschlicher Klugheit und Kraft nicht aufkommen kann. Wer also darf sich, auf sich allein gestellt, sicher fühlen? Eben deswegen muss man andächtig und aufrichtig Gott bitten, dass Er uns nicht »über unsre Kräfte versucht werden lasse, sondern mit der Versuchung zugleich auch den guten Ausgang schaffe, dass wir widerstehen können« (1 Kor 10, 13).

8 Man muss hier den Gläubigen auch Mut machen, wenn etwa manche aus Verzagtheit oder aus Unwissenheit vor der Macht der bösen Geister zu sehr erschrecken sollten. Sie mögen nur im Sturm der Versuchungen zu diesem Gebet wie in einen sichern Hafen fliehen. Denn der Satan kann uns bei all seiner Macht und Zudringlichkeit und trotz seines tödlichen Hasses gegen unser Geschlecht, weder so stark noch solang er will versuchen oder belästigen, vielmehr hängt sein ganzer Einfluss vom Walten und Gewähren der göttlichen Vorsehung ab. Das bekannteste Beispiel dafür ist Job: hätte nicht Gott betreff seiner zum Teufel gesagt: »Siehe, alles was er hat, ist in deiner Hand« (Job 1, 12), so hätte Satan nichts von seinem Besitze anrühren dürfen. Hätte Gott aber nicht auch hinzugefügt: »Nur gegen ihn selbst darfst du deine Hand nicht ausstrecken,« so wäre Job sicher mitsamt seinen Kindern und seiner Habe zugrunde gegangen. Ja so sehr ist die Macht der bösen Geister gebunden, dass sie ohne Zulassung von Seite Gottes nicht einmal hätten in die Schweine fahren können, wovon die Evangelien berichten (Mt 8, 31).

9 Um den Sinn dieser Bitte ganz zu verstehen, muss noch gesagt werden, was hier» Versuchung«, ebenso was »in Versuchung geführt werden« bedeutet. »Versuchen« heißt den, der versucht wird, auf die Probe stellen, um herauszubringen, ob das, worauf es uns ankommt, auf Wahrheit beruht. Diese Art zu versuchen ist bei Gott natürlich ausgeschlossen. Denn was kann es geben, das Gott noch nicht weiß? Heißt es doch: »Alles liegt bloß und offen vor seinen Augen« (Hebr 4, 13).

Eine andre Art zu versuchen besteht darin, dass man durch sein Vorgehen gewöhnlich etwas anderes anstrebt entweder in guter oder in böser Absicht: in guter, wenn auf diese Weise jemandes Tugend erprobt werden soll, damit sie klar erkannt werde, um dann einen solchen mit Gütern und Ehren zu überhäufen, sein Beispiel andern zur Nachahmung vorzustellen und dadurch alle zum Lob Gottes anzueifern. Nur diese Art zu versuchen kommt Gott zu. Ein Beispiel einer solchen Versuchung ist im Deuteronomium zu lesen: »Der Herr euer Gott versucht euch, damit offenkundig werde, ob ihr ihn liebt oder nicht« (Dtn 13, 3). So sagt man auch, Gott versuche die Seinen, wenn Er sie mit Armut, Krankheit und andern Drangsalen heimsucht; Er tut das, um ihre Geduld zu prüfen und um sie andern als Vorbild christlicher Pflichterfüllung hinzustellen. So lesen wir, dass Abraham versucht wurde, da er seinen Sohn opfern sollte; dadurch ward er ein ganz einziges Muster des Gehorsams und der Geduld zum ewigen Angedenken bei den Menschen (Gen 22). Im gleichen Sinn heißt es von Tobias: »Weil du Gott wohlgefällig warst, musste dich die Versuchung erproben« (Tob 12, 13).

10 Zum Bösen werden die Menschen versucht, wenn sie in die Sünde oder ins Verderben hineingetrieben werden; das ist so recht das Geschäft des Teufels. Der versucht die Menschen in der Absicht, sie zu täuschen und zu Fall zu bringen. Deshalb heißt er in der Heiligen Schrift einfachhin »der Versucher« (Mt 4, 3). Bei diesen Versuchungen reizt er uns bald von innen her, indem er sich hierzu der Leidenschaften und Stimmungen unsrer Seele bedient; bald greift er uns von außen an und benützt dabei äußere Dinge: das eine Mal glückliche Ereignisse, um uns zum Stolz, das andere Mal widerwärtige, um uns zum Kleinmut zu bringen; zuweilen sind verdorbene Menschen seine Sendlinge und Spione, namentlich die Häretiker, die »auf dem Stuhl der Pestilenz sitzen« (Ps 1, 1) und den giftigen Samen gottloser Lehren ausstreuen, um Leute ohne klares Urteil in der Unterscheidung von Tugend und Laster - bei der ohnehin großen Neigung des Menschen zum Bösen - wankend zu machen und ins Verderben zu stürzen.

11 »In Versuchung geführt werden« heißt: in den Versuchungen unterliegen. Auf zweifache Weise werden wir in Versuchung geführt: erstens wenn wir uns von dem, der uns versucht, zu der von ihm beabsichtigten Sünde verleiten und so aus dem Gnadenstand drängen lassen. Von Gott wird so natürlich niemand in Versuchung geführt, denn Er ist für niemand Urheber der; Sünde, vielmehr hasst Er »alle, die Ungerechtigkeit verüben« (Ps 5, 7). So heißt es auch im Brief des hl. Jakobus: »Niemand sage, wenn er versucht wird, er werde von Gott versucht, denn Gott versucht nicht zum Bösen« (Jak 1, 13).

