Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers

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Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers seinem geistlichen Vater mitgeteilt

Verfasser unbekannt - niedergeschrieben von Abt Paissij, Original Kasan 1884

Quelle: Erzählungen eines russischen Pilger, Josef Stocker Verlag Luzern 1944 (177 Seiten), Übertragung und Nachwort von Lydia S. Meli-Bagdasarowa. Die Übersetzung fußt auf der Ausgabe des russischen Textes von B. P. Wyscheslawzew, YMCA Press Paris 1930. Bei der Digitalisierung wurden die Anmerkungen gekürzt, außer der der Bibel. Die Überschriften wurden zu einer Inhaltsangabe ergänzt.

Cover des Buches

ERSTE ERZÄHLUNG: Das Beten ohne Unterlass

(Inhalt des ersten Erzählung: Sie handelt vom "Beten ohne Unterlass" [1 Thess 5, 17] im Jesusgebet oder Herzensgebet: Es findet seinen Ausdruck in den Worten: "Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner! Das unablässige innere Jesusgebet ist kennzeichnend für die hesychastische [von griech. hesychia - Zustand der Ruhe, Ruhe in Gott] Richtung der östlichen Frömmigkeit und Mystik)

Durch die Gnade Gottes bin ich ein Mensch und Christ, durch meine Taten ein großer Sünder, meinem Stande nach ein heimatloser Pilger niedersten Ranges, der von Ort zu Ort zieht. Meine Habe besteht aus folgendem: auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und unter meinem Rock, auf der Brust, die Heilige Bibel das ist alles. In der vierundzwanzigsten Woche nach dem Tag der Dreifaltigkeit kam ich in eine Kirche zum Gottesdienst, um dort zu beten; es wurde aus den Apostelbriefen an die Thessalonicher jener Abschnitt gelesen, darin es heißt: Betet ohne Unterlass. Dieses Wort prägte sich mir besonders tief ein, und ich begann darüber nachzudenken, wie man wohl ohne Unterlass beten könne, da doch jeder Mensch notwendigerweise auch andere Dinge zu verrichten hat, um sein Leben zu erhalten. Ich forschte in der Bibel nach und las daselbst mit eigenen Augen, was ich gehört hatte - nämlich: man solle ohne Unterlass beten (1 Thess 5, 17), allezeit im Geiste beten (Eph 6,18), allerorten reine Hände ohne Zorn und Zweifel zum Gebet erheben (1 Tim 2, 8). Darüber sann ich nun beständig nach und wusste nicht, wie ich es zu deuten hatte.

Was soll ich tun?, dachte ich, wo einen Menschen finden, der mir dies erklären könnte? Ich will alle Kirchen aufsuchen, die durch ihre Prediger in hohem Ansehen stehen; vielleicht gelingt es mir, Belehrung zu erlangen. Und ich machte mich auf den Weg. Ich hörte sehr viele gute Predigten über das Gebet. Allein es waren lauter Unterweisungen über das Gebet im allgemeinen: was das Gebet ist, wie man beten soll, welches die Früchte des Gebets sind; darüber aber, wie man mit dem Gebet verwachsen könne, sagte niemand etwas. Einmal hörte ich auch eine Predigt über das Geistige Gebet und über das unablässige Gebet; wie man indessen zu solchem Beten gelangen könne, wurde nicht gelehrt. So führte mich das Anhören der Predigten nicht zum Ziel, das ich wünschte, weshalb ich denn auch, nachdem ich ihrer zur Genüge gehört hatte, ohne mir klar geworden zu sein, wie man ohne Unterlass beten solle, keine öffentlichen Predigten mehr besuchte; dagegen beschloss ich, mit Gottes Hilfe nach einem erfahrenen und wissenden Mann zu suchen, der mir das Geheimnis des unablässigen Betens offenbaren würde, da doch mein Sinnen und Trachten so unerschütterlich gerade auf diese Wissenschaft gerichtet war.

Lange pilgerte ich nun durch die verschiedensten Gegenden, las immer die Bibel und erkundigte mich überall, ob es wohl irgendwo einen geistlichen Lehrer oder gottesfürchtigen, erfahrenen Führer gäbe. Da sagte man mir einmal, dass in einem Dorf seit vielen Jahren ein Gutsbesitzer lebe, der sich ganz dem Heil seiner Seele widme: er habe in seinem Haus eine Kapelle, gehe niemals aus, bete ohne Unterlass zu Gott oder lese in frommen, das Seelenheil fördernden Büchern. Als ich dies vernommen, ging ich nicht, sondern lief nach jenem Dorf; ich kam hin und gelangte auch schließlich zu dem Gutsbesitzer.

"Was führt dich zu mir?" fragte er.

"Ich habe vernommen, dass Ihr ein gottesfürchtiger, weiser Mann seid; darum bitte ich Euch, mir um Gottes willen zu erklären, was das Wort des Apostels bedeutet: "Betet ohne Unterlass", und auf welche Weise man ohne Unterlass beten kann. Mich verlangt sehr, dies zu erfahren: ich kann es gar nicht verstehen."

Der Gutsbesitzer schwieg eine Weile, schaute mich aufmerksam prüfend an und sprach dann: "Das unablässige innere Gebet ist das ununterbrochene Streben des menschlichen Geistes zu Gott. Um in dieser süßen Übung zu wachsen, ist es notwendig, Gott möglichst oft zu bitten, Er möge uns lehren, wie man ohne Unterlass betet. Bete mehr und mit größerer Hingabe; das Gebet selbst wird dir offenbaren, auf welche Weise es zu einem unablässigen Gebet werden kann; das alles braucht seine Zeit."

Nachdem er dies gesagt hatte, befahl er, mir Speise zu reichen, gab mir Zehrung auf den Weg und entließ mich. Eine Erklärung aber hatte er mir nicht gegeben.

Wieder zog ich meines Weges, dachte und dachte, las und las, sann beständig über das nach, was mir der Gutsbesitzer gesagt hatte, und konnte dies doch nicht verstehen; es verlangte mich aber so sehr, es zu verstehen, dass ich in den Nächten keinen Schlaf fand. So mochte ich bereits an die zweihundert Werst (= 1, 067 km) zurückgelegt haben, als ich in eine große Gouvernementsstadt kam. Hier erblickte ich ein Kloster. In der Herberge, wo ich abgestiegen war, erfuhr ich, dass in diesem Kloster ein gütigerfrommer und den Pilgern wohlgesinnter Vorsteher lebe. Ich ging zu ihm. Er empfing mich freundlich, hieß mich Platz nehmen und wollte mich bewirten. Da sagte ich: "Ehrwürdiger Vater, mich verlangt nicht nach Eurer Bewirtung; doch wünschte ich, Ihr würdet mir geistliche Belehrung darüber erteilen, wie ich meine Seele retten soll (vgl. Mt 19,16)." "Wie du deine Seele retten sollst? Nun, lebe nach den Geboten Gottes und bete zu Gott, dann wirst du gerettet werden."

"Ich höre, dass man ohne Unterlass beten soll, weiß aber nicht, wie man auf diese Weise betet; ja, ich kann nicht einmal begreifen, was ein Gebet ohne Unterlass bedeutet. Ich bitte Euch, mein Vater, erklärt es mir!"

"Ich weiß nicht, geliebter Bruder, wie ich dir dies erklären soll. Doch warte! Ich habe da ein kleines Buch, darin alles erklärt wird." Und er brachte des heiligen Dimitrij (von Rostov 1651-1709) "Geistliche Unterweisung des innern Menschen" "Hier, lies mal auf dieser Seite !"

Ich nahm das Buch und las folgendes: "Die Worte des Apostels: Betet ohne Unterlass meinen ein Gebet, das im Geist verrichtet wird; der Geist kann allezeit in Gott eindringen und ohne Unterlass zu Ihm beten."

"Erklärt mir das! Auf welche Weise kann der Geist allezeit in Gott eindringen und, ohne abgelenkt zu werden, unablässig zu Ihm beten?"

"Solches ist äußerst schwierig zu erlernen, so nicht Gott selber es in uns bewirkt", sagte der Vorsteher. Eine Erklärung jedoch gab auch er mir nicht.

Nachdem ich bei ihm übernachtet und ihm am folgenden Morgen für die freundliche Aufnahme gedankt hatte, zog ich wieder weiter, ohne selbst zu wissen wohin. Ich war betrübt über meinen Unverstand, und um mir Trost zuzusprechen, las ich in der Heiligen Bibel. So wanderte ich fünf Tage auf der Landstraße dahin, als mich eines Abends schließlich ein altes Männlein einholte, das seinem Aussehen nach dem geistlichen Stand anzugehören schien.

Auf meine Frage sagte er mir, er sei ein Eremit aus einer Einsiedelei, die etwa zehn Werst (= 10,67 km) von der Landstraße abseits liege; und er forderte mich auf, mit ihm dorthin zu gehen.

"Bei uns", sagte er, "nimmt man Pilger auf, spricht ihnen tröstend zu und speist sie zusammen mit den andern Frommen in einem Gasthof."

Ich verspürte jedoch aus irgendeinem Grunde keine Lust, dorthin zu gehen, und antwortete daher auf seine Einladung mit folgenden Worten: "Meine Ruhe hängt nicht von der Unterkunft ab, sondern von einer geistlichen Belehrung; nicht Speise und Trank jage ich ja nach, habe ich doch in meinem Beutel noch viel trockenes Brot."

"Und welche Art Belehrung suchst du denn und was ist es, das du besser verstehen möchtest? Komm nur, komm zu uns, geliebter Bruder, bei uns sind erfahrene Starzen (Einzahl = Starez d.h. Alter, Altvater, er ist ein durch strenge aszetische Selbsterziehung im geistlichen Leben erfahrener Mönch, der junge Mönche wie auch Weltchristen in seine geistliche Schule nimmt), die dir geistige Speise reichen und dich auf den richtigen Weg bringen können - im Licht des Wortes Gottes und in der Unterweisung der heiligen Väter."

"Ja seht, Vater, vor etwa einem Jahr hörte ich, als ich der Liturgie beiwohnte, aus den Apostelbriefen das Gebot: "Betet ohne Unterlass". Weil ich dies nun nicht verstehen konnte, begann ich die Bibel zu lesen; und da fand ich auch dort an vielen Stellen das Gebot Gottes, man solle ohne Unterlass beten, immer, zu jeder Zeit und an jedem Ort; ja nicht nur bei jeder Beschäftigung, nicht nur im Wachen, sondern auch im Schlaf: Ich schlafe, doch mein Herz ist wach (Hld 5, 2). Das versetzte mich sehr in Erstaunen und ich begriff nicht, wie man solches erfüllen könne und mit welchen Mitteln man dazu gelange; ein mächtiger Wunsch und Wissensdurst regten sich in mir, so dass meine Gedanken Tag und Nacht davon erfüllt waren. Ich suchte deshalb verschiedene Kirchen auf, um mir Predigten über das Gebet anzuhören; allein so viele Predigten ich auch hören mochte, in keiner fand ich die Belehrung darüber, wie man ohne Unterlass beten soll; stets war darin nur die Rede von der Vorbereitung zum Gebet oder von den Früchten des Gebets und dergleichen, nicht aber eine Unterweisung im unablässigen Beten und was ein solches Gebet bedeute. Ich las oft in der Bibel und prüfte das Gehörte nach, indessen habe ich auf diese Weise die ersehnte Erkenntnis doch nicht erlangt. So bin ich denn bis zu dieser Stunde in meiner Unwissenheit und Unruhe verblieben."

Der Starez bekreuzte sich und sprach dann also: "Danke Gott, geliebter Bruder, dass Er in dir dieses unwiderstehliche Verlangen nach der Erkenntnis des unablässigen inneren Gebets geweckt hat. Erkenne hierin den Ruf Gottes und beruhige dich in der Überzeugung, dass bis zu diesem Tag an dir die Probe vollzogen wurde, ob dein Wille mit der Stimme Gottes im Einklang stehe; auch ward dir gegeben zu erkennen, dass das himmlische Licht - das unablässige innere Gebet - nicht durch die Weisheit dieser Welt und auch nicht durch äußern Wissensdurst erlangt werden kann, sondern im Gegenteil: solches wird erworben durch die Armut des Geistes und durch die tätige Erfahrung in der Einfalt des Herzens.

So ist es denn auch gar nicht erstaunlich, dass du bis dahin über diese wichtige Art des Betens nichts erfahren konntest und auch nichts über die Wissenschaft vernommen hast, wie man dazu gelangt, ohne Unterlass im Gebet zu verharren. Überdies muss wahrheitsgemäß gesagt werden: obgleich nicht wenig über das Gebet gepredigt wird und es auch viele Lehren verschiedener Schriftsteller darüber gibt, so unterweisen diese, zumal all ihre Urteile sich größtenteils auf spekulative Erkenntnis, auf Erwägungen der natürlichen Vernunft und nicht auf tätige Erfahrung gründen, weit mehr über alles, was das Äußerliche des Gebets betrifft, als über das Wesen des Gebets selbst. Daher stellt der eine wunderbare Betrachtungen über die Notwendigkeit des Gebets an; ein anderer spricht über die Kraft und die Segnungen des Gebets; ein dritter wiederum über die Mittel, die zum vollkommenen Gebet führen, das heißt, darüber, dass zum richtigen Beten Eifer, Aufmerksamkeit, Herzenswärme, Reinheit der Gedanken, Versöhnung mit dem Feind, Demut, Zerknirschung und anderes mehr unbedingt notwendig sind. Was aber das Gebet sei, wie man beten lerne - auf diese Fragen, die doch die brennendsten und allerwichtigsten sind, wird man bei den Predigern unserer Zeit sehr selten eine gültige Erklärung finden, dieweil solche Erklärungen schwerer zu fassen sind als alle erwähnten Erörterungen; auch erfordern sie geheimes, geheiligtes Wissen und keine bloß schulmäßige Gelehrtheit. Das Beklagenswerteste ist jedoch, dass die eitle irdische Klugheit dazu führt, Gott mit menschlichen Maßen zu messen. Viele urteilen über das Gebet ganz verkehrt, indem sie glauben, die vorbereitenden Mittel und die frommen Werke erzeugten es, während das Gebet doch die Quelle dieser Werke und aller Tugenden ist. In diesem Fall missverstehen sie die Früchte oder Wirkungen des Gebets und halten sie für die Mittel und Weg zum Gebet, wodurch sie die Kraft des Gebets herabsetzen. Solches steht aber im Gegensatz zur Heiligen Schrift, denn der Apostel Paulus gibt folgende Unterweisung im Gebet: So ermahne ich euch, vor allen Dingen Gebete zu tun (vgl. 1 Tim 2,1).

Nach diesem Wort des Apostels besteht somit die erste Unterweisung im Gebet darin, dass das Gebet vor alles andere gestellt werde: ,So ermahne ich euch, vor allen Dingen Gebete zu tun.' Viele fromme Werke werden vom Christen verlangt, aber das Werk des Gebets soll über allen andern Werken stehen, denn ohne dieses kann kein anderes frommes Werk vollbracht werden. Ohne das Gebet kann man den Weg zu Gott nicht finden, kann die Wahrheit nicht erkennen, des Fleisches Lust und Leidenschaften nicht kreuzigen, sein Herz nicht mit dem Licht Christi durchleuchten und sich nicht mit Ihm verbinden. Das alles ist unmöglich ohne voraufgehendes häufiges Gebet. Ich sage ,häufig', denn die Vollkommenheit und Richtigkeit des Gebets liegt ja nicht in unserer Macht, wie dies wiederum der Apostel Paulus sagt: Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebühret (Röm 8, 26). Folglich ist nur die Häufigkeit, die Unablässigkeit des Betens in unsere Macht gelegt, als Mittel zur Erlangung der Reinheit im Gebet, welche die Mutter eines jeden geistigen Besitzes ist. ,Umwirb die Mutter und sie wird dir Nachkommen schenken', sagt der heilige Isaak der Syrer (Isaak von Ninive); lerne, dir das erste Gebet zu eigen zu machen, und du wirst mit Leichtigkeit alle Tugenden erlangen. Doch gerade hierüber bestehen nur unklare Vorstellungen, und wer nicht mit der Übung und mit den geheimnisvollen Lehren der heiligen Väter vertraut ist, wird wenig darüber sagen können."

Bei solchen Gesprächen waren wir unvermerkt fast bis zur Einsiedelei gekommen. Um diesen weisen Starez nicht aus den Augen zu verlieren, sondern baldmöglichst die Erfüllung meines Wunsches zu finden, beeilte ich mich zu sagen: "Erweist mir die Güte, ehrwürdiger Vater, und erklärt mir, was das unablässige innere Gebet bedeutet, und wie man es erlernen kann; ich sehe, dass Ihr diese Wissenschaft kennt und darin Erfahrung habt."

Der Starez nahm meine Bitte liebevoll entgegen und lud mich zu sich ein:

"Komm jetzt zu mir, ich will dir ein Buch der heiligen Väter geben, daraus du mit Gottes Hilfe klar und ausführlich erfahren wirst, was unablässiges inneres Beten bedeutet, und woraus du es auch erlernen kannst."

Wir betraten seine Zelle und der Starez wandte sich mit folgenden Worten an mich:

"Das unablässige innere Jesusgebet ist das ununterbrochene und unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, im Bewusstsein Seiner Allgegenwart, sowie das Flehen um Sein Erbarmen bei jeglichem Tun, an jedem Ort und zu jeder Zeit, sogar im Schlaf. Es findet seinen Ausdruck in folgenden Worten: Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner! Und so jemand sich an diese Anrufung gewöhnt, wird er großen Trost empfangen und wird so seht das Bedürfnis empfinden, dieses Gebet immer wieder zu beten, dass er ohne solches gar nicht mehr leben kann, ja es wird ganz von selbst aus ihm strömen. - Verstehst du nun, was das unablässige Gebet ist?"

"Ja, jetzt verstehe ich es vollkommen, mein Vater! Doch lehrt mich nun auch, wie ich es erlange!" rief ich voller Freude.

"Wie man dieses Gebet erlernen kann, wollen wir in diesem Buch lesen. Es heißt, Tugendliebe" und enthält die vollständige und genaue Wissenschaft über das unablässige innere Gebet, dargelegt von fünfundzwanzig heiligen Vätern; es ist auch ein so nützliches und hoch über allen andern Büchern stehendes Buch, dass es als der vornehmste und oberste Lehrmeister im beschaulichen, geistlichen Leben gilt, und uns, wie der selige Nicephorus (Athosmönch im 14. Jahrhundert) sagt, ,ohne Mühe und Schweiß zur Rettung führt'."

"Wäre es denn wirklich möglich, dass es höher und heiliger ist als die Bibel ?" fragte ich.

"Nein, es ist nicht höher und nicht heiliger als die Bibel, aber es enthält lichte Erläuterungen alles dessen, was es an Geheimnisvollem in der Bibel gibt, und was in seiner Erhabenheit von unserem kurzsichtigen Verstand nicht erfasst werden kann. Ich will dir hierfür ein Gleichnis geben: die Sonne ist die größte, strahlendste und erhabenste Leuchte; du kannst sie aber nicht mit ungeschütztem, nacktem Auge anschauen und betrachten. Du brauchst dazu bekanntlich ein künstliches Glas, das, wiewohl millionenmal kleiner und trüber als die Sonne, dir erst ermöglicht, die hehre Königin der Gestirne zu schauen, dich an ihrer Pracht zu ergötzen und ihre flammenden Strahlen in dich aufzunehmen. So ist auch die Heilige Schrift eine leuchtende Sonne, die ,Tugendliebe' aber ist jenes Stückchen Glas. - Höre nun zu, ich werde dir vorlesen, wie man das unablässige innere Gebet erlangen kann."

Der Starez schlug die "Tugendliebe" auf, suchte darin die Unterweisung des heiligen Symeon, des Neuen Theologen (949-1022), und begann also:

"Zieh dich einsam zurück und setze dich still hin; neige das Haupt, schließe die Augen, atme leichter und blicke mit deiner Einbildung in dich, das heißt, leite den Verstand, das Denken aus dem Kopf ins Herz. Und nun sprich bei jedem Atemzug, indem du leise die Lippen bewegst, oder auch nur im Geiste: ,Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner.' Bemühe dich, alle fremden Gedanken zu verscheuchen, fasse dich in stiller Geduld und wiederhole diese Übung recht häufig."

Darauf erklärte mir der Starez alles noch an Beispielen, und wir lasen in der "Tugendliebe" weiter, was der heilige Gregor der Sinait (*13. Jahrhundert) sowie die hochseligen Kallistus und Ignatius (beide mit dem Zunamen Xanthopulos, Mönche von Athos) gesagt haben, wobei der Starez alles, was wir in der "Tugendliebe" lasen, mir noch mit eigenen Worten erklärte. Ich lauschte ihm aufmerksam und voller Begeisterung, prägte mir das Gehörte tief ins Gedächtnis ein und bemühte mich, alles einzeln und möglichst genau zu verstehen. So verbrachten wir die ganze Nacht und begaben uns darauf, ohne geschlafen zu haben, zum Frühgottesdienst.

Als mich der Starez entließ, segnete er mich und sagte, ich möge, während ich dies Gebet erlerne, zu ihm kommen und ihm in aller Offenheit, mit kindlich einfältigem Herzen beichten, denn ohne Nachprüfung durch einen geistlichen Lehrer wäre es weder gut noch Erfolg verheißend, sich diesem inneren Tun hinzugeben.

In der Kirche fühlte ich in mir flammenden Eifer erwachen, der mich antrieb, das unablässige innere Gebet mit möglichst großem Fleiß zu erlernen, und ich bat Gott, er möge mir dabei helfen. Dann aber dachte ich darüber nach, wie ich mich wohl einrichten sollte, damit ich den Starez immer wieder aufsuchen könnte, um ihm zu beichten und mir von ihm Rat zu holen, da man mich im Gasthof nicht länger als drei Tage beherbergen würde, es in der Nähe der Einsiedelei aber keine Wohnung gab ... Endlich erfuhr ich, dass vier Werst vom Ort entfernt ein Dorf lag, und ich begab mich dorthin, um mir eine Wohnstätte zu suchen. Zu meinem großen Glück ließ mich Gott daselbst auch wirklich eine bequeme Unterkunft finden. Ich verdingte mich für den ganzen Sommer bei einem Bauern als Wächter seines Gemüseackers unter der Bedingung, in der Schutzhütte, auf dem Acker selbst, alleine wohnen zu dürfen. So hatte ich denn, Gott sei Dank, einen stillen Ort gefunden, wo ich mich alsbald niederließ und nach den Anweisungen, die ich erhalten hatte, zu leben und das innere Gebet zu erlernen begann, indem ich von Zeit zu Zeit immer wieder den Starez aufsuchte.

Etwa eine Woche lang gab ich mich in meiner Einsamkeit auf dem Acker voller Eifer dem Erlernen des unablässigen Gebets hin, genau wie es mir der Starez erklärt hatte. Anfangs schien es auch gut zu gehen. Dann aber verspürte ich eine große Schwere, Trägheit und Langeweile in mir aufsteigen; unüberwindliche Schläfrigkeit und allerlei Gedanken senkten sich auf mich herab gleich einer dunkeln Wolke. In tiefer Betrübnis ging ich zu dem Starez und schilderte ihm meinen Zustand. Er empfing mich voller Güte und sagte:

"Das ist der Kampf, geliebter Bruder, den die Welt der Finsternis gegen dich führt. Es gibt nichts Furchtbareres für sie, als das Gebet des Herzens in uns; darum bemüht sie sich, auf jegliche Weise dich zu stören und von deinen Gebetsübungen abzuhalten. Doch wirkt ja auch der Feind nach dem Ratschluss und Willen Gottes, und nur in dem Maße, wie es Gott zu unserm Heil zulässt. Offenbar brauchst du noch eine Prüfung, um zur Demut zu gelangen; so ist es denn noch zu früh, mit übermäßigem Eifer dir den Zugang zum innersten Herzen erringen zu wollen, sollst du nicht in geistige Gier verfallen. Ich will dir hierüber eine Anleitung aus der ,Tugendliebe' vorlesen."

Und der Starez schlug die Unterweisung des seligen Mönchs Nicephorus auf und fing an zu lesen:

"So du nach einigem Bemühen den Zugang in das Herzensland auf die Weise, wie es dir erklärt wurde, nicht findest, dann tue, was ich dir sage, und du wirst mit Gottes Hilfe finden, was du suchst. Du weißt, dass die Fähigkeit, Worte hervorzubringen, bei jedem Menschen in der Kehle sitzt. Bedien dich dieser Fähigkeit; vertreib auch alle fremden Gedanken (du kannst es, wenn du nur willst) und lass dich selber unaufhörlich dieses sprechen: ,Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!' Zwing dich dazu, es immer wieder auszusprechen. Wenn du darin eine Weile beharrst, wird sich dir ohne jeden Zweifel der Zugang zum Herzen erschließen. Solches hat die Erfahrung gelehrt."

"Du siehst, was die heiligen Väter uns in einem solchen Fall lehren", sagte der Starez. "Deshalb musst du voller Vertrauen das Gebot annehmen und das Jesusgebet, so oft du kannst, mündlich beten. Hier ist eine Gebetsschnur (zum Zählen), verrichte darnach zunächst dreitausend Gebete im Tag. Ob du stehst oder sitzest, ob du gehst oder liegst - wiederhole unablässig: ,Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!' Sprich diese Worte leise, ohne dich zu beeilen, indes tue dies eben dreitausendmal im Tag; füge nichts hinzu, lass aber auch nichts nach eigenem Ermessen weg, und Gott wird dir helfen, immerwährende Tätigkeit des Herzens zu erlangen."

Erfüllt von großer Freude nahm ich dieses Gebot auf mich und kehrte in meine Hütte zurück. Hier befolgte ich alles, was mich der Starez gelehrt hatte, getreulich und genau. Ungefähr zwei Tage lang fiel mir das Beten schwer, dann aber wurde es so leicht und wünschenswert, dass ich, wenn ich das Jesusgebet nicht sagte, ein Verlangen verspürte, es zu beten, und es entfloss meinen Lippen auch schon viel bequemer und leichter als früher, und ohne dass ich mich dazu zwingen musste.

Dieses teilte ich dem Starez mit, worauf er mir gebot, von nun an sechstausend Gebete im Tag zu sprechen, indem er sagte: "Sei ruhig und bemühe dich nur, die verlangte Zahl von Gebeten so gewissenhaft als möglich zu verrichten; Gott wird dir Gnade erweisen."

Eine ganze Woche lang sprach ich in meiner einsamen Hütte auf dem Feld in dieser Weise täglich sechstausend Jesusgebete, kümmerte mich um nichts anderes und achtete der fremden Gedanken nicht, wie sehr sie mich auch bestürmen mochten. Ich war nur darauf bedacht, das Gebot des Starez in aller Treue einzuhalten. Und was geschah? Ich gewöhnte mich so sehr an das Gebet, dass ich, sobald ich es auch nur kurze Zeit unterließ, das Gefühl bekam, als fehlte mir etwas, als hätte ich etwas verloren; dann fing ich wieder an zu beten, und in demselben Augenblick wurde mir leicht und froh ums Herz. Wenn ich jemandem begegnete, so verspürte ich jetzt keine Lust mehr, mit ihm zu sprechen, sondern empfand nur das Verlangen, stets in der Einsamkeit zu sein und das Gebet zu sprechen; so sehr hatte ich mich in dieser einen Woche daran gewöhnt.

Da mich der Starez wohl zehn Tage lang nicht bei sich gesehen hatte, suchte er mich selbst auf; ich beschrieb ihm meinen Zustand. Nachdem er mich angehört hatte, sagte er:

"Nun hast du dich an das Gebet gewöhnt; sieh zu, dass du diese Gewohnheit in dir wach erhältst und sie mehrst; vergeude die Zeit nicht mit müßigen Dingen, fasse vielmehr mit Gottes Hilfe den Entschluss, von nun an zwölftausend Gebete im Tag zu verrichten. Steh so früh wie möglich auf, geh möglichst spät zur Ruhe, und komm immer nach zwei Wochen zu mir, um dir Rat zu holen."

Ich tat, wie mir der Starez befohlen hatte, und am ersten Tag gelang es mir, meine zwölftausend Gebete mit knapper Not noch in später Abendstunde zu beenden. Am folgenden Tag erreichte ich dies schon mit weniger Mühe und tat es mit Freuden. Anfangs verspürte ich beim anhaltenden Sprechen des Gebets Müdigkeit oder gleichsam ein Steifwerden der Zunge und eine Verkrampfung in den Kinnbacken, was übrigens nicht unangenehm war. Alsdann stellte sich ein leichter, feiner Schmerz im Gaumen ein, dazu ein eigenartiger Schmerz im Daumen der linken Hand, mit der ich die Gebetsschnur bewegte, und außerdem eine Entzündung des ganzen Handgelenks, die sich bis zum Ellbogen ausbreitete, was aber eine höchst angenehme Empfindung hervorrief. Zudem regte und spornte mich dies alles zu noch größerem Eifer im Gebet an. Auf diese Weise verrichtete ich fünf Tage nacheinander gewissenhaft je zwölftausend Gebete, und mit der Gewöhnung stellte sich zugleich eine angenehme Empfindung und große Lust zum Gebet ein.

Eines Morgens früh war mir, als hätte mich das Gebet geweckt. Sofort begann ich mein Morgengebet herzusagen, allein die Zunge vermochte nur ungeschickt die Worte im Munde zu formen, während mein Sehnen ganz von selber dahin ging, das Jesusgebet zu beten. Und als ich es dann zu sprechen begann, da wurde mir leicht und froh ums Herz! Es war, als sprächen Zunge und Lippen die Worte ganz von selbst, ohne irgendwelche Nötigung. Also verbrachte ich den ganzen Tag in großer Freude, und mir war, als hätte ich mich von allen äußern Dingen losgelöst und schwebte in einer andern Welt; ich vollbrachte mit Leichtigkeit die zwölftausend Gebete bis zum frühen Abend. Es drängte mich sehr, noch weiter zu beten, aber ich wagte nicht, mehr zu tun, als mir vom Starez befohlen war. In derselben Weise fuhr ich auch an den folgenden Tagen fort, den Namen Jesu Christi anzurufen, und tat dies mit der gleichen Leichtigkeit und Hingabe.

Dann ging ich zum Starez, um mich ihm zu offenbaren, und ich erzählte ihm alles ausführlich. Nachdem er mich angehört hatte, sagte er:

"Gott sei gedankt, dass sich dir diese Lust und Leichtigkeit zum Gebet erschlossen hat. Es ist das etwas ganz Natürliches, und ist die Folge der häufigen Übungen und des Eifers, gleichwie eine Maschine, deren Hauptrad in Schwung gebracht oder angetrieben wurde, noch lange von selbst weiterläuft; um aber diese Bewegung zu verlängern, ist es notwendig, das Rad zu ölen und es immer wieder anzutreiben. Du siehst also, mit welch vortrefflichen Eigenschaften Gott in seiner Menschenliebe sogar unsere sinnliche Natur ausgerüstet hat, welche herrlichen Empfindungen und Gefühle in uns entstehen können, schon außerhalb der Gnade, in einer von sündiger Sinnlichkeit gefangen gehaltenen Seele, wie du es ja selbst erfahren durftest. Wie wunderbar, wie beseligend und voller Süße ist es aber, wenn der Herr uns Gnade gibt, die Gabe des ursprünglichen inneren Gebets in uns zu entdecken und unsere Seele von ihren Leidenschaften zu reinigen! Ein solcher Zustand ist unbeschreiblich, und die Offenbarung dieses Geheimnisses ist ein Vorgeschmack der himmlischen Seligkeit auf Erden. Es werden aber nur jene solcher Gnade als würdig erachtet, die in der Einfalt ihres liebenden Herzens den Herrn suchen.

Von nun an erlaube ich dir, Gebete zu verrichten so oft du willst und so häufig wie nur möglich; rufe den Namen Jesu Christi an, ohne die Gebete noch zu zählen, gib dich demütig dem Willen Gottes hin und erwarte von Ihm Hilfe; Er wird dich nicht verlassen und dich leiten."

