Robert Bellarmin: Großer Katechismus
(Ausführlichere Erklärung der christlichen Lehre zum Gebrauch für diejenigen, die Kinder und andere einfache Menschen unterrichten
In Gesprächsform verfasst)
entnommen aus dem Sammlung: Robert Bellarmin: Katechismen - Glaubensbekenntnis - Vater unser, übersetzt und herausgegeben von Andreas Wollbold, Echter Verlag Würzburg 2008, S. 65-207 (304 Seiten, ISBN 978-3-429-03046-9; Copyright: am 17. November 2020 für Kathpedia vom Verlag genehmigt, jede weitere Verwendung ist untersagt).Bei der Digitalisierung wurde Türke(n) durch das Wort "Muslime" wiedergegeben, damit leichter erkenntlich wird, dass es sich nicht um eine Nationalität handelt, sondern um eine Religionszughörigkeit.
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist |
Hintergrund: Papst Clemens VIII. erteilte Bellarmin den Auftrag zu einem päpstlich genehmigten Katechismus für die ganze Christenheit. Die Reformkongregation approbiere den Kleinen und Großen nun am 15. Juli 1598. Urban VIII. erneuerte die Empfehlung in einem Breve vom 22. Februar 1633 und Benedikt XIV. (1740 - 1758) erinnerte in einer eigenen Konstitution Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe an die Worte Clemens VIII. Beide Katechismen wurden in 62 Sprachen und Dialekte übersetzt und bewahrten ihre Popularität bis in die Zeiten des I. Vatikanischen Konzils, worin Papst Pius IX. den Vorschlag machte, einen neuen, in der ganzen Welt zu gebrauchenden Katechismus zu haben, nach dem Modell des Kleinen Katechismus.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Vergleich der beiden Katechismen
- 2 Kapitel I: Was die christliche Lehre ist und welche Hauptstücke sie hat
- 3 Kapitel II: Erklärung des Kreuzzeichens
- 4 Kapitel III: Erklärung des Glaubensbekenntnisses
- 4.1 (Erklärung des erstten Artikels)
- 4.2 Erklärung des zweiten Artikels
- 4.3 Erklärung des dritten Artikels
- 4.4 Erklärung des vierten Artikels
- 4.5 Erklärung des fünften Artikels
- 4.6 Erklärung des sechsten Artikels
- 4.7 Erklärung des siebten Artikels
- 4.8 Erklärung des achten Artikels
- 4.9 Erklärung des neunten Artikels
- 4.10 Erklärung des zehnten Artikels
- 4.11 Erklärung des elften Artikels
- 4.12 Erklärung des zwölften Artikels
- 5 Kapitel IV: Erklärung des Vater Unser (Gebet des Herrn)
- 6 Kapitel V: Erklärung des "Gegrüßet seist du, Maria (Ave Maria)"
- 7 Kapitel VI: Erklärung der zehn Gebote Gottes
- 7.1 Erklärung des ersten Gebots
- 7.2 Erklärung der zweiten Gebots
- 7.3 Erklärung des dritten Gebots
- 7.4 Erklärung des vierten Gebots
- 7.5 Erklärung des fünften Gebots
- 7.6 Erklärung des sechsten Gebots
- 7.7 Erklärung des siebten Gebots
- 7.8 Erklärung des achten Gebots
- 7.9 Erklärung des neunten Gebots
- 7.10 Erklärung des zehnten Gebots
- 8 Kapitel VII: Erklärung der Kirchengebote
- 9 Kapitel VIII: Erklärung der evangelischen Räte
- 10 Kapitel IX: Erklärung der Sakramente der heiligen Kirche
- 11 Kapitel X: Die Tugenden im allgemeinen
- 12 Kapitel XI: Die göttlichen Tugenden
- 13 Kapitel XII: Die Kardinaltugenden
- 14 Kapitel XIII: Die sieben Gaben des Heiligen Geistes
- 15 Kapitel XIV: Die acht Seligpreisungen
- 16 Kapitel XV: Die sieben leiblichen und die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit
- 17 Kapitel XVI: Die Laster und die Sünden im allgemeinen
- 18 Kapitel XVII: Die Erbsünde
- 19 Kapitel XVIII: Die Todsünde und die lässliche Sünde
- 20 Kapitel XIX: Die sieben Hauptsünden
- 21 Kapitel XX: Die Sünden gegen den Heiligen Geist
- 22 Kapitel XXI: Die himmelschreienden Sünden
- 23 Kapitel XXII: Die vier letzten Dinge
- 24 Allgemeine Anmerkungen zu den Quellen des "Großen Katechismus"
- 25 Anmerkungen
- 26 Literatur
Vergleich der beiden Katechismen
Kleiner Katechismus | Großer Katechismus, Kap. |
---|---|
Erste Stunde: Kreuzzeichen | 1: Sinn und Aufbau der christlichen Lehre 2: Kreuzzeichen |
Erklärung des Glaubensbekenntnisses | 3: Glaubensbekenntnis (in 12 Artikeln) |
Zweite Stunde: Erklärung des Vater Unser und des "Gegrüßet seist du, Maria" | 4: Vater Unser 5: "Gegrüßet seist du, Maria" |
Dritte Stunde: Die Gebote Gottes | 6: Zehn Gebote |
Die Kirchengebote und die Räte | 7: Kirchengebote 8: Evangelische Räte |
Die Sakramente | 9: Sakramente |
Vierte Stunde: Die göttlichen Tugenden und Die Kardinaltugenden | 10: Tugenden im allgemeinen 11: Göttliche Tugenden 12: Kardinaltugenden |
Die Gaben des Heiligen Geistes | 13: Die sieben Gaben des Heiligen Geistes 14: Seligpreisungen |
Die Werke der Barmherzigkeit | 15: Leibliche- und geistliche Werke der Barmherzigkeit 16: Laster und Sünden im allgemeinen 17: Erbsünde 18: Todsünde und lässliche Sünde |
Die Sünden | 19: Die sieben Hauptsünden 20: Die Sünden gegen den Heiligen Geist 21: Die himmelschreienden Sünden |
Die vier letzten Dinge und der Rosenkranz | 22: Die vier letzten Dinge |
Unterricht: Für den, der gefirmt werden soll, und was er dafür wissen soll | |
Unterricht über die Sakramente: Die Beichte |
Kapitel I: Was die christliche Lehre ist und welche Hauptstücke sie hat
Schüler (= S): Weil ich begreife, dass es notwendig ist, die christliche Lehre zu kennen, um gerettet zu werden, möchte ich, dass Sie mir erklären, was diese Lehre ist.
Lehrer (= L): Die christliche Lehre ist eine Kurzfassung oder Zusammenfassung all dessen, was Christus, unser Herr, uns gelehrt hat, um uns den Weg zum Heil zu zeigen.
S: Was sind die hauptsächlichen und notwendigeren Stücke dieser Lehre?
L: Es sind vier, nämlich das Glaubensbekenntnis, das Vater Unser, die zehn Gebote und die sieben Sakramente.
S: Warum sind es vier, nicht mehr und nicht weniger?
L: Weil es drei Haupttugenden gibt: Glaube, Hoffnung und Liebe. Das Glaubensbekenntnis ist notwendig für den Glauben, weil es uns lehrt, was wir glauben müssen. Das Vater Unser ist notwendig für die Hoffnung, weil es uns das lehrt, was wir hoffen müssen. Die zehn Gebote sind notwendig für die Liebe, weil sie uns das lehren, was wir tun müssen, um Gott zu gefallen. Die Sakramente sind notwendig, weil sie die Werkzeuge sind, mit denen man die Tugenden empfängt und bewahrt, die wie gesagt notwendig sind, um gerettet zu werden.
S: Ich hätte gern von Ihnen einen Vergleich, um die Notwendigkeit dieser vier Teile der christlichen Lehre besser zu begreifen.
L: Der hl. Augustinus gibt uns den Vergleich mit einem Haus.<ref> Aurelius Augustinus, Sermo XXVII (= De verbis Apostoli sermo XX): De titulo et de prioribus versiculis Psalmi xcv: et de verbis Apostoli ad Rom. IX, Miserebor cui misertus fvero, etc. Contra Pelagianos, in: PL 38, 178-182: "Quando omnis terra cantat canticum novum, domus Dei est. Cantando aedificatur, credendo fundatur, sperando erigitur, diligendo perficitur" (178). "Wenn die ganze Erde das neue Lied singt, ist sie das Haus Gottes. Durch Gesang wird es erbaut, durch Glauben begründet, durch Hoffen errichtet und durch Lieben vollendet."</ref> Denn wie man beim Hausbau zuerst das Fundament legen, dann die Wände hochziehen und es am Ende mit einem Dach bedecken muss und wie man dazu einige Werkzeuge benötigt, so braucht man, um in der Seele das Gebäude des Heils zu errichten, das Fundament des Glaubens, die Mauern der Hoffnung, das Dach der Liebe sowie Werkzeuge dazu, nämlich die heiligen Sakramente.
Kapitel II: Erklärung des Kreuzzeichens
S: Bevor wir zum ersten Teil der Lehre kommen, würde ich mich freuen, wenn Sie mir einen Vorgeschmack dessen geben könnten, was man zu glauben hat. Könnten Sie mir dazu zusammenfassend und in groben Zügen die notwendigsten Geheimnisse erklären, die im Glaubensbekenntnis enthalten sind?
L: Ihr habt recht, so will ich es auch halten. Ihr müsst also wissen, dass es zwei Hauptgeheimnisse unseres Glaubens gibt und dass beide in jenem Zeichen enthalten sind, das das heilige Kreuzzeichen heißt.
Das erste Geheimnis ist die Einheit und Dreifaltigkeit Gottes. Das zweite ist die Fleischwerdung und Passion des Heilands.
S: Was bedeutet "Einheit und Dreifaltigkeit Gottes"?
L: Diese Dinge sind überaus erhaben, und sie werden nach und nach im Lauf dieser Lehre erklärt. Fürs erste wird es genügen, wenn ihr die Bedeutung der Worte kennenlernt und etwas Weniges davon, so weit es möglich ist, versteht. Einheit Gottes bedeutet, dass über allen erschaffenen Dingen ein Wesen steht, das keinen Anfang gehabt hat, sondern immer schon gewesen ist und immer sein wird; das alle anderen Dinge gemacht hat; das sie erhält und lenkt und über allen das höchste, edelste, schönste und mächtigste Wesen ist und über alles uneingeschränkt herrscht. Dieses Wesen heißt Gott. Er ist einer, weil es nur eine einzige wahre Gottheit geben kann, das heißt eine einzige Natur oder Wesen, das unendlich mächtig, weise, gut usw. ist. Dennoch befindet sich diese Gottheit in drei Personen, die Vater, Sohn und Heiliger Geist heißen. Diese drei Personen sind ein einziger Gott, da sie dieselbe Gottheit und dasselbe Wesen haben. Das ist, als ob hier auf der Erde drei Personen namens Peter, Paul und Johannes dieselbe Seele und denselben Leib hätten. Dann würde man sie doch als drei Personen bezeichnen, weil eine Peter, eine Paul und eine Johannes wäre. Trotzdem wären sie ein einziger Mensch und nicht drei Menschen, weil sie nicht drei Leiber und auch nicht drei Seelen hätten, sondern nur einen Leib und eine Seele. Bei den Menschen ist das nicht möglich, denn das Sein des Menschen ist gering und endlich. Es kann deshalb nicht in mehreren Personen sein. Aber das Sein Gottes und seine Gottheit ist unendlich, und darum kann sich dasselbe Sein und dieselbe Gottheit im Vater, im Sohn und im Heiligen Geist befinden und befindet sich auch tatsächlich darin. Es sind also drei Personen, denn die erste ist der Vater, die zweite der Sohn und die dritte der Heilige Geist. Trotzdem sind sie nur ein Gott, denn sie haben dieselbe Gottheit, dasselbe Sein, dieselbe Macht, Weisheit, Güte usw.
S: Jetzt sagen Sie mir bitte, was "Fleischwerdung und Passion des Heilands" bedeutet!
L: Die zweite göttliche Person, die wie gesagt Sohn heißt, hat außer ihrem göttlichen Sein, welches sie schon besaß, bevor die Welt erschaffen wurde, ja sogar von Ewigkeit her, auch noch menschliches Fleisch und eine menschliche Seele, also unsere ganze menschliche Natur, im Schoß einer ganz reinen Jungfrau angenommen. So fing der, der zuvor nur Gott war, an, Gott und Mensch zugleich zu sein. Nachdem er etwa 33 Jahre unter den Menschen geweilt hatte, wobei er sie den Weg zum Heil gelehrt und viele Wunder getan hatte, ließ er sich schließlich ans Kreuz nageln und starb an ihm, um Gott für die Sünden der ganzen Welt Genugtuung zu leisten. Doch nach drei Tagen erstand er vom Tod zum Leben und fuhr nach 40 Tagen zum Himmel auf. Davon werden wir noch bei der Erklärung des Glaubensbekenntnisses sprechen. Das also ist die Fleischwerdung und die Passion des Heilands.
S: Warum sind das die Hauptgeheimnisse des Glaubens?
L: Weil im ersten die erste Ursache und das letzte Ziel des Menschen enthalten ist und im zweiten das einzige und sehr wirksame Mittel, um diese erste Ursache zu erkennen und zu diesem letzten Ziel zu gelangen. Ein weiterer Grund ist, dass wir uns, indem wir diese beiden Geheimnisse glauben und bekennen, von allen falschen Parteiungen, d. h. von Heiden, Muslime, Juden und Irrgläubigen unterscheiden. Und schließlich kann niemand gerettet werden, ohne diese beiden Geheimnisse zu glauben und zu bekennen.
S: Wie sind diese beiden Geheimnisse im Kreuzzeichen enthalten?
L: Das Kreuzzeichen macht man, indem man sagt: "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes" und sich gleichzeitig in Form eines Kreuzes bezeichnet. Dabei führt man die rechte Hand zuerst zur Stirn und spricht: "Im Namen des Vaters", dann hinab zur Brust unter den Worten: "und des Sohnes", und schließlich von der linken zur rechten Schulter unter den Worten: "und des Heiligen Geistes". Der Ausdruck "im Namen" zeigt uns die Einheit Gottes, weil man sagt "im Namen" und nicht "in den Namen". Unter dem Namen versteht man aber die göttliche Macht und Autorität, die in den drei Personen eine einzige ist. Die Worte "des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes" zeigen uns die Dreifaltigkeit der Personen. Sich in Form eines Kreuzes zu bezeichnen führt uns die Passion und darum auch die Fleischwerdung des Sohnes Gottes vor Augen. Die Hand von der linken zur rechten Seite zu führen und nicht von der rechten zur linken bedeutet, dass wir durch die Passion des Herrn von den vergänglichen Dingen zu den ewigen gebracht worden sind, von der Sünde zur Gnade und vom Tod zum Leben.
S: Zu welchem Zweck macht man dieses Kreuzzeichen?