Zweitens sagt man von dem, er führe uns in Versuchung, der zwar nicht selbst uns versucht, auch nicht veranlasst, dass wir versucht werden, wohl aber die Versuchung nicht hindert, obschon er es könnte, oder zulässt, dass wir in den Versuchungen unterliegen. So lässt Gott die Guten und Frommen allerdings versucht werden, Er lässt sie aber auch nicht ohne den Beistand seiner Gnade. Freilich geschieht es nicht selten, dass wir nach dem gerechten und geheimen Urteil Gottes wegen unsrer Sünden uns selbst überlassen werden und dann zu Fall kommen.

12 Ferner sagt man noch von Gott, Er führe uns in Versuchung, wenn wir seine Wohltaten, die Er uns zu unserm Heil gegeben, zu unserm Verderben missbrauchen, und gleich dem verlornen Sohn unsern Begierden nachgehen und des Vaters »Habe durch ein ausschweifendes Leben verschwenden« (Lk 15, 13). Da kann man sagen, was der Apostel vom Gesetz gesagt hat: »Ich musste die Erfahrung machen, dass gerade das Gebot, das zum Leben führen sollte, zum Tode führte« (Röm 7,10). Ein passendes Beispiel hierfür bietet - nach dem Zeugnis des Propheten Ezechiel - die Stadt Jerusalem. Gott hatte sie mit Kostbarkeiten aller Art überhäuft, so dass Er durch den Mund desselben Propheten sagen konnte: »Du warst vollkommen in meinem Schmuck, den ich dir angelegt hatte« (Ez 16, 14); trotzdem war die von Gott mit Gütern so reich bedachte Stadt weit entfernt, ihrem Wohltäter für die vielen schon empfangenen und immer wieder gewährten Hulderweise zu danken und sich derselben zur Erlangung der ewigen Seligkeit, wofür sie ja gegeben waren, zu bedienen. Statt dessen schwelgte sie in höchster Undankbarkeit gegen den Vater-Gott nur im verderbenbringenden Genuss des Augenblicks, ohne auf himmlische Güter zu hoffen, ja ohne daran zu denken. Ezechiel führt das im genannten Kapitel weitläufig aus. Ebenso undankbar gegen Gott benehmen sich die Menschen, wenn sie die ihnen reichlich gewährten Mittel über Gottes Zulassung statt zum Guten zum Bösen verwenden.

13 Man muss aber den Sprachgebrauch der Hl. Schrift genau beachten: denn zuweilen bedient sie sich zur Bezeichnung von Gottes Zulassung solcher Ausdrücke, die im eigentlichen Sinn genommen, in Gott eine Tätigkeit anzeigen. So heißt es im zweiten Buch Mosis: »Ich will Pharaos Herz verhärten« (Ex 7, 3); und beim Propheten Isaias: »Verblende das Herz dieses Volkes« (Jes 6, 10); und der Apostel schreibt an die Römer: »Gott gab sie schmählichen Leidenschaften preis« und »einer verwerflichen Gesinnung« (Röm 1, 26. 28). Diese und ähnliche Stellen sind nicht so zu verstehen, als habe Gott das alles bewirkt, sondern von seiner Zulassung.

14 Dies vorausgeschickt, ist es nicht schwer zu verstehen, was wir in dieser Bitte verlangen. Nicht um gänzliche Verschonung vor Versuchungen beten wir. »Ist doch das Menschen. leben eine Versuchung auf Erden« (Job 7, 1 n. d. LXX). Und das ist für die Menschheit nützlich und gut. Denn in den Versuchungen lernen wir uns selbst, d. h. unsre Kräfte kennen; wir demütigen uns lieber »unter die gewaltige Hand Gottes« (1 Petr 5, 6); und wenn wir mannhaft kämpfen, haben wir eine »unverwelkliche Krone der Herrlichkeit zu erwarten« (1 Petr 5, 4); »Wer im Ringkampf auftritt, erhält nur dann den Siegespreis, wenn er ordnungsgemäß kämpft« (2 Tim 2, 5); und der hl. Jakobus sagt: »Selig der Mann, der die Versuchung besteht! Hat er sich bewährt, so wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott denen verheißen hat, die ihn lieben« (Jak 1, 12). Wenn uns zuweilen die Feinde mit Versuchungen hart zusetzen, so wird uns der Gedanke eine Erleichterung sein, dass wir zum Helfer »einen Hohenpriester haben, der mit unsern Schwachheiten Mitleid haben kann, da er selbst in allem versucht worden ist« (Hebr 4, 15).

Um was also beten wir an dieser Stelle? Dass wir nicht, der Hilfe Gottes beraubt, entweder aus Verblendung den Versuchungen zustimmen oder aus Kleinmut ihnen nachgeben; vielmehr möge uns Gott mit seiner Gnade zur Seite stehen und uns in der Not, wenn die eigenen Kräfte versagen, stärken und aufrichten.

15 Deshalb müssen wir zu allen Versuchungen Gottes Hilfe ganz allgemein erflehen, besonders aber sollen wir in den einzelnen Versuchungen selbst zum Gebet unsre Zuflucht nehmen. So lesen wir von David, dass er es fast in jeder Art von Versuchung so gehalten habe. Gegen die Lüge z. B. betete er: »Nimm nie aus meinem Munde das Wort der Wahrheit« (Ps 118, 43); und gegen den Geiz: »Neige mein Herz zu deinen Geboten und nicht zur Habsucht« (Ps 118, 36); gegen die Eitelkeiten dieses Lebens und gegen die Lockungen der Begierlichkeit bediente er sich folgenden Gebetes: »Wende ab meine Augen vom Anblick des Eitlen« (Ps 118, 37).

Wir beten also [in dieser Bitte], dass wir den bösen Begierden nicht nachgeben; dass unsre Widerstandskraft in den Versuchungen nicht erlahme; dass wir nicht vom Weg des Herrn abweichen, sondern im Glück wie im Unglück Gleichmut und Standhaftigkeit bewahren; dass Gott uns in keinem Teil unsres ganzen Wesens seiner Hilfe entbehren lasse; und endlich, »Er möge den Satan unter unsern Füßen zermalmen« (Röm 16, 20).