Nachdem ich diese Belehrung entgegengenommen hatte, verbrachte ich den ganzen Sommer ununterbrochen im unablässig gesprochenen Jesusgebet und war sehr ruhig. Sehr oft träumte mir, dass ich betete, und wenn ich tagsüber zufällig jemanden traf, erschienen mir alle Menschen ohne Ausnahme so lieb und nah, als wären sie meine Verwandten, obgleich ich mich gar nicht mit ihnen beschäftigte. Meine Gedanken beruhigten sich von selber; ich dachte nur noch an das Gebet, dem auch mein Verstand sich zuzuwenden begann, während ich im Herzen von Zeit zu Zeit ein Gefühl der Wärme und Seligkeit verspürte. Wenn ich jeweilen zur Kirche ging, so erschien mir der lange Klostergottesdienst kurz und ermüdete mich nicht wie früher. Meine einsame Hütte auf dem Feld aber hatte sich für mich in einen herrlichen Palast verwandelt, und ich wusste nicht, wie ich Gott danken sollte, dass Er mir, dem verruchten Sünder, einen Lehrmeister und Retter wie den Starez gesandt hatte.

Allein es war mir nicht lange vergönnt, aus den Lehren meines geliebten unld gottweisen Starez Nutzen zu ziehen: gegen Ende des Sommers starb er. Unter Tränen nahm ich Abschied von ihm, und nachdem ich ihm für seine väterliche Unterweisung gedankt hatte, erbat ich mir zum gesegneten Andenken an ihn seine Gebetsschnur, die er stets beim Beten gebraucht hatte. Da war ich nun allein. Schließlich ging auch der Sommer zur Neige, und nach der Ernte stand der Gemüseacker leer. Ich hatte keine Wohnung mehr. Der Bauer entließ mich, gab mir für meine Wächterdienste zwei Rubel (russische Geldwährung) und füllte mir auf den Weg den Beutel mit Brot. Und so begann ich denn wieder von Ort zu Ort zu ziehen; aber ich war nicht mehr wie früher von meiner Not geplagt: das Anrufen des Namens Jesu Christi gereichte mir zur Freude auf meiner Wanderschaft, und alle Menschen waren jetzt gütiger zu mir; es schien, als hätten mich alle liebgewonnen.

Eines Tages begann ich, darüber nachzudenken, was ich wohl mit dem Geld, das ich für meine Wächterdienste erhalten hatte, machen sollte. Wohin damit? Halt, dachte ich, der Starez ist nicht mehr am Leben, also ist niemand da, der mich unterweisen könnte; ich will mir die "Tugendliebe" kaufen und will das Geistige Gebet daraus vollends erlernen. Ich bekreuzigte mich und schritt betend meines Weges dahin. Da kam ich in eine Gouvernementsstadt und fing an, in verschiedenen Läden nach der "Tugendliebe" zu suchen; ich fand sie auch in einem Geschäft, doch verlangte man drei Rubel für das Buch, während ich nur zwei besaß. Ich versuchte zu handeln, aber der Kaufmann wollte mir das Buch nicht billiger geben. Schließlich sagte er: "Geh doch in die Kirche dort drüben und frag nach dem Kirchenältesten; er besitzt ein altes Exemplar der, Tugendliebe' ; es ist möglich, dass er es dir für zwei Rubel abgibt."

Ich ging hin und erwarb die "Tugendliebe" - ein ganz altes Exemplar - tatsächlich für zwei Rubel; darüber war ich hocherfreut. Ich flickte es zusammen, nähte es in einen Lappen und legte es in meinen Beutel, neben die Bibel.

Und so wandere ich nun dahin und bete unablässig das Jesusgebet, welches mir kostbarer und süßer erscheint als alles in der Welt. Manchmal lege ich an einem Tag an die siebzig Werst zurück, mitunter sogar noch mehr, und dabei spüre ich gar nicht, dass ich gehe, ich fühle bloß, dass ich bete. Fährt eisige Kälte mir durch die Glieder, dann fange ich an, noch eifriger zu beten, und alsbald ist mir wieder ganz warm. Quält mich der Hunger, so rufe ich den Namen Christi noch häufiger an und vergesse, dass ich essen wollte. Werde ich krank, oder fühle ich ein Reißen im Rücken und in den Beinen, so horche ich auf das Gebet hin und spüre den Schmerz nicht mehr. Wenn mich jemand beleidigt, dann brauche ich mich nur daran zu erinnern, wie lieblich-süß das Jesusgebet ist, und schon sind Kränkung und Zorn verschwunden, und ich habe alles vergessen. Ich bin im Geist seltsam einfältig geworden: ich kenne keine Sorgen mehr; es gibt nichts, das mich fesselt, kein eitel Ding hält meinen Blick gefangen, meine verlangende Seele lechzt nur nach Einsamkeit; und aus der ständigen Gewohnheit heraus drängt es mich nur nach dem einen: ohne Unterlass das Jesusgebet zu verrichten; und immer, wenn ich es bete, werde ich froh. Gott weiß, was mit mir vorgeht. Selbstverständlich sind das alles nichts als Gefühlseindrücke oder, wie der verstorbene Starez sagte, eine natürliche Folge der erworbenen Gewohnheit des Betens; und doch wage ich angesichts meiner Unwürdigkeit und Torheit, noch nicht, mich vollständig der Erlernung und Aneignung des innern geistigen Gebets hinzugeben. Ich harre der Stunde des göttlichen Willens und hoffe auf die Fürbitte meines verstorbenen Starez. So habe ich denn, obgleich mir das unablässige, selbsttätige innere Gebet des Herzens noch nicht erschlossen ward, doch klar verstanden, was das Wort des Apostels, das ich damals hörte, bedeutet:

Betet ohne Unterlass.

ZWEITE ERZÄHLUNG: Bewährung des Pilgers

Lange pilgerte ich von Ort zu Ort durch verschiedene Gegenden, und das Jesusgebet begleitete mich auf meiner Wanderung. Es sprach mir Mut zu und tröstete mich auf allen meinen Wegen, bei allen Begegnungen und in jeder Lebenslage. Schließlich fühlte ich aber doch, dass es wohl besser wäre, wenn ich mich an einem bestimmten Ort niederließe, um mich ganz der Einsamkeit hinzugeben, und auch, um die "Tugendliebe" zu studieren. Zwar hatte ich darin immer wieder ein wenig gelesen, so des Nachts, wenn ich mein Lager aufsuchte, oder am Tag, wenn ich Rast hielt; indessen verspürte ich ein brennendes Verlangen, mich ständig in das Buch zu vertiefen und daraus gläubig die wahre Unterweisung zum Heil meiner Seele durch das Herzensgebet zu schöpfen. Da ich mich jedoch nirgends zu schwerer körperlicher Arbeit verdingen konnte, weil ich von Kind auf außerstande war, den linken Arm zu gebrauchen, sah ich keine Möglichkeit, feste Arbeit und Unterkunft zu finden, um diesen Wunsch zu verwirklichen. Deshalb begab ich mich in die sibirischen Länder, zum heiligen Innozenz von Irkutsk (1682-1731), in der Meinung, ich würde stiller und ungestörter durch die sibirischen Wälder und Steppen wandern und daher auch bequemer mich dem Gebet und dem Lesen der "Tugendliebe" hingeben können. So zog ich denn meines Weges und verrichtete ohne Unterlass das mündliche Gebet.

Nach nicht gar zu langer Zeit fühlte ich endlich, wie das Gebet mir ganz von selbst sozusagen ins Herz überzugehen begann, das heißt, das Herz fing bei seiner natürlichen regelmäßigen Bewegung an, gleichsam innerlich bei jedem Schlag die Gebetsworte auszusprechen, zum Beispiel: eins - Herr, zwei - Jesus, drei - Christus, und so fort. Nun hörte ich auf, das Gebet mit den Lippen zu sprechen, und horchte aufmerksam hin, wie das Herz es sprach, wobei ich mich erinnerte, wie angenehm, nach den Worten meines verstorbenen Starez, solches sei. Hierauf empfand ich einen feinen Schmerz im Herzen, im Geist aber eine so innige Liebe zu Jesus Christus, dass mir schien, ich wäre Ihm, hätte ich Ihn gesehen, zu Füßen gefallen, hätte sie mit meinen Armen umschlungen und sie nicht wieder losgelassen, und hätte Ihm gedankt für den großen Trost, den Er mir, seinem unwürdigen, sündigen Geschöpf, mit Seinem Namen und in Seiner Gnade und Liebe gewährte.

Allmählich verspürte ich sodann eine seltsam wohltuende Erwärmung im Herzen, und diese Wärme breitete sich über die ganze Brust aus und trieb mich besonders dazu an, die "Tugendliebe" mit noch größerem Eifer zu lesen, um darin meine Empfindungen nachzuprüfen, aber auch um zu lernen, wie ich mich weiter im innern Gebet des Herzens üben sollte, denn ich fürchtete, ich könnte ohne diese Nachprüfung der Täuschung verfallen, die natürlichen Wirkungen für Gnadenwirkungen zu halten und über das rasche Erfassen des Gebets hochmütig zu werden, wovor mein verstorbener Starez mich gewarnt hatte. Darum fing ich an, meistens in der Nacht zu wandern, während ich die Tage vor allem damit zubrachte, im Wald, unter einem Baum sitzend, die "Tugendliebe" zu lesen. Ach, wie viel Neues, wie viel Weises und bisher Unbekanntes offenbarte mir dieses Lesen! Und während ich mich darin übte, schmeckte ich eine solche Süßigkeit, wie ich sie mir bis dahin überhaupt nicht hatte vorstellen können. Natürlich gab es gewisse Stellen, die meinem begrenzten Verstand beim Lesen verschlossen blieben, allein die Folgen des Herzensgebets machten mir auch das klar, was ich nicht verstanden hatte; zudem erschien mir zuweilen mein verstorbener Starez im Traum, deutete vieles und machte vor allem meine unverständige Seele der Demut geneigt. In solcher Seligkeit verbrachte ich über zwei Sommermonate. Ich wanderte meistens durch Wälder und auf einsamen Landwegen ; kam ich in ein Dorf, so erbat ich mir etwas trockenes Brot und eine Handvoll Salz, füllte meine Feldflasche mit Wasser und zog dann wieder weiter, um die nächsten hundert Werst zurückzulegen.

Mochte es nun wegen der Sünden meiner verruchten Seele geschehen, oder weil das geistige Leben solches erfordert, oder auch zu meiner bessern Unterweisung und Erfahrung - jedenfalls traten gegen Ende des Sommers Versuchungen an mich heran. Sie erschienen auf folgende Weise: Eines Abends, als ich aus dem Wald auf die Landstraße hinaustrat, holten mich in der Dämmerung zwei Männer ein, die, nach dem geschorenen Kopf zu urteilen, Soldaten waren, und verlangten von mir Geld. Als ich ihnen erwiderte, ich besäße nicht eine einzige Kopeke, glaubten sie mir nicht, sondern schrien frech:

"Du lügst! Pilger sammeln immer viel Geld !" Und einer von den beiden fügte hinzu: "Was sollen wir noch lange mit ihm reden !", worauf er mir mit seinem Knüppel einen so heftigen Schlag versetzte, dass ich bewusstlos niedersank.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dagelegen habe; als ich wieder zur Besinnung kam, bemerkte ich, dass ich ganz zerschunden im Wald lag, in der Nähe der Landstraße, und dass mein Beutel verschwunden war; bloß die durchschnittenen Riemen, an denen er befestigt gewesen, waren noch zurückgeblieben. Zum Glück hatten sie mir den Pass nicht genommen; er steckte in meiner alten Mütze, damit ich ihn gleich vorweisen könnte, wenn er verlangt würde. Nachdem ich mich aufgerichtet hatte, brach ich in bittere Tränen aus, nicht so sehr, weil mir der Kopf weh tat, als vielmehr, weil ich mich meiner Bücher beraubt sah: der Bibel und der "Tugendliebe", die in dem entwendeten Beutel gewesen waren. Über diesen Verlust weinte und trauerte ich Tag und Nacht. Wo mochte wohl meine Bibel, die ich von klein auf gelesen und stets bei mir getragen hatte, nun sein? Wo meine "Tugendliebe", aus der ich Belehrung und Trost schöpfte? Den kostbarsten, einzigen Schatz meines Lebens hatte ich Unglückseliger verloren, noch ehe ich mich an ihm hatte sättigen können! Hätten mich doch die Räuber lieber gleich totgeschlagen, als mich nun so, ohne diese geistige Nahrung, weiterleben zu lassen! Jetzt würde ich mir die Bücher nicht wieder erwerben können!

Ungefähr zwei Tage lang vermochte ich die Beine kaum vorwärts zu bewegen, dermaßen betrübt und niedergeschlagen war ich; am dritten Tag aber verließen mich die Kräfte vollends, ich brach unter einem Busch zusammen und schlief ein. Da träumte mir, ich wäre in der Einsiedelei, in der Zelle meines Starez, und klagte ihm mein Leid. Er tröstete mich und sprach zu mir also:

"Dies soll dir gewiss eine Lehre sein, dich den irdischen Dingen gegenüber gleichgültig zu verhalten, um desto ungehinderter den Weg zum Himmel fortzusetzen. Diese Prüfung wurde dir geschickt, damit du nicht in geistige Wollust verfällst. Gott will, dass der Christ dem eigenen Willen, seinen Wünschen und Bindungen entsage und sich ganz dem göttlichen Willen schenke; Er führt ja alle Dinge im Leben zum Nutzen des Menschen und zu seiner Errettung. Gott will, dass alle Menschen gerettet werden (1 Tim 2, 4). Darum fasse Mut und glaube: Gott schafft mit der Versuchung auch den guten Ausgang (1 Kor 10,13). In kurzem wirst du einen viel größeren Trost empfangen als das Leid, das dir geschehen."

Bei diesen Worten erwachte ich und fühlte, wie meine Kräfte erstarkten, und wie sich gleichsam Morgenröte und sanfte Ruhe auf meine Seele senkten. Gottes Wille geschehe! sagte ich, bekreuzigte mich und setzte meinen Weg fort. Wie zuvor begann nun aufs neue das Gebet in meinem Herzen zu wirken, und ich wanderte wohl drei 'tage lang in ruhiger Gelassenheit dahin.

Da stieß ich eines Tages unterwegs plötzlich auf eine Sträflingskolonne, die von der Wache eskortiert wurde. Als ich mich dem Zug näherte, erblickte ich die beiden Männer, die mich beraubt hatten; da sie am Rande der Kolonne marschierten, fiel ich vor sie nieder und bat sie flehentlich, mir zu sagen, wo meine Bücher hingekommen seien. Anfangs beachteten sie mich gar nicht, dann aber sagte einer von ihnen:

"Wenn du uns etwas gibst, wollen wir dir sagen, wo deine Bücher sind. Gib uns einen Rubel !"

Ich schwor bei Gott, dass ich ihnen das Geld geben würde, bestimmt würde ich es ihnen geben, selbst wenn ich es mir um Christi willen zusammenbetteln sollte. "Nehmt, wenn ihr wollt, einstweilen meinen Pass hier als Pfand!"

Da sagten sie, meine Bücher würden im Tross mitgeführt, mitsamt den andern gestohlenen Sachen, die man ihnen abgenommen hatte.

"Aber wie bekomme ich sie wieder?" "Bitte den Hauptmann, der uns begleitet."

Ich stürzte mich sofort zu dem Hauptmann und berichtete ihm alles ausführlich. Während des Gesprächs fragte er mich unter anderem, ob ich denn die Bibel wirklich lesen könne.

"Ich kann nicht nur alles lesen", erwiderte ich, "sondern auch schreiben; Ihr werdet in der Bibel eine Inschrift finden, die zeigt, dass sie mir gehört; und hier, in meinem Pass, steht ja auch mein Name und Stand vermerkt."

Darauf sagte der Hauptmann:

"Diese Schurken sind Deserteure, sie haben in einer Erdhütte gehaust und viele Leute beraubt. Ein gewandter Kutscher, dem sie gerade die Troika wegführen wollten, hat sie gestern erwischt. Meinetwegen sollst du deine Bücher wieder haben, wenn sie sich hier finden, doch musst du uns bis zum nächsten Nachtquartier begleiten; es ist nicht mehr weit, ungefähr noch vier Werst von hier. Ich kann nicht deinetwegen den ganzen Gefangenenzug anhalten lassen."

Voller Freude schritt ich neben dem Reitpferd des Hauptmanns einher, und wir kamen allmählich ins Gespräch. Ich sah, dass er ein guter und ehrlicher Mann war, nicht mehr sehr jung an Jahren. Er fragte mich, wer ich sei, woher ich käme und wohin ich wanderte. Auf alle seine Fragen gab ich ihm der Wahrheit gemäß Antwort; so langten wir schließlich bei der Etappenhütte an, wo die Gefangenen die Nacht verbringen sollten. Er suchte meine Bücher heraus und übergab sie mir, wobei er sagte: "Wohin willst du denn jetzt in der Nacht gehen? Bleib hier und übernachte bei mir im Hausflur."

So blieb ich denn. Als ich die Bücher zurückerhalten hatte, war ich dermaßen glücklich, dass ich nicht wusste, wie ich Gott danken sollte; ich drückte sie an meine Brust und hielt sie lange fest, bis mir die Hände ganz steif wurden. Tränen der Freude entströmten meinen Augen, und mein Herz schlug in süßem Entzücken.

Der Hauptmann schaute mich an und sagte: "Man sieht, dass du die Bibel gerne liest."

In meinem Glück konnte ich ihm darauf gar nichts erwidern, ich weinte bloß. Da fuhr er fort:

"Ich selber, Bruder, lese das Evangelium regelmäßig jeden Tag." Dabei knüpfte er seinen Waffenrock auf, zog ein kleines Evangelienbuch hervor, das in Kijew gedruckt war und in einem silberbeschlagenen Einband steckte.

"Setz dich hierher, ich will dir erzählen, wie ich dazu gekommen bin. - Heda! Tragt mal das Abendessen auf!"

Wir setzten uns an den Tisch, und der Hauptmann begann zu erzählen:

"Schon seit meiner Jugend habe ich in der Armee gedient und lag nie in Garnison. Meinen Dienst kannte ich ausgezeichnet, weshalb mich meine Vorgesetzten schätzten und für einen tüchtigen Fähnrich hielten. Ich war aber noch jung an Jahren, ebenso meine Kameraden, und so gewöhnte ich mir zu meinem Unglück das Trinken an und verfiel diesem Laster schließlich so sehr, dass ich krank davon wurde. Trank ich nicht, dann war ich ein mustergültiger Offizier, kaum fing ich aber wieder an, so musste ich oft sechs Wochen im Bett liegen. Lange Zeit hatte man Geduld mit mir, doch endlich wurde ich wegen einer Grobheit, die ich in betrunkenem Zustand meinem Vorgesetzten gegenüber geäußert hatte, degradiert und für drei Jahre in Garnison unter die gemeinen Soldaten gesteckt. Man drohte mir sogar mit noch strengeren Strafen, falls ich mich nicht bessern und das Trinken lassen würde. Allein mein Zustand war so unselig, dass ich, wie sehr ich mich auch bemühen mochte, enthaltsam zu sein und mich von meinem Laster zu befreien, das Trinken nicht aufgeben konnte; und so wurde denn beschlossen, mich in ein Strafbataillon zu versetzen. Als ich dies vernahm, wusste ich nicht, was mit mir anfangen.

Eines Tages saß ich ganz in Gedanken versunken in der Kaserne, als plötzlich ein Mönch mit einem Sammelbuch eintrat; er zog im Land herum und sammelte Gaben zum Bau einer Kirche. Jeder gab, was er konnte. Da trat er auch zu mir heran und fragte:

,Warum bist du so betrübt?'

Wir kamen ins Gespräch, und ich erzählte ihm von meinem Unglück.

,Genau so ist es meinem leiblichen Bruder ergangen', sagte er: ,geholfen hat ihm aber folgendes: sein geistlicher Vater gab ihm ein Evangelium und befahl ihm eindringlich, jedes Mal, wenn ihn das Verlangen zu trinken überkomme, gleich ein Kapitel daraus zu lesen. Mein Bruder tat, wie ihm befohlen, und in kürzester Zeit war er von der Trunksucht geheilt. Nun sind es schon fünfzehn Jahre, dass er keinen Tropfen Alkohol mehr in den Mund nimmt. Handle auch du darnach und du wirst bald erfahren, wie sehr es nützt. Ich besitze ein Evangelium; wenn du willst, werde ich es dir bringen.'

Als ich dies hörte, sagte ich ihm:

,Was kann mir dein Evangelium helfen, da mich weder meine eigenen Bemühungen noch irgendwelche Arzneimittel vom Trunke abhalten konnten?' Solches sagte ich aber, weil ich bis anhin das Evangelium noch nie gelesen hatte.

,Sprich nicht so', erwiderte der Mönch, ,ich versichere dir, es wird dir helfen.'

Am folgenden Tag brachte mir der Mönch wirklich das versprochene Evangelium - es ist dieses Buch hier.

Ich schlug es auf, warf einen flüchtigen Blick hinein, überflog einige Zeilen und sagte:

,Ich will's nicht haben, man versteht ja überhaupt nicht, was da steht; überdies bin ich nicht gewöhnt, Kirchenschrift (das Alt-Bulgarische) zu lesen.'

Doch der Mönch fuhr fort, mir zu erklären, dass den Worten des Evangeliums eine heiligende Kraft innewohne, denn hier stehe geschrieben, was Gott selbst gesagt habe.

,Es tut nichts, wenn du es nicht verstehst, lies nur fleißig darin! Ein Heiliger hat gesagt: Wenn du das Wort Gottes auch nicht verstehst, so verstehen die Teufel, was du liest, und erzittern davor (vgl. Jak 2,19); und das ist ja ganz gewiss, dass das Laster der Trunksucht von den Teufeln herrührt. Ich will dir sogleich noch mehr sagen: Johannes Chrysostomus hat geschrieben, selbst der Schrein, darin das Evangelium verwahrt wird, mache die Geister der Finsternis erzittern und bilde ein Hindernis für ihre bösen Ränke.'

Ich erinnere mich heute nicht mehr an alles, was damals geschah - ich glaube, ich gab ihm zuletzt etwas Geld und nahm dafür dieses Evangelienbuch hier von ihm in Empfang; ich steckte es in meinen Koffer zu den andern Sachen und vergaß es dann vollständig. Nach einiger Zeit überkam mich aber wieder einmal die Lust zum Trinken; ich verspürte ein so unbändiges Verlangen nach Branntwein, dass ich eiligst den Koffer aufschloss, um mir Geld herauszuholen und in die Schenke zu laufen. Da fiel mein Blick auf das Evangelium, und plötzlich erinnerte ich mich lebhaft wieder an alles, was der Mönch gesagt hatte.

Ich schlug das Buch auf und begann das erste Kapitel im Matthäus-Evamgelium zu lesen. Als ich es zu Ende gelesen hatte, war es wirklich so: ich hatte nichts verstanden; indessen erinnerte ich mich der Worte des Mönchs: ,Es tut nichts, wenn du es nicht verstehst, lies nur fleißig darin.' Halt! dachte ich, ich will es einmal mit dem zweiten Kapitel versuchen! Ich las es, und siehe da, es war mir schon verständlicher. Nun lese ich noch das dritte Kapitel, dachte ich; doch kaum hatte ich es begonnen, als die Kasernenglocke ertönte, das Zeichen zum Schlafengehen; es gab für mich somit keine Möglichkeit mehr, die Kaserne zu verlassen, und so blieb ich denn.

Nachdem ich am Morgen aufgestanden war und mich bereitgemacht hatte hinauszugehen, um Schnaps zu holen, sagte ich mir: ich möchte doch noch ein Kapitel aus dem Evangelium lesen, wir wollen sehen, was geschieht. Also las ich es - und ging nicht aus. Wiederum überkam mich die Lust zu trinken, und abermals begann ich zu lesen, und mir wurde leicht ums Herz. Solches ermutigte mich, so dass ich nun bei jeder neuen Versuchung ein Kapitel zu lesen pflegte. Je länger ich mich darin übte, um so leichter wurde es mir, und als ich endlich alle vier Evangelisten zu Ende gelesen hatte, war mein Laster vollständig von mir gewichen; ich empfand nur noch Ekel vor dem Trinken. Und nun sind es genau zwanzig Jahre, seit ich überhaupt keine berauschenden Getränke mehr zu mir nehme.

Alle staunten über die Wandlung, die in mir vorgegangen war. Nach Ablauf von drei Jahren wurde ich wieder zum Offizier befördert, stieg allmählich im Rang und wurde schließlich zum Kommandanten ernannt. Ich habe eine brave Frau geheiratet; wir haben uns ein kleines Vermögen erworben, und so leben wir jetzt, gottlob, ganz schön und sind darauf bedacht, den Armen nach unsern Kräften zu helfen, oder Pilger bei uns aufzunehmen. Ich habe einen Sohn, der schon Offizier ist; er ist ein braver Junge.

Höre nun aber, was ich dir noch sage: als ich von der Trunksucht geheilt war, tat ich das Gelübde, mein Leben lang jeden Tag das Evangelium zu lesen, und zwar täglich einen Evangelisten, unbekümmert um das, was geschehen möge, und dieses habe ich auch bis heute gehalten. Ist der Dienst sehr streng, und bin ich abends sehr müde, dann lege ich mich hin und lasse meine Frau oder den Sohn mir vorlesen; auf solche Weise erfülle ich meine Regel unverbrüchlich. Aus Dankbarkeit und zum Lob Gottes habe ich mir dieses Evangelienbuch in reines Silber fassen lassen und trage es immer auf der Brust bei mir."

Nachdem ich dieser Erzählung des Hauptmanns mit größter Freude zugehört hatte, sagte ich zu ihm:

"Ich kenne einen ähnlichen Fall aus unserem Dorf: da war in der Fabrik ein Werkmeister, ein in seinem Handwerk sehr geschickter und kunstfertiger Mann, dazu ein lieber Mensch; unglücklicherweise trank er aber, und zwar nicht selten. Da gab ihm ein gottesfürchtiger Mann den Rat, jedes Mal, wenn ihn diese Leidenschaft überkomme, dreiunddreißig Jesusgebete zu sprechen, zu Ehren der Heiligen Dreifaltigkeit und zur Erinnerung an das dreiunddreißigjährige Erdenleben des Heilands. Der Meister gehorchte und begann zu beten, und in Kürze konnte er das Trinken lassen. Das ist aber noch nicht alles: nach drei Jahren trat er sogar ins Kloster ein."

"Und was steht wohl höher", fragte der Hauptmann, "das Jesusgebet oder das Evangelium?"

"Beide - das Evangelium und das Jesusgebet - sind ein und dasselbe", antwortete ich, "denn der göttliche Name Jesu Christi schließt alle evangelischen Wahrheiten in sich ein. Die heiligen Väter sagen, es sei eine Zusammenfassung des ganzen Evangeliums."

Am Schluss beteten wir noch gemeinsam, worauf der Hauptmann das Markusevangelium vorlas, während ich ihm zuhörte und im Herzen mein Gebet verrichtete. Als er es zu Ende gelesen hatte, war es bereits gegen zwei Stunden nach Mitternacht; so trennten wir uns denn und gingen schlafen.

Am nächsten Morgen stand ich meiner Gewohnheit gemäß früh auf; alle schliefen noch. Kaum begann der Tag zu dämmern, da griff ich begierig nach meiner geliebten "Tugendliebe". Mit welcher Freude schlug ich das Buch auf! Mir war, als feierte ich Wiedersehen mit meinem leiblichen Vater, der von einer langen Reise in ferne Länder zurückgekehrt sei, oder mit einem von den Toten auferstandenen Freunde. Ich küsste das Buch und dankte Gott, dass er es mir wiedergeschenkt hatte. Alsdann begann ich im Theoliptus von Philadelphia (lebte gegen Ende des 13. Jahrhundert; Verfasser aszetischer Schriften) zu lesen, im zweiten Teil der "Tugendliebe". Zuerst war ich sehr erstaunt über seine Unterweisung, in der er empfiehlt, sich drei verschiedenen Dingen zu gleicher Zeit hinzugeben: "Sitzest du bei Tisch", sagt er, "dann gib dem Leib Nahrung, dem Verstand Lesung und dem Herzen Gebet." Aber die Erinnerung an den verflossenen Abend, der so glücksbringend gewesen war, machte mir diesen Gedanken aus der Erfahrung heraus völlig verständlich. Und hier enthüllte sich mir das Geheimnis, dass Herz und Verstand nicht ein und dasselbe sind.

Als der Hauptmann aufgestanden war, trat ich hinaus, um ihm für seine Güte zu danken und mich von ihm zu verabschieden. Er bewirtete mich mit Tee, gab mir einen Rubel und wir trennten uns. Beglückt nahm ich meine Pilgerschaft wieder auf.

Schon hatte ich nahezu eine Werst zurückgelegt, da fiel mir ein, dass ich den Soldaten einen Rubel versprochen hatte, und nun fand sich einer auf so unerwartete Weise in meinem Besitz. Sollte ich ihnen das Geldstück geben oder nicht? Eine Stimme sagte mir: Sie haben dich geschlagen und beraubt, und zudem können sie das Geld nicht zu ihrem Nutzen verwenden, da sie bewacht werden. Eine andere Stimme aber sprach das Gegenteil: Denke an das, was in der Bibel steht - Wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen (Röm 12, 20). Ja, und sagte nicht Jesus Christus auch: "Liebt eure Feinde" (Mt 5, 44), und ferner: Will jemand mit dir rechten und deinen Rock nehmen, so lass ihm auch den Mantel (Mt 5, 40). Durch diese Worte ließ ich mich überzeugen, kehrte zur Hütte zurück und erreichte sie gerade, als die Sträflinge herausgeführt wurden, um zur nächsten Etappe getrieben zu werden. Ich lief schnell zu den Missetätern, steckte ihnen den Rubel zu und sagte:

"Bereut und betet! Jesus Christus ist der Freund der Menschen, Er wird euch nicht verlassen."

Mit diesen Worten entfernte ich mich und ging in entgegengesetzter Richtung meines Weges.

Nachdem ich etwa fünfzig Werst auf der Landstraße gewandert war, kam mir der Gedanke, wieder in einen einsamen Feldweg einzubiegen, um mich inniger der Stille und dem Lesen hinzugeben. So zog ich denn lange durch einsame Wälder, wo mir nur selten kleine Weiler und Dörfer begegneten. Zuweilen verbrachte ich den ganzen Tag im Wald, saß dort und las eifrig in der "Tugendliebell, aus der ich so wunderbares, reiches Wissen schöpfte. Mein Herz war ganz davon entbrannt, mich durch das innere Gebet mit Gott zu vereinigen, und ich mühte mich, es zu erlernen, indem ich mich von der "Tugendliebe" leiten ließ und mich darnach prüfte. Gleichzeitig war ich aber betrübt darüber, dass ich noch keine bleibende Stätte gefunden hatte, wo ich mich in aller Ruhe und ohne jede Störung dem Lesen hätte hingeben können.

In jener Zeit las ich auch viel in meiner Bibel und fühlte, wie sie mir allmählich immer klarer wurde; es war nicht mehr wie früher, da mir sehr viele Stellen unverständlich geblieben waren und mich des öfteren verwirrt hatten. Die heiligen Väter haben schon recht, wenn sie sagen, die "Tugendliebe" sei der Schlüssel, der die verborgenen Geheimnisse der Heiligen Schrift erschließe. Unter dieser Anleitung begann ich jetzt auch den innern Sinn des Wortes Gottes wenigstens teilweise zu erfassen. Es wurde mir offenbar, was das ist: ein innerer Mensch, der im Herzen verborgen ist (vgl. 1 Petr 3, 4), das wahre Gebet, das Anbeten im Geist(vgl. Joh 4, 23), das Reich Gottes in uns (Lk 17, 21), die unaussprechliche Fürbitte des mit uns seufzenden Heiligen Geistes (vgl. Röm 8, 26); ich begriff auch, was dies heißt: Bleibet in mir (Joh 15, 4) gib mir dein Herz (Spr 23, 26), Christus anziehen (Röm 13,14 und Gal 3, 27), was das Verlöbnis des Geistes in unserem Herzen bedeutet (Offb 22,17), was der Herzensruf: Abba! Vater! (Röm 8,15-16) und noch vieles andere. Und wenn ich dabei mit dem Herzen zu beten begann, dann zeigte sich mir alles, was mich umgab, in entzückender Gestalt: die Bäume, die Gräser, die Vögel, die Erde, die Luft, das Licht - alles schien mir gleichsam zu sagen, dass es für den Menschen da sei, als Zeichen der Liebe Gottes zum Menschen; alles betete ihn an, alles war voller Lobpreisungen Gottes. Und da erfaßte ich, was in der "Tugendliebe" mit dem Wort "die Sprache der Kreatur verstehen" gemeint ist, und mir wurde klar, wie es möglich ist, Zwiesprache zu halten mit den Geschöpfen Gottes.

