Ambrosius von Mailand: Über die Buße

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De paenitentia

(Über die Buße)

Kirchenlehrer: Ambrosius von Mailand

Quelle: Ausgewählte Schriften des heiligen Ambrosius, Bischofs von Mailand. Übersetzt von Dr. Franz Xaver Schulte. (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 13), Kempten 1871. Unter der Mitarbeit von: Dominik Prinz und Rudolf Heumann

Taufe des hl. Augustinus von Hippo durch den hl. Ambrosius

Erstes Buch

Kapitel 1

S. 231 Wenn das letzte und höchste Ziel aller Tugend dahin geht, dem geistigen Nutzen des Nebenmenschen in möglichster Ausdehnung zu dienen, so darf man als eine der schönsten Tugenden das milde Maßhalten bezeichnen, welches nicht einmal diejenigen verletzen will, die seiner Verurtheilung unterliegen, während es dieselben gleichzeitig gerade durch die Verurtheilung wieder der Lossprechung würdig zu machen strebt. Diese Milde ist es einzig, welcher die Kirche, die der Herr in seinem Blute gestiftet hat, ihre Ausbreitung verdankt. Sie ahmt den himmlischen Wohlthäter nach; indem sie auf die Rettung Aller bedacht ist, verfolgt sie jenes heilbringende Ziel mit einer Milde, daß die Herzen nicht zurückweichen, die Geister nicht erschrecken können.

In der That muß ja auch derjenige, welcher die Fehler menschlicher Schwäche bessern will, diese Schwäche selbst ertragen; er muß sie gewissermaßen auf seine Schultern legen, nicht aber verdrießlich abwerfen. Lesen wir doch auch, daß jener Hirt des Evangeliums das verirrte, müde Schaf heimgetragen, aber nicht abgeworfen habe. Darum S. 232 sagt auch Salomon: „Sei nicht allzu gerecht“, denn weises Maßhalten muß die Gerechtigkeit sänftigen. Wie möchte sich sonst Jemand dir zur Heilung anvertrauen, wenn du ihm Widerwillen entgegenbringst, wenn er glauben muß, daß er seinem Arzte nicht Mitleid, sondern Verachtung einflößt?

Deßhalb hat der Herr Jesus Mitleid mit uns getragen, um uns nicht abzuschrecken, sondern zu sich zu rufen. Er kam voll Sanftmuth und Demuth, und so sprach er: „Kommet zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ Der Herr Jesus erquickt die Mühseligen, er weis’t sie nicht zurück; darum hat er denn auch solche Jünger sich erwählt, die im richtigen Verständnisse seines göttlichen Willens das Volk Gottes sammeln, aber nicht zurückstoßen. Es erhellt somit, daß diejenigen nicht als Christi Jünger gelten können, welche der Meinung sind, daß man harten und stolzen Grundsätzen statt milder und demüthiger folgen müsse. Sie verweigern ja Anderen die Barmherzigkeit des Herrn, während sie selbst sie suchen: so sind die Lehrer der Novatianer, welche sich als „die Reinen“ bezeichnen.

Kann es denn ein stolzeres Treiben geben, da doch die Schrift sagt: „Niemand ist rein von Schuld, nicht einmal das Kind von einem einzigen Tage;“ während David S. 233 ausruft: „Von meiner Missethat reinige mich!“ Sind denn diese Menschen etwa heiliger als David, aus dessen Geschlecht der Herr im Geheimniß der Menschwerdung hat wollen geboren werden? dessen Tochter jenes himmlische auserwählte Gefäß ist, das im jungfräulichen Schooße den Heiland der Welt empfangen hat? Gibt es denn etwas Härteres, als Buße aufzulegen, ohne Nachlaß zu gewähren? Nimmt man denn nicht den Antrieb zur Buße hinweg, wenn man immerfort die Verzeihung versagt? Kann doch füglich keiner Buße thun, der nicht auf Verzeihung hofft!

Kapitel 2

Diese Irrlehrer bestreiten, daß diejenigen zur kirchlichen Gemeinschaft wieder dürfen zugelassen werden, welche durch Verleugnung ihres Glaubens gefallen sind. Wenn sie lediglich das Verbrechen des Sacrilegiums ausnähmen und ihm die Verzeihung versagten, so wäre das zwar hart und würde auch durch göttliche Aussprüche als durchaus falsch verworfen: es stimmte aber doch wenigstens mit ihren eigenen sonstigen Behauptungen überein. Der Herr, welcher alle Sünden vergeben hat, nahm kein Verbrechen aus. Da Jene aber nach Art der Stoiker annehmen, daß alle Sünden hinsichtlich ihrer Schwere als unter sich gleich zu betrachten seien, und daß also Jemand, der einen Haushahn, ebenso wie derjenige, welcher seinen Vater erdrosselt, für immer von den heiligen Geheimnissen fern zu halten sei: wie greifen sie jetzt ein einziges Verbrechen heraus, während sie doch selbst nicht leugnen können, daß es geradezu unerträglich sein würde, wenn die Strafe einiger Weniger — der Abgefallenen nämlich — auf Viele sich ausdehnte?

Sie sagen freilich, daß sie dem Herrn eine ganz besondere Verehrung entgegenbringen, wenn sie ihm S. 234 ausschließlich die Macht, Sünden zu vergeben, vorbehalten. In Wirklichkeit kann aber Niemand Gott größere Schmach anthun, als derjenige, welcher Gottes Aufträge einschränken und das von ihm übertragene Amt wirkungslos machen möchte. Wenn der Herr Jesus selbst gesagt hat: „Empfanget den heiligen Geist; denen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten;“ wer ehrt ihn dann mehr: derjenige, welcher seinen Weisungen Folge leistet, oder derjenige, welcher sich denselben widersetzt?

Die Kirche übt nach beiden Seiten den rechten Gehorsam, sowohl wenn sie bindet, als wenn sie löset. Der Irrthum dagegen zeigt sich in dem einen Falle hart, in dem anderen ungehorsam: er will binden, was er nicht lösen mag; er will nicht lösen, was er gebunden hat, und so richtet er sich durch seinen eigenen Urtheilsspruch. Der Herr wollte, daß das Recht zu lösen und zu binden neben einander bestehe, und darum hat er beides unter der gleichen Voraussetzung der Gegenseitigkeit verliehen. Wer darnach nicht das Recht hat, zu lösen, der hat auch nicht das Recht, zu binden. So erstickt denn die Lehre jener Irrlehrer sich in sich selbst: da sie sich das Recht zu lösen absprechen, so müssen sie sich auch das Recht zu binden versagen. Oder wie kann das Eine ihnen gestattet, das Andere verwehrt sein? Es ist doch unzweifelhaft sicher, daß denjenigen, welchen Beides übertragen wurde, entweder beides oder keines zusteht. So ist es: der Kirche steht beides, dem Irrthum steht keines zu, weil das Recht einzig den Priestern verliehen wurde. Die Kirche nimmt darnach mit Recht beides für sich in Anspruch, weil sie wahre Priester hat: der Irrthum, der keine Priester Gottes hat, kann Nichts S. 235 beanspruchen. Gerade dadurch, daß er keine von beiden Vollmachten beansprucht, bekennt er aber von sich selbst, daß er, eben weil er keine Priester hat, auch nicht berechtigt ist, ein priesterliches Amt für sich zu beanspruchen. So tritt uns in schamloser Verstocktheit ein recht schämiges Bekenntniß entgegen.

Dabei ist noch besonders zu beachten, daß derjenige, welcher den heiligen Geist empfing, auch die Vollmacht erhielt, Sünden zu vergeben und zu behalten. So sprach der Herr: „Empfanget den heiligen Geist; denen ihr die Sünden nachlasset, denen sind sie nachgelassen; denen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ Wer also die Lösegewalt nicht besitzt, der hat auch den heiligen Geist nicht. Das Amt des Priesters ist eine Gabe des heiligen Geistes, und dessen Recht besteht gerade im Nachlassen oder Behalten der Sünden: wie können nun diejenigen die Gabe des heiligen Geistes beanspruchen, die dem Rechte und der Macht desselben mißtrauen?

Kann es denn nun anmaßendere Menschen geben? Obwohl der Geist Gottes geneigter zum Erbarmen als zum Strafen ist, wollen sie doch das nicht, was er nach seinem eigenen Worte will, während sie das, was er nicht will, thun. Und doch ist es Sache der Gerechtigkeit, zu strafen, während der Barmherzigkeit Verzeihen geziemt. Immerhin also, Novatian, wäre es erträglicher, wenn du statt der Binde- die Lösegewalt dir beilegtest: einmal würde die Anmaßung und in Folge dessen das Vergehen geringer sein, zum Anderen wäre zu beachten, daß du eben durch Mitleiden mit der Niederlage des Sünders dich zur Gewährung der Verzeihung hättest bestimmen lassen.

Kapitel 3

S. 236 Die Novatianer sagen nun, daß sie, mit Ausschluß freilich der schwereren Verbrechen, den leichteren Verzeihung gewähren. In diesem Punkte kann aber Novatian, der bekanntlich annahm, daß Niemand zur Bußübung zuzulassen sei, nicht als Urheber des Irrthums gelten, antworte ich ihnen. Er ging von der Betrachtung aus, daß er da nicht binden dürfe, wo er nicht lösen könne, um es zu vermeiden, daß Jemand eben wegen der Zulassung zur Buße auch die Lossprechung von ihm zu erlangen hoffe. Darin also verurtheilt ihr eueren Vater durch euere eigene Meinung, nach welcher ein Unterschied der Sünden derart zulässig erscheint, daß ihr die einen nachlassen zu dürfen glaubt, während ihr die anderen keines Heilmittels fähig erachtet. Gott aber, der seine Erbarmung Allen erweiset, und der den Priestern die Macht, Sünden nachzulassen, ohne jede Einschränkung gegeben hat, — Gott macht keinen derartigen Unterschied bei den Sünden. Wer freilich die Sünden anhäuft, der muß auch die Buße mehren, und größere Vergehen werden auch durch reichere Ströme der Bußthränen abgewaschen. So findet weder Novatian Bestätigung, der Allen die Verzeihung verschließt; noch findet ihr, die ihr seine Nachfolger und Verurtheiler zugleich seid, Zustimmung: denn ihr vermindert den Bußeifer, wo er müßte vermehrt werden, da Christi Barmherzigkeit es so geordnet hat, daß schwerere Sünden auch härter gebüßt werden.

Was ist das aber doch für eine Verkehrtheit, daß ihr für euch dasjenige herausnehmt, was vergeben, und daß ihr Gott das belasset, was nicht vergeben werden kann? Das heißt ja, für sich die Gegenstände des Erbarmens vorwegnehmen und Gott die Rolle des strengen Bestrafers S. 237 überlassen. Und wie verhält es sich denn mit jenem Worte der Schrift: „Gott ist wahrhaftig, jeder Mensch aber ein Lügner, wie geschrieben steht: Auf daß du gerecht befunden werdest in deinen Worten und den Sieg erhaltest, wenn du gerichtet wirst?“ Damit wir selbst wohl erkennen, daß Gott mehr zum Erbarmen neigt, als er an der Strenge festhält, hat er gesagt: „Barmherzigkeit will ich lieber als Brandopfer.“ Wie kann denn nun euer Opfer Gott wohlgefällig sein, da ihr seine Barmherzigkeit leugnet; während er doch selbst sagt, daß er nicht den Tod des Sünders, sondern seine Bekehrung wolle?

Der Apostel erklärt uns das: „Gott sandte seinen Sohn in der Aehnlichkeit des Fleisches der Sünde und zwar wegen der Sünde, und so verurtheilte er die Sünde im Fleische, damit die Rechtfertigung des Gesetzes in uns erfüllt würde.“ Er sagt nicht: „in der Aehnlichkeit des Fleisches“, weil Christus die Wirklichkeit, nicht bloß die Aehnlichkeit des menschlichen Fleisches angenommen hat; er sagt auch nicht, „in der Aehnlichkeit der Sünde“, weil der Herr nie eine Sünde begangen hat, sondern zur Sünde für uns geworden ist. Nein, er kam „in der Aehnlichkeit des Fleisches der Sünde“, d. h. er nahm die Aehnlichkeit des sündigen Fleisches an: die „Aehnlichkeit“ aber, weil geschrieben steht: „Es ist ein Mensch, und wer wird ihn erkennen?“ Er war Mensch im Fleische nach S. 238 Menschenart, so daß er erkannt wurde. Aber er war an Kraft weit über den Menschen hinaus, so daß er nicht erkannt wurde. So hat er also hier unser Fleisch angenommen, aber die Sünden dieses Fleisches hat er nicht angenommen.

Nicht wie jeder andere Mensch ist ja der Herr geworden; nein, er ist geboren vom heiligen Geiste aus der Jungfrau Maria, und so hatte er einen makellosen Leib empfangen, den nie eine Sünde befleckt hat, der auch in seinem Entstehen nicht von der leisesten Makel des Fleisches berührt ist. Alle Menschen werden sonst unter dem Gesetze der Sünde geboren, wie David gesagt hat: „Siehe in Ungerechtigkeit bin ich empfangen, in Sünden hat mich geboren meine Mutter.“ Deßhalb spricht Paulus von dem Leibe des Todes, wenn er sagt: „Wer wird mich retten aus dem Leibe dieses Todes?“ Christi schuldloses Fleisch hat also die Sünde verurtheilt, die bei der Geburt ihn nicht berührte, die er sterbend gekreuzigt hat, so daß nun in unserem Fleische die Rechtfertigung durch die Gnade war, während vorher der Augenblick unseres Werdens nicht ohne Schuld war.

Was anders sollen wir nun dazu sagen, als was der Apostel gesagt hat: „Wenn Gott für uns ist, wer ist wider uns? Er, der selbst seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat; wie sollte er uns nicht Alles mit ihm geschenkt haben? Wer wird die Auserwählten Gottes anklagen? Gott, der gerecht macht? Wer wird verurtheilen? Christus Jesus, der gestorben ist, ja, der auch auferstanden ist, der zur rechten Hand Gottes sitzet, der auch fürbittet für uns?“ Diejenigen, für welche S. 239 Christus Fürbitte einlegt, klagt also Novatian an. Diejenigen, welche Christus zum Leben erlöst hat, die verurtheilt Novatian zum Tode. Denjenigen, zu welchen Jesus gesagt hat: „Nehmet mein Joch auf euch, und lernet von mir, denn ich bin sanftmüthig,“ ruft Novatian zu: „Ich bin ohne Erbarmen, ohne Sanftmuth.“ Denjenigen, zu welchen Christus sagt: „Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft und meine Bürde ist leicht,“ legt Novatian ein schweres und hartes Joch auf.

Kapitel 4

Obgleich das Gesagte uns schon hinreichend belehrt, wie sehr der Herr Jesus zum Erbarmen geneigt ist, so möge er doch mit jenen Worten uns belehren, mit denen er uns dem Schreckenseindruck der Verfolgung gegenüber unterweisen wollte. „Fürchtet nicht diejenigen,“ sagt er, „welche den Leib tödten, die Seele aber nicht tödten können: fürchtet vielmehr denjenigen, der Leib und Seele zugleich in die Hölle stürzen kann.“ Und weiter: „Jeden, der mich bekennen wird vor den Menschen, den werde auch ich bekennen vor meinem Vater, der im Himmel ist. Wer aber mich vor den Menschen verleugnet hat, den werde auch ich verleugnen vor meinem Vater, der im Himmel ist.“

Wo er sagt: „Ich werde bekennen,“ da tritt er für Alle ein, da umfaßt er Alle; wo er sagt: „Ich werde verleugnen,“ da schließt er nicht Alle ein. Da er zuerst sagt: „Jeden, der mich bekennet, den werde ich bekennen,“ sollte man erwarten, daß er auch ferner sagte: „Jeder, der mich verleugnet.“ Damit es nicht den Anschein gewänne, als meine er auch hier Alle, so fügt er weniger bestimmt hinzu: „Wer aber mich verleugnet, den werde ich verleugnen.“ Die Gnade verspricht er Allen, aber er droht keineswegs Allen die Strafe an. Das Erbarmen dehnt er aus, das Rächen schränkt er ein.

Dabei ist zu bemerken, daß das nicht allein in dem Evangelium des heiligen Matthäus, sondern auch in dem S. 240 des heiligen Lukas sich aufgezeichnet findet: wir sollen eben erkennen, daß beides nicht obenhin, ohne Grund gesagt ist.

Haben wir so das Wort der Schrift uns vorgeführt, so erfassen wir jetzt den Sinn der Worte! „Jeder, der mich bekennen wird,“ sagt er, d. h.: „In welchem Alter, in welcher Lebensstellung mich Jemand bekennen wird, der wird der Vergeltung, daß ich auch ihn bekenne, nicht entbehren.“ Wenn er sagt: „Jeder“, so wird Keiner von der Belohnung ausgeschlossen, der ihn bekannt hat. Dagegen wird keineswegs in gleicher Weise Jeder, der ihn verleugnet hat, auch wieder verleugnet; kann es ja doch geschehen, daß Jemand, überwältigt durch die Qualen, mit dem Munde ihn verleugnet, während er ihn im Herzen anbetet.

Ist denn die Sachlage ganz gleich bei demjenigen, der aus sich selbst, so ganz ohne äußere Veranlassung den Herrn verleugnet, und demjenigen, den die Qualen, nicht der eigene Wille zu diesem Verrathe gegen Gott gebracht haben? Wie unzulässig wäre das, wenn bei den Menschen milde Nachsicht im Kampfe gelten sollte, während Gott dem Herrn gleiche Milde abgesprochen wird? Pflegt doch oftmals das Volk bei den Gladiatorenkämpfen auch die Besiegten, wenn ihr Kampf Billigung fand, zugleich mit den Siegern mit dem Siegeskranze zu belohnen; zumal dann, wenn man erkannt, daß sie durch List oder Betrug des Sieges verlustig wurden. Wird denn nun Christus zugeben, daß seine treuen Kämpfer, die er unter wuchtigen Qualen für einen Augenblick erliegen sah, ganz ohne Verzeihung bleiben?

Sollte der Herr, der selbst die, welche er verstößt, nicht für ewig verstößt, ihr Mühen und Kämpfen denn nicht in Anschlag bringen? Sagt doch David: „Nicht ewiglich wird der Herr verstoßen“ und der Irrthum sagt dagegen: „Er wird doch ewiglich verstoßen?“ „Nicht für immer wird er sein Erbarmen zurückziehen von Geschlecht zu Geschlecht, nicht für immer wird Gott vergessen gnädig zu sein.“ S. 241 So der königliche Sänger, und es gibt Menschen, die Gottes Erbarmen eindämmen wollen?

Kapitel 5

Die Irrlehrer behaupten freilich, daß sie nur um deßwillen ihre Meinung aufrecht halten, damit sie den Schein vermeiden, Gott als wandelbar hinzustellen, sofern er nämlich denjenigen Verzeihung gewähre, denen er doch vorher gezürnt habe. Aber wie? sollen wir die ewigen Gottessprüche zurückweisen und den Meinungen dieser Menschen folgen? Gott ist doch nicht nach fremden Meinungen, sondern nach seinen eigenen Worten zu beurtheilen. Welches sprechendere Zeugniß seines Erbarmens können wir anführen, als daß er selbst beim Propheten Osee denen, welchen er in seinem Zorne Strafe androhte, alsbald wieder versöhnt Verzeihung ankündigt? Zuerst sagt er: „Was soll ich dir thun, Ephraim? was soll ich dir thun, Juda? da eure Liebe ist wie Morgengewölk und wie der Thau, der frühe davon geht.“ Dann aber sagt er später: „Wie könnte ich dich hingeben, Ephraim, dich preisgeben Israel? ich könnte dich hingeben, wie Adama und Seboim.“ Mitten in seinem Zorne hält er inne, wie überwältigt von väterlichem Erbarmen, und erwägt, wie er den Irrenden zur Buße führen möchte. Wie sehr Juda auch schuldig ist, geht Gott doch mit sich selbst zu Rathe. Er sagt: „Ich könnte dich hingeben, wie Adama und Seboim,“ wie jene Städte, welche, Sodoma benachbart, auch gleiches Schicksal, gleichen Untergang erlitten; aber er fügt alsbald hinzu: „Umgewandt hat in mir sich mein Herz, mit eins ist erregt mein S. 242 Mitleiden. Nicht werde ich ausführen meines Zornes Gluth.“

Scheint es nicht, als ob der Herr Jesus uns sündigen Menschen nur deßhalb zürnt, um uns durch die Furcht vor seinem Zorne zu bekehren? So ist denn sein Unwille nicht die Ausführung seiner Rache, sondern vielmehr die Vorbereitung der Verzeihung: denn so hat er gesagt: „Wenn du umkehrest und in Reueschmerz seufzest, wirst du gerettet werden.“ Er erwartet unser Seufzen hier in der Zeit, damit er es in der Ewigkeit uns erlassen, er erwartet unsere Thränenströme, damit er seine Milde über uns ergießen kann. So hat er im Mitleid mit den Thränen jener verwittweten Mutter im Evangelium den Sohn derselben wieder erweckt. Er erwartet unsere Umkehr, damit er selbst sich wieder zur Gnade wende. In uns würde die Gnade dauernd bleiben, wenn kein Sündenfall sich in unsere Seele einschliche; da wir aber durch unsere Sünden ihn beleidigen, zeigt er sich unwillig, damit wir gedemüthigt werden. Wir werden aber gedemüthigt, damit wir mehr der Erbarmung als der Strafe würdig erscheinen.