L: Erstens macht man es, um zu zeigen, dass wir Christen sind, das heißt Soldaten unseres höchsten Feldherrn, Christus. Denn dieses Zeichen ist wie ein Banner oder eine Uniform, wodurch sich die Soldaten Christi von allen Feinden der heiligen Kirche unterscheiden, nämlich von den Heiden, den Juden, den Muslimen und den Irrgläubigen. Außerdem macht man dieses Zeichen, um die Hilfe Gottes bei unseren Werken anzurufen. Denn mit diesem Zeichen ruft man die allerheiligste Dreifaltigkeit kraft der Passion des Heilands zu Hilfe. Aus diesem Grund haben die guten Christen die Gewohnheit, dieses Kreuz über sich zu schlagen, wenn sie sich vom Bett erheben, wenn sie das Haus verlassen, wenn sie sich zu Tisch setzen, wenn sie sich schlafen legen und auch am Beginn jeder anderen Sache, die sie zu tun haben.<ref> Q. S. Fl. Tertulliani De corona (ed. Aem. Kroymann) III, 4, in: Quinti Septimi Florentis Tertulliani Opera II. Opera montanistica (CCL 2), Turnhout 1954, 1037-1065: "Ad omnem progressum atque promotum, ad omnem aditum et exitum, ad uestitum, ad calciatum, ad lauacra, ad mensas, ad lumina, ad cubilia, ad sedilia, quacumque nos conuersatio exercet, frontem signaculo [i.e. crucis] terimus" (1043). "Bei jedem Schritt und Tritt, bei jedem Eingehen und Ausgehen, beim Anlegen der Kleider und Schuhe, beim Waschen, Essen, Lichtanzünden, Schlafengehen, beim Niedersetzen und, welche Tätigkeit wir immer ausüben, drücken wir auf unsere Stirn das kleine Zeichen [(d)as sog. kleine Kreuzeszeichen]" (BKV2 24, 237 [583]).</ref> Schließlich macht man dieses Zeichen, um sich gegen jegliche Versuchung des Teufels zu wappnen. Denn der Teufel erschrickt vor diesem Zeichen und flieht vor ihm, so wie es die Verbrecher machen, wenn sie das Zeichen der Polizei sehen. Häufig entgeht jemand mittels dieses Zeichens des heiligen Kreuzes vielen geistlichen und weltlichen Gefahren, wenn er es mit Glauben macht und mit Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit und die Verdienste Christi, unseres Herrn.3 <ref> Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 54, 4 (al. 55, 4), in: PG 58, 531-540: "[U]bique nos adest hoc victoriae symbolum. Idcirco et domi, et in parietibus, et in fenestris, et in fronte et in mente, illam cum multo studio depingimus [ ... ] Neque enim simpliciter illam [i. e. crucem] digito efformare oportet, sed prius voluntate et multa fide. Si hoc modo illam in facie tua depinxeris, nullus impurorum daemonum contra te stare poterit, cum ensem videat quo vulnus accepit, cum gladium videat quo letali plaga perfossus est. Si enim loca videntes ubi rei caeduntur, perhorrescimus, cogita quid passuri sint diabolus et daemones, telum illud videntes, quo Christus totam illorum potentiam solvit, draconisque caput abscidit [ ... ] Hoc signum et majorum nostrorum tempore et aevo nostro clausas aperuit ianuas; hoc signum venenata pharmaca exstinxit; hoc cicutae vim solvit; hoc venenatarum ferarum morsus curavit. Nam si portas inferorum aperuit, si caelorum ostia reseravit, et paradisi renovavit ingressum, si diaboli nervos rescidit: quid mirum si letifera pharmaca, feras, aliaque huiusmodi superaverit?" (537-538). "[Ü]berall steht dieses Zeichen des Sieges uns zur Seite. Deshalb zeichnen wird es voll Eifer auf die Häuser, Wände und Fenster, auf die Stirn und auf das Herz [ ... ] Man darf das Kreuz aber nicht einfach nur mit dem Finger machen, sondern zuerst mit dem Herzen, voll innigen Glaubens. Wenn du es in dieser Weise auf deine Stirne zeichnest, dann wird dir kein unreiner Geist nahen, weil er die Waffe sieht, die ihm die Wunde geschlagen, das Schwert, das ihm den tödlichen Streich versetzte. Wenn wir beim Anblick der Richtstätten erschaudern, was wird wohl der Teufel empfinden beim Anblick der Waffe, mit der Christus seine ganze Macht gebrochen und dem Drachen den Kopf abgehauen hat? [ ... ] Dieses Zeichen hatte schon zur Zeit unserer Vorfahren und hat auch jetzt noch die Kraft, verschlossene Türen zu öffnen, Giftmittel unschädlich zu machen, dem Schierling seine Wirkung zu nehmen, vom Bisse giftiger Tiere zu heilen; denn wenn es die Pforten der Vorhölle erschloß, das Tor des Himmels öffnete, den Eingang zum Paradiese wieder auftat und die Fesseln des Teufels sprengte, was braucht man sich da zu wundern, daß es mächtiger ist als giftige Tränke und Tiere und alles andere der Art?" (BKV2 26, 165-166).
Aurelius Augustinus, De diversis quaestionibus octoginta tribus. Quaestio 79, 4, in: Aurelii Augustini Opera XII, 2 (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 44 A), Turnhout 1975, 9-249: "Nam nullo modo ulli spiritus audent haec signa contemnere; contremiscunt enim haec, ubicumque illa conspexerint" (230). "Es wagen solche Geister nicht, Zeichen dieser Art zu verkennen: sie zittern vor ihnen, wo immer sie sie erblicken" (Aurelius Augustinus, Dreiundachtzig verschiedene Fragen. De diversis quaestionibus octoginta tribus, Zum ersten Mal in deutscher Sprache von Carl-Johann Perl, Paderborn 1972, 247). </ref>
Kapitel III: Erklärung des Glaubensbekenntnisses
S: Jetzt kommen wir zum ersten Teil der Lehre. Ich würde gern das Glaubensbekenntnis lernen.
L: Das Glaubensbekenntnis enthält 12 Teile. Sie heißen Artikel, und 12 sind es entsprechend der Zahl der 12 Apostel, die es verfasst haben.<ref> Papae Leonis Epistula ad Pulcheriam Augustam, in: S. Leonis Magni Epistulae contra Eutychis Haeresim. 1. Epistulae quae Chalcedonensi Concilio praemittuntur (ed. C. Silva-Tarouca), Rom 1934 (= Pontificia Universitas Gregoriana. Textus et Documenta in usum exereitationum et praelectionum academicarum. Series Theologica 15), ep. IV b, p. 8-13: " ... siquidem ipsa catholici symboli breuis et perfecta confessio, quae XII apostolorum totidem est signata sententiis, tam instructa sit munitione caelesti, ut omnes haereticorum opiniones solo ipsius possint gladio detruncari"(12) (entspricht ep. 31, 4 in PL 54, 789-796, hier 794). "Ist doch selbst das kurze und vollkommene Bekenntniß des katholischen Symbolums, welches in zwölf Sätzen ebenso vieler Apostel verzeichnet ist, durch himmlische Kraft so beschaffen, daß durch dessen Schwert allein alle Meinungen der Häretiker vernichtet werden können" (Die Briefe der Päpste und die an sie gerichteten Schreiben IV [übers. v. S. Wenzlowsky) [BKV], Kempten 1878, 223).
Tyrannius Rufinus, Expositio Symboli 2, in: Tyrannii Rufini Opera (ed. M. Simonetti) (CCL 20), Turnhout 1961, 133-182: "Tradunt maiores nostri quod post ascensionem Domini [ ... ] praeceptum eis [i.e. apostolis] a Domino datum, ob praedicandum Dei verbum ad singulas quasque proficisci nationes. Discessuri igitur ab invicem, normam prius futurae sibi praedicationis in commune constituunt, ne forte alius alio abducti, diversum aliquid his qui ad fidem Christi invitabantur, exponerent. Omnes igitur in uno positi et Spiritu Sancto repleti, breve istud futurae sibi, ut diximus, praedicationis indicium, conferendo in unum quod sentiebat unusquisque, conponunt, atque hanc credentibus dandam esse regulam statuunt" (134; vgl. ebd. auch zur Bezeichnung "Symbolum"). "Wie eine alte Tradition meldet, gab der Herr nach seiner Himmelfahrt den Aposteln [ ... ] den Auftrag, einzeln zu den verschiedenen Nationen hinauszuziehen, um ihnen das Wort Gottes zu predigen. Im Begriffe nun, von einander zu scheiden, stellten sie sich vorher gemeinsam eine Norm ihrer zukünftigen Predigt auf, damit sie nicht etwa, wenn der Eine vom Andern getrennt wäre, denen, welche zum christlichen Glauben eingeladen werden sollten, etwas verschiedenes vortrügen. Indem so alle vereint und vom Heiligen Geist erfüllt ihre gemeinsamen Überzeugungen zusammenstellten, setzten sie, wie wir sagten, jenes kurze Erkennungszeichen ihrer zukünftigen Predigt fest und fanden darin eine feste Regel, welche sie den Gläubigen zu geben beschloßen" (Des Tyrannius Rufmus von Aquileja Commentar zum Aposto/' Glaubensbekenntniß [übers, u. einge/. v, H. Brüll) [BKV], Kempten 1876, 21-22).
Zur Urheberschaft der Apostel vgl. auch Maximus von Turin, Homilia 83. De traditione Symboli, in: PL 57, 433-440, und Ambrosius von Mailand, Epistula ad Syricium Papam 5 (Extra collectionem 15 [Maur. 42]), in: Sancti Ambrosi Opera X / IIl. Epistularum liber decimus; Epistulae extra collectionem; Gesta Concili Aquileiensis (ed. M. Zelzer) (CSEL 82/ III), Wien 1982, 302-311, hier 305.</ref> Sie lauten so:
1. Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. 2. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, 3. empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, 4. gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, 5. hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, 6. aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; 7. von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. 8. Ich glaube an den Heiligen Geist, 9. die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, 10. Vergebung der Sünden, 11. Auferstehung der Toten 12. und das ewige Leben. Amen.
(Erklärung des erstten Artikels)
S: Erklären Sie mir bitte den ersten Artikel Wort für Wort.
Was heißt "lch glaube"?
L: Es heißt: Ich halte all das, was in diesen 12 Artikeln enthalten ist, für gewiss und für ganz wahr. Der Grund dafür ist der, dass Gott selbst die heiligen Apostel diese Sätze gelehrt hat, die heiligen Apostel sie die Kirche gelehrt haben und die Kirche sie uns lehrt. Und weil es unmöglich ist, dass Gott lügt, deshalb glaube ich diese Dinge fester als das, was ich mit den Augen sehe und mit den Händen berühre.
S: Was heißt "an Gott"?
L: Es heißt, dass wir fest glauben müssen, dass es Gott gibt, auch wenn wir ihn nicht mit den leiblichen Augen sehen. Dieser Gott ist einer, denn man sagt ja "an Gott" und nicht "an die Götter". Auch dürft ihr euch Gott nicht so ähnlich wie etwas Körperliches vorstellen, so groß und schön es auch sein mag. Vielmehr müsst ihr denken, dass Gott etwas Geistiges ist, das immer war und immer sein wird, das alles gemacht hat, alles erfüllt und alles regiert. Er weiß und sieht alles. Kurz und gut, wenn ihr irgendetwas vor Augen habt oder es euch vorstellt, so müsst ihr sagen: Was mir da jetzt vor Augen steht, ist nicht Gott, weil Gott etwas unendlich Besseres ist.
S: Warum wird dann gesagt, dass Gott Vater ist?
L: Weil er wirklich der Vater seines eingeborenen Sohnes ist, von dem wir im zweiten Artikel sprechen werden. Des weiteren, weil er Vater aller rechtschaffenen Menschen ist, freilich nicht der Natur nach, sondern sondern dadurch, dass er sie sozusagen adoptiert hat. Schließlich weil er Vater aller Geschöpfe ist, jedoch weder der Natur nach noch dadurch, dass er sie an Kindes statt angenommen hat, sondern durch die Schöpfung, wie wir es im selben Artikel gleich sagen werden.
S: Warum sagt man "den Allmächtigen"?
L: Weil dies ein nur Gott zukommender, ihm eigener Titel ist. Obwohl Gott viele ihm eigene Titel hat, wie zum Beispiel ewig, unendlich, unermesslich usw., ist es an dieser Stelle doch der passendste, dass er allmächtig ist. So fällt es uns leicht zu glauben, dass er den Himmel und die Erde aus nichts geschaffen hat, wie es ja in den folgenden Worten gesagt wird. Denn für den, der alles tun kann, was er will, und somit allmächtig ist, muss alles leicht sein. Wenn ihr mir jetzt aber sagen würdet, dass Gott ja nicht sterben und nicht sündigen kann und er so anscheinend nicht alles kann, würde ich euch folgendes antworten: Sterben und sündigen können ist kein Ausdruck von Macht, sondern von Ohnmacht. Bei einem überaus tapferen Soldaten, der alle besiegen kann und selbst von niemandem besiegt werden kann, setzt man doch nicht seine Stärke herab, indem man sagt, er könne nicht besiegt werden. Denn besiegt werden zu können ist keine Stärke, sondern eine Schwäche.
S: Was heißt "Schöpfer"?
L: Es bedeutet, dass Gott alle Dinge aus nichts gemacht hat und dass er allein sie auch wieder zu nichts machen kann. Wohl können die Engel und die Menschen wie auch die bösen Geister etwas machen oder vernichten. Aber sie können es nur aus einer Materie machen, die schon vorher vorhanden war. Ebenso können sie es nur zerstören, indem sie es in etwas anderes verwandeln. Es ist wie bei einem Maurer, der ein Haus nicht aus nichts machen kann, sondern aus Steinen, Kalk und Holz, und es auch nicht zu nichts werden lassen kann, wenn er es niederreißt, sondern nur wieder zu Steinen, Staub, Holz und dergleichen. Darum heißt nur Gott Schöpfer und ist es, weil nur er keine Materie braucht, um die Dinge zu machen.
S: Warum sagt man "Schöpfer des Himmels und der Erde"? Hat Gott nicht auch die Luft, das Wasser, die Steine, die Bäume, die Menschen und alles übrige gemacht?
L: Unter Himmel und Erde versteht man hier auch alles, was im Himmel und auf Erden ist. Wenn jemand sagt, dass der Mensch Leib und Seele hat, meint er damit ja auch, dass er alles hat, was sich im Leib befindet, also Adern, Blut, Knochen, Nerven usw., sowie alles, was sich in der Seele befindet, wie Verstand, Willen, Gedächtnis, innere und äußere Sinne usw. Ebenso versteht man unter Himmel auch die Luft, die Vögel und alle Dinge, die noch weiter oben sind, dort, wo die Wolken und die Sterne sind - darum spricht man ja auch von den Vögeln des Himmels, den Wolken am Himmel, den Sternen am Himmel-, und schließlich die Engel. Unter Erde versteht man alles, was von der Luft umschlossen ist wie das Wasser des Meeres und der Flüsse, die in den niedrigeren Teilen der Erde gelegen sind, und auch alle Tiere, Pflanzen, Steine, Metalle und alles übrige, was sich in der Erde oder im Meer befindet. Man spricht also von "Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde", weil dies die beiden Hauptteile der Welt sind, ein oberer, in dem die Engel, und ein unterer, in dem die Menschen wohnen. Dies sind nämlich die beiden Geschöpfe, die edler als alle anderen sind und denen alle anderen dienen, so wie die beiden wiederum die Pflicht haben, Gott zu dienen, der sie aus nichts geschaffen und ihnen eine so hohe Würde verliehen hat.
Erklärung des zweiten Artikels
S: Erklären Sie mir jetzt bitte den zweiten Artikel. Was heißt "und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn"?