In solcher Stimmung pilgerte ich lange Zeit dahin. Schließlich gelangte ich in eine so verlorene Gegend, dass ich auf meinem Wege wohl drei Tage lang keinem einzigen Dorf begegnete. Das Brot in meinem Beutel war aufgezehrt, und mir wurde schon bange, ich müsste am Ende Hungers sterben. Allein sobald ich mit dem Herzen zu beten begann, schwand all mein Kummer; ich gab mich ganz dem Willen Gottes hin und wurde wieder froh und ruhig. Nachdem ich also noch eine Weile weitergegangen war, auf einem Weg, der sich am Rande eines riesigen Waldes dahinzog, erblickte ich vor mir einen Hofhund, der aus dem Wald gesprungen kam. Ich lockte ihn zu mir heran, und er lief gleich herbei und schmiegte sich an mich. Da wurde ich wieder froh und dachte: das ist Gottes Güte und Barmherzigkeit! Gewiss weidet eine Herde in diesem Wald, und der zahme Hund gehört wahrscheinlich dem Hirten, oder auch einem Jäger, der sich auf der Jagd befindet; wie dem auch sei, auf alle Fälle werde ich mir hier etwas Brot erbitten oder mich wenigstens erkundigen können, ob wohl ein Dorf in der Nähe liege. Nachdem der Hund mich von allen Seiten umsprungen und vielleicht gemerkt hatte, dass es bei mir nichts zu holen gab, lief er auf demselben schmalen Pfad, der von der Landstraße abzweigte, wieder in den Wald zurück. Ich folgte ihm, und nach etwa fünfhundert Schritten sah ich zwischen den Bäumen hindurch, wie der Hund in einem Erdloch verschwand, alsbald aber wieder daraus hervorguckte und zu bellen begann.

Hinter einem dicken Baumstamm trat nun ein Bauer in mittleren Jahren hervor, der sehr elend und blass aussah. Er fragte mich, wie ich hierher gekommen sei, ich dagegen fragte ihn, weshalb er sich hier aufhalte, und wir wechselten einige freundliche Worte. Der Bauer lud mich in seine Erdhütte ein und erzählte mir, dass er Waldhüter sei und diesen Wald bewachen müsse, der verkauft sei und in kurzem abgeholzt werde. Er bot mir auch Brot und Salz an, und bald befanden wir uns in angeregter Unterhaltung.

"Ich beneide dich", sagte ich zu ihm, "dass du hier ein solch stilles Leben führen kannst, fernab von den Menschen, anders als ich, der ich von Ort zu Ort ziehe und mit allerhand Volk zusammenkomme."

"Wenn du Lust hast", erwiderte er, "dann kannst du meinetwegen auch in diesem Wald wohnen bleiben; nicht weit von hier steht eine alte Erdhütte, die dem früheren Wächter gehörte; sie ist zwar schon recht baufällig, aber im Sommer lässt es sich darin noch ganz gut wohnen. Einen Pass hast du ja. Brot aber werden wir für uns beide genug haben; es wird mir jede Woche aus dem Dorf gebracht; ganz in der Nähe fließt auch ein Bächlein, das nie versiegt. Ich selber, Bruder, nähre mich schon zehn Jahre lang nur von Brot und Wasser und nehme nichts anderes zu mir. Eines bloß ist schlimm: im Herbst, wenn die Bauern ihre Ernte eingebracht haben, werden etwa zweihundert Holzfäller in diesen Wald kommen, um ihn abzuschlagen. Dann habe ich hier natürlich nichts mehr zu tun, und auch dich wird man nicht länger da leben lassen."

Als ich dies alles hörte, war ich von einer so großen Freude erfüllt, dass ich ihm am liebsten zu Füßen gefallen wäre. Ich wusste nicht, wie ich Gott für die Gnade danken sollte, die Er mir erwiesen. All das, was ich mir gewünscht, wonach ich mich so schmerzlich gesehnt hatte, war mir nun unverhofft zugefallen. Bis zum Spätherbst blieben noch reichlich vier Monate, und so würde ich mich denn in dieser Zeit dem Schweigen und der ersehnten Ruhe hingeben können, die für das aufmerksame Lesen in der "Tugendliebe" und zur Erlernung und Aneignung des unablässigen Gebets im Herzen notwendig sind. Also blieb ich einstweilen beglückt in der mir zugewiesenen Erdhütte. Ich kam mit diesem schlichten Bruder, der mich so liebevoll aufgenommen hatte, immer tiefer ins Gespräch, und er erzählte mir sein Leben und seine Gedanken.

"In unserm Dorf", sagte er, "war ich nicht gerade der Letzte; ich hatte ein Handwerk, ich färbte Baumwollstoffe und Leinen rot und blau und hatte mein gutes Auskommen, wenn es auch nicht immer ohne Sünde abging, denn ich betrog oft meine Kundschaft, missbrauchte den Namen Gottes, schimpfte unflätig und war ein Trinker und Raufbold.

Wir hatten im Dorf einen bejahrten Küster; der besaß ein uraltes Buch über das Jüngste Gericht. Sehr oft suchte er die Rechtgläubigen auf und las ihnen aus dem Buch vor, sie aber schenkten ihm dafür etwas Geld; er kam auch häufig zu mir. Gab man ihm zehn Kopeken, dann las er die ganze Nacht vor bis zum ersten Hahnenschrei. So kam es, dass ich ihm, während ich bei der Arbeit saß, öfters zuhörte; er pflegte von den Qualen zu lesen, die uns in der Hölle bevorstehen, davon, wie die Lebenden verwandelt werden und die Toten auferstehen, wie Gott selbst herabsteigt und Gericht hält, wie die Engel in die Posaune stoßen, und wie Feuer, siedendes Pech und Gewürm die Sünder vertilgen. Als ich eines Tages wieder einmal seinen Worten lauschte, überkam mich eine große Furcht, und ich dachte: Auch ich werde diesen Qualen nicht entgehen! Aber halt! sagte ich mir, ich will mich aufraffen und meine Seele retten, vielleicht gelingt es mir, meine Sünden noch abzubüßen. Lange überlegte ich hin und her, gab dann schließlich mein Handwerk auf, verkaufte meine Hütte und zog, Junggeselle wie ich war, als Hüter in diesen Wald, nachdem die Bauern versprochen hatten, mir Brot und Kleider zu liefern, und Wachskerzen für meine Andacht.

Auf diese Weise lebe ich hier nun schon zehn Jahre, esse bloß einmal des Tages und nehme nur Brot und Wasser zu mir; des Nachts aber erhebe ich mich regelmäßig beim ersten Hahnenschrei und bete unter tiefen Verneigungen bis zur Dämmerung; wenn ich bete, zünde ich sieben Kerzen an und stelle sie vor die Heiligenbilder. Am Tag aber, wenn ich den Wald abschreite, trage ich zwei Pud (1 Pud = 16 kg) schwere Büßerketten um den nackten Leib. Ich gebrauche keine unflätigen Schimpfworte mehr, trinke weder Schnaps noch Bier und lasse mich auch in keine Rauferei mehr ein ; Frauen und Mädchen aber habe ich mein Lebtag nicht gekannt.

Anfangs hatte mir dieses Leben mehr behagt; doch jetzt - gegen das Ende - da bedrängen mich immerzu allerlei Gedanken, die sich nicht verscheuchen lassen. Gott weiß, ob ich wohl meine Sünden abzubüßen vermag; dabei ist das Leben, das ich führe, wirklich hart. Und dann denke ich auch, ob es wahr ist, was in jenem Buch geschrieben stand. Wie ist es denn möglich, dass ein Mensch auferstehe? So mancher ist schon vor hundert Jahren oder vor noch längerer Zeit gestorben, und nicht einmal Staub ist von ihm übrig geblieben. Und wer weiß, ob es eine Hölle gibt oder nicht? Es ist ja noch keiner aus jener Welt zurückgekommen; mich dünkt, sobald der Mensch stirbt und in Verwesung übergeht, ist er auch spurlos verschwunden. Am Ende haben die Popen und die Beamten jenes Buch selbst geschrieben, um uns Narren Angst einzujagen, damit wir in um so größerer Unterwürfigkeit leben. So fristet man sein Leben auf dieser Erde, kennt nichts als Müh und Qual und findet keinen Trost; und auch in jener Welt wird es nichts anderes geben. Also welchen Sinn hat denn dies alles? Wäre es da nicht besser, hier auf dieser Erde etwas bequemer und lustiger zu leben? Das sind die Gedanken", schloss er, "die mich unablässig bedrängen, und ich fürchte, ich werde schließlich wieder zu meinem alten Handwerk zurückkehren."

Als ich ihn also reden hörte, empfand ich Mitleid mit ihm und dachte bei mir: da sagt man, nur die gelehrten und verstandesklugen Menschen werden Freidenker und glauben an nichts; hier aber ist einer aus unseren Reihen, ein einfacher Bauer, und welch einen Unglauben hat der sich zusammen gedacht ! Es scheint doch, dass es dem Reich der Finsternis erlaubt ist, sich bei Allen Zutritt zu verschaffen; und vielleicht überfällt es den schlichten Mann noch ungestörter und müheloser. Man muss sich daher gegen den Feind der Seele mit dem Wort Gottes wappnen und darin stark werden.

Um diesem Bruder, so gut ich es vermochte, zu helfen und seinen Glauben zu stützen, holte ich aus meinem Beutel die "Tugendliebe" hervor, schlug das hundertundneunte Kapitel des hochseligen Hesychius (Hesychius von Jerusalem) auf, las es ihm vor und begann darauf zu erklären: es sei weder gut noch fruchtbar, der Sünde aus bloßer Furcht vor den ewigen Qualen zu entsagen, denn die Seele könne sich vor den Gedankensünden nicht anders bewahren als durch Wachsamkeit des Geistes und Reinheit des Herzens. Dieses alles lasse sich jedoch nur im innern Gebet erlangen. Und ich fügte hinzu: nicht nur die seelenrettenden Taten, die der Furcht vor Höllenqualen entspringen, sondern selbst jene, die dem Wunsch entstammen, das Himmelreich zu erwerben, nennen die heiligen Väter Mietlingswerk. Sie sagen, Furcht vor den ewigen Qualen führe auf den Weg der Knechte; das Himmelreich als Belohnung erlangen zu wollen, sei aber der Weg der Mietlinge. Gott will jedoch, dass wir als seine Söhne zu Ihm kommen, das heißt, dass wir uns aus Liebe und Eifer eines rechtschaffenen Lebenswandels befleißen und uns freuen sollen der erlösenden Vereinigung mit Ihm im Herzen und in der Seele.

"Du magst dich noch so sehr im Gebet erschöpfen, du magst die schwersten körperlichen Mühen und Opfer auf dich nehmen, wenn du Gott nicht im Geist trägst und das unablässige Jesusgebet im Herzen, so wirst du niemals Ruhe finden vor den feindlichen Gedanken und stets der Sünde zuneigen, selbst beim geringsten Anlass. Mach dich daher bereit, Bruder, ohne Unterlass das Jesusgebet zu sprechen - du kannst es hier in dieser Einsamkeit ja so bequem verrichten - und du wirst dich bald von seinem Nutzen überzeugen. Dann setzen dir auch die gottlosen Gedanken nicht mehr zu, und der Glaube, sowie die Liebe zu Jesus Christus werden sich dir erschließen. Du wirst erfahren, wie die Toten auferstehen, und das Jüngste Gericht erblicken, wie es in Wirklichkeit sein wird. Im Herzen aber wirst du durch das Gebet eine solche Leichtigkeit und Freude verspüren, dass du staunst, und wirst nicht mehr niedergeschlagen sein und nicht mehr zweifeln, ob dein bußfertiges Leben Sinn hat!"

Hierauf erklärte ich ihm, so gut ich es verstand, wie er mit dem unablässigen Jesusgebet beginnen könne, wie er darin fortfahren müsse, was das Wort Gottes darüber sage und auf welche Weise die heiligen Väter es lehrten. Alsdann trennten wir uns, ich suchte die verfallene Erdhütte auf, die er mir zugewiesen hatte, und verblieb daselbst in der Einsamkeit.

Mein Gott, welche Freude, welche Ruhe und Wonne empfand ich, sobald ich die Schwelle dieser Höhle oder, besser gesagt, dieses Grabes überschritten hatte! Es erschien mir wie ein herrliches, königliches Gemach, ganz angefüllt von Tröstung und Freude. Vor Glück kamen mir die Tränen, und ich dankte Gott und dachte: nun will ich aber in dieser Ruhe und Stille mit Eifer an mein Werk gehen und Gott um Seine Erleuchtung bitten. Und so begann ich denn vor allem zuerst die "Tugendliebe" mit größter Aufmerksamkeit zu lesen, und zwar alles der Reihe nach, von Anfang bis zu Ende. Binnen kurzem hatte ich alles gelesen und gewahrte nun, welche Weisheit, Heiligkeit und Tiefe in dem Buch enthalten ist. Da jedoch darin von vielen und mannigfaltigen Dingen gesprochen wird und es auch verschiedene Unterweisungen der Kirchenväter enthält, vermochte ich nicht alles zu verstehen und in einen Punkt zusammenzufassen, auf den es mir besonders ankam, nämlich alles Nötige über das innere Gebet zu erforschen, um solcherweise den Weg zur Erlernung des unablässigen selbsttätigen Herzensgebets zu erfahren. Nach dieser Erkenntnis lechzte aber mein Herz gar sehr, wie es Gott ja auch durch den Apostel gebietet: "Strebt immerfort nach den höchsten Gnadengaben" (1 Kor 12, 31), und ferner: "Löscht den Geist nicht aus" (1 Thess 5,19). Ich dachte und überlegte bei mir, wie ich solches wohl erfüllen könnte: mein Verstand reicht nicht aus, ebenso wenig mein Begriffsvermögen, und keiner ist da, der es mir erklären könnte. Ich will einmal versuchen, Gott mit meinem Gebet zu bedrängen, vielleicht wird mich der Herr irgendwie erleuchten. Darauf gab ich mich einen ganzen Tag lang nur dem unablässigen Gebet hin, ohne einen Augenblick davon abzulassen. Nun beruhigten sich meine Gedanken, und ich schlief ein. Und mir träumte, ich sei in der Zelle meines verstorbenen Starez, und er deute mir die "Tugendliebe" und spreche also: "Dieses heilige Buch ist erfüllt von tiefer Weisheit. Es ist eine kostbare Quelle von Belehrungen über das Eindringen in die verborgenen Fügungen Gottes. Nicht jedermann ist es in allen Stücken zugänglich, dennoch enthält es für einen jeden, je nach dem Maße seines Verständnisses, Unterweisungen: für den weisen Mann weise, für den Einfältigen einfältige. Daher solltet ihr Einfältigen es nicht in der Reihenfolge lesen, in der die Schriften der heiligen Väter darin angeordnet sind. Diese Anordnung ist eine theologische; der nicht geschulte Mann, der aus der ,Tugendliebe' das innere Gebet erlernen will, muss sie in folgender Reihenfolge lesen: Erstens: er lese zunächst das Buch des Mönchs Nicephorus (im zweiten Teil der ,Tugendliebe'), sodann zweitens: das ganze Buch Gregors des Sinaiten, mit Ausnahme der kurzen Kapitel, drittens: die drei Formen des Gebets von Symeon dem Neuen Theologen, sowie seine Schrift über den Glauben, und hierauf viertens: das Buch von Kallistus und Ignatius. In den Schriften dieser Väter ist die vollständige und für jedermann verständliche Lehre und Anleitung zum innern Herzensgebet enthalten. Wenn du aber eine noch leichter verständliche Belehrung über das Gebet haben willst, dann schlage im vierten Teil die abgekürzte Gebetsvorlage des Kallistus (Athosmönch im 14. Jahrhundert) auf, des heiligsten Patriarchen von Konstantinopel."

Sofort begann ich nun, als hielte ich meine "Tugendliebe" wirklich in den Händen, die bezeichnete Stelle zu suchen, konnte sie aber nicht so schnell finden, wie ich gewollt hätte. Da blätterte der Starez selbst in dem Buch und sagte: "Hier ist die Stelle, ich will sie dir anstreichen." Dabei hob er ein Stückchen Holzkohle vom Boden auf und bezeichnete damit am Rande der Seite die betreffende Stelle. Ich lauschte jedem seiner Worte aufmerksam und bemühte mich, mir alles möglichst fest und in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zu prägen.

Endlich erwachte ich, und da der Tag noch nicht angebrochen war, blieb ich liegen und wiederholte in Gedanken, was ich im Traum gesehen und was mir der Starez gesagt hatte. Dann aber dachte ich: Gott weiß, ob mir wirklich die Seele des verstorbenen Starez erschienen war, oder ob das alles meine eigenen Gedanken sind, die diese Form annehmen, weil ich so viel und so oft an die "Tugendliebe" und an meinen Lehrer denke. In solcher Ungewissheit erhob ich mich; der Morgen begann schon leicht zu dämmern. Und siehe da! Auf dem Stein, der mir als Tisch in meiner Hütte diente, lag die "Tugendliebe", und zwar gerade an der Stelle aufgeschlagen, die mir der Starez angegeben und mit einem Kohlenstückchen bezeichnet hatte, genau so, wie ich es im Traum gesehen; ja sogar die Kohle lag noch neben dem Buch. Dies bestürzte mich sehr, denn ich erinnerte mich mit größter Bestimmtheit, dass ich am Abend zuvor das Buch geschlossen und es zu meinen Häupten niedergelegt hatte; und ebenso bestimmt wusste ich, dass an der bezeichneten Stelle früher kein Merkstrich gewesen war. Dieser Vorfall überzeugte mich von der Wahrheit meines Traumgesichtes und von der seligen Gottwohlgefälligkeit meines geliebten Lehrers heiligen Angedenkens. Also machte ich mich daran, die "Tugendliebe" in eben der Reihenfolge zu lesen, die mir der Starez empfohlen hatte. Ich las das Buch einmal durch, dann noch ein zweites Mal, und solches Lesen entflammte in meiner Seele Lust und Eifer, das Gelesene auch wirklich anzuwenden und praktisch zu erproben. Nun erschloss sich mir der dun'kle Sinn des inneren Gebets und wurde durchaus verständlich und klar: ich begriff, auf welche Weise es erlangt werden kann, welche Folgen es zeitigt und wie es Seele und Herz zu beglücken vermag; auch eröffnete sich mir, wie zu erkennen sei, ob solche Beseligung von Gott oder von der Natur komme, oder ob sie nichts als Wahn wäre.

Ich ging nun daran, vorerst jene Stelle des Herzens aufzusuchen, von der Symeon der Neue Theologe spricht. Ich schloss die Augen, blickte mit dem Geist, das heißt mit der Einbildung ins Herz hinein und versuchte mir vorzustellen, wie es da in der linken Seite der Brust eingebettet liegt, wobei ich aufmerksam auf sein Schlagen hinhorchte. Hierin übte ich mich jeweils eine halbe Stunde lang mehrere Male am Tag. Anfangs hatte ich keine andere Empfindung, als dass es in der Brust dunkel sei; sehr bald darauf konnte ich jedoch das Herz schon genau wahrnehmen und spürte auch, wie es sich im Innern bewegte; sodann begann ich das Jesusgebet zusammen mit dem Atem ins Herz einzuführen und es wieder daraus hervorzuholen, in der Weise, wie es der heilige Gregor Sinait und ebenso Kallistus und Ignatius lehren, das heißt, ich senkte den Geist ins Herz, zog die Luft ein und vergegenwärtigte mir dabei die Worte, die ich sprach: Herr Jesus Christus. Alsdann stieß ich die Luft wieder aus und sagte: Erbarme Dich meiner. Darin übte ich mich anfangs ein bis zwei Stunden lang, dann dehnte ich diese Übung aus, je mehr ich mich darin vervollkommnete, und endlich war es so, dass ich beinahe den ganzen Tag mit dieser Beschäftigung zubrachte. Überkamen mich Schwere, Trägheit oder Zweifel, dann las ich unverzüglich in der "Tugendliebe" jene Stellen, die über die Tätigkeit des Herzens unterweisen, und alsbald erwachten in mir Lust und Eifer zum Gebet. Nach etwa drei Wochen begann ich einen Schmerz im Herzen zu spüren, dann eine überaus wohltuende Wärme, Freude und Beruhigung. Solches feuerte mich an, immer häufiger und mit stets größerer Hingabe im Gebet zu verharren, so dass allmählich alle meine Gedanken davon erfüllt waren und ich große Seligkeit empfand. Von dieser Zeit an konnte ich bisweilen verschiedene neue Empfindungen im Herzen und im Geist wahrnehmen. Mitunter war es, als spürte ich ein beglückendes Beben im Herzen; es war so voller Leichtigkeit, Freiheit und Trost, dass ich wie verwandelt schien und vor Wonne zu vergehen glaubte. Dann wieder fühlte ich brennende Liebe zu Jesus Christus und zu der ganzen göttlichen Schöpfung in mir aufsteigen. Manchmal wieder entströmten meinen Augen ganz von selbst milde Tränen des Dankes an Gott, der mir verruchtem Sünder solche Gnade widerfahren ließ. Zuweilen aber lichtete sich mein sonst so dumpfer Verstand, und ich vermochte mühelos Dinge zu erfassen und zu ergründen, an die ich zuvor niemals hätte denken können. Und dann überströmte mich auch jeweilen überaus mächtig süße Herzenswärme und ich verspürte voll Rührung in mir die Gegenwart Gottes. Oder aber ich empfand die allergrößte Freude beim Anrufen des Namens Jesu Christi und erkannte daran, was das Wort bedeutet, welches Er gesprochen hat: Das Reich Gottes ist in euch (Lk 17, 21).

Während ich solche und ähnliche erquickenden Tröstungen erfuhr, merkte ich, dass sich die Wirkungen des Herzensgebets auf dreierlei Weise kundtun: im Geist, in den Gefühlen und in der Erkenntnis. Im Geist - zum Beispiel Süße der Liebe Gottes, innere Ruhe, Verzückung des Verstandes, Reinheit der Gedanken, beseligendes Gedenken Gottes; in den Gefühlen - wonnige Erwärmung des Herzens, Überfülle der Süßigkeit in allen Gliedern, freudiges Aufwallen des Herzens, Beschwingtheit und Frische, Lebenslust, Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz und Kummer; in der Erkenntnis - Erleuchtung der Vernunft, Erfassung der Heiligen Schrift, Verständnis für die Sprache der Schöpfung, Loslösung von allem nichtigen Tun, Bewusstsein von der Süßigkeit des innern Lebens und Gewissheit der Nähe Gottes und Seiner Liebe zu uns.

Nachdem ich etwa fünf Monate der Einsamkeit in diesen Gebetsübungen und in der Glückseligkeit der oben erwähnten Empfindungen verbracht hatte, war ich so sehr an das Herzensgebet gewöhnt, dass ich ununterbrochen darin verharrte, bis ich endlich fühlte, wie sich das Gebet von selbst, ohne irgendwelche Nötigung meinerseits, in mir verrichtete und sich nicht nur im wachen Zustand in Geist und Herz ergoss, sondern sogar im Schlaf ebenso wirkte und durch nichts unterbrochen wurde, nicht einen einzigen Augenblick, gleichviel was ich auch tun mochte. Meine Seele dankte Gott und mein Herz schmolz in niemals endender Fröhlichkeit.

Schließlich kam die Zeit, da der Wald geschlagen werden sollte; es erschienen die Holzfäller, und ich musste meine stille Behausung verlassen. Nachdem ich dem Waldhüter gedankt hatte, betete ich, küsste den Flecken Erde, auf dem Gott mich Unwürdigen Seiner Gnade gewürdigt hatte, schnallte mir den Beutel mit den Büchern um die Schultern und ging fort. Lange durchzog ich also das Land, bis ich endlich Irkutsk erreichte. Das selbsttätige Herzensgebet war mir auf dem ganzen Weg Trost und Freude und wirkte sich auch auf alle meine Begegnungen aus. Niemals hörte es auf, mich mit Wonne zu erfüllen, wenn das auch nicht immer in gleichem Maße geschah; wo immer ich mich befand, was immer ich tat, womit ich mich auch beschäftigen mochte, nichts konnte dieses Gebet unterbrechen oder es auch nur abschwächen. Wenn ich arbeite und das Gebet selbsttätig in mir wirkt, dann geht mir die Arbeit schneller von der Hand; wenn ich auf irgend etwas hinhorche oder etwas lese, hört das Gebet nicht auf, und ich fühle gleichzeitig sowohl das eine wie das andere, als wäre ich in zwei Teile gespalten, oder als hätte ich zwei Seelen in meiner Brust: Mein Gott! Wie voller Geheimnisse ist doch der Mensch! ...

Wie sind deine Werke so groß, o Herr: du hast sie alle in Weisheit geschaffen (Ps 104, 24). Viel Wunderbares hat sich auf meinen Pilgerwegen ereignet; wollte ich von allem berichten, so würde ich damit an einem Tag nicht fertig. Da erlebte ich zum Beispiel folgendes: Eines Abends schritt ich allein durch ein Wäldchen, mit der Absicht, in einem Dorf, das ich etwa zwei Werst vor mir sah, zu übernachten. Plötzlich stürzte sich ein Wolf auf mich. Ich hielt gerade die aus Wolle geknüpfte Gebetsschnur meines Starez, die ich stets bei mir trug, in der Hand. Da schlug ich mit ihr nach dem Wolf. Und siehe da, was geschah? Sie entglitt meinen Händen und wickelte sich gerade um den Hals des Wolfes; dieser stürzte davon, sprang über einen Dornbusch und blieb darin mit den Hinterbeinen hängen, während sich die Schnur am Ast eines dürren Baumes festhakte. Nun schlug der Wolf um sich, konnte sich jedoch nicht frei machen, weil die Gebetsschnur seinen Hals würgte. Da bekreuzigte ich mich gläubig und ging auf den Wolf zu, um ihn zu befreien. Dieses tat ich mehr aus Furcht, der Wolf könnte die Gebetsschnur zerreißen und mit ihr entfliehen, - dann hätte ich meinen kostbaren Schatz gewiss nie wieder gesehen. Kaum war ich nun an den Wolf herangetreten und hatte die Schnur ergriffen, als er sie zerriss und so schnell er nur konnte davonlief. Also erreichte ich, nachdem ich Gott für seine Hilfe gedankt und meines seligen Starez gedacht hatte, wohlbehalten das Dorf; ich ging in eine Herberge und bat um ein Nachtlager.

Wie ich in die Hütte trat, sah ich in der vordern Ecke zwei Männer an einem Tisch sitzen; der eine war ein Greis, der andere ein dicker Mann in mittleren Jahren; ihrem Aussehen nach schienen sie nicht dem einfachen Volk anzugehören. Sie tranken Tee. Ich fragte den Bauern, der ihre Pferde besorgte, wer sie seien. Dieser sagte, der Alte sei ein Volksschullehrer, der andere ein Schreiber am Landgericht, beide demnach wohlgeborene Leute. "Ich fahre sie zum Jahrmarkt", fügte er hinzu, "etwa zwanzig Werst von hier."

Nachdem ich eine Weile dagesessen, bat ich die Wirtin um Nadel und Faden, rückte an die Kerze heran und begann meine zerrissene Gebetsschnur auszubessern. Der Schreiber schaute mir zu und sagte:

"Du musst wohl tüchtig gebetet und dich verbeugt haben, dass du die Schnur zerrissen hast."

"Nicht ich habe sie zerrissen, sondern ein Wolf … "

"Wie denn das? Beten die Wölfe auch?" fragte er lachend.

Hierauf erzählte ich ausführlich, was mir begegnet war und wie kostbar diese Gebetsschnur für mich sei.

Der Schreiber lachte wieder und sagte:

"Ihr heiligen Hohlköpfe seht doch überall Wunder! Was ist denn schon Wunderbares an der Geschichte? Du hast nach dem Wolf geschlagen und der ist ganz einfach erschrocken und davongelaufen; es ist ja bekannt, dass Hunde und Wölfe sich vor Schlägen fürchten; und im Wald irgendwo hängenzubleiben, ist auch nicht so was Besonderes. In der Welt passieren mancherlei Dinge; sollte man deshalb immer gleich an Wunder denken?"

Als der Lehrer solches hörte, wandte er sich an den Schreiber und fing folgendes Gespräch mit ihm an:

"Sagen Sie das nicht, mein Herr! Sie sind in diesen theologischen Fragen nicht bewandert... Ich dagegen erkenne aus dem Bericht dieses Bauern das geheimnisvolle Walten sowohl der sinnlichen wie der geistigen Natur ... "

"Inwiefern denn?" fragte der Schreiber.

"Ja sehen Sie mal; Sie werden gewiss, obzwar Sie keine höhere Bildung genossen, die heiligen Geschichten des Alten und Neuen Testamentes zumindest im Abriss, so wie sie in Form von Fragen und Antworten für den Schulgebrauch gedruckt werden, kennengelernt haben. Da erinnern Sie sich vielleicht, dass Adam, der erstgeschaffene Mensch, solange er sich im Zustand heiliger Unschuld befand, alle Tiere der Schöpfung, sogar die reißenden, sich untertan machen konnte; sie nahten ihm in scheuem Gehorsam und er nannte jedes bei seinem Namen. Der Starez nun, dem diese Gebetsschnur gehörte, war heilig. Was aber bedeutet Heiligkeit? Nichts anderes als die Rückkehr in den sündenlosen Urzustand des ersten Menschen vermöge frommer Übungen. Wird aber die Seele geheiligt, so ist auch der Leib heilig. - Die Gebetsschnur war nun ständig in den Händen dieses Geheiligten; folglich war durch die Berührung und die Ausdünstung der Hände eine heilige Kraft in sie eingegangen, die Kraft des sündenlosen Zustandes des ersten Menschen. Hier haben wir das Mysterium der geistigen Natur!. .. Und diese Kraft wird naturgemäß von allen Tieren bis auf den heutigen Tag empfunden; sie spüren sie vor allem vermöge des Geruchsinns, denn die Nase ist bei den Tieren, den zahmen wie den wilden, das vornehmste Sinnesorgan. Hier haben wir das Mysterium der sinnlichen Natur! ... "

"Für euch Gelehrte gibt es überall Kräfte und Wunderwerke, unsereinem dagegen erscheint alles viel einfacher: man gießt sich ein Gläschen Schnaps hinter die Binde - und schon ist die Kraft da", sagte der Schreiber und schritt auf den Schrank zu.

"Ja, das ist wirklich eure Sache", erwiderte der Lehrer, "darum muss ich Sie schon bitten, die gelehrte Wissenschaft uns zu überlassen."

Diese Rede des Lehrers hatte mir sehr gefallen; ich trat daher zu ihm und sagte:

"Erlaubt mir, Väterchen, dass ich Euch noch einiges von meinem Starez erzähle", - worauf ich ihm berichtete, wie mein Starez mir im Traum erschienen war, wie er mich unterwiesen und in der "Tugendliebe" die Seite angezeichnet hatte. Der Lehrer hörte alles voller Aufmerksamkeit an, indessen der Schreiber ausgestreckt auf der Bank lag und brummte:

"Die Leute haben doch recht, wenn sie sagen, die Menschen lesen solange in der Bibel, bis sie sich um den Verstand gelesen haben. Genau so ist es! Welchem Teufel wird es wohl einfallen, dir des Nachts Bücher anzustreichen? Du hast dein Buch ganz einfach im Schlaf fallen lassen und es mit Asche beschmiert ... das ist dein ganzes Wunder! - Ach, dieses Lumpenpack! Wir haben von eurer Sorte schon viele gesehen!"

Auf diese Weise fuhr der Schreiber noch eine Weile fort zu brummen, dann drehte er sich zur Wand und schlief ein.