16 Es erübrigt noch, dass der Pfarrer das gläubige Volk mahne, was es bei dieser Bitte ganz besonders betrachten und erwägen soll. Da ist vor allem das eine sehr wirksam, dass wir in klarer Erkenntnis der großen menschlichen Schwäche unsern Kräften misstrauen, unsre Hoffnung, [der Versuchung] heil zu entkommen, ganz auf Gottes Güte stellen, und im Vertrauen auf seinen Schutz auch in den größten Gefahren guten Mutes sind, besonders wenn wir bedenken, wie Gott schon viele, die von solch freudiger Zuversicht erfüllt waren, dem geöffneten Rachen Satans entrissen hat. Hat Er nicht Joseph aus der höchsten Gefahr befreit, als ihn die Flammen eines von wahnsinniger Gier brünstigen Frau schon umzüngelten, und ihn zu hohen Ehren gebracht (Gen 39, 40)? Hat Er nicht Susanna, die von Satansdienern hart bedrängt schon nahe daran war, durch ungerechten Richterspruch dem Tode überliefert zu werden, am Leben erhalten (Dan 13, 35)? Und kein Wunder! Heißt es doch: »Ihr Herz war nämlich voll Vertrauen auf den Herrn« (Dan 13, 35). Reich an Ruhm und Ehre ist auch Job, der über Welt, Fleisch und Teufel triumphierte. Beispiele solcher Art gibt es noch sehr viele, nur muss sie der Pfarrer fleißig ausnützen, um das gläubige Volk zu solch fester Hoffnung aufzumuntern.

17 Die Gläubigen sollen auch daran denken, was für einen Führer sie gegen die feindlichen Versuchungen haben, nämlich Christus den Herrn, der in diesem Kampf schon den Sieg davongetragen hat. Er hat in eigener Person den Teufel besiegt. Er ist der »Stärkere«, der über den bewaffneten Starken gekommen ist, ihn überwunden und ihm Waffen und Beute weggenommen hat (Lk 11, 22). - Von seinem Sieg über die Welt heißt es beim hl. Johannes: »Habet Vertrauen, ich habe die Welt überwunden« (Joh 16, 33). Und in der Geheimen Offenbarung heißt Er der siegreiche »Löwe«, und Er sei ausgezogen »als Sieger, um zu siegen« (Offb 5, 5; 6, 2), weil Er in seinem Sieg auch seinen Anhängern die Macht zu siegen verlieh. Der hl. Paulus führt im Brief an die Hebräer eine Menge solcher Siege von Heiligen an, die »kraft des Glaubens Königreiche bezwangen ... Löwenrachen verschlossen« usw. (Hebr 11, 33).

Was wir von den Taten vergangener Zeiten lesen, soll uns dann veranlassen, an die Siege zu denken, die Menschen voll des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe Tag für Tag über die innern und äußern Angriffe der Teufel erringen. Dieser Siege sind so viele und so glänzende, dass wir, falls wir sie mit unsern Augen schauen könnten, glauben müssten, es käme [auf der Welt] nichts vor, was so häufig und so herrlich ist. Über die Niederlage der Feinde solcher Menschen schreibt der hl. Johannes also: »Euch Jünglinge habe ich geschrieben, weil ihr stark seid, weil das Wort Gottes in euch bleibt und weil ihr den Bösen überwunden habt« (1 Joh 2, 14). 18 Freilich durch Müßiggang, Schläfrigkeit, Weingelage, Schmausen und Sinnenlust wird der Teufel nicht überwunden; sondern durch Gebet, Arbeit, Wachsamkeit, Enthaltsamkeit, Selbstbeherrschung und Keuschheit. »Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet«, lautet ein schon einmal erwähntes Schriftwort (Mt 26, 41). Die solche Waffen gebrauchen, schlagen den Teufel in die Flucht; denn wer dem Teufel widersteht, vor dem flieht er (Jak 4, 7).

Doch beim Gedanken an solche Siege der Heiligen verweile niemand selbstgefällig, keiner überhebe sich, als ob er den Versuchungen und Angriffen der bösen Geister aus eigenen Kräften widerstehen könnte. Das geht über unsre Natur, über die menschliche Schwachheit. 19 Die Kräfte, mit denen wir Satan und seine Helfer zu Boden strecken, kommen von Gott: »Er macht unsre Arme zu einem ehernen Bogen« (Ps 17, 35); durch seine Güte »wird der Bogen der Starken zerbrochen und werden die Schwachen mit Kraft umgürtet« (1 Sam 2, 4); Er gibt uns »Schutz und Heil, seine Rechte schirmt uns« (Ps 17, 36); »er lehrt unsre Hände den Kampf und unsre Fäuste den Krieg« (Ps 143, 1). Gott allein also müssen wir für den Sieg Dank sagen; nur durch Ihn und mit Ihm können wir siegen. So hielt es der Apostel, wenn er sagt: »Gott aber sei Dank, der uns den Sieg verliehen durch unsern Herrn Jesus Christus« (1 Kor 15, 57). Ihn preist als Urheber des Sieges auch jene Stimme vom Himmel in der Geheimen Offenbarung: »Nun ist gekommen das Heil, die Macht und das Reich unsres Gottes und die Macht seines Gesalbten; denn gestürzt ist der Ankläger unsrer Brüder . . . Sie haben überwunden durch das Blut des Lammes« (Offb 2, 10. 11). Dasselbe Buch bezeugt Christi des Herrn Sieg über die Welt und das Fleisch all folgender Stelle: »Sie werden mit dem Lamm Krieg führen, aber das Lamm wird sie besiegen« (Offb 14, 17). Soviel über die Grundlage und den Weg zum Sieg.