L: Gott, der Allmächtige, von dem wir im ersten Artikel gesprochen haben, hat einen wahren Sohn, der seiner Natur entstammt und Jesus Christus heißt. Damit ihr aber einigermaßen versteht, wie Gott diesen Sohn gezeugt hat, nehmt den Vergleich mit dem Spiegel. Wenn jemand sich in einem Spiegel anschaut, bringt er im gleichen Moment ein Bild von sich selbst hervor, das ihm selbst so ähnlich ist, dass man überhaupt keinen Unterschied feststellen kann, weil es nicht nur im Aussehen, sondern auch in der Bewegung ähnlich ist, so dass sich, wenn der Mensch sich bewegt, auch das Bild bewegt. Und dieses Bild wird nicht mit Mühe, mit Zeitaufwand oder mit einem Werkzeug erzeugt, sondern sofort und durch einen einzigen Blick. So also habt ihr euch zu denken, dass Gott sich selbst mit dem Auge des Verstandes im Spiegel seiner Gottheit anschaut und dabei ein ihm selbst vollkommen gleiches Bild erzeugt. Weil Gott diesem seinem Bild aber sein ganzes Wesen und sein ganzes Sein gegeben hat, wozu wir, wenn wir uns im Spiegel anschauen, nicht in der Lage sind, ist dieses Bild der wahre Sohn Gottes, während unsere Bilder, die wir in den Spiegeln sehen, nicht unsere Kinder sind. Daran müsst ihr begreifen, dass der Sohn Gottes wie der Vater Gott ist und ein und derselbe Gott mit dem Vater, weil er dasselbe Wesen wie der Vater hat. Weiterhin müsst ihr verstehen, dass der Sohn Gottes nicht jünger ist als der Vater, sondern immer war, so wie der Vater immer war, weil er allein dadurch gezeugt wurde, dass Gott sich selbst anschaut, und Gott schaute sich selbst von Ewigkeit her an. Schließlich müsst ihr begreifen, dass der Sohn Gottes nicht mit der Hilfe einer Frau, in einer bestimmten Zeitdauer, unter niedriger fleischlicher Begierde oder unter anderen Unvollkommenheiten gezeugt wurde, weil er wie gesagt allein vom Vater durch den einfachen Blick auf sich selbst vom allerreinsten Auge des göttlichen Verstandes gezeugt wurde.
S: Warum wird dieser Sohn Jesus Christus genannt?
L: Der Name Jesus bedeutet Heiland und Christus (also sein Beiname) bedeutet Hoherpriester und König aller Könige, weil, wie ich euch bei der Erklärung des Kreuzzeichens sagte, der Sohn Gottes Mensch wurde, um uns mit seinem Blut loszukaufen und uns zum ewigen Heil zu führen. Und so nahm er, als er Mensch wurde, diesen Namen "Heiland" an, um zu zeigen, dass er gekommen ist, um uns zu retten, und er wurde vom Vater mit dem Titel des höchsten Priesters und des obersten Königs geehrt. Dies beides bedeutet der Name Christus, und nach ihm heißen wir Christen.
S: Aus welchem Grund nehmen alle den Hut ab oder verneigen sich, wenn der Name Jesus genannt wird, was bei den anderen Namen Gottes nicht geschieht?
L: Der Grund ist, dass dies der Eigenname des Sohnes Gottes ist, alle anderen Namen aber gemeinsam sind. Außerdem weil dieser Name uns vor Augen führt, wie Gott sich für uns erniedrigt hat, indem er Mensch geworden ist.
Darum verneigen wir uns aus Dankbarkeit vor ihm. Doch nicht nur wir Menschen, sondern auch die Engel des Himmels und die Dämonen der Hölle verneigen sich vor diesem Namen, die einen aus Liebe, die anderen gezwungen. Denn Gott wollte, dass alle vernunftbegabten Geschöpfe sich vor seinem Sohn verneigen, weil dieser sich aus Liebe zu uns erniedrigt hat bis zum Tod am Kreuz.
S: Warum wird gesagt, dass Jesus Christus unser Herr ist?
L: Weil er uns gemeinsam mit dem Vater erschaffen hat, ist er unser Gebieter und Herr ebenso wie der Vater. Darüberhinaus hat er uns noch mit seiner Mühsal und seinen Leiden aus der Gefangenschaft des Teufels befreit hat, wie wir gleich erläutern werden.
Erklärung des dritten Artikels
S: Der Reihenfolge nach erklären Sie mir jetzt den dritten Artikel. Was bedeutet: "Empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria"?
L: In diesem Artikel wird die neue und wunderbare Weise der Fleischwerdung des Sohnes Gottes erklärt. Ihr wisst, dass alle anderen Menschen von Vater und Mutter ihre Geburt haben und dass die Mutter nach der Empfängnis und der Geburt des Kindes nicht mehr Jungfrau ist. Nun wollte der Sohn Gottes, als er beschloss Mensch zu werden, keinen irdischen Vater haben, sondern nur eine Mutter mit Namen Maria. Sie war und blieb allezeit eine ganz reine Jungfrau, weil der Heilige Geist, der die dritte göttliche Person ist und mit dem Vater und dem Sohn ein und derselbe Gott ist, mit seiner unendlichen Macht aus dem allerreinsten Blut dieser Jungfrau in ihrem Schoß den Leib eines ganz vollkommenen Kindes und gleichzeitig eine ganz edle Seele formte und diese mit dem Leib dieses Kindes verband. Das Ganze verband der Sohn Gottes mit seiner Person. So fing Jesus Christus, der zuvor nur Gott war, an, Gott und Mensch zugleich zu sein, und wie er als Gott einen Vater, aber keine Mutter hat, so hat er als Mensch eine Mutter, aber keinen Vater.
S: Ich möchte gern ein Beispiel oder einen Vergleich, um zu verstehen, wie eine Jungfrau empfangen kann.
L: Die Geheimnisse Gottes muss man glauben, auch wenn man sie nicht versteht. Denn Gott kann mehr tun, als wir begreifen können. Darum sagt man ja am Beginn des Glaubensbekenntnisses, dass Gott allmächtig ist. Dennoch gibt es ein schönes Gleichnis für die jungfräuliche Empfängnis, und zwar bei der Erschaffung der Welt. Ihr wisst, dass die Erde normalerweise kein Getreide hervorbringt, wenn sie nicht zuvor gepflügt, besät, mit Regen benetzt und von der Sonne erwärmt worden ist. Am Anfang hingegen, als zum ersten Mal Korn gewachsen ist, da war die Erde nicht gepflügt, besät, befeuchtet und erwärmt. So war sie in ihrer Art vollkommen jungfräulich. Damals brachte sie auf das bloße Geheiß Gottes, des Allmächtigen, durch die Kraft Gottes in einem Augenblick das Getreide hervor.<ref> Vgl. Gen 1 und 2. </ref> Ebenso brachte der jungfräuliche Schoß Mariens, ohne dass sie mit einem Mann Umgang gehabt hätte, auf bloßen Geheiß Gottes durch das Wirken des Heiligen Geistes jenes kostbare Weizenkorn des beseelten Leibes des Sohnes Gottes hervor.
S: Wenn Jesus Christus durch den Heiligen Geist empfangen ist, dann kann man doch anscheinend sagen, dass der Heilige Geist für ihn als Mensch der Vater ist?
L: So ist es nicht, denn um Vater zu sein reicht es nicht, etwas zu machen, sondern man muss es auch aus dem eigenen Wesen machen. Deshalb nennen wir den Maurer auch nicht den Vater des Hauses, weil er es aus Ziegelsteinen und nicht aus seinem eigenen Fleisch macht. Nun hat der Heilige Geist zwar den Leib des Sohnes Gottes gemacht, aber er hat ihn aus dem Fleisch der Jungfrau gemacht und nicht aus seinem eigenen Wesen. Deshalb ist der Sohn Gottes nicht der Sohn des Heiligen Geistes, sondern als Gott der Sohn Gottes, des Vaters, weil er von ihm die Gottheit hat, und als Mensch der Sohn der Jungfrau, weil er von ihr das menschliche Fleisch hat.
S: Warum sagt man, dass der Heilige Geist dieses Werk der Fleischwerdung vollbracht hat? Haben daran nicht auch der Vater und der Sohn mitgewirkt?
L: Was eine göttliche Person wirkt, das wirken auch zugleich die beiden anderen, weil sie dieselbe Macht, Weisheit und Güte haben. Dennoch werden die Taten der Macht dem Vater zugeschrieben, die der Weisheit dem Sohn und die der Liebe dem Heiligen Geist. Weil aber die Fleischwerdung das Werk der höchsten Liebe Gottes zum Menschengeschlecht war, wird es dem Heiligen Geist zugeschrieben.
S: Ich möchte gern ein Gleichnis, um zu verstehen, wie alle drei göttlichen Personen bei der Fleischwerdung zusammengewirkt haben und dennoch nur der Sohn allein Fleisch und Mensch geworden ist.
L: Wenn ein Mensch ein Gewand anlegt und zwei andere ihm beim Ankleiden behilflich sind, dann sind es drei, die beim Ankleiden zusammenwirken, und doch wird nur einer angekleidet. Ebenso haben alle drei göttlichen Personen bei der Fleischwerdung des Sohnes zusammengewirkt, aber nur der Sohn ist Fleisch und Mensch geworden.
S: Warum ist in diesem Artikel hinzugefügt "geboren von der Jungfrau Maria"?
L: Weil sich auch hierin etwas nie Dagewesenes ereignete, dass nämlich der Sohn Gottes am Ende des neunten Monats aus dem Schoß der Jungfrau Maria ohne Schmerzen und Schaden der Mutter hervorkam und kein Anzeichen seines Hervorgangs hinterließ, so wie er es machte, als er auferstanden aus dem versiegelten Grab hervorkam und als er dann in den Abendmahlssaal, wo sich seine Jünger befanden, bei geschlossenen Türen eintrat und wieder hinausging. Deshalb sagt man, dass die Mutter unseres Herrn Jesus Christus allezeit Jungfrau war, vor der Geburt, in der Geburt und nach der Geburt.
Erklärung des vierten Artikels
S: Was bedeutet das, was im vierten Artikel folgt: "gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben"?
L: Dieser Artikel enthält das überaus heilbringende Geheimnis unserer Erlösung. Kurz zusammengefasst besteht es darin: Christus hat etwa 33 Jahre auf dieser Erde geweilt und durch sein ganz heiliges Leben, durch seine Lehre und durch Wunder den Weg des Heils gelehrt. Dann ließ ihn Pontius Pilatus, der Herrscher über Judäa, zu Unrecht geißeln und an ein Kreuz nageln. An diesem Kreuz starb er. Dann wurde er von einigen frommen Menschen begraben.
S: Bei diesem Geheimnis kommen mir einige Fragen. Ich möchte sie gern von Ihnen geklärt haben, damit ich Gott um so dankbarer bin für eine solche große Wohltat, je mehr ich sie verstehe. So sagen Sie mir bitte, wenn Christus der Sohn des allmächtigen Gottes ist, warum wurde er dann nicht von seinem Vater aus der Hand des Pilatus befreit, ja, wenn Christus selbst Gott ist, warum befreite er sich dann nicht selbst?
L: Wenn Christus es gewollt hätte, hätte er sich auf tausenderlei Arten aus der Hand des Pilatus befreien können, ja die ganze Welt wäre nicht in der Lage gewesen, ihm irgendein Leid zuzufügen, wenn er es nicht selbst gewollt hätte. Das kann man klar an folgendem erkennen: Er wusste und sagte es seinen Jüngern auch vorher, dass ihn die Juden suchen würden, um ihn zu töten, und dass sie ihn geißeln, verhöhnen und schließlich umbringen würden. Dennoch versteckte er sich nicht, sondern ging seinen Feinden sogar entgegen. Und als sie ihn ergreifen wollten, ihn aber nicht erkannten, sagte er selbst, dass er der sei, den sie suchten, und im gleichen Moment, als sie alle wie tot zu Boden gefallen waren, lief er nicht davon, wie er gekonnt hätte, sondern wartete, dass sie wieder zu sich kämen und sich aufrichteten. Dann ließ er sich festnehmen, fesseln und wie ein sanftes Lamm wegführen, wohin sie wollten.
S: Aus welchem Grund ließ sich Christus unschuldig kreuzigen und umbringen?
L: Aus vielen Gründen, hauptsächlich jedoch, um Gott für die Sünden der ganzen Welt Genugtuung zu leisten. Denn ihr müsst wissen, dass die Beleidigung sich nach der Würde dessen bemisst, der beleidigt wurde, die Genugtuung dagegen nach der Würde dessen, der sie erbringt. Wenn also zum Beispiel ein Diener einem Fürsten eine Ohrfeige gäbe, würde man das entsprechend der Größe des Fürsten für ein sehr schweres Vergehen halten. Wenn dagegen der Fürst dem Diener eine Ohrfeige gäbe, würde er entsprechend des niedrigen Standes des Dieners nur etwas Unbedeutendes tun. Oder andersherum: Wenn ein Diener vor dem Fürsten seinen Hut zieht, hat das keine große Bedeutung. Wenn aber der Fürst ihn vor dem Diener zieht, wird er ihm damit entsprechend der erwähnten Regel eine bemerkenswerte Gunst erweisen. Weil nun der erste Mensch und mit ihm wir alle Gott beleidigt haben, der eine unendliche Würde besitzt, verlangte die zugefügte Beleidigung eine unendliche Genugtuung. Aber es gab weder einen Menschen noch einen Engel mit einer so großen Würde. Darum kam der Sohn Gottes, der Gott ist und damit von unendlicher Würde, nahm sterbliches Fleisch an und unterwarf sich in diesem Fleisch zur Ehre Gottes dem Tod am Kreuz. So leistete er mit seiner Strafe für unsere Schulden eine vollständige Genugtuung.
S: Was ist der andere Grund, warum Christus einen so bitteren Tod erleiden wollte?
L: Um uns durch sein Vorbild die Tugenden der Geduld, der Demut, des Gehorsams und der Liebe zu lehren. Diese vier Tugenden sind nämlich mit den vier Enden des Kreuzes ausgedrückt. Denn man kann keine größere Geduld finden, als dass jemand zu Unrecht einen so schändlichen Tod erleidet; keine größere Demut, als dass der Herr aller Herren sich dem unterwarf, inmitten von Räubern gekreuzigt zu werden; keinen größeren Gehorsam, als lieber zu sterben statt den Befehl des Vaters nicht zu erfüllen; und keine größere Liebe, als sein Leben hinzugeben, um sogar die Feinde zu retten. Ihr müsst nämlich wissen, dass sich die Liebe eher in Werken als in Worten und eher durch Leiden als durch Taten zeigt. So hat Christus, indem er uns nicht nur unendliche Wohltaten erweisen wollte, sondern für uns auch leiden und sterben wollte, gezeigt, dass er uns über alle Maßen liebt.
S: Wenn Christus Gott und Mensch ist, wie Sie bereits gesagt haben, und wenn Gott offensichtlich nicht leiden und sterben kann, wieso sagen wir dann hier, dass er gelitten hat und gestorben ist?
L: Genau dadurch, dass Christus Gott und Mensch ist, kann er zugleich leiden und nicht leiden, sterben und nicht sterben. Insofern er Gott ist, konnte er weder leiden noch sterben. Insofern er aber Mensch ist, konnte er leiden und sterben. Deshalb habe ich euch gesagt, dass er, der Gott war, Mensch geworden ist, um für unsere Sünden Genugtuung zu leisten, indem er an seinem allerheiligsten Fleisch die Strafe des Todes erduldet hat. Das hätte er nicht tun können, wenn er nicht Mensch geworden wäre.