Als ich ihn so hatte reden hören, wandte ich mich an den Lehrer und sagte:

"Wenn Ihr es wünscht, will ich Euch das Buch zeigen, darin die Seite wirklich angestrichen und keineswegs mit Asche beschmiert ist." Ich holte aus meinem Beutel die "Tugendliebe" hervor und zeigte sie ihm, indem ich bemerkte: "Ich staune über die Allweisheit, die es einer körperlosen Seele möglich macht, ein Stück Kohle vom Boden aufzuheben und damit zu schreiben."

Nachdem der Lehrer sich das Zeichen in dem Buch angeschaut hatte, sprach er:

"Solches ist ein Geheimnis. Ich will es dir aber erklären. Sieh mal, wenn die Geister einem lebenden Menschen in körperlicher Gestalt erscheinen, sammeln sie gewissermaßen Kräfte aus Luft und Lichtmaterie und formen sich damit einen greifbaren Körper, und wenn sie diesen Körper nicht mehr brauchen, geben sie das Entlehnte jenen Elementen wieder zurück, aus denen der Bestand ihrer Leiber geschöpft war. Da nun aber die Luft elastisch ist, das heißt zusammenpreßbar und dehnbar, so kann die also bekleidete Seele alles greifen, kann handeln und auch schreiben. - Was hast du denn da für ein Buch? Zeig es mir mal !"

Er schlug es auf und stieß gerade auf eine Stelle in den Auslegungen Symeons des Neuen Theologen.

"Ah, das ist wohl ein theologisches Buch? Ich kenne es gar nicht ... "

"Dieses Buch, Väterchen, enthält fast ausschließlich Unterweisungen über das innere Herzensgebet im Namen Jesu Christi, welches darin von fünfundzwanzig Kirchenvätern genau erläutert wird."

"Ah, das innere Gebet! Ich weiß, was das ist", sagte der Lehrer.

Als ich dies hörte, verneigte ich mich tief vor ihm und bat ihn, mir doch einiges über das innere Gebet zu sagen.

"Nun, es heißt ja im Neuen Testament, dass der Mensch und die Kreatur gegen ihren Willen der Hinfälligkeit unterworfen sind, und dass alles seufzt und sich ängstigt in der Sehnsucht nach der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, und dieses geheimnisvolle Seufzen der Kreatur und das angeborene Streben der Seelen ist eben das innere Gebet. Man braucht es gar nicht zu erlernen. Es ist in allen und in allem enthalten! ... "

"Wie soll man es aber erwerben, es entdecken und in seinem Herzen verspüren, wie es erkennen und mit seinem Willen aufnehmen? Wie erreicht man, dass es sichtbar wirke, beglückend, erleuchtend und rettend wirke?" fragte ich.

"Ich erinnere mich nicht, ob etwas darüber in den theologischen Traktaten steht oder nicht", erwiderte der Lehrer.

"Hier, hier steht das alles geschrieben", rief ich ...

Der Lehrer nahm einen Bleistift, schrieb sich den Titel der "Tugendliebe" auf und sagte dabei:

"Dieses Buch lasse ich mir unbedingt aus Tobolsk kommen und will es dann durchsehen." Darauf trennten wir uns.

Während ich weiterzog, dankte ich Gott für die Unterredung mit dem Lehrer und betete für den Schreiber, Gott möchte es also fügen, dass er wenigstens ein einziges Mal die "Tugendliebe" lese, und möge ihn belehren in der Rettung seiner Seele.

Ein andermal kam ich im Frühjahr in ein Kirchdorf, und es fügte sich, dass ich bei dem Geistlichen Unterkunft fand. Das war ein gütiger Mensch, der ganz einsam lebte; ich verbrachte drei Tage bei ihm, und da er mich während dieser Zeit etwas kennen gelernt hatte, redete er mir zu, bei ihm zu bleiben.

"Bleib doch hier, ich will dir auch Lohn geben; ich brauche einen gewissenhaften Menschen. Du hast ja gesehen, dass wir neben der alten Holzkirche eine neue aus Stein bauen. Nun kann ich aber keinen zuverlässigen Mann finden, der die Arbeiter beaufsichtigte und der in der Kapelle säße, um die Gaben für den Bau in Empfang zu nehmen. Ich sehe, du bist dafür gerade geeignet und hättest hier bei deiner Veranlagung auch ein ganz gutes Leben: säßest allein in der Kapelle und könntest immer beten. Da ist auch ein stilles Kämmerchen für den Kirchenwart, das könntest du haben. Bleib doch hier, ich bitte dich, wenn auch nur so lange, bis der Bau der Kirche beendet ist !"

Ich widersetzte mich dem Wunsch des Priesters beharrlich, musste indessen seinen dringenden Bitten schließlich nachgeben. Also blieb ich den Sommer über bis zum Herbst dort und richtete mich in der Kapelle ein. Zu Beginn hatte ich ein sehr ruhiges Leben und konnte mich ungestört meinen Gebetsübungen hingeben, wenn auch immer viel Volk, besonders an Feiertagen, in die Kapelle kam: einige kamen um zu beten, andere um müßig herumzustehen, und wieder andere, um sich etwas aus dem Sammelteller herauszufischen. Da ich mitunter die Bibel oder die "Tugendliebe" las, geschah es oft, dass einige der Leute, die das bemerkten, ein Gespräch mit mir anknüpften, während andere mich baten, ihnen doch etwas vorzulesen.

Nach einiger Zeit sah ich, dass öfters ein Bauernmädchen in die Kapelle kam und daselbst lange betete. Ich horchte auf ihr Gemurmel hin und bemerkte, dass sie ganz seltsame Gebete vor sich hin sprach; manche waren sogar ganz entstellt. Daher fragte ich sie, wer sie beten gelehrt habe. Sie antwortete, ihre Mutter, die kirchentreu sei, der Vater aber sei Raskolnik (ein Abgespaltener) und gehöre der popenlosen Glaubensrichtung an. Sie tat mir leid, und ich gab ihr den Rat, richtig zu beten, so wie es die Kirche lehre, und darum erklärte ich ihr das "Vater unser" und das "Freue dich, Du Gottesgebärerin und Jungfrau". Zum Schluss sagte ich ihr noch : "Verrichte doch recht häufig und so oft du kannst das Jesusgebet; es dringt mehr als alle anderen Gebete zu Gott, und du wirst auf diese Weise das Heil deiner Seele finden."

Das Mädchen nahm meinen Rat voller Aufmerksamkeit entgegen und fing an, in aller Einfalt darnach zu handeln. Und was geschah? Nach kurzer Zeit schon erklärte sie mir, sie habe sich bereits so sehr an das Jesusgebet gewöhnt, dass es sie dränge, es beständig zu beten, wann immer sich eine Gelegenheit dazu biete; sobald sie es aber bete, habe sie ein beseligendes Gefühl; aber auch nach Beendigung des Gebets sei sie von einer großen Freude erfüllt und von dem Wunsch, im Gebet fortzufahren. Darüber freute ich mich sehr und gab ihr den Rat, das Beten im Namen Jesu Christi auch fernerhin fortzusetzen, und zwar in vermehrtem Maße.

Der Sommer neigte sich seinem Ende entgegen; viele von den Leuten, die in die Kapelle kamen, pflegten nun auch zu mir zu kommen, nicht nur, damit ich ihnen vorlese und sie berate, sondern mit den verschiedensten Anliegen des Alltags, manche sogar mit der Bitte, ich möchte ihnen verlorene oder abhanden gekommene Sachen wieder herbeischaffen; wahrscheinlich hielten sie mich für einen Zauberer. Da kam schließlich auch das oben erwähnte Mädchen wieder zu mir; sie war sehr bekümmert und wollte sich bei mir Rat holen. Ihr Vater beabsichtigte, sie an einen Raskolnik zu verheiraten, und ein Bauer sollte die Trauung vollziehen. "Kann denn so etwas eine rechtmäßige Ehe sein?" rief sie aus, "das wäre ja ganz einfach Unzucht! Ich will mich davonmachen, gleichviel wohin In Ich erwiderte ihr aber : "Wohin willst du fliehen? Man wird dich wiederfinden. In unserer Zeit kann man sich ja ohne Ausweis nirgends verborgen halten. Überall wird man dich entdecken. Bete lieber recht inbrünstig zu Gott, damit Er durch Seine Fügung die Absichten deines Vaters zuschanden werden lasse und deine Seele vor Sünde und Ketzerei bewahre. Das wird wirksamer sein als die Flucht!"

Auf solche Weise ging die Zeit dahin, und schließlich wurde es unerträglich laut um mich her; auch traten allerlei Versuchungen an mich heran. Endlich war der Sommer zu Ende; ich beschloss, die Kapelle zu verlassen und wie früher meines Weges zu ziehen. Ich ging daher zu dem Geistlichen und teilte ihm das mit.

"Ihr kennt ja meine Veranlagung, Vater, ich brauche die Stille, um mich dem Gebet hingeben zu können, hier finde ich jedoch nur Unruhe und Ablenkung, und solches ist schädlich für mich. Ich habe Euer Gebot erfüllt, bin den Sommer über hier geblieben, so lasst mich nun ziehen und gebt mir Euren Segen auf meine einsame Fahrt."

Doch der Geistliche wollte mich nicht gehen lassen, sondern versuchte mich abermals zu überreden:

"Was hindert dich denn hier zu beten? Du hast ja nichts weiter zu tun, als in der Kapelle zu sitzen; und um dein Brot brauchst du dich auch nicht zu sorgen. Bete wenn du willst Tag und Nacht, Bruder, und weihe dein Leben Gott! Für diesen Ort aber bist du gerade der richtige Mann und bist hier nützlich; du schwatzest kein törichtes Zeug mit den Leuten, die zu dir kommen, schaffst der Kirche Gottes Einnahmen und sammelst treu die Gaben. Das aber ist Gott wohlgefälliger als deine einsamen Gebete. Was liegt dir denn so sehr an der Einsamkeit? Ist es nicht viel schöner, gemeinsam mit dem Volk zu beten? Gott hat ja den Menschen nicht dazu erschaffen, dass er niemand außer sich kenne, vielmehr sollen die Menschen einander helfen, einer den andern zur Rettung führen, jeder nach seinen Kräften. Betrachte einmal die Heiligen und die ökumenischen Lehrer! Sie haben Tag und Nacht unermüdlich für die Kirche gesorgt und gewirkt, haben überall gepredigt; sie saßen nicht in der Einsamkeit und hielten sich nicht vor den Menschen verborgen."

"Jedem, mein Vater, gibt Gott die Gabe, die ihm zukommt. Wohl hat es viele Prediger gegeben, doch kennen wir auch viele Einsiedler. Je nach der Neigung, die ein jeder in sich verspürt, wählt er seinen Weg und glaubt, Gott selbst habe ihm diesen gewiesen. Wie wolltet Ihr mir denn sonst erklären, warum so viele Heilige ihr Lehramt, ihre Abtei, ihr Priestertum aufgegeben und sich an einsame Orte, in Einsiedeleien zurückgezogen haben, um sich vom Volk nicht verwirren zu lassen? So ist zum Beispiel der heilige Isaak der Syrer seiner Gemeinde und seinem Bischofsamt entflohen; so hat Athanasius der Athonit (930-1003) sein Kloster verlassen; und zwar taten sie das gerade darum, weil diese Orte voller Versuchungen für sie waren, und weil sie aufrichtig an das Wort Christi glaubten: Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber dabei seine Seele verliert" (Mt 16,26) ?

"Ja, aber das waren große Heilige", sagte der Geistliche.

"Wenn sich die Heiligen schon so sehr vorsehen mussten, um durch den Umgang mit den Menschen nicht Schaden zu nehmen, was sollte dann wohl erst ein so ohnmächtiger Sünder tun!"

Schließlich nahm ich doch Abschied von diesem guten Priester, und er gab mir liebevolles Geleit.

Nach ungefähr zehn Werst des Weges machte ich in einem Dorf halt, um daselbst zu übernachten. In der Herberge traf ich einen Bauern an, der war todkrank; da gab ich den Leuten, die sich seiner annahmen, den Rat, ihm das heilige Abendmahl reichen zu lassen. Sie waren damit einverstanden und schickten am Morgen gleich in ihr Kirchdorf nach dem Priester. Ich blieb, um den Heiligen Gaben meine Ehrfurcht zu bezeugen und während der Spendung des Sakramentes zu beten. So ging ich denn hinaus, setzte mich auf eine kleine Böschung an der Straße und wartete, um den Priester zu grüßen. Da kommt plötzlich jenes Mädchen, das in der Kapelle zu beten pflegte, aus dem Hinterhof auf mich zugelaufen.

"Wie bist du hierher gekommen?" fragte ich sie.

"Bei uns war schon der Tag festgesetzt, an dem ich dem Raskolnik anverlobt werden sollte, da bin ich davongelaufen." Und indem sie das sagte, verneigte sie sich vor mir bis zur Erde und flehte mich an:

"Oh, erweise mir die Güte, nimm mich mit dir und bring mich in irgendein Frauenkloster. Ich will nicht heiraten; ich werde im Kloster leben und das Jesusgebet verrichten. Man wird dich im Kloster schon anhören und mich gewiss aufnehmen."

"Erbarme sich Gott", sagte ich, "wohin sollte ich dich denn bringen? Ich kenne hierzulande kein einziges Frauenkloster, ja und wie soll ich mit dir zusammen wandern, da du doch keinen Pass hast? Erstens wirst du nirgendwo Unterkunft finden, und zweitens kannst du dich nirgends verbergen, man wird dich gleich festnehmen und wieder an deinen Heimatort zurückschicken; außerdem wird man dich auch noch als Landstreicherin verhaften. Geh lieber nach Hause und bete zu Gott, und so du wirklich nicht heiraten willst, stell dich krank; man nennt dies eine Verstellung um des Seelenheils willen; die heilige Mutter des Klemens hat ebenso gehandelt, und auch die seligste Marina (8. Jahrhundert), die in einem Männerkloster ihre Seele rettete, und noch viele andere taten dasselbe."

Während wir so dasaßen und miteinander sprachen, sahen wir vier Bauern in einem mit zwei Pferden bespannten Wagen schnell daher fahren und dicht vor uns halten. Sie packten das Mädchen und setzten es in den Wagen; und indessen einer der Bauern mit ihr davonfuhr, fesselten mich die andern an den Händen und trieben mich in das Dorf zurück, wo ich den Sommer über gelebt hatte. Auf alle meine Beteuerungen schrien sie nur: "Wir wollen dir schon zeigen, du Scheinheiliger, was es heißt, Mädchen andern abspenstig zu machen!" Gegen Abend brachten sie mich ins Gerichtshaus, legten mir die Füße in Eisen und warfen mich ins Gefängnis, wo ich bis zum Morgen sitzen sollte, wenn das Gericht sich versammeln würde, um mich abzuurteilen. Als der Geistliche erfuhr, dass ich im Kerker saß, suchte er mich auf; er brachte mir etwas zum Abendessen, tröstete mich und versprach, für mich einzutreten und als mein geistlicher Vater auszusagen, dass ich nicht der Mensch sei, für den mich die Leute hielten. Nachdem er eine Weile bei mir gesessen, verließ er mich.

Etwas später am Abend kam der Kreisrichter, der gerade dieses Dorf passierte; er stieg bei einem der Wahlbauern ab und man berichtete ihm, was geschehen war. Da ließ er eine Versammlung einberufen und befahl, mich in das Gerichtsgebäude zu bringen. Wir kamen, standen da und warteten. Schließlich erschien der Kreisrichter, der schon recht angeheitert war, setzte sich, die Mütze auf dem Kopf, an den Tisch und schrie los:

"He! Jepifan! Hat das Mädchen, deine Tochter, nichts vom Hof mitgenommen?"

"Nein, Väterchen."

"Und hat man sie bei nichts Schlimmem mit diesem Lümmel ertappt?"

"Nein, Väterchen !"

"So wollen wir denn über die Sache so richten und beschließen: du kannst dich mit deiner Tochter auseinandersetzen, wie es dir beliebt; diesem Burschen aber wollen wir morgen eine Lehre erteilen und ihn dann fortjagen; wir wollen ihm auch streng verbieten, sich je wieder hier sehen zu lassen; und damit Schluss !"

Bei diesen Worten erhob sich der Kreisrichter, trat hinter dem Tisch hervor und begab sich zu dem Wahlbauern, bei dem er übernachtete; mich aber warf man wieder ins Gefängnis. Früh am nächsten Morgen erschienen zwei Männer - der Polizeikommissär und sein Büttel peitschten mich aus und ließen mich laufen. Ich ging davon und dankte Gott, dass er mich gewürdigt hatte, um Seines Namens willen zu leiden. Das tröstete mich und ließ das unablässige Herzensgebet in mir noch stärker auflodern.

Alle diese Geschehnisse kränkten mich nicht im geringsten, ja mir war, als wären sie einem andern zugestoßen, ich aber hätte nur zugeschaut; sogar als man mich mit Ruten züchtigte, war auch dies ganz gut zu ertragen; das Gebet, das mein Herz erfreute, ließ mich auf gar nichts anderes achten.

Nachdem ich etwa vier Werst zurückgelegt hatte, traf ich unterwegs die Mutter des Mädchens an; sie war in einen Marktflecken gefahren, um daselbst Einkäufe zu machen. Als sie mich sah, sagte sie:

"Unser Freier hat auf die Heirat verzichtet, er hat sich über Akuljka geärgert, weil sie ihm davongelaufen ist." Dann gab sie mir Brot und Kuchen, und ich zog meines Weges.

Es war klares, trockenes Wetter, und so hatte ich keine Lust, in einem Dorf zu übernachten; als ich im Wald zwei eingefriedete Heuschober entdeckte, legte ich mich daher dort zur Ruhe nieder. Ich schlief ein, und mir träumte, ich schritte auf der Landstraße dahin und läse in der "Tugendliebe" die Kapitel Antonius des Großen (251-356). Da holt mich auf einmal mein Starez ein und sagt: "Du liest nicht an der richtigen Stelle, lies hier", und er verwies mich auf das fünfunddreißigste Kapitel des Johannes von Karpathus (7. Jahrhundert), in welchem folgendes steht: Mitunter fällt der Lernende in Unehre und duldet Verfolgungen für jene, die seine geistige Hilfe in Anspruch nehmen. Sodann verwies er mich auch auf das einundvierzigste Kapitel, wo es heißt: Diejenigen, die das Gebet mit besonders großem Eifer betreiben, werden das Opfer furchtbarer und grausamer Versuchungen.

Und tröstend sprach er zu mir:

"Erhebe deinen Geist und sei unbekümmert; gedenke der Worte des Apostels: Der in euch ist, ist mächtiger als der in der Welt ist (1 Joh 4, 4). Du hast jetzt an dir selbst erfahren, dass keine Versuchung zugelassen wird, die des Menschen Kräfte übersteigt, sondern dass Gott mit der Versuchung auch den guten Ausgang schafft (1 Kor 10,13). Das Vertrauen auf diese Hilfe hat die heiligen Väter gefestigt und zu vermehrtem Eifer angespornt; sie haben aber nicht nur ihr eigenes Leben in andauerndem Gebet verbracht, sondern haben auch andere, wo es Ort und Zeit erheischten, in Liebe darin unterwiesen und in das Geheimnis eingeweiht. Hierüber sagt der heilige Gregorius von Thessalonike (oder Palamas 1296-1359) folgendes: ,Uns gebührt nicht nur, nach Gottes Gebot ohne Unterlass im Namen Jesu Christi zu beten, sondern auch andere - ja überhaupt alle Menschen: Mönche, Laien, Weise, Einfältige, Männer, Frauen und Kinder - darin zu unterweisen und zu belehren, sowie in allen den Eifer zum unablässigen Gebet zu entfachen'. Ähnliches empfiehlt auch der selige Kallistus Telikudes, wenn er sagt: Das geistige Werben um den Herrn (das heißt das innere Gebet), das beschauliche Wissen sowie die Mittel zur Erhebung der Seele über jedes Leid dürfen uns nicht ausschließlich um unsertwillen beschäftigen, wir sollen sie vielmehr um des allgemeinen Nutzens und um der Liebe willen niederschreiben und darlegen. Ja auch das Wort Gottes lehrt: Ein Bruder, dem ein anderer Bruder hilft, ist wie eine hohe, feste Stadt (vgl. Spr 18,19). Allerdings muss man in solchen Fällen allen ehrgeizigen Gefühlen nach Kräften widerstehen und darauf achten, dass der Samen der göttlichen Lehre nicht in den Wind gestreut werde."

Hierauf erwachte ich und empfand in meinem Herzen eine große Freude, indes meine Seele von fester Zuversicht erfüllt war. Und so wanderte ich denn wieder weiter.

Nach diesem Erlebnis hatte ich lange Zeit hernach noch ein anderes, das ich hier auch erzählen will. Eines Tages, das heißt am vierundzwanzigsten März, dem Tag, der der Reinsten Gottesmutter geweiht ist, verspürte ich ein unwiderstehliches Verlangen, am Heiligen Geheimnisopfer Christi teilzunehmen, in Erinnerung an Ihre göttliche Verkündigung. Ich erkundigte mich, ob es weit bis zu einer Kirche wäre; man sagte mir: Etwa dreißig Werst von hier entfernt.

Also ging ich den Rest des Tages und die ganze Nacht hindurch, um zum Frühgottesdienst dorthin zu kommen. Das Wetter war aber so schlecht wie nur möglich, bald schneite es, bald regnete es, dazu blies ein starker Wind, und es war sehr kalt. Auf meinem Wege musste ich einen kleinen Fluss überschreiten; als ich die Mitte erreicht hatte, brach das Eis unter mir, und ich sank bis an die Hüften ins Wasser. Ganz durchnässt kam ich schließlich zum Frühgottesdienst und stand so da auch noch während der heiligen Liturgie, bei der mich Gott der Teilnahme am heiligen Abendmahl würdigte.

Um diesen Tag in der Stille verbringen zu können, ohne irgendwie in meiner geistigen Freude gestört zu werden, bat ich den Kirchenwart um die Erlaubnis, mich bis zum nächsten Morgen in seiner Wachthütte aufhalten zu dürfen. Den ganzen Tag verbrachte ich nun in unaussprechlicher Freude und Herzensseligkeit; ich lag auf dem Hängeboden dieser ungeheizten Hütte, als ruhte ich in Abrahams Schoß; das Gebet wirkte in seiner ganzen Macht. Die Liebe zu Jesus und zur Muttergottes wallte in beseligenden Wogen in meinem Herzen auf und versenkte meine Seele gleichsam in tröstliches Entzücken. Als die Nacht hereinbrach, fühlte ich aber plötzlich heftige Schmerzen in den Beinen, und ich erinnerte mich, dass sie noch nass waren. Doch achtete ich nicht darauf, sondern horchte mit um so größerer Anspannung nur auf das Gebet im Herzen, und da fühlte ich keine Schmerzen mehr. Als ich mich jedoch gegen Morgen erheben wollte, bemerkte ich, dass ich die Beine nicht mehr rühren konnte; sie waren wie abgestorben und hingen mir so schlaff wie lose Stricke am Leib. Mit Mühe gelang es dem Kirchenwart, mich von meinem Lager herunterzuziehen, und dann saß ich zwei Tage lang da und konnte mich nicht regen. Am dritten Tag zwang mich der Wärter, die Hütte zu verlassen. Er sagte: "Wenn du hier stirbst, krieg ich lauter Scherereien." So kroch ich denn, indem ich mich auf die Hände stützte, mit Müh und Not hinaus und legte mich beim Eingang der Kirche nieder. Hier blieb ich ungefähr zwei Tage liegen. Die Leute, die vorüber kamen, achteten weder auf mich noch auf meine Bitten.

Endlich trat ein Bauer an mich heran, setzte sich zu mir und begann mit mir zu sprechen. Schließlich sagte er:

"Was gibst du mir, wenn ich dich heile? Ich habe genau das gleiche gehabt und kenne ein Mittel dagegen."

"Ich besitze nichts, das ich dir geben könnte", erwiderte ich.

"Und was hast du da in deinem Sack?" "Nur trockenes Brot und Bücher."

"Nun, willst du wenigstens einen Sommer lang für mich arbeiten, wenn ich dich heile?"

"Ich vermag auch keine Arbeit zu verrichten; du siehst, ich kann nur den einen Arm brauchen, der andere ist fast ganz verdorrt."

"Was kannst du denn tun?"

"Nichts außer lesen und schreiben."

"So, du kannst schreiben? Nun, dann könntest du dem Bengel, meinem Söhnchen nämlich, das Schreiben beibringen. Er hat schon etwas lesen gelernt, doch will ich, dass er auch schreiben lerne. Die Lehrmeister verlangen aber zuviel, - zwanzig Rubel wollen sie für die Schulung haben."

Ich ging auf seinen Vorschlag ein, und so schleppte er mich mit Hilfe des Kirchenwarts zu sich nach Hause und räumte mir in einer alten Badehütte, im Hinterhof, einen Platz ein.

Nun begann er mich zu heilen: Er sammelte auf den Feldern, in Höfen und Abfallgruben eine volle Maß alter faulender Knochen jeder Art, von Vieh und Vogel und was sich sonst noch finden ließ, wusch sie sauber ab, zerstampfte sie mit einem Stein in kleine Stücke und schüttete alles in einen großen gußeisernen Topf; diesen schloss er mit einem Deckel, in den eine Spalte eingeschnitten war, und stellte ihn dann verkehrt über einen in die Erde eingegrabenen Krug. Darauf bestrich er den Boden des Topfes mit einer dicken Lehmschicht, häufte Brennholz darüber, zündete es an und ließ das Feuer einen Tag lang ununterbrochen brennen. Wenn er frisches Holz auflegte, sagte er jedes Mal: "Das wird Knochenteer abgeben." Am folgenden Tag grub er den Krug aus der Erde, und da war nun durch die Spalte im Topfdeckel wohl ein Liter dicker Flüssigkeit hineingesickert. Sie war von rötlicher Farbe, etwas ölig und verbreitete einen starken Geruch, der an rohes Fleisch erinnerte, wogegen die Knochen im Topf nicht mehr schwarz, sondern weiß waren und ganz rein und schimmernd aussahen wie Perlmutter oder Perlen. Mit dieser Flüssigkeit rieb er mir die Beine ein, vielleicht fünf mal im Tag. Und siehe da! Schon am zweiten Tag fühlte ich, dass ich die Zehen bewegen konnte; am dritten Tag konnte ich schon die Beine biegen und strecken, am fünften aber konnte ich stehen und, auf einen Stock gestützt, über den Hof gehen. Mit einem Wort, meine Beine waren nach einer Woche wieder heil und stark und kräftig wie früher. Ich dankte Gott und dachte bei mir: welche Gottesweisheit liegt doch in der Kreatur verborgen! Trockene, modernde, schon fast ganz zu Erde gewordene Knochen haben in sich eine so lebendige Kraft, eine solche Farbe und solchen Geruch bewahrt, und vermögen zudem eine solche Wirkung auf lebendige Körper auszuüben, dass sie abgestorbenen Gliedern gleichsam neues Leben wiederschenken. Das ist ein Unterpfand der künftigen Auferstehung des Fleisches! Ach, könnte ich dies doch jenem Waldhüter zeigen, bei dem ich gelebt habe - er zweifelt ja an der allgemeinen Auferstehung!

Nachdem ich auf solch wunderbare Weise wieder genesen war, begann ich den Jungen zu unterrichten; ich gab ihm als Schreibvorlage das Jesusgebet, das ich ihn abschreiben ließ, wobei ich ihm zeigte, wie man die Buchstaben und Wörter schön säuberlich hinmalen müsse. Dieser Unterricht war für mich sehr bequem, da der Knabe tagsüber beim Amtsmann diente; so kam er denn zu mir nur in den Stunden, da der Amtsmann noch schlief, das heißt vom frühen Morgen an bis zum Schluss des Mittagsgottesdienstes. Es war ein aufgeweckter Junge, daher lernte er recht bald einigermaßen ordentlich schreiben.

Als der Amtsmann bemerkte, dass er schreiben konnte, fragte er ihn:

"Wer hat dich das gelehrt?"

"Ein Pilger", sagte der Junge, "der einen Arm nicht gebrauchen kann und bei uns in der Badehütte wohnt."

Der neugierige Amtsmann, ein Pole übrigens, erschien, um einen Blick auf mich zu werfen, und traf mich, als ich gerade in der "Tugendliebe" las. Wir kamen ins Gespräch und er fragte:

"Was liest du da?"

Ich zeigte ihm das Buch.

"Ah!" rief er, "das ist die ,Tugendliebe'! Ich habe dieses Buch bei unserm Priester gesehen, als ich noch in Wilna lebte; man hat mir aber gesagt, dass es allerhand seltsamen Hokuspokus enthalte und Kniffe, wie man beten müsse; griechische Mönche haben es geschrieben, ähnliche Fanatiker, wie es in Indien und Buchara gibt, die dasitzen und sich aufblasen, um einen Kitzel im Herzen zu verspüren; in ihrer Einfalt halten sie dann dieses natürliche Gefühl für ein Gebet, das Gott ihnen verliehen habe. Man muss ganz einfach beten, mit dem Bestreben, seine Pflicht vor Gott zu erfüllen! Man steht am Morgen auf, spricht ein Vaterunser, wie Christus es uns gelehrt hat, und dann ist alles für den ganzen Tag in Ordnung - man braucht nicht ununterbrochen immer ein und dasselbe herunterzuleiern; auf solche Weise könnte man wohl um den Verstand kommen, ja, und auch für das Herz ist so etwas schädlich."

"Denkt nicht also von diesem heiligen Buch, Väterehen! Es waren nicht einfache griechische Mönche, die es geschrieben haben, sondern große und sehr heilige Männer des Altertums, die auch eure Kirche verehrt, wie Antonius der Große, Makarius der Große (oder der Ägypter 300-390), Markus der Glaubensheld (der Eremit 4.-5. Jahhundert), Johannes Chrysostomus (354-407) und andere mehr. Und was die indischen und bucharischen Mönche anbelangt, so haben diese von jenen Großen die Methode des innern Herzensgebetes wohl übernommen, indessen verdorben und verfälscht, wie mir dies mein Starez erklärt hat. In der ,Tugendliebe' aber sind alle Unterweisungen im Herzensgebet aus dem Wort Gottes, der Heiligen Schrift, geschöpft, woselbst ja auch Jesus Christus, der uns das Vaterunser beten hieß, das unablässige Beten im Herzen gebietet, wenn er sagt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Gemüte (Mt 22, 37), wachet und betet (Mt 13, 33), bleibt in mir und ich bleibe in euch (Joh 15, 4). Die heiligen Väter aber, indem sie das Zeugnis des heiligen Königs David aus dem Psalter anführen: Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist?!, deuten dieses Wort in der Weise, dass ein jeder Christ mit allen Mitteln die Süßigkeit im Gebet suchen und erlangen müsse; er soll auch darin unablässig Trost suchen und nicht nur einmal am Tage ein Vaterunser beten. Ich will Euch vorlesen, wie diese heiligen Väter diejenigen tadeln, so nicht darnach streben, das beseligende Herzensgebet zu erlangen und zu erlernen. Sie schreiben: Diese sündigen darin, dass sie erstens den von Gott eingegebenen Schriften widersprechen; zweitens den höchsten und vollkommensten Zustand der Seele gar nicht wünschen, sondern sich mit äußerlichen Tugendwerken begnügen, keinen Hunger und keinen Durst nach der Wahrheit kennen und darum auch der Glückseligkeit und der Freuden im Herrn verlustig gehen; drittens darin, dass sie, sofern sie bloß auf Grund äußerer Tugendwerke über sich nachdenken, nicht selten geistigen Versuchungen und dem Hochmut verfallen und dadurch Schaden nehmen."

"Das alles ist für unsereinen zu hoch", sagte der Amtsmann. "Was sollen wir Laien mit solchen Auslegungen anfangen !"

"So will ich Euch etwas Einfacheres vorlesen, nämlich wie auch gute, weltlich gesinnte Menschen das unablässige Gebet erlangen können." Ich schlug in der "Tugendliebe "das Kapitel auf, darin Symeon der Neue Theologe von dem Jüngling Georgios berichtet, und begann zu lesen.

Das gefiel dem Amtsmann und er sagte: "Gib mir das Buch, damit ich in meinen Mußestunden etwas darin blättere."

"Für einen Tag will ich es Euch wohl überlassen, länger jedoch kann ich es nicht entbehren, denn ich lese täglich darin und kann ohne dieses Buch gar nicht mehr leben."

"So schreib mir doch wenigstens ab, was du mir vorgelesen hast, ich will dich dafür bezahlen."

"Ihr braucht mir dafür gar nichts zu bezahlen; ich werde es mit Liebe abschreiben, wenn nur Gott in Euch den Eifer zum Gebet weckt."

Und so machte ich mich denn unverzüglich und voller Freude daran, den vorgelesenen Abschnitt abzuschreiben. Der Amtsmann las ihn seiner Frau vor, und er gefiel beiden sehr gut. So kam es, dass sie mitunter nach mir schickten. Ich ging dann mit meiner "Tugendliebe" hin und las ihnen vor, während sie beim Tee saßen und lauschten.

Eines Tages behielten sie mich zum Mittagessen. Des Amtsmanns Gattin, eine alte gütige Frau, saß auch am Tisch und aß gerade einen gebackenen Fisch. Dabei verschluckte sie aus Unachtsamkeit eine Gräte. Wir taten, was wir konnten, um ihr zu helfen, doch umsonst; sie hatte starke Schmerzen im Hals, und zwei Stunden später legte sie sich zu Bett. Man schickte dreißig Werst weit nach einem Heilgehilfen; ich aber, betrübt über den Vorfall, ging erst am späten Abend nach Hause.

Da hörte ich nachts, während ich in leichtem Schlaf lag, die Stimme meines Starez, ohne jedoch irgend jemanden zu sehen; diese Stimme sprach zu mir: "Siehe, dich hat dein Hauswirt geheilt, und warum hilfst du nicht der Amtsmanns Frau ? Gott hat uns doch geboten, unserem Nächsten hilfreich beizustehen."

"Ich wollte ihr ja mit Freuden helfen, wenn ich nur wüsste wie. Aber ich kenne gar kein Heilmittel."

"Höre, was du tun kannst: sie hat ihr Lebtag einen großen Widerwillen gegen Baumöl gehabt, so sehr, dass sie es nicht nur niemals verwendet, sondern selbst den Geruch nicht vertragen kann, weil ihr übel davon wird. Lass sie daher einen Löffel Baumöl trinken; sie wird sich erbrechen müssen, die Gräte wird dadurch herausgestoßen, das Öl aber über die Wunde, die die Gräte im Hals aufgerissen hat, sich ergießen und sie heilen."

"Doch wie soll ich ihr das Öl einflößen, da sie einen so großen Widerwillen dagegen hat? Sie wird es gewiss nicht trinken wollen."

"Du sollst dem Amtsmann sagen, dass er ihren Kopf hält, während du es ihr, und wäre es auch mit Gewalt, in den Mund gießt."

Als ich aus dem Schlaf erwachte, ging ich sofort zu dem Amtsmann und erzählte ihm alles ausführlich. Er sagte: "Was könnte jetzt wohl dein Öl noch helfen, sie röchelt ja schon und redet irre; auch ist der Hals ganz geschwollen. Doch können wir es ja versuchen; Öl ist ein unschädliches Mittel, wenn es auch kaum helfen wird."

Er goss etwas Baumöl in ein kleines Glas, und wir nötigten sie, es hinunterzuschlucken, so gut es ging. Sofort stellte sich heftiger Brechreiz ein, und bald darauf spie sie die Gräte mit blutigem Auswurf heraus. Nun fühlte sie sich erleichtert und fiel in tiefen Schlaf.

Am Morgen kam ich noch einmal, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen; da sah ich sie schon ganz gesund am Teetisch sitzen. Sie und ihr Mann konnten sich nicht genug über die Heilung wundern, noch mehr aber darüber, dass ich im Traum erfahren hatte, welchen Widerwillen sie gegen Baumöl hatte, denn außer ihnen beiden wusste niemand davon. Inzwischen traf auch der Heilgehilfe ein; die Amtsmannsfrau erzählte, was ihr widerfahren war; ich dagegen berichtete, wie der Bauer meine Beine geheilt hatte. Der Heilgehilfe hörte uns an und sagte dann:

"Mich dünkt weder der eine noch der andere Fall erstaunlich; denn in beiden Fällen hat die Kraft der Natur aus sich selbst heraus gewirkt. Immerhin will ich mir diese Mittel aufnotieren." Er zog einen Bleistift hervor und schrieb sie in sein Notizbuch ein.

Bald darnach verbreitete sich in der ganzen Umgegend das Gerücht, ich wäre ein Wahrsager, ein Arzt und Zauberer, und so kamen die Leute von überallher mit den verschiedensten Anliegen und Fällen, brachten Geschenke und bezeugten mir viel Ehre. Eine Woche sah ich mir das an, dann aber fürchtete ich, in Hoffart zu verfallen und mir durch solche Zerstreuung Schaden zuzufügen; und so schlich ich mich denn eines Nachts heimlich davon.

Wieder schritt ich auf meinen einsamen Wegen dahin und fühlte in mir eine solche Leichtigkeit, als wäre mir ein ganzer Berg von den Schultern gefallen. Das Gebet tröstete mich immer mehr und mehr, so dass mein Herz mitunter in grenzenloser Liebe zu Jesus Christus aufwallte, und es war dann, als gingen von diesen süßen Wallungen beruhigende Ströme durch alle meine Glieder. Die Gedanken an Jesus Christus prägten sich in meinem Geist so tief ein, dass ich, wenn ich an die Begebenheiten in den Evangelien dachte, diese gleichsam wirklich vor Augen sah, darob in Rührung geriet und Tränen der Freude vergoss ; zuweilen verspürte ich im Herzen eine solche Seligkeit, wie ich sie gar nicht zu schildern vermag. Es kam mitunter vor, dass ich drei Tage lang keiner menschlichen Wohnstätte nahte und in der Verzückung zu fühlen glaubte, ich wäre ganz allein auf der Welt, ich, der elende Sünder, allein vor dem Antlitz des gnädigen, menschenfreundlichen Gottes. Solche Einsamkeit tröstete mich, und die Süßigkeit des Gebets wirkte dann viel mächtiger, als wenn ich unter vielen Menschen war.

Endlich kam ich in Irkutsk an. Ich bezeugte den Reliquien des heiligen Innozenz andächtige Verehrung und begann dann bei mir zu überlegen, wohin ich nun wohl meine Schritte wenden sollte, denn ich wollte mich nicht lange in dieser Stadt, die sehr bevölkert war, aufhalten. Wie ich so in Nachdenken versunken durch die Straßen ging, traf ich einen Kaufmann vom Ort; der hielt mich an und fragte:

"Bist du ein Pilger? Willst du nicht zu mir kommen?" Wir gingen in sein reiches Haus, und er erkundigte sich, wer ich sei, worauf ich ihm von meiner Pilgerreise erzählte. Nachdem er mich angehört hatte, sprach er:

"Du solltest ins Alte Jerusalem pilgern. Dort ist das Heiligtum, das seinesgleichen nicht hat."

"Mit Freuden würde ich hinpilgern", erwiderte ich. "Doch auf dem Landweg kann man ja nicht dahin gelangen; bis zum Meer würde ich schon kommen, indes für die Überfahrt habe ich kein Geld - man braucht aber recht viel Geld dazu."

"Willst du", sagte der Kaufmann, "dann stelle ich dir die nötigen Mittel zur Verfügung; schon vergangenes Jahr habe ich einem alten Mann, einem hiesigen Kleinbürger, dorthin verholfen."

Vor Glück fiel ich ihm zu Füßen. Er sagte darauf: "Hör mich an, ich gebe dir einen Brief an meinen Sohn, der in Odessa lebt und mit Konstantinopel Handelsgeschäfte betreibt; er hat Schiffe, die hinüberfahren, und er wird dich mit Freuden nach Konstantinopel bringen; dort gibt er dann seinen Angestellten Auftrag, dir einen Platz in einem Schiff nach Jerusalem zu verschaffen; er wird dir auch das Geld dazu geben. Das kostet ja nicht soviel."

Als ich dies hörte, war ich hochbeglückt; ich dankte meinem Wohltäter für seine Güte von ganzem Herzen, doch dankte ich Gott noch mehr dafür, dass Er Seine väterliche Liebe und Sorge mir, dem verruchten Sünder, schenkte, der ich doch weder mir selber noch andern Gutes tat, vielmehr im Müßiggang vom Brot fremder Leute lebe. So verbrachte ich denn drei Tage bei diesem gütigen Kaufmann als sein Gast. Seinem Versprechen gemäß schrieb er den Brief an seinen Sohn, und nun bin ich unterwegs nach Odessa und habe die Absicht, bis zur heiligen Stadt Jerusalem zu pilgern; doch weiß ich nicht, ob es der Herr geschehen lassen wird, dass ich mich vor seinem lebenspendenden Grabe verneigen darf.

DRITTE ERZÄHLUNG: Geschichtliches über den Pilger

Bevor ich Irkutsk verließ, begab ich mich noch einmal zu dem geistlichen Vater, mit dem ich mich zu unterreden pflegte, und sagte: "Da bin ich nun im Begriff, meine Wanderschaft nach Jerusalem anzutreten, und komme, um mich zu verabschieden und Euch für die christliche Liebe, die Ihr mir unwürdigem Pilger erwiesen habt, zu danken." Er aber sprach:

"Gott segne deinen Weg. Doch warum hast du mir nie etwas von dir selbst erzählt, wer du bist und woher du kommst? Über deine Wanderungen habe ich von dir wohl sehr vieles gehört; nun würde ich aber auch gerne etwas über deine Herkunft und dein Leben vor deiner Pilgerschaft erfahren."

"Gerne", sagte ich, "ich will Euch mit Vergnügen davon erzählen: Das ist keine lange Geschichte."

Ich bin in einem Dorf des Gouvernements Orel geboren. Nach dem Tod meiner Eltern blieben mein älterer Bruder und ich zurück. Er war damals zehn Jahre alt, und ich stand im dritten Jahr. Unser Großvater nahm uns zu sich in Pflege; das war ein vermögender alter Mann; er führte eine Herberge an der Landstraße, und da er seiner Güte wegen bekannt war, stiegen viele Reisende bei ihm ab. Wir lebten also bei ihm; mein Bruder war ein sehr lebhaft er Junge und trieb sich viel im Dorf herum, während ich mich lieber in der Nähe des Großvaters aufhielt. An Sonn- und Feiertagen gingen wir mit ihm zur Kirche, daheim aber pflegte er uns häufig aus der Bibel vorzulesen, eben aus der, die ich da habe. Mein Bruder wuchs heran und wurde immer unsteter; und schließlich gewöhnte er sich das Trinken an. Ich zählte damals bereits sieben Jahre; da schlief ich einmal neben meinem Bruder auf dem Ofen, als er mich plötzlich hinunterstieß, so dass ich mir den linken Arm verletzte. Seit jener Zeit kann ich den Arm nicht mehr gebrauchen, er ist ganz verdorrt.

Da der Großvater sah, dass ich für die Feldarbeiten nicht taugte, lehrte er mich lesen. Wir hatten aber keine Fibel, und so brachte er mir das Lesen nach dieser Bibel hier irgendwie bei: er lehrte mich das Abc, ließ mich silbenweise die Wörter zusammensetzen und mir die Buchstaben merken. So weiß ich selbst nicht, wie ich eigentlich, ihm nachsprechend, im Laufe der Zeit das Lesen erlernte. Als dann schließlich Großvaters Augen schwach wurden, ließ er mich öfters aus der Bibel vorlesen, und er hörte zu und verbesserte mich. Bei uns verkehrte häufig der Landgerichtsschreiber, der ganz wunderbar schreiben konnte; ich schaute ihm manchmal zu und es gefiel mir, wie er schrieb. Seinem Beispiel folgend, fing ich nun an, einzelne Wörter nachzumalen, und er zeigte mir, wie das gemacht wird; er gab mir auch Papier und Tinte und schnitt mir den Federkiel zurecht. Auf diese Weise lernte ich allmählich auch schreiben. Der Großvater freute sich sehr darüber und ermahnte mich: "Gott hat dich nun des Lesens und Schreibens kundig gemacht, du wirst somit ein Mensch sein, darum danke Gott dafür und bete recht fleißig zu Ihm." Wir besuchten jeden Gottesdienst in der Kirche und beteten auch zu Hause sehr häufig; dabei musste ich immer das "Gott, erbarme Dich meiner" sprechen, während Großvater und Großmutter tiefe Verneigungen machten oder andächtig knieten. So hatte ich schließlich das siebzehnte Jahr erreicht, als Großmutter plötzlich starb. Da sagte der Großvater zu mir:

"Nun haben wir keine Wirtin mehr im Haus; was soll aus uns werden ohne eine Frau? Dein älterer Bruder ist ein Taugenichts geworden, so will ich wenigstens dich verheiraten. "

Ich sträubte mich gegen seinen Plan, wies auf meinen verkrüppelten Arm hin, aber Großvater beharrte auf seinem Willen, und somit wurde ich verheiratet. Man wählte mir zur Frau ein ruhiges braves Mädchen von zwanzig Jahren. Es verging ein Jahr, da wurde Großvater todkrank. Er rief mich zu sich, nahm Abschied von mir und sagte: "Ich übergebe dir mein Haus und die ganze Erbschaft; lebe nach deinem Gewissen, betrüge niemanden und bete vor allem zu Gott, denn alles kommt von Ihm. Verlass dich auf niemanden als auf Gott; geh fleißig zur Kirche, lies die Bibel und gedenke meiner und der alten Großmutter in deinen Gebeten. Da hast du tausend Rubel Bargeld, geh vorsichtig damit um, gib es nicht unnütz aus, sei aber auch nicht geizig; lass deine Hand stets offen sein für Bettler und für die Kirchen Gottes."

Also starb er, und ich trug ihn zu Grabe. Mein Bruder wurde neidisch, als er erfuhr, dass Hof und Habe mir allein zufallen sollten; er zürnte mir, und der Böse Feind brachte ihn zuletzt so weit, dass er darnach trachtete, mich zu töten. Schließlich tat er folgendes: eines Nachts, als wir schliefen und keine Reisenden in der Herberge waren, brach er die Kammer auf, darin das Geld verwahrt war, holte es aus dem Koffer und steckte die Kammer in Brand. Wir bemerkten das Unglück erst, als die Hütte und der ganze Hof bereits in Flammen standen; mit Mühe sprangen wir zum Fenster hinaus und retteten so unser nacktes Leben.

Nur die Bibel, die uns immer zu Häupten lag, konnten wir gerade noch ergreifen und mit uns nehmen. Und während wir zusahen, wie unser Haus niederbrannte, sagten wir zueinander: "Gott sei Dank, dass wenigstens die Bibel gerettet ist, so haben wir das, was uns in unserm Leid trösten kann." Auf diese Weise war unsere ganze Habe verbrannt; mein Bruder aber war von diesem Tag an spurlos verschwunden. Erst viel später, als er sich schon ganz dem Trunk ergeben hatte und prahlerische Reden führte, erfuhren wir, dass er das Geld geraubt und den Hof angesteckt hatte.

So waren wir denn nackt und obdachlos geworden, richtige Bettler. Es gelang uns, da und dort etwas Geld zu borgen und schließlich wieder eine kleine Hütte zu errichten; darin lebten wir als arme Leute. Meine Frau war eine Meisterin in allerlei Handarbeiten; sie webte, spann und nähte, verschaffte sich bei den Leuten Arbeit und mühte sich Tag und Nacht ab, um sich und mich durchzubringen, denn mit meinem verkrüppelten Arm konnte ich nicht einmal Bastschuhe flechten. Auf diese Weise kam es wohl öfters vor, dass ich neben ihr saß und ihr aus der Bibel vorlas, während sie webte und spann; sie hörte mir zu, und zuweilen fing sie an zu weinen. Wenn ich sie dann fragte: "Weshalb weinst du denn? Wir sind ja Gott sei Dank am Leben geblieben", dann antwortete sie: "Ich bin so gerührt über das, was in der Bibel steht, alles ist darin so wunderbar gesagt."

Wir vergaßen auch die Ermahnungen unseres Großvaters nicht, sondern fasteten häufig und lasen jeden Morgen den Lobgesang auf die Mutter Gottes (Hymnos Aáthistos); gegen Abend aber machten wir wohl an die tausend tiefe Verbeugungen, um nicht der Versuchung zu verfallen. So führten wir zwei Jahre lang ein ruhiges Leben. Dabei erscheint mir heute eines wunderbar: obwohl wir vom innern Gebet, das im Herzen dargebracht wird, nicht die geringste Vorstellung besaßen und auch nie etwas darüber vernommen hatten, sondern einfach mit der Zunge beteten und uns recht unvernünftig den Andachtsverbeugungen hingaben, ja das Niederfallen auf die Knie zumeist ganz töricht ausführten, so war doch die Lust zum Gebet in uns gegenwärtig, und ein langes, äußerliches und unverstandenes Beten fiel uns nicht schwer, vielmehr verrichteten wir es mit Freuden. Es scheint somit doch wahr zu sein, was mir einmal ein Lehrer sagte: es gäbe ein geheimes Gebet im Menschen, von dem er selber gar keine Ahnung habe, das aber unbewusst von der Seele verrichtet werde und einen jeden zum Flehen anrege, so gut er es eben verstehe.

Nachdem wir zwei Jahre so miteinander gelebt hatten, erkrankte plötzlich meine Frau an hitzigem Fieber und starb am neunten Tag, versehen mit den heiligen Sakramenten. Nun war ich mutterseelenallein und dazu noch unfähig, etwas zu arbeiten; so hätte ich denn als Bettler umherziehen müssen, indessen schämte ich mich, um Almosen zu bitten; außerdem überkam mich von Zeit zu Zeit solch große Sehnsucht nach meiner Frau, dass ich nicht wusste, wohin mit mir. Wenn ich in meine Hütte trat und ihre Kleider hängen sah oder irgendein Tüchelchen von ihr, da kam es wohl vor, dass ich aufschluchzte und außer mir vor Schmerz hinsank. So wurde es mir unmöglich, noch länger in diesem Haus zu leben, denn ich vermochte meinen Gram nicht mehr zu ertragen. Daher verkaufte ich meine Hütte für zwanzig Rubel und verschenkte unter die Armen, was an Kleidern von meiner Frau und mir da war. Als Krüppel bekam ich einen fristenlosen Pass, und so nahm ich denn unverzüglich meine Bibel und zog aufs Geratewohl, dem Blick meiner Augen folgend, in die weite Welt.

Als ich auf die Landstraße hinaustrat, fragte ich mich: Wohin soll ich wohl gehen? Ich will vielleicht zuerst einmal nach Kijew pilgern und mich vor Gottes Heiligen ehrfurchtsvoll und andächtig verneigen und sie um ihren Beistand in meinem Kummer anrufen. Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, da wurde mir leichter zumute und ich kam mit freuderfülltem Herzen nach Kijew. Seither - es sind nun schon dreizehn Jahre - pilgere ich ununterbrochen von Ort zu Ort; viele Kirchen und Klöster habe ich auf meinen Wegen besucht, jetzt aber wandere ich meistens durch Steppen und Felder. Ich weiß nicht, ob mir Gott die Gnade schenken wird, das Heilige Jerusalem zu erreichen. Zeit wäre es wohl schon, dass meine sündigen Gebeine ihr Grab fänden, so es Gottes Wille ist."

"Wie alt bist du denn?" - "Dreiunddreißig Jahre."

"Das Alter Christi" (vgl. Eph 4,13)

VIERTE ERZÄHLUNG: Erfahrungen mit dem Jesusgebet

Gott anzuhangen ist mir Seligkeit,
Auf den Herrn vertrauen meine Rettung (Ps 72, 28)

"Unser Sprichwort ,Der Mensch denkt und Gott lenkt' hat schon recht", sagte ich, als ich abermals meinen geistlichen Vater aufsuchte. "Ich hatte geglaubt, ich würde mich heute bereits auf dem Weg nach der Heiligen Stadt Jerusalem befinden und unbeirrt meinem Ziele zuschreiten; nun ist aber alles anders gekommen; etwas ganz Unvorhergesehenes kam dazwischen und hält mich drei weitere Tage hier zurück. So konnte ich denn nicht anders, als noch einmal zu Euch zu kommen, um Euch dies mitzuteilen und mir Euren Rat zu erbitten, wie ich in diesem Fall wohl handeln soll. Folgendes ist geschehen:

Nachdem ich mich von allen verabschiedet hatte, trat ich mit Gottes Hilfe meine Wallfahrt an. Eben wollte ich die Stadtgrenze überschreiten, als ich vor dem Tor des letzten Hauses einen bekannten Mann stehen sah, der einst ein Pilger gewesen war, wie ich einer bin, und den ich drei Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Wir begrüßten uns, und er fragte mich, wohin ich ginge. Ich antwortete:

,Ich möchte nach dem Alten Jerusalem pilgern, so Gott es zulässt.'

,Gelobt sei der Herr!' rief er aus, ,da wüsste ich dir einen guten Weggenossen.'

,Gott sei mit dir und mit ihm', erwiderte ich. ,Weißt du denn nicht, dass es meine Eigenart ist, nie mit andern Gefährten zu pilgern? Ich bin gewohnt, stets allein zu wandern.'

,Ja hör mich doch erst einmal an; ich weiß, dieser Gefährte ist gerade der rechte Mann für dich: wie er mit dir, so wirst du es mit ihm gut haben. Siehst du, der Vater des Hauseigentümers hier, bei dem ich mich als Arbeiter verdingt habe, möchte, um sein Gelübde zu erfüllen, ebenfalls nach dem Alten Jerusalem pilgern; du wirst mit ihm bestimmt gut fahren. Es ist ein hiesiger Kleinbürger, ein braver alter Mann, dazu vollkommen taub; du magst schreien, so laut du willst, er hört nichts; will man ihn etwas fragen, so muss man es ihm auf einen Zettel schreiben, und dann antwortet er; deshalb wird er dir auf dem Weg gar nicht lästig sein, denn er wird nicht mit dir reden, schweigt er doch auch zu Hause meistens; du dagegen wirst ihm auf dem Weg unentbehrlich sein. Der Sohn gibt ihm Pferd und Wagen bis Odessa mit, damit er sie dann dort verkaufe. Obzwar der Alte zu Fuß pilgern möchte, soll das Pferd sein Gepäck sowie einige Stiftungen für das Heilige Grab im Wagen mitführen; da kannst du ja auch deinen Beutel darauflegen. Überleg dir's nun ! Bedenke auch, wie dürfte man einen alten tauben Mann ganz allein mit einem Pferd auf eine so weite Reise gehen lassen? Wir haben sehr lange nach einem Begleiter gesucht, doch alle verlangen zu hohen Lohn; außerdem ist es gefährlich, ihn mit einem vollständig fremden Menschen ziehen zu lassen, führt er ja Geld und Gaben mit sich. Schlag ein, Bruder ! Sicher wird alles gut gehen; entschließe dich zur Ehre Gottes und aus Liebe zu deinem Nächsten! Ich will mich indessen bei meinen Wirtsleuten für dich verbürgen; sie werden sich über eine solche Fügung unsagbar freuen; es sind gute Leute, und sie haben mich recht gern; ich arbeite bereits zwei Jahre bei ihnen.'

Nachdem wir also alles vor dem Tor besprochen hatten, führte er mich ins Haus, zu dem Besitzer; und da ich sah, dass es wohl eine rechtschaffene Familie war, nahm ich den Vorschlag an. Nun haben wir beschlossen, am dritten Weihnachtstag, so Gott uns Seinen Segen gibt, nach der göttlichen Liturgie unsere Wallfahrt anzutreten.

Da sieht man, welch unerwartete Dinge uns auf dem Lebensweg begegnen können! Aber Gott in Seiner heiligen Vorsehung lenkt ja alle unsere Handlungen und Absichten, wie auch geschrieben steht: Gott ist es, der in euch beides wirkt, das Wollen und das Vollbringen (Phil 2,13)."

Als mein geistlicher Vater mich angehört hatte, sagte er:

"Es freut mich herzlich, geliebter Bruder, dass Gott mich auf so unerwartete Weise nach so kurzer Zeit mit dir noch einmal zusammengeführt hat. Und da du nun frei bist, möchte ich dich sehr gerne etwas länger bei mir behalten, damit du mir noch mehr von deinen erbaulichen Begegnungen auf der langen Pilgerschaft berichten kannst; ich habe auch allen deinen früheren Erzählungen aufmerksam und mit großem Vergnügen gelauscht."

"Dazu bin ich mit Freuden bereit", erwiderte ich und fing gleich an zu erzählen.

Gar mancherlei ist mir im Leben zugestoßen, Gutes wie Schlimmes; nicht alles lässt sich in Kürze wiedergeben; vieles ist dem Gedächtnis auch schon entschwunden, denn ich war bemüht, vor allem das zu behalten, was meine träge Seele zum Gebet führen und anregen könnte; an das übrige habe ich selten zurückgedacht oder besser gesagt - ich war bestrebt, das Vergangene zu vergessen, gemäß den Lehren des heiligen Apostels Paulus: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strebe nach dem, was vor mir liegt (Phil 3,13). Auch mein seliger Starez pflegte zu sagen, dass die Widerstände gegen das Herzensgebet von zwei Seiten kommen: von der rechten und von der linken; das heißt, gelingt es dem Bösen Feind nicht, die Seele durch eitle Gedanken und sündige Vorstellungen vom Gebet abzulenken, so lässt er im Gedächtnis erbauliche Erinnerungen erstehen, oder er flößt uns herrliche Gedanken ein, um uns wenn möglich auf solche Art vom Gebet, das ihm unerträglich ist, abzuhalten. Dies wird ein Diebstahl zur Rechten genannt. Dabei wendet sich die Seele, da sie die Unterredung mit Gott missachtet, höchst angenehmen Zwiegesprächen mit sich selbst oder mit den Geschöpfen zu. Darum lehrte der Starez auch, während des Gebets sogar den schönsten, geistigsten Gedanken von sich zu stoßen; ja er sagte, wenn man nach Ablauf des Tages erkenne, dass man die Zeit mehr mit erbaulichen Betrachtungen und Gesprächen, als mit dem reinen, verborgenen Herzensgebet zugebracht habe, so solle man dies für Maßlosigkeit oder für ehrsüchtige geistige Gier halten, was besonders von Anfängern gilt, für die es unerlässlich ist, dass die im Gebet zugebrachte Zeit bei weitem die Zeitdauer, die der Beschäftigung mit andern frommen Dingen eingeräumt wird, übersteige.

Nun ist es ja nicht immer möglich, alles zu vergessen. Manches prägt sich von selbst dem Gedächtnis so tief ein, dass man sich seiner lebhaft erinnert, auch wenn man lange nicht mehr daran gedacht hat. So zum Beispiel erinnere ich mich jetzt an eine ehrwürdige fromme Familie, bei der ich durch Gottes gnädige Fügung einige Tage verbringen durfte.

Während meiner Pilgerschaft durch das Gouvernement Tobolsk führte mich mein Weg eines Tages in eine kleine Kreisstadt. Ich hatte nur noch sehr wenig Brot im Beutel und ging deshalb in ein Haus, um mir welches zu erbitten. Der Hausherr empfing mich mit den Worten:

"Gott sei gedankt, du kommst gerade im rechten Augenblick; meine Frau hat eben das Brot aus dem Ofen genommen; hier, nimm diesen Laib, er ist noch warm, und bete für uns zu Gott."

Ich dankte ihm und wollte eben das Brot in meinen Beutel stecken, als die Hausfrau diesen erblickte und rief: "Was hast du da für einen alten Sack? Er ist ja schon ganz abgenutzt, ich will dir einen andern geben." Und sie schenkte mir einen guten, festen Sack. Ich dankte den lieben Leuten innig und ging weiter. Unterwegs erbat ich mir in einem kleinen Kramladen etwas Salz; und der Händler füllte mir ein Säckchen. Da freute sich meine Seele und ich dankte Gott dafür, dass er mich Unwürdigen an so gütige Menschen gewiesen hatte. Nun kann ich eine ganze Woche lang ohne Sorge um Nahrung leben, dachte ich; ich werde ruhig schlafen und zufrieden sein. Meine Seele, lobe den Herrn !"

Als ich mich etwa fünf Werst von diesem Städtchen entfernt hatte, erblickte ich unweit der Straße ein nicht gerade reiches Dorf mit einer etwas ärmlichen Holzkirche, die jedoch von außen schön verziert und bemalt war. Wie ich mich ihr näherte, verspürte ich den Wunsch, mich vor dem Tempel Gottes zu verneigen; ich trat daher vor den Kircheneingang und beteten dort. Abseits der Kirche, auf einer kleinen Wiese, spielten zwei Kinder von etwa fünf oder sechs Jahren. Ich vermutete, dass es die Kinder des Dorfgeistlichen seien, obzwar sie sehr gut gekleidet waren. Nachdem ich mein Gebet verrichtet hatte, ging ich wieder weiter. Indessen hatte ich kaum zehn Schritte gemacht, als ich hinter mir rufen hörte:

"Bettlerchen, Bettlerchen, warte doch!"

Das waren die beiden Kleinen, die ich bei der Kirche gesehen hatte - ein Knabe und ein Mädchen. Ich blieb stehen; sie kamen auf mich zugesprungen, fassten mich bei der Hand und baten: "Komm doch mit zu unserm Mütterchen, sie liebt die Bettler sehr !"

"Ich bin kein Bettler", sagte ich, "sondern ein Wandersmann."

"Warum hast du denn einen Sack?" "Da ist mein Brot drin für die Reise."

"Ach komm doch mit, unbedingt! Mütterchen wird dir Geld für die Reise geben."

"Ja wo ist denn euer Mütterchen?" fragte ich.

"Dort hinter der Kirche, nicht weit von jenem Wäldchen."

Sie führten mich in einen wunderschönen Garten, in dessen Mitte ich ein großes Herrschaftshaus erblickte; wir traten geradewegs in die Halle - oh! wie sauber hier alles war und wie prachtvoll eingerichtet! Da kam uns auch schon die Herrin selber entgegengeeilt.

"Sei willkommen! Sei willkommen! Woher hat dich Gott zu uns geschickt? Setz dich, setz dich, mein Teuerster!" Und sie nahm mir selbst den Beutel ab und legte ihn auf den Tisch, mich aber ließ sie auf einem bequemen, weichen Stuhl Platz nehmen.

"Willst du nicht etwas essen? Vielleicht Tee trinken?

Oder hast du sonst einen Wunsch?"

"Ich danke Euch untertänigst", sagte ich. "Ich habe einen ganzen Sack voll Brot, und Tee trinke ich wohl, bin aber nach Bauernart nicht gerade daran gewöhnt. Euer Eifer und Eure liebenswürdige Begrüßung sind mir teurer als jede Bewirtung; ich will zu Gott beten, dass Er Euch segne für Eure evangelische Gastfreundlichkeit mir, dem Fremdling, gegenüber."

Während ich sprach, verspürte ich ein mächtiges Verlangen, mich in mein Innerstes zu versenken. Das Gebet wallte in meinem Herzen auf, und ich sehnte mich nach Ruhe und Zurückgezogenheit, um diese sich von selbst entzündende Gebetsflamme frei auflodern zu lassen, und auch um die äußern Anzeichen des Gebets, wie Tränen, Seufzer, ungewöhnliche Bewegungen des Gesichts und der Lippen zu verbergen.

Darum erhob ich mich und sagte:

"Ich bitte Euch um Verzeihung, Mütterchen, aber ich muss nun gehen. Jesus Christus sei mit Euch und Euren lieben Kinderchen !"

"Ach nein, Gott verhüte, dass du schon wieder weiterziehest ! Ich lasse dich nicht gehen! Siehst du, gegen Abend wird mein Mann aus der Stadt zurückkommen; er ist dort Wahlrichter beim Kreisgericht. Wie wird er sich freuen, wenn er dich hier findet! Er sieht in jedem Pilger einen Boten Gottes. Wenn du aber weggehst, wird er sehr betrübt sein, dich nicht gesehen zu haben; zudem ist morgen Sonntag, da könntest du ja mit uns zum Gottesdienst gehen und beten; hernach aber würden wir gemeinsam speisen, was Gott uns beschert. Wir haben an Feiertagen gewöhnlich viele Gäste, an die dreißig Bettler - Christi barmherzige Brüder. Überdies hast du mir ja noch nichts von dir erzählt - woher du kommst, wohin du gehst. Erzähl mir doch etwas; ich liebe es so sehr, geistlichen Gesprächen gottwohlgefälliger Menschen zu lauschen. - Kinder! Kinder! Nehmt des Pilgers Beutelchen und tragt es in das Ikonenzimmer ; er wird dort übernachten!"

Als ich solche Worte von ihr vernahm, wunderte ich mich und dachte:

Rede ich eigentlich mit einem menschlichen Wesen oder mit einer Erscheinung?

Ich blieb also da, um auf den Hausherrn zu warten, und berichtete inzwischen der Hausherrin in Kürze von meinen Pilgerfahrten; ich sagte ihr auch, dass ich mich jetzt auf dem Weg nach Irkutsk befinde.

"Das trifft sich ja wunderbar !" rief sie aus. "Dann musst du unbedingt über Tobolsk gehen; dort lebt meine Mutter als Nonne in einem Kloster - sie ist jetzt Eremitin. Wir geben dir einen Brief an sie mit, und sie wird dich empfangen. Es pflegen immer viele Leute zu ihr zu gehen, um sich bei ihr geistlichen Rat zu holen. Übrigens könntest du ihr ein Buch des Johannes Klimakus (526-616) überbringen, das wir auf ihren Wunsch für sie aus Moskau bestellt haben. Wie fügt sich doch alles so schön !"

Inzwischen war es Mittagszeit geworden und wir setzten uns zu Tisch. Es kamen noch vier Damen, die gleichfalls mit uns speisten. Nach dem ersten Gang stand eine von ihnen auf, verneigte sich andächtig vor dem Heiligenbild, dann vor uns, ging hinaus, brachte das zweite Gericht und setzte sich wieder an den Tisch; darauf erhob sich eine andere und holte das dritte Gericht. Als ich solches sah, bemerkte ich zur Herrin des Hauses:

"Darf ich wohl wagen, Mütterchen, Euch zu fragen, ob diese Damen Eure Verwandten sind?"

"Jawohl, es sind meine Schwestern: diese ist die Köchin, das die Kutschersfrau, jene dort die Beschließerin und diese hier ist meine Kammerdienerin; sie sind alle verheiratet; ich habe in meinem Haushalt überhaupt keine unverheirateten Mädchen."

Da ich dies alles sah und hörte, geriet ich noch mehr in Erstaunen und dankte Gott, der mich zu so frommen Menschen geleitet hatte. Nun spürte ich wieder, wie das Gebet in der Tiefe des Herzens zu wirken begann, und um es nicht zu verdrängen, sondern mich baldmöglichst an einen stillen Ort zurückziehen zu können, erhob ich mich vom Tisch und sagte zur Herrin:

"Ihr solltet nach dem Essen ein wenig ruhen, ich aber, da ich gewohnt bin zu wandern, will mich etwas im Garten ergehen."

"Ach nein !" sagte sie, "ich pflege niemals zu ruhen; ich werde mit dir in den Garten gehen, und du kannst mir dann etwas Erbauliches erzählen. Wenn du allein gingst, würden dir die Kinder keine Ruhe lassen, sie würden keinen Augenblick von dir weichen, so sehr lieben sie die Bettler, Christi Brüder, und überhaupt alle Pilgersleute."

Da war also nichts zu machen, und so gingen wir zusammen in den Garten. Um mich aber dem Schweigen hingeben zu können, ohne unhöflich zu erscheinen, verneigte ich mich vor der Herrin und sagte:

"Ich bitte Euch, Mütterchen, im Namen Gottes, sagt mir, ob Ihr schon lange ein so gottgefälliges Leben führt und auf welche Weise Ihr solche Frömmigkeit erlangt habt?"

"Das will ich dir gerne erzählen. Siehst du, meine Mutter ist die Urenkelin des heiligen Josaphat (von Bielgorod 1705-1754), dessen Gebeine in Bjelgorod ruhen. Wir hatten früher ein großes Haus in der Stadt; einen Seitenflügel davon bewohnte ein armer Edelmann, der starb eines Tages; seine Frau blieb schwanger zurück, gebar einen Sohn und starb dann bald nach der Geburt ebenfalls. Also war das Neugeborene ein armes Waisenkind, und da nahm es mein Mütterchen aus Mitleid zu sich; ein Jahr darauf kam ich zur Welt; somit wuchsen wir Kinder gemeinsam auf, hatten bei den gleichen Lehrern und Lehrerinnen unsern Unterricht und gewöhnten uns schließlich so sehr aneinander, dass wir wie Bruder und Schwester waren. Nach einiger Zeit starb mein Vater. Da verließ Mütterchen die Stadt und zog mit uns in dieses Dorf, das ihr gehörte. Als wir herangewachsen waren, verheiratete mich Mütterchen an ihren Pflegesohn und gab uns dieses Dorf, während sie selbst, nachdem sie sich eine Klause gebaut hatte, ins Kloster ging. Als sie uns den mütterlichen Segen gab, ermahnte sie uns, ein christliches Leben zu führen, fleißig zu Gott zu beten, das vornehmste Gebot Christi zu erfüllen, das heißt, den Nächsten zu lieben, Christi Brüder in aller Schlichtheit und Demut zu speisen und zu unterstützen, unsere Kinder in der Furcht Gottes zu erziehen und unsere Diener so zu behandeln, als wären es unsere Brüder und Schwestern. So leben wir denn schon zehn Jahre hier in unserer Einsamkeit und trachten darnach, das Gebot unserer Mutter nach Kräften zu erfüllen. Wir haben auch ein Heim für Bettler, in dem gegenwärtig mehr als zehn Krüppel und Kranke leben; vielleicht können wir sie morgen besuchen."

Als sie die Erzählung beendet hatte, fragte ich sie: "Wo ist das Buch des Johannes Klimakus, das Ihr Eurer Frau Mutter schicken möchtet?"

"Komm ins Haus, ich will es dir zeigen."

Wir hatten uns eben hingesetzt, um darin etwas zu lesen, da kam der Hausherr. Als er mich sah, umarmte er mich herzlich und wir küssten uns auf christlich-brüderliche Art, worauf er mich in sein Zimmer führte, indem er sagte:

"Komm in mein Arbeitszimmer, geliebter Bruder, und segne meine Zelle. Ich glaube, sie hat dich gelangweilt (dabei wies er auf seine Frau). Sobald sie einen Pilger oder eine Pilgerin sieht, oder auch irgendeinen Kranken, da möchte sie sich am liebsten Tag und Nacht nicht mehr von ihm trennen; das war in ihrer Familie schon von jeher so."

Wir betraten das Arbeitszimmer. Oh, welch eine Menge Bücher gab es da! Was für herrliche Ikonen, das lebenspendende Kreuz und davor das Evangelium ! Ich sprach ein Gebet und wandte mich an den Hausherrn :

"Ihr habt hier ein wahres Gottesparadies, Väterchen: da ist der Herr Jesus Christus selbst, Seine Allerreinste Mutter und Seine Heiligen; das aber - und ich zeigte auf die Bücher- sind ihre göttlichen, lebenspendenden, nimmerverstummenden Worte und Unterweisungen. Ihr unterhaltet Euch gewiss öfter mit ihnen in himmlischen Zwiegesprächen ?"

"Ich gestehe", antwortete er, "dass ich eine Vorliebe für Bücher habe."

"Was für Bücher habt Ihr denn wohl?" fragte ich.

"Ich besitze viele geistliche Bücher", erwiderte der Herr. "Hier ist zum Beispiel ein vollständiges Heiligenleben, dort sind die Werke des Johannes Chrysostomus und Basilius' des Großen (ca. 329-379), dann viele theologische und philosophische Werke und zahlreiche Postillen der neuesten berühmten Prediger. Meine Bibliothek hat fünftausend Rubel gekostet."

"Habt Ihr vielleicht zufällig auch ein Werk über das Gebet? Darüber lese ich immer sehr gerne."

"Hier ist das neueste Buch darüber, das Werk eines Petersburger Priesters."

Er holte eine Auslegung des Vaterunsers, und voller Begeisterung fingen wir gleich an, darin zu lesen. Bald kam auch die Hausherrin zu uns, sie brachte Tee, während die Kleinen ein Körbchen herbeitrugen, ganz aus Silber, das mit trockenen Kuchen gefüllt war, eine Art Gebäck, wie ich es in meinem Leben noch nie gekostet hatte. Der Herr nahm mir das Buch aus der Hand, reichte es seiner Frau und sagte:

"Lassen wir sie lesen, sie liest wundervoll; wir aber wollen uns inzwischen etwas stärken."

Die Herrin begann uns vorzulesen, und wir hörten zu. Während ich so den Worten lauschte, horchte ich zugleich auf das Gebet, das sich in meinem Herzen verrichtete, und je weiter sie las, um so stärker entwickelte es sich in mir und beglückte mich zutiefst. Plötzlich sah ich jemand vor meinen Augen gleichsam durch die Luft huschen; mir schien, als wäre es mein seliger Starez. Ich fuhr zusammen; jedoch um meine Erregung zu verbergen, sagte ich : "Verzeiht, ich habe wohl etwas geschlummert?" In demselben Augenblick war mir, als durchdringe der Geist des Starez meinen Geist und erhelle ihn; ich fühlte Klarheit meinen Verstand durchwalten, und mir kamen viele neue Gedanken über das Gebet. Ich bekreuzigte mich und wollte eben diese Gedanken von mir weisen, als die Herrin das Buch zu Ende gelesen hatte. Nun fragte mich der Hausherr, ob mir dieses Werk gefallen habe, worauf sich zwischen uns ein Gespräch entspann.

"Es gefällt mir sehr", erwiderte ich; "übrigens steht ja des Herrn Gebet, das Vaterunser, höher und ist kostbarer als alle andern aufgezeichneten Gebete, die wir Christen besitzen, denn der Herr Jesus hat es uns selbst gelehrt. Die Auslegung, die wir gehört haben, ist auch sehr gut, wenngleich hier größtenteils auf das tätige Leben des Christen hingewiesen wird, während ich bei den heiligen Vätern vornehmlich eine beschaulich-mystische Deutung des Gebets gelesen habe."

"Bei welchen Vätern hast du das gelesen?"

"Nun, zum Beispiel bei Maxirnus dem Bekenner (ca. 580-662), sodann in der ,Tugendliebe' bei Petrus Damascenus (12. Jahrhundert)." "Vielleicht erinnerst du dich noch an einiges daraus, dann sag es uns."

"Wenn Ihr es wünscht, sehr gerne. - Der Anfang des Gebets: "Vater unser, der Du bist im Himmel" - wird in dem eben vorgelesenen Buch dahin ausgelegt, dass diese Worte eine Mahnung an uns besagen zur brüderlichen Nächstenliebe, denn wir sind alle Kinder eines Vaters. Das ist nun ganz richtig; indessen deuten die heiligen Väter das gleiche tiefer und geistiger, - sie sagen, bei diesem Anruf müssen wir den Geist zum Himmel, zum himmlischen Vater emporheben und uns an unsere Verpflichtung erinnern, uns allzeit in die Gegenwart Gottes zu stellen und vor Gott zu wandeln. Die Worte: "Geheiligt werde Dein Name" sind in diesem Buch dahin erklärt, dass wir mit aller Sorgfalt darnach trachten sollen, den Namen Gottes nicht ohne Andacht auszusprechen und auch nicht falsch zu schwören, - mit einem Wort, man soll den heiligen Namen Gottes nur in heiliger Ehrfurcht nennen und ihn nicht missbrauchen; die mystischen Ausleger aber sehen hierin ganz einfach die Bitte um das verborgene Herzensgebet, das heißt, dass sich der heiligste Namen Gottes zutiefst in unser Herz einpräge und durch das selbsttätige Gebet alle Gefühle und Kräfte der Seele heilige und erleuchte. Die Worte: "Dein Reich komme" deuten die Väter so: Mögen in unser Herz der innere Friede, Ruhe und geistige Freude kommen. In dem Buch wird erklärt, man habe unter den Worten: "Unser tägliches Brot gib uns heute" die Bitte um die tägliche Notwendige des leiblichen Lebens zu verstehen, um nichts Überflüssiges, nur um das, was uns notwendig ist und was wir brauchen, um unserm Nächsten zu helfen. Maximus der Bekenner versteht aber unter dem täglichen Brot das himmlische Brot zur Speisung der Seele, das heißt, das Wort Gottes und die Vereinigung der Seele mit Gott durch das Gedenken Gottes und durch das unablässige innere Herzensgebet !"

"Ach, das innere Gebet ist ein großes Ding, aber fast unerreichbar für uns irdische Menschen !" rief der Hausherr aus. "Wir brauchen schon die ganze Hilfe Gottes, um nur das äußere Gebet ohne Trägheit zu erfüllen."

"Denkt nicht so, Väterchen ! Wenn das wirklich unmöglich oder unüberwindlich schwierig wäre, so hätte es Gott nicht allen geboten. Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig (2 Kor 12, 9). Die an Erfahrung so reichen heiligen Väter weisen uns aber die Mittel an, die uns den Weg zum innern Gebet erleichtern. Natürlich geben sie den Einsiedlern besondere und höhere Mittel an, aber auch dem Weltchristen schreiben sie angenehme und dem Ziel sicher zustrebende Wege zur Erlangung des Herzensgebets vor."

"Ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, etwas Ausführliches darüber zu lesen", sagte der Hausherr.

"Wenn Ihr wünscht, will ich Euch gerne etwas aus der ,Tugendliebe' vorlesen." Ich holte meine "Tugendliebe", schlug dort im dritten Teil auf Seite achtundzwanzig die Unterweisungen des Petrus Damascenus auf und begann folgendes zu lesen:

"Man muss lernen, den Namen Gottes öfter anzurufen als man atmet, zu jeder Zeit, an jedem Ort und bei jeglicher Tat. Der Apostel sagt: "Betet ohne Unterlass", das heißt, man soll Gottes gedenken allezeit, allerorten und bei allem Tun. Was immer du tust, du sollst den Schöpfer aller Dinge im Gedächtnis tragen; wenn du das Licht siehst, erinnere dich an Den, der es dir geschenkt hat; siehst du den Himmel, die Erde, das Meer und was darinnen ist, dann staune und preise Ihn, der alles erschaffen hat; wenn du deinen Körper bekleidest, denke daran, wessen Gabe die Kleider sind und danke Dem, der für dein Leben sorgt. Um es kurz zu sagen: Jede Bewegung soll dir zum Anlass dienen, Gottes zu gedenken und Ihn zu loben; auf diese Weise wirst du ohne Unterlass beten, und deine Seele wird allzeit voll großer Freude sein."

"Seht doch nur, wie bequem dieser Weg zum unablässigen Gebet ist, wie leicht und für jeden zugänglich, der auch nur etwas menschliches Gefühl besitzt." Dieser Abschnitt gefiel den beiden sehr gut. Der Hausherr umarmte mich begeistert, dankte mir, sah sich dann die "Tugendliebe" an und sagte:

"Ich werde mir dieses Buch unbedingt kaufen und will es gleich in Petersburg bestellen; bis dahin aber möchte ich mir die Stelle, die du eben gelesen hast, abschreiben, damit ich sie besser im Gedächtnis behalte. Lies sie noch einmal vorI"

Und während ich den Abschnitt las, schrieb er ihn rasch und sehr schön nieder. Dann rief er:

"Mein Gott ! Ich besitze ja eine Ikone des heiligen Damascenus !" (Das war wahrscheinlich ein Bildnis des Johannes Damascenus [mit dem Ehrennamen der Goldströmende]).

Er öffnete den Rahmen und schob das beschriebene Blatt unter das Glas, befestigte es am untern Rand der Ikone und sagte dann:

"Nun wird das lebendige Wort des gottbegnadeten Mannes unter seinem Bildnis mich allezeit daran erinnern, seinen heilbringenden Rat auch im täglichen Leben zu befolgen."

Hierauf gingen wir zum Abendessen, und wie beim Mittagsmahl saß auch jetzt die ganze Dienerschaft, Männer und Frauen, am Tisch. Nach dem Essen beteten die Erwachsenen und die Kinder lange Zeit; ich wurde aufgefordert, den Lobgesang auf den Süßesten Jesus vorzulesen. Sodann begab sich die Dienerschaft zur Ruhe, und wir blieben zu dritt noch im Zimmer zurück. Da brachte die Herrin ein weißes Hemd und Strümpfe für mich, ich aber, als ich dies sah, verneigte mich sehr tief vor ihr und sagte:

"Die Strümpfe, Mütterchen, will ich nicht annehmen, denn ich habe mein Lebtag keine getragen, unsereins ist ja von Kind auf an Fußlappen gewöhnt."

Hierauf eilte sie wieder hinaus und brachte ein altes Kleid aus feinem gelbem Tuch; dies zerschnitt sie und machte ein paar Fußlappen daraus.

Der Herr aber rief:

"Dem Ärmsten fallen ja auch die Bastschuhe ganz auseinander !" und er brachte mir ein Paar neue, große Schuhe, die er über seinen Stiefeln zu tragen pflegte, und sagte zu mir:

"Geh in jenes Zimmer dort, es ist niemand drin, und wechsle deine Wäsche."

Ich ging, kleidete mich um und kehrte dann zu ihnen zurück. Da setzten sie mich auf einen Stuhl und bekleideten meine Füße: der Hausherr umwickelte sie mit den Fußlappen, während die Herrin mir die Schuhe anzog. Erst wollte ich dies nicht zulassen, aber sie befahlen mir, sitzenzubleiben, indem sie sagten:

"Bleib sitzen und schweig ! Hat nicht Christus seinen Jüngern die Füße gewaschen?"

Da konnte ich nichts anderes tun, als vor Rührung und Dankbarkeit weinen, und sie weinten mit mir.

Darauf zog sich die Herrin in ihre Gemächer zurück, wo sie mit den Kindern schlief, während ich mit dem Hausherrn in den Garten hinaustrat, um dort in einer Laube zu übernachten. Wir konnten lange nicht einschlafen, sondern lagen da und unterhielten uns miteinander. Und hier bedrängte er mich mit Bitten und ließ mir keine Ruhe, indem er sprach:

"Sag mir doch um Gottes willen in aller Wahrheit und nach deinem Gewissen, wer du eigentlich bist? Sicher entstammst du einem vornehmen Geschlecht und gibst dich bloß so bäuerisch einfältig wie ein Gottesnarr ? Du kannst ja lesen und schreiben, auch redest und urteilst du ganz richtig; das wäre bei einer bäuerlichen Erziehung doch nicht möglich !"

"Ich habe Euch und Eurer Gemahlin in aller Wahrheit und mit reinem Herzen über meine Herkunft berichtet und habe nie daran gedacht, die Unwahrheit zu sagen oder Euch zu hintergehen. Weshalb hätte ich das auch tun sollen? Was hingegen meine Rede anbelangt, so kommt sie nicht von mir, sondern ist einfach eine Wiederholung dessen, was ich von meinem verstorbenen und gottweisen Starez gehört und was ich bei aufmerksamem Lesen aus den heiligen Vätern geschöpft habe. Das größte Licht aber verleiht meiner Torheit das innere Gebet, und dieses habe ich nicht aus eigener Kraft erworben, sondern es wurde mir ins Herz gesenkt durch die Gnade Gottes und als Frucht der Unterweisungen meines Seelenführers, des Starez. Und das ist ja jedem Menschen zugänglich, er muss sich nur möglichst still in sein Innerstes vertiefen und möglichst oft den erleuchteten Namen Jesu Christi anrufen; dann wird jeder binnen kurzem das innere Licht verspüren und alles begreifen, ja in diesem Licht sogar manch Geheimnis des Reiches Gottes erschauen. Aber schon das ist ein tiefes, erleuchtendes Geheimnis, wenn der Mensch die Fähigkeit in sich erkennt, sich in sich selbst zu vertiefen, sein Innerstes zu erschauen, an solcher Selbstschau sich zu erquicken und in bußfertiger Ergriffenheit heilsame Tränen über seinen Sündenfall und seinen verderbten Willen zu vergießen. Mit andern Menschen verständig zu reden, ist nicht sehr schwer und durchaus möglich, dieweil Verstand und Herz vor der Gelehrtheit und vor der menschlichen Weisheit da waren. Ist aber der Verstand da, so kann man ihn, durch die Wissenschaft oder durch die Erfahrung schulen; fehlt indessen der Verstand, so wird keine Erziehung nützen. Es handelt sich aber darum: wir stehen uns selbst sehr ferne und haben keinen Wunsch, uns näherzutreten, vielmehr fliehen wir stets vor uns selber, um uns ja nicht zu begegnen; wir tauschen die Wahrheit gegen nichtssagenden Kleinkram ein und denken dabei: wir möchten uns ja gerne mit geistlichen Dingen beschäftigen oder uns dem Gebet hingeben, doch haben wir keine Zeit dazu; die Geschäfte und Sorgen des Alltags lassen uns keine Muße für dieses Tun. Was ist aber wichtiger und notwendiger - das ewige Leben der geretteten Seele oder die rasch dahin fliehenden Tage unseres irdischen Leibes, um welchen wir uns so viel sorgen und plagen? Das ist auch das, wovon ich hier gesprochen habe, und was die Menschen entweder zur Weisheit oder zur Torheit führt."

"Vergib mir, geliebter Bruder; nicht aus Neugier tat ich die Frage, vielmehr aus Wohlwollen und christlicher Anteilnahme; zudem habe ich vor etwa zwei Jahren einen Fall erlebt, der mich zu dieser Frage veranlasst. Ich will ihn dir erzählen:

Eines Tages kam zu uns ein Bettler mit dem Pass eines ausgedienten Soldaten. Er war alt, hinfällig und so arm, dass er fast nackt einherging. Er sprach wenig und so ungeschult, als wäre er ein einfacher Bauer aus der Steppe. Wir nahmen ihn in unser Bettlerheim auf; nach fünf Tagen aber erkrankte er sehr schwer, worauf meine Frau und ich ihn in dieses Gartenhäuschen brachten, ihm freundlich zusprachen und ihn, so gut wir es verstanden, in seiner Krankheit pflegten. Schließlich sahen wir aber, dass es mit ihm zu Ende ging. Wir bereiteten ihn auf den Tod vor, ließen unsern Priester kommen, damit der Kranke beichte und das heilige Abendmahl mit den Sterbesakramenten empfange. Am Tag vor seinem Tod erhob er sich nochmals von seinem Lager, verlangte einen Bogen Papier und eine Feder, bat mich, die Tür zu schließen und niemand einzulassen, bis er ein Testament an seinen Sohn aufgesetzt habe, welches ich nach seinem Tod nach Petersburg schicken sollte. Wie staunte ich aber, als ich sah, dass er nicht nur eine ausgezeichnete und sehr gebildete Handschrift besaß, sondern dass auch der Inhalt seines Schreibens vortrefflich, korrekt und sehr zärtlich war. Ich will dir morgen dieses Testament vorlesen, ich besitze nämlich eine Abschrift davon.

All das versetzte mich in Verwunderung und weckte in mir die Begier, ihn nach seiner Herkunft und nach seinem Leben zu fragen. Nachdem er mich hatte schwören lassen, alles was er mir anvertrauen werde, bis zu seinem Tod geheim zu halten, erzählte er mir zum Ruhm Gottes seine Lebensgeschichte.

,Ich war ein Fürst', sagte er, ,besaß ein großes Vermögen und führte ein glänzendes Leben voll Prunk und Zerstreuungen. Meine Frau starb, und ich lebte mit meinem Sohn zusammen, der ein tüchtiger Hauptmann bei der Garde war. Eines Tages schickte ich mich an, auf den Ball zu einer hochgestellten Persönlichkeit zu fahren; dabei ärgerte ich mich über meinen Kammerdiener, versetzte ihm, da ich meinen Jähzorn nicht bezähmen konnte, einen heftigen Schlag auf den Kopf und befahl, ihn wieder aufs Land zurückzuschicken. Das passierte am Abend, tags darauf aber starb der Kammerdiener an einer Gehirnentzündung. Dieser Vorfall berührte mich jedoch nicht sehr; wohl bedauerte ich meine Unvorsichtigkeit, indessen vergaß ich die Geschichte bald. Sechs Wochen verstrichen, da erschien mein Kammerdiener mir im Traum und beunruhigte mich von nun an Nacht für Nacht, indem er mir Vorwürfe machte. Er wiederholte immerzu die Worte: Gewissenloser, du bist ein Mörder ! - Nach einiger Zeit erschien er mir auch in wachem Zustande, bei hellichtem Tage. Diese Erscheinungen mehrten sich von Tag zu Tag, bis es schließlich dazu kam, dass er mich fast unaufhörlich verfolgte. Dann war es so weit, dass ich außer ihm andere Verstorbene zu sehen begann, Männer, die ich einst schwer beleidigt, und Frauen, die ich verführt hatte. Sie alle klagten mich ununterbrochen an und ließen mir keine Ruhe, so dass ich weder schlafen, noch essen, noch mich irgendeiner Beschäftigung hingeben konnte; meine Kräfte schwanden, und ich wurde so elend, dass ich nur noch aus Haut und Knochen bestand. Alle Bemühungen berühmter Ärzte waren vergeblich. Ich reiste in fremde Länder, um Heilung zu suchen, allein nachdem ich ein halbes Jahr dort verbracht hatte, fühlte ich gar keine Erleichterung, im Gegenteil, die qualvollen Erscheinungen mehrten sich nur noch mit jedem Tag. Schließlich wurde ich, mehr tot als lebendig, wieder nach Hause geschafft; das ganze Grauen und alle Seelenqualen der Hölle durchlebte ich in vollem Maße, noch ehe meine Seele sich vom Körper getrennt hatte. Da war ich überzeugt, dass es eine Hölle gibt, und erkannte ihre Bedeutung.

In diesem qualvollen Zustand kamen mir endlich meine verbrecherischen Taten zum Bewusstsein; ich bereute sie, beichtete, schenkte meinen Leibeigenen die Freiheit und gelobte, mein ganzes Leben lang mich den schwersten Bedingungen zu unterwerfen, ein namenloser Bettler zu werden und um meiner Sünden willen als der allerletzte Knecht unter den niedrigsten Menschen zu leben. Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst und war mit festem Willen an seine Verwirklichung gegangen, als die Erscheinungen, die mich beunruhigten, verschwanden. Ich empfand eine so süße Wonne und Seligkeit wegen meiner Versöhnung mit Gott, dass ich es gar nicht zu schildern vermag. Jetzt lernte ich aus eigener Erfahrung auch erkennen, was das Paradies bedeutet, und auf welche Weise das Reich Gottes sich dem Herzen offenbart. Bald genas ich vollständig, führte meine Vorsätze aus und verließ heimlich, mit dem Pass eines aus gedienten Soldaten versehen, meine Heimat. Und nun pilgere ich schon fünfzehn Jahre durch Sibirien. Zuweilen habe ich mich als einfacher Taglöhner bei den Bauern verdingt, und manchmal bat ich um Almosen in Christi Namen und lebte von milden Gaben. Ach, welche Seligkeit empfand ich da, welches Glück und welche Gewissensruhe bei allen Entbehrungen ! So etwas vermag nur derjenige ganz zu empfinden, der durch die Gnade und Barmherzigkeit unseres großen Fürsprechers aus der Hölle in das Paradies Gottes gelangen durfte.'

Nachdem er mir dies alles erzählt hatte, übergab er mir sein Testament, damit ich es seinem Sohn sende. Am folgenden Tag aber verschied er. - Hier ist übrigens die Abschrift dieses Testaments; ich habe es in der Tasche, in der Bibel drin. Wenn du es lesen willst, gebe ich es dir gleich. Hier, bitte !"

Ich faltete das Schriftstück auseinander und las:

,Im Namen Gottes, der in der Dreifaltigkeit des Vaters, der Sohnes und des Heiligen Geistes gepriesen wird !

Mein vielgeliebter Sohn !

Es sind nun schon fünfzehn Jahre her, dass Du Deinen Vater nicht mehr gesehen hast, doch hat er sich, aus seiner Verborgenheit heraus, von Zeit zu Zeit immer wieder nach Dir erkundigt und väterliche Liebe für Dich gehegt. Diese Liebe ist es auch, die ihn treibt, Dir vor seinem Tod diese Zeilen zu schicken, auf dass sie Dir in Deinem Leben zur Lehre werden.

Du weißt ja, wie sehr ich meiner Unvorsichtigkeit und meines leichtfertigen Lebenswandels wegen habe leiden müssen, doch weißt Du nicht, welches Glück ich in der Verborgenheit auf meinen Pilgerwegen dadurch erfahren habe, dass ich mich an den Früchten der Buße erfreuen durfte.

Ich sterbe ruhig bei meinem und also auch Deinem gütigen Wohltäter, denn die Wohltaten, mit denen der Vater überhäuft wird, gehen auch seinen Sohn an. Erweise ihm Dankbarkeit in meinem Namen, soweit auch immer es Deine Kräfte erlauben.

Indem ich Dir den väterlichen Segen gebe, beschwöre ich Dich, Gottes zu gedenken, Dein Gewissen rein zu halten, vorsichtig, gütig und vernünftig zu sein, mit Deinen Untergebenen so wohlwollend und liebevoll wie möglich umzugehen, auch Bettler und Pilger nicht zu vergessen - im Andenken an Deinen sterbenden Vater, der ja selbst als Bettler und Pilger Ruhe und Frieden für seine gequälte Seele gefunden hat.

Ich flehe den Segen Gottes auf Dich herab und schließe meine Augen ruhig in der Hoffnung auf das ewige Leben und die Barmherzigkeit Jesu Christi des Mittlers der Menschen.

Dein Vater ... '

Also unterhielten wir uns, der Herr und ich, wahrend wir nebeneinander lagen. Da fragte ich ihn:

"Ich glaube, Väterchen, Ihr habt recht viel Sorgen und Unruhe mit Eurem Pilgerheim? So viele von unseren Brüdern führen ja oft ein Wanderleben aus bloßer Langeweile oder auch aus Scheu vor der Arbeit und treiben auf ihren Fahrten manchen Unfug."

"Wir hatten nicht viele solche Fälle; in der Mehrzahl sind es wirkliche Pilger, die zu uns kommen", erwiderte der Herr, "indessen pflegen wir gerade die Schelme mit besonderer Freundlichkeit aufzunehmen und sie zu überreden, bei uns zu bleiben. Und wenn sie dann eine Weile mit unsern frommen Brüdern Christi zusammengelebt haben, dann gehen sie in sich und verlassen das Heim als demütige, sanfte Menschen. Erst unlängst hatten wir ein Beispiel dafür. Ein hiesiger Kleinbürger war in einen so lasterhaften Lebenswandel geraten, dass ihn buchstäblich alle mit Stöcken von ihren Türen jagten; nicht einmal ein Stückchen Brot gaben sie ihm. Er war ein Trinker, ein Raufbold und zügelloser Mensch, dazu ein Dieb. So erschien er denn eines Tages ganz ausgehungert bei uns, bat um Brot und Branntwein, von dem er ein gar zu großer Freund war. Wir nahmen ihn liebevoll auf, und ich sagte ihm: ,Bleib bei uns, du sollst Schnaps haben, soviel du willst, doch unter der Bedingung, dass du dich sofort schlafen legst, wenn du betrunken bist; solltest du aber auch nur im geringsten Widerstand leisten und zu raufen beginnen, dann werde ich dich nicht nur fortjagen und niemals wieder aufnehmen, sondern dich beim Amtsmann oder beim Stadthauptmann anzeigen, damit du als verdächtiger Strolch zwangsweise verschickt wirst.' Er ging auf diesen Vorschlag ein und blieb bei uns. Ungefähr eine Woche oder noch länger trank er wirklich sehr viel, soviel er konnte, doch legte er sich jedesmal seinem Versprechen gemäß und weil er wohl zu sehr dem Trunk verfallen war _ er fürchtete, der Schnaps würde ihm entzogen - gehorsam schlafen oder ging aufs Feld hinaus, legte sich dort hin und verhielt sich still. War er dann nüchtern, so redeten ihm seine Pilgerbrüder freundlich zu und ermahnten ihn, sich doch des Trunkes zu enthalten, wenn auch anfangs nur zeitweilig. So kam es, dass er allmählich immer weniger trank, und zuletzt, etwa nach drei Monaten, war er ein enthaltsamer Mensch geworden. Jetzt aber hat er sich irgendwo verdingt und lebt nicht mehr im Müßiggang von dem Brot guter Menschen. Vorgestern kam er zu uns, um uns zu danken."

Welche Weisheit liegt doch in dieser Führung, die so voll Liebe ist !dachte ich und rief aus:

"Gelobt sei Gott, der Seine Gnade wirken lässt in der Umfriedung Eures schützenden Hauses!"

Bei solchen Gesprächen schlummerten wir schließlich ein und schliefen eine Stunde oder anderthalb, bis uns die Glocken zum Frühgottesdienst weckten; wir standen auf und begaben uns alsbald zur Kirche. Als wir sie betraten, sahen wir, dass die Hausherrin mit den Kinderchen schon da war. Wir wohnten der Andacht bei, und bald darauf begann die göttliche Liturgie. Ich stellte mich mit dem Herrn und den Sönchen im Altarraum auf, während die Herrin mit dem Töchterchen am Altarfenster stand, um die Darbringung der heiligen Gaben zu sehen. Mein Gott ! wie andächtig beteten sie, auf den Knien liegend, und wie weinten sie Tränen seliger Freude! Wie hell strahlten ihre Gesichter und waren so verklärt, dass auch meine Augen sich mit Tränen füllten, wenn ich auf sie blickte !

Nach dem Gottesdienst begaben sich die Herrschaften, der Priester und die Dienerschaft und alle Bettler zum Mittagstisch; es hatten sich gegen vierzig Bettler eingefunden, darunter Krüppel und Kranke, dazu auch Kinder. Alle setzten sich an denselben Tisch. Aber welches Schweigen, welche Stille herrschte unter ihnen ! Ich nahm mir die Freiheit, dem Hausherrn zuzuflüstern:

"In den Klöstern wird während des Mahles aus dem ,Heiligenleben' vorgelesen; wie schön wäre es, wenn Ihr das hier auch tätet, Ihr habt ja sogar eine vollständige Sammlung der Heiligenleben."

Der Herr wandte sich an seine Gemahlin und sagte: "Tatsächlich, Mascha, wir wollen diesen Brauch einführen. Das wird überaus lehrreich und erbaulich sein. Bei der ersten Mahlzeit werde ich lesen, dann du, hernach unser Priester und zuletzt die frommen Pilgerbrüder, jeder der Reihe nach, soweit sie lesen können."

Da sagte der Priester, und dabei aß er weiter:

"Ich höre wohl gerne zu, was aber das Lesen anbelangt, so möchte ich untertänigst bitten, mich zu entschuldigen; ich habe dazu keine Zeit. Kaum komme ich nach Hause, so weiß ich vor lauter Arbeit nicht, wohin mit mir, nichts als Sorgen und Mühen warten auf mich; bald ist das zu tun, bald jenes; einen Haufen Kinder muss ich großziehen, dazu kommt noch das Vieh auf der Weide - den ganzen langen Tag nichts als Arbeit ! Da denkt man nicht mehr an Lesen und Belehrung. Sogar was ich im Seminar gelernt habe, ist schon längst vergessen."

Als ich seine Worte hörte, wollte ich auffahren, aber die Herrin, die neben mir saß, berührte meinen Arm und sagte:

"Der ehrwürdige Vater sagt das nur aus großer Demut, er pflegt sich immer so zu erniedrigen, in Wirklichkeit ist er überaus gütig und führt ein wahrhaft frommes, gottgefälliges Leben. Schon seit zwanzig Jahren ist er Witwer und zieht eine ganze Schar Enkelkinder auf, zudem muss er auch noch sehr oft in der Kirche dienen."

Als ich sie so reden hörte, erinnerte ich mich an einen Ausspruch des Nicetas Stethatos aus der "Tugendliebe" : "Je nach der innern Veranlagung der Seele wird die Natur der Dinge verschieden bewertet, das heißt, wie man selbst ist, so beurteilt man die andern." Und weiter sagt er noch: "Wer das wahre Gebet und die echte Liebe erlangt hat, der scheidet die Dinge nicht mehr, er trennt auch nicht den Gerechten vom Sünder, sondern umschlingt alle mit gleicher Liebe und verurteilt niemanden, wie denn auch Gott die Sonne scheinen und den Regen fallen lässt über Gerechte und Ungerechte."

Wieder herrschte Schweigen am Tisch; mir gegenüber saß ein Bettler aus dem Heim, der vollständig blind war. Der Hausherr half ihm beim Essen: er zerlegte ihm den Fisch, reichte ihm den Löffel, schöpfte für ihn Suppe. Als ich diesen Blinden, der mit halbgeöffnetem Mund dasaß, aufmerksam betrachtete, bemerkte ich, dass sich seine Zunge unablässig bewegte und gleichsam bebte; da dachte ich, ob er wohl ein Beter sei, und beobachtete ihn nun mit noch größerer Aufmerksamkeit. Kurz bevor das Mahl beendet war, fühlte sich plötzlich eine alte Frau übel; sie wurde von heftigen Krämpfen befallen und begann zu stöhnen. Der Herr und die Herrin führten sie in das eigene Schlafgemach und legten sie auf das Bett. Die Herrin blieb bei ihr und pflegte sie, während der Priester für alle Fälle nach den Sterbesakramenten ging; der Herr aber ließ sofort einspannen und fuhr selbst in aller Eile nach der Stadt, um einen Arzt zu holen. Die übrigen Gäste gingen auseinander.

Ich spürte plötzlich etwas wie Gebetshunger in mir aufsteigen, ein mächtiges Verlangen, meine Seele im Gebet zu ergießen; es überkam mich um so stärker, als ich bereits zwei Tage lang weder das Schweigen noch die Einsamkeit hatte genießen können. Ich fühlte eine Flut in mir aufsteigen, die mein Herz überbordete und sich in alle meine Glieder verströmte. Da ich aber dieses Gefühl unterdrückte, empfand ich einen heftigen Schmerz im Herzen, der jedoch beglückend war, weil er mich in die Stille der Einsamkeit und zur Ausübung des Gebets drängte. Nun begriff ich mit einem Mal, warum die wirklich Eingeweihten des selbsttätigen unablässigen Gebets die Menschen fliehen und sich zu verstecken trachten, um unbekannt zu bleiben. Zugleich verstand ich auch, warum der selige Hesychius selbst das geistigste und nützlichste Gespräch, wenn es maßlos wird, müßiges Geplapper nennt, was auch der heilige Ephräm der Syrern meint, wenn er sagt: "Gute Rede ist Silber, Schweigen aber ist reines Gold."

Während ich diese Gedanken in meinem Herzen erwog, lenkte ich meine Schritte nach dem Pilgerasyl; hier ruhten alle nach dem Mittagsmahl. Ich stieg auf den Dachboden, sammelte mich, ruhte etwas aus und verrichtete mein Gebet. Als die Bettler aufgestanden waren, suchte ich den Blinden auf und führte ihn aufs Feld hinaus. Hier setzten wir uns etwas abseits in die Stille und begannen uns zu unterhalten.

"Sag mir doch, um Gottes willen, übst du das Jesusgebet für das Heil deiner Seele aus?"

"Ich bete es schon seit vielen Jahren ohne Unterlass." "Und was fühlst du dabei?"

"Nur das eine, dass ich weder bei Tag noch bei Nacht ohne das Gebet sein kann."

"Auf welche Weise hat dir Gott dieses Tun erschlossen?

Erzähle es mir genau, geliebter Bruder."

"Ja, siehst du, ich bin ein Handwerker aus dieser Gegend und verdiente mir mein Brot als Schneider; oft wanderte ich auch durch andere Gouvernements und nähte in verschiedenen Dörfern Kleider für die Bauern. Einmal traf es sich nun, dass ich bei einem Bauern längere Zeit arbeitete und für seine ganze Familie Kleider nähte. An einem Festtag sah ich vor dem Heiligenschrein drei Bücher liegen, da fragte ich: ,Wer kann denn bei euch lesen?'

- ,Niemand', gab man mir zur Antwort, ,diese Bücher gehörten unserm Onkel, er war ein geschulter Mann'. Da nahm ich eines der Bücher in die Hand, schlug es auf und las folgende Worte, an die ich mich bis heute noch erinnere:

,Das unablässige Gebet besteht im unaufhörlichen Anrufen des Namens Gottes, zu jeder Zeit, gleichviel, ob man sich im Gespräch befinde, ob man sitze oder gehe, ob man arbeite oder esse oder was immer man tue, - an allen Orten und zu allen Zeiten ziemt es sich, den Namen Gottes anzurufen.'

Als ich dies gelesen hatte, dachte ich, das ist ja für mich sehr angenehm; und ich fing an, während meiner Näharbeit im Flüsterton zu beten, und fand daran großen Gefallen. Die Leute, mit denen ich zusammen war, bemerkten das und machten sich über mich lustig:

,Du bist wohl ein Zauberer, dass du beständig etwas murmelst? Oder beschwörst du gar irgend weIche Geister?'

Um nun das Beten vor den andern zu verbergen, hörte ich auf, dabei die Lippen zu bewegen, und bewegte nur mehr die Zunge. Schließlich gewöhnte ich mich so sehr daran, dass meine Zunge von selbst Tag und Nacht ununterbrochen betete, und mir war solches sehr angenehm.

In dieser Weise wanderte ich noch lange durch das Land, da wurde ich plötzlich blind. In meiner Familie haben fast alle dunkles Wasser in den Augen. Weil ich nun aber arm bin, will mich meine Gemeinde im Armenhaus unseres Gouvernements Tobolsk unterbringen, und ich bin eben auf dem Weg dorthin. Die Herrschaften hier haben mich vorläufig bei sich behalten, um mir Pferd und Wagen bis nach Tobolsk mitzugeben."

"Wie hieß jenes Buch, in dem du damals die Stelle über das Gebet lasest, - doch nicht etwa ,Tugendliebe'?"

"Ich weiß es wirklich nicht; ich habe das Titelblatt gar nicht angesehen."

Da holte ich meine "Tugendliebe" hervor, suchte im vierten Teil die Worte des Patriarchen Kallistus, die der Alte aus dem Gedächtnis zitiert hatte, und las sie ihm vor. "Das ist ja gerade die Stelle !" rief der Blinde. "Lies sie mir vor, Bruder. Wie schön ist doch das !"

Als ich zu der Zeile kam, da es heißt, man müsse mit dem Herzen beten, drängte er in mich, ich möge ihm doch erklären, was dies bedeute und wie das gemacht werde. Ich sagte ihm, die ganze Lehre über das Herzensgebet werde in diesem Buch, in der "Tugendliebe", ausführlich erklärt und dargelegt; da bat er mich inständig, ich möchte ihm doch alles darüber vorlesen.

"Weißt du, wir wollen dies auf folgende Weise machen: wann willst du nach Tobolsk aufbrechen?"

"Jederzeit, meinetwegen gleich", erwiderte er.

"Dann richten wir das so ein: auch ich denke daran, morgen weiterzuziehen; gehen wir also zusammen; ich werde dir unterwegs alles vorlesen, was sich auf das Herzensgebet bezieht, und will dir auch zeigen, wie man die Stelle im Herzen findet und da hineindringt."

"Ja, und der Wagen?" fragte er.

"Ach, wozu brauchst du einen Wagen? Man könnte denken, es wäre wer weiß wie weit nach Tobolsk ! Es sind ja bloß hundertundfünfzig Werst; wir werden ganz langsam wandern, und weißt du auch, wie schön es ist, so zu zweit durch einsame Gegenden zu pilgern? Überdies kann man beim Gehen gemütlich miteinander reden und über das Gebet lesen."

So einigten wir uns denn; am Abend kam der Herr selbst und lud uns alle zum Nachtmahl ein. Nach dem Essen erklärten wir, der Blinde und ich, dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen wollten und keinen Wagen brauchten, da wir, wenn wir zu Fuß gingen, viel bequemer in der "Tugendliebe" lesen könnten.

Darauf sagte der Herr:

"Mir hat die ,Tugendliebe' gleichfalls sehr gefallen und ich habe auch schon den Brief geschrieben und das Geld bereitgelegt, um beides morgen, wenn ich zum Gericht fahre, nach Petersburg abzuschicken, mit der Weisung, dass man mir das Buch mit der ersten Post zusenden möchte."

Am folgenden Morgen machten wir uns also auf den Weg, nachdem wir den Herrschaften für ihre christliche Liebe und Mildtätigkeit herzlich gedankt hatten. Beide gaben uns etwa eine Werst weit das Geleit, und dann nahmen wir Abschied voneinander und trennten uns.

So pilgerten wir denn zusammen und zogen gemächlich unseres Weges, nicht mehr als zehn bis fünfzehn Werst im Tag; die übrige Zeit saßen wir an stillen Orten und lasen in der "Tugendliebe". Ich las meinem Weggenossen alles über das Herzensgebet in derselben Reihenfolge, wie sie mir mein verstorbener Starez empfohlen hatte, das heißt, ich begann mit dem Buch des Mönches Nicephorus, dann las ich das Buch Gregors des Sinaiten und so fort. Mit welcher Aufmerksamkeit und Begierde hörte der Alte alles an, wie sehr gefiel es ihm und wie ergötzte er sich daran ! Alsdann begann er solche Fragen über das Gebet an mich zu richten, dass mein Verstand nicht genügte, um sie ihm alle richtig zu beantworten.

Nachdem ich ihm das Wichtigte aus der "Tugendliebe" vorgelesen hatte, fing er an, mich inständig zu bitten, ihm nun ein praktisches Mittel zu nennen, wie man mit dem Geist das Herz auffinden und den göttlichen Namen Jesu Christi hineinführen könne, und wie man innerlich mit dem Herzen beten solle. Darauf erklärte ich es ihm folgenderweise:

"Denke es dir so: du zum Beispiel kannst nicht sehen, bist aber trotzdem fähig, dir das, was du früher gesehen hast, im Geiste vorzustellen und dir ein Bild davon zu machen - sagen wir: einen Menschen oder irgendeinen Gegenstand oder auch eines deiner Glieder, zum Beispiel die Hand oder den Fuß; das alles kannst du dir doch so lebhaft vorstellen, dass es dir scheint, als sähest du die Dinge wirklich und ließest deinen Blick darauf ruhen, wenngleich deine Augen blind sind."

"Ja, das kann ich", antwortete der Blinde. "Nun stelle dir genau so dein Herz vor, richte deine Augen dorthin, wo es liegt, als blicktest du es wirklich durch die Brust hindurch an, und stelle es dir so lebhaft als möglich vor; mit dem Gehör aber horche aufmerksam hin, wie es sich regt und ein um das andere Mal schlägt. Hast du dich darin geübt, dann beginne, indem du bei jedem Schlag in das Herz hineinblickst, die Worte des Gebets dem Pochen des Herzens anzupassen. Beim ersten Schlag sprich oder denke: "Herr', beim zweiten: ,Jesus', beim dritten: ,Christus', beim vierten: ,erbarme Dich', beim fünften: ,meiner'; wiederholt dies dann so oft als möglich - das wird dir nicht schwer fallen, da du ja schon den Anfang dazu gemacht und dich auf das Herzensgebet vorbereitet hast. Dann aber, sobald du daran gewöhnt bist, beginne das ganze Jesusgebet gleichzeitig mit dem Atem ins Herz einzuführen und es wieder herauszuholen, wie es die Väter lehrten, das heißt, sprich oder denke, wenn du die Luft einatmest: ,Herr Jesus Christus', und wenn du sie ausatmest: ,erbarme Dich meiner!' Übe dich hierin, so oft du kannst, und du wirst bald einen feinen, angenehmen Schmerz im Herzen verspüren, hernach aber wird sich darin eine wohltuende Wärme ausbreiten. Auf solche Art wirst du allmählich mit Gottes Hilfe das selbsttätige Wirken des beseligenden Herzensgebets erlangen. Indes musst du dich dabei nach Kräften vor den Vorstellungen und Bildern schützen, die dein Geist dir vielleicht vorgaukelt. Nimm überhaupt keine Vorstellungsbilder in dich auf, denn die heiligen Väter ermahnen uns strengstens, beim innern Gebet den Geist vor jeder Schau freizuhalten, damit wir nicht irgendweIchen Lockungen erliegen !"

Nachdem der Blinde meinen Erklärungen mit Aufmerksamkeit gelauscht hatte, fing er voll Eifer an, sich vorschriftmäßig im Gebet zu üben; und des Nachts, wenn wir in einer Herberge rasteten, befasste er sich vor allem und lange mit diesen Übungen.

Nach Verlauf von ungefähr fünf Tagen verspürte er eine starke innere Erwärmung sowie ein unbeschreibliches Wonnegefühl im Herzen; dazu stellte sich eine große Lust ein, sich ohne Unterlass in diesem Gebet zu vervollkommnen, das ihm die Liebe zu Jesus erschloss. Von Zeit zu Zeit erblickte er sodann ein strahlendes Licht, wenn auch keinerlei Gegenstände oder irgend weIche Dinge in diesem Licht zu erkennen waren; zuweilen schien es ihm, wenn er sich in sein Herz versenkte, als leuchte die starke Flamme einer brennenden Kerze unsagbar selig in seinem Herzen auf, dringe durch den Mund heraus und umstrahle seine ganze Gestalt; dann konnte er im Schein dieser Flamme sogar ferne Dinge und Vorgänge sehen, wie zum Beispiel in einem Fall, von dem ich hier berichten möchte.

Wir wanderten durch einen Wald und er schritt neben mir, schweigend in sein Gebet versunken. Da sagte er plötzlich: "Wie schade! Nun brennt schon die Kirche; jetzt ist der Glockenturm eingestürzt."

Ich warnte ihn und sagte:

"Hör auf, dir so unwirkliche Dinge vorzustellen, das ist eine Versuchung, die dich anfechten will, du musst alle diese Einbildungen möglichst schnell zurückdrängen ! Wie kannst du denn sehen, was in der Stadt vorgeht? Wir sind ja noch zwölf Werst von ihr entfernt!"

Er gehorchte, fuhr in seinem Gebet fort und schwieg. Gegen Abend kamen wir in die Stadt, und ich sah tatsächlich einige Häuser, die niedergebrannt waren, und den eingestürzten Glockenturm, der auf Holzbalken errichtet gewesen war; ich sah auch viele Menschen, die sich dort drängten und sich darüber wunderten, dass der Glockenturm beim Einsturz niemanden verletzt hatte. Nach meiner Berechnung musste aber das Unglück gerade in der Zeit passiert sein, da der Blinde davon gesprochen hatte.

Nun wandte er sich zu mir: "Du hast gesagt, dass meine Einbildung eitel gewesen wäre, jetzt hat sich aber alles doch so zugetragen, wie ich es gesehen habe. Wie sollte ich da nicht dem Herrn Jesus Christus danken und Ihn lieben, der Seine Gnade den Sündern, Blinden und Törichten offenbart ! Auch dir danke ich, dass du mich das Wirken des Gebets im Herzen gelehrt hastI"

Darauf entgegnete ich ihm:

"Jesus Christus sollst du allerdings lieben und Ihm auch danken; doch hüte dich davor, allerlei Vorstellungsbilder für unmittelbare Offenbarungen zu halten; denn das kann oft auf einer ganz natürlichen Ursache beruhen und liegt in der Ordnung der Dinge. Die menschliche Seele ist nicht durch den Ort und die Dinge gebunden. Sie kann auch im Dunkeln sehen und weit entfernte Vorgänge ebenso wahrnehmen wie nahe. Wir widmen bloß dieser seelischen Fähigkeit keine Kraft und lassen ihr nicht freien Lauf; vielmehr hemmen wir sie sogar in ihrem Flug, sei es durch die Verworrenheit unserer Gedanken oder durch unser zerstreutes Wesen. Sobald wir uns jedoch innerlich sammeln, sobald wir uns von allem, das uns umgibt, loslösen und unsern Geist befreien, dann kehrt die Seele zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurück und kann sich mit höchster Kraft auswirken; denn dies ist eine ganz natürliche Erscheinung. Ich habe von meinem verstorbenen Starez gehört, dass auch Menschen, die nicht beten, aber dazu doch befähigt sind, oder auch Kränkliche, im verdunkelten Zimmer ein Licht wahrnehmen können, das von allen Gegenständen ausgeht, und dass sie diese Dinge dann ganz deutlich erkennen, ferner auch ihren Doppelgänger fühlen und in die Gedanken anderer einzudringen vermögen. Was aber beim Herzensgebet unmittelbar von der Gnade Gottes herrührt, das ist so beseligend, dass es keine Zunge auszusprechen vermag; auch kann es mit keinem stofflichen Ding verglichen oder ihm zur Seite gestellt werden; alle Sinneseindrücke stehen tief unter den beseligenden Empfindungen, die die Gnade im Herzen erzeugt."

Mein Blinder lauschte meinen Ausführungen sehr aufmerksam und wurde nur noch demütiger; das Gebet wuchs in seinem Herzen immer mehr und mehr und erfüllte ihn sichtlich mit unsäglichem Entzücken. Ich freute mich darüber aus tiefster Seele und dankte Gott innig, der mich gewürdigt hatte, unter seinen Knechten einen so gesegneten zu schauen.

Endlich erreichten wir Tobolsk; ich führte ihn ins Armenhaus, und nach herzlichem Abschied verließ ich ihn und ging meines Weges.

Einen Monat lang wanderte ich gemächlich dahin und fühlte tief, wie erbaulich und ermutigend gute, lebendige Beispiele wirken; ich las wieder oft in meiner "Tugendliebe" und prüfte alles nach, was ich dem blinden Beter gesagt hatte. Sein lehrreiches Beispiel entflammte in mir Eifer, Anhänglichkeit und Liebe zum Herrn, das Herzensgebet aber beglückte mich so sehr, dass ich nicht glaubte, es gäbe jemand auf der Welt, der glücklicher wäre als ich, und ich vermochte mir nicht vorzustellen, dass es im Himmelreich größere und herrlichere Wonnen geben könnte. Diese Seligkeit verklärte nicht nur meine Seele - auch die ganze Außenwelt erschien mir in wunderbarer Herrlichkeit, und alles lockte zur Liebe und zum Dank gegen Gott: die Menschen, die Bäume, die Pflanzen und Tiere - alles war mir unaussprechlich vertraut, in allem fand ich das Abbild des Namens Jesu Christi. Manchmal empfand ich eine solche Leichtigkeit in mir, als wäre ich überhaupt ohne Körper, und alsdann war mir, als ginge ich nicht, sondern schwebte in seliger Ergriffenheit durch die Luft; ein andermal wiederum versenkte ich mich tief in mich selbst und sah mein Innerstes klar vor mir; dann staunte ich über die Weisheit Gottes, die alles im menschlichen Körper so wohl angeordnet hatte; mitunter wieder erfüllte mich eine so erhabene Freude, als wäre ich König geworden; und mitten in all diesen Tröstungen wünschte ich, dass Gott mich möglichst bald sterben lassen möchte, damit ich mich in Dankbarkeit ergieße am Schemel Seiner Füße, in der Welt der Geister.

Offenbar hatte ich maßlos in solchen Empfindungen geschwelgt, oder aber es war Gottes Wille - jedenfalls verspürte ich nach einer gewissen Zeit Angst und eine Art Beben im Herzen. Wenn mir nur nicht neue Gefahr droht, dachte ich, ein Unglück wie damals wegen jenes Mädchens, welches ich in der Kapelle das Jesusgebet gelehrt hatte ! Feindliche Gedanken stürmten auf mich ein und überschatteten mich wie dunkle Wolken. Da erinnerte ich mich an das Wort des seligen Johannes von Karpathus: Mitunter fällt der Lernende in Unehre und erduldet Verfolgungen für jene, die seine geistige Hilfe in Anspruch nehmen. Ich kämpfte diese Gedanken nieder, verrichtete mein Gebet mit größerer Inbrunst und vertrieb sie dadurch schließlich vollständig, so dass ich meinen Mut wieder fand und zu mir selber sagte: Gottes Wille geschehe, ich bin bereit, alles zu erleiden, was mir Jesus Christus meiner Verstocktheit und meines Hochmutes wegen auferlegt. Zudem waren ja diejenigen, denen ich vor kurzem das Geheimnis des innern Gebets und den Zugang zum Herzen erschlossen hatte, zu diesem Tun, noch vor meiner Begegnung mit ihnen, unmittelbar durch Gottes geheime Unterweisung vorbereitet gewesen. Dieser Gedanke beruhigte mich, und ich setzte wieder getrost und betend meine Wanderschaft fort und war glücklicher als zuvor.

Zwei Tage lang war das Wetter regnerisch und der Weg dermaßen aufgeweicht, dass man nur mit Mühe die Füße aus dem Straßenschmutz ziehen konnte; ich pilgerte durch die Steppe und begegnete auf einer Strecke von fünfzehn Werst nicht einem einzigen Dorf im ganzen Umkreis; doch endlich erblickte ich gegen Abend einen Bauernhof, der an der Landstraße lag; ich freute mich, denn ich dachte: Hier kann ich wenigstens ausruhen und die Nacht verbringen, morgen aber wird das Wetter, so Gott will, vielleicht wieder besser sein.

Als ich zum Bauernhof kam, sah ich einen betrunkenen Alten in einem Soldatenmantel; er saß auf einer Böschung vor dem Gehöft.

Ich begrüßte ihn und fragte:

"Ist wohl jemand da, den man um Erlaubnis bitten könnte, hier zu übernachten ?"

"Wer könnte es dir denn erlauben, außer mir?" schrie der Alte. "Hier bin ich Herr und Meister ! Das ist eine Poststation und ich bin der Posthalter."

"So wollt Ihr mir vielleicht erlauben, Väterchen, bei Euch die Nacht zu verbringen?"

"Hast du einen Pass? Zeig deine Ausweispapiere!" Ich gab ihm meinen Pass, er nahm ihn, hielt ihn in der Hand und fragte dann wieder: "Wo ist denn dein Pass?"

"Ihr habt ihn ja in der Hand", erwiderte ich. "Nun, dann komm in die Hütte!"

Der Posthalter setzte sich die Brille auf, musterte meinen Pass und sagte dann:

"Scheint, dass er in Ordnung ist, kannst also hier übernachten; du siehst, ich bin kein schlechter Mensch, will dir auch ein Gläschen Schnaps geben."

"Ich habe in meinem Leben keinen Schnaps getrunken", erwiderte ich.

"Nun, darauf spucke ich; dann iss wenigstens mit uns zu Abend!"

Man setzte sich zu Tisch, er und seine Köchin, eine junge Bauernsfrau, das ebenfalls ziemlich betrunken war; mir wiesen sie einen Platz neben sich an. Während des ganzen Abendessens schimpften sie und machten einander Vorwürfe, zum Schluss gab es noch eine Prügelei. Endlich ging der Posthalter in den Hausflur hinaus, um in einer kleinen Kammer zu übernachten; die Köchin aber räumte den Tisch ab, wusch die Schüsseln und Löffel und schimpfte weiter auf ihren Alten.

Ich saß eine Weile ruhig da und dachte: Wird sie sich wohl bald beruhigen? Schließlich sagte ich:

"Wo könnte ich mich niederlegen, Mütterchen, ich bin vom Wandern recht müde?"

"Gleich will ich dir ein Lager bereiten, Väterchen", und sie rückte einen Hocker an die Bank, die unter dem vordern Fenster befestigt war, breitete eine Filzdecke aus und schob eine Rolle ans Kopfende. Ich legte mich hin, schloss die Augen und tat, als schliefe ich. Die Köchin stürmte noch lange in der Hütte umher; endlich war sie mit dem Abräumen fertig; sie löschte das Licht und trat zu mir heran. Da plötzlich flog in der vordern Ecke der Hütte das ganze Fenster auseinander, mit Rahmen, Fensterkreuz und Scheiben, und stürzte, in viele Stücke zerschmettert, mit furchtbarem Krach zu Boden; die ganze Hütte erzitterte, indessen draußen vor dem Fenster Geschrei und jammervolles Stöhnen erscholl. Erschrocken flüchtete die Frau in die Mitte des Zimmers und brach zusammen. Ich fuhr, außer mir vor Angst, empor und dachte, die Erde hätte sich unter mir aufgetan. Da sehe ich, wie zwei Kutscher einen Menschen hereintragen, der so blutüberströmt war, dass man sein Gesicht nicht unterscheiden konnte; dieser Anblick steigerte mein Entsetzen. Es war ein Kurier, der das Gespann wechseln wollte. Sein Kutscher war in rascher Fahrt falsch durchs Tor eingefahren und mit der Deichsel ins Fenster geraten. Vor dem Haus aber befand sich ein Graben, der Wagen kippte um, der Kurier stürzte heraus und verletzte sich den Kopf an einem spitzen Pflock, der in der Böschung vor dem Haus steckte. Als er zu sich kam, verlangte er Wasser und Schnaps, um seine Wunde auszuwaschen, er machte sich einen Verband, trank ein Glas Branntwein und rief dann: ,Pferde her !'

Ich trat an ihn heran und sagte:

"Wie könnt Ihr in diesem Zustand weiterfahren, Väterchen?"

"Ein Kurier hat keine Zeit, krank zu sein", erwiderte er und sprengte davon. Die Kutscher schleppten nun die Frau, die immer noch bewusstlos dalag, zum Ofen in die Ecke der Hütte, und bedeckten sie mit einer Bastmatte, indem sie sagten: "Der Schreck ist ihr in den Kopf gefahren, sie wird den Verstand verlieren." Der Posthalter war inzwischen nüchtern geworden und legte sich wieder schlafen; ich blieb im Zimmer zurück.

Es währte nicht lange, da stand die Frau auf, begann wie eine Wahnsinnige von einer Ecke in die andere zu gehen und lief schließlich aus der Hütte hinaus. Ich sprach ein Gebet und fühlte dabei, wie meine Kräfte abnahmen; dann schlummerte ich vor Anbruch des Tages ein wenig.

Am Morgen nahm ich Abschied von dem Posthalter und ging meines Weges weiter. Während ich dahinschritt, sandte ich ein Gebet voll Glauben, Hoffnung und Dankbarkeit zu Gott empor, dem Vater aller Gaben und allen Trostes, der mich vor so nahem Unheil bewahrt hatte.

Sechs Jahre nach dieser Begebenheit, als ich eines Tages auf meiner Pilgerschaft an einem Frauenkloster vorbeikam, trat ich in die Kirche ein, um dort zu beten. Nach dem Mittagsgottesdienst lud mich die gastfreundliche Äbtissin zu sich und ließ mir Tee auftragen. Da trafen unerwartete Besucher ein, sie ging zu ihnen hinaus, und ich blieb mit den Nonnen, die die Äbtisisn bedienten, allein zurück. Eine besonders demütige Nonne erregte meine Neugier, und ich fragte sie:

"Seid Ihr schon lange in diesem Kloster, Mütterchen?"

"Fünf Jahre", antwortete sie. "Als ich hierher gebracht wurde, war ich wahnsinnig; da hat sich aber Gott meiner erbarmt. Die Mutter Äbtissin hat mich zu sich in ihre eigene Zelle genommen und ließ mich hernach den Schleier nehmen."

"Wie kam es denn, dass Ihr wahnsinnig wurdet?" fragte ich.

"Vor Schreck. Ich war bei einem Posthalter in Stellung, da brachen eines Nachts Pferde durchs Fenster; ich erschrak und verlor den Verstand. Ein ganzes Jahr lang führten mich darauf meine Verwandten an heilige Stätten, doch erst hier bin ich genesen."

Als ich dies hörte, freute ich mich in meiner Seele und pries Gott, der alles so weise zu unserm Besten lenkt.

"Noch vieles andere habe ich erlebt", sagte ich zu meinem geistlichen Vater gewandt. "Wollte ich alles der Reihe nach berichten, so würde ich in drei Tagen damit nicht fertig. Doch will ich hier noch von einer Begebenheit erzählen."

An einem klaren Sommertag erblickte ich einen an der Landstraße gelegenen Kirchhof, oder vielmehr einen so genannten "Pogost", das heißt eine Kirche mit einem Friedhof und einigen Häusern für den Priester und die Kirchendiener. Es läuteten gerade die Glocken, und so ging ich denn zum Gottesdienst. Aus der Umgebung kamen die Bewohner ebenfalls herbei; einige von ihnen hatten sich aber vor der Kirche ins Gras gesetzt; als sie mich dahereilen sahen, riefen sie mir zu:

"Brauchst nicht so zu eilen, wirst noch lange genug in der Kirche stehen, bevor die Liturgie beginnt; hier dauert der Gottesdienst immer sehr lange, denn unser Priester ist kränklich und nimmt die Sache gemächlich."

Tatsächlich währte der Gottesdienst recht lange; der Priester, ein junger, überaus hagerer und bleicher Mann, zelebrierte ungewöhnlich langsam - übrigens sehr andächtig - und mit tiefem Gefühl. Gegen Ende des Gottesdienstes hielt er eine vortreffliche, allgemein verständliche Predigt über die Mittel, um zur Liebe Gottes zu gelangen.

Nach der Kirche lud er mich zu sich ein und behielt mich zum Essen. Bei Tisch sagte ich zu ihm:

"Wie andächtig Ihr die Messe zelebriert, ehrwürdiger Vater, doch sehr langsam !"

"Ja", entgegnete er, "wenn dies auch meinen Pfarrkindern nicht gefällt und sie darüber murren; aber ich kann nicht anders, denn ich liebe es, mich in jedes Gebetswort erst hineinzudenken und mich daran zu ergötzen, und es dann erst auszusprechen; was wäre auch das gesprochene Wort ohne unser Gefühl und inneres Mitgehen? - Leer wäre es und hohl, für mich selbst wie für die andern, wertlos und ohne jeden Nutzen. Alles beruht doch auf dem innern Leben und auf dem andächtigen Gebet !" Und er fügte leise hinzu: "Allein wie wenig beschäftigt man sich mit dem Tun des Herzens ! Das rührt daher, dass die Menschen nichts davon wissen wollen; sie kümmern sich gar nicht um ihre innere Erleuchtung !"

Da fragte ich:

"Wie könnte man wohl soIches erlangen? Dies s'cheint mir sehr schwierig zu sein."

"Durchaus nicht; um geistig erleuchtet zu werden und zu einem innerlichen, vertieften Menschen heranzuwachsen, müssen wir nur irgendeinen Text aus der Heiligen Schrift nehmen und möglichst lange unsere Aufmerksamkeit und Sammlung darauf richten, dann geht uns das Licht des Verständnisses auf. In gleicher Weise muss man auch beim Gebet vorgehen: willst du, dass dein Gebet rein, richtig und erquickend wirke, so musst du ein kurzes Gebet wählen, das aus wenigen, jedoch kräftigen Worten besteht, und dieses häufig und anhaltend wiederholen; alsdann wirst du den Geschmack des Gebets finden !"

Diese Belehrung des Priesters gefiel mir ungemein gut, denn sie war so brauchbar und eindrücklich, zugleich aber auch tief und weise. Ich dankte Gott im Herzen dafür, dass Er mir einen so wahrhaften Hirten Seiner Kirche gezeigt hatte.

Nach dem Mahl sagte der Priester zu mir: "Geh und ruh dich jetzt etwas aus, ich aber will einstweilen im Wort Gottes lesen und mich auf meine Predigt für morgen vorbereiten !"

Da begab ich mich in die Küche. Es war niemand drin, außer einer uralten Köchin, die ganz gebückt in einem Winkel kauerte und hüstelte. Ich setzte mich unter ein kleines Fenster, nahm meine "Tugendliebe" aus dem Beutel und fing an, still für mich zu lesen. Nach einer Weile hörte ich, dass die Alte in ihrer Ecke unaufhörlich etwas vor sich her murmelte; ich horchte hin und bemerkte, dass es das Jesusgebet war. Wie groß war meine Freude, als ich den oft angerufenen allerheiligsten Namen des Herrn hörte ! Ich wandte mich zu ihr und sagte:

"Wie gut ist es, Mütterchen, dass du ohne Unterlass betest! Das ist das christlichste und heilbringendste Werk !" "Jawohl, Väterchen", entgegnete sie, "in meinen alten Tagen besteht meine größte Freude darin, beten zu können: ,Herr, vergib !'"

"Hast du denn schon lange die Gewohnheit, so zu beten ?" "Schon von Kind auf, Väterchen; anders könnte ich gar nicht mehr leben, hat mich doch das Jesusgebet vor Untergang und Tod gerettet."

"Wie denn das? Erzähl es mir, bitte, zum Ruhme Gottes und zur Verherrlichung der gnadenreichen Kraft des Jesusgebets I"

Ich legte die "Tugendliebe" wieder in den Beutel zurück und setzte mich etwas näher zu der Alten; sie begann zu erzählen:

"Ich war ein hübsches, junges Mädchen, meine Eltern hatten mich schon verlobt; da geschah es, am Tag vor der Hochzeit, dass mein Bräutigam, als er gerade auf dem Weg zu uns war, zehn Schritt vom Haus entfernt hinsank und starb, ohne auch nur noch einmal zu atmen. Darüber erschrak ich so sehr, dass ich überhaupt nicht mehr heiraten wollte, sondern Jungfrau zu bleiben beschloss, und nach heiligen Stätten wallfahrten und dort beten wollte. Nun hatte ich aber Angst, mich allein auf den Weg zu machen, denn es hätte geschehen können, dass böse Menschen meiner Jugend wegen über mich hergefallen wären und mich beleidigt hätten. Da lehrte mich eine bejahrte Pilgerin, die ich kannte, ich solle, wo immer ich mich unterwegs befinde, unablässig das Jesusgebet hersagen, und sie yersicherte mir bestimmt, dass mir bei diesem Gebet niemals ein Leid zustoßen würde. Ich glaubte ihr, und alles ging wirklich gut ab; ich zog allein nach weit entfernt liegenden heiligen Orten; meine Eltern gaben mir das Geld dazu. Mit dem Alter wurde ich krank, und da nahm mich der ehrwürdige Priester hier auf und nährt mich nun in seiner Güte."

Voll Begeisterung hatte ich der alten Frau zugehört und wusste nicht, wie ich Gott für diesen Tag, an dem Er mir so lehrreiche Beispiele seines Wirkens gezeigt hatte, danken sollte. Endlich bat ich den frommen gütigen Priester um seinen Segen und setzte meinen Weg frohen Herzens fort.

Hier ist noch ein Fall, von dem ich Euch berichten möchte: Vor nicht gar langer Zeit, als ich, schon auf dem Weg hierher, durch das Gouvernement Kasan wanderte, durfte ich wiederum erfahren, wie die Kraft des Jesusgebets sich sichtbar und lebendig offenbart, und zwar selbst an denen, die es unbewusst üben, und wie die häufige und dauernde Wiederholung dieses Gebets uns auf dem kürzesten und zuverlässigsten Weg zu seinen gnadenreichen Segnungen gelangen lässt.

Ich musste einmal in einem tatarischen Dorf übernachten. Als ich in dieses Dorf kam, sah ich vor einer Hütte ein Gefährt mit einem russischen Kutscher, der gerade die Pferde fütterte, die neben dem Wagen standen. Dies freute mich sehr, denn ich dachte, jetzt könne ich doch wenigstens mit Christen zusammen übernachten. Ich trat zu dem Kutscher und fragte ihn, wen er da fahre? Er antwortete, einen Herrn, der sich auf der Reise von Kasan nach der Krim befinde. Während ich mit ihm sprach, schlug der Herr das Wagenleder zurück, schaute mich an und sagte:

"Auch ich verbringe die Nacht hier, doch wollte ich nicht in die Hütte hineingehen, denn die Tataren sind so dreckig; darum beschloss ich, im Wagen zu bleiben."

Einige Zeit darauf stieg der Herr aus dem Wagen, um sich ein wenig zu ergehen, denn es war ein schöner Abend. Dabei kamen wir ins Gespräch, und nach vielen Fragen und Antworten erzählte er mir unter anderem folgende Begebenheit aus seinem Leben.

"Bis zu meinem fünfundzwanzigsten Jahr diente ich bei der Flotte als Kapitän eines Schiffes erster Klasse. Als ich älter wurde, befiel mich aber eine schwere Krankheit, nämlich Podagra. Ich reichte meinen Abschied ein, zog auf ein Gütchen meiner Frau in die Krim und lebte dort fast immer kränkelnd. Meine Frau war eine gedankenlose Person, von flatterhaftem Wesen, dazu eine leidenschaftliche Kartenspielerin. Das Leben mit mir, dem Kranken, wurde ihr langweilig, und so verließ sie mich und reiste nach Kasan zu unserer Tochter, die dort mit einem Staatsbeamten verheiratet war. Dabei hatte sie mir alles genommen, sogar die Leibeigenen, und mir nur ein achtjähriges Bauernbüblein zurückgelassen, mein Patenkind.

So lebte ich drei Jahre allein auf dem kleinen Gut. Der Junge musste mich bedienen; er war flink und in vielem sehr geschickt, verrichtete alle Arbeiten im Haus, räumte die Zimmer auf, heizte den Ofen, kochte mir die Grütze und richtete den Samowar. Bei all dem war er aber außergewöhnlich lebhaft und fortwährend auf allerlei Streiche bedacht: er lief ständig umher, polterte, schrie, machte beim Spielen unerträglichen Lärm und war so ausgelassen, dass er mir viel Unruhe und Plage ins Haus brachte. - Ich liebte es aber, heilige Bücher zu lesen, wohl weil ich krank war oder auch aus Langeweile. Unter anderem besaß ich ein wunderbares Buch des Gregorius Palamas über das Jesusgebet; ich las fast ununterbrochen darin und übte mich sogar ein wenig in diesem Gebet. Dabei störte mich nun der Junge sehr; jedoch konnten ihn weder Drohungen noch Strafen davon abbringen, Unfug zu treiben.

Da kam ich auf folgende Idee: ich setzte ihn auf ein Bänklein in meinem Zimmer und befahl ihm, die ganze Zeit das Jesusgebet herzusagen. Anfangs gefiel ihm dies ganz und gar nicht, und er pflegte sich auf alle erdenkliche Weise davor zu drücken, oder er hörte auch ganz einfach auf zu beten.

Um ihn nun zu zwingen, meinen Befehl auszuführen, legte ich eine Rute neben mich. Solange er sein Gebet sprach, las ich ruhig in meinem Buch oder horchte zu, wie er betete; kaum schwieg er aber, so zeigte ich ihm die Rute; er erschrak dann und nahm sofort sein Gebet wieder auf, und das beruhigte mich sehr, denn auf diese Weise wurde es endlich still in meinem Haus.

Im Verlauf einiger Zeit bemerkte ich, dass die Rute überflüssig geworden war; der Junge erfüllte mein Gebot von Tag zu Tag lieber und eifriger; außerdem gewahrte ich eine vollständige Wandlung in seinem sonst so zügellosen Wesen: er war schweigsamer und sanfter geworden und tat die häuslichen Arbeiten mit größerer Sorgfalt. Darüber freute ich mich und gewährte ihm von nun an mehr Freiheit. Und was war die Folge? Er gewöhnte sich schließlich so sehr an das Gebet, dass er es fast immer übte, bei jeder Tat, ohne irgendwelche Nötigung meinerseits. Wenn ich ihn darüber ausfragte, so sagte er, er habe ein unbezwingbares Verlangen, das Gebet immerfort zu sprechen.

,Und was empfindest du dabei?'

,Gar nichts Besonderes, bloß, dass mir wohl ist, wenn ich das Gebet spreche.'

,Ja, wie denn - wohl?'

,Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.'

,Bist du denn fröhlich dabei?'

,Ja, mir ist froh zumute.'

Er war zwölf Jahre alt, als der Krimkrieg ausbrach.

Ich reiste zu meiner Tochter nach Kasan und nahm ihn mit mir. Hier wurde er in der Küche bei der übrigen Dienerschaft untergebracht; darüber grämte er sich sehr und er klagte mir, dass die Dienstboten, wenn sie ihre Späße untereinander trieben, ihm zusetzten und ihn dadurch beim Gebet störten. Nach ungefähr drei Monaten kam er schließlich zu mir herein und sagte:

,Ich will nach Hause gehen, es ist hier so unerträglich laut und langweilig.'

Ich entgegnete ihm: ,Wie willst du denn allein den weiten Weg machen, dazu noch mitten im Winter? Warte, bis ich abreise; dann nehme ich dich mit!'

Doch am folgenden Tag war mein Junge verschwunden. Ich ließ überall nach ihm suchen; er war aber nirgends zu finden. Eines Tages endlich erhalte ich aus der Krim von den Leuten, die auf dem Gut geblieben waren, einen Brief, dass man den Knaben am 4. April, am zweiten Ostertag, in meinem Haus tot aufgefunden habe. Er lag auf dem Fußboden in meinem Zimmer mit gefalteten Händen da, die Mütze unter den Kopf geschoben und in demselben leichten Kittelchen, in dem er davongelaufen war. Und so wurde er in meinem Garten begraben.

Als ich diese Nachricht erhielt, war ich über die Maßen erstaunt, wie der Knabe so rasch das Gut hatte erreichen können. Am 26. Februar war er fortgegangen und am 4. April hatte man ihn gefunden. Dreitausend Werst in einem Monat, das macht man ja kaum mit Pferden ! Hundert Werst im Tage ! Überdies war er auch noch so leicht gekleidet, hatte keinen Pass und keine Kopeke in der Tasche. Es ist ja möglich, dass ihn irgend jemand im Wagen ein Stück des Weges mitgenommen hat, aber auch das hätte nicht geschehen können ohne Gottes Fürsorge und Vorsehung. So hatte mein Junge - sagte der Herr, indem er seine Erzählung schloss - die Frucht des Gebets geschmeckt, während ich, so alt ich nun schon bin, seine geistige Höhe noch nicht erreicht habe !"

Hierauf sagte ich zu dem Herrn:

"Das Buch des heiligen Gregorius Palamas, das Ihr so oft zu lesen geruhtet, ist ein wundervolles Buch, ich kenne es. Aber darin wird meistens nur das mündliche Jesusgebet erörtert; lest indes einmal das Buch, das den Titel ,Tugendliebe' trägt, dort werdet Ihr die vollständige Lehre über das Jesusgebet finden, wie man es im Geist und im Herzen erlangen und seine süße Frucht schmecken kann."

Zugleich zeigte ich ihm meine "Tugendliebe". Er nahm meinen Rat mit Freuden an, wie ich bemerken konnte, und versprach, sich das Buch anzuschaffen.

Mein Gott ! - überlegte ich bei mir selbst - welch wunderbare Wirkungen der Kraft Gottes gehen doch von diesem Gebet aus ! Und wie lehrreich und weise ist diese Erzählung: die Rute hat den Knaben das Beten gelehrt, doch diente sie auch zugleich als Mittel ihn zu trösten ! Sind die Leiden und Kümmernisse, die uns auf unserm Weg zum Gebet begegnen, nicht auch solche Ruten in der Hand Gottes ? Warum fürchten wir uns also und sind verwirrt, da es doch die Hand unseres himmlischen Vaters ist, die sie uns zeigt, des Vaters, der von grenzenloser Liebe zu uns erfüllt ist, und da die Rute uns lehrt, das Gebet mit um so größerem Eifer zu verrichten, und uns unaussprechlichen Tröstungen entgegenführt?

Als ich meine Erzählungen beendet hatte, sagte ich zu meinem geistlichen Vater:

"Verzeiht mir, um Gottes willen, ich habe zu viel geschwatzt; die heiligen Väter nennen aber das maßlose Reden, selbst wenn es geistiger Natur ist, müßiges Geschwätz. Es ist auch Zeit, dass ich mich nach dem Gefährten umsehe, der mit mir nach Jerusalem pilgert. Betet für mich armen Sünder, auf dass Gott in Seiner großen Barmherzigkeit meine Wege zum Besten wende."

"Von ganzem Herzen wünsche ich dir, im Herrn geliebter Bruder", sagte er, "dass die liebeströmende Gnade Gottes dich auf deinem Weg schirme und geleite wie einst der Engel Raphael den Tobias!"

NACHWORT

Die "Erzählungen eines russischen Pilgers" gehören zu dem christlichen Erbgut, das sich das gläubige Russland aus dem Chaos des Umsturzes (1917) gerettet hat. Fern jeder dichterischen Absicht, wollen sie nichts weiteres bieten als einen "aufrichtigenn Bericht - keine Bekenntnisse - eines namenlosen Pilgers aus dem Volk über sein geistliches Leben, seinen religiösen Weg, seine inneren Erfahrungen und seine Erlebnisse und Begegnungen.

Aber so schlicht und kunstlos sie auch vorgetragen werden, so entfalten sie doch eine erstaunliche Wirkung, wie sie nur Werke ausstrahlen, die gleichermaßen im Leben und im Geist verwurzelt sind. Weit davon entfernt, sich in der Darstellung eines Einzellebens zu erschöpfen, das gewiss wie zahllose andere unser Interesse und unsere Anteilnahme verdiente, verwandeln sie sich unversehens zu einer Schilderung des alten Russlands im Lichte seines religiösen Bewusstseins - des "Heiligen Russlands". Unter diesem Gesichtspunkt erweisen sich die "Erzählungen" als ein einzigartiges Zeugnis, das wir neben dem theologischen und religionsphilosophischen Schrifttum und neben den Werken der großen Dichter nicht vermissen möchten. Denn ihr Wert liegt gerade darin, dass sich in ihnen der religiöse Geist des russischen Volkes in seiner ganzen Reinheit und Unmittelbarkeit ausspricht und enthüllt.

Die "Erzählungen" sind erstmals in Kasan im Jahre 1884 erschienen, um die Zeit also, da Tolstoj seine "Kritik der dogmatischen Theologie", "Meine Beichte" und die "Kurze Darlegung des Evangeliums" vollendet hatte, und da Dostojewskij mit seinem letzten Werk, den "Brüdern Karamasow" vor die Öffentlichkeit getreten war. Ihre Abfassung erfolgte indessen etwa zwei Jahrzehnte früher. Wie sich aus der dritten und vierten Erzählung ergibt, sind sie an jenen geistlichen Vater gerichtet, den der damals dreiunddreißigjährige Pilger in Irkutsk aufgesucht hatte, um sich geistlichen Rat zu holen, bevor er die Wallfahrt nach dem Alten Jerusalem antrat. Diesen geistlichen Vater dürfen wir wohl als den Verfasser der "Erzählungen" in dem Sinne vermuten, dass er, als Kundiger des "geistigen Gebets" und überhaupt des "geistigen Tuns" und als Vertrauter des Pilgers, dessen mündlichen Bericht in die schriftliche Form gebracht hat, möglichst getreu, nur da und dort ergänzend, wo es diesem etwa an theologischer Bildung gebrechen mochte. Wer dieser geistliche Vater war, wissen wir nicht. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass es ein Mönch gewesen sein muss. Jedenfalls steht fest, dass die Handschrift von Abt Paissij, dem 1883 verstorbenen Vorsteher des Tscheremissen-Klosters "Erzengel Michael" zu Kasan, bei einem russischen Mönch auf dem Berge Athos abgeschrieben wurde, und dass die "Erzählungen" zunächst in dieser Abschrift von Hand zu Hand gingen, bis sie auf den Wunsch vieler Leser im Druck erschienen, ergänzt durch Auszüge aus den heiligen Vätern und aus aszetischen Schriften. Prof. B. P. Wyscheslawzew in Paris besorgte dann 1930 eine Neu-Auflage.

Die Erwähnung Tolstojs und Dostojewskijs als Zeitgenossen des Pilgers bedeutet nicht nur eine geschichtliche Orientierung. Der Westen ist gewohnt, in diesen Großen die Gottessucher des Ostens zu sehen. Aber so gewiss der mahnende, prophetische Geist des einen wie die erschütternde Tragik des religiösen Rationalismus des andern zum geistigen Bilde Russlands gehören, so darf doch darin das unscheinbare, gottgeweihte Leben des namenlosen Pilgers nicht übersehen werden. Er vertritt geradezu das russische Volk, das beide Dichter den abtrünnigen Westlern immer wieder als Vorbild hinstellten. Eine innere Verwandtschaft des Pilgers mit Tolstoj und Dostojewskij ist indessen nicht zu verkennen. Er teilt mit ihnen das gleiche leidenschaftliche Suchen nach dem Absoluten und dieselbe Unbedingtheit der religiösen Haltung. Aber er ist Gott viel vorbehaltloser zugewandt. "Gott anzuhangen ist mir Seligkeit, auf den Herrn vertrauen meine Rettung" - dieses Wort des Psalmisten durchdringt sein ganzes inneres und äußeres Leben. Indem er dem Geheimnis des Gebets, dem geistigen, unablässigen Gebet nachspürt und, einmal in seinem Besitz, nicht ruht, bis es sich mit dem Herzschlag vereint und zu einem selbsttätigen Gebet wird, gibt er sich uneingeschränkt seinem Schöpfer zu eigen. Das unablässige Jesusgebet, nach der Lehre seines Starez die "Zusammenfassung des Evangeliums", bewirkt in ihm die mystische Vereinigung mit Gott, ja die Auflösung seiner Seele in Gott.

Den Pilger auf diesem Weg der Läuterung, Verinnerlichung und Vergeistigung belauschen zu können, ist für uns, die wir mit unzähligen Fasern der Welt und ihren uns unentbehrlich scheinenden Nichtigkeiten verhaftet sind, ein seltenes Erlebnis. Während wir uns von dem wirren Lärm des Alltags betäuben lassen, zieht er sich in die Stille und Einsamkeit zurück. Im Schutz einer Feldhütte oder Waldhöhle oder auf seinen frohen Wanderungen durch die Steppen, Einöden und Wälder der weiten russischen Erde sinnt er den verborgenen Geheimnissen der Heiligen Schrift nach. Er erwägt in sich die Herrenworte oder die Lehren der Apostel. Keine andere Wissenschaft ist ihm so wert wie die, welche ihm erschließt, was das bedeutet: "Das Reich Gottes in uns", "Christus anziehen", "das Verlöbnis des Geistes in unserem Herzen". Und wenn er es im Gebet erfasst hat, so sind ihm Leib und Seele von solchem Glück durchdrungen, dass er kaum Worte genug findet, den Zustand seiner Verzücktheit zu beschreiben: "Das Herzensgebet beglückte mich so sehr, dass ich nicht glaubte, es gäbe jemand auf der Welt, der glücklicher wäre als ich, und ich vermochte mir nicht vorzustellen, dass es im Himmelreich größere und herrlichere Wonnen geben könnte. Diese Seligkeit verklärte nicht nur meine Seele - auch die ganze Außenwelt erschien mir in wunderbarer Herrlichkeit, und alles lockte zur Liebe und zum Dank gegen Gott: die Menschen, die Bäume, die Pflanzen und Tiere - alles war mir unaussprechlich vertraut, in allem fand ich das Abbild des Namens Jesu Christi. Manchmal empfand ich eine solche Leichtigkeit in mir, als wäre ich überhaupt ohne Körper, und alsdann war mir, als ginge ich nicht, sondern schwebte in seliger Ergriffenheit durch die Luft; ein andermal wiederum versenkte ich mich tief in mich selbst und sah mein Innerstes klar vor mir; dann staunte ich über die Weisheit Gottes, die alles im menschlichen Körper so wohl angeordnet hatte; mitunter wieder erfüllte mich eine so erhabene Freude, als wäre ich König geworden; und mitten in all diesen Tröstungen wünschte ich, dass Gott mich möglichst bald sterben lassen möchte, damit ich mich in Dankbarkeit ergieße am Schemel Seiner Füße, in der Welt der Geister."

Der besondern Gefahren seines aszetisch-mystischen Tuns ist sich indessen der Pilger wohl bewusst. Er kennt die Versuchungen der geistigen Gier und des geistigen Hochmuts; er weiß auch um die Verlockungen durch Trugbilder und vermeintliche Sonderoffenbarungen; auch das Gefühl der Niedergeschlagenheit und Verzagtheit ist ihm nicht fremd. Aber dann richtet er sich wieder auf durch Reue, Demut, Entsagung und vor allem durch seine Treue im Gehorsam gegen die Weisungen seines geistlichen Lehrers, des verstorbenen Starez, der ihn in seinen Träumen auch weiterhin leitet und mahnt; oder er holt sich Stärkung im geistigen Gebet und durch die Teilnahme an der göttlichen Liturgie und die Vereinigung mit Christus im Abendmahl. Und wieder aufgerichtet, setzt er seine Pilgerschaft fort, um hoch und niedrig die gnadenvolle Wirkung des unablässigen Jesusgebets zu verkünden, denn auch die Welt kann ein Leben der "Hesychia", der Stille und gottseligen Ruhe führen.

So erscheint denn der Pilger wie ein glücklicherer Bruder der beiden großen Dichter, der ihnen weit vorangegangen ist auf dem Wege zum göttlichen Licht - den einzuholen der eine verzweifelt und der andere nicht müde wird zu mahnen. Gehört er doch in die Nähe jener Auserwählten, von denen Dostojewskij in den "Brüdern Karamasow" schreibt: "Wie sehr aber werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen sage, dass von den Gebeten dieser Demütigen und nach Einsamkeit und Stille sich Sehnenden die Rettung Russlands ausgehen wird."

Die Frage ist berechtigt, aus welchen Quellen die Frömmigkeit des Pilgers ihren Durst stillte. Man wird finden, dass es nicht allein die süße, lebendige Gewohnheit der kirchlichen Gebete, Bräuche und Handlungen war, die seit der Kindheit in ihm die Lust zum Beten wach hielten. Es war auch nicht allein die Bibel, nach welcher der Knabe vom Großvater in die Kunst des Lesens eingeführt worden war, und die ihn nun auf seiner Wanderschaft begleitete. In seinem Beutel, der ihm um die Schulter hängt, findet sich noch ein anderer Schatz, die "Tugendliebe". Dieser Umstand ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Pilgers und seiner geistigen und religiösen Eigenart. Während es das Schicksal der russichen Intelligenz war, sich mit der so andersgearteten westlichen Kultur auseinandersetzen zu müssen, der die einen verfielen und die andern sich nur mit Mühe wieder entzogen, blieb der Pilger völlig vom Osten umsponnen. Er ging aber nicht in der Gegenwart auf. Indem ihn die Vorsehung in die Arme des russischen Mönchtums führte, das ihm in der Person des alten Einsiedlers begegnete, eröffnete sich ihm die gewaltige aszetischmystische Überlieferung der östlichen Frömmigkeit. Behutsam ist er von seinem geliebten Starez in das Denken und vor allem in das Fühlen und Tun der früheren Gottsucher eingeführt worden, und diesem Anruf einer heroischen christlichen Vergangenheit hat er mit kindlicher Bereitwilligkeit geantwortet. So wird denn in dem Pilger, wenn auch in anderer Zeit und unter veränderten Bedingungen, der Geist der heiligen Väter, Einsiedler und Mönche wieder lebendig. Er reiht sich gewissermaßen jenen an, die in der Frühzeit des Christentums in den Einsiedeleien und Klöstern Ägyptens, Palästinas, Syriens und Anatoliens um das Himmelreich rangen, und zu diesen gesellen sich als seine geistlichen Lehrer jene Späteren, die im 14. Jahrhundert auf dem heiligen Berg Athos die Flamme des Hesychasmus neu entfachten. Von ihnen übernimmt er weniger das spekulative theologische Gedankengut als vielmehr das aszetische Erbe und besonders die Übung des geistigen Gebets, des unablässigen Jesusgebets. Aus ihren Schriften, die in der Sammlung der "Tugendliebe" im 19.Jahrhundert vor allem in Russland aus den Einsiedeleien der Starzen eine so weite Verbreitung unter dem Volke fanden, schöpft der Pilger immer wieder Belehrung, Erbauung und Anleitung in seinem "geistigen Turm, sucht er Aufhellung dunkler Stellen der Heiligen Schrift. Für sie wirbt er denn auch, wo immer sich ihm Gelegenheit bietet. Als Jünger der Starzen aber reicht er den Großen der russischen Geistesgeschichte demütig die Hand: haben denn nicht in der Zelle eines Starez, des Einsiedlers Ambrosij von Optino (1812-1891), ein Iwan Kirejewskij, ein Dostojewskij, ein Konstantin Leontjew, ja selbst ein Tolstoj die Nähe Gottes verspürt und vertrauensvoll nach Rat gesucht?

Die "Erzählungen" lassen deutlich erkennen, dass das Leben des Pilgers keinen vereinzelten Fall darstellt. Nach Berdjajew ist den Russen überhaupt der Geist der Pilgerschaft und das leidenschaftliche Suchen der Gottesstadt und der göttlichen Wahrheit eigentümlich. Die scheinbar widersprüchlichen Seiten der russischen Seele - die Loslösung von der Welt, die Weltflucht, und die allumfassende Liebe zu allem Geschaffenen, das Bewusstsein, dass die Erde für den Menschen keine bleibende Stätte ist, und dass es daher gilt, "seelenrettende Taterm zu tun - haben im Pilgertum einen typischen Ausdruck gefunden. Gewiss ist dieses, wie jeder andere Stand - und vielleicht noch mehr als ein anderer - der Gefahr der Entartung ausgesetzt, und die "Erzählungen" lassen es an Andeutungen darüber nicht fehlen. Aber gerade unser Pilger zeigt, wie sehr er von seiner Berufung durchdrungen ist, die ihn so nahe dem Stand des mönchischen Einsiedlers bringt. Man wird kaum fehlgehen, wenn man die hohe Stufe seines Pilgertums, ganz abgesehen von der innern Bereitschaft und dem angeborenen und ungetrübten religiösen Gefühl, der Aszese und Gebetsübung zuschreibt, die ihn sein Starez gelehrt hatte, und die all sein Denken, Fühlen und Tun verinnerlichen und vergeistigen und wachhalten in der unermüdlichen Verfolgung des einzigen Ziels: der Vereinigung mit Gott.

Aber mag auch in den "Erzählungenn der Bericht über das "geistige Tun" des Pilgers im Vordergrund stehen, mag er sich auch in der Schilderung seiner persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen zu erschöpfen scheinen: so blickt uns doch aus allem das Bild des alten ursprünglichen Russlands an. Zwar fallen nur dann und wann Namen von Landschaften und Städten, wie Orel, Kijew, Tobolsk, Irkutsk, Odessa, aber mit dem Pilger durchwandern wir ganz Russland. Wir erleben die ungeheure russische Weite, die unabsehbaren Äcker und Felder, die endlosen Wälder, Steppen und Einöden. Wir begleiten ihn auf den staubigen Landstraßen oder auf Feldwegen und überqueren mit ihm die vereisten winterlichen Flüsse. Ungezählte Gehöfte, Weiler und Dörfer ziehen an uns vorüber; Kirchen und Kapellen tauchen auf und entschwinden wieder unsern Blicken, und der Klang ihrer Glocken hallt uns noch lange nach. Und erst die russischen Menschen! Wie viele Stände und Berufe treffen wir da an, wie viel Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte, ganz so, wie sie der Alltag zeigt. Oft sind sie nur flüchtig gezeichnet, nicht selten aber auch ausführlich geschildert: Bauern, Gutsbesitzer, Handwerker, Händler, Lehrer, Gerichtsschreiber, Amtsmänner, Richter, Heilgehilfen, Posthalter, Kleinbürger, Mägde, Kirchenhüter, Dorfgeistliche, Nonnen und Mönche; selbst ein Fürst fehlt nicht. Es ist das Russland um die Mitte des 19. Jahrhunderts, noch vor Aufhebung der Leibeigenschaft, miniaturenhaft gezeichnet, voll Anschaulichkeit und Frische, mit all seinen Fehlern und Vorzügen, mit allen seinen Möglichkeiten. In das Bild dieses Russlands fügt sich die Gestalt unseres Pilgers unmerklich ein, Mensch unter Menschen.

Doch er lässt sich nicht vergessen. Mag auch dieses Russland, in welchem er seine Pilgerschaft vollendet hat, untergegangen sein, so wird doch - wie viele hoffen das verwandelte Russland, wenn es einmal nach schmerzlichen Erfahrungen die Grenzen der Diesseitigkeit erreicht hat, sich aus der uralten, unversieglichen mystischen Quelle Kräfte geistiger Erneuerung schöpfen, um die Gnade des Allerbarmers anzurufen. Dann wird mit dem Starez der Pilger neu erstehen und durch die russischen Lande wandern, allem Volke die Großtaten Gottes verkündend.

Literatur

  • Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers (Die vollständige Ausgabe), übersetzt von Reinhold von Walter, herausgegeben und eingeleitet von Emmanuel Jungclaussen, Herder Verlag Freiburg-Basel-Wien 2020 (20. Auflage [1. Auflage. 1974]; 240 Seiten, Kartoniert, ISBN 978-3-451-04947-7).