20 Nach diesen Darlegungen sollen die Pfarrer über die von Gott schon bereit gestellten Siegeskränze zum gläubigen Volk sprechen und über die Größe der für die Sieger bestimmten ewigen Belohnungen. Dafür können sie gleichfalls aus der Geheimen Offenbarung göttliche Zeugnisse anführen z. B. »Wer siegt, wird vom zweiten Tod nichts zu erleiden haben« (Offb 2, 11). Ferner: »Wer siegt, wird so mit weißen Gewändern bekleidet werden. Ich werde seinen Namen nimmer auslöschen aus dem Buch des Lebens; sondern werde ihn bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln (Offb 3, 5). Und bald nachher spricht Gott unser Herr selbst zu Johannes also: »Wer siegt, den will ich zu einer Säule im Tempel meines Gottes machen und nimmer soll er von dort weichen müssen« (Offb 3, 12). Weiter heißt es: »Wer siegt, den lasse ich mit mir auf meinem Throne sitzen; wie auch ich gesiegt habe und mich zu meinem Vater auf den Thron setzen durfte« (Offb 3, 21). Endlich nach Beschreibung der Herrlichkeit der Heiligen und der Fülle der im Himmel zum ewigen Genuss dargebotenen Güter wird [im genannten hl. Buch hinzugefügt: »Wer siegt, wird das alles besitzen« (Offb 21, 7).

Sechzehntes Kapitel: Siebte Bitte des Vaterunsers
»Sondern erlöse uns vom Übel« 

1 Die letzte Bitte, mit der der Gottessohn dies göttliche Gebet schließt, ist sozusagen eine Zusammenfassung aller andern. Ihren Sinn und Wert zeigte Er auch, als Er vor seinem Scheiden aus diesem Leben für das Heil der Menschen zu Gott dem Vater betete und sich dabei eben dieser Schlussformel bediente: »Ich bitte,« so sprach Er, »behüte sie vor dem Übel« (Joh 17, 15). In dieser Bittformel, die Er uns als sein Gebot hinterließ und durch sein Beispiel bestätigte, hat Er also Sinn und Bedeutung der andern Bitten wie in einem kurzen Abriss zusammengefasst. Denn wenn wir das in dieser Bitte Ausgesprochene erlangt haben, so bleibt nach dem hl. Cyprian »nichts mehr, was man darüber hinaus noch fordern könnte: Wenn wir nämlich um Gottes Schutz gegen alles Übel bitten und ihn ein- für allemal erhalten, sind wir gegen alle Machenschaften des Teufels und der Welt gefestigt und gefeit« (Serm. 6 de orat. Dom.). Weil also, wie gesagt, diese Bitte von so großer Bedeutung ist, muss der Pfarrer zu ihrer Erklärung vor den Gläubigen die größte Sorgfalt verwenden.

Zwischen dieser und der unmittelbar vorhergehenden Bitte besteht jedoch ein Unterschied, denn dort bitten wir um Vermeidung der Schuld, hier um Befreiung von der Strafe. 2 Wie sehr wir unter Mühen und Drangsalen zu leiden haben und wie notwendig wir der Hilfe von oben bedürfen, daran braucht das gläubige Volk nicht gemahnt zu werden. Denn jeder weiß aus eigener und fremder Erfahrung, wie vielen und wie großen Nöten das Menschenleben unterworfen ist. Außerdem haben heilige und weltliche Geschichteschreiber diesen Gegenstand weitläufig genug behandelt. Das Wort, das Job, das Vorbild der Geduld, der Nachwelt überlassen hat, ist wohl allgemeine Überzeugung geworden: »Nur kurz lebt der von der Frau Geborne und von vielen Mühen wird er heimgesucht; wie eine Blume blüht er auf und verwelkt wieder und wie ein Schatten schwindet er dahin und nimmer hat er Bestand« (Job 14, 1. 2). Dass auch nicht ein Tag vergeht, der nicht irgend eine besondere Mühe oder Plage zu verzeichnen hätte, bezeugt das Wort Christi des Herrn: »Jedem Tag genügt seine Plage« (Mt 6, 34). Dieses Los des Menschenlebens deutet auch die Mahnung und Lehre des Herrn an, man müsse täglich sein Kreuz aufnehmen und ihm nachfolgen (Lk 9, 23).

Da also jeder selbst empfindet, wie reich an Mühen und Gefahren dieses Leben ist, wird das gläubige Volk leicht zu überzeugen sein, dass man die Erlösung vom Übel von Gott erbitten müsse. Werden ja die Menschen durch nichts so zum Gebet angetrieben als durch die Sehnsucht und Hoffnung auf Befreiung von den Unannehmlichkeiten, die sie getroffen haben oder die bevorstehen. Es ist nun einmal den Menschen tief ins Herz gepflanzt, im Unglück sogleich zu Gott zu fliehen. Darum heißt es: »Bedecke ihr Antlitz mit Schmach, o Herr, und sie werden deinen Namen suchen« (Ps 82, 17).

3 Wenn die Menschen schon fast von selber in Gefahr und Not Gott anrufen, müssen sie doch sehr eifrig über die Weise es zu tun unterwiesen werden von denen, deren Treue und Klugheit ihr Heil anvertraut ist. Es fehlt nämlich nicht an solchen, die entgegen dem Befehl Christi des Herrn eine ganz verkehrte Ordnung beim Gebet einhalten. Denn der uns befohlen hat, »am Tage der Trübsal« zu Ihm zu fliehen, hat uns auch die Ordnung beim Beten vorgeschrieben: und zwar wollte Er, dass wir vor der Bitte um Erlösung vom Übel beten um die Heiligung des göttlichen Namens, um das Kommen seines Reiches usw., so dass wir auf den vorhergehenden Bitten wie auf ebenso vielen Stufen zu dieser letzten emporsteigen. Aber manche gibt es, wenn ihnen der Kopf, die Seite oder der Fuß weh tut, wenn es ein Familienunglück gibt, bei drohender Feindesgefahr, bei Pest, Hunger und Krieg, beten sie bloß, dass sie von diesen Übeln erlöst werden, ohne sich um die Mittelstufen im Gebet des Herrn zu kümmern. Dieses Vorgehen widerspricht durchaus dem Gebot des Herrn: »Suchet zuerst das Reich Gottes« (Mt 6, 33).