S: Wenn Christus dem Vater für die Sünden aller Menschen Genugtuung geleistet hat, wie kommt es dann, dass so viele Menschen verdammt werden und dass auch wir selbst für unsere Sünden Buße tun müssen?
L: Christus hat für alle Sünden aller Menschen Genugtuung geleistet. Diese Genugtuung muss jedoch im einzelnen diesem oder jenem zugewendet werden. Dies geschieht durch den Glauben, die Sakramente, die guten Werke und besonders durch die Buße. Aus diesem Grund muss man also Buße tun und gute Werke verrichten, obwohl Christus für uns gelitten und gewirkt hat. Aus diesem Grund gehen auch viele verloren und bleiben Feinde Gottes, weil sie entweder wie die Juden, Muslime und Häretiker den Glauben nicht annehmen wollen oder weil sie die Sakramente nicht empfangen wollen wie diejenigen, die sich nicht taufen lassen oder beichten wollen, oder weil sie nicht für ihre Sünden Buße tun wollen, wie es angemessen ist, und sich nicht dazu entschließen wollen, dem Gesetz Gottes entsprechend zu leben.
S: Um das zu verstehen, möchte ich gern ein Gleichnis.
L: Stellt euch jemanden vor, der sich gewaltig abmühen würde und der unter großer Anstrengung im Schweiße seines Angesichts so viel Geld verdienen würde, dass es reicht, die gesamten Schulden dieser Stadt zu begleichen. Dieses Geld würde er nun auf die Bank geben, damit es all jenen gegeben würde, die einen Gutschein von ihm vorweisen könnten. Dieser Mann hätte damit von seiner Seite aus gewiss für alle die Schulden beglichen. Dennoch könnte es geschehen, dass viele trotzdem verschuldet bleiben, weil sie aus Stolz, aus Faulheit oder aus einem anderen Grund den Gutschein nicht erbitten wollen und ihn nicht zur Bank bringen wollen, um das Geld zu erhalten.
Erklärung des fünften Artikels
S: Der fünfte Artikel lautet: "hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten". Um ihn zu verstehen, möchte ich gern wissen: Was ist mit diesem Ort "Reich des Todes" (Unterwelt) gemeint?
L: Die Unterwelt ist der tiefste und am weitesten unten gelegene Ort, den es auf der Welt gibt, nämlich der Mittelpunkt der Erde. Deshalb stellt die Schrift an vielen Stellen den Himmel als den höchsten Punkt der Unterwelt als dem tiefsten gegenüber. In dieser Tiefe der Erde gibt es aber vier Teile,<ref> Thomas von Aquin, In quattuor libros sententiarum. 4 distinctio 45 qu. 1 art. 3 corpus, in: S. Thomae Aquinatis opera omnia. Hg. von Roberto Busa. Bd. 1. In quattuor libros sententiarum, Stuttgart - Bad Cannstatt 1980: "Respondeo dicendum, quod receptacula animarum distinguuntur secundum diversos status earum. Anima autem coniuncta mortali corpori habet statum merendi; sed exuta corpore est in statu recipiendi pro meritis bonum et malum. ergo post mortem vel est in statu recipientis finale praemium, vel est in statu quo impeditur ab illo. Si autem est in statu recipientis finalem retributionem, hoc est dupliciter: vel quantum ad bonum, et sic est paradisus; vel quantum ad malum; et sic ratione actualis culpae est infernus, ratione autem originalis est limbus puerorum. Si autem est in statu quo impeditur a finali retributione consequenda; vel hoc est propter defectum personae; et sic est purgatorium, in quo detinentur animae, ne statim praemium consequantur propter peccata quae commiserunt; vel propter defectum naturae, et sic est limbus patrum, in quo detinebantur patres a consecutione gloriae propter creatum humanae naturae, qui nondum poterat expiari" (653). "Ich antworte: Es ist zu sagen, dass die Orte der Seelen sich entsprechend ihrem unterschiedlichen Zustand unterscheiden. Die mit dem sterblichen Leib verbundene Seele aber hat den Zustand, Verdienste zu erwerben. Vom Leib gelöst dagegen befindet sie sich im Zustand, für ihre Verdienste Gutes und Böses zu empfangen. Folglich befindet sie sich nach dem Tod entweder im Zustand, den endgültigen Lohn zu empfangen, oder in dem Zustand, in dem sie von ihm abgehalten wird. Wenn sie sich jedoch im Zustand befindet, die endgültige Vergeltung zu empfangen, dann ist sie das in zweifacher Art und Weise: entweder im Hinblick auf das Gute, und so ist dieser Zustand das Paradies, oder im Hinblick auf das Böse, und so ist er aufgrund der selbst zugezogenen Schuld die Hölle oder aufgrund der Erbschuld die Randzone der Kinder (limbus puerorum). Wenn sie sich aber im Zustand befindet, in dem sie davon abgehalten ist, die endgültige Vergeltung zu empfangen, ist dies entweder wegen eines Mangels in der Person, und so ist dieser Zustand das Fegfeuer, in dem die Seelen festgehalten werden, damit sie aufgrund der Sünden, die sie begangen haben, nicht sofort den Lohn erlangen. Oder es ist aufgrund eines Mangels in der Natur, und so ist er die Randzone der Väter (limbus patrum), in der die Väter aufgrund der Schuld der menschlichen Natur, die noch nicht gesühnt werden konnte, vom Erlangen der Herrlichkeit abgehalten wurden." </ref> die wie gewaltige Höhlen sind. Eine für die Verdammten, das ist die tiefste von allen. Und so ist es ganz passend, dass die stolzen Dämonen und ihre Anhänger unter den Menschen sich am tiefsten Punkt befinden, dem am weitesten vom Paradies entfernten Ort, den es überhaupt gibt. In der zweiten Höhle, die etwas höher gelegen ist, befinden sich die Seelen, die die Strafen des Fegfeuers erleiden. In der dritten, die noch etwas höher gelegen ist, befinden sich die Seelen der Kinder, die ohne Taufe gestorben sind; sie erdulden keine Feuerqualen, sondern nur den immerwährenden Ausschluss von der ewigen Seligkeit. In der vierten, der höchsten von allen, befanden sich die Seelen der Patriarchen, Propheten und anderer Heiliger, die vor dem Kommen Christi gestorben waren. Denn obwohl diese heiligen Seelen keiner Reinigung bedurften, konnten sie doch nicht in die ewige Seligkeit eingehen, bevor nicht Christus durch seinen Tod das Tor zum ewigen Leben geöffnet hatte. Deshalb befanden sie sich an diesem am höchsten gelegenen Ort, Limbus der heiligen Väter oder Schoß Abrahams genannt, wo sie keinerlei Strafe erduldeten, ja eine süße Ruhe genossen, während sie mit großer Freude das Kommen des Herrn erwarteten. Daher lesen wir im Evangelium, dass die Seele des heiligen Bettlers Lazarus von den Engeln zur Ruhe in Abrahams Schoß getragen wurde, wo sie vom reichen Prasser gesehen wurde. Während dieser in den Flammen der Hölle brannte, blickte er empor und sah Lazarus an einem sehr viel höher gelegenen Ort, wo er sich in großer Freude und Trost befand und den Lohn für seine Geduld genoss.<ref> "Factum est autem ut moreretur mendicus, et portaretur ab angelis in sinum Abrahae. Mortuus est autem et dives, et sepultus est in inferno. Elevans autem oculos suos, cum esset in tormentis, vidit Abraham a longe, et Lazarum in sinu eius" (Luk 16, 22-23; "Es geschah aber, daß der Arme starb, und von den Engeln in den Schoß Abrahams getragen wurde. Und es starb auch der Reiche, und wurde in die Hölle begraben. Als er nun in der Qual war, und seine Augen erhob, sah er Abraham von ferne, und Lazarus in seinem Schoße"). </ref>
S: In welchen dieser vier Teile der Unterwelt stieg Christus nach seinem Tod hinab?
L: Ohne Zweifel stieg er in den Limbus der heiligen Väter hinab, machte sie augenblicklich selig und führte sie dann auch mit sich ins Himmelreich. Er zeigte sich auch in allen anderen Teilen der Unterwelt. Dabei setzte er als feierlich einziehender Sieger die Dämonen in Schrecken, drohte als oberster Richter den Verdammten und tröstete als Fürsprecher und Befreier die Seelen im Fegfeuer. Christus stieg so in die Unterwelt hinab, wie ein König manchmal in die Kerker hinabzusteigen pflegt, um sie zu besichtigen und um zu begnadigen, wen er will.
S: Wenn Christus schon tot war und sein Leib im Grab ruhte, dann ist doch nicht der ganze Christus in die Unterwelt hinabgestiegen, sondern nur die Seele Christi. Wie kann man dann sagen, dass Christus in die Unterwelt hinabgestiegen ist?
L: Der Tod hatte wohl die Macht, die Seele Christi von seinem Leib zu trennen, doch er konnte weder die Seele noch den Leib von der göttlichen Person Christi trennen. Deshalb glauben wir, dass die göttliche Person Christi sich mit dem Leib im Grab befand und dieselbe göttliche Person mit der Seele zur Unterwelt abstieg.
S: Wie kann man aufzeigen, dass der Herr am dritten Tage vom Tod erstand, wenn doch zwischen dem Freitagabend, als Christus begraben wurde, und der Nacht vor dem Sonntag, als er auferstand, nicht einmal zwei ganze Tage lagen?
L: Wir sagen nicht, dass Christus nach drei ganzen Tagen auferstand, sondern am dritten Tag. Das ist auch vollkommen richtig, weil er am Freitag im Grab lag, (das ist der erste Tag, wenn auch kein ganzer), und den ganzen Samstag, also dem zweiten Tag, und einen Teil des Sonntags, also dem dritten Tag, weil die natürlichen Tage am Vorabend beginnen, wenn unsere Uhren 18 Uhr geschlagen haben.
S: Aus welchem Grund erstand Christus nicht unmittelbar nach dem Tod, sondern wollte drei Tage warten?
L: Weil er zeigen wollte, dass er wirklich tot war. Er wollte so lange im Grabe bleiben, wie nötig war, um diese Wahrheit zu beweisen. Auch möchte ich, dass ihr bedenkt, dass Christus, wie er 33 oder 34 Jahre unter den Menschen lebte, so auch wenigstens 33 oder 34 Stunden unter den Verstorbenen weilen wollte, was tatsächlich so viel ergibt, wenn ihr 7 Stunden des Freitags (weil er am Freitag um 17 Uhr begraben wurde), 24 Stunden des Samstags und 2 oder 3 Stunden des Sonntags zusammenzählt, weil Christus nach Mitternacht auferstand, beim Anbruch der Morgendämmerung.<ref> "Una autem sabbati, Maria Magdalene venit mane, cum adhuc tenebrae essent, ad monumentum: et vidit lapidem sublatum a monumento" (Joh 20, 1; "Am ersten Wochentage aber kam Maria Magdalena früh, da es noch finster war, zum Grabe, und sah den Stein vom Grabe weggewälzt"). </ref>
S: Was bedeutet es, dass man von Christus sagt, er sei auferstanden, und von den anderen Toten wie Lazarus und dem Sohn der Witwe aber, sie seien auferweckt worden?
L: Der Grund ist, dass Christus, da er der Sohn Gottes ist, von sich aus auferstand, d. h. kraft seiner Gottheit die Seele wieder mit dem Leib vereint hat und so von neuem zu leben begann. Die anderen Toten dagegen können nicht aus eigener Kraft ins Leben zurückkehren. Deshalb sagt man, dass sie von anderen auferweckt wurden, so wie wir einst alle am Tag des Gerichts durch Christus auferweckt werden.
S: Gibt es noch einen anderen Unterschied zwischen der Auferstehung Christi und der der anderen, die vor ihm zum Leben zurückkehrten?
L: Es gibt den Unterschied, dass die anderen als Sterbliche auferstanden sind und deshalb noch ein zweites Mal gestorben sind. Christus dagegen war nach der Auferstehung unsterblich und kann niemals mehr sterben.<ref> "[S]cientes quod Christus resurgens ex mortuis iam non moritur, mors illi ultra non dominabitur" (Röm 6, 9; "da wir wissen, daß Christus, nachdem er von den Toten auferstanden ist, nicht mehr stirbt, der Tod nicht mehr über ihn herrschen wird"). </ref>
Erklärung des sechsten Artikels
S: Jetzt kommen wir zum sechsten Artikel, der von der Himmelfahrt handelt.
Ich möchte gern wissen, wie lange und aus welchem Grund der Herr nach der Auferstehung auf Erden weilte.
L: Er weilte hier 40 Tage, wie ihr begreifen könnt, wenn ihr die Tage zusammenzählt, die vom Osterfest, dem Fest der Auferstehung, bis zum Fest der Himmelfahrt vergehen. Der Grund dieses langen Aufenthalts war, dass Christus mit vielen und ganz unterschiedlichen Erscheinungen das Geheimnis seiner wahren Auferstehung bekräftigen wollte. Denn dieses Geheimnis ist das, was gewissermaßen am schwersten zu glauben ist, und wenn man das glaubt, hat man keine Probleme mehr, die anderen Geheimnisse auch zu glauben. Denn wer aufersteht, muss zuvor wirklich tot gewesen sein, und wer tot gewesen ist, muss zuvor auch geboren worden sein. Wer demnach die Auferstehung Christi glaubt, dem macht es keine Schwierigkeiten, auch den Tod und die Geburt zu glauben. Und wer die Auferstehung des Heilands glaubt, wird ebenso mühelos auch seine Himmelfahrt glauben, weil für verherrlichte Leiber nicht der Aufenthalt auf der Erde, sondern im Himmel angemessen ist.
S: Ich möchte gern wissen, warum man sagt, dass Christus in den Himmel aufgefahren ist, während man von seiner Mutter, der allerseligsten Jungfrau, sagt, dass sie aufgenommen wurde, und nicht, dass sie aufgefahren ist.
L: Der Grund ist einfach: weil Christus, da er Gott und Mensch war, aus eigener Kraft zum Himmel auffuhr, wie er auch aus eigener Kraft auferstanden war. Die Mutter aber, die ein Geschöpf war, wenn auch das erhabenste von allen, wurde nicht aus eigener Kraft, sondern durch die Kraft Gottes auferweckt und ins Himmelreich geführt.
S: Was bedeutet: "er sitzt zur Rechten Gottes des allmächtigen Vaters"?