Auch das Wort des Propheten Jeremias möge zur Belehrung dienen: „Nicht auf ewig verwirft der Herr; denn wenn er auch betrübet hat, so erbarmt er sich doch nach der Menge seiner Erbarmungen; nicht mit Lust demüthigt und verwirft er die Menschenkinder.“ Aus dem, was auf diese Worte folgt, dürfen wir dann schließen, daß gerade deßhalb der Herr „alle Gefangenen des Landes unter seine Füße erniedrigt“, damit wir seinem Strafurtheile entgehen. Wahrlich nicht freudig und mit Lust erniedrigt er den Sünder bis zur Erde, da er ja von der Erde aufrichtet den Schwachen und aus dem Staube erhebt den Armen. S. 243 Nicht mit Lust erniedrigt derjenige, der sich die Verzeihung vorbehält.

Wenn er nun überhaupt nicht mit Lust den Sünder demüthigt, um wie viel mehr trifft das bei demjenigen zu, der gleichfalls nicht mit voller Herzenshingabe gesündigt hat! Wenn er von den Juden sagte: „Dieses Volk ehret mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit von mir entfernt,“ dann sagt er vielleicht von manchen Gefallenen: „ Sie haben mit den Lippen mich verleugnet, aber im Herzen sind sie mit mir vereint. Die Qual hat diese Armen überwältigt, keineswegs hat Treulosigkeit sie verführt.“ Und doch verweigern Manche diesen die Verzeihung, während ihr Verfolger selbst für ihren treuen Glauben Zeugniß abgelegt hat, indem er durch Marter und Qualen ihn zu brechen versuchte. Sie haben einmal den Herrn verleugnet, aber seitdem bekennen sie ihn tagtäglich; einmal haben sie ihn verleugnet im Worte, aber seitdem bekennen sie ihn mit ihren Seufzern und Klagerufen, mit ihren Thränen und mit Worten, die freiwillig dem Herzen entströmen, die nicht erzwungen sind. Sie sind freilich auf kurze Zeit der Versuchung des Teufels erlegen: aber bald nachher hat der Teufel wieder von ihnen weichen müssen, da er sie als sein Eigenthum nicht erwerben konnte. Er hat vor ihren Thränen, ihrer Buße weichen müssen; er hatte sich in sie hineingeschlichen, da sie ihm nicht gehörten, er hat sie wieder verloren, nachdem sie sein gewesen.

Verhält sich das nicht genau so, als wenn ein Eroberer die Bewohner einer bezwungenen Stadt gefangen hinwegführt? Sie werden gefangen hinweggeführt, aber gegen ihren Willen. Gezwungen wandern sie dem fremden Lande zu, aber ihr Herz zieht nicht mit, es eilt zur Heimat zurück und sinnt auf Mittel, dorthin den Weg wieder zu finden. Und wenn sie nun heimkehren, wer kann dann rathen, sie nicht wieder S. 244 aufzunehmen? Ihre Ehre mag in etwas gemindert sein, aber ihr Eifer ist nur um so größer und hingebender, Alles zu vermeiden, was der Feind gegen sie ausbeuten könnte. Während du dem Bewaffneten, der noch kämpfen konnte, verzeihest, willst du dem nicht verzeihen, in dem einzig der Glaube kämpfte.

Und wenn wir die Meinung des Teufels selbst über diese Gefallenen erforschen wollten, scheint es nicht, als müßte er sagen: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit von mir entfernt. Wie kann es mit mir halten, während es von Christus nicht gewichen ist? Die scheinen zu Unrecht mich zu ehren, welche die Lehre Jesu befolgen: ich aber glaubte, daß sie meine Lehre verkündigten“? Sie verurtheilen in der That nur noch mehr und schärfer, wovon sie sich nach trauriger Erfahrung abgewandt haben. Wenn Jesus sie bei ihrer Rückkehr wieder aufnimmt, so wird er in ihnen nur um so mehr verherrlicht. Alle Engel jubeln; denn es ist im Himmel mehr Freude über einen Sünder, der Buße thut, als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. „Ueber mich“, muß der Teufel bekennen, „wird so im Himmel, wie auf Erden triumphirt. Nichts geht doch Christus verloren, da diejenigen, welche in den Thränen ihrer Martern zu mir kamen, sehnsuchtsvoll zur Kirche zurückeilen. Durch ihr Beispiel laufe ich obendrein noch Gefahr, auch die zu verlieren, welche sich mir verschrieben haben, und welche nun zu der Einsicht gekommen sind, daß hier, wo die Menschen mit Belohnung der Gegenwart verlockt werden, doch eigentlich Nichts ist; daß dort aber gar viel sein muß, wo Seufzen, Thränen, Fasten und Abtödtungen meinen Ueppigkeitsmahlen vorgezogen werden.“

Kapitel 6

Diese nun schließet ihr Novatianer aus? Oder ist das etwa nicht ausschließen, wenn ihr ihnen die Hoffnung auf Verzeihung versagt? Aber der Samaritaner ging doch an S. 245 dem Menschen, den die Räuber halbtodt hatten liegen lassen, nicht mitleidslos vorüber! Nein, er träufelte Oel und Wein in seine Wunden, Oel zuerst, um sie zu erquicken. Dann lud er den Verwundeten auf sein Lastthier: so trug er stets alle Seelenwunden der Sünder hinweg. Auch der gute Hirt verachtete nicht das verirrte Schaf.

Ihr aber saget: „Rühre mich nicht an!“ Ihr, die ihr euch gerne gerecht machen wollet, ihr saget: „Es ist nicht unser Nächster.“ So seid ihr noch stolzer, als jener Gesetzesgelehrte, der den Herrn versuchen wollte und sprach: „Wer ist mein Nächster?“ Dieser fragte doch nur, ihr leugnet es geradezu. Jenem Priester vergleichbar schreitet ihr einher, wie jener Levit geht ihr vorüber an dem, welchen ihr zur Heilung aufnehmen müßtet; ihr nehmet in die Herberge, der Christus die beiden heiligen Münzen zurückließ, den nicht auf, dessen Nächster ihr sein sollt, damit ihr an ihm Barmherzigkeit übet. Gerade der ist euer Nächster, den nicht bloß gleiche Natur, sondern auch das Erbarmen mit euch verbunden hat. In eurem Stolze erachtet ihr euch als fremd gegen ihn, und indem ihr euch ganz ohne Grund in eurem fleischlichen Stolze erhebet, haltet ihr nicht Gemeinschaft mit dem Haupte. Hieltet ihr an diesem fest, so müßtet ihr wissen, daß ihr den nicht verlassen dürft, für welchen Christus gestorben ist; ihr müßtet dann wissen, daß der ganze Leib mehr durch innigeres Zusammenschließen, als durch Ablösen zur Ehre Gottes durch das Band der Liebe, durch die Erlösung des Sünders wächst.

Wenn ihr nun so jede Frucht der Buße hinwegnehmt, was sagt ihr dann anders, als dieses: „Keiner von den Verwundeten mag in unsere Herberge eintreten? In unserer Kirche wird ja Niemand geheilt. Bei uns genesen keine Kranke; wir sind allesammt gesund und bedürfen keines Arztes, ganz so wie der Herr selbst gesagt hat: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Kapitel 7

S. 246 So komme denn du, Herr Jesu, ganz zu deiner Kirche, da Novatian Ausreden vorbringt. Er sagt: „Ich habe ein Joch Ochsen gekauft;“ er nimmt das sanfte Joch Christi nicht auf und legt seinem Halse eine schwere Last auf, die er nicht tragen kann. Novatian hielt deine Diener, von welchen er eingeladen wurde, zurück, that ihnen Schmach an und tödtete sie, weil er ihnen die Beleidigung einer wiederholten Taufe zufügte. Sende also an die Ausgänge der Wege und rufe Gute und Böse herbei; führe Schwache, Blinde, Lahme in deine Kirche. Laß dein Haus sich füllen, rufe Alle zu deinem Mahle: du wirst ja den, welchen du rufst, auch würdig machen, wenn er nur dir folgt. Jener wird freilich verworfen, der kein hochzeitlich Kleid trägt, d. h. der das Kleid der Gnade, den Mantel der Liebe nicht besitzt: Sende denn, sage ich, zu Allen!

Deine Kirche, Herr! bleibt nicht von deinem Mahle zurück, wie Novatian das thut. Deine Familie sagt nicht: „Ich bin gesund und bedarf keines Arztes.“ Wohl aber sagt sie: „Heile mich, Herr, so werde ich geheilt werden; hilf mir, so ist mir geholfen!“ Das Bild deiner Kirche ist jenes Weib des Evangeliums, das rückwärts hinzutrat und den Saum deines Gewandes berührte, indem sie bei sich sprach: „Wenn ich nur sein Gewand berühre, werde ich gesund werden.“ So bekennt die Kirche ihre Wunde, aber sie gibt auch dem Wunsche Ausdruck, geheilt zu werden.

Auch du, Herr! wünschest ja, Alle zu heilen, aber nicht Alle wollen geheilt werden. Novatian will es nicht, da er S. 247 sich für gesund hält. Du, o Herr, der du in dem Geringsten unsere Schwäche fühlest, sagst selbst, daß du in uns krank seiest: „Ich war krank und ihr habt mich besucht.“ Novatian unterläßt es, jenen Geringsten zu besuchen, in dem du, o Herr, besucht zu werden verlangst. Du sagst dem Petrus, der sich die Füße von dir nicht wollte waschen lassen: „Wenn ich dir die Füße nicht wasche, hast du keinen Theil an mir.“ Wie können dann jene Theil an dir haben, o Herr, welche die Schlüssel des Himmelreiches nicht annehmen, weil sie leugnen, daß sie Sünden nachlassen dürften?

Begründet ist freilich dieses Bekenntniß; denn sie haben keinen Theil an Petri Erbe, weil sie den Stuhl Petri, von dem sie in gottloser Spaltung sich losgerissen, nicht fest halten. Verwerflich aber ist die fernere Behauptung, daß auch in der Kirche die Sünden nicht könnten vergeben werden. Und doch hat der Herr zu Petrus gesagt: „Dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben; was immer du auf Erden binden wirst, das soll auch im Himmel gebunden sein; was aber du auf Erden lösen wirst, das soll auch im Himmel gelöset sein.“ Der Apostel aber, der als das Gefäß der Auserwählung bezeichnet wird, sagt ausdrücklich: „Wem ihr verziehen habt, dem habe auch ich verziehen; was ich aber vergeben habe, das geschah um euretwillen an Christi Statt.“ Warum lesen nun Jene noch die Briefe Pauli, wenn sie glauben, daß derselbe in so gottloser Weise geirrt habe, daß er sich das Recht seines Herrn anmaßte? Nein, der Apostel nahm in Anspruch, was er empfangen hatte; keineswegs maßte er sich Ungebührliches an.

Kapitel 8

Der Herr will, daß seine Jünger volle Gewalt haben; er will, daß in seinem Namen von seinen Jüngern alles S. 248 das vollbracht werde, was er selbst gewirkt, so lange er auf der Erde weilte. Hat er ihnen ja sogar gesagt: „Ihr sollet noch Größeres thun, als dieses.“ Er gab ihnen die Macht, Todte zu erwecken. Obwohl er selbst dem Saulus das Augenlicht wieder herstellen konnte, sandte er ihn doch zu seinem Diener Ananias, damit durch dessen Segnung das geschwundene Augenlicht wieder erschlossen würde. So hieß er auch den Petrus auf dem Meere wandeln, und nur als er bange zitterte, da tadelte er ihn, daß er die Gnadengabe des Glaubens durch Kleingläubigkeit verminderte. So verlieh er auch den Jüngern, daß sie das Licht der Welt sein könnten, wie er selbst das Licht der Welt war. Da er aus dem Himmel auf die Erde herabsteigen und wieder zum Himmel zurückkehren wollte, hat er auch den Elias zum Himmel erhoben, um auch ihn zur gegebenen Zeit wieder auf die Erde herabzusenden. Da er selbst im Feuer und dem heiligen Geiste taufen wollte, hat er durch Johannes die Geheimnisse der Taufe zum Voraus angedeutet.

Ja, Alles hat er seinen Jüngern gegeben, da er zu ihnen sagt: „In meinem Namen werden sie Teufel austreiben, sie werden in neuen Sprachen reden, Schlangen aufbeben, und wenn sie Tödtliches trinken, wird es ihnen nicht schaden; den Kranken werden sie die Hände auflegen und diese werden genesen.“ Alles hat er ihnen also verliehen; aber da ist nicht von menschlicher Macht und Gewalt die Rede, wo nur die Gnade des göttlichen Geschenkes gilt.

Warum leget ihr denn nun die Hände auf und glaubet an den Erfolg der Segnung, ob etwa der Kranke doch vielleicht genese? Warum nehmt ihr an, daß Einige von dem Einfluß des Teufels durch euch könnten befreit werden? Warum taufet ihr. wenn durch Menschen überhaupt keine Sünden dürfen nachgelassen werden? In der Taufe findet doch auch der Nachlaß aller Sünden statt: was ist denn für ein Unterschied vorhanden, ob die Priester im Sakramente der Buße oder im Sakramente der Taufe dieses S. 249 ihnen verliehene Recht für sich in Anspruch nehmen? Dasselbe Geheimniß ist hier, wie dort.

Du entgegnest mir, daß im Bade der Wiedergeburt die Gnade der Geheimnisse wirkt. Was wirkt denn in der Buße? Oder wirkt dort nicht auch der Name und die Kraft Gottes? Wie nun? laßt ihr die Gnade da eintreten, wo es euch gefällt, während ihr sie zurückweiset, wenn es euch beliebt? Aber das ist doch unerträgliche Anmaßung, nicht heilige Furcht, wenn euch diejenigen zuwider sind, welche Buße thun wollen. Ihr könnet wohl die Thränen der Büßenden nicht ertragen? Eure Augen werden wohl verletzt durch die Armuth der Bußgewänder, durch den Schmutz des Trauerkleides? Stolzen Auges, hochmüthigen Herzens saget ihr zarten Seelen mit unwilliger verächtlicher Stimme: „Rühre mich nicht an; denn ich bin rein.“

Der Herr sagt freilich zu Maria Magdalena: „Rühre mich nicht an;“ aber er, der doch ganz rein war, setzt nicht hinzu: „denn ich bin rein.“ Und du, Novatian, du wagst es, dich rein zu nennen? Wärest du rein in deinen Handlungen, dieses hochmüthige Wort allein machte dich unrein. Isaias rief einst: „Weh mir armen zerschlagenen Manne! ich bin ein Mensch, habe unreine Lippen und soll in der Mitte eines Volkes wohnen, das auch unreine Lippen hat.“ Du sagst: ich bin rein; und doch ist nach den Worten der Schrift nicht das Kind von einem einzigen Tage rein. David flehte: „Von meiner Missethat, Herr, reinige mich;“ und doch hat ihn, da er barmherzig war, die Gnade des Herrn so oft gerechtfertigt. Du willst rein sein und bist doch so ungerecht, daß du kein Erbarmen fühlst, daß du vielmehr den Splitter im Auge deines Bruders siehest, während du den Balken im eigenen Auge nicht beachtest? Jeder, der unbillig handelt, ist aber bei Gott unrein. Und was kann es Unbilligeres geben, als wenn man die Nachlassung der eigenen Sünde beansprucht, während man Anderen die Bitte abschlagen zu müssen glaubt. Was gibt es Ungerechteres, als dich selbst gerechtfertigt zu erachten, S. 250 während du den Nächsten verurtheilst, obwohl du schwerere Verbrechen begehst.

Uebrigens wollte der Herr Jesus die Verzeihung unserer Sünden auch damals deutlich genug kundgeben, als er dem Johannes auf dessen Ausruf: „Ich sollte von dir getauft werden, und du kommst zu mir?“ antwortete: „Laß es nur geschehen, denn es geziemt uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ So kam der Herr zu einem Sünder, da er doch selbst ganz ohne Sünde war; er wollte getauft sein, obwohl er keiner Reinigung bedurfte. Wer kann denn nun euch ertragen, die ihr keiner Reinigung durch die Buße zu bedürfen glaubt, weil ihr durch die Taufgnade gereinigt zu sein behauptet, gleichsam als wenn es für euch unmöglich wäre, zu sündigen?

Kapitel 9

Freilich wendest du ein, daß geschrieben steht: „Wenn Mensch gegen Mensch sündigt, so wird man Fürbitte für ihn einlegen bei Gott; wenn aber ein Mensch wider Jehovah sündigt, wer mag dann bittend für ihn eintreten?“ Zunächst wiederhole ich, daß ich diesen Einwurf (von deinem Standpunkte aus) allenfalls würde hingehen lassen, wenn du lediglich die Abgefallenen von der Verzeihung ausschlössest. Dann aber frage ich: welche Bedenklichkeit bringt denn jene Frage? Es steht ja nicht geschrieben: „Niemand S. 251 wird für ihn bitten,“ sondern: „Wer wird bittend eintreten?“ Damit wird nur die Frage aufgeworfen, wer in solchem Falle sich finden würde, der bittend eintreten könnte; keineswegs wird diese Möglichkeit ausgeschlossen.

So liesest du im vierzehnten Psalm [Hebr. Ps. 15]: „Herr, wer wird wohnen in deinem Zelte, oder wer wird ruhen auf deinem heiligen Berge?“ Damit ist nicht gesagt, daß Keinem dieses Loos zu Theil werde, sondern lediglich, daß nur der Bewährte, nur der Auserwählte dort wohnen und ruhen werde. Um zu beweisen, daß das der wahre Sinn der Worte ist, genügt es, die folgenden Worte des dreiundzwanzigsten Psalmes [Hebr. Ps. 24] anzuführen: „Wer wird hinaufsteigen den Berg des Herrn? oder wer wird stehen an seinem heiligen Orte?“ Der Psalmist will sagen: Nicht jeder gewöhnliche Mensch aus dem großen Haufen, sondern nur ein Mann von hervorragendem Lebenswandel und besonderem Verdienste wird hinaufsteigen. Das „Wer?“ ist nicht gleichbedeutend mit „Keiner,“ sondern mit „Irgend ein bestimmter.“ Darum antwortet David auf die Frage: „Wer wird hinaufsteigen?“ auch sofort: „Derjenige, welcher unschuldig an Händen und rein von Herzen ist.“ Anderswo heißt es: „Wer ist weise und versteht dieses?“ Soll denn damit gesagt werden, daß Keiner es verstehe? Im Evangelium aber heißt es: „Wer ist der treue und kluge Haushalter, den der Herr setzen wird über sein Gesinde, damit er zur rechten Zeit ihnen den angemessenen Unterhalt reiche?“ Und um zu zeigen, daß er hier von Jemanden rede, der allerdings vorhanden sei, fügt der Heiland hinzu: „Selig ist derselbe Knecht, den der Herr, wenn er kommt, also thun findet.“ Dahin gehört, meines Erachtens, auch jenes Wort: „Wer, o Gott, ist dir gleich?“ Darauf ist nicht zu antworten: schlechthin Keiner; denn der Sohn ist ja der Abglanz des Vaters.

S. 252 In gleicher Weise ist auch das Wort zu fassen: „Wer wird bittend für ihn eintreten?“ Es heißt: Jemand muß von besonders heiligmäßigem Lebenswandel sein, wenn er für den eintreten will, der gegen den Herrn gesündigt hat. Je größer die Schuld ist, desto würdigere Fürsprecher muß man suchen. Nicht irgend ein Beliebiger aus der Menge, sondern Moses selbst bat für das Volk der Juden, als sie uneingedenk des geschlossenen Bundes das goldene Kalb anbeteten. Befand sich nun Moses damals im Irrthum? Gewiß nicht, denn er hat das, um was er bat, verdient und erhalten. Was sollte auch eine solche Liebe nicht erlangen, die sich selbst für das Volk darbietet, mit den Worten: „Wenn du ihnen die Sünde verzeihest, wohl dann; wenn nicht, dann tilge mich aus dem Buche des Lebens.“ Da sehet ihr, daß er nicht als ein gezierter ängstlicher Fürsprecher mit sich zu Rathe geht, ob darin etwa eine Beleidigung liege: was Novatian zu fürchten behauptet. Er denkt an das ganze Volk, an sich denkt er nicht, und so fürchtet er auch nicht, Gott dadurch zu beleidigen, daß er das Volk von der Gefahr der Beleidigung Gottes befreit.

Mit Recht steht also geschrieben: „Wer wird bittend für ihn eintreten?“ d. h. Jemand, wie Moses, der sich selbst für die Schuldigen darbot; Jemand, wie der Prophet Jeremias, dem der Herr gesagt hatte: „Bitte nicht für jenes Volk,“ und der doch bat und Verzeihung erwirkte. Auf die Fürbitte des Propheten nämlich, und bewegt durch das Flehen des erhabenen Sehers, wendete sich der Herr wieder zu Jerusalem, das inzwischen auch Buße für seine Vergehungen gethan hatte, da es flehte: „Und nun, allmächtiger Herr, Gott Israels, eine Seele in Aengsten und ein beklommener Geist rufet zu dir! Höre, o Herr, und erbarme dich; du bist ja ein barmherziger Gott, erbarme dich unser, denn wir haben gesündigt.“ Der Herr befahl dann, die Trauergewande abzulegen und den Bußthränen zu wehren. S. 253 So steht ja geschrieben das Wort des Herrn: „Zeuch aus, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und Qual und thue an die Zier und Ehr’ jener ewigen Herrlichkeit, die Gott dir verleiht.“

Kapitel 10

Solche Fürsprecher muß man also bei dem schwersten Vergehen suchen. Wenn dagegen gewöhnliche Menschen aus dem Volke bittend eintreten, so werden sie freilich keine Erhörung finden.

Deßhalb kann die fernere Frage, die ihr aus dem Briefe des heiligen Johannes herübernehmt, keinerlei Bedenken erregen. „Wer da weiß,“ sagt der Apostel, „daß sein Bruder sündige, aber nicht zum Tode, der bitte, und es wird dem, der nicht zum Tode sündiget, das Leben gegeben werden. Es gibt eine Sünde zum Tode, und nicht für diese sage ich, daß Jemand bitten solle.“ Er redet nicht zu Moses und Jeremias, sondern zu dem Volke, welches für seine Sünden einen anderen Fürsprecher haben mußte. Ihm, dem Volke, mußte es genug sein, für die leichteren Vergehen bei Gott Fürbitte einzulegen, während es sich überzeugt halten mußte, daß nur die Gebete der Gerechten Gnade für die schwereren Sünden erwirken könnten. Wie sollte sonst Johannes behaupten können, man dürfe für schwerere Vergehen nicht bittend auftreten, da er doch wußte, daß Moses bei seiner Fürbitte Erhörung gefunden, als es sich um einen ganz freiwilligen Abfall handelte? Nicht minder wußte er, daß Jeremias mit gleichem Erfolge gebeten hatte.

Wie sollte nun Johannes behaupten können, man dürfe S. 254 nicht für die Sünde, welche zum Tode ist, eintreten, da er doch in der geheimen Offenbarung jenes Gebot an den Engel der Kirche von Pergamos schrieb? „Du hast daselbst Einige, welche die Lehre Balaams halten, der den Balak lehrte, ein Aergerniß anzurichten vor den Kindern Israels, Götzenopfer zu essen und Hurerei zu treiben: so hast auch du, welche die Lehre der Nicolaiten halten. Thue auch du Buße: wo nicht, so komme ich dir schnell.“ Seht ihr, wie Gott, der die Buße fordert, auch Verzeihung zusagt? Er fügt nämlich hinzu: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: wer überwindet, dem will ich von dem verborgenen Manna zur Speise geben.“

Hatte etwa Johannes nicht erfahren, daß Stephanus für seine Verfolger betete, obwohl diese nicht einmal den Namen Christi hören konnten? Für diejenigen, welche ihn steinigten, flehte er: „Herr, rechne es ihnen nicht zur Sünde.“ Wie wirksam dieses Gebet war, zeigt uns der Apostel. Es wurde ja Paulus, der die Kleider der Steiniger bewacht hatte, nicht lange nachher durch die Gnade Christi ein Apostel des Herrn, wie er vorher sein Verfolger gewesen war.

Kapitel 11

Da wir nun einmal des Briefes Johannis erwähnt haben, so wollen wir auch betrachten, was in seinem Evangelium geschrieben steht, um zu erkennen, ob das mit eurer Auslegung übereinstimmt. Hier erzählt er, daß der Herr gesagt habe: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn dahin gab, so daß Jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern das ewige Leben habe.“ Wenn du nun einen Gefallenen zurückzuführen wünschest, wirst du ihn ermahnen, daß er glaube, oder daß er nicht glaube? Sicher, daß er glaube. Aber wer glaubt, der hat nach dem Worte des Herrn das ewige Leben. Wie willst denn du nun wehren, für den bittend einzutreten, dem das ewige Leben zu Theil werden soll? da doch der S. 255 Glaube ein Geschenk der göttlichen Gnade ist, wie das der Apostel, wo er von der Vertheilung der Gnadengaben spricht, ganz ausdrücklich lehrt. So flehen auch die Jünger: „Mehre uns den Glauben.“ Wer also den Glauben hat, der hat das Leben; wer aber das Leben hat, der ist doch wahrhaftig nicht ausgeschlossen von der Verzeihung. „Jeder, der an mich glaubt,“ sagt der Herr, „wird nicht verloren gehen.“ „Jeder" sagt er: so ist denn Keiner zurückgewiesen, Keiner ausgeschlossen. Der Herr schließt auch denjenigen nicht aus, der gefallen ist, wenn er nur nachher zum vollen Glauben gelangt.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß gar Viele nach ihrem Falle sich wieder gebessert und für den Namen Gottes gelitten haben: Können wir nun diesen die Gemeinschaft der Martyrer verweigern, da der Herr Jesus selbst sie ihnen nicht weigert? Wagen wir zu behaupten, daß denen das Leben nicht zurückgegeben sei, denen Christus den Siegeskranz verliehen hat? Wie nun so Manchen, wenn sie nach dem Falle Martern ertragen, der Siegeskranz zu Theil wird, so erhalten sie auch, wenn sie vertrauensvoll zum Herrn sich wenden, die Gnade des Glaubens wieder. Dieser Glaube ist ja ein Geschenk Gottes. Denn so steht geschrieben: „Euch ist in Beziehung auf Christum gegeben, nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden.“ Kann nun der, welcher vom Herrn diese Gnadengabe besitzt, nicht auch Verzeihung erlangen?

Diese Gnadengabe ist aber eine doppelte: einmal an den Herrn Jesus zu glauben, dann für ihn zu leiden. Derjenige, welcher glaubt, besitzt die eine Gnade; die andere besitzt er, wenn sein Glaube durch Martern und Leiden verherrlicht wird. So war Petrus, ehe er litt, keineswegs ohne Gnade; aber in seinem Leiden ward er auch der anderen theilhaftig. Und gar Viele gibt es, die die Gnade, für S. 256 Jesus zu leiden, nicht erlangten; gleichwohl hatten sie die Gnade, an ihn zu glauben.

Deßhalb heißt es auch: „Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht verloren gehen.“ „Jeder,“ d. h. in welchem Stande er sein mag, von welchem Falle er sich erheben muß, er darf nicht fürchten, verloren zu gehen, wenn er glaubt. Es kann ja geschehen, daß Jemand von Jerusalem nach Jericho wieder hinabsteigt, d. h. daß Jemand von dem Kampfe des Martyriums wieder in die Lust dieses Lebens, in die Freuden, die die Welt bietet, sich verliert, daß dieser von den Räubern, d. h. hier von den Verfolgern verwundet und halbtodt liegen gelassen wird. So findet ihn dann jener Samaritan des Evangeliums, welcher der Hüter unserer Seelen ist, — heißt ja doch Samaritan so viel als Wächter; — er geht nicht vorüber, nein, er sorgt für ihn und heilt ihn.

Wohl mir! deßhalb geht der Samaritan nicht vorüber, weil er noch Leben in dem Verwundeten erkennt, so zwar, daß er das volle Leben wieder erlangen kann. Scheint nun derjenige, welcher gefallen ist, nicht halbtodt, wenn der Glaube noch einen Lebensfunken bewahrt hat? Wer Gott gänzlich aus seinem Herzen vertreibt, nur der ist todt. Wer aber nur unter der Wucht der Martern zeitweise ihn verleugnet hat, der ist nur halbtodt. Oder aber, wenn er ganz todt ist, wie kannst du ihm, der nicht mehr geheilt werden kann, auflegen, Bußwerke zu übernehmen? Wenn S. 257 er halbtodt ist, dann gieße Oel und Wein in seine Wunden; Oel und Wein zugleich: zum Heilen, aber zum schmerzhaften Heilen. Ja, lade ihn nur auf dein Lastthier, übergib ihn dem Wirthe, wende die beiden Münzen auf seine Heilung und beweise dich ihm als Nächster. Das kannst du aber nicht sein, wenn du nicht Barmherzigkeit an ihm übst: nur der kann als Nächster gelten, der nicht tödtet, sondern heilt. „Willst du sein Nächster sein,“ sagt Christus, „so gehe hin und thue deßgleichen.“

Kapitel 12

Ein anderes Wort sagt: „Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben; wer aber dem Sohne nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.“ Was nun bleibt, das hat doch sicher irgendwo angefangen, und zwar hier bei der Sünde, vorher nicht geglaubt zu haben. Sobald nun Jemand glaubt, weicht der Zorn Gottes und das Leben kehrt zurück. An Christus glauben, ist also Gewinn des Lebens: denn wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet.

Hier bemerken die Gegner, daß derjenige, welcher an Christus glaube, auch sein Wort bewahren müsse nach dem Ausspruche des Herrn: „Ich bin als das Licht in die Welt gekommen, damit Jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsterniß bleibe; wenn aber Jemand meine Worte hört und sie bewahrt, den werde ich nicht richten.“ Er richtet also nicht, und du willst richten. Er sagt: „Damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsterniß bleibt“, d. h. damit er, S. 258 wenn er in der Finsterniß war, nicht in ihr bleibe, sondern seinen Fehler bessere, seine Schuld gutmache und meine Gebote darnach beachte. Ich habe ja gesagt: „Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern seine Bekehrung;“ und ferner: „Wer an mich glaubt, der wird nicht gerichtet.“ Ich halte fest an meinem Worte: „Ich bin nicht in die Welt gekommen als ihr Richter, sondern daß die Welt durch mich selig werde.“ Ich verzeihe gerne, bereitwillig erweise ich mein Erbarmen; ich will ja lieber Barmherzigkeit, als Brandopfer. Durch das Opfer empfiehlt sich der Gerechte; aber durch die Barmherzigkeit wird der Sünder gewonnen; „ich bin ja gekommen, nicht die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder.“ Im Gesetze galt das Opfer, im Evangelium gilt Barmherzigkeit; das Gesetz ist durch Moses gegeben, durch mich aber ist die Gnade vermittelt. Kann es nun etwas Deutlicheres geben, als diese Worte?

Der Herr fährt fort: „Wer mich verachtet und meine Worte nicht annimmt, der hat seinen Richter.“ Scheint dir denn nun, daß derjenige die Worte Christi annimmt, der sich nicht bekehrt? Sicherlich scheint es dir nicht so. Aber wer sich bekehrt, der nimmt das Wort des Herrn an; jenes Wort, nach welchem „ein Jeglicher sich abwenden soll von seiner Schuld.“ Entweder mußt du diesen Ausspruch des Herrn aus seinen Worten tilgen, oder wenn du ihn nicht leugnen kannst, mußt du dich dabei beruhigen.

Darnach muß also doch auch derjenige wohl die Gebote des Herrn beobachten, der zu sündigen aufhört, der von seinen Vergehungen abläßt. Du darfst somit den Ausspruch Christi nicht so auslegen, als habe er gesagt: „Wer mein Wort allezeit beobachtet hat.“ Hätte der Herr das sagen wollen, so hätte er auch das Wort „allezeit“ hinzugesetzt. Da er das nicht gethan hat, so hat er von dem gesprochen, welcher das, was er gehört hat, auch befolgt. Nun hat dieser gehört, daß er seinen Fehler bessern solle; indem er das that, hat er befolgt, was er gehört hat.

Wie hart es aber sei, Jemanden zur ständigen (aussichtslosen) Bußübung zu verpflichten, der doch nachher die S. 259 Gebote des Herrn beachtet, davon mag dich derjenige überzeugen, der selbst den Uebertretern seiner Gebote die Verzeihung nicht verweigert hat. So spricht er: „Wenn sie meine Satzungen entheiligen und meine Gebote nicht halten: so werde ich heimsuchen mit der Ruthe ihre Missethaten und mit Schlägen ihre Sünden; doch meine Barmherzigkeit will ich nicht von ihnen hinwegnehmen.“ Allen verspricht er also Erbarmung.

Damit diese Erbarmung aber nicht als ohne Unheil und Recht erscheine, so ist ein Unterschied gemacht zwischen denjenigen, welche unausgesetzt den himmlischen Geboten sich gehorsam gezeigt haben und denjenigen, welche zeitweilig, von Irrthum verführt oder durch Zwang veranlaßt, zum Falle gebracht sind. Um dem Vorwurfe, als solle die eigene Beweisführung hier überreden, zu entgehen, möge das Urtheil des Herrn selbst entscheiden. „Jener Knecht“, sagt er, „der den Willen seines Herrn gekannt und doch nicht gethan hat, was er wollte, wird viele Streiche bekommen; der ihn aber nicht gekannt, wird weniger bekommen.“ Beide werden, wenn sie glauben, aufgenommen nach dem Wort des Apostels: „Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er; er schlägt jedes Kind, das er aufnimmt.“ Den er züchtigt, den übergibt er dem Tode nicht, wie geschrieben steht: „Hart gezüchtigt hat mich der Herr, aber dem Tode nicht übergeben.“

Kapitel 13

Uebrigens lehrt der Apostel Paulus keineswegs, daß man diejenigen, welche eine Sünde zum Tode begangen haben, schlechtweg im Stich lassen dürfe: vielmehr soll man dieselben durch das Brod, das sie unter Trauer essen, durch den Trank, den sie mit Thränen trinken müssen, zur Umkehr S. 260 zwingen, immer aber wieder so, daß auch die Traurigkeit das rechte Maß innehalte. Das besagen die Worte des Psalmisten: „Wie lange, Herr, willst du uns tränken mit Thränen im vollen Maße?“ Auch die Traurigkeit soll ihr Maß haben, damit derjenige, welcher Buße thut, nicht in übermäßiger Trauer sich verzehre. So schreibt auch der Apostel an die Korinther: „Was wollet ihr? Soll ich mit der Ruthe zu euch kommen, oder mit Liebe und im Geiste der Sanftmuth?“ Aber auch die Ruthe ist nicht verderbenbringend; denn der Apostel hatte ja gelesen im Buche der Sprüche: „Schlägst du ihn mit der Ruthe, so wirst du seine Seele von der Hölle befreien.“

Was der Apostel unter dem Worte „mit der Ruthe kommen“ versteht, das zeigt der Tadel, den er über die Unlauterkeit ausspricht, die Anklage, die er gegen den Blutschänder erhebt, die scharfe Zurechtweisung, die er dem Stolze derjenigen zu Theil werden läßt, welche sich aufblähen, wo sie billig trauern sollten. Zumeist aber erhellt es aus der Verurtheilung des Schuldigen, der von der heiligen Gemeinschaft ausgeschlossen, dessen Seele dem Widersacher übergeben wurde, zum Verderben nicht des Geistes, sondern des Fleisches. Denn wie der Herr dem Satan nicht Macht gab über die Seele Job’s, sondern nur über seinen Leib: so wird auch dieser dem Widersacher zum Verderben des Fleisches übergeben, damit er, „wie die Schlange den Staub leckt“, so das Fleisch, nicht aber die Seele schädige.

So sterbe denn unser Fleisch den Gelüsten; es sei gefangen und unterthan und ohne Widerspruch gegen das Gesetz unseres Geistes; heiliger Knechtschaft ergeben möge es sterben. So war es bei Paulus, der seinen Leib züchtigte, damit er ihn in Dienstbarkeit brächte, um dadurch, wenn nämlich in ihm das Gesetz des Fleisches dem Gesetze des S. 261 Geistes entspräche, zugleich seine Predigt zu bewähren. Es stirbt ja das Fleisch, wenn sein Wollen und Verlangen übergeht auf den Geist, so daß es nun nicht mehr darnach trachtet, was des Fleisches, sondern was des Geistes ist. Möchte ich nun an mir selbst erfahren, daß das Fleisch schwach wird; möchte es nur nicht gefangen werden unter das Gesetz der Sünde; möchte ich nur leben nicht im Fleische, sondern im Glauben Christi! So wird dann der Gnadenerweis Gottes größer in der Schwachheit des Fleisches, als in dessen Stärke. Deßhalb wollte ja der Herr auch seinen Apostel, den er doch so sehr liebte, nicht von der Armseligkeit des Fleisches befreien. „Es genügt dir“, antwortete er ihm, als er ihn um Befreiung von derselben bat, „es genügt dir meine Gnade; denn die Kraft wird in der Schwachheit vollkommen.“ Und Paulus selbst hatte Wohlgefallen an seinen Schwachheiten: „Wenn ich schwach bin,“ sagt er. „dann bin ich stark.“ Die Stärke des Geistes kommt eben in den Armseligkeiten des Fleisches zur Vollendung.

Haben wir bis jetzt den Sinn des Paulinischen Wortes erörtert, so erübrigt noch, die Worte selbst zu betrachten, in wiefern der Apostel nämlich sagen kann, daß er den Sünder dem Satan übergebe zum Verderben des Fleisches, da doch der Teufel unser Versucher ist. Er thut einzelnen Gliedern Gebrechen an und pflegt auch wohl den ganzen Körper in Krankheit zu versenken. So schlug er Job mit bösem Geschwür von den Füßen bis zum Haupte, weil er Gewalt über den Leib des heiligen Dulders erhalten hatte durch das Wort des Herrn: „Siehe, ich gebe ihn in deine Hand, nur schone seines Lebens.“ Genau so handelte der Apostel, da er sagte, daß er den Sünder dem Satan übergebe zum Verderben des Fleisches, damit sein Geist gerettet würde auf den Tag unseres Herrn Jesu Christi.

S. 262 Das ist eine große Gewalt, eine mächtige Gnadengabe, dem Teufel gebieten zu können, sich selbst zu schädigen, sein eigen Werk zu vernichten. Das thut er ja wirklich, wenn er einen Menschen, den er zu unterjochen bemüht ist, gerade dadurch, daß er ihn quält, statt schwächer, stärker macht. Denn indem er das Fleisch mit Schwäche heimsucht, stärkt er den Geist. Die Krankheit des Fleisches vertreibt ja die Sünde, während die Ueppigkeit des Fleisches die Schuld auflodern läßt.

So wird der Teufel hintergangen, daß er sich selbst mit seinem Bisse verwundet und gegen sich denjenigen bewaffnet, den er zu schwächen glaubte. So hat er auch dem heiligen Dulder Job stärkere Waffen verliehen, da er ihn mit Wunden geschlagen. An seinem ganzen Leibe mit Wunden überdeckt, ertrug er allerdings den Biß der höllischen Schlange, aber ihr Gift hat er nicht in sich aufgenommen. Darum wurde ihm denn auch mit Fug gesagt: „Du wirst den Leviathan mit der Angel herausziehen, mit ihm spielen wie mit einem Vogel; du wirst ihn fesseln, wie der Knabe den Sperling bindet, auf ihn die Hand legend.“

Du siehst nun, wie sehr der Satan von dem Apostel überlistet wird. Es wiederholt sich, was der Prophet sagt: „In die Höhle des Basilisken streckt das Kind seine Hand, und die Natter schadet ihm nicht.“ Ja, der Apostel zieht die alte Schlange heraus und aus ihrem Gifte bereitet er ein geistiges Gegengift: so wird das, was vordem Gift war, jetzt Heilmittel. Es ist Gift zum Verderben des S. 263 Fleisches, aber Arznei zum Heile der Seele. Was dem Körper schadet, das rettet den Geist. So möge denn die Schlange den Staub des Leibes verschlingen, ihren Zahn mag sie in das Fleisch einsenken! Immerhin mag sie den Leib verwunden nach dem Worte des Herrn: „Ich übergebe ihn dir, nur bewahre seine Seele.“ Wie groß ist doch die Gewalt Jesu Christi, daß er die Hut des Menschen selbst dem Satan aufzwingt, der doch ständig schädigen will. So versöhnen wir denn uns den Herrn Jesus; wenn Christus gebietet, dann wird selbst der Satan der Hüter seiner Beute, — ja wider seinen Willen muß er den himmlischen Geboten mithelfen: selbst grausam, muß er den milden Befehlen des Herrn gehorchen.

Aber will ich denn seine Folgsamkeit hier rühmen? Nein, er soll immer böse bleiben, damit Gott, der seine Bosheit in Gnade verkehrt, immer gut sei. Jener will schaden, aber er kann nicht, wenn Christus sich ihm entgegenstellt: er verwundet das Fleisch, aber er bewahrt die Seele; er weidet sich an dem Staube der Erde, aber er bewahrt den Geist. Das ist es, was der Prophet gesagt hat: „Dann wohnet der Wolf bei dem Lamme, Löwe und Stier weiden zusammen; die Schlange nimmt als Speise den Staub der Erde. Sie schaden nichts und tödten nichts auf meinem heiligen Berge, spricht der Herr.“ Ist es ja das Verdammungsurtheil der Schlange: „Staub sollst du fressen.“ Was für Staub? Doch wohl den, von welchem gesagt ist: „Du bist Staub und sollst zum Staube wieder werden.“

Kapitel 14

An diesem Staube sättigt sich die Schlange, wenn der Herr uns versöhnt und gnädig ist, so daß dann die Seele nicht mitleidet unter der Schwäche des Fleisches, daß sie nicht mitentbrennt in der Begierlichkeit des Fleisches, in der S. 264 Gluth des Leibes. „Es ist besser,“ sagt der Apostel, „zu heirathen, als brennen;“ denn das ist eine Flamme, welche die Seele verzehrt. Gestatten wir diesem Feuer keinen Zugang zum Heiligthume unserer Seele und zur Tiefe unseres Herzens, damit wir nicht die innere Hülle der Seele verbrennen, damit nicht die Flamme auch unsere äußere Leibeshülle, dieses so lüsterne Fleisch verzehre. Nein, schreiten wir vielmehr durch das Feuer hindurch. Wenn aber Jemand unversehens in Liebesgluth versenkt wird, so schreite er eilenden Fußes hindurch: er umschlinge das lüsterne Begehren nicht mit den Fesseln der Gedanken; er schürze sich nicht die Knoten der Lust mit der Schlinge steten Erwägens. Nicht wiederholt blicke er auf die Gestalt eines buhlerischen Weibes, wie auch die Jungfrau ihr Auge nicht heften soll auf das Antlitz des Jünglings. Wenn sie schon beim zufälligen Anblicke gefangen wird, um wie viel sicherer wird sie der Gefangenschaft erliegen, wenn sie vorwitzig hinblickt?

Der gewöhnliche Brauch mag uns belehren. Das Weib umhüllt ihr Haupt, um auch im öffentlichen Verkehr ihre Zucht und Scham gesichert zu halten. Nicht leicht soll ihr Antlitz den Augen eines Jünglings sich darbieten, darum soll sie mit dem hochzeitlichen Schleier bedeckt sein. So wird sie nicht einmal zufälligen Blicken sich bieten, die leicht Wunden schlagen dem fremden oder dem eigenen Herzen: in beiden Fällen trifft die Wunde sie selbst. Wenn sie nun ihr Haupt verhüllt, um weder zu sehen, noch gesehen zu werden: um wie viel mehr muß sie dann mit dem Schleier der Scham sich umhüllen, daß sie auch im öffentlichen Verkehr ihr Heiligthum bewahrt!

Aber angenommen, das Auge habe einen unachtsamen, unbewachten Blick gethan, so soll wenigstens das innere Wollen und Fühlen dem Blicke nicht folgen. Der Blick ist noch kein Verbrechen; nur muß man sich hüten, daß er nicht Keim und Anfang eines Verbrechens werde. Das leibliche Auge blickt hin; dann möge man nur das Auge des Herzens geschlossen halten, damit die Lauterkeit der Seele unbefleckt bleibe. Wir haben einen treuen und milden Herrn. Der S. 265 Prophet sagt: „Blicke nicht hin auf die Gestalt eines buhlerischen Weibes;“ der Herr aber sagt: „Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon im Herzen die Ehe mit ihr gebrochen.“ Er sagt nicht: „Wer hinsieht,“ sondern „Wer sie ansieht, ihrer zu begehren;“ er verurtheilt nicht schon das Sehen, sondern er beachtet das Fühlen und Wollen der Seele. Heilsam ist aber wahrhaftig auch die Schamhaftigkeit, welche selbst die leiblichen Augen so vollkommen gezügelt hat, daß man oftmals auch das nicht sieht, was man erblickt. Wohl scheint es, als ob wir beim Anblicke in unsere Augen aufnehmen, was uns begegnet; solange aber das Aufmerken der Seele nicht hinzutritt, verschwindet auch, der Aufgabe des Leibes entsprechend, der Anblick alsbald: wir sehen also eigentlich mehr mit dem Geiste, als mit den Augen des Leibes.

Wenn nun das leibliche Auge den Funken, der zum Feuer werden kann, gewahrt, so sollen wir nur nicht das Feuer im Busen bergen, d. h. in der Tiefe der Seele, in dem Heiligthume des Herzens. Wir sollen dieses Feuer nicht dem Marke der Gebeine beimischen, wir sollen uns nicht selbst Fallstricke bereiten. Darum sollen wir auch die Unterredung mit Personen fliehen, welche das Feuer unreiner Lust in uns entfachen können. Das Reden mit einer jungen Person ist ein Fallstrick für den Jüngling; die Worte des Jünglings sind Fesseln der Liebesneigung.

Joseph erkannte dieses Feuer, als jenes Weib mit ihrem ehebrecherischen Gelüste ihn anredete. Mit verlockender Rede wollte sie ihn fangen, ihren Lippen sollten, Schlingen gleich, die Worte entsprudeln: aber den keuschen Jüngling vermochte sie nicht zu fangen; denn des Weibes Bande zerriß der schamhafte Ton, das ernste Wort, die zügelnde Vorsicht, der schützende Glaube, die keusche Zucht. Mit dem Netze ihrer Worte konnte das lüsterne Weib ihn also nicht fangen: da streckte sie ihre Hand aus und erfaßte sein Kleid, um ihn so an sich zu fesseln. Die schmeichelnden Reden eines üppigen Weibes sind Netze für die Begierden, und ihre Hand ist eine Fangmasche für die Liebe; aber die S. 266 züchtige Seele konnte weder in den Netzen noch in der Masche gefangen werden; das Kleid ist abgeworfen, die Fangmasche zerrissen; und darum, weil sie (die züchtige Seele) der wilden Gluth keinen Zugang zu ihrem Innern gestattete, blieb auch ihr Fleisch vor dem Brande gesichert.

Siehst du nun, daß unsere Seele die Urheberin der Sünde ist? Das Fleisch ist an sich schuldlos, aber oft genug muß es der Sünde dienen. Lasse dich also nicht gelüsten nach der Schönheit eines Weibes! Lasse dich nicht besiegen von dem Teufel, der gar viele Netze und Fallstricke auswirft. Das Auge der Buhlerin ist ein verlockender Fallstrick; aber auch unsere eigenen Augen können uns zu Fallstricken werden, wie geschrieben steht: „Lasse dich nicht fangen durch deine Augen.“ Wir flechten uns sonst selbst die Bande, wie wir lesen: „Jeder wird gefesselt durch die Bande der eigenen Sünden.“

So lassen wir denn hinter uns das Feuer der Jugend, die Gluth des Jünglings: schreiten wir durch die Fluthen hindurch, weilen wir nicht in ihnen, daß die tiefen Wasser uns nicht umschließen. Schreiten wir hindurch, damit wir mit dem Psalmisten sagen können: „Durch einen Strom ist unsere Seele gegangen.“ Wer hindurchschreitet, der ist gerettet. So sagt auch der Herr beim Propheten: „Wenn du durch Gewässer gehst, will ich bei dir sein, und die Ströme S. 267 werden dich nicht decken.“ So sagt auch der königliche Sänger: „Ich sah einen Gottlosen überaus erhöhet und hochgewachsen, wie die Cedern des Libanon; und ich ging vorüber und siehe, er war nicht mehr.“ Gehe nur durch die Welt hindurch: du wirst sehen, wie die Größe der Gottlosen zusammenbricht. Auch Moses, da er an dem Irdischen vorüberging, sah eine große Erscheinung: „Ich will hingehen,“ sprach er, „und schauen dieses große Gesicht.“ Wäre er den Lastern des Fleisches ergeben, wäre er in die Lüste dieser Welt versenkt gewesen, so hätte er niemals diese Geheimnisse geschaut.

So gehen denn auch wir an diesem Feuer der Begierlichkeit vorüber. Paulus fürchtete dasselbe und zwar für uns; da er sein Fleisch kasteiete, so brauchte er für sich nicht mehr zu fürchten; uns aber sagt er: „Fliehet die Unlauterkeit.“ Ja fliehen wir sie, die uns verfolgt, und zwar nicht außerhalb unserer Person, sondern in uns selbst verfolgt sie uns. Wir haben allen Grund, genau darauf zu achten; sonst können wir sie allerdings, während wir fliehen, in und mit uns forttragen. Wir wollen ja wohl meistens fliehen; aber wenn wir die Unlauterkeit nicht gänzlich aus unserer Seele vertreiben, so hegen wir sie, statt sie zu tilgen. Eilenden Fußes müssen wir an ihr vorübergehen, damit nicht das Wort des Propheten auf uns paßt: „Wandlet nur in dem Lichte eueres Feuers und in den Flammen, die ihr selbst angezündet.“ Da aber fragt der weise Mann: „Kann denn Jemand Feuer in seinem Busen verbergen, ohne daß seine Kleider brennen? oder kann Jemand auf glühenden Kohlen gehen, ohne seine Fußsohlen zu verbrennen?“

Gefährlich ist dieses Feuer; geben wir ihm also keine Nahrung durch Weichlichkeit. Die Lust wird genährt durch Gastmahle, unterhalten durch Genüsse, entzündet durch Wein und zur wilden Gluth entflammt durch Trunkenheit. S. 268 Schlimmer noch sind die Lockungen schmeichelnder Worte, welche wie Wein aus Sodoma die Seele berauschen. Hüten wir uns also vor dem Uebermaße dieses Weines; wo das Fleisch trunken wird, da wankt der Geist, da überfluthet das Herz. So ist das Mahnwort des Apostels hier in Geltung: „Ein wenig Wein magst du trinken um deiner häufigen Schwächen willen.“ Wenn der Leib glühet, dann versetzt er auch die Seele in Gluth; wenn aber das Fleisch unter dem kalten Hauche der Krankheit seufzet, dann wird die Seele sich erquickt fühlen. Empfindet dein Leib Schmerz, so ist dein Geist zwar auch traurig, aber deine Traurigkeit wird in Freude verwandelt werden.

Fürchte also nicht, wenn der Feind deinen Leib belästigt, deine Seele wird er nicht verschlingen. So sagt auch David, daß er sich nicht fürchte, obwohl die Feinde sein Fleisch, nicht aber die Seele schädigen. „Wenn die Uebelthäter mir nahen, mein Fleisch zu fressen, sie, meine Feinde, die mich quälen, so werden sie kraftlos und fallen zu Boden.“ So bereitet die Schlange sich selbst eine Niederlage; derjenige wird der Schlange übergeben, der von der Schlange verwundet war, damit sie ihn, den sie bezwang, wieder aufrichte, und damit die Niederlage der Schlange also zur Auferstehung des Sünders werde. Die Schrift selbst stellt übrigens den Satan als den Urheber dieser körperlichen Qual und Schwächung hin. Sagt doch der Apostel: „Es wurde mir ein Stachel in mein Fleisch gegeben, ein Engel des Satans, daß er mir Faustschläge gebe, damit ich mich nicht überhebe.“ So hat Paulus gelernt zu heilen, wie er selbst die Genesung gefunden.

Kapitel 15

Das ist ein guter, treuer Lehrer, der Eins verspricht und Beides gewährt. Er kommt mit der Ruthe, sofern er S. 269 den Gefallenen aus der heiligen Gemeinschaft entfernt. Mit Recht sagt er, daß der dem Satan überliefert wird, der vom Leibe Christi getrennt wird. Er kommt aber auch in Liebe und im Geiste der Milde, weil er den Sünder so ausschließt, daß er seine Seele rettet, oder auch weil er den, welchen er vorher ausgeschlossen, den heiligen Geheimnissen wieder zurückgibt.

Er muß ja auch den so tief Gefallenen ausschließen, damit dieser nicht, dem Sauerteig vergleichbar, die ganze Gemeinde verderbe. Der alte Sauerteig muß ausgefegt werden. Das gilt bei den Einzelnen von dem alten, dem äußerlichen Menschen mit seinen Handlungen, bei der Gemeinde von dem in Sünden und Lastern Verhärteten. Mit Recht spricht der Apostel vom „Ausfegen“ des alten Sauerteiges, weil es sich um eine Reinigung, nicht aber um gänzliche Verwerfung handelt. Es wird also nicht geradezu Alles als unnütz und schlecht bezeichnet; es soll vielmehr das als Zweck der Säuberung gelten, daß das Nützliche vom Unnützen geschieden wird; was aber verworfen wird, darin ist überhaupt nichts mehr nütze.

Gleich damals hat also der Apostel dafür gehalten, den Sünder zu den himmlischen Geheimnissen wieder zuzulassen, wenn dieser nur selbst den Wunsch hegte, gereinigt zu werden. Darum sagt er auch zutreffend: „Feget aus!“ An dem wird ja durch Vermittelung des Volkes, durch seine Werke und Thränen die Reinigung vollzogen, welcher durch Gebet und Seufzen des Volkes von der Sünde befreit und in seinem inneren Menschen gereinigt wird. Christus hat seiner Kirche verliehen, den Einen durch die Anderen zu retten, wie sie selbst der Ankunft des Herrn Jesus gewürdigt wurde, damit durch den Einen alle die Anderen erlöset würden.

Das ist der Sinn des Apostels, der freilich durch die Worte dunkel wird. Betrachten wir nur diese Worte selbst: „Feget aus den alten Sauerteig, damit ihr seid ein neuer Teig, da ihr ja ungesäuert seid.“ Darnach übernähme also die ganze Kirche die Sündenlast des Einzelnen, für den sie S. 270 in Thränen, Gebet und Schmerz mitleiden muß; sie bedeckt sich selbst gewissermaßen mit dem Sauerteige der Sünde ihrer einzelnen Mitglieder, so zwar, daß durch Alle das, was in dem einzelnen Büßenden zu tilgen ist, gleichsam vermittelst eines gemeinschaftlichen Zusatzes von Erbarmen und Mitleiden, woran Männiglich Theil hat, gereinigt und ersetzt wird. Oder man kann die Worte so fassen, wie jenes Weib im Evangelium uns lehrt, welche ein Vorbild der Kirche ist, sofern sie nämlich den Sauerteig in der Masse des Mehles barg, bis Alles durchsäuert wäre; so soll Alles rein dargestellt werden.

Was aber unter dem Sauerteig sonst noch zu verstehen sei, hat der Herr selbst uns im Evangelium gelehrt. „Warum begreift ihr nicht“, sagte er zu seinen Jüngern, „daß ich nicht vom Brode zu euch redete, da ich sprach: Hütet euch vor dem Sauerteige der Pharisäer und Sadducäer?“ Da verstanden sie, — setzt der Evangelist hinzu, — daß er nicht gesagt hatte, sie sollten sich vor dem Sauerteige des Brodes, sondern vor der Lehre der Pharisäer und Sadducäer hüten. Diesen Sauerteig nun, d. h. die Lehre der Pharisäer, die anmaßenden Behauptungen der Sadducäer birgt die Kirche in ihrem geistigen Mehlvorrathe, wenn sie den strengen Buchstaben des Gesetzes durch ihre geistige Auslegung mildert. Man könnte sagen: sie durchbricht auf S. 271 der Mühle ihrer Auslegung den harten Buchstaben, und wie jene aus den Getreidehülsen das Korn ausschält, so bringt sie aus der Hülle des Buchstabens den tiefen Sinn des Gnadengeheimnisses hervor, und so bekräftigt sie den Glauben an die Auferstehung, der Gottes Erbarmen verkündet, der uns lehrt, daß das Leben der Gestorbenen zurückerstattet wird.

Die Anziehung dieses Vergleiches an diesem Orte erscheint keineswegs thöricht und unberechtigt. Das Himmelreich ist ja die Erlösung der Sünder, und gerade deßhalb werden wir Alle — Gute wie Böse — mit dem Sauerteige der Kirche vermischt, damit wir ein neuer Teig werden. Damit aber Niemand fürchte, es möchte die Beimischung verdorbenen Sauerteiges die ganze Masse verderben, hat der Apostel hinzugefügt: „Damit ihr ein neuer Teig seid, da ihr ja ungesäuert seid,“ d. h. der Sauerteig der Kirche wird euch wieder herstellen, wie ihr vordem waret in der vollen Reinheit euerer Unschuld. Wenn wir in solcher Weise uns erbarmen, so werden wir durch fremde Sünde nicht befleckt; wir erwirken vielmehr die Rettung des Sünders noch zum eigenen Gnadenschmuck, so daß die Reinheit dauernd bleibt, wie sie war. Deßhalb sagt auch der Apostel ferner: „Denn als unser Osterlamm ist Christus geopfert worden,“ d. h. das Leiden des Herrn hat Allen genützt und den Sündern, die über ihre begangenen Fehler Reue fühlen, Errettung bereitet.

So laßt uns denn (um mit dem Apostel zu reden) das Mahl halten in reiner, guter Speise, bei aller Buße doch erfreut über die Rettung. Nun ist keine Speise besser, als Güte und Wohlwollen: darum soll unser Opfermahl und unsere Freude durch kein Gefühl des Neides über den geretteten Sünder getrübt werden, damit wir uns nicht, wie jener neidische Bruder im Evangelium, selbst vom Vaterhause ausschließen. Dieser empfand Schmerz über die Wiederaufnahme des Bruders; er hätte sich gefreut, wenn die Ausschließung für immer gegolten hätte.

Daß ihr ihm ähnlich seid, könnet ihr, Novatianer, nicht leugnen. Ihr wollet ja gerade deßhalb nach euerer eigenen S. 272 Versicherung nicht zur Kirche ferner eingehen, weil denen, welche gefallen sind, die Hoffnung der Rückkehr gewährt ist. Uebrigens ist das nur zum Scheine vorgeschoben; sonst weiß Jeder, daß den Novatian der Schmerz über den Verlust der bischöflichen Würde zum Schisma getrieben hat.

Ihr wollet nicht einsehen, daß der Apostel jenes Wort auch von Euch zum Voraus gebraucht hat, welches er den Korinthern schrieb: „Und ihr seid aufgeblasen und nicht vielmehr in Trauer versetzt, damit der aus euerer Mitte geschieden werde, welcher diese That begangen hat?“ Immerhin wird er für solange vollständig beseitigt, als seine Sünde getilgt wird; keineswegs aber sagt der Apostel, daß derjenige gänzlich aus der Kirche ausgeschlossen werde, welcher nach seinem Rathe und Wunsche gereinigt werden soll.

Kapitel 16

Da also der Apostel die Sünde nachließ, auf welche Auctorität hin verweigert ihr die Nachlassung? Wer ist denn wohl ein treuerer Verehrer Christi, Novatian oder Paulus? Aber Paulus kannte die Barmherzigkeit des Herrn, er wußte, daß der Herr Jesus mehr durch die harte Strenge, als durch das Erbarmen seiner Jünger beleidigt wurde.

Um nur ein Beispiel anzuführen: Als Johannes und Jakobus sagten, sie wollten Feuer vom Himmel herabflehen, die zu vernichten, welche dem Herrn die Aufnahme verweigert hatten, da wies sie der Herr zurück mit den Worten: „Ihr wisset nicht, weß Geistes Kinder ihr seid: des Menschen Sohn ist nicht gekommen, die Seelen der Menschen zu verderben, sondern sie selig zu machen.“ Jenen sagte er: „Ihr wisset nicht, weß Geistes Kinder ihr seid,“ und doch waren sie seines Geistes. Euch aber sagt er: „Ihr seid nicht meines Geistes, weil ihr meine Milde nicht bewahret, weil ihr mein Erbarmen zurückweiset, weil ihr die Buße ausschließet, die ich doch durch meine Apostel in meinem Namen gepredigt wissen wollte.“

S. 273 Ihr saget ohne allen Grund, daß auch ihr Buße predigt, da ihr ja die Frucht der Buße ausschließet. Die Menschen werden nämlich lediglich durch Belohnung oder durch die Aussicht auf die Frucht ihrer Bemühungen zu ernstem Streben angeeifert; und jedes Streben ermattet durch die Verzögerung dieser Frucht. Gerade deßhalb sagte auch der Herr, um den Eifer und die Hingabe seiner Jünger zu steigern, daß derjenige, welcher Alles verlassen und ihm gefolgt sei, Hundertfältiges erhalten werde, sowohl hier als im Jenseits. Zuerst verheißt er den Lohn in der Gegenwart, um den Widerwillen, der aus der Hinhaltung des Lohnes hervorgeht, zu heben; dann weiset er auf das Jenseits hin, damit wir lernen, gläubig zu vertrauen, wie auch im Jenseits der Lohn unser wartet. Die Belohnung in der Gegenwart ist ein Zeugniß für die Belohnung in der Ewigkeit.

Wenn nun Jemand, mit geheimen Vergehen belastet, um Christi willen doch eifrig der Buße sich unterzogen hat, wie wird ihm jene Belohnung zu Theil, wenn ihm die Gemeinschaft mit der Kirche nicht erschlossen wird? Ich will, daß der sündige Mensch auf Verzeihung hoffe, daß er sie erflehe mit Thränen und Seufzern, daß mit ihm die Thränen des ganzen Volkes um Verzeihung flehen. Wenn dann zum zweiten und dritten Male die Wiedervereinigung ihm versagt ward, so möge er sich überzeugt halten, daß er immer noch zu wenig ausdauernd gefleht hat: seine Thränen mögen reicher fließen, er möge jammervoller zurückkehren, er möge die Füße der Vorübergehenden mit seinen Armen umfassen, mit Küssen bedecken, mit seinen Thränen baden und nicht nachlassen, bis der Herr Jesus auch zu ihm sagt: „Ihm sind viele Sünden vergeben, weil er viel geliebet hat!“

Ich habe Büßer kennen gelernt, deren Antlitz die Trauer durchfurcht, in deren Wangen die steten Thränenströme tiefe, scharfe Linien gegraben hatten. Sie lagen am Boden, als wollten sie Allen ihren Leib darbieten, über ihn hinzuschreiten; ihrem todtbleichen Antlitz war der Stempel der Entbehrung und des Fastens aufgedrückt.

Kapitel 17

S. 274 Was warten wir denn darauf, daß diejenigen, welche im Leben sich den Tod gaben (d. i. durch Buße sich abtödteten), erst nach ihrem (leiblichen) Tode Verzeihung erhalten? „Es ist für einen solchen Sünder“, sagt der Apostel, „genügend diese Züchtigung, die von Vielen geschehen, so daß ihr im Gegentheile ihm vielmehr vergeben und ihn trösten sollet, damit er, der ein solcher ist, nicht etwa in allzugroße Traurigkeit versinke.“ Wenn die Züchtigung, die von Vielen geschehen, hinreicht zur Bestrafung, wie sollte dann das Flehen, das Viele zum Himmel emporsenden, nicht genügen zur Verzeihung der Sünde? Der Lehrer, der die Sitte, aber auch die menschliche Schwäche kennt, der Verkündiger göttlichen Erbarmens: er will, daß die Sünde vergeben, daß die Tröstung gewährt werde, damit nicht die Traurigkeit über die zu lange Verschiebung der Lossprechung ihn im Elend vernichte.

Darum also verzieh der Apostel, und er verzieh nicht bloß, sondern er wollte auch, daß die Liebe zu dem gebesserten Sünder sich wieder stärke. Derjenige, welcher in Liebe ergeben ist, der kennt keine Härte, der kennt nur Milde. Auch verzieh er nicht bloß für sich selbst; er wollte auch, daß Alle ihm verzeihen möchten, und er erklärte ausdrücklich, daß er um der Anderen willen verziehen habe, damit nicht Viele wegen des Einen länger trauerten. „Wem ihr etwas verziehen habt, dem habe auch ich verziehen: denn was ich vergeben habe, das geschah euretwillen an Christi Statt, damit wir nicht vom Satan übervortheilt werden; denn seine Anschläge sind uns nicht unbekannt.“ Der kann wohl auf der Hut sein vor der Schlange, welcher ihre listigen Anschläge nicht verkennen kann, deren ja so viele sind, um uns zu schaden. Die Schlange will immer schaden, immer täuschen, um uns den Tod zu bringen: aber wir müssen Sorge tragen, daß unser Heilmittel nicht zum S. 275 Triumphe für den Satan werde. Wir werden überlistet, wenn Jemand in zu großer Trauer zu Grunde geht, während er durch erbarmungsvollen Nachlaß gerettet werden konnte.

Damit wir aber nicht im Zweifel seien, daß er von Getauften redet, fügt er hinzu: „Ich habe euch geschrieben, daß ihr mit Unkeuschen keine Gemeinschaft haben solltet; das meinte ich aber nicht von den Unkeuschen dieser Welt; denn sonst müßtet ihr aus der Welt gehen. Ich schrieb euch vielmehr, da keine Gemeinschaft zu haben, wenn einer, der Bruder heißet, ein Unkeuscher oder ein Geiziger oder ein Götzendiener ist.“ Verbindet er nun diese verschiedenen Arten von Sünden mit einander behufs Duldung der Strafe, so wollte er auch, daß Alle in Beziehung zur Sühne stünden. „Mit einem solchen“, sagt der Apostel, „sollet ihr nicht einmal essen.“ Wie strenge ist der Apostel gegen die hartnäckigen und verstockten Sünder, wie nachsichtig gegen die, welche um Verzeihung bitten! Gegen jene wird die Beleidigung, die dem Herrn zugefügt würde, aufgerufen, diesen kommt die Anrufung Christi zu Hilfe.

Nun könnte Jemand dadurch gestört werden, daß geschrieben steht: „Ich habe diesen Menschen dem Satan zum Verderben des Fleisches übergeben.“ Man könnte sagen: Wie mochte derjenige Anspruch auf Verzeihung haben, dessen Fleisch ganz dem Verderben geweiht war, da es doch offenbar ist, daß der Mensch nach beiden Seiten erlöset ist und gerettet wird: die Seele nicht ohne den Leib, und der Leib nicht ohne die Seele? Während beide durch die Theilnahme an ihren Werken mit einander verbunden sind, sollen sie nun ohne gleiche Theilnahme an Lohn und Strafe sein? Wenn Jemand so spricht, so möge ihm zur Antwort dienen, daß unter „dem Verderben des Fleisches“ hier nicht die vollendete Vernichtung, sondern die Züchtigung des Fleisches zu verstehen ist. Wie nämlich derjenige, welcher S. 276 der Sünde abgestorben ist, Gott lebt, so gehen die Lüste des Fleisches zu Grunde, und es stirbt das Fleisch seinen Begierden ab, damit es wieder zur Keuschheit und zu den anderen guten Werken erstehe.

Woher können wir ein passenderes Beispiel nehmen, als von unserer gemeinsamen Mutter? Die Erde, von der wir genommen sind, erscheint ja auch, wenn ihre Bebauung zeitweise unterbleibt, öde und verlassen; sie ist dann für die Wein- und Oelpflanzungen, denen sie sonst diente, gestorben: aber ihren Lebenssaft, ihre Seele gleichsam, verliert sie nicht. Tritt die Bebauung wieder ein, werden die Saatkörner, zu deren Aufnahme sie geeignet erscheint, ihr wieder anvertraut, so ersteht sie wieder, nur reicher an Früchten. Es ist also nicht etwas so ganz Fremdes, wenn auch von unserem Fleische in diesem Sinne gesagt wird, daß es verderbe: es soll eigentlich nur gebändigt, nicht vernichtet werden.

Zweites Buch

Kapitel 1

S. 277 Wenngleich in dem ersten Buche dieser Schrift Manches beigebracht ist, was der Ermunterung zur Buße dient, so möchten wir doch nicht den Anschein geben, als wollten wir gleichsam bei halber Mahlzeit uns erheben. Da ohnehin noch Vieles hinzugefügt werden kann, so führen wir das Mahl, das wir mit Vorlegung unserer Worte begonnen, nunmehr fort.

Die Buße soll nun nicht bloß mit Eifer, sondern auch bis zur Reife geübt werden. Sonst möchte etwa jener Hausvater des Evangeliums, der einen Feigenbaum in seinen Weinberg pflanzte, auch zu uns kommen, und wenn er dann die Frucht suchte, ohne sie zu finden, würde er wohl zum Weingärtner sagen: „Haue ihn um; was soll er noch das Land einnehmen?“ Vielleicht träte dann wohl der Gärtner ein mit den Worten: „Herr, laß ihn auch noch dieses Jahr, bis ich um ihn her aufgegraben und Dünger daran gelegt habe, ob er nicht etwa doch noch Früchte bringt; wenn nicht, so magst du ihn für die Zukunft weghauen.“

S. 278 Verfahren wir mit dem Acker, den wir besitzen, auch so, und ahmen wir den sorgsamen Landwirth nach, der nicht Anstand nimmt, mit fettem Dünger die Erde zu sättigen, mit schmutziger Asche das Land zu bedecken, um auf diese Weise reichlichere Frucht zu erzielen.

In welcher Weise wir aber dabei verfahren sollen, lehrt uns der Apostel, wenn er sagt: „Ich achte Alles für Koth, damit ich Christum gewinne“; so hat er es verdient, in Schmach und in Ehre Christo zu gefallen. Er hatte ja gelesen, daß Abraham, da er sich als Staub und Asche vor dem Herrn bekannte, durch die tiefste Demuth der Gnade Gottes theilhaftig wurde; er hatte ferner gelesen, daß Job, da er auf dem Düngerhaufen saß, Alles wiedergewann, was er verloren. Nicht minder hatte er gelesen, was David prophetischen Geistes verkündigt, „daß Gott den Geringen aufrichtet aus dem Staube und aus dem Kothe erhöhet den Armen.“

Und wir sollten uns scheuen, dem Herrn unsere Sünden zu bekennen? Wohl mag es Scham hervorrufen, wenn ein Jeder seine Vergehen offenlegen soll: aber diese Scham durchpflügt den Acker des Geistes, nimmt die immer wieder keimenden Dornen hinweg, schneidet die Sträuche und haucht den Früchten, die ihm schon gestorben schienen, neuen Lebensduft ein. Folge nur dem Apostel, der seinen Acker tüchtig pflügend Früchte für die Ewigkeit zu gewinnen trachtete. „Man verfluchet uns“, sagt er, „und wir segnen; man verfolgt uns, und wir dulden; man lästert uns, und wir beten; wie ein Auswurf der Welt sind wir geworden.“ Wenn auch du deinen Geistesacker so durchpflügt hast, dann wirst du geistige Saat ausstreuen. Ja, bebaue nur so, daß du die Sünde fortschaffest, so wirst auch du Frucht erzielen. Der Apostel hat so gearbeitet, daß er die letzte Regung des Verfolgers in sich austilgte. Wie konnte Christus uns mächtiger zum Eifer in der S. 279 Lebensbesserung anregen, als dadurch, daß er den Verfolger bekehrte und aus ihm uns den Lehrer bereitete?

Kapitel 2

Obwohl aber die Irrgläubigen durch das offene Verfahren des Apostels und durch die klaren Worte seiner Sendschreiben widerlegt werden, so wollen sie gleichwohl auf ihn sich stützen und behaupten, daß seine Auctorität ihre Meinung begünstige. Sie berufen sich auf jenes an die Hebräer gerichtete Wort: „Es ist unmöglich, Solche, die einmal erleuchtet wurden und die himmlische Gabe gekostet haben, die des heiligen Geistes theilhaftig geworden sind und das köstliche Gotteswort und die Kräfte der neuen Welt gekostet haben, und die doch abgefallen sind, wiederum zur Sinnesumkehr zu erneuern, da sie den Sohn Gottes wiederum kreuzigen und ihn der Schmach preisgeben.“

Konnte denn nun Paulus wohl etwas lehren, was im vollen Gegensatze zu seiner eigenen Handlungsweise stünde? Er erließ dem Sünder in Korinth seine Vergehen auf Grund der Buße; wie sollte er denn nun selbst seinen eigenen Richterspruch vernichten können? Da er nicht S. 280 niederreissen kann, was er selbst aufgebaut, so nehmen wir an, daß er hier nicht etwas Entgegengesetztes, sondern nur etwas Verschiedenes gesagt habe. Was entgegengesetzt ist, das widerstreitet sich selbst; was aber verschieden ist, das pflegt nur eine besondere Weise zu haben. Das Entgegengesetzte ist nicht so beschaffen, daß das Eine das Andere stützt. Da nun der Apostel von dem Nachlasse der Buße gepredigt hatte, so durfte er auch nicht von denjenigen schweigen, welche glauben, die Taufe sei zu wiederholen. Zuerst mußte uns die bange Sorge genommen werden, auf daß wir wüßten, auch diejenigen, welche nach der Taufe gesündigt, können Verzeihung ihrer Sünden erlangen, damit nicht etwa die der Hoffnung auf Verzeihung Beraubten von der nichtigen Meinung, als könnte die Taufe wiederholt werden, sich bethören ließen. Dann mußte er in begründeter Auslegung darthun, daß die Taufe in keinem Falle wiederholt werden könne.

Daß aber der Apostel hier von der Taufe gesprochen, das beweisen die Worte selbst, indem er sagt, „es sei unmöglich, daß die Gefallenen zur Buße erneuert würden“. Erneuert werden wir ja gerade durch das Bad der Wiedergeburt, wie der Apostel selbst sagt: „Denn wir sind mit ihm durch die Taufe zum Tode begraben, damit, gleichwie Christus auferstanden ist von den Todten durch die Herrlichkeit des Vaters, also auch wir in der Neuheit des Lebens wandeln.“ Anderswo sagt er: „Erneuert euch im Geiste eures Gemüthes, und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist.“ Bei dem Psalmisten aber heißt es: „Deine Jugend wird sich, wie die des Adlers, erneuern.“ Es ersteht ja der Adler, nachdem er gestorben, aus seiner Asche, wie wir, in der Sünde erstorben, durch das Sakrament der Taufe für Gott wiedergeboren und umgeschaffen werden. Der Apostel S. 281 lehrt also an der obigen Stelle Eine Taufe, wie er das auch anderswo sagt: „Ein Glaube, Eine Taufe.“

Auch das ist offenbar, daß in dem, der getauft wird, das Bild des Gekreuzigten abgeprägt wird; denn das Fleisch kann die Sünde nicht abthun. wenn es nicht in Christo Jesu gekreuzigt ist. So ist denn ja auch geschrieben, daß alle diejenigen, welche in Christo Jesu getauft sind, auf seinen Tod getauft sind. Wenn wir nun mit ihm zusammengepflanzt sind zur Ähnlichkeit seines Todes, so werden wir es auch zur Aehnlichkeit der Auferstehung sein; denn das wissen wir, daß unser alter Mensch mit angeheftet ist ans Kreuz. An die Kolosser schreibt der Apostel: „Mit dem seid ihr in der Taufe begraben, in welchem ihr auch auferstanden seid.“ Er schreibt so, damit wir glauben, daß er selbst in uns gekreuzigt wird, wie durch ihn unsere Sünden getilgt werden, daß er, der allein die Sünden nachlassen konnte, den Schuldbrief, der gegen uns lautete, an das Kreuz heftet. Ja in uns triumphirt er über die Gewalten und Mächte nach dem Worte des Apostels: „Er entwaffnete die Oberherrschaften und die Gewalten, führte sie einher und triumphirte über sie öffentlich durch sich selbst.“

Wenn der Apostel nun in dem an die Hebräer gerichteten Briefe sagt, „es sei unmöglich, die Gefallenen zur Sinnesumkehr zu erneuern, da sie den Sohn Gottes wiederum kreuzigen und ihn der Schmach preisgeben“, so meint er das so, daß wir annehmen müssen, er spreche von der Taufe, in welcher wir den Sohn Gottes in uns gekreuzigt darstellen, damit durch ihn die Welt auch uns gekreuzigt werde, die wir in einem gewissen Sinne triumphiren, indem wir die Aehnlichkeit des Todes desjenigen annehmen, der die Oberherrschaften und Gewalten am Kreuze siegreich entwaffnete und über sie triumphirte. Indem wir, eintretend in die Aehnlichkeit seines Todes, ihr Joch abwerfen, S. 282 triumphiren auch wir über diese Mächte. Nun ist aber Christus nur einmal gekreuzigt, nur einmal der Sünde gestorben: und deßhalb gibt es nur eine, nicht mehrere Taufen.

Aber wie verhält es sich damit, daß er vorher „die Lehre von den verschiedenen Taufen“ vorausgeschickt hat? Da es im Gesetze viele Taufen gab, so tadelt der Apostel mit Recht diejenigen, welche das Vollkommene verlassen und zu den Anfangsgründen zurückkehren. Er lehrt uns, daß wir wissen müssen, wie die Taufen des alten Bundes alle zumal ihre Geltung verloren haben, und wie es unter den Geheimnissen der Kirche nur eine Taufe gibt. Er ermahnt uns aber auch, daß wir die Anfangsgründe der Lehre übergehen und zum Vollkommenen eilen. „Ja, dieses wollen wir thun“, sagt er, „wenn anders Gott es zuläßt“, denn ohne Gottes Hilfe kann Niemand vollkommen sein.

Uebrigens könnte ich demjenigen, der die Worte des Apostels von der Buße versteht, auch antworten, daß das, was bei den Menschen unmöglich, doch möglich ist bei Gott. Der Herr kann, wenn er will, die Sünden nachlassen auch da, wo uns die Nachlassung unmöglich scheinen möchte. Schien es doch auch unmöglich, daß das Wasser die Sünde abwaschen könnte, und ebenso glaubte auch Naaman der Syrer nicht, daß sein Aussatz durch das Wasser könnte hinweggenommen werden. Was aber in der That unmöglich war, das hat Gott, der uns so wunderbare Gnade verliehen, möglich gemacht. So schien es denn auch unmöglich, daß in der Buße die Sünden nachgelassen würden. Christus aber verlieh den Aposteln diese Gewalt, die von ihnen auf das priesterliche Amt übergegangen ist. Was also unmöglich schien, ist möglich geworden. — Gleichwohl überzeugt uns die richtige, begründete Auslegung, daß der Apostel hier von der Taufe spricht, daß sie nämlich nicht wiederholt werden soll.

Kapitel 3

S. 283 Uebrigens würde der Apostel doch auch nicht gegen die offenbare Lehre Christi ankämpfen. Der Herr hat uns ein Gleichniß von einem Sünder, der Buße thut, in dem verlornen Sohne vorgeführt, der in ein fremdes Land ging und das Erbtheil, welches er von seinem Vater empfangen, in üppigem Leben verschwendete. Dann aber, als er seinen Hunger mit Träbern stillte, sehnte er sich nach dem Brode im Hause seines Vaters zurück. So erwarb er sich wieder das Ehrenkleid, den Ring an seine Hand, Schuhe an seinen Fuß: ihm zur Ehre wurde das Kalb geschlachtet, eine Hindeutung auf das Leiden des Herrn, durch welches uns das himmlische Sakrament bereitet ist.

Mit Recht heißt es: „er ging in ein fremdes Land“, weil er von den heiligen Altären getrennt war; so S. 284 ist der Sünder von dem himmlischen Jerusalem, der vollen, wahren Heimath der Heiligen getrennt. Daß dort aber unsere Heimath ist, sagt auch der Apostel: „So seid ihr nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.“

„Er verschwendete seine Vermögenssubstanz“ heißt es weiter. Mit Recht; denn der Sünder, dessen Glaube in den Werken schwach ist, verschwendet in gleicher Weise. Der Glaube ist ja nach den Worten des Apostels die „Substanz, der zu hoffenden Dinge und die Gewißheit von Dingen, die nicht gesehen werden.“ Fürwahr eine edle Substanz ist der Glaube, das Erbtheil unserer Hoffnung.

Es kann uns ferner nicht Wunder nehmen, daß derjenige dem Hungertode nahe kommt, welcher der himmlischen Nahrung entbehrt. „Ich will mich aufmachen“, spricht er dann voll Sehnsucht, „und zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Mein Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir.“ Erkennet ihr nicht, daß uns dieses so bestimmt vorgehalten ist, weil wir zum Bitten angetrieben werden, um die Theilnahme an dem Geheimnisse uns zu erwerben: und ihr wollet wegnehmen, um deßwillen doch die Buße einzig übernommen wird? Nimm dem Steuermann die Hoffnung, zum Hafen zu gelangen: er wird mitten auf den Meeresflächen trostlos umherirren. Nimm dem Kämpfer den Siegeskranz: er wird ermattet in der Arena zusammenbrechen. Nimm dem Fischer die Aussicht auf den Fang: er wird ablassen, ferner noch die Netze auszuwerfen. Wie soll denn nun derjenige, welcher den Hunger seiner Seele ertragen muß, mit größerem Eifer Gott bitten können, wenn er verzweifelt, zu dem heil. Mahle wieder zugelassen zu werden?

„Ich habe gesündigt“ lautet die Anklage, „wider den Himmel und vor dir.“ Das ist das Bekenntniß einer Sünde zum Tode, damit ihr nicht etwa glauben möchtet, es könne Jemand, der Buße — gleichviel über welche S. 285 Sünde — thut, rechtlich ausgeschlossen werden. Derjenige, welcher wider den Himmel gesündigt hat, der hat entweder gegen das Himmelreich oder gegen die eigene Seele gesündigt, und das ist eine Sünde zum Tode; er hat vor Gott gesündigt nach dem Worte des Psalmisten: „Dir allein habe ich gesündigt und Böses vor dir gethan.“

So rasch erwirkt er die Verzeihung, daß der Vater dem Ankommenden, aber noch weit Entfernten entgegeneilt; daß er ihm den Kuß, das Zeichen heiligen Friedens, gewährt, daß er das Kleid, das hochzeitliche Gewand, herbeibringen läßt, ohne welches man von der Theilnahme an dem Hochzeitsmahle ausgeschlossen wird. Den Ring gibt ihm der Vater an die Hand als Unterpfand der Treue, als Siegel des heiligen Geistes. Er läßt Schuhe bringen für die Füße des Heimgekehrten: muß ja auch derjenige, welcher das Ostermahl des Herrn feiert, von dem Osterlamme essen will, seine Füße bedeckt haben gegen alle Anfechtungen und Bisse der alten Schlange. Dann befiehlt der Vater, daß das Mahl bereitet werde: „Als unser Osterlamm ist ja Christus geopfert.“ Wie oft wir nun den Kelch des Herrn empfangen, verkündigen wir den Tod des Herrn. Wie er einmal für Alle gestorben ist, so nehmen wir, so oft die Sünden nachgelassen werden, Theil an dem Sakramente seines Leibes, so daß allezeit durch sein Blut die Nachlassung der Sünden bewirkt wird. So ist denn auf das Klarste durch das Wort des Herrn geboten, daß auch den schwersten Sündern, wenn sie aus ganzem Herzen und mit offenem Bekenntnisse ihrer Sünde Buße thun, die Gnade des himmlischen Geheimnisses wieder zu Theil werden soll. So ist denn außer Zweifel gestellt, daß für euch, ihr Novatianer, nichts zur Entschuldigung bleibt.

Kapitel 4

Es ist aber ferner zu unserer Kunde gekommen, daß ihr auch aus jenem Worte des Heilandes einen Einwurf S. 286 nehmet: „Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen nachgelassen; aber die Lästerung wider den heiligen Geist wird nicht nachgelassen werden. Und wer ein Wort wider des Menschen Sohn redet, dem wird vergeben werden: wer aber wider den heiligen Geist redet, dem wird weder in dieser, noch in der künftigen Welt vergeben werden.“ Mit dieser Anführung wird indeß euere ganze Behauptung umgestoßen und vernichtet. Es heißt ja: „Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden.“ Warum vergebet ihr denn nicht? Warum ziehet ihr Bande, die ihr nicht löset? Warum schlinget ihr Knoten, die ihr nicht lockert? Oder gewähret doch den Uebrigen Verzeihung und beschränket euch auf diejenigen, von denen ihr unter Berufung auf das Evangelium annehmet, daß sie als Sünder wider den heiligen Geist für immer gebunden sind.

Beachten wir dabei aber, welche Menschen der Heiland so belastet. Rufen wir uns, um das besser zu erkennen, ins Gedächtniß zurück, was jenem Worte des Herrn vorausgeht. Die Juden hatten erklärt: „Er treibt durch Beelzebub, den Obersten der Teufel, die Teufel aus.“ Jesus antwortete ihnen: „Ein jedes Reich, das wider sich selbst uneins ist, wird verwüstet werden, und eine jede Stadt und ein jedes Haus, das wider sich selbst uneins ist, wird nicht bestehen. Wenn nun ein Teufel den andern austreibt, so ist er wider sich selbst entzweit; wie wird dann sein Reich bestehen? Und wenn ich durch Beelzebub die Teufel austreibe, durch wen treiben dann eure Kinder sie aus?“

Von denen also ist hier, wie wir sehen, ausdrücklich die Rede, welche behaupten, der Herr Jesus treibe die Teufel durch Beelzebub aus. Ihnen antwortete der Herr so, weil das Erbe des Satan in ihnen wucherte, da sie den Erlöser der ganzen Welt mit dem Satan verglichen und die Gnadenerweise Christi in das Reich des Teufels verwiesen. Um es uns zweifellos zu machen, daß er von dieser S. 287 Lästerung rede, fügt er hinzu: „Ihr Schlangengezücht, wie könnet ihr Gutes reden, da ihr böse seid?“ Daß ihnen also, die so reden, Verzeihung zu Theil werde, das leugnet er.

Als ferner Simon, durch die längst geübte Zauberei verdorben, glaubte, er könne die Gnadengabe Christi, welche durch Handauflegung und Eingießung des heiligen Geistes ertheilt wird, um Geld erkaufen, da sprach Petrus zu ihm: „Du hast keinen Antheil noch Erbe an dieser Lehre; denn dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott. Darum thue Buße über diese deine Bosheit und bitte Gott, daß dir etwa dieser Anschlag deines Herzens vergeben werde. Denn ich sehe dich voll bitterer Galle und von den Banden der Ungerechtigkeit umstrickt.“ Du siehst hier, daß Petrus kraft apostolischen Ansehens den Simon, der in thörichtem Zauberglauben befangen gegen den hl. Geist lästerte, verurtheilt und zwar mit um so größerem Rechte, weil jener das reine Bewußtsein des Glaubens nicht hatte. Gleichwohl verschloß er ihm nicht die Hoffnung auf Verzeihung, da er ihn ausdrücklich zur Buße einlud.

Der Herr hat also auf die Lästerung der Pharisäer die Antwort ertheilt. Er verweigerte denjenigen den Gnadenerweis seiner Macht, wie sie in der Nachlassung der Sünden sich offenbart, welche ihrerseits diese göttliche Macht der Hilfe und Stütze des Satan zuschrieben. Damit erklärt der Herr aber auch, daß diejenigen dem höllischen Geiste dienen, welche die Kirche des Herrn zertheilen, und so hat er die Häretiker und Schismatiker aller Zeiten zu denen gezählt, welchen er die Verzeihung versagt, weil jede andere Sünde gegen Einzelne gerichtet ist, während diese die Gesammtheit trifft. Diese Menschen allein sind es, welche die Gnade Christi entkräften wollen, welche die Glieder der Kirche zerreissen, um deretwillen der Herr Jesus gelitten, der er den heiligen Geist verliehen hat.

S. 288 Damit ihr ferner nicht im Unklaren sein möchtet, daß er wirklich von den Zerstörern der Einheit redet, ist das weitere Wort gesprochen: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreuet.“ Und dann fügt der Herr zur Erläuterung, von wem dieses Wort gilt, hinzu: „Darum sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung wider den heiligen Geist wird ihnen nicht vergeben werden.“ Die Betonung der Worte: „Darum sage ich euch,“ zeigt uns deutlich genug, daß gerade die folgenden Worte vor den übrigen von uns sollen besonders beachtet werden. Mit vollem Rechte setzte der Herr dann hinzu: „Ein guter Baum bringt gute Früchte, ein schlechter Baum aber bringt schlechte Früchte;“ also kann auch eine schlechte Genossenschaft keine guten Früchte bringen. Der Baum deutet auf eine Genossenschaft, die guten Früchte des Baumes aber sind die Kinder der Kirche.

So kehret denn zur Kirche zurück, die ihr euch gottloser Weise von ihr getrennt habt. Allen, die sich bekehren, wird Verzeihung zugesagt, wie geschrieben steht: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ Um nur ein Beispiel anzuführen: das Volk der Juden, das von dem Herrn gesagt: „er hat einen Teufel“; das gelästert hat: „er treibt durch Beelzebub die Teufel aus“; dieses Volk, das den Herrn Jesus kreuzigte, wurde doch durch die Predigt des Apostels Petrus zur Taufe berufen, damit es die Schuld so schwerer Verbrechen ablege.

Was braucht es uns aber Wunder zu nehmen, wenn ihr das Heil Anderen verweigert, da ihr ja euer eigenes zurückweiset. Dabei geht dann freilich Jenen nichts verloren, welche von euch die Buße sich erbitten. Ich glaube in der That, daß auch Judas durch die unermeßliche Barmherzigkeit Gottes nicht von der Verzeihung ausgeschlossen wäre; nur hätte er die Buße nicht bei den Juden, sondern S. 289 bei Christus übernehmen müssen. „Ich habe gesündigt,“ rief er, „weil ich unschuldiges Blut verrathen habe.“ Die Juden antworteten: „Was geht das uns an? da siehe du zu.“ Lautet eure Sprache vielleicht anders, wenn Jemand, der auch nur eines geringeren Vergehens schuldig ist, seine eigene That euch bekennt? Was antwortet ihr denn anders, als: „Was geht das uns an? da siehe du zu.“ Jenem Worte folgte dann der Strick der Verzweiflung: um so furchtbarer aber ist die Strafe, je kleiner die Schuld ist.

Wenn aber nun Jene sich nicht bekehren, so bekehret ihr wenigstens euch, die ihr Fall um Fall von der erhabenen Höhe der Unschuld und des Glaubens herabgestürzt seid. Wir haben einen guten, milden Herrn, der Allen verzeihen will, der auch dich durch den Propheten ruft: „Ich bin es“, sagt er, „ich allein bin es, der deine Übertretungen tilgt; und deiner Sünden gedenke ich nicht; du aber sei eingedenk und wir wollen rechten mit einander.“

Kapitel 5

Die Novatianer werfen aber auch noch eine Frage auf in Betreff der Worte des Apostels Petrus. Weil er zu Simon sagte: „ob vielleicht dir vergeben werde,“ S. 290 glauben Jene, Petrus habe hier keineswegs behauptet, daß demjenigen, der Buße thue, die Sünden nachgelassen würden. Aber sie sollten doch bedenken, von wem der Apostel so redet: von Simon, dessen Glaube nicht in der treuen Hingabe wurzelte, der vielmehr nur auf falsche List sann. So sprach auch der Herr zu jenem Jünglinge, der ihm erklärte: „Ich will dir folgen“, — eben weil Jesus erkannte, daß seine Absichten nicht ganz rein seien —: „Die Füchse haben Höhlen.“ Wenn nun der Herr demjenigen, welchen er als nicht aufrichtig erkannte, vor der Taufe die Nachfolge verwehrte: wunderst du dich dann, wenn der Apostel denjenigen, welcher nach der Taufe so fehlte, nicht losspricht, da er ausdrücklich erklärt, jener werde in den Fesseln der Ungerechtigkeit verharren?

Diese Antwort mag den Gegnern genügen. Sonst behaupte ich aber, daß Petrus gar nicht gezweifelt hat, und ich glaube auch nicht, daß man den ganzen Vorgang mit der Ausdeutung eines einzigen Wortes — ich möchte sagen — erwürgen darf. Wenn sie behaupten, Petrus habe seinem Zweifel hier Ausdruck gegeben, hat dann vielleicht auch Gott gezweifelt? Aber er sagt doch beim Propheten Jeremias: „Stelle dich in den Vorhof am Hause des Herrn und sprich zu allen Städten Judas, aus denen man kommt, um anzubeten, alle Worte, die ich dir gebiete, zu ihnen zu reden; nimm kein Wort hinweg: vielleicht, daß sie hören und sich bekehren.“ So mögen denn die Gegner auch behaupten, Gott sei gleichfalls die Zukunft unbekannt.

Keineswegs ist in diesem Worte die Unkenntniß der Zukunft ausgedrückt: es ist hier vielmehr der gewohnte einfache Sprachgebrauch der heil. Schrift beachtet. Sagt S. 291 ja auch der Herr zum Propheten Ezechiel: „Menschensohn, ich sende dich zu den Söhnen Israels, zu abtrünnigen Völkern, die von mir abgewichen sind: sie und ihre Väter haben meinen Bund gebrochen bis auf diesen Tag. Du sollst nun zu ihnen sagen: So spricht Gott der Herr! Vielleicht, daß sie hören und erschrecken.“ Wußte denn nun vielleicht Gott nicht, ob Jene sich bekehren könnten oder nicht? Die angeführte Ausdrucksweise ist also keineswegs immer die Bezeichnung des Zweifels.

Uebrigens gebrauchen auch die weltlichen Schriftsteller, die doch ihren ganzen Ruhm in die zutreffende Wahl der Worte setzen, das gedachte Wort nicht ständig für den Ausdruck des Zweifels. Das lateinische ‚forte‘ entspricht dem griechischen ‚τάχα‘ [tacha]. Der erste unter den griechischen Dichtern sagt nun: . . . . . . . . ἥ τάχα χήρη Σεῦ ἔσομαι· τάχα γάρ σε κατακτανέουσιν Ἀχαιοί, Πάντες ἐφορμηθέντες . . . . . [hē tacha chērē seu esomai tacha gar se kataktaneousin Achaioi pantes ephormēthentes]

In diesen Worten sollte doch nicht der Zweifel daran Ausdruck finden, daß, wenn Alle anstürmten, leichtlich ein Einzelner von der ganzen Masse könnte niedergeworfen werden. Wir bleiben indessen lieber bei den Beispielen aus unseren eigenen Schriftstellern, als daß wir zu fremden S. 292 unsere Zuflucht nehmen. So lesen wir im Evangelium, daß der Vater, der seine Knechte bereits zu seinem Weinberge gesandt hatte, die aber getödtet waren, ausruft: „Ich will meinen geliebtesten Sohn senden; vielleicht daß sie vor ihm Ehrfurcht haben.“ Und anderswo sagt der Sohn von seiner eigenen Person redend: „Ihr kennet weder mich noch meinen Vater; wenn ihr mich känntet, so würdet ihr wohl auch meinen Vater kennen.“

Wenn nun Petrus Worte gebraucht, deren Gott sich bedient, ohne seinem Wissen irgend Eintrag zu thun: warum sollen wir nicht annehmen, daß Petrus dieselben Worte gebraucht, ohne seiner Ueberzeugung damit Abbruch thun zu wollen? Er konnte ja gar keinen Zweifel hegen hinsichtlich des Gnadengeschenkes Christi, der ihm die Gewalt, Sünden nachzulassen, gegeben hatte. Er konnte das um so weniger, als er doch den listigen Anschlägen der Häretiker keinen Spielraum gewähren durfte, die nur um deßwillen die Hoffnung des Menschen vernichten wollen, damit sie bei den Verzweifelnden um so leichter Eingang finden mit ihrer Lehre von der Wiederholung der Taufe.

Die Apostel aber, welche die Taufe festhalten, haben, der Unterweisung des Herrn folgend, auch die Buße verkündigt, haben Verzeihung verheißen, haben die Schuld nachgelassen. So hat auch David gelehrt, wenn er sagt: „Selig, deren Missethaten vergeben, deren Sünden bedeckt sind. Selig der Mann, dem der Herr die Sünde nicht angerechnet hat.“ Beide preiset David selig, sowohl denjenigen, dessen Missethat durch das Bad der Wiedergeburt getilgt, als auch denjenigen, dessen Sünde durch gute Werke bedeckt wird. Wer nämlich Buße thut, der muß seine Sünde nicht bloß mit Thränen abwaschen, sondern er muß auch die früheren Vergehen mit gebesserten Werken S. 293 verhüllen und bedecken, damit ihm die Sünde nicht angerechnet werde.

So bedecken wir denn unsere Fehltritte mit den nachfolgenden Werken, tilgen wir sie mit den Thränen der Reue. Dann wird der Herr auch unser Seufzen hören, wie er Ephraim einst klagen hörte. Es steht ja geschrieben, daß der Herr gesprochen: „Aufhorchend hörte ich Ephraim, da er weinend klagte.“ Und er gibt selbst die Worte an, in welchen Ephraim seinen Schmerz ergossen: „Du hast mich gestraft, und du hast mich gezüchtigt, wie ein ungebändigt Kalb.“ Das Kalb springt unbändig und enteilt dem Stalle: Ephraim aber ist ungebändigt wie das Kalb und weit von der Heerde entfernt, weil es die Hut des Herrn verlassen hat und Jeroboam nachfolgend die Kälber verehrt hat, wie schon Aaron prophetischen Geistes vorausgesagt hatte, daß das Volk der Juden so fallen würde. Darum spricht Ephraim auch in seiner Buße: „Bekehre mich, so werde ich bekehrt, denn du bist der Herr mein Gott; in den letzten Tagen meiner Gefangenschaft habe ich Buße gethan. Seit ich zur Erkenntniß gekommen, seufze ich über die Tage meiner Schmach und bin dir unterworfen; ich bin beschämt und erröthe; denn ich trage die Schmach meiner Jugend. Ich habe Schmach empfunden, dann aber dich (den Anderen) gezeigt.“

Wir sehen hier, wie die Buße geübt werden, in welchen Worten und wie sie in Thränen Ausdruck finden muß; wir hören, daß die Tage der Sünde Tage der Schmach genannt werden und es ist in der That eine Schmach, wenn Christus verleugnet wird.

S. 294 So unterwerfen wir uns denn Gott und seien wir nicht ferner unterthan der Sünde: wenn wir dann unserer Missethaten gedenken, so müssen wir über dieselben wie über eine tiefe Schmach erröthen. Wir dürfen sie nicht als Ehre ausgeben, wie manche Menschen, welche ihrer Sünden sich rühmen, nachdem sie freilich alle Scham vertrieben und das Gefühl der Gerechtigkeit gänzlich in sich erstickt haben. So vollkommen soll unsere Bekehrung werden, daß wir, die wir Gott vordem nicht erkannten, nun ihn sogar Anderen zur Erkenntniß bringen. Der Herr aber, durch unsere Umkehr bewegt, mag dann auch wohl zu uns sagen: „Von früher Zeit an ist Ephraim mir ein geliebter Sohn, ein zärtlich Kind; denn seit ich von ihm rede, gedenke ich sein auch; darum ist mein Inneres in Bewegung um seinetwillen, und ich erbarme mich sein, spricht der Herr.“

Welche Barmherzigkeit der Herr uns aber verspricht, das zeigt er uns mit den weiteren Worten: „Ich will trunken machen die erschöpften Seelen und sättigen jede hungernde. Darum bin ich, wie vom Schlafe erwacht und schaue, und mein Schlaf war mir angenehm.“ Wir erkennen daraus, daß der Herr den Sündern seine Gnadengeheimnisse verheißt: so bekehren wir uns denn sämmtlich zum Herrn.

Kapitel 6

Wollen nun die Anderen sich nicht bekehren, dann kehret ihr wenigstens um, die ihr in wiederholtem Falle von der erhabenen Höhe der Unschuld und des Glaubens herabgefallen seid. Wir haben ja einen guten, milden Herrn, der Allen gerne verzeihen will, der durch den Propheten dich gerufen hat mit den Worten: „Ich bin es, ich allein, der deine Missethaten tilgt; und deiner Sünden gedenke ich nicht; du aber sei eingedenk und wir wollen S. 295 rechten mit einander.“ „Ich gedenke nicht“, sagt der Herr; „du aber gedenke daran“, mit anderen Worten: „Ich rufe die Sünden, welche ich dir verziehen habe, nicht in mein Gedächtniß zurück; mit Vergessenheit sind sie bedeckt; du aber gedenke daran. Ich denke ihrer nicht um der Gnade willen, die ich dir verliehen; du aber denke daran um der Besserung willen, damit du dir bewußt bleibst, daß die Sünde dir nachgelassen ist; damit du dich nicht rühmest, als seiest du unschuldig, damit du, indem du dich selbst rechtfertigst, dich nicht ärger belastest. Willst du gerechtfertigt sein, dann bekenne vielmehr deine Missethat. Das Band der Verbrechen wird durch schamerfülltes Bekenntniß gelöst.“

Du siehst also, was Gott von dir fordert: du sollst der Gnade eingedenk sein, die du empfangen hast, und sollst dich nicht überheben, als hättest du nicht empfangen. Du siehst, wie er durch das Versprechen der Verzeihung dich zum Bekenntniß auffordert. Siehe aber auch zu, daß du nicht durch Widerstand gegen die himmlischen Gebote in die Unbotmäßigkeit der Juden verfällst, zu denen der Herr Jesus gesagt hat: „Wir haben euch gespielt, da habt ihr nicht getanzt; wir haben geklagt, und ihr habt nicht geweint.“

Das scheint eine gewöhnliche Redensart, aber es birgt sich hier kein gewöhnliches Geheimniß. Deßhalb muß man vor Allem sich hüten, durch eine flache Auslegung dieser Worte getäuscht, anzunehmen, als würden hier die unzüchtigen Tänze des Theaters, die Thorheiten der Bühne empfohlen. Die bleiben auch für das jugendliche Alter sündhaft und verwerflich: es wird vielmehr ein heiliger Tanz empfohlen, wie David tanzte vor der Lade des Bundes. Das ziemt sich immer, was der Gottesverehrung gewidmet wird, und wir brauchen uns keines Dienstes, der sich auf die Verehrung Christi bezieht, zu schämen.

S. 296 Der Tanz wird also nicht empfohlen, wie er als Genosse üppiger Lust auftritt, sondern in geistiger Uebertragung, wie er den Leib sich freudig erheben, wie er die Glieder nicht träge am Boden haften läßt, wie er die ausgetretenen Geleise zu verlassen zwingt. Es war ein geistiger Tanz des Apostels, als er nach seinen eigenen Worten „vergaß, was hinter ihm lag, und für uns nach dem sich ausstreckte, was vor ihm lag, als er dem Ziele zueilte, dem Siegespreise Jesu Christi.“ So wirst auch du, wenn du zur Taufe kommst, gemahnt, deine Hände zu erheben, deine Füße auf dem Gange zur Ewigkeit zu schnellerem Schritte anzutreiben. So ist der Tanz Genosse des Glaubens und der Gnade.

Da also liegt das Geheimniß: „Wir haben euch gesungen“, den Gesang nämlich des neuen Testamentes; „ihr aber habt nicht getanzt“, d. h. ihr habt euren Geist nicht zu himmlischer Gnade erhoben. „Wir haben geklagt, und ihr habt nicht geweint“, d. h. ihr habt nicht Buße gethan. Darum aber gerade ist das Volk der Juden verworfen, weil es nicht Buße gethan, weil es die Gnade zurückgewiesen hat. Durch Johannes ward die Buße, durch Christus die Gnade geboten. Diese schenkt der Herr, jene verkündet der Diener. Beides beobachtet aber die Kirche, und so erlangt sie die Gnade, während sie die Buße nicht verwirft: denn die Gnade ist Geschenk des verzeihenden Gottes, die Buße ist das Heilmittel des sündigen Menschen.

So wußte Jeremias, welches Heilmittel in der Buße lag, die er in seinen Klageliedern für Jerusalem übernahm. Darum führt er Jerusalem büßend ein mit den Worten: „Sie weinet des Nachts ohne Aufhören, und die Thränen laufen ihr über die Wangen: keiner von allen ihren Lieben tröstet sie. Die Wege nach Sion trauern.“ Dann fügt er hinzu: „Darum weine ich, und meinen Augen entströmen die Thränen, weil der Tröster, der mich wieder belebet, fern S. 297 ist von mir.“ Das also war das herbste, bitterste Leid, daß der ferne war, welcher die Klagende tröstete. Wie könnet ihr nun selbst den Trost wegnehmen, indem ihr die Hoffnung auf Beendigung der Buße vorenthaltet?

Es mögen aber die, welche Buße thun, vernehmen, wie sie dieselbe üben sollen, mit welchem Eifer, mit welcher Gesinnung, mit welcher Absicht, mit welcher inneren Zerknirschung. „Siehe, Herr“, sagt der Prophet, „wie ich geängstet bin, mein Innerstes bebt, mein Herz wendet sich um in mir selbst.“ Das ist die innere Erschütterung der Seele: und wie ist die Treue der Gesinnung und die Haltung des Körpers? „Es sitzen auf dem Boden und schweigen die Aeltesten der Tochter Sions: sie bestreuen mit Asche ihre Häupter, gürten sich mit Trauergewand: zu Boden senken ihr Haupt die Jungfrauen Jerusalems, meine Augen vergehen vor Thränen; meine Eingeweide beben; ausgegossen auf die Erde ist mein Ruhm.“

So weinte auch das Volk Ninive’s und entging dadurch dem angedrohten Untergange der Stadt: so groß also ist die heilende Kraft der Buße, daß Gott um ihretwillen sogar seine Rathschlüsse zu ändern scheint. In dir ist es darnach gelegen, dem Urtheilsspruche zu entgehen; der Herr will gebeten sein, er will, daß du hoffnungsvoll zu ihm deine Zuflucht nimmst. Du bist ein Mensch und willst gebeten sein, ehe du verzeihest, und du glaubst, daß Gott dir verzeiht, ohne daß du ihn bittest?

Der Herr weinte einst selbst über Jerusalem, damit die heilige Stadt, selbst thränenlos, durch die Thränen des Herrn zur Verzeihung gelangen möchte. Er will aber, daß wir selbst weinen, damit wir dem Gerichte entgehen, wie er einst auch gesagt hat: „Ihr Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst!“

Auch David weinte einst und erwirkte dadurch, daß die göttliche Erbarmung dem Sterben des Volkes Einhalt S. 298 that: unter dreien war ihm die Wahl gelassen, und er erwählte dasjenige, wobei die göttliche Barmherzigkeit in hellerem Lichte sich zeigen konnte. Was schämst du dich denn nun, über deine Sünden zu weinen, da doch Gott wollte, daß die Propheten weinten für die Völker?

So wurde auch Ezechiel geboten, über Jerusalem zu weinen, da er das Buch empfing, dessen Titel lautete: „Klagen, Gesang, Wehe!“ Zwei Trauerbezeichnungen, eine Freudenbezeichnung, weil ja derjenige in der Ewigkeit selig wird, der in diesem Leben geweint hat: „Das Herz des Weisen,“ sagt der Prediger, „ist da, wo Traurigkeit ist, und das Herz der Thoren ist im Hause der Ueppigkeit.“ Der Herr selbst aber sagt: „Selig, die ihr jetzt weinet: ihr werdet dereinst lachen.“

Kapitel 7

Wir wollen also weinen in der Zeit, damit wir dereinst jubeln in der Ewigkeit. Wir wollen den Herrn fürchten, wir wollen ihm zuvorkommen, indem wir unsere Sünden bekennen; wir wollen unsere Fehler bessern, unsere Verirrungen gut machen, damit nicht auch von uns das Wort gilt: „Weh’ mir, meine Seele! Verschwunden ist von der Erde der Fromme, und der sich besserte, findet sich nicht unter den Menschen.“

Was scheuest du dich denn nun, bei dem milden guten Herrn deine Missethaten zu bekennen? „Bekenne“, sagt doch der Prophet, „deine Missethaten, damit du gerechtfertigt werdest.“ So wird dem Schuldbeladenen der Lohn der Rechtfertigung in Aussicht gestellt; denn derjenige wird gerechtfertigt, der das eigene Vergehen freiwillig anerkennt: S. 299 und zudem „ist der Gerechte zuerst, beim Beginne des Redens sein eigener Ankläger.“

Der Herr weiß freilich Alles, aber er erwartet gleichwohl das Wort deiner Anklage, nicht um dich zu strafen, sondern um dir zu verzeihen: er will eben nicht, daß der Teufel dir Schmach zufügt und dich anklagt, da du deine Vergehen verheimlichst. Komme diesem Ankläger zuvor: wenn du dich selbst anklagst, brauchst du keinen Ankläger zu fürchten; gibst du selbst dich an, so wirst du das getödtete Leben der Seele zurückerlangen.

Christus wird zu deinem Grabe kommen: wenn er dann sieht, daß Martha, das Weib des treuen Dienstes, um deinetwillen weint; wenn er Maria weinen sieht, die voll Aufmerksamkeit dem Worte des Herrn lauschte und so, der Kirche vergleichbar, den besten Theil erwählte: dann wird er, im Anblick so vieler Thränen, die um deinen Hingang fließen, von Mitleid bewegt werden und fragen: „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ d. h. in welcher Klasse der Schuldigen, auf welcher Stufe der Büßenden befindet er sich? Ich will den sehen, um welchen ihr weinet, auf daß er selbst durch seine Thränen mich rühre; ich will sehen, ob er der Sünde, für welche Verzeihung erfleht wird, schon gestorben ist.

Dann wird das Volk ihm antworten: „Komm und siehe!“ Was soll das Wort: „Komme“? Das heißt: kommen soll die Verzeihung der Sünden, das Leben der Gestorbenen, die Auferstehung der Todten, kommen soll auch zu diesem Sünder dein Reich.

Er wird kommen und dann befehlen, daß der Stein gehoben werde, den die Fehltritte dem Nacken des Sünders aufgelegt haben. Er konnte den Stein entfernen mit dem Machtworte seines Mundes: es weiß ja auch die fühllose Natur dem Gebote Christi Folge zu geben. Es hätte selbst mit der lautlosen Macht unsichtbarer Willensthätigkeit S. 300 Derjenige den Stein des Grabes entfernen können, bei dessen Leiden plötzlich die Grabsteine sich hoben und die Gräber vieler Todten sich öffneten. Gleichwohl befahl er den Umstehenden, den Stein wegzuwälzen, in Wirklichkeit um die Ungläubigen zum Glauben zu bringen, wenn sie den Gestorbenen erstehen sähen; vorbildlich aber, weil er uns auftragen wollte, die Lasten der Sünden, welche wie schwere Steine auf den Büßern liegen, zu erleichtern. So ist es denn unseres Amtes, die Lasten zu heben; sein Werk wird es sein, zu erwecken, die ihrer Todesfesseln Entledigten aus dem Grabe herauszuführen.

Im Anblicke der schweren Sündenlast weint dann auch der Herr Jesus: er erträgt es nicht, daß die Kirche allein weint. Er fühlt Mitleid mit seiner geliebten Braut und ruft dem Gestorbenen zu: „Komme heraus!“ d. h. du, der du in der Finsterniß deines schuldbeladenen Gewissens, in dem Schmutz deiner Sünden — das ist ja gleichsam der Kerker des Schuldigen — wie begraben liegst, komme heraus, gib kund deine Schuld, damit du die Rechtfertigung erlangest: „denn mit dem Munde geschieht das Bekenntniß zum Heile.“

Wenn du, von Christus gerufen, das Bekenntniß abgelegt hast, dann zerbrechen die Bande, dann lösen sich die Fesseln, wäre die Verwesung auch schon weit vorgeschritten. Lazarus hatte vier Tage im Grabe gelegen und das Fleisch verbreitete bereits den Geruch der Verwesung. Er aber, dessen Fleisch die Verwesung nicht schaute, lag nur bis zum dritten Tage im Grabe: ihm war fremd die Gebrechlichkeit des Fleisches, das aus Theilen der vier Elemente besteht. Wie durchdringend aber der Geruch der Verwesung auch sein mag, er verschwindet ganz, sobald der Duft heiliger Salbung sich ergießt. Dann erhebt sich der Todte: auf Befehl des Herrn werden die Bande desjenigen gelöset, der bislang in der Sünde begraben lag; von seinem Antlitze wird die Hülle genommen, welche die Gnade, die er in Wahrheit empfangen hatte, verschleierte. Da er aber jetzt mit der Verzeihung beschenkt ist, so erfolgt der Befehl, die S. 301 Hülle zu entfernen, das Antlitz offen zu legen: der hat ja keinen Grund mehr zu erröthen, dem die Sünde erlassen ist.

Bei einer solchen Gnadenergießung, bei einem so erhabenen Wunder göttlicher Huld sollten doch Alle von Freude erfüllt werden; aber die Gottlosen werden zornig und halten einen Rath wider Christus, wie einstmals, da sie sogar den Lazarus zu tödten suchten. Erkennet ihr Novatianer aber nicht, daß ihr die Nachfolger jener Pharisäer seid, da ihr als die Erben ihrer Härte euch bewährt? Auch ihr seid ingrimmig und haltet einen Rath wider die Kirche, weil ihr sehet, daß in der Kirche die Todten wieder aufleben und durch die verliehene Verzeihung der Sünden wieder erweckt werden. So viel an euch liegt, möchtet ihr durch eure neidische Bosheit die Erstandenen wieder tödten.

Jesus aber widerruft seine Wohlthaten nicht, er erweitert sie vielmehr durch neuen Erguß seiner Freigebigkeit. Voll zarter Sorge betrachtet er den Erweckten, und hocherfreut über die gnadenvolle Auferstehung kommt er zu dem Mahle, das seine heilige Kirche bereitet hat, bei dem der Gestorbene zugleich mit den anderen Gästen bei Christus gefunden wird.

Dann sind voll freudigen Erstaunens Alle, welche mit reinem Geistesauge auf ihn sehen, welche den scheelen Blick des Neides nicht kennen: denn solche Kinder hat die Kirche: sie sind erstaunt, daß Jener, der gestern und vorgestern noch im Grabe lag, nun unter den anderen Geladenen mit dem Herrn Jesus zum Mahle niedersitzt.

Maria selbst gießt Salböl auf die Füße des Herrn Jesus: auf die Füße wohl um deßwillen, weil Einer aus den Geringsten dem Tode entrissen ist; wir Alle sind zwar der Leib Christi, aber Einige sind doch wohl erhabenere Glieder. So war der Apostel nach seinen eigenen Worten der Mund des Herrn. „Verlanget ihr einen Beweis, sagt er, für den aus mir redenden Christus?“ Auch die S. 302 Propheten, durch welche der Herr die Zukunft verkündete, waren sein Mund: ach ich wünschte nur, wie der Fuß des Herrn zu sein. Wenn dann Maria doch ihr Salböl auch über mich ausgöße und so die Sünden tilgte!

Was wir nun von Lazarus lesen, das müssen wir von jedem bekehrten Sünder annehmen: wie häßlich auch der Geruch seiner Sünden sein mag, so wird er doch durch das kostbare Salböl des Glaubens gereinigt. Solch’ große Kraft hat der Glaube, daß, wo Tags zuvor noch Todtengeruch sich verbreitete, jetzt das ganze Haus mit dem Geruche der Heiligkeit erfüllt wird.

Häßlicher Sündengeruch lag auf jenem Hause in Korinth, als der Apostel schrieb: „Man hört von Unzucht unter euch und zwar von einer solchen Unzucht, dergleichen selbst unter Heiden nicht vorkommt.“ So hatte der Sauerteig des einen Sünders die ganze Masse verdorben. Bald aber stieg wiederum Wohlgeruch empor, als der Apostel sagte: „Wem ihr etwas verziehen habt, dem habe auch ich verziehen: denn was ich vergeben habe, das geschah euretwillen an Christi Statt.“ So herrschte denn um des bekehrten Sünders willen große Freude, und das ganze Haus duftete von dem Wohlgeruche der Gnade. Deßhalb konnte denn auch der Apostel, überzeugt, daß auf Alle das Salböl apostolischer Verzeihung sich ergieße, sagen: „Nun sind wir ein guter Geruch Christi vor Gott in denjenigen, welche gerettet werden.“

Als Maria das Salböl ausgoß, da freuten sich Alle; nur Judas widersprach. So widerspricht auch jetzt derjenige, der ein Verbrecher ist; es tadelt derjenige, der ein Verräther ist: von Christus aber wird er selbst getadelt, weil er das Heilmittel, das dem Tode des Herrn entquillt, verkennt, weil er das Geheimniß solchen Begrabens nicht faßt. Deßhalb hat ja Christus gelitten und ist gestorben, daß er uns von dem Tode erlösete. Das ist der erhabene Preis seines Todes, durch welchen der Sünder losgesprochen und zu neuer Gnade aufgenommen wird, damit Alle kommen und staunen, wenn er mit dem Herrn zu S. 303 Tische sitzt. Dann preisen sie Gott und sagen: „Nun wollen wir essen und trinken: denn dieser war todt und lebet wieder: er war verloren und ist wieder gefunden.“ Sollte dann aber Jemand ungläubigen, widerspänstigen Herzens einwenden, warum doch der Herr mit Zöllnern und Sündern speise, dann wird ihm die Antwort werden: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Kapitel 8

Zeige also dem Arzte deine Wunde, damit Heilung eintreten kann. Er kennt sie freilich, wenn du sie auch nicht aufdeckst: aber er will nun einmal von dir das Wort der Anklage hören. Wasche mit deinen Thränen die Wunden deiner Seele. So hat jenes Weib im Evangelium ihre Sünde und den bösen Geruch ihrer Verirrung getilgt und ihre Schuld gelöscht, als sie mit ihren Thränen die Füße des Herrn netzte.

Möchtest du doch, o mein Jesus, auch mir überlassen, deine heiligen Füße zu waschen, die befleckt sind, seit du in mir wandelst! Wenn du doch mir gestatten wolltest, den Schmutz zu tilgen, mit welchem ich durch mein Handeln deine Schritte verunehrt habe! Aber ach woher will ich lebendiges Wasser nehmen, womit ich deine Füße waschen könnte? Habe ich nicht solches Wasser, so habe ich doch Thränen, und während ich mit meinen Thränen deine Füße benetze, reinige ich wohl auch mich selbst. Woher, o mein Jesus, soll mir die Gnade kommen, daß du auch zu mir sagst: „Ihm sind viele Sünden vergeben, weil er viel geliebet hat“? Ich muß es bekennen, daß ich mehr (viel) schuldete und daß mehr mir erlassen wurde, da ich von dem Lärm der Gerichtshändel, von den Schrecknissen öffentlicher Verwaltung zum Priesterthume berufen bin. Gerade deßhalb aber fürchte ich auch undankbar befunden zu werden, wenn ich, dem mehr nachgelassen ist, weniger liebe.

S. 304 Freilich nicht Alle können jenem Weibe gleich kommen, die auch dem Simon mit Recht vorgezogen wurde, der doch dem Herrn das Mahl bereitet hatte. Sie hat für Alle, welche Verzeihung verdienen wollen, das Lehramt übernommen, da sie die Füße des Herrn mit Küssen bedeckte, mit Thränen benetzte, mit ihren Haaren abtrocknete und mit kostbarem Oele salbte.

Im Kusse liegt das Zeichen der Liebe; und deßhalb sagt der Herr Jesus mit dem Bräutigam des hohen Liedes: „Sie möge mich küssen mit dem Kusse ihres Mundes.“ Was bedeuten die aufgelösten Haare anders, als die Verzichtleistung auf jede Würde, welche die Welt dem Schmucke der Kopfbinde beilegt, und die dringende Bitte um Verzeihung? So sollst du selbst dich unter Thränen zu Boden werfen, und da liegend das Erbarmen Gottes erwirken. Unter dem Salböl ist der Wohlgeruch aufrichtiger Bekehrung verstanden. David war König, als er sprach: „Allnächtlich wasche ich mein Bett mit Weinen und benetze mit meinen Thränen mein Lager.“ Um deßwillen ist er aber auch des Gnadenvorzuges gewürdigt worden, daß aus seiner Familie die Jungfrau gewählt wurde, welche uns in ihrem Sohne den Messias geschenkt hat. Deßhalb wird denn auch dieses Weib im Evangelium selig gepriesen.

Wenn wir indessen jenes Weib in keiner Weise erreichen können, so weiß der Herr Jesus auch den Schwachen zu Hilfe zu kommen. Wo keine Maria vorhanden ist, das Mahl zu bereiten, das Salböl zu bringen, den Quell lebendigen Wassers mit sich zu tragen, da kommt er selbst zum Grabmale.

Ach Herr Jesus! wenn du dich doch herabließest, auch zu meinem Geistesgrabe zu kommen, um mich mit deinen Thränen zu baden! Ich berge in meinen nur zu sehr verschlossenen Augen keine Thränen, die meine Sünden tilgen könnten. Wenn du für mich Thränen vergossen hast, dann S. 305 werde ich gerettet werden; werde ich deiner Thränen gewürdigt, dann tilge ich den bösen Geruch meiner Vergehen. Werde ich gewürdigt, daß du nur ein wenig über mich weinest, dann wirst du auch mich aus dem Grabe dieses Leibes rufen mit den Worten: „Komme heraus!“ Dann werden meine Gedanken nicht mehr in das enge Gefängniß der Leiblichkeit eingeschlossen bleiben; sie werden vielmehr herausgehen zu Christus, sie werden im Lichte sich bewegen: dann denke ich nicht mehr auf Werke der Finsterniß, sondern auf Werke des Lichtes. Wer auf Sünden denkt, der ist bestrebt, in seinem eigenen Bewußtsein sich einzuschließen.

Rufe denn deinen Knecht heraus! Gebunden zwar mit den Fesseln meiner Sünden, mit festumschlungenen Händen und Füßen, längst begraben in todten Gedanken und Werken, werde ich auf deinen Ruf doch fessellos, frei hervorgehen. Auch ich werde erfunden als Einer deiner Tischgenossen, und dein heiliges Haus wird mit kostbarem Salbenduft erfüllt werden: und wen du zu erlösen dich gewürdigt hast, den wirst du auch bewahren. Dann wird man sagen dürfen: „Siehe, er ist nicht von Kindheit an im Schooße der Kirche genährt und erzogen; er ist vielmehr vom Richterstuhle weggenommen, den Eitelkeiten dieser Welt entführt; er ist von dem Streiten des Gerichtssaales zum Psalmengesange gewöhnt: und bleibt jetzt im Priesterthume nicht um seiner Tugend willen, sondern lediglich durch die Gnade Jesu Christi und sitzt unter den Genossen des himmlischen Mahles!“

Behüte, Herr, dein Werk, schütze deine Gnadengabe, die du mir bereitet hast trotz meiner Flucht. Ich wußte ja, daß ich nicht würdig war, als Bischof berufen zu werden, weil ich der Welt mich ergeben hatte: aber durch deine Gnade bin ich nun, was ich bin. Ich bin zwar in Wahrheit der geringste und niedrigste unter allen Bischöfen; da ich aber doch irgendwelche Arbeit für deine heilige Kirche vollbracht habe, so schütze immerhin diese Frucht. Du hast mich als ein verloren Menschenkind zum Priesterthum berufen: laß jetzt nicht zu, daß ich als Priester verloren gehe! S. 306 Vor Allem aber gib mir die Gnade, daß ich lerne, aus tiefstem Herzensgrunde Mitleid zu tragen mit den Sündern. Das ist ja die höchste Tugend, wie geschrieben steht: „Du hättest dich nicht freuen sollen über die Kinder Israels am Tage ihres Verderbens, nicht großsprechen am Tage ihrer Angst“ Gib, daß ich, so oft mir die Sünde eines Gefallenen entgegentritt, Mitleid trage: daß ich nicht übermüthig tadele, sondern mit ihm weine und traure. Gib, daß ich, während ich den Nächsten beweine, auch mich selbst beweine, auf mich das Wort anwendend: „Thamar ist gerechter, als ich.“

Sie hat wohl in ihrer Jugend gesündigt, bethört und hingerissen durch die Gelegenheiten — allzeit Herd und Ursprung der Sünden —: aber auch wir sündigen noch trotz unseres Alters. Es streitet in uns das Gesetz des Fleisches gegen das Gesetz unseres Geistes und führt uns gefangen unter die Botmäßigkeit der Sünde, daß wir thun, was wir nicht wollen. Dort liegt noch eine Entschuldigung in dem jugendlichen Alter, ich habe keine Entschuldigung: die Jugend muß lernen, wir müssen lehren. Darum sage auch ich: „Thamar ist gerechter, als ich.“

Wir beschuldigen Jemanden des Geizes: aber dann denken wir doch auch nach, ob wir selbst niemals dem Geize gefröhnt haben! Ist das der Fall, dann sagen wir, da der Geiz die Wurzel aller Uebel ist und verborgen, gleichsam unterirdisch in unseren Herzen fortschleicht, ja sagen wir Mann für Mann: „Thamar ist gerechter, als ich.“

Wenn wir gegen Jemanden heftig erregt sind, so ist es für den Laien eine geringere Sache, in der Aufregung etwas gethan zu haben, als für den Bischof. Erwägen wir das nur bei uns und dann sagen wir: „Derjenige, welcher der S. 307 Erregtheit beschuldigt wird, ist wohl weniger schuldig als ich.“ Wenn wir so reden, dann bewahren wir uns selbst davor, daß der Herr oder einer seiner Jünger zu uns sagt: „Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge siehest du nicht. Du Heuchler! ziehe zuerst den Balken aus dem eigenen Auge, und dann mögest du zusehen, auch den Splitter aus dem Auge des Nächsten zu ziehen.“

Schämen wir uns also nicht, zu gestehen, daß unsere Schuld schwerer ist, als die desjenigen, den wir glauben anklagen zu dürfen. So sprach auch Juda, da er die Thamar beschuldigte, aber zugleich an die eigene Schuld erinnert wurde: „Sie ist gerechter, als ich bin.“ Darin liegt aber ein tiefes Geheimniß und ein heiliges Gebot; und gerade deßhalb ist es seiner Schuld nicht zugerechnet, weil er sich eher selbst anklagte, als er von Anderen angeklagt wurde.

Freuen wir uns also nicht über die Sünden eines Anderen, trauern wir vielmehr, wie auch geschrieben steht beim Propheten: „Freue dich nicht über mich, meine Feindin; wenn ich gefallen, werde ich wieder auferstehen; wenn ich im Dunkel sitze, wird der Herr mein Licht sein. Den Grimm des Herrn will ich tragen, — denn ich sündigte wider ihn, — bis er meinen Handel schlichtet, und mir Recht schafft: er wird mich an’s Licht bringen, und ich werde seine Gerechtigkeit schauen. Sehen wird es meine Feindin, und Scham wird sie decken, die da sprach zu mir: Wo ist der Herr, dein Gott? Meine Augen werden sich an ihr letzen; bald wird sie zertreten sein, wie Koth der Gasse.“ Nicht mit Unrecht geschieht das; denn derjenige, welcher sich am Falle des Nächsten ergötzt, freut sich über den Sieg des Teufels. So beklagen wir es denn tief, wenn wir hören, daß ein Mensch zu Grunde gegangen, für den Christus doch in den Tod S. 308 gegangen ist: er, der auch des Halmes bei der Ernte nicht vergißt.

O daß er doch bei der Ernte auch diesen Halm, das heißt den tauben Haferhalm, der meine Frucht ausmacht, nicht wegwerfen, sondern sammeln möchte, wie Einer sagt: „Weh mir! ich bin geworden, wie einer, der Halmen sammelt zur Erntezeit, wie einer, der Trauben sammelt bei der Weinlese!“ Vielleicht fände er doch wenigstens die Erstlinge seiner Gnade in mir genießbar, wenn er auch das Spätere nicht billigen könnte.

Kapitel 9

Nach dem Gesagten ist es also durchaus zutreffend, daß wir sowohl an die Nothwendigkeit der Buße, als an die Möglichkeit der Verzeihung glauben; freilich mit der Beschränkung, daß wir die Verzeihung nur auf dem Grunde des Glaubens, nicht als eine pflichtmäßige Leistung hoffen. Es ist ja doch ein Anderes, etwas verdienen, und etwas von vornherein in Anspruch nehmen. Der Glaube erbittet die Verzeihung gleichsam auf Grund eines Vertrages; die Verzeihung aber ohne Weiteres fordern, steht thörichter Anmaßung näher als demüthiger Bitte. Zahle du zuerst, was du schuldig bist; dann verdienst du vielleicht, daß du darum bitten mögest, was du gehofft hast. Biete dar die Gesinnung eines guten Schuldners, damit du nicht gezwungen wirst, deine Schuld mit einer neuen Anleihe zu decken, damit du vielmehr mit der Münze deines Glaubens die eingegangene schwere Verpflichtung lösest.

Derjenige, welcher Gott schuldet, hat übrigens reichere Hilfsmittel, zu zahlen, als derjenige, welcher einem Menschen S. 309 schuldig ist. Der Mensch verlangt für das dargeliehene Geld eben Geld zurück, und das steht dem Schuldner nicht immer zur Verfügung: Gott verlangt die innere Gesinnung, und die liegt allezeit in deiner Willensmacht. Niemand, der Gott schuldet, ist arm, es sei denn, daß er sich selbst arm gemacht hat. Hat er nichts, was er verkaufen könnte, so hat er doch genug, womit er zahlen kann. Beten, Weinen, Fasten bildet für den willigen Schuldner einen Vermögensstand, der weit reicher ist, als wenn Jemand von dem Kaufpreise seiner Aecker das Geld darbietet ohne Glauben.

So war Ananias arm, als er nach dem Verkaufe seines Ackers das Geld zu den Aposteln trug: er konnte seine Schuld damit nicht tilgen, verwickelte sich vielmehr nur noch tiefer hinein. Reich aber war jene Wittwe, welche die beiden geringen Münzen in den Schatzkasten warf, von der gesagt wurde: Sie hat mehr als Alle hineingelegt. Was Gott heischt, ist nicht die Gabe an Geld, sondern der (treue) Glaube. Uebrigens leugne auch ich keineswegs, daß durch Freigebigkeit gegen die Armen die Sünde vermindert wird; nur muß der Glaube die Gaben empfehlen. Oder was nützt die Hingabe des Vermögens ohne die Liebe?

Es gibt Menschen, die lediglich um des äußeren Ruhmes willen die Zierde der Freigebigkeit an den Tag legen, so zwar, daß sie für ganz besonders erprobt wollen angeschen sein, weil sie nichts für sich zurückbehalten. Da sie aber den Lohn dieser Welt suchen, so sichern sie sich den der zukünftigen Welt nicht: da sie hier den Lohn empfangen haben, so können sie weiteren nicht hoffen.

Es gibt aber auch Andere, welche in augenblicklicher, gewaltsamer Erregtheit, nicht nach ruhiger Ueberlegung ihre Mittel erst der Kirche schenkten und dann nachher glaubten, die Gabe widerrufen zu müssen. Diesen ist weder der erste noch der zweite Lohn bestimmt; die Gabe war ohne Ueberlegung gemacht und der Widerruf derselben ein Sacrilegium.

S. 310 Es gibt endlich Menschen, welche es bereuten, daß sie ihr Vermögen den Armen gegeben hatten: aber diejenigen, welche Buße thun, dürfen das in keinem Falle bereuen, damit sie nicht etwa über ihre Buße selbst wieder Buße thun. Denn gar Viele erbitten sich die Buße im Bewußtsein ihrer Sünden aus Furcht vor der künftigen Strafe; haben sie dieselbe dann empfangen, so lassen sie sich abschrecken durch die Beschämung der öffentlichen Bitte. Solche scheinen die Buße allerdings für böse Handlungen erbeten zu haben, aber dann gerade für diese gute That zu verrichten.

Einige fordern geradezu deßbalb die Buße, um alsbald der kirchlichen Gemeinschaft wieder zurückgegeben zu werden. Sie wünschen eigentlich gar nicht sich zu lösen, sondern nur den Priester zu binden. Sie befreien ihr Gewissen nicht von der Schuld und belasten das Gewissen des Priesters, dem gesagt ist: „Gebet das Heilige nicht den Hunden und werfet die Perlen nicht vor die Säue:“ d. h. den unreinen Herzen ist die Zulassung zur heiligen Gemeinschaft nicht zu gewähren.

Dann magst du sie vielleicht sehen, wie sie in rasch gewechseltem Kleide einherschreiten, während sie trauern und seufzen sollten, weil sie das Kleid des Taufbades und der Gnade befleckt haben. Du kannst sehen, wie Frauen ihre Ohren mit Perlen belasten, und wie ihre Nacken sich krümmen, die sie wahrlich nicht für Christus mit Gold niederbeugen: und doch müßten sie sich selbst beweinen, weil sie die Perle, die vom Himmel stammt, verloren haben.

Andere glauben, darin bestehe die Buße, daß sie von den himmlischen Geheimnissen sich ferne halten. Die sind aber doch zu grausame Richter gegen sich selbst, welche sich eine Buße auflegen und das Heilmittel versagen; sie hätten wohl Grund, über ihre Buße selber Schmerz zu empfinden, weil sie um die himmlische Gnade betrogen wurden.

Wieder Andere glauben, die in Aussicht gestellte Hoffnung, Buße thun zu dürfen, erweitere ihnen die Freiheit zu sündigen, während doch die Buße das Heilmittel der Sünde, aber nicht das Reizmittel zum Sündigen ist. Für die Wunde S. 311 ist das Heilmittel nothwendig, nicht aber umgekehrt für das Heilmittel die Wunde: denn jenes wird wegen dieser gesucht, aber keineswegs wird die Wunde um des Heilmittels willen begehrt. Schwach ist die Hoffnung, welche zukünftiger Zeit anvertraut wird; denn alle Zeit ist ungewiß und in keinem Fall überdauert die Hoffnung alle Zeit.

Kapitel 10

Sollte denn wohl Jemand billigen, daß du Gott zu bitten erröthest, während du Menschen zu bitten nicht erröthest? daß du dich schämst, vor Gott, dem du doch nicht verborgen bist, als Flehender zu stehen, während du dich nicht schämst, einem Menschen, der dich nicht kennt, deine Sünden zu bekennen? Du fliehest Zeugen deines Bußgebetes, während du doch, wo es sich um eine Leistung an Menschen handelt, gar Viele angehen und bitten mußt, daß sie für dich eintreten: da mußt du auf den Knieen liegen, den Staub ihrer Füße mußt du küssen, du mußt deine Kinder sogar, die deiner Schuld doch fremd sind, als Fürsprecher darbieten, um dem Vater die Verzeihung zu erwirken. In der Kirche Alles dieses zu thun: Gott flehentlich zu bitten, bei seinem heiligen Volke Schutz und Fürsprache nachzusuchen, — davor schreckst du zurück; — und doch ist hier gar keine Veranlassung zum Schämen, oder höchstens im Nichtbekennen gegeben, da wir ja Alle Sünder sind. Je demüthiger Jemand ist, desto mehr ist er des Lobes würdig; je verächtlicher er sich erscheint, desto gerechter ist er.

Laß nur die Kirche, unsere Mutter, für dich weinen, laß sie nur mit ihren Thränen deine Schuld abwaschen! Möchte nur Christus dich traurig sehen, damit er auch zu dir sagt: „Selig sind die Traurigen, denn sie werden sich S. 312 freuen.“ Es ist ihm lieb, wenn Viele für Einen bitten. So hat er ja auch nach dem Evangelium, durch die Thränen der Wittwe bewegt, weil Viele für sie weinend baten, den Sohn derselben zum Leben erweckt. Aus demselben Grunde hat er auch schneller den Petrus erhört, so daß die Dorkas sich wieder erhob, weil eben die Armen den Tod derselben beweinten. Ebenso hat er dem Petrus verziehen, weil er so bitterlich weinte. Und wenn auch du so bitterlich weinest, dann wird Christus auf dich hinsehen, und die Schuld wird schwinden. Die Anwendung des Schmerzes vertreibt die Ueppigkeit des Lasters, die Lust der Sünde. Wenn wir demnach die begangenen Sünden betrauern, so schließen wir künftige aus, und so entsteht aus der Verurtheilung der Schuld eine Zuchtschule der Unschuld.

So laß dich denn durch Nichts von der Buße abziehen: sie ist dir ja mit den Heiligen gemein: wäre sie nur so nachzuahmen, wie sie in dem Weinen der Heiligen sich kundgab! David aß Asche wie Brod und mischte seinen Trank mit Thränen: darum freut er sich jetzt auch mehr, weil er mehr geweint hat: „Fluthen von Wasser, sagt er, rinnen nieder meine Augen.“

Auch Johannes weinte sehr, und dann sagt er, daß ihm die Geheimnisse Christi offenbart seien. Jenes Weib aber, welches, während es hätte weinen sollen, weil es in Sünden war, sich freuete, mit Purpur und Scharlach sich bekleidete und mit Gold und kostbaren Steinen sich schmückte: dieses Weib beklagt nun das schreckliche Loos ewigen Weinens.

Mit Recht werden deßhalb diejenigen getadelt, welche glauben, die Buße sei öfter zu üben; sie sündigen durch Leichtfertigkeit gegen Christus. Wenn sie aufrichtig die Buße übten, so würden sie nicht meinen, sie könnten diese S. 313 Uebung wiederholen; denn wie es nur eine Taufe gibt, so gibt es auch nur eine Buße, sofern sie öffentlich geübt wird. Die täglichen Fehler freilich muß man immer wieder sühnen; solche Buße gilt aber den leichteren, jene öffentliche den schwereren Sünden.

Ich finde übrigens wohl leichter Menschen, welche ihre Unschuld bewahrt haben, als solche, welche in entsprechender Weise Buße geübt haben. Kann man da an Buße glauben, wo das Streben nach Würden fortbesteht, wo der Wein fließt, wo sogar der eheliche Umgang fortgesetzt wird? Nein, man muß den Genüssen der Welt entsagen: selbst dem Schlafe soll man weniger nachgeben, als die Natur fordert: mit Weinen muß man ihn stören, mit Seufzern unterbrechen, mit Gebeten zurückdrängen. So muß das Leben sich gestalten, daß wir der gewöhnlichen Lebensweise absterben; der Mensch muß sich verleugnen und ein ganz anderer werden. Es paßt eben die Geschichte von jenem Jünglinge, welcher, um den Banden einer buhlerischen Liebe zu entgehen, weit fortreiste und erst zurückkehrte, als die Liebe in seinem Herzen ertödtet war. Da begegnete er einst der früheren Geliebten, welche verwundert darüber, daß er sie nicht anredete, der Meinung war, sie sei von ihm nicht wieder erkannt. Ihm entgegeneilend rief sie deßhalb: „Ich bin es ja.“ Der Jüngling antwortete das kurze Wort: „Gewiß, aber ich bin nicht mehr Ich.“

Mit Recht sagt also der Herr: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Die gestorben und begraben sind in Christo, die dürfen (zum Leben zurückgekehrt) nicht wieder urtheilen, als lebten sie noch in der Welt; deßhalb setzt der Apostel hinzu: „Rühret nicht an, tastet nicht an, was Alles S. 314 zum Verderben gereicht schon durch den Gebrauch“, weil schon die gewöhnliche Art, das Leben zu genießen, zum Verderben gereicht für die Unschuld.

Kapitel 11

Um die Buße ist es also etwas Gutes: bestände sie nicht, so würden wohl Alle, die Taufgnade zu empfangen, bis ins hohe Alter zögern. Denen, welche so denken, mag ein Wort zur Erwiderung dienen: es ist doch besser ein Kleidungsstück zu haben, das man flicken, als überhaupt Nichts zu haben, womit man sich bekleiden kann. Freilich wird nur das einmal Geflickte wieder haltbar, während das wiederholt Geflickte zerreißt.

Diejenigen aber, welche ihre Buße verschieben, hat der Herr selbst deutlich genug gemahnt mit den Worten: „Thuet Buße, denn das Himmelreich hat sich genahet.“ Wir wissen ja nicht, zu welcher Stunde der Dieb kommt; wir wissen nicht, ob nicht in der nächsten Nacht unsere Seele von uns gefordert wird. Den Adam verjagte Gott unmittelbar nach der Sünde aus dem Paradiese, ohne damit zu warten: aber er trennte ihn und Eva von dem Lustgarten, damit sie eben Buße übten. Darum bekleidete er sie auch sogleich mit einem Gewande von Thierfellen, nicht von Seide.

S. 315 Warum verschiebst du also die Buße? Etwa, um noch weitere Sünden zu begehen? Also weil Gott gut ist, darum bist du böse und verachtest den Reichthum der Güte und Langmuth Gottes? Und doch sollte die Güte des Herrn dich nur noch mehr zur Buße führen! Deßhalb sagt auch David zu Allen: „Kommt, wir wollen anbeten und niederfallen vor dem Herrn, weinen vor ihm, der uns geschaffen hat.“ Daß aber hinsichtlich des Sünders, der ohne Buße gestorben ist, nur noch tiefes Klagen und Weinen Platz greift, das zeigt uns David, da er weint und klagt: „Mein Sohn Absalon, mein Sohn Absalon!“ Wer eben völlig todt ist, der wird ohne jede Hoffnung beweint.

Von Jenen aber, welche verbannt und den väterlichen Grenzen, die das heilige Gesetz dem Moses vorzeichnete, entrissen in die Irrungen der Welt sollten verwickelt werden, hörst du den Psalmisten singen: „An den Flüssen Babylons, da saßen wir und weinten, wenn wir Sions gedachten.“ Die Seufzer der Gefallenen zeigen ja, daß diejenigen zurückkehren müssen, welche noch in dem Zustande der laufenden Zeit, der schwindenden Welt sich befinden: nach dem Beispiele Jener, welche eben zur Sühne ihrer Vergehen in die Schmach der Gefangenschaft geführt waren.

Nichts aber ist so sehr schmerzlich, als wenn Jemand unter der Herrschaft der Sünde sich erinnert, wie er zum Falle gekommen ist; weil er damals von der erhabenen reinen Richtung auf die göttliche Erkenntniß sich zum Irdischen und Vergänglichen hat abwenden lassen.

So siehst du, wie Adam sich verbirgt, sobald er erkannt hat, daß der Herr zugegen ist. Er wollte sich verbergen, da er gesucht, da er gerufen ward von dem Herrn mit jenem Worte, welches das Gemüth des Verstockten verwundete. „Adam, wo bist du?“ rief der Herr, das heißt: Warum verbirgst du dich? warum fliehest du denjenigen, den du sonst zu schauen verlangtest? So groß ist das Schuldbewußtsein des Gewissens, daß es auch ohne Richter sich S. 316 selbst straft und sich zu verbergen wünscht, während es freilich vor Gott offen daliegt.

Deßbalb darf denn auch Jemand, der noch in der Leidenschaft haftet, in keinem Falle die Theilnahme an den Gnadengeheinmissen für sich in Anspruch nehmen. Es steht ja das Wort geschrieben: „Du hast gesündigt, stehe also ab.“ So sagt auch David: „An den Weidenbäumen hingen wir auf unsere Harfen“; und bald darnach: „Wie sollten wir singen des Herrn Gesang im fremden Lande?“ Wenn nämlich das Fleisch dem Geiste widerstreitet und dem Steuer der Seele, der Herrschaft des Geistes nicht unterthan ist, so ist das „fremdes Land“, noch nicht bewältigt durch das Mühen des Bebauers, und darum kann es denn auch die Früchte der Liebe, Geduld und des Friedens nicht hervorbringen. Es ist also dann besser, abzustehen, weil du die Werke der Buße nicht üben kannst, damit nicht während der Buße selbst etwas geschieht, was nachher wiederum der Buße bedürfte. Ist die Buße einmal angemaßt und nicht rechtlich gefeiert, dann erzielt sie nicht die Frucht der früheren und hindert gleichzeitig den Gebrauch der späteren.

Wenn nun das Fleisch widerstreitet, dann muß der Geist auf Gott gerichtet sein, und wenn die Werke nicht folgen, dann soll doch der Glaube nicht weichen. Wenn des Fleisches Lüste oder feindliche Mächte uns anfechten, muß der Geist ergeben bleiben; denn am meisten werden wir dann bedrängt, wenn das Fleisch unterliegt; und es S. 317 gibt Solche, die mit aller Gewalt sich auf die arme Seele werfen, bestrebt, ihr allen Schutz zu entziehen. Da gilt also das Wort: „Vernichtet, vernichtet sie bis auf den Grund!“

Wie mitleidvoll sagt David: „Arme Tochter Babylons!“ In der That „arm“, weil die Tochter Babylons jene ist, welche aufgehört hat, Gottes Tochter zu sein. Gleichwohl ladet er für sie den Arzt, da er sagt: „Wohl dem, der deine Kinder nimmt und zerschmettert am Felsen!“ Das will sagen: Wohl dem, der deine schlechten schlüpfrigen Gedanken vertreibt und dein Denken auf Christus richtet, der alle unzulässigen Bewegungen deines Geistes durch die Ehrfurcht, die er einflößt, und durch seinen Zuspruch niederdrückt. So sehr ist das der Fall, daß, wenn Jemand in ehebrecherischer Liebe entbrannt ist, er dann die Gluth dämpft, die Bande der Lust zerreißt und sich selbst seinen früheren Bestrebungen entzieht, damit er Christus gewinne.

So haben wir denn erkannt, daß einerseits Buße geübt, daß sie andererseits aber zu einer Zeit geübt werden muß, S. 318 wann die Lust der Leidenschaft schwindet; wir haben erkannt, daß wir während der Herrschaft der Sünde eben ehrfurchtsvoller im Enthalten, als anmaßend im widerrechtlichen Begehren sein müßten. Wenn schon dem Moses, der näher hinzutreten wollte, um die Erkenniß des himmlischen Geheimnisses zu schöpfen, von dem Herrn das Wort zugerufen wurde: „Löse die Schuhe von deinen Füßen“: wie viel mehr müssen wir dann die geistigen Füße von den körperlichen Banden lösen und unsere Schritte von jedem Zusammenhange mit dieser Welt befreien!

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