Die recht beten, haben auch, wenn sie um Abwendung von Unglück und Mühen, kurz um Erlösung vom Übel beten, die Ehre Gottes im Auge. So fügt David seiner Bitte: »Herr, strafe mich nicht in deinem Grimm«, einen Grund bei, der beweist, dass er voll Eifer für die Ehre Gottes war; er sagt nämlich: »Denn im Tode gedenkt man deiner nicht, und in der Unterwelt, wer soll dich da preisen« (Ps 6, 2. 6)! Und als derselbe zu Gott um Barmherzigkeit flehte, setzte er hinzu: »Dann will ich die Ungerechten deine Wege lehren und die Gottlosen werden sich zu dir bekehren« (Ps 50, 15). Zu dieser heilsamen Gebetsweise und zur Nachahmung des Propheten muss man die gläubigen Zuhörer anspornen.

Gleichzeitig muss man sie belehren, welch himmelweiter Unterschied besteht zwischen den Gebeten der Christen und denen der Ungläubigen. 4 Diese rufen zwar stürmisch zu Gott, dass sie von Krankheiten und Wunden genesen, Bedrängnissen oder drohenden Gefahren entrinnen möchten; sie setzen jedoch ihre Hoffnung vorzüglich auf natürliche oder durch Menschenfleiß zubereitete Mittel. Ohne Scheu nehmen sie jede Medizin, mag sie von wem immer sein, selbst wenn sie mit Beschwörungen, Zauberei, ja mit Hilfe des Teufels hergerichtet wäre, sofern nur irgend eine Hoffnung auf Heilung besteht.

Ganz anders die Christen; ihnen gilt in Krankheiten und in allen Widerwärtigkeiten Gott als beste Zuflucht und sicheres Heil; in Ihm allein erkennen und verehren sie den Urheber alles Guten und ihren Befreier; sie sind überzeugt, dass die in den Arzneien liegende Heilkraft von Gott kommt und den Kranken nur soweit helfen kann, als es Gottes Wille ist. Denn die Arzneien sind von Gott dem Menschengeschlechte zur Heilung der Krankheiten gegeben. Darum heißt es im Buch Ecclesiasticus: »Der Allerhöchste schuf Heilungsmittel aus der Erde; ein kluger Mann verschmäht sie nicht« (Sir 38, 4). Die also Jesu Christo anhangen, setzen ihre Hoffnung auf Genesung nicht an erster Stelle in diese Heilmittel, sie vertrauen vielmehr hauptsächlich auf den, der die Heilmittel schuf. 5 Es werden daher in der Hl. Schrift die getadelt, die im Vertrauen auf Arzneien nicht bei Gott Hilfe suchen (2 Chr 16, 12). Und die ganz nach dem Gesetz Gottes leben, lehnen alle Heilmittel ab, die von Gott sicher nicht zu Heilzwecken bestimmt sind. Ja, selbst wenn ihnen durch die Anwendung solcher Mittel die Hoffnung auf Gesundheit sicher verbürgt wäre, haben sie vor denselben dennoch einen Abscheu wie vor Beschwörungen und Zauberei.

Die Gläubigen müssen daher gemahnt werden auf Gott zu vertrauen. Eben deswegen befahl uns der allgütige Vater, um Erlösung vom Übel zu bitten, damit wir in diesem seinem Befehl selbst schon Aussicht auf Gewährung hätten. Viele Beispiele lassen sich hierfür in der Hl. Schrift finden, so dass solche, die durch Gründe schwer zur Hoffnung zu bewegen sind, durch die Menge der Beispiele sich zum Vertrauen gezwungen sehen. Abraham, Jakob, Lot, Joseph, David stehen als ebenso viele vollgültige Zeugen für Gottes Güte vor unsern Augen. Die Hl. Schrift des Neuen Bundes macht so viele namhaft, die kraft des frommen Gebetes aus den schwierigsten Lagen befreit worden sind, dass es der Anführung von Beispielen nicht bedarf. Wir lassen es bei dem einen Wort des Propheten bewenden, das auch den Verzagtesten aufzurichten vermag. »Es rufen die Gerechten,« so sagt er, »und der Herr erhört sie; und er befreit sie aus allen ihren Trübsalen« (Ps 33, 18) .

6 Im folgenden wird Sinn und Bedeutung dieser Bitte erklärt. Die Gläubigen sollen nämlich wissen, dass wir hier nicht einfachhin um Erlösung von allen Übeln beten. Denn manches gilt gemeiniglich als Übel, das in Wirklichkeit denen zum Nutzen gereicht, die es erleiden; wie z. B. der »Stachel«, der dem Apostel gegeben war, auf dass unter dem Beistand der Gnade »in der Schwachheit die Kraft zur Vollendung käme« (2 Kor 12, 7. 9). Derartige Dinge erfüllen die Gottliebenden, haben sie einmal ihren Sinn erfasst mit größter Freude; sie sind weit davon entfernt, von Gott deren Wegnahme zu erbitten Wir flehen daher nur um Abwendung solcher Übel, die unsrer Seele keinen Nutzen bringen können, keineswegs aber bezüglich der übrigen, sofern irgend eine heilsame Frucht daraus erwächst.