L: Ihr dürft es euch nicht etwa so vorstellen, dass der Vater sich zur Linken des Sohnes befindet, oder dass der Vater sich in der Mitte befindet und im leiblichen Sinn zur Rechten den Sohn und zur Linken den Heiligen Geist hat. Denn wie der Vater, so befindet sich der Sohn seiner Gottheit nach überall, und genauso der Heilige Geist, und man kann nicht sagen, dass der eine sich im eigentlichen Sinn zur Rechten oder zur Linken des anderen befindet.<ref> Gregor von Nazianz, Oratio XXXVIII. In Theophania, sive Natalitia Salvatoris VII, in: PG 36, 309-334: "Ille autem semper est, atque hoc modo seipsum nominat, cum in monte Moysi oraculum edit [Exod. III, 14]. Universum enim id, quod est, in se complectitur, nec principium habens, nec finem habiturum, velut pelagus quoddam essentiae immensum et interminatum, omnem , turn temporis, tum naturae cogitationem superans" (318). "Jener aber ist immer. So nennt Er selbst sich denn auch, als Er Moses den Wahrspruch gibt. Denn was ist, begreift Er in Sich, ohne Anfang, ohne Ende, ein Meer an Wesen, möchte ich sagen, unermeßlich, unbegrenzt, alle Einsicht übersteigend an Zeit, Natur" (Gregor von Nazianz, Die Macht des Mysteriums. Sechs geistliche Reden an den Hochtagen der Kirche [hrsg. v. E. Severusj, Düsseldorf 1956, 23). </ref> Sich zur Rechten befinden bedeutet dagegen in diesem Artikel, die gleiche Hoheit, die gleiche Herrlichkeit und Majestät zu besitzen. Denn wer sich an der Seite eines anderen befindet, steht weder höher noch niedriger als er. Um uns aber diese Redeweise begreiflich zu machen, sagt die Heilige Schrift an einer Stelle im Psalm 109 (110), der mit den Worten beginnt "Dixit Dominus Domino meo (Es sprach der Herr zu meinem Herrn)", dass der Sohn zur Rechten des Vaters sitzt, und an einer anderen Stelle sagt sie, dass der Vater zur Rechten des Sohnes steht.<ref> Zur Verwendung von "Sitzen" und "Stehen" in der Hl. Schrift vgl. auch: Ambrosius von Mailand, Epistula ad Ecclesiam Vercellensem 5-6 (Extra collectionem 14 [Maur. 63]), in: Sancti Ambrosi Opera X / IIl. Epistularum liber deeimus; Epistulae extra collectionem; Gesta Coneili Aquileiensis (ed. M. Zelzer) (CSEL 82 / III), Wien 1982, 235-295: "Stet igitur [Sc. Christus] in medio vestrum ut aperiantur vobis caeli qui enarrant gloriam dei [Ps. 18, 2] [ ... ] Qui videt Iesum caeli ei aperiuntur, sicuti aperti sunt Stephano dicenti: Ecce video caelos apertos et Iesum stantem ad dexteram dei [Act. 7, 55 sq.]. Stabat Iesus quasi advocatus, stabat quasi sollicitus ut Stephanum athletam suum certantem iuvaret, stabat quasi paratus ut coronaret suum martyrem. Stet igitur et vobis ut eum non timeatis sedentem; sedens enim iudicat sicut Danihel dicit: Throni positi sunt et libri aperti sunt et antiquus dierum sedit [Dan. 7, 9sq.]. In octogesimo autem prima psalmo scripturn est: Deus stetit in congregatione deorum, in medio autem deos diiudicat [Ps. 81, 1]. Sedens igitur iudicat, stans diiudicat, et iudicat de imperfectis, inter deos autem diiudicat. Stet vobis ut defensor" (237-238). "Er [Sc. Christus] stehe in eurer Mitte, damit euch die Himmel aufgetan werden, die die Herrlichkeit Gottes künden [Ps 18, 2] [ ... ] Wer Jesus sieht, dem tun sich die Himmel auf, wie sie sich Stephanus aufgetan haben, der sprach: Siehe, ich sehe die Himmel offen und Jesus, der zur Rechten Gottes steht [Apg 7, 55 f.]. Jesus stand da als Anwalt, er stand da, besorgt darum, Stephanus, seinem Athleten, im Kampf beizustehen, er stand da, bereit, seinen Märtyrer zu krönen. Er stehe also auch für euch da, damit ihr ihn nicht als Sitzenden fürchtet; denn im Sitzen richtet er, wie Daniel sagt: Throne wurden aufgestellt und Bücher geöffnet, und der Altbetagte setzte sich [Dan 7, 9 f.]. Im 81. Psalm aber steht geschrieben: Gott steht in der Versammlung der Götter, in der Mitte aber entscheidet er über die Götter [Ps 81, 1]. Im Sitzen also richtet er, im Stehen entscheidet er, er richtet über die Unvollkommenen, er entscheidet aber zwischen den Göttern. Möge er für euch als Verteidiger stehen." </ref> Damit will sie uns begreiflich machen, dass sie den gleichen hohen Rang innehaben, wie wir es gesagt haben. Als Christus in den Himmel auffuhr, stieg er somit über alle Chöre und Ordnungen der Engel sowie der heiligen Seelen, die er mit sich führte, empor und gelangte zum hoch erhabenen Thron Gottes. Dort blieb er und stieg nicht etwa über den Vater hinaus oder blieb unter ihm, sondern setzte sich ihm sozusagen zur Seite, ihm gleich an Herrlichkeit und Hoheit.
S: Da Christus Gott und Mensch ist, möchte ich gern wissen, ob er nur als Gott zur Rechten des Vaters sitzt oder auch als Mensch.
L: Christus ist als Gott dem Vater gleich und als Mensch geringer als der Vater. Weil aber Christus als Gott und Mensch keine zwei Christus oder zwei Personen ist, sondern nur ein Christus und nur eine Person, deshalb sagen wir, dass Christus als Gott und Mensch zur Rechten des Vaters sitzt. So befindet sich die Menschheit des Herrn, d. h. sein Fleisch und seine Seele, auf dem Thron Gottes zur Rechten Gottes, des Vaters, nicht weil sie dessen würdig wäre, sondern weil sie verbunden ist mit der Person des wahren Sohnes Gottes, der der Natur des Vaters entstammt.
S: Ich möchte gern ein Gleichnis, um das zu verstehen.
L: Stellt euch zum Vergleich den königlichen Purpur vor. Wenn ein König mit dem Purpur angetan auf seinem Königsthron sitzt und alle Fürsten des Reiches tiefer als er sitzen, dann befindet sich der Purpur des Königs an einem hervorragenderen Platz als die genannten Fürsten, weil er sich auf dem Thronsessel des Königs selbst befindet. Dies geschieht aber nicht deshalb, weil der Purpur die gleiche Würde wie der König hat, sondern weil er mit dem König verbunden ist als sein ihm eigentümliches Gewand. So also sitzt auch das Fleisch und die Seele Christi über allen Cherubim und Seraphim auf dem Thron Gottes selbst, nicht wegen der Würde ihrer Natur, sondern wegen der Vereinigung mit Gott. Und diese Verbindung ist nicht etwa nur wie bei dem König und seinem Gewand, sondern sehr viel enger. Sie besteht nämlich in der Einheit der Person, wie bereits gesagt wurde.
Erklärung des siebten Artikels
S: "Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten." Wann wird dieses Kommen des Herrn sein?
L: Es wird am Ende der Welt sein.<ref> Vgl. Mt 24. </ref> Darum muss man wissen, dass diese Welt ein Ende haben und in einer Feuerflut untergehen muss, die alles, was auf der Erde ist, verbrennen wird.<ref> Vgl. 2 Petr 3, besonders: "Adveniet autem dies Domini ut fur: in quo caeli magno impetu transient, elementa vero calore solventur, terra autem et quae in ipsa sunt opera, exurentur" (2 Petr 3, 10; "Es wird aber der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb; da werden die Himmel mit großem Krachen vergehen, die Elemente vor Hitze zerschmelzen, und die Erde samt den Werken auf ihr verbrennen"). </ref> Dann wird es keine Tage und Nächte mehr geben, keine Hochzeiten, keinen Handel oder sonst irgendetwas von dem, was ihr jetzt seht. So wird am letzten Tag dieser Welt, dem "Jüngsten Tag", von dem niemand wissen kann, wie nahe oder fern er ist,<ref> "De die autem illo, vel hora nemo scit, neque angeli in caelo, neque Filius, nisi Pater. Videte, vigilate, et orate: nescitis enim quando tempus sit [ ... ] Vigilate ergo, (nescitis enim quando dominus domus veniat: sero an media nocte, an galli cantu, an mane) ne cum venerit repente, inveniat vos dormientes" (Mk 13, 32-33. 35-36; "Denselben Tag aber, und die Stunde weiß niemand, weder die Engel im Himmel, noch der Sohn, sondern der Vater. Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist [ ... ] Seid also wachsam (denn ihr wisset nicht, wann der Herr des Hauses kommt: abends oder um Mitternacht, beim Hahnengeschrei oder morgens); damit er, wenn er ganz unerwartet käme, euch nicht schlafend finde"). </ref> Christus vom Himmel kommen, um das Allgemeine Gericht, das Weltgericht, zu halten. Diese Worte aber "von dort wird er kommen" mahnen uns, keinem zu glauben, der behauptet, Christus zu sein, und uns betrügen will, so wie es der Antichrist am Ende der Welt machen wird. Der wahre Christus wird nämlich nicht aus irgendeinem Wald oder einem unbekannten Ort kommen, sondern vom höchsten Himmel mit so großer Herrlichkeit und Majestät, dass niemand mehr im Zweifel sein können wird, ob er es ist oder nicht. Es ist, wie wenn die Sonne aufgeht: Sie erscheint mit einer so großen Helligkeit, dass niemand im Zweifeln sein kann, ob es die Sonne ist oder nicht.
S: Warum sagen wir, dass er die Lebenden und die Toten richten wird? Sind denn dann nicht alle Menschen gestorben und auch alle wieder auferstanden?
L: Unter Lebenden und Toten kann man die Guten, welche dem Geist nach durch die Gnade lebendig sind, und die Bösen, die wegen der Sünde geistigerweise tot sind, verstehen. Aber es ist auch wahr, dass Christus kommen wird, die zu richten, die hinsichtlich des Leibes lebendig sind und die hinsichtlich des Leibes tot sind. Denn an jenem Tag wird es viele geben, die bereits gestorben sind, aber auch viele, die noch am Leben sind. Obwohl die letzteren an jenem letzten Tag am Leben sein werden, darunter manche Jugendliche oder Kinder, werden sie doch alle in einem Augenblick sterben und sofort auferstehen, damit auch sie die Todesschuld bezahlen.<ref> Aurelius Augustinus, De civitate Dei XX, 20, in: Sancti Aurelii Augustini De civitate Dei. Libri XI-XXII (edd. B. Dombart / A. Kalb) (CCL 48), Turnhout 1955: "Ad hunc autem sensum, quo existimemus etiam illos, quos hic vivos inventurus est Dominus, in ipso paruo spatio et passuros mortem et accepturos inmortalitatem, ipse apostolus nos videtur urgere, ubi dicit: In Christo omnes vivificabuntur (1. Cor. 15, 22); cum alio loco de ipsa loquens resurrectione corporum dicat: Tu quod seminas, non vivificatur, nisi moriatur (Ib. 36). Quo modo igitur, quos viventes hic Christus inveniet, per inmortalitatem in illo vivificabuntur, etsi non moriantur, cum videamus propter hoc esse dictum: Tu quod seminas, non vivificatur, nisi moriatur?" (734). "Zu dieser hier vertretenen Auffassung, daß auch diejenigen, die der Herr lebend antrifft, in jenem kurzen Zeitraum den Tod erleiden und die Unsterblichkeit erlangen werden, scheint uns der Apostel selbst zu nötigen. Denn er sagt: ,In Christus werden alle lebendig gemacht werden', während er an anderer Stelle, wo ausdrücklich von der leiblichen Auferstehung die Rede ist, spricht: ,Was du säst, wird nicht lebendig, es sterbe denn.' Wie sollten also wohl diejenigen, die Christus hier lebend antreffen wird, durch Verleihung von Unsterblichkeit in ihm belebt werden, ohne erst zu sterben, wenn doch gerade mit Bezug hierauf gesagt ward: ,Was du säst, wird nicht lebendig, es sterbe denn'?" (Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat [De civitate dei). Buch 11 bis 22. Vollständige Ausgabe der Bücher 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München sup>21978, 637). </ref>
S: Ich habe aber doch schon oft gehört, dass derjenige, der in Todsünde stirbt, sofort in die Hölle kommt, und dass derjenige, der in der Gnade Gottes stirbt, sofort in das Fegfeuer oder in dem Himmel kommt. Wenn also das Urteil schon gesprochen ist, wieso müssen dann alle noch gerichtet werden?
L: Beim Tod eines jeden erfolgt das besondere Gericht über diese Seele, die eben den Leib verlässt. Am Jüngsten Tag aber wird dann ein allgemeines Gericht Über die ganze Welt gehalten, und dies aus mehreren Gründen. Erstens wegen der Ehre Gottes: Jetzt sehen viele, dass es den Bösen gut geht, den Guten aber schlecht, und so denken sie, dass Gott die Welt schlecht regiert. Dann aber wird man klar erkennen, dass Gott sehr wohl alles gesehen und bemerkt hat und dass er in seiner großen Gerechtigkeit den Bösen ein gewisses Wohlergehen auf Zeit gegeben hat, um sie für ihre wenigen guten Werke von geringer Bedeutung zu belohnen, weil er ihnen danach für ihre Todsünden die ewige Strafe geben musste. Umgekehrt hat er den Guten eine auf Erden vorübergehende Bedrängnis gegeben, um sie für einige lässliche Sünden zu bestrafen oder um ihnen eine Gelegenheit zur Buße zu geben, weil er sie danach mit einem unendlichen Schatz an Herrlichkeit für ihre guten Werke reich belohnen musste. Zweitens wegen der Ehre Christi; Er war zu Unrecht verurteilt worden und von vielen nicht erkannt und nicht so geehrt worden, wie es ihm zukam. Darum war es recht, dass ein Tag kommen sollte, an dem die ganze Welt ihn erkennen und als wahren König und Herrn des Weltalls ehren wird, sei es gezwungenermaßen oder sei es aus Liebe. Drittens wegen der Ehre der Heiligen: Alle sollen sehen, wie Gott die, die in der Welt verfolgt und gequält worden sind, verherrlicht hat. Viertens zur Beschämung der stolzen Feinde Gottes. Fünftens damit der Leib zusammen mit der Seele seinen Urteilsspruch erhalte: entweder Seligkeit oder Strafe.
Erklärung des achten Artikels
S: Der achte Artikel lautet: "Ich glaube an den Heiligen Geist." Was bedeutet "Heiliger Geist"?
L: Hier wird die dritte Person der allerheiligsten Dreifaltigkeit erklärt, so wie im ersten die erste Person und in den folgenden sechs die zweite Person. So ist also der Heilige Geist weder Vater noch Sohn, sondern eine dritte Person, die aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht und wie der Vater und der Sohn wahrer Gott ist. Ja, sie ist derselbe Gott, weil sie dieselbe Gottheit hat, die auch im Vater und im Sohn ist.
S: Ich möchte dafür gern ein Gleichnis.
L: Göttliches kann man nicht vollkommen mit Vergleichen aus dem geschöpflichen Bereich, vor allem nicht anhand von körperlichen Dingen, erklären. Stellt euch trotzdem zum Vergleich einen See vor, der von einem Fluss hervorgebracht wird. Der Fluss wiederum wird von einer Quelle hervorgebracht, und doch ist alles dasselbe Wasser. So bringt also der ewige Vater wie eine Quelle den Sohn wie einen Fluss hervor, und der Vater und der Sohn bringen wie Quelle und Fluss den Heiligen Geist wie einen See hervor. Dennoch sind Vater, Sohn und Heiliger Geist nicht drei Götter, sondern ein einziger Gott.
S: Warum wird die dritte Person der allerheiligsten Dreifaltigkeit "Heiliger Geist" genannt? Sind nicht auch alle Engel und alle Seelen der Heiligen Geister und heilig?
L: Gott heißt im eigentlichen Sinn des Wortes Heiliger Geist, weil er der erhabenste Geist ist und die größte Heiligkeit besitzt und weil er der Urheber aller geschaffener Geister und aller Heiligkeit ist. Es gibt unter den Menschen viele, die durch ihr Amt oder durch ihr vorbildliches Leben Väter und heilig sind, wie etwa viele fromme Bischöfe, Priester oder Ordensgeistliche. Trotzdem nennt man nur den Papst "Heiliger Vater", weil nur ihm dieser Name im eigentlichen Sinn des Wortes zukommt, da er das Haupt aller anderen Väter ist und weil er durch sein vorbildliches Leben der heiligste von allen sein muss, so wie er es durch sein Amt ist, weil er die Stelle der Person Christi vertritt.
S: Wenn der Name "Heiliger Geist" Gott im eigentlichen Sinn des Wortes zukommt, warum nennt man dann nur die dritte Person so? Sind denn nicht auch der Vater und der Sohn im eigentlichen Sinn des Wortes Geist und heilig?
L: So ist es. Aber weil die erste Person einen Eigennamen hat, nämlich Vater, und auch die zweite einen Eigennamen hat, nämlich Sohn, so ist für die dritte Person der gemeinsame Name geblieben, um sie von den anderen beiden zu unterscheiden. Außerdem müsst ihr wissen, dass, wenn man die dritte Person Heiliger Geist nennt, diese beiden Worte einen einzigen Namen bilden, so wie wenn ein Mann Johannes Maria heißt, diese zwei Worte Johannes Maria einen einzigen Namen bilden, während sie sonst für gewöhnlich zwei Namen sind, nämlich Johannes und Maria.
S: Was bedeutet es, dass der Heilige Geist in Gestalt einer Taube dargestellt wird, vor allem über Christus und über der Mutter Gottes?
L: Ihr dürft nicht denken, dass der Heilige Geist einen Leib hat, den man mit den leiblichen Augen sehen kann, sondern man stellt ihn so dar, damit wir verstehen, welche Wirkungen er in den Menschen hervorbringt. Und weil die Taube einfältig, rein, voll aufopfernder Fürsorge und fruchtbar ist, stellt man sie über Christus und über der Mutter Gottes dar. Dadurch sollen wir verstehen, dass Christus und die Mutter Gottes voll von allen Gnaden und allen Gaben des Heiligen Geistes waren, besonders von heiliger Einfalt, von Reinheit, Seeleneifer und von geistlicher Fruchtbarkeit, durch die sie unzählige Kinder erhalten haben, nämlich alle Gläubigen und frommen Christen.
S: Was bedeutet es, dass über den Aposteln der Heilige Geist in Form einer Feuerzunge dargestellt wird?
L: Weil der Heilige Geist zehn Tage nach der Himmelfahrt des Herrn über die Apostel kam und sie mit Wissen, Liebe und Redegabe erfüllte. Dabei lehrte er sie, in allen Sprachen zu sprechen, damit sie den heiligen Glauben in der ganzen Welt predigen konnten. Zum Zeichen dieser wunderbaren Wirkungen aber ließ er jene Feuerzungen erscheinen, denn das Licht dieses Feuers ist ein Sinnbild für die Weisheit, seine Glut für die Liebe und die Form einer Zunge für die Redegabe. Weil Gott damit der Kirche eine unschätzbare Wohltat erwiesen hat, feiert man jenes große Fest, das Pfingsten oder Fest des Heiligen Geistes heißt.
Erklärung des neunten Artikels
S: Was bedeutet das, was man im neunten Artikel sagt: "die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen"?
L: Hier beginnt der zweite Teil des Glaubensbekenntnisses, denn der erste Teil handelt von Gott und der zweite von der Kirche, der Braut Gottes. Und wie wir in Gott eine Gottheit und drei Personen glauben, so glauben wir bei der Kirche, dass sie eine einzige Kirche ist und dass sie drei ganz kostbare Güter besitzt: das erste für die Seele, nämlich die Vergebung der Sünden, das zweite für den Leib, das in der Auferstehung des Fleisches bestehen wird, und das dritte für die Seele und den Leib zusammen, was das ewige Leben sein wird, wie wir in den folgenden Artikeln sehen werden.
S: Erklären Sie mir bitte Wort für Wort den ganzen Artikel! Was bedeutet zunächst "Kirche"?
L: Das Wort bedeutet Versammlung und Vereinigung von Menschen, die sich taufen lassen und sich zum Glauben und Gesetz Christi bekennen im Gehorsam gegenüber dem Heiligen Vater in Rom. Die Kirche heißt Versammlung, weil wir zwar als Italiener, Franzosen oder Angehörige sonst irgendeines Landes geboren werden, nicht aber als Christen. Statt dessen werden wir von Gott berufen und treten mittels der Taufe, die sozusagen die Tür zur Kirche ist, in diese Vereinigung ein. Es genügt aber nicht, getauft zu sein, um in der Kirche zu sein. Man muss auch glauben und sich zum heiligen Glauben und zum Gesetz Christi bekennen, so wie es uns die Hirten und Prediger der Kirche lehren. Doch auch das genügt noch nicht, sondern man muss sich im Gehorsam gegenüber dem Heiligen Vater in Rom als dem Stellvertreter Christi befinden, d. h. ihn als höchstes Oberhaupt an der Stelle Christi anerkennen und ihn dafür halten.
S: Wenn die Kirche also eine Vereinigung von Menschen ist, warum verwenden wir dann das Wort "Kirche" für die Gebäude, in denen die Heilige Messe und das Stundengebet gehalten wird?
L: Weil die Gläubigen, die die eigentliche Kirche sind, in diesen Gebäuden zusammenkommen, um den christlichen Gottesdienst abzuhalten. Darum heißen diese Gebäude ebenfalls Kirchen, vor allem wenn sie der Verehrung Gottes eigens geweiht und konsekriert sind. In diesem Artikel des Glaubensbekenntnisses sprechen wir aber nicht von den Kirchen, die aus Stein und Holz gebaut sind, sondern von der lebendigen Kirche, also den getauften und dem Stellvertreter Christi gehorsamen Gläubigen, wie ich bereits sagte.
S: Warum heißt es "die Kirche" und nicht "die Kirchen", wo es doch viele solche Versammlungen von Gläubigen in den verschiedenen Teilen der Welt gibt?
L: Weil die Kirche nur eine einzige ist, auch wenn sie alle Gläubigen, die in der ganzen Welt zerstreut sind, umfasst, und zwar nicht nur diejenigen, die jetzt leben, sondern auch diejenigen, die seit Anbeginn der Welt gelebt haben, und diejenigen, die bis zum Ende der Welt noch leben werden. Darum heißt sie nicht nur die eine Kirche, sondern auch noch die katholische, d. h. die allumfassende Kirche, weil sie sich auf alle Orte und alle Zeiten erstreckt.
S: Aus welchem Grund wird von der Kirche gesagt, sie sei eine einzige, wenn sie doch eine so große Menge von Menschen umfasst?
L: Sie ist eine einzige, weil sie ein einziges Haupt hat, nämlich Christus, und an seiner Stelle den Heiligen Vater in Rom, und auch weil sie von ein und demselben Geist belebt wird und ein und dasselbe Gesetz hat. Ebenso sagt man ja auch von einem Reich, es sei ein einziges, weil es einen einzigen König und ein und dasselbe Gesetz hat, obwohl es in diesem Reich viele Provinzen und noch mehr Städte und Ortschaften gibt.
S: Warum sagt man, dass diese Kirche heilig ist, wo es doch in ihr viele böse Menschen gibt?
L: Aus drei Gründen heißt sie heilig. Erstens weil ihr Haupt, nämlich Christus, ganz heilig ist. Man sagt ja auch von jemandem, der ein schönes Gesicht hat, er sei ein schöner Mensch, selbst wenn er einen verkrümmten Finger oder irgendeinen Makel an Brust oder Rücken hat. Zweitens weil alle Gläubigen aufgrund des Glaubens und des Bekenntnisses heilig sind. Denn sie haben einen ganz wahren Glauben, der von Gott stammt, und bekennen sich zu ganz heiligen Sakramenten und zu einem ganz gerechten Gesetz, das nichts fordert, außer was gut ist, und nichts verbietet, außer was böse ist. Drittens weil es in der Kirche zu jeder Zeit einige wirkliche Heilige gibt, nicht nur aufgrund von Glaube und Bekenntnis, sondern auch hinsichtlich Tugend und Sitten, während es bei Juden, Muslimen, Häretikern und ähnlichen Leuten, die außerhalb der Kirche sind, keine wirklich Heiligen geben kann.
S: Was bedeutet "Gemeinschaft der Heiligen"?
L: Es bedeutet, dass der Leib der heiligen Kirche derart geeint ist, dass am Gut eines Gliedes alle anderen Anteil haben.<ref> "Particeps ego sum omnium timentium te: et custodientium mandata tua" (Ps 118, 63; "Ich nehme teil an allen, die dich fürchten, und deine Gebote beobachten").
"Sicut enim in uno corpore multa membra habemus, omnia autem membra non eumdem actum habent: ita multi unum corpus sumus in Christo, singuli autem alter alterius membra" (Röm 12, 4-5; "Denn gleichwie wir an einem Leibe viele Glieder haben, alle Glieder aber nicht dieselbe Verrichtung haben, so sind wir viele ein Leib in Christo, einzeln aber untereinander Glieder"). </ref> So kommt es, dass, obwohl viele in fernen Ländern sind und wir sie nicht kennen, auch uns ihre Messen, Gebete, Stundengebet und anderen guten Werke nützen. Diese Gemeinschaft gibt es nicht nur hier auf Erden, sondern unsere Messen, Gebete und guten Werke helfen auch denen im Fegfeuer, und die Gebete derer, die im Paradies sind, helfen uns und den Seelen im Fegfeuer.
S: Wenn das so ist, dann braucht man doch keine Gebete für jemand Bestimmtes zu verrichten noch die Messe für diese oder jene Seele im Fegfeuer lesen zu lassen, weil doch alles allen gemeinsam zugute kommt.
L: So ist es nicht. Die Messe, das Gebet und die anderen guten Werke gehören zwar in gewisser Weise allen, aber sie nützen dennoch denen, für die man sie verrichtet, in viel größerem Maß als den anderen.
S: Und was ist mit den Exkommunizierten? Haben auch sie an den Gütern der Gläubigen Anteil oder nicht?
L: Sie heißen deshalb Exkommunizierte, weil sie nicht in der Gemeinschaft der Heiligen stehen und wie vom Baum abgeschnitten oder wie vom Leib abgetrennte Glieder sind, die nicht an dem guten Saft Anteil haben, der die anderen Äste oder die mit dem Leib verbundenen Glieder durchfließt. Daran erkennt ihr, was für eine schwerwiegende Sache die Exkommunikation ist: Denn der kann Gott nicht zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat.<ref> Cyprian von Karthago, De catholicae ecclesiae unitate 6, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 207-233: "habere non potest Deum patrem qui ecclesiam non habet matrern" (214). "Gott kann der nicht mehr zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat" (BKV2 34, 138). </ref>
S: Dann befinden sich die Exkommunizierten wie die Juden und die anderen Ungläubigen außerhalb der Kirche?
L: Ja, so ist es. Es gibt freilich den Unterschied, dass die Juden und die Muslime außerhalb der Kirche sind, weil sie die heilige Taufe nicht empfangen haben und so nicht in sie eingetreten sind. Die Häretiker, die getauft sind, den Glauben jedoch verloren haben, sind außerhalb, weil sie die Kirche verlassen haben und von sich aus davongelaufen sind. Deshalb setzt ihnen die Kirche auch mit verschiedenen Strafen zu, damit sie zum heiligen Glauben zurückkehren. Es ist wie bei einem Schaf, das von der Herde weggelaufen ist und das der Hirte dann mit dem Stock zurücktreibt. Die Exkommunizierten dagegen haben den Glauben und die Taufe und sind somit in die Kirche hineingegangen, und sie verlassen sie auch nicht von selbst wieder, sondern sie werden mit Gewalt davongejagt, so wie manchmal ein Hirt ein räudiges Schaf davonjagt und es den Wölfen zur Beute überlässt.<ref> S. Eusebius Hieronymus, Commentarius in Epistolam ad Titum, in: PL 26, 589-636: "Propterea vero a semetipso dicitur esse damnatus: quia fornicator, adulter, homicida, et caetera vitia, per sacerdotes de Ecclesia propelluntur. Haeretici autem in semetipsos sententiam fuerunt, suo arbitrio de Ecclesia recedentes: quae recessio propriae conscientiae videtur esse damnatio" (633; Auslegung von Tit 3, 10-11). "Man nennt ihn aber deshalb einen, der von sich selbst verurteilt wurde, weil der Unzüchtige, der Ehebrecher, der Mörder und jeder andere Lasterhafte durch die Priester aus der Kirche vertrieben wird. Die Irrlehrer jedoch haben sich selbst das Urteil gesprochen, indem sie aus freien Stücken die Kirche verlassen haben. Dieser Austritt ist offensichtlich die Verurteilung durch das eigene Gewissen." </ref> Aber die Kirche jagt die Exkommunizierten nicht davon, damit sie für immer draußen bleiben. Sondern sie sollen ihren Ungehorsam bereuen und demütig darum bitten, zurückkehren zu dürfen, um von neuem in den mütterlichen Schoß der Kirche und in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen zu werden.
Erklärung des zehnten Artikels
S: Was versteht man unter "Vergebung der Sünden", dem zehnten Artikel?
L: Das ist das erste dieser drei kostbarsten Güter, die es in der Kirche gibt.
Dazu muss man wissen, dass alle Menschen als Sünder und Feinde Gottes geboren werden und dass sie, wenn sie dann aufwachsen, immer schlimmer werden, solange ihnen nicht durch die Gnade Gottes die Sünde vergeben wird und sie dazu gelangen, Freunde und Kinder Gottes zu werden. Nun findet sich diese so große Gnade aber nirgendwo als allein in der heiligen Kirche, in der es die heiligen Sakramente, vor allem die Taufe und die Buße, gibt,<ref> "[S]ecundum suam misericordiam salvos nos fecit per lavacrum regenerationis, et renovationis Spiritus sancti, quem effudit in nos abunde per Iesum Christum Salvatorem nostrum: ut iustificati gratia ipsius, heredes simus secundum spem vitae aternae" (Tit 3, 5-7; "[ ... ] hat er [ ... ] nach seiner Barmherzigkeit uns gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung des Heiligen Geistes, welchen er reichlich auf uns ausgegossen hat durch Jesum Christum, unsern Heiland, daß wir gerechtfertigt durch seine Gnade Erben würden nach der Hoffnung des ewigen Lebens").
"[S]icut et Christus dilexit Ecclesiam, et seipsum tradidit pro ea, ut illam sanctificaret, mundans lavacro aquae in verba vitae, ut exhiberet ipse sibi gloriosam Ecclesiam, non habentem maculam, aut rugam, aut aliquid huiusmodi, sed ut sit sancta et immaeulata" (Eph 5, 25-27; "Männer! liebet eure Weiber, wie auch Christus die Kirche geliebt, und sich selbst für sie hingegeben hat, um sie zu heiligen, und zu reinigen in der Wassertaufe durch das Wort des Lebens, um selbst herrlich die Kirche sich darzustellen, ohne Makel, ohne Runzel, oder etwas dergleichen, sondern daß sie heilig und unbefleckt sei"). </ref> die als himmlische Arznei die Menschen von allen Krankheiten der Seele, den Sünden, heilen.
S: Ich möchte gern, dass Sie mir ein wenig genauer erklären, was für ein Schatz diese Vergebung der Sünden ist.
L: Auf der Welt gibt es kein größeres Übel als die Sünde, nicht nur weil aus ihr alle anderen Übel in diesem und im jenseitigen Leben entspringen, sondern auch, weil die Sünde den Menschen zu einem Feind Gottes macht. Was aber kann es Schlimmeres geben, als ein Feind dessen zu sein, der alles tun kann, was er will, und dem niemand Widerstand leisten kann? Wer wird den verteidigen können, dem Gott zürnt? Und umgekehrt kann man in diesem Leben kein größeres Gut finden, als in der Gnade Gottes zu sein. Denn wer wird dem schaden können, den Gott verteidigt, wo doch alles in Gottes eigener Hand ist? Ihr wisst ja, dass überhaupt unter allen leiblichen Gütern das Leben am meisten geschätzt wird, weil es die Grundlage aller anderen Güter ist, und dass der Tod am meisten verabscheut wird, weil er das Gegenteil des Lebens ist. Weil nun die Sünde der geistige Tod der Seele ist, die Vergebung der Sünden aber das Leben derselben Seele, so könnt ihr euch leicht vorstellen, was für ein großes Gut die Kirche besitzt, indem es allein in ihr die Vergebung der Sünden gibt.
Erklärung des elften Artikels
S: Was versteht man unter "der Auferstehung des Fleisches", dem elften Artikel?
L: Dies ist das zweite der kostbarsten Güter der heiligen Kirche, nämlich dass am Jüngsten Tag alle, die die Vergebung der Sünden erhalten haben, wieder lebendig werden.
S: Die anderen aber, die außerhalb der Kirche sind oder die die Vergebung der Sünden nicht erlangt haben, werden jene nicht wieder lebendig werden?
L: Was das natürliche Leben angeht, werden alle wieder lebendig werden,<ref> Vgl. 1 Kor 15, besonders: "Et sicut in Adam omnes moriuntur, ita et in Christo omnes vivificabuntur" (1 Kor 15, 22; "Und gleichwie in Adam alle sterben, so werden auch in Christo alle lebendig gemacht werden"); "Omnes quidem resurgemus, sed non omnes immutabimur" (1 Kor 15, 51; "Wir werden zwar alle auferstehen, aber wir werden nicht alle verwandelt werden").
Ambrosius v. Mailand, De excessu fratris sui Satyri liber secundus 91.93, in: PL 16, 1315-1354: "Primitiae ergo quiescentium Christus. Sed utrum suorum quiescentium, qui quasi mortis exsortes dulci quodam sopore tenentur, an omnium mortuorum? Sed sicut in Adam omnes moriuntur, ita et in Christo omnes vivificabuntur (1 Cor. XV, 22) [ ... ] Omnes nascimur, omnes resurgemus: sed in utroque vel vivendi, vel reviviscendi gratia dispar, diversa conditio" (1341). "Der Erstling der Entschlafenen ist Christus. Aller Entschlafenen? Gewiß; ,denn wie in Adam Alle sterben, so werden auch in Christo Alle wieder lebendig gemacht.' [1. Kor. 15, 21] [ ... ] Wie wir Alle gleiche Geburt haben, so werden wir auch Alle auferstehen: wie aber im Leben Gnade und Verhalten verschieden ist, so auch in der Auferstehung" (Ausgewählte Schriften des heiligen Ambrosius 1 (übers. v. F. X. Schulte] [BKVj, Kempten 1871, 401-402). </ref> die Guten ebenso wie die Bösen. Weil aber die Auferstehung der Bösen dazu erfolgen wird, dass sie für immer Qualen erleiden, nicht aber, damit sie irgendein Gut erlangen, so muss man ihr Leben eher einen ständigen Tod nennen statt wahres Leben. So wird die wahre Auferstehung, d. h. das erstrebenswerte Leben, nur für die Guten sein, die ohne Sünde angetroffen werden.
S: Ich möchte gern wissen, ob genau diese Leiber, die wir jetzt haben, auferstehen werden oder andere, ihnen ähnliche?
L: Ohne Zweifel werden genau diese Leiber auferstehen,<ref> "Scio enim quod Redemptor meus vivit, et in novissimo die de terra surrecturus sum: Et rursum circumdabor pelle mea, et in carne mea videbo Deum meum. Quem visurus sum ego ipse, et oculi mei conspecturi sunt, et non alius" (Ijob 19, 25-27; "Denn ich weiß, daß mein Erlöser lebt und ich werde am jüngsten Tage von der Erde auferstehen; und werde wieder umgeben werden mit meiner Haut, und werde in meinem Fleische meinen Gott schauen. Ich selbst werde ihn sehen, und meine Augen werden ihn anschauen, und kein anderer"). </ref> weil es sonst keine wahre Auferstehung wäre, wenn nicht genau das, was hingesunken ist, auferstehen würde, und nicht genau das, was gestorben ist, wieder lebendig würde. Zudem wird es die Auferstehung geben, damit der Leib am Lohn oder an der Strafe teilnimmt, so wie er an den guten Werken oder an den Sünden beteiligt war. Darum muss es derselbe Leib sein, weil ein anderer weder Strafe noch Lohn verdient hätte.
S: Wie ist es möglich, dass das wieder lebendig wird, was verbrannt worden ist und dessen Asche in den Wind gestreut oder in den Fluss geworfen worden ist?
L: Aus dem Grund heißt es am Anfang des Glaubensbekenntnisses, dass Gott allmächtig ist, weil er das tun kann, was uns unmöglich erscheint. Wenn ihr aber bedenkt, dass Gott den Himmel und die Erde aus nichts gemacht hat, dann wird es euch auch nicht schwerfallen zu glauben, dass er dasjenige wieder in sein früheres Dasein rufen kann, was zu Asche geworden ist.<ref> Aurelius Augustinus, De civitate Dei XXII, 20, in: Sancti Aurelii Augustini De civitate Dei. Libri XI-XXII (edd. B. Dombart / A. Kalb) (CCL 48), Turnhout 1955: "Absit autem, ut ad resuscitanda corpora vitaeque reddenda non possit omnipotentia Creatoris omnia revocare, quae vel bestiae vel ignis absumpsit, vel in puluerem cineremue conlapsum uel in umorem solutum uel in auras est exhalatum. Absit ut sinus ullus secretumque naturae ita recipiat aliquid subtractum sensibus nostris, ut omnium Creatoris aut cognitionem lateat aut effugiat potestatem" (839-840). "Kein Gedanke, daß des Schöpfers Allmacht nicht zur Auferweckung und Neubelebung der Leiber all das zurückrufen könnte, was wilde Tiere oder Feuer verzehrt haben, was in Staub oder Asche zerfallen ist, sich in Wasser aufgelöst oder in die Lüfte verflüchtigt hat. Kein Gedanke, daß ein Winkel oder Versteck der Natur irgend etwas, das unserer Wahrnehmung entgeht, den Blicken des Schöpfers verbergen oder seiner Allmacht entrücken könnte" (Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat [De civitate dei]. Buch 11 bis 22. Vollständige Ausgabe der Bücher 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München sup>21978, 798). </ref>
S: Ich möchte gern wissen, ob die Männer wieder Männer und die Frauen wieder Frauen sein werden oder ob alle in einer einzigen Weise existieren werden?
L: Für den Glauben ergibt es sich zwangsläufig, dass die Männer Männer und die Frauen Frauen sein werden,<ref> Aurelius Augustinus, De civitate Dei XXII, 17, in: Sancti Aurelii Augustini De civitate Dei. Libri XI-XXII (edd. B. Dombart / A. Kalb) (CCL 48), Turnhout 1955: "Sed mihi melius sapere videntur, qui utrumque sexum resurrecturum esse non dubitant. Non enim libido ibi erit, quae confusionis est causa. Nam priusquam peccassent, nudi erant, et non confundebantur vir et femina. Corporibus ergo illis vitia detrahentur, natura servabitur [ ... ] Qui ergo utrumque sexum instituit, utrumque restituet" (835-836). "Doch mir scheinen einsichtiger zu sein, die nicht daran zweifeln, daß beide Geschlechter auferstehen werden. Denn dann gibt es keine Begehrlichkeit mehr, also auch keinen Grund zur Scham. Vor dem Sündenfall waren nämlich Mann und Weib nackt und schämten sich nicht. Jenen Leibern wird also die Gebrechlichkeit abgestreift werden, aber die Natur bleibt [ ... ] Er, der beide Geschlechter schuf, wird also auch beide wiederherstellen" (Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat [De civitate dei]. Buch 11 bis 22. Vollständige Ausgabe der Bücher 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München sup>21978, 791-792). </ref> weil es sonst nicht dieselben Leiber wären wie vorher. Und dass es dieselben sein müssen, habe ich euch ja schon gesagt. Wenn auch im anderen Leben keine Kinder mehr gezeugt werden und es weder Ehemann noch Ehefrau geben wird, wird es doch die Verschiedenheit von Mann und Frau geben, damit jeder den Lohn für die besonderen Tugenden, die er gerade als Mann oder als Frau ausgeübt hat, genießt. Und wie im Paradies die Herrlichkeit der Märtyrer und der Bekenner einen schönen Anblick bieten wird, so wird es ebenfalls schön sein, die Herrlichkeit der Jungfrauen und ganz besonders der Mutter des Herrn zu schauen.
S: Ich möchte gern, dass Sie mir sagen, in welchem Alter und in welcher Gestalt sie auferstehen werden, da doch einige als Kinder, andere als Jugendliche und wieder andere als Alte sterben.
L: Alle werden in der Gestalt und in dem Zustand auferstehen, welchen sie im Alter von 33 Jahren, in dem unser Herr auferstanden ist, gehabt haben oder gehabt hätten.<ref> Aurelius Augustinus, De civitate Dei XXII, 15, in: Sancti Aurelii Augustini De civitate Dei. Libri XI-XXII (edd. B. Dombart / A. Kalb) (CCL 48), Turnhout 1955: "Restat ergo, ut suam recipiat quisque mensuram, quam vel habuit in iuuentute, etiamsi senex est mortuus, vel fuerat habiturus, si est ante defunctus, atque illud, quod commemorauit apostolus de mensura aetatis plenitudinis Christi, [ ... ] laut], si hoc de resurrectione corporum dictum est, sic accipiamus dictum, ut nec infra nec ultra iuvenalem formam resurgant corpora mortuorum, sed in eius aetate et robore, usque ad quam Christum hic peruenisse cognouimus (circa triginta quippe annos definierunt esse etiam saeculi huius doctissimi homines iuuentutem; quae cum fuerit spatio propria terminata, inde iam hominem in detrimenta vergere gravioris ac senilis aetatis)" (834). "So bleibt nur übrig, daß jeder sein Maß wiederbekommt, das er in seiner Jugendreife hatte, auch wenn er als Greis starb, oder welches er gehabt haben würde, wenn er nicht vorher gestorben wäre. Was aber der Apostel von dem Maß des vollkommenen Alters Christi sagte [ ... ] [so ist,] falls hier doch von der Auferstehung der Leiber die Rede ist, dies der Sinn, daß die Leiber der Toten in jugendlicher Vollreife, und nicht drunter und drüber, auferstehen werden, also in dem Alter und der Kraft, zu der Christus auf Erden gelangte. (Denn ein Alter von etwa dreißig Jahren setzten auch die weltlichen Gelehrten für die Vollreife an; sei sie von jedem erreicht, gehe es schon abwärts dem ernsteren und greisenhaften Alter entgegen.)" (Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat [De civitate dei]. Buch 11 bis 22. Vollständige Ausgabe der Bücher 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München sup>21978, 789-790). </ref> So werden die Kinder so groß auferstehen, wie sie gewesen wären, wenn sie 33 Jahre alt geworden wären, und die Alten werden in jener Lebensfrische auferstehen, die sie hatten, als sie 33 Jahre alt waren. Und wenn jemand in diesem Leben blind, lahm oder zwergwüchsig oder sonst irgendwie entstellt war, wird er unversehrt, gesund und mit jeder Vollkommenheit auferstehen. Die Werke Gottes sind nämlich vollkommen,<ref> "Dei perfecta sunt opera" (Dtn 32, 4; "Gottes Werke sind vollkommen"). </ref> und so wird er in der Auferstehung, die ganz sein eigenes Werk sein wird, die Fehler und Mängel der Natur beseitigen.
Erklärung des zwölften Artikels
S: Was versteht man unter "dem ewigen Leben", dem letzten Artikel?
L: Darunter versteht man eine vollendete Glückseligkeit der Seele und des Leibes. Dies ist das höchste Gut und das letzte Ziel, das wir dadurch erreichen, dass wir in der Kirche sind.
S: Sagen Sie mir bitte im einzelnen, welche Güter es im ewigen Leben gibt!
L: Ich möchte euch dieses Geheimnis durch einen Vergleich mit den Dingen dieser Welt lehren. Wie ihr wisst, wünscht sich in diesem Leben jeder einen Leib, der gesund, schön, beweglich und widerstandsfähig ist, sowie eine Seele, die hinsichtlich des Verstandes weise, klug und gelehrt ist und hinsichtlich des Willens voll von jeglicher Tugend. Darüber hinaus wünscht man sich äußere Güter, also Reichtümer, Ehren, Macht und Vergnügungen. Im ewigen Leben wird nun der Leib anstelle der Gesundheit sogar die Unsterblichkeit, verbunden mit Leidensfreiheit, haben,<ref> "Seminatur in corruptione, surget in incorruptione. Seminatur in ignobilitate, surget in gloria: Seminatur in infirmitate, surget in virtute: Seminatur corpus animale, surget corpus spiritale [ ... ] Oportet enim hoc corruptibile hoc induere incorruptionem: et mortale hoc induere immortalitatem" (1 Kor 15, 42-44.53; "Gesät wird (der Leib) in Verweslichkeit, auferstehen wird er in Unverweslichkeit. Gesät wird er in Unehre, auferstehen wird er in Herrlichkeit; gesät wird er in Schwachheit, auferstehen wird er in Kraft; gesät wird ein tierischer Leib, auferstehen wird ein geistiger Leib [ ... ] Denn dieses Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dieses Sterbliche anziehen die Unsterblichkeit"). </ref> d.h. dass nichts ihm schaden kann; anstelle der Schönheit sogar die Verklärung, d. h. einen Glanz, wie ihn die Sonne hat; anstelle der Beweglichkeit sogar die Subtilität, also die Feinheit, d. h. dass er sich in einem Augenblick ohne die geringste Anstrengung von einem Teil der Welt zum andern und von der Erde zum Himmel bewegen kann; anstelle der Widerstandsfähigkeit wird der Leib sogar so kräftig sein, dass er dem Geist in allem, was ihm nötig sein wird, ohne zu essen, ohne zu trinken, ohne zu schlafen und ohne sich auszuruhen dienen kann und dass er vor gar nichts Angst haben wird. Was die Seele angeht, so wird der Verstand voll Weisheit sein, weil er den Grund aller Dinge schauen wird, nämlich Gott. Der Wille wird von einer so großen Güte und Liebe erfüllt sein, dass er nicht in der Lage sein wird, auch nur eine lässliche Sünde zu begehen. Die Reichtümer der Seligen werden darin bestehen, nichts zu brauchen, da sie in Gott jedes Gut besitzen. Die Ehre wird darin bestehen, Kinder Gottes zu sein, den Engeln gleich,<ref> "[I]lli vero, qui digni habebuntur saeculo illo [ ... ] aequales enim angelis sunt, et filii sunt Dei: cum sint filii resurrectionis" (Lk 20, 35-36; "die aber gewürdiget werden, an jener Welt [ ... ] teilzunehmen [ ... ] sind den Engeln gleich, und Kinder Gottes, weil sie Kinder der Auferstehung sind"). </ref> und auf ewig Könige und geistliche Priester zu sein.<ref> "[E]t fecisti nos Deo nostro regnum et sacerdotes: et regnabimus super terram" (Offb 5, 10; "und hast uns unserm Gott zu einem Königreiche und zu Priestern gemacht; und wir werden herrschen auf Erden").
"Beatus, et sanctus, qui habet partem in resurrectione prima: in his secunda mors non habet potestatem: sed erunt sacerdotes Dei et Christi, et regnabunt cum illo mille annis" (Offb 20, 6; "Selig und heilig ist, wer teilhat an der ersten Auferstehung; über solche hat der zweite Tod keine Gewalt, sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein, und mit ihm regieren tausend Jahre"). </ref> Die Macht wird darin bestehen, dass sie gemeinsam mit Gott über die ganze Welt herrschen und all das tun, was sie wollen. Sie werden nämlich mit dem Willen Gottes vereint sein, dem nichts widerstehen kann. Schließlich wird die Freude unaussprechlich sein, denn alle Kräfte der Seele wie des Leibes werden mit den Gegenständen, auf die hin sie ausgerichtet sind, vereint sein, woraus eine vollständige Zufriedenheit, ein Friede, wie man ihn nie zuvor erlebt hat, sowie ewige Wonne und Jubel erwachsen werden.<ref> Vgl. Aurelius Augustinus, De civitate Dei XXII, 30, in: Sancti Aurelii Augustini De civitate Dei. Libri XI-XXII (edd. B. Dombart / A. Kalb) (CCL 48), Turnhout 1955, 862-866. </ref>
S: Wenn alle dies haben werden und alle in derselben Weise zufrieden sein werden, wird dann im Paradies das Maß der Glückseligkeit für alle gleich sein?
L: Nein, wer in diesem Leben mehr Verdienst erworben hat, wird auch einen größeren Lohn haben und seliger sein. Es wird aber trotzdem keinen Neid und keine Unzufriedenheit geben, weil alle ihrer Fassungskraft entsprechend erfüllt sein werden, und so diejenigen, die mehr Verdienste haben, auch mehr fassen können und damit eine größere Herrlichkeit haben werden.<ref> Aurelius Augustinus, De civitate Dei XXII, 30, in: Sancti Aurelii Augustini De civitate Dei. Libri XI-XXII (edd. B. Dombart / A. Kalb) (CCL 48), Turnhout 1955: "Ceterum qui futuri sint pro meritis praemiorum etiam gradus honorum atque gloriarum, quis est idoneus cogitare, quanto magis dicere? Quod tamen futuri sint, non est ambigendum. Atque id etiam beata illa civitas magnum in se bonum videbit, quod nulli superiori ullus inferior invidebit, sicut nunc non invident archangelis angeli ceteri; tamque nolet esse unusquisque quod non accepit, quamuis sit pacatissimo concordiae vinculo ei qui accepit obstrictus, quam nec in corpore vult oculus esse qui est digitus, cum membrum utrumque contineat totius corporis pacata compago. Sie itaque habebit donum alius alio minus, ut hoc quoque donum habeat, ne velit amplius" (863). "Aber wie sich dann, verdientem Lohn entsprechend, Ehre und Herrlichkeit abstufen, wer wäre fähig, es auszudenken, geschweige es auszusprechen? Daß es jedoch Stufen geben wird, ist nicht zweifelhaft. Und auch das wird jener glückselige Staat, betrachtet er sich selber, als hohes Gut preisen, daß hier kein Niedrigerer den Höheren beneidet, wie ja schon jetzt die übrigen Engel nicht neidisch sind auf die Erzengel. Keiner wird sein wollen, was ihm nicht zugefallen ist, aber mit dem, welchem es zufiel, in friedvoller Eintracht verbunden leben, wie im Leib das Auge nicht sein will, was der Finger ist, da beide Glieder das Friedensband des ganzen Leibes umschließt. Hat so freilich der eine an Gaben weniger empfangen als der andere, ward ihm doch die Gabe zuteil, nicht noch mehr zu verlangen" (Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat [De civitate dei]. Buch 11 bis 22. Vollständige Ausgabe der Bücher 11 bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München sup>21978, 831-832). </ref> Es ist, wie wenn beispielsweise ein Vater viele Kinder hätte, entsprechend ihrem Alter eines jeweils größer als das andere, und allen ein Kleid aus Goldbrokat machen ließe, jedem in der passenden Größe. Dann würden die Großen zweifellos ein größeres, wertvolleres Kleid haben, und trotzdem wären alle zufrieden, und die Kleinen würden nicht die Kleider der Großen haben wollen, weil sie ihnen nämlich gar nicht passen würden.
S: Warum wird die Seligkeit des Paradieses ewiges Leben genannt? Leben denn nicht auch die Verdammten in der Hölle ewig?
L: Von dem, was sich von selbst bewegt, sagt man, dass es im eigentlichen Sinne lebt. Deshalb nennt man auch in gewisser Weise das Wasser einer Quelle lebendiges Wasser, weil es sich von selbst bewegt, das der Sümpfe dagegen tot, weil es ein stehendes Gewässer ist. Ebenso sagt man von den Seligen im Himmel, dass sie ewiges Leben haben, weil sie ohne jede Beeinträchtigung mit ihren inneren und äußeren Kräften alles wirken können, was sie wollen, und weil sie so allezeit wirken und sich betätigen, wie es ihnen gefällt. Die Verdammten in der Hölle leben zwar, weil sie niemals aufhören, verzehrt zu werden, trotzdem haben sie, wie man sagt, einen ewigen Tod, weil sie dem Feuer und den Qualen nicht entrinnen können und gezwungen sind, allezeit das zu leiden, was sie nicht wollen, und nichts von dem, was sie wollen, auch tun können. So genießen die Seligen im Himmel jegliches Gut ohne Beimischung irgendeines Übels, und die Verdammten in der Hölle erleiden jegliches Übel, ohne je irgendetwas von dem, was sie ersehnen, erlangen zu können.
S: Was bedeutet das Wort "Amen", das man an das Ende des Glaubensbekenntnisses setzt?
L: Es bedeutet: Das ist die Wahrheit, d. h. alles, was gesagt wurde, ist wahr und gewiss.
Kapitel IV: Erklärung des Vater Unser (Gebet des Herrn)
S: Mit der Gnade Gottes habe ich nun das gelernt, was ich glauben muss. Jetzt möchte ich gern, dass Sie mich das lehren, was ich hoffen und wünschen darf und mit welchen Mitteln ich es erlangen kann.
L: Alles, was ihr jetzt von mir wissen wollt, ist im Gebet des Herrn, das wir das Vater Unser nennen, enthalten. Denn in diesem Gebet wird erklärt, was man wünschen soll und wen man darum bitten soll. Und dieses Gebet ist zugleich das Mittel, es auch zu erlangen.
S: Was ist das Gebet des Herrn?
L: Es lautet: "Vater Unser im Himmel ... "
S: Warum geben Sie dem Vater Unser den Vorzug vor allen anderen Gebeten?
L: Erstens weil es das hervorragendste von allen ist, ist es doch von Christus selbst, der höchsten Weisheit, verfasst. Zweitens weil dieses Gebet ganz kurz ist, was zum Erlernen und zum auswendig behalten von Vorteil ist; gleichzeitig ist es aber reich an Inhalt, umfasst es doch alles, was man von Gott erbitten soll.<ref> Augustinus, Epistula 130. Ad Probam XII, 22. XIII, 24, in: Sancti Aureli Augustini Epistulae III. Ep. CXXIV-CLXXXIV A (ed. Al. Goldbacher) (CSEL 44), New York - London 1970 (= Wien - Leipzig 1904), 40-77: "Nam quaelibet alia verba dicamus, quae affectus orantis uel praecedendo format, ut clareat, vel consequendo adtendit, ut crescat, nihil aliud dicimus, quam quod in ista dominica oratione positum est, si recte et congruenter oramus [ ... ] et si per omnia precationum sanctarum verba discurras, quantum existimo, nihil inuenies quod non ista dominica contineat et concludat oratio. unde liberum est aliis atque aliis verbis eadem tamen in orando dicere, sed non esse debet liberum alia dicere [ ... ] Habes, quantum arbitror, non solum qualis ores, verum etiam quid ores, non me docente sed illo, qui omnes nos docere dignatus est" (64-67). "Und wenn wir auch irgendwelche andere Worte sprechen, wie sie die Andacht, dem Beter zuvorkommend, einflößt, um sich noch höher zu schwingen, oder wie man sie gebraucht, um dadurch eine nachfolgende Andachtsvermehrung zu erfahren, so sprechen wir doch - vorausgesetzt, daß wir in der rechten und geziemenden Weise beten - nichts anderes, als was auch im Gebete des Herrn enthalten ist [ ... ] Und wenn du alle Ausdrücke heiliger Gebetsformeln durchgehst, so wirst du, wie ich glaube, nichts finden, was nicht im Gebete des Herrn enthalten und eingeschlossen wäre. Darum steht es frei, die einen oder die anderen Worte zu gebrauchen, während man das gleiche Gebet verrichtet, aber es kann nicht freistehen, ein anderes Gebet zu verrichten [ ... ] Du hast nun vernommen, wie ich glaube, nicht nur, wie du selbst beim Gebete beschaffen sein mußt, sondern auch, worum du beten sollst. Und zwar habe nicht ich dich dieses gelehrt, sondern derjenige, der sich gewürdigt hat, uns alle zu lehren" (BKV2 30, 28-30).
Cyprian von Karthago, De dominica oratione 9, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "Qualia autem sunt, fratres dilectissimi, orationis dominicae sacramenta, quam multa, quam magna, breviter in sermone collecta sed in virtute spiritaliter copiosa, ut nihil omnino praetermissum sit quod non in precibus adque orationibus nostris caelestis doctrinae conpendio conprehendatur!" (272). "Welcher Art nun, geliebteste Brüder, sind die heiligen Geheimnisse, die im Gebete des Herrn enthalten sind, wie zahlreich sind sie, wie bedeutsam, in Worten zwar kurz zusammengefaßt, aber in der Kraft dem Geiste nach überreich; nicht das Mindeste ist da übergangen, und es gibt nichts, was nicht in unseren Bitten und Gebeten trotz der kurzen Zusammenfassung der himmlischen Lehre mit einbegriffen wäre" (BKV2 34, 172). </ref> Drittens weil es das nützlichste und das wirksamste Gebet ist, ist es doch von dem verfasst, der zugleich unser Richter und unser Fürsprecher ist und deshalb besser als jeder andere weiß, wie man bitten muss, um auch etwas zu empfangen. Viertens weil es das notwendigste von allen ist, wenn man sich vor Augen hält, dass alle Christen dazu verpflichtet sind, es sprechen zu können und es jeden Tag auch zu beten.<ref> Concilium Toletanum IV, cap. 10, in: Mansi X, 621: "Et quia ut sine intermissione oremus, apostolus docuit, qualiter autem oremus Christus praecipit, dicens: Cum oratis, dicite: Pater noster, qui es in coelis; quomodo ergo quotidie non dicitur, quod sine intermissione dici iubetur? Nam in tantum quotidie haec oratio dicenda est, quantum & ipso titulo utitur, dum vocatur oratio quotidiana; sic enim sancti patres nuncupaverunt." "Dass wir ohne Unterlass beten sollen, hat der Apostel gelehrt. Wie wir aber beten sollen, hat Christus mit den Worten geboten: ,Wenn ihr betet, so sprecht: Vater unser, der du bist im Himmel.' Wie spricht man das also nicht täglich, was man ohne Unterlass sprechen soll? Denn dieses Gebet ist um so mehr täglich zu sprechen, als das sogar sein Titel ist. Es heißt ja tägliches Gebet. So nämlich haben es die heiligen Väter benannt." Concilium Rhemense II, can. 2, in: Mansi XIV, 77: "Ut orationem, quam Dominus noster Jesus Christus discipulos suos orare docuit, verbis discerent, & sensu bene intelligerent: quia illam ignorare nulli Christiano licet." "Dass sie das Gebet, das unser Herr Jesus Christus seine Jünger zu beten gelehrt hat, wörtlich lernen und in seiner Bedeutung gut verstehen sollen. Keinem Christen ist es erlaubt, es nicht zu können."
Aurelius Augustinus, Enchiridion ad Laurentium de fide et spe et caritate (ed. E. Evans) 71, in: Aurelii Augustini Opera XIII, 2 (CCL 46), Turnhout 1969, 21-114: "De cotidianis autem brevibus levibusque peccatis sine quibus haec vita non ducitur, cotidiana oratio fidelium satis facit. Eorum est enim dicere: Pater noster qui es in caelis, qui iam patre tali regenerati sunt ex aqua et spiritu sancto. Delet omnino haec oratio minima et cotidiana peccata" (88). "Für die alltäglichen kleinen und leichten Versündigungen indes, ohne die es in diesem Leben nun einmal nicht abgeht, leistet das tägliche Gebet der Gläubigen schon Genugtuung; denn diejenigen dürfen mit Recht sagen: ,Vater unser, der du bist in dem Himmel', die schon einem solchen Vater wiedergeboren sind aus dem Wasser und dem (Heiligen) Geiste. Dieses Gebet löscht die geringen, täglichen Sünden vollständig aus" (BKV2 49, 458). </ref> Darum heißt es auch das tägliche Gebet, d. h. Gebet, das jeden Tag zu verrichten ist.
S: Beginnen Sie nun bitte damit, mir diese ersten Worte zu erklären: "Vater unser im Himmel".
L: Diese wenigen Worte sind gewissermaßen eine kurze Einleitung oder eine Vorbereitung zum Gebet. Denn indem wir sagen, dass Gott unser Vater ist, fassen wir Mut und Vertrauen, zu ihm zu beten. Indem wir dann sagen, dass er im Himmel ist, erinnern wir uns daran, dass wir mit großer Furcht und Demut zu ihm kommen müssen, weil er kein irdischer, sondern ein himmlischer Vater ist. Weiterhin führen wir uns dadurch, dass wir sagen, er sei Vater, vor Augen, dass er unsere Bitten gerne auch erfüllen will. Indem wir sagen, dass er im Himmel ist als Herr und Gebieter der Welt, begreifen wir, dass er tun kann, was er will. Ein letzter Grund ist schließlich, dass, indem wir sagen, dass er Vater ist, wir uns daran erinnern, dass wir Kinder Gottes und Erben des Paradieses sind. Indem wir sagen, dass er im Himmel ist, und uns vor Augen führen, dass wir dagegen auf der Erde sind, erinnern wir uns daran, dass wir noch nicht im Besitz unseres Erbes sind, sondern Pilger und Wanderer im Feindesland, so dass wir seine Hilfe dringend nötig haben.
S: Erklären Sie mir bitte alle Worte im einzelnen!
L: Das Wort "Vater" kommt Gott zwar insofern zu, als er durch die Schöpfung Vater aller Dinge ist. In diesem Gebet aber wird Gott Vater genannