Au milieu des sollicitudes (Wortlaut)

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Enzyklika
Au milieu des sollicitudes

von Papst
Leo XIII.
an die Erzbischöfe, Bischöfe und alle Katholiken Frankreichs
über die Kirche und Staat in Frankreich
16. Februar 1892

(Offizieller französischier Text: ASS XXIV (1891-1892) 519-529)

(Quelle: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, Hrsg. Arthur Utz + Birgitta Gräfin von Galen, XXIII 177-207, S. 2356-2379; Scientia humana Institut Aachen 1976, (Imprimatur Friburgi Helv., die 2. decembris 1975 Th. Perroud, V.G. Die Nummerierung folgt der englischen Fassung auf der Vatikanseite)

Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Ehrwürdige Brüder,
Gruß und Apostolischen Segen !

Einleitung: Die traurige Lage der Kirche in Frankreich

1 Inmitten der Sorgen um die Kirche im gesamten haben Wir im Verlauf unseres Pontifikats zu verschiedenen Malen mit Freuden die Gelegenheit wahrgenommen, Unsere Liebe zu Frankreich und seinem edelmütigen Volk kundzutun. Und Wir wollten mit einer Unserer Enzykliken, die noch in aller Erinnerung ist, in feierlicher Form und aus tiefstem Herzen dies zum Ausdruck bringen. Ebendiese Liebe ließ uns aufmerksam die zum Teil betrübenden, zum Teil tröstlichen Ereignisse, die sich seit mehreren Jahren bei euch zugetragen haben, beobachten und überdenken.

2 Wie sollten Wir nicht von lebhaftem Schmerz erfüllt sein, wenn Wir in der gegenwärtigen Stunde an die Tragweite der ausgedehnten Verschwörung denken, die gewisse Leute angezettelt haben, um das Christentum in Frankreich zu vernichten, und an die Feindseligkeit, mit der sie die Verwirklichung ihrer Pläne verfolgen, wobei sie die nach dem Gefühl der Mehrheit des Volkes elementarsten Begriffe von Freiheit, Gerechtigkeit und Achtung vor den unveräußerlichen Rechten der katholischen Kirche mit Füßen treten? Und wie sollen Wir der Bitterkeit, die Uns erfüllt, und den Sorgen, die auf Uns einstürmen, Ausdruck verleihen, wenn Wir die unheilvollen Folgen dieser sträflichen Angriffe, die zum Verderben der Sitten, der Religion und selbst der rechtverstandenen politischen Interessen führen, eine nach der andern sich manifestieren sehen?

3 Auf der anderen Seite fühlen Wir einen nicht geringen Trost, wenn Wir sehen, wie dieses gleiche Volk Liebe und Eifer für den HI. Stuhl im gleichen Maße verdoppelt, wie es ihn immer mehr verlassen und, müssten Wir sagen, immer mehr in aller Welt angefeindet sieht. Bewegt von einem tiefen religiösen und echt patriotischen Gefühl sind die Vertreter aller sozialen Schichten Frankreichs zu verschiedenen Malen zu Uns geeilt, glücklich, der Kirche in den drängenden Nöten beizustehen, zugleich im Verlangen, Uns um Aufklärung und Rat zu bitten, um sicher zu sein, dass sie sich inmitten der gegenwärtigen Heimsuchungen nicht um einen Schritt von den Weisungen des Oberhauptes der Gläubigen entfernen. Wir haben Unsererseits in Wort und Schrift Unseren Söhnen die Fragen offen beantwortet, die sie Uns als ihrem Vater zu Recht gestellt haben. Und weit davon entfernt, sie zu entmutigen, haben Wir sie inständig ermahnt, ihre Liebe und ihre Anstrengungen für die Verteidigung des katholischen Glaubens und zugleich des Vaterlandes zu verdoppeln: zwei Pflichten ersten Ranges, denen sich kein Mensch in diesem Leben entziehen kann.

4 Auch heute halten Wir es für angebracht und sogar für notwendig, erneut Unsere Stimme zu erheben und noch eindringlicher nicht nur alle Katholiken, sondern, möchten Wir sagen, alle rechtlich und vernünftig denkenden Franzosen zu ermahnen, jeden Keim politischen Haders zu ersticken, um ihre Kräfte einzig für die Befriedung ihres Vaterlandes einzusetzen. Diese Befriedung - alle kennen ihren Preis, alle wünschen sie immer sehnlicher herbei. Und Wir ersehnen sie mehr als irgendjemand sonst, denn Wir vertreten auf Erden den "Gott des Friedens" </ref>Non enim est dissensionis Deus, sed pacis (1 Kor 14).</ref>; daher laden Wir mit diesem Schreiben alle redlichen Seelen, alle großmütigen Herzen ein, Uns zu helfen, sie dauerhaft und wirksam zu machen.

1. Grundsätzliches zu "Kirche und politische Gemeinschaft"

Die Religion als wesentliche Bedingung echter sozialer Beziehungen

5 Vor allem wollen Wir zum Ausgangspunkt eine allbekannte Wahrheit nehmen, die jeder vernünftige Mensch unterschreiben kann und die die Geschichte aller Völker laut verkündet, dass nämlich die Religion, und die Religion allein, das Band der Gemeinschaft knüpfen kann; dass sie allein genügt, den Frieden einer Nation fest und dauerhaft zu begründen. Wenn mehrere Familien sich, ohne Verzicht auf die Rechte und Pflichten der Hausgemeinschaft, unter dem Antrieb der Natur zusammenschließen, um Glieder einer anderen, größeren, bürgerliche Gesellschaft genannten Familie zu werden, ist es nicht nur ihr Ziel, dadurch ihr materielles Wohlergehen zu sichern, sondern daraus vor allem die Wohltat der sittlichen Vervollkommnung zu gewinnen. Sonst würde sich die Gesellschaft nur wenig über die Herden vernunftloser Wesen erheben, deren ganzes Dasein der Befriedigung sinnlicher Instinkte dient. Und mehr noch: ohne diese sittliche Vervollkommnung könnte man leicht nachweisen, dass die bürgerliche Gesellschaft, statt dem Menschen als Menschen einen Vorteil zu bieten, ihm zum Verderben würde.

6 Die Sittlichkeit aber muss im Menschen die verschiedenartigsten Rechte und Pflichten miteinander in Einklang bringen, weil sie selbst in jedem menschlichen Akt impliziert ist; schon deshalb setzt sie notwendigerweise Gott voraus und, mit Gott, die Religion, diese heilige Bindung, die vor jeder anderen Bindung den Menschen mit Gott vereint. In der Tat bedeutet die Idee der Sittlichkeit vor allem ein Verhältnis der Abhängigkeit gegenüber dem Wahren, das das Licht des Geistes ist, gegenüber dem Guten, das das Ziel des Willens ist; ohne das Wahre und das Gute gibt es keine Sittlichkeit, die diesen Namen verdiente. Welche Wahrheit aber ist die grundlegende und wesentliche, von der alle Wahrheit sich herleitet? Es ist Gott. Welches Gut ist das höchste, aus dem jedes andere Gut hervorgeht? Es ist Gott. Wer ist schließlich der Schöpfer und Erhalter unseres Verstandes, unseres Willens, unseres ganzen Seins sowie das Ziel unseres Lebens? Es ist wiederum Gott. Da nun die Religion die innere und äußere Anerkennung dieser Abhängigkeit ist, die wir Gott aus Gerechtigkeit schulden, so ergibt sich daraus eine unumgängliche Konsequenz: Alle Bürger sind verpflichtet sich zusammenzutun, um in der Nation das wahre religiöse Bewusstsein zu erhalten und es nötigenfalls zu verteidigen, wenn jemals eine atheistische Schule trotz aller Gegenbeweise der Natur wie der Geschichte sich bemühen sollte, Gott aus der Gesellschaft zu vertreiben, weil sie sicher ist, damit in kurzer Zeit auch das sittliche Gefühl auf dem Grunde des menschlichen Gewissens selbst zu vernichten. Hierüber kann es unter Menschen, die das Gefühl für Redlichkeit noch nicht verloren haben, keinerlei Meinungsverschiedenheiten geben.

Frankreich als katholische Nation

7 In den Katholiken Frankreichs muss das religiöse Gefühl noch tiefer und umfassender sein, da sie das Glück haben, der wahren Religion anzugehören. Wenn die religiösen Überzeugungen tatsächlich immer und überall die Grundlage für die Sittlichkeit der menschlichen Handlungen und für die Existenz jeder wohl geordneten Gesellschaft abgegeben haben, so ist es evident, dass die katholische Religion allein schon dadurch, dass sie die Religion der wahren Kirche Jesu Christi ist, mehr als jede andere die notwendige Wirkkraft besitzt, um das Leben der Gesellschaft wie des Einzelnen zu regeln. Bedarf es eines überzeugenderen Beispiels? Frankreich selbst liefert es. - In dem Maße, in dem es im christlichen Glauben Fortschritte machte, stieg es Stufe um Stufe zu jener sittlichen Größe auf, die es als politische und militärische Macht erreichte. Denn der natürlichen Großmut seines Herzens hat die christliche Nächstenliebe eine reiche Quelle neuer Energien erschlossen; seine erstaunliche Tatkraft fand Ansporn und Licht, Leitung und Garantie der Beständigkeit in jenem christlichen Glauben, der durch die Hand Frankreichs so ruhmreiche Seiten in den Annalen der Menschheit geschrieben hat. Und fügt nicht auch heute noch sein Glaube dem vergangenen Ruhm neuen Ruhm hinzu? Unerschöpflich an Geistesgaben und materiellen Hilfsquellen, vervielfältigt es auf seinem Heimatboden die Werke der Barmherzigkeit; mit Bewunderung sieht man es in fernen Ländern mit seinem Geld, durch die Mühen seiner Missionare und selbst um den Preis ihres Blutes zugleich mit dem Ansehen Frankreichs die Wohltaten der katholischen Religion ausbreiten. Auf diesen Ruhm zu verzichten, würde kein Franzose wagen, ganz gleich, welche Ansichten er sonst vertritt: es würde bedeuten, das Vaterland zu verleugnen.

8 Die Geschichte eines Volkes zeigt unleugbar, welches das schöpferische und bewahrende Element seiner sittlichen Größe ist. Wenn ihm dieses Element verloren geht, kann weder Geld in Überfluss noch Waffengewalt es vor dem sittlichen Verfall, vielleicht sogar Untergang bewahren. Wer sieht nun nicht ein, dass für alle Franzosen, die den katholischen Glauben bekennen, seine Erhaltung das wichtigste Anliegen sein muss, und dies mit umso größerem Eifer, als gerade in ihrer Mitte das Christentum den unversöhnlichen Feindseligkeiten vonseiten der Sekten ausgesetzt ist? Auf diesem Gebiet können sie sich keine Gleichgültigkeit, keinen Parteienhader leisten, denn jene verriete eine eines Christen unwürdige Feigheit, diese wäre die Ursache einer verhängnisvollen Schwäche.

Der durch Jahrhunderte hindurch gegen die Kirche erhobene Vorwurf, sie suche politische Erfolge

9 Hier müssen Wir, bevor Wir weiter fortfahren, auf eine Verleumdung hinweisen, die heimtückisch verbreitet wird, um die gehässigen Unterstellungen gegen die Katholiken und gegen den Hl. Stuhl glaubhaft zu machen. - Man gibt vor, dass die Einigkeit und die Einsatzbereitschaft, die den Katholiken zur Verteidigung ihres Glaubens eingeschärft werden, ihren geheimen Beweggrund gar nicht so sehr in der Vertretung der religiösen Interessen als vielmehr in dem Bestreben haben, der Kirche die politische Herrschaft über den Staat zu verschaffen. - Das bedeutet in Wahrheit, eine uralte Verleumdung wiederaufleben lassen, eine Erfindung, die von den frühesten Feinden des Christentums stammt. Wurde sie nicht ganz zu Anfang schon gegen die anbetungswürdige Person des Erlösers selbst ausgesprochen? Man beschuldigte ihn, aus politischen Gründen zu handeln, während er mit seiner Predigt die Seelen erleuchtete und mit den Schätzen seiner göttlichen Güte die leiblichen und seelischen Leiden der Unglücklichen erleichterte: "Wir haben gefunden, dass dieser unser Volk aufwiegelt und verbietet, dem Kaiser Steuern zu zahlen, und sich für den Messiaskönig ausgibt. … Wenn du diesen freigibst, bist du kein Freund des Kaisers. Jeder, der sich selbst zum König macht, ist des Kaisers Widersacher… Wir haben keinen König außer dem Kaiser" <ref>Hunc invenimus subvertentem gentem nostram, et prohibentem tributa daTe Caesari, et dicentem se Christum regem esse (Lk XXIII 2). Si hunc dimittis, non es amicus Caesaris: omnis enim qui se regem facit contradicit Caesari ...Non habemus regem nisi Caesarem (Joh 19, 12-15).</ref>.

10 Diese Verleumdungen und Drohungen erzwangen von Pilatus das Todesurteil gegen den, den er wiederholt für unschuldig erklärt hatte. Die Urheber dieser und ähnlich starker Lügen unterließen nichts, um sie durch ihre Sendlinge weiterzuverbreiten, wie es der hl. Justinus der Märtyrer den Juden seiner Zeit vorwarf: "Anstatt zu bereuen, nachdem ihr seine Auferstehung von den Toten erfahren habt, sandtet ihr von Jerusalem klug gewählte Männer aus, um zu verbreiten, dass eine gottlose Häresie und Sekte von einem gewissen Verführer namens Jesus von Galiläa gegründet worden sei" <ref>Tantum abest ut poenitentiam egeritis, postquam Eumamortuis resurrexisse accepistis, ut etiam ... eximiis delectis viris, in omnem terrarum orbem eos miseritis, qui renunciarent haeresim et sectam quamdam impiam et iniquam excitatam esse a lesu quodam galilaeo seductore (Dialog. cum Tryphone).</ref>.

11 Die Feinde des Christentums wussten sehr genau, was sie taten, wenn sie es so dreist verleumdeten; es war ihr Plan, gegen seine Ausbreitung einen furchterregenden Gegner auftreten zu lassen, das Römische Reich. Die Verleumdung machte ihren Weg, und die Heiden nannten in ihrer Leichtgläubigkeit die ersten Christen um die Wette: "unnütze Wesen, gefährliche Bürger, Friedensstörer, Feinde des Reiches und der Kaiser" <ref> Tertullian, In Apolog.; Minutius Felix, In Octavio.</ref>. Vergebens versuchten die Apologeten des Christentums durch ihre Schriften und die Christen durch ihre mustergültige Lebensführung die Absurdität und das Verbrecherische dieser Bezeichnungen zu beweisen: man ließ sich nicht einmal dazu herab, sie anzuhören. Allein schon ihr Name brachte ihnen eine Kriegserklärung ein; und die bloße Tatsache, Christen zu sein, und sonst kein anderer Grund stellte die Christen zwangsweise vor die Alternative: Apostasie oder Martyrium. - Dieselben Vorwürfe und dieselben Zwangsmaßnahmen wiederholten sich mehr oder weniger in den nachfolgenden Jahrhunderten, so oft Regierungen am Ruder waren, die übertrieben eifrig über ihre Macht wachten und der Kirche übel gesonnen waren. Jedes Mal brachten sie in der Öffentlichkeit den Vorwand des angeblichen Sicheinmischens der Kirche in Staatsangelegenheiten vor, um dem Staat bei seinen übergriffen und Gewalttätigkeiten gegen die katholische Religion einen Anschein von Recht zu geben.

12 Wir wollten diese Vergangenheit hier in kurzen Zügen in Erinnerung bringen, damit sich die Katholiken nicht durch die Gegenwart entmutigen lassen. Im Grunde ist der Kampf immer der gleiche: Immer ist Jesus Christus dem Widerspruch der Welt ausgesetzt; immer werden die gleichen Mittel von den modernen Gegnern des Christentums angewandt, Mittel, die im Grunde uralt sind und kaum in der Form geringfügig abgewandelt werden; aber immer sind es auch die gleichen Abwehrmittel, auf die die Christen der Gegenwart durch unsere Apologeten, unsere Kirchenlehrer und unsere Märtyrer deutlich hingewiesen werden. Was sie getan haben, das sollen wir nun unsererseits tun. Lasst uns also die Ehre Gottes und seiner Kirche über alles stellen; lasst uns für sie arbeiten mit beständiger, echter Hingabe; und überlassen wir die Sorge um den ErfolgJesus Christus, der uns sagt: "In der Welt werdet ihr Bedrängnis haben; aber habt Vertrauen, ich habe die Welt überwunden" <ref>In mundo pressuram habebitis; sed confidite, ego vici mundum (Joh 16, 33).</ref>.

2. Beurteilung der verschiedenen Staatsformen

13. Um dieses Ziel zu erreichen, ist, wie Wir schon gesagt haben, eine starke Einigkeit vonnöten, und wenn man dahin gelangen will, ist es unerlsslich, alles beiseite zu schieben, was ihre Kraft und Wirksamkeit mindern könnte. - Hier wollen Wir hauptsächlich auf die politischen Meinungsverschiedenheiten der Franzosen bezüglich der Haltung, die der gegenwärtigen Republik gegenüber einzunehmen sei, hinweisen, auf eine Frage also, die Wir gern mit der Klarheit, die das Gewicht des Gegenstandes verlangt, behandeln möchten, wobei Wir von den Prinzipien ausgehen und auf die praktischen Konsequenzen eingehen werden.

Die Staatsformen, abstrakt beurteilt

14. Verschiedene politische Regierungen haben im Verlauf dieses Jahrhunderts in Frankreich einander abgelöst, und jede hatte ihre bestimmte Form: Kaiserreiche, Monarchien, Republiken. Wenn man im Abstrakten verbleibt, könnte man leicht definieren, welche, in sich betrachtet, die beste Form ist; man kann auch mit vollem Recht sagen, dass jede von ihnen gut sei, sofern sie nur fähig ist, geradlinig auf ihr Ziel zuzugehen, auf das Gemeinwohl nämlich, für das die gesellschaftliche Autorität eingesetzt worden ist; schließlich muss noch hinzugefügt werden, dass unter einem bestimmten Gesichtspunkt diese oder jene Regierungsform vorzuziehen sei, weil sie dem Charakter und den Sitten dieser oder jener bestimmten Nation besser angepasst ist. In der Ordnung des theoretischen Denkens haben die Katholiken wie jeder andere Staatsbürger die volle Freiheit, die eine Regierungsform der andern vorzuziehen, ebendeshalb, weil keine der gesellschaftlichen Formen von sich aus den Regeln der gesunden Vernunft und den Maximen der christlichen Doktrin widerspricht. All dies genügt auch, um vollauf die Weisheit der Kirche zu rechtfertigen, wenn sie in ihren Beziehungen zu den politischen Gewalten von den sich unterscheidenden Formen absieht, um mit ihnen die großen religiösen Anliegen der Völker zu behandeln, aus dem Bewusstsein heraus, dass es ihre Pflicht ist, diese über alle anderen Interessen hinweg unter ihren Schutz zu nehmen. Unsere früheren Enzykliken haben schon diese Prinzipien dargelegt; trotzdem war es notwendig, hier nochmals daran zu erinnern, um das Thema, das uns heute beschäftigt, besser entfalten zu können.

Die legitime Staatsform

15. Wenn man von der abstrakten Behandlung in den Bereich der Tatsachen hinabsteigt, muss man sich sorgfältig hüten, die soeben aufgestellten Prinzipien zu vernachlässigen: sie bleiben unerschütterlich. Nur nehmen sie, indem sie sich in die Tatsachen inkarnieren, in gewissem Sinn den Charakter des Zufälligen an, je nach dem Milieu, in dem sie Anwendung finden. Anders ausgedrückt: wenn jede politische Form in sich gut ist und zur Regierung der Völker Verwendung finden kann, so trifft man doch in der Wirklichkeit die politische Gewalt nicht bei allen Völkern in der gleichen Form an; jedes besitzt seine eigene Staatsform. Diese Form entsteht aus historischen oder nationalen, immer aber menschlichen Bedingungen, die in einer Nation die traditionellen und selbst fundamentalen Gesetze hervorbringen; und durch diese wird eine bestimmte Regierungsform, eine bestimmte Grundlage für die Übertragung der höchsten Gewalten determiniert.

In jedem Fall: Anerkennung der legitimen Staatsgewalt

16. Es erübrigt sich, daran zu erinnern, dass jeder einzelne Bürger gehalten ist, diese Regierungen anzuerkennen und nichts zu tun, um sie zu stürzen oder ihre Form zu verändern. Daher kommt es, dass die Kirche, die den authentischsten und höchsten Begriff von der staatlichen Souveränität hegt, da sie sie von Gott herleitet, stets jene Lehren zurückgewiesen und stets jene Menschen verurteilt hat, die sich gegen die legitime Autorität empörten. Und dies auch zu Zeiten, da die Träger der Gewalt sie gegen sie missbrauchten, wodurch sie sich der mächtigsten Stütze ihrer Autorität und des wirksamsten Mittels, vom Volke Gehorsam gegenüber ihren Gesetzen zu erreichen, beraubten. Man kann in diesem Zusammenhang nicht oft genug die berühmten Vorschriften bedenken, die der Apostelfürst inmitten der Verfolgungen den ersten Christen gab: "Erweiset jedermann Achtung, liebet die Brüder, fürchtet Gott, ehrt den König",<ref>Omnes honorate; fraternitatem diligite; Deum timete; regem honorificate (1 Petr 2, 17). </ref> sowie die des hl. Paulus: "Ich ermahne nun zu allererst, Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen für alle Menschen zu verrichten, für Könige und alle Obrigkeiten, damit wir in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit ein stilles und ruhiges Leben führen. So ist es gut und wohlgefällig vor Gott unserem Heiland".<ref>Obsecro igitur primum omnium fieri obsecrationes, orationes, postulationcs, gratiarum actiones, pro omnibus hominibus; pro regibus, ct omnibus qui in sublimitate sunt, ut quietam et tranquillam vitam agamus, in omni pietate ct castitate: hoc enim bonum est, et acceptum coram Salvatorc nostro Deo (1 Tim 2, 1 f.). </ref>

Wechsel der Regierungen, Einheit der staatlichen Gewalt als Gewalt aus Gott

17. Jedoch muss man hier sorgfältig beachten: Was immer die Form der Staatsgewalt in einer Nation sein mag, man kann sie nicht als so definitiv betrachten, dass sie unverändert bleiben muss, selbst wenn dies die Absicht derer war, die sie ursprünglich festgelegt haben. - Allein die Kirche Jesu Christi konnte ihre Regierungsform bewahren und wird sie sicherlich bis ans Ende der Zeiten bewahren. Gegründet durch den, der war, ist und sein wird in Ewigkeit<ref>Iesus Christus heri, et hodie: ipse in saecula (Hebr XIII 8).</ref> hat sie von ihm von Anfang an alles erhalten, was sie braucht, um ihren göttlichen Auftrag im bewegten Meer der menschlichen Dinge zu verwirklichen. Sie hat es nicht nötig, ihre wesentliche Verfassung abzuändern, sie hat nicht einmal die Möglichkeit, auf die Bedingungen wahrer Freiheit und souveräner Unabhängigkeit, mit der die göttliche Vorsehung sie im Interesse der Seelen ausgestattet hat, zu verzichten. - Was aber die rein menschlichen Gemeinschaften anbelangt, so ist es eine hundertfach in die Geschichte eingravierte Tatsache, dass die Zeit, die große Umgestalterin alles Irdischen, in ihren politischen Institutionen tiefgreifende Veränderungen bewirkt. Mitunter begnügt sie sich damit, etwas an der bestehenden Regierungsform zu ändern; mitunter ersetzt sie sogar die ursprünglichen Formen durch andere, völlig verschiedene, einschließlich der Art und Weise der übertragung der höchsten Gewalt.

18. Wie vollziehen sich aber die politischen Veränderungen, von denen Wir sprechen? Manchmal folgen sie auf heftige, allzu häufig blutige Krisen, in denen die zuvor vorhandenen Regierungen verschwinden; dann herrscht die Anarchie, und alsbald ist die öffentliche Ordnung bis in ihre Grundlagen erschüttert. Damit drängt sich der Nation ein sozialer Notstand auf, und sie muss selbst, ohne zu zögern, für Abhilfe sorgen. Wie sollte sie nicht das Recht und mehr noch die Pflicht haben, sich gegen einen Zustand zu wehren, der sie so tief erschüttert, und den öffentlichen Frieden in der Ruhe der Ordnung wiederherzustellen? Dieser soziale Notstand also rechtfertigt die Schaffung und die Existenz neuer Regierungen, welche Form sie auch annehmen mögen; denn gemäß der Voraussetzung, von der Wir bei Unseren Überlegungen ausgehen, ist keine Ordnung möglich ohne Regierung. Daraus folgt, dass in derartigen Umständen die ganze Neuheit sich auf die politische Form der Staatsgewalt beschränkt oder auf die Weise ihrer Übertragung; sie betrifft in keiner Weise die Gewalt an sich. Diese bleibt unveränderlich und der Achtung würdig; denn, ihrer Natur nach betrachtet, wird sie konstituiert und ist sie gefordert, um das Gemeinwohl zu verwirklichen, das als höchstes Ziel die menschliche Gemeinschaft begründet. Mit anderen Worten: Unter jedweder Voraussetzung ist die Staatsgewalt, in sich betrachtet, aus Gott und immer aus Gott: "Denn es gibt keine Gewalt außer von Gott".<ref>Non est enim potestas nisi a Deo (Röm 14). </ref>

19. Wenn folglich neue Regierungen, die diese unveränderliche Gewalt repräsentieren, sich gebildet haben, so ist ihre Annahme nicht nur erlaubt, sondern erfordert, nämlich geboten im Interesse des allgemeinen Wohls, das sie hervorgebracht hat und aufrecht erhält. Umso mehr, als die Rebellion den Hass unter den Bürgern schürt, Bürgerkriege provoziert und die ganze Nation in das Chaos der Anarchie stürzen kann. Und diese schwere Pflicht der Achtung und Unterwerfung bleibt bestehen, solange die Erfordernisse des Gemeinwohls es verlangen, denn dieses Gut ist in der Gesellschaft nach Gott das erste und letzte Gebot.

Positive Haltung der Kirche zu der jeweils gegebenen Regierung

20. Das erklärt auch das kluge Vorgehen der Kirche, die die Beziehungen zu den zahlreichen Regierungen aufrecht erhalten hat, die in Frankreich in weniger als einem Jahrhundert einander abgelöst haben, und zwar in keinem Fall ohne heftige und tiefgreifende Erschütterungen hervorzurufen. Eine solche Haltung ist für alle Franzosen die sicherste und heilsamste Verhaltensweise in ihren staatsbürgerlichen Beziehungen zur Republik, die die gegenwärtige Staatsform der Nation ist. Fern seien von ihnen die politischen Zwistigkeiten, die sie trennen; alle ihre Anstrengungen müssen sich vereinigen, um die sittliche Größe ihres Vaterlandes zu bewahren oder zu erneuern.

Achtung gegenüber der Staatsgewalt schließt Opposition gegenüber dem legislatorischen Gebrauch der Gewalt nicht aus

21. Aber da erhebt sich ein Einwand: "Diese Republik, bemerkt man, ist von derartig antichristlichen Gefühlen beseelt, dass alle rechtlich denkenden Menschen, und mehr noch die Katholiken, sie aus Gewissensgründen nicht annehmen können." Das ist es vor allem, was zu den Meinungsverschiedenheiten Anlass gegeben und sie noch vertieft hat. - Man hätte diese bedauerlichen Auseinandersetzungen vermeiden können, wenn man die wichtige Unterscheidung zwischen etablierter Gewalt und Gesetzgebung sorgfältig beachtet hätte. Die Gesetzgebung unterscheidet sich so weitgehend von den politischen Gewalten und ihrer Form, dass unter einer Regierung mit der besten Regierungsform die Gesetzgebung verwerflich sein kann, während andererseits unter einer Regierung mit der unvollkommensten Regierungsform eine ausgezeichnete Gesetzgebung bestehen kann. Es wäre ein leichtes, diese Wahrheit anhand der Geschichte zu beweisen; doch wozu? Alle sind davon überzeugt. Wer wüsste es besser als die Kirche, die sich immer bemüht hat, mit allen politischen Regimen normale Beziehungen zu unterhalten? Gewiss kann sie mehr als jede andere Macht sagen, wie viel Erleichterung und wie viel Leid ihr die Gesetze der verschiedenen Regierungen gebracht haben, die nacheinander vom Römischen Reich an bis in unsere Tage die Völker gelenkt haben.

22. Die von Uns gemachte Unterscheidung ist nicht nur von höchster praktischer Bedeutung, sie ist auch innerlich und sachlich begründet: Die Gesetzgebung ist das Werk der Menschen, die die Gewalt besitzen und tatsächlich die Nation regieren. Daraus folgt, dass die Qualität der Gesetze praktisch mehr von der Qualität dieser Menschen abhängt als von der Regierungsform. Diese Gesetze werden gut oder schlecht sein, je nachdem, ob die Gesetzgeber von guten oder schlechten Prinzipien durchdrungen sind und je nachdem sie sich von politischer Klugheit oder von der Leidenschaft leiten lassen.

23. Dass in Frankreich seit mehreren Jahren die Gesetzgebung verschiedene wichtige Maßnahmen verfügt hat, die eingegeben sind von feindseligen Absichten gegen die Religion und folglich auch gegen die Interessen der Nation, ist allgemeine Überzeugung und wird leider durch die Evidenz der Tatsachen bestätigt. Wir selbst haben Uns, getreu Unserer heiligen Pflicht, mit lebhaften Klagen an das damalige Oberhaupt der Republik gewandt. Diese Bestrebungen blieben jedoch bestehen, das Übel verschlimmerte sich noch, und niemand kann sich wundern, dass die Glieder des französischen Episkopats, vom Heiligen Geist eingesetzt, ihre verschiedenen ehrwürdigen Kirchen zu leiten, es, wie noch vor kurzem, als ihre Pflicht erachtet haben, öffentlich ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen angesichts der Lage der katholischen Religion in Frankreich. Armes Frankreich! Gott allein kann den Abgrund des Unheils ermessen, in das es stürzen wird, wenn diese Gesetzgebung sich nicht bessert, sondern weiter auf diesen Abwegen verharrt, die dahin führen werden, aus Geist und Herz der Franzosen die Religion auszurotten, die sie groß gemacht hat.

24. Dies eben ist das Feld, auf dem alle Gutgesinnten sich, unter Beiseitesetzung aller politischen Meinungsverschiedenheiten, zusammenschließen müssen, um wie ein Mann mit allen legalen und erlaubten Mitteln diesen fortschreitenden Missbrauch der Gesetzgebung zu bekämpfen. Die Achtung, die man den etablierten Gewalten schuldet, sollte sie nicht daran hindern; denn diese impliziert weder die Achtung, noch weniger den unbegrenzten Gehorsam gegenüber jedweder gesetzgeberischen Maßnahme, die von diesen Gewalten ergriffen wird. Man vergesse nicht, dass das Gesetz eine Vorschrift ist, die zum Wohl der Gemeinschaft gemäß der Vernunft erlassen und promulgiert wird durch diejenigen, denen zu diesem Zweck die Gewalt übertragen wurde. - Infolgedessen kann man niemals Gesetzen zustimmen, die der Religion und Gott gegenüber feindselig sind; es ist im Gegenteil eine Pflicht, sie abzulehnen. Das hat der große Bischof von Hippo, der hl. Augustinus, in beredten Worten dargelegt: "Zuweilen sind die Machthaber dieser Welt gut und gottesfürchtig, zuweilen aber nicht. Julian war ein treuloser Kaiser, ein Apostat, ein Entarteter, ein Götzendiener. Die christlichen Soldaten dienten diesem ungläubigen Kaiser. Doch sobald es um die Sache Jesu Christi ging, anerkannten sie nur noch den, der im Himmel ist. Wenn Julian ihnen befahl, die Götzenbilder zu verehren und ihnen Weihrauch zu streuen, gaben sie Gott den Vorzug vor dem Kaiser. Sagte er ihnen aber: Schließt die Reihen und marschiert gegen dieses feindliche Volk, dann gehorchten sie augenblicklich. Sie unterschieden zwischen dem ewigen und dem irdischen Herrn, und doch unterwarfen sie sich um des ewigen Herrn willen dem irdischen".<ref>Aliquando . . . potestates bonae sunt et timent Deum; aliquando non timent Deum. Iulianus extitit infidelis Imperator, extitit apostata, iniquus, idolatra: milites christiani scrvicrunt Imperatori infideli; ubi veniebatur ad caussam Christi, non agnoscebant nisi illum qui in coelis erat. Si quando volebat ut idola colerent, ut thurificarent, praeponebant illi Deum; quando autem dicebat: Producite aciem, ite contra illam gentern; statim obtemperabant. Distinguebant Dominum aeternum, a domino temporali; et tamen subditi erant propter Dominum aeternum, etiam domino temporali (Enarrat. in Psalm. CXXIV, n. 7, fin.).</ref>

25. Wir wissen, dass der Gottlose infolge eines bedauerlichen Missbrauchs seiner Vernunft und mehr noch seines Willens diese Prinzipien leugnet. Aber letztlich ist der Atheismus ein solch monströser Irrtum, dass es ihm niemals gelingen wird - zur Ehre der Menschheit sei es gesagt -, das Bewusstsein von den Rechten Gottes durch die Staatsvergötterung zu ersetzen.

26. Werden die Prinzipien die unser Verhalten gegenüber Gott und gegenüber den menschlichen Regierungen regeln sollen, in dieser Weise umschrieben, dann kann kein vorurteilsloser Mensch die französischen Katholiken tadeln, wenn sie ohne Scheu vor Mühen und Opfern sich dafür einsetzen, ihrem Vaterland zu erhalten, was die Bedingung seines Wohles ist, was so viel ruhmreiche, in den Blättern der Geschichte festgehaltene Traditionen in sich birgt und was kein Franzose vergessen darf.

3. Diskussion über das Konkordat

27. Bevor Wir unser Schreiben beschließen, wollen Wir noch zwei Punkte kurz berühren, die untereinander eng verbunden sind und, da sie eng mit den religiösen Interessen verknüpft sind, unter den Katholiken gewisse Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen haben. - Der eine betrifft das Konkordat, das während so vieler Jahre das gute Einvernehmen zwischen der Regierung der Kirche und der des Staates in Frankreich ermöglicht hat. Über die Aufrechterhaltung dieses feierlichen, bilateralen Vertrages, der vonseiten des Hl. Stuhles stets gewissenhaft eingehalten worden ist, können sich die Gegner der katholischen Religion selbst untereinander nicht einig werden. Die radikalen Gegner wollen seine Abschaffung, um dem Staat jede Freiheit zu verschaffen, die Kirche Jesu Christi zu bedrängen. - Andere, schlauere Gegner, wünschen seine Beibehaltung oder behaupten wenigstens, sie zu wünschen; nicht weil sie anerkennen, dass der Staat die Pflicht hat, die schriftlichen Verpflichtungen gegenüber der Kirche zu erfüllen, sondern einzig um ihn von den durch die Kirche zu erfüllen, Kirche gemachten Konzessionen profitieren zu lassen, als könnte man nach Belieben die eingegangenen Verpflichtungen von den erhaltenen Konzessionen trennen, während diese beiden Dinge doch integrierende Bestandteile eines einzigen Ganzen sind. Für sie wäre das Konkordat nichts anderes als eine Kette, dazu geeignet, der Freiheit der Kirche Fesseln anzulegen, dieser heiligen Freiheit, auf die sie ein heiliges, unveräußerliches Anrecht hat. Welche von diesen beiden Meinungen wird sich durchsetzen? Wir wissen es nicht. Wir wollten sie nur erwähnen, um die Katholiken zu ermahnen, keine Spaltung über einen Gegenstand zu provozieren, für den allein der Hl. Stuhl zuständig ist.

28. Über den zweiten Punkt können Wir nicht im gleichen Ton sprechen, d. h. über das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, die einer Trennung der menschlichen von der christlichen und göttlichen Gesetzgebung gleichkommt. Wir wollen Uns hier nicht dabei aufhalten, die ganze Absurdität der These dieser Trennung zu beweisen; jeder wird sie von selbst erkennen. Sobald der Staat sich weigert, Gott zu geben, was Gottes ist, verweigert er mit folgerichtiger Notwendigkeit auch den Bürgern, worauf sie als Menschen ein Anrecht haben; denn, ob man will oder nicht, die wahren Menschenrechte entspringen gerade aus den Pflichten gegenüber Gott. Daraus folgt, dass der Staat, der in dieser Beziehung den wichtigsten Zweck seines Daseins verfehlt, in Wahrheit dahin gelangt, sich selbst aufzugeben und den Grund für seine eigene Existenz in Abrede zu stellen. Diese erstrangigen Wahrheiten sind durch die Stimme der natürlichen Vernunft selbst so klar ausgesprochen, dass sie sich jedem Menschen aufdrängen, der nicht durch stürmische Leidenschaften verblendet ist. Deshalb sollten die Katholiken sich hüten, diese Trennung zu unterstützen. Denn in der Tat, wollte man, dass der Staat sich von der Kirche trennt, so müsste man mit logischer Konsiquenz auch wollen, dass die Kirche auf jene Freiheit zu leben beschränkt würde, die gemäß allgemeinem Recht allen Bürgern zusteht. - Gewiss, diese Situation besteht in gewissen Ländern. Es ist eine Daseinsweise, die neben zahlreichen und schwerwiegenden Nachteilen auch einige Vorteile hat, besonders wenn der Gesetzgeber in einer glücklichen Inkonsequenz sich immerhin noch von christlichen Prinzipien inspirieren lässt; und wenngleich diese Vorteile das in sich falsche Prinzip der Trennung nicht rechtfertigen können, noch dazu berechtigen, es zu verteidigen, so erlauben sie es doch, eine derartige Sachlage zu tolerieren, die praktisch nicht die schlimmste von allen ist.

29. Aber in Frankreich, das durch seine Traditionen und durch den derzeitigen Glauben der großen Mehrheit der Bevölkerung eine katholische Nation ist, darf die Kirche nicht in eine so missliche Lage wie bei andern Völkern gebracht werden. Die Katholiken können umso weniger die Trennung befürworten, als sie die Absichten der Gegner kennen, die sie fordern. Für diese Letzteren bedeutet die Trennung, wie sie selbst ziemlich offen sagen, die vollständige Unabhängigkeit der staatlichen gegenüber der religiösen Gesetzgebung; mehr noch, die absolute Indifferenz der staatlichen Gewalt gegenüber den Interessen der christlichen Gesellschaft, d. h. der Kirche, und selbst die Negierung ihrer Existenz. - Immerhin machen sie noch eine Einschränkung, die folgendermaßen formuliert wird: Sobald die Kirche unter Ausnutzung aller Mittel, die das allgemeine Recht auch dem Geringsten unter den Franzosen noch einräumt, und durch Verdoppelung der eigenen Anstrengungen ihrem Werk Erfolg zu sichern vermag, kann und muss der Staat sogleich eingreifen und die französischen Katholiken als außerhalb des allgemeinen Rechts stehend erklären. - Um alles mit einem Wort zu sagen: Das Ideal dieser Menschen wäre die Rückkehr zum Heidentum; der Staat anerkennt die Kirche nur an dem Tage, da es ihm gefällt, sie zu verfolgen.

Zusammenfassung und Schlussworte

30. Wir haben, Ehrwürdige Brüder, in kurzer, aber klarer Form, wenn auch nicht alle, so doch die wichtigsten Punkte erläutert, über die unter den Katholiken Frankreichs und allen vernünftigen Menschen Einigkeit und Übereinstimmung bestehen müssen, um, soweit es noch möglich ist, die Übel, die Frankreich heimsuchen, zu heilen und selbst seine sittliche Größe wiederherzustellen. Diese Punkte sind die Religion und das Vaterland, die Staatsgewalt und die Gesetzgebung, das gegenüber dieser Gewalt und dieser Gesetzgebung gebotene Verhalten, das Konkordat, die Trennung von Staat und Kirche. - Wir hegen die Hoffung und das Vertrauen, dass die Klärung dieser Punkte die Vorurteile so mancher gutgläubiger Menschen zerstreuen und die Befriedung der Geister und durch sie vollkommene Eintracht aller Katholiken in der Verteidigung der großen Sache Christi, der die Franken liebt, erleichtern wird.

31. Welcher Trost für Uns, euch auf diesem Weg zu ermutigen und zu sehen, dass ihr willfährig Unserem Appell Folge leistet! - Mit der Autorität und dem klugen Eifer für die Kirche und das Vaterland, der Euch auszeichnet, könnt Ihr, Ehrwürdige Brüder, diesem Werk des Friedens mächtigen Beistand leisten. - Wir möchten sogar hoffen, dass diejenigen, die die Gewalt in den Händen haben, Unsere Worte, die die Wohlfahrt und das Glück Frankreichs zum Ziel haben, werden zu würdigen wissen.

32. Inzwischen spenden Wir als Unterpfand Unserer väterlichen Zuneigung Euch, Ehrwürdige Brüder, Eurem Klerus sowie allen Katholiken Frankreichs den Apostolischen Segen.

Gegeben zu Rom, am 16. Februar des Jahres 1892,
im vierzehnten Jahr Unseres Pontifikats.
Leo XIII. PP.

Anmerkungen

<references />

Weblinks