7 Die Worte [dieser Bitte] haben also ganz allgemein den Sinn, dass wir von Sünde und ebenso von gefährlichen Versuchungen frei bleiben und darum von innern und äußern Übeln erlöst werden: Wir mögen bewahrt werden von Wasserschäden, Feuersbrunst und Blitzschlag; der Hagel möge die Feldfrüchte verschonen; nicht sollen wir unter Teuerung, Aufruhr und Krieg zu leiden haben; wir bitten Gott, dass Er Krankheiten, Pest und Plünderung abwende; dass Er Ketten, Kerker, Verbannung, Verrat, Verfolgung und alle andern Übel fern halte, unter denen das Menschenleben am meisten geplagt und bedrückt wird; endlich möge Er alles verhüten, woraus gewöhnlich Schandtaten und Verbrechen entstehen.

Diese Bitte gilt nicht bloß für solche Dinge, die alle für Übel halten, sondern auch für solche, die den meisten als Güter erscheinen, wie Reichtum, Ehre, Gesundheit, Kraft und selbst das Leben; d. h. wir beten, es mögen uns diese Dinge nicht zum Schaden und Verderben der Seele gereichen. Auch bitten wir Gott, dass Er uns nicht von einem unvorhergesehenen Tode überrascht werden lasse; dass wir uns nicht Gottes Zorn zuziehen und den für die Gottlosen bestimmten Strafen verfallen; dass wir nicht das Fegfeuer zu erleiden brauchen; und zu beten, dass andere aus demselben befreit werden, ist eine fromme und heilige Sitte. Nach der Auslegung, die die Kirche sowohl in der hl. Messe, als auch in der Allerheiligenlitanei von dieser Bitte gibt, flehen wir darin um Abwendung der »vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen ÜbeI«.

8 Auf mehr als eine Weise erlöst uns Gottes Güte von den Übeln: drohendes Unheil hält Er fern. So lesen wir, dass der Patriarch Jakob den Feinden entrann, die das unter den Sichemiten angerichtete Blutbad gegen ihn aufgebracht hatte. Es heißt: »Der Schrecken des Herrn befiel alle Städte ringsum und sie wagten nicht, die Abziehenden zu verfolgen« (Gen 35, 5). Und zwar sind alle Seligen, die mit Christus dem Herrn im Himmel herrschen, durch Gottes Hilfe von gar allen Übeln erlöst; von uns jedoch, die wir noch auf dieser Pilgerschaft weilen, will Gott nicht, dass wir von allen Mühseligkeiten frei seien; wohl aber erlöst Er uns von manchen. Indes gilt statt der Erlösung von allem Übel jener Trost, den Gott zuweilen denen gewährt, die mit Widerwärtigkeiten heimgesucht sind. Diesen Trost empfand der Prophet, da er sprach: »Nach der Menge der Peinen in meinem Herzen erfreuten deine Tröstungen meine Seele« (Ps 93, 19).

Ferner erlöst Gott die Menschen von den Übeln, wenn Er sie in der höchsten Not heil und unversehrt bewahrt, wie wir es von den drei Jünglingen im Feuerofen und von Daniel lesen: diesem taten die Löwen nichts zuleide, und den Jünglingen schadete die Flamme nichts (Dan 3, 21; 6, 22; 14, 39).

9 Nach der Lehre des hl. Basilius des Gr., des hl. Johannes Chrysostomus und des hl. .Augustin wird der Teufel vorzugsweise [der Üble oder] der »Böse« genannt; denn er war der Urheber der Schuld d. h. des Lasters und der Sünde der Menschen; auch bedient sich Gott seiner zur Bestrafung der Lasterhaften und Bösewichte. Denn Gott ist es, der über die Menschen alles Böse schickt, das sie um der Sünde willen erleiden. Darum sagt die Hl. Schrift: »Trifft eine Stadt ein Ungemach, das nicht der Herr veranlasst hat« (Am 3, 6)? Und wiederum: »Ich bin der Herr und keiner sonst, der Licht macht und Finsternis erschafft, der Heil bewirkt und Unheil schafft« (Jes 45, 6. 7). Der »Böse« wird der Teufel auch deswegen genannt, weil er uns, obschon wir ihm nichts angetan haben, dennoch allzeit bekämpft und mit tödlichem Hass verfolgt. Kann er uns auch, sofern wir durch den Glauben gewaffnet und durch die Unschuld (= heiligmachende Gnade) geschützt sind, nichts anhaben, so hört er doch nicht auf, uns durch Übel von außen zu versuchen und auf jede mögliche Weise zu belästigen. Deswegen bitten wir Gott, dass Er uns vom »Bösen« erlöse.

10 Wir sagen von »dem Bösen« [vom Übel] und nicht von »den Bösen«, [Übeln], weil wir die Übel, die von den Mitmenschen gegen uns ausgehen, eben ihm (dem Teufel) als dem Urheber und Anstifter zuschreiben. Daher dürfen wir auch nicht den Nebenmenschen zürnen; vielmehr muss sich unser Hass und Zorn gegen den Teufel kehren, durch den die Menschen aufgestachelt werden, Unrecht zu tun. Wenn dich also der Nächste durch irgend etwas verletzt hat, so bitte, wenn du zum Vater-Gott betest, dass Er nicht bloß dich vom Übel d. i. von dem dir durch den Nebenmenschen zugefügten Unrecht befreie, sondern dass Er auch den Nächsten selbst aus der Hand des Teufels erlöse, denn durch ihn werden die Menschen irregeleitet.

11 Schließlich muss man noch wissen: wenn wir trotz unsrer Gebete und Seufzer nicht von den Übeln befreit werden, so müssen wir das, was uns drückt, geduldig ertragen, indem wir bedenken, es gefalle der göttlichen Majestät, dass wir geduldig leiden. Es ist daher keineswegs recht, uns zu entrüsten oder zu betrüben, dass Gott unsre Gebete nicht erhört; man muss vielmehr alles seinem Wink und Willen überlassen in der Überzeugung, das sei nützlich, das sei heilsam, was nach Gottes Wohlgefallen, nicht aber was nach unserm Gutdünken ist.

12 Zum Schluss sind die frommen Zuhörer noch zu belehren: so lange wir in diesem Leben weilen, müssen sie bereit sein, jede Art von Mühsal und Unglück nicht bloß mit Gleichmut, sondern auch mit Freudigkeit zu tragen. »Denn alle,« so heißt es, »die in Christus-Jesus fromm leben wollen, werden Verfolgung leiden« (2 Tim 3, 12); ferner: »Durch viele Trübsale müssen wir ins Reich Gottes eintreten« (Apg 14, 21); und wiederum: »Musste nicht Christus dieses leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen« (Lk 24, 26)? Es gehört sich doch nicht, dass der Knecht größer ist als sein Herr, und es wäre eine Schande, meint Sankt Bernhard, dass unter einem mit Dornen gekrönten Haupte weichliche Glieder sind (Serm. 5 de omnib. sanctis). Es wird uns das herrliche Beispiel des Urias zur Nachahmung vor Augen gestellt, der auf die Mahnung Davids, er möge in seinem Haus bleiben, erwiderte: »Die Lade Gottes sowie Israel und Juda wohnen in Zelten und ich soll in mein Haus gehen« (2 Sam 11, 11)? Wenn wir durch solche Gedanken und Erwägungen angeregt zum Gebet herantreten, werden wir erreichen, dass wir trotz drohender Gefahren, und drängender Übel unverletzt bleiben jenen drei Jünglingen gleich, die die Flamme unversehrt ließ; zum mindesten werden wir ähnlich wie die Makkabäer (1 Makk 2, 16f) die Unfälle mutig und standhaft ertragen. Wir werden in Schmach und Pein die Apostel nachahmen, die, mit Ruten gepeitscht, sich überaus freuten, dass sie gewürdigt wurden, für Christus Schmach zu leiden (Apg 5, 41). Bei solcher Seelenhaltung werden wir mit höchster Lust in die Worte einstimmen: »Fürsten verfolgten mich ohne Grund, doch mein Herz fürchtete sich nur vor deinen Worten. Ich freue mich über deine Worte wie einer, der viele Beute findet« (Ps 118, 161 f).

Siebzehntes Kapitel: Der Schluss des Gebetes des Herrn
»Amen« 

1 Dieses Wort nennt der hl. Hieronymus in seinem Kommentar zum Matthäus-Evangelium »das Siegel zum Gebet des Herrn«, was es tatsächlich ist. Wie wir nun früher den Gläubigen Weisungen gegeben haben über die entsprechende Vorbereitung, die sie diesem göttlichen Gebet vorausschicken sollen, so wollen wir sie jetzt auch über den Grund und die Bedeutung der Schlussformel belehren. Denn nicht weniger wichtig ist es, das Gebet andächtig zu beenden als es mit Sorgfalt zu beginnen. Das gläubige Volk soll daher wissen, man könne aus den Schluss des Gebetes des Herrn vielerlei und reichliche Früchte gewinnen, deren ergiebigste und erfreulichste die Erfüllung unsrer Bitten ist. Doch darüber ist schon im Vorausgehenden genug gesagt worden. Indes erreichen wir mit diesem Gebetsschluss nicht bloß die Erhörung unsrer Bitten, sondern zum Teil Größeres und Herrlicheres als Worte auszudrücken vermöchten.

2 »Wenn man mit Gott im Gebet Zwiesprache hält«, - um ein Wort des hl. Cyprian zu gebrauchen - ist die göttliche Majestät dem Betenden auf unerklärbare Weise näher als sonst, und bereichert ihn dazu mit ganz besondern Gaben. Man kann jene, die andächtig zu Gott beten, mit Recht solchen vergleichen, die sich dem Feuer nähern: frieren sie, bekommen sie warm, sind sie schon warm, werden sie heiß. So werden auch die, die zu Gott hinzutreten, je nach ihrer Andacht und ihrem Glauben innerlich wärmer; ihr Herz wird für Gottes Ehre entflammt, ihr Geist wird auf wundersame Weise erleuchtet, kurz, sie werden mit göttlichen Gaben überhäuft. Da gilt das Wort der Schrift: »Du bist ihm mit den Segnungen deiner Süßigkeit zuvorgekommen« (Ps 20, 4). Ein allbekanntes Beispiel ist der große Moses. Als er vom Verkehr und der Unterredung mit Gott zurückkehrte, umstrahlte ihn ein göttlicher Lichtglanz derart, dass die Israeliten nicht in seine Augen und sein Antlitz zu schauen vermochten (Ex 34, 35). - Ja so ist es: die mit ganzer Glut ihr Gebet verrichten, verkosten wunderbar Gottes Güte und Majestät. »Noch am Morgen stehe ich vor dir und blick' empor, du bist kein Gott, der Wohlgefallen hat am Frevel«, sagt der Prophet (Ps 5, 5). Je mehr das die Menschen erkennen, mit desto größerer Hingabe und Liebe ehren sie Gott, desto angenehmer empfinden sie auch, wie süß der Herr ist und wie wahrhaft glücklich alle sind, die auf Ihn vertrauen.

Im Glanze dieses Lichtes erkennen sie dann aber auch ihre eigene Niedrigkeit und Gottes erhabene Größe nach jener Lebensregel des hl. Augustin: »Möchte ich dich kennen, möchte ich mich kennen.« So geschieht es dann, dass sie ihren eigenen Kräften misstrauen, sich ganz Gottes Güte überlassen und nicht im geringsten zweifeln, Er werde ihnen in seiner wunderbaren Vaterliebe alles reichlich geben, was sie zum Leben und zum Heil nötig haben. Darob werden sie dann Gott Dank sagen, so herzlich sie nur können und so gut sie es auszusprechen imstande sind. - So hat es, wie wir lesen, David gehalten. Er hatte sein Gebet also begonnen: »Rette mich von all meinen Bedrängern«, schloss es aber mit den Worten: »Ich dank dem Herrn für sein gerechtes Richten, des Allerhöchsten Namen will ich preisen« (Ps 7, 2. 18). 3 Bei den Heiligen finden wir eine Unmenge solcher Gebete, deren Anfang voller Furcht ist, der Schluss aber ist erfüllt mit froher Zuversicht. Ganz auffallend zeichnen sich in dieser Hinsicht Davids Gebete aus. Von Furcht verwirrt, begann er einst also zu beten: »Viele erheben sich wider mich, viele sagen zu meiner Seele: für den gibt's keine Hilfe mehr bei seinem Gott«; aber gleich fügt er, wieder ermutigt und freudig gestimmt hinzu: »Ich fürchte nicht die Tausende des Kriegsvolkes, das mich umlagert« (Ps 3, 2. 3. 7). In einem andern Psalm beweint er seine Armseligkeit, zum Schluss jedoch ist er voll Gottvertrauen und freudetrunken in der Hoffnung auf die ewige Seligkeit. »So schlaf ich denn im Frieden«, sagt er, »schlaf in Ruhe«(Ps 4, 9). Und die Worte: »Herr, straf mich nicht in deinem Grimm und züchtige mich nicht in deinem Zorn«, hat sie der Prophet nicht offenbar in Angst und Bangen gesprochen? Wie zuversichtlich und frohgemut dagegen spricht er bald nachher: »Hinweg von mir, ihr Übeltäter alle, mein lautes Weinen hat der Herr gehört« (Ps 6, 2. 9). Und in der Angst vor Sauls Zorn und Wut, wie demütig und kleinlaut fleht er da zu Gott um Hilfe: »O Gott, um deines Namens willen rette mich und schaffe mir Recht durch deine Kraft!« Und doch setzt er dann freudig und vertrauensvoll hinzu: »Sieh, Gott ist mein Erretter und meines Lebens Schützer ist der Herr« (Ps 53, 3. 6). Wer sich also zum Gebet begibt, trete mit dem Schild des Glaubens und Vertrauens vor Gott den Vater und lasse nicht den leisesten Zweifel aufkommen, etwa nicht zu erlangen, wessen er bedarf.

4 Nun sind gerade im »Amen«, dem Schlusswort des »Gebetes des Herrn«, viele der eben angeführten Gedanken und Wahrheiten wie im Keim enthalten. Dieses hebräische Wort ward vom Heiland so oft ausgesprochen, dass es dem Hl. Geiste gefiel, in der Kirche Gottes es beizubehalten. Sein Sinn lässt sich etwa so umschreiben: Wisse, dein Gebet ist erhört. Es ist gleichsam die Antwort Gottes, der den Bittsteller nach Gewährung seiner Bitte in Gnaden entlässt. Diese Ansicht wird bestätigt durch den ständigen Gebrauch bei der hl. Messe, wo die Kirche nach dem Pater noster das Amen nicht die Altardiener sagen lässt, die doch die Worte Sed libera nos a malo zu sprechen haben; sondern es dem Priester, als ihm zustehend, vorbehält. Als Mittler zwischen Gott und den Menschen antwortet nämlich er dem Volk, Gott habe das Gebet erhört.

5 Das ist jedoch kein allgemeiner Brauch, sondern nur dem Gebet des Herrn eigen, denn bei den andern Orationen haben die Ministranten mit Amen zu antworten. Bei diesen andern Gebeten ist (das Amen) ja nur Ausdruck der Zustimmung und des Verlangens (des Betenden), dort aber ist es Antwort Gottes, dass Er dem Verlangen des Beters zustimmt.

6 Freilich ist dies Wörtlein »Amen« recht verschieden übersetzt worden. Die LXX übersetzen: »Es geschehe!« Andere geben es wieder mit »wahrhaftig«. Aquila setzt dafür »getreulich«. Aber daran liegt wenig, ob es so oder so wiedergegeben wird, wenn wir nur den genannten Sinn festhalten: dass nämlich der Priester damit beteuert, das Erbetene sei gewährt worden. Diese Auffassung verbürgt der Apostel, wenn er im Brief an die Korinther sagt: »Sämtliche Verheißungen Gottes haben in ihm (Christus) ihr Ja gefunden; darum erklingt auch durch Ihn das Amen Gott zum Ruhm« (2 Kor 1, 20). Wird dies Wort aber uns in den Mund gelegt, so enthält es eine Bekräftigung der vorausgegangenen Bitten.

Auch schärft es die Aufmerksamkeit der Betenden. Es kommt nämlich oft vor, dass man beim Gebete zerstreut ist und durch allerlei Gedanken abgelenkt wird. Nun bitten wir mit diesem Wort aus ganzer Seele, es möge alles geschehen, d. h. alles gewährt werden, worum wir vorhin gebetet haben; oder noch besser, wir sehen schon, dass wir erhört sind und fühlen schon die gegenwärtige Hilfe Gottes und jubeln daher mit dem Propheten: »Siehe, Gott ist mein Helfer und meines Lebens Schützer ist der Herr« (Ps 53, 6). Es kann auch in der Tat niemand zweifeln, dass sich Gott gnädig stimmen lasse durch den Namen seines Sohnes und durch das Wort (Amen), das dieser so oft gebraucht hat, Er, der, wie der Apostel sagt, »erhört worden ist um seiner Ehrfurcht willen« (Hebr 5, 7).

A. M. D. G. <ref> Abkürzung von: AD MAIOREM DEI GLORIAM - Zur grösseren Ehre Gottes (Motto der Jesuiten vgl.)</ref>

Anmerkungen

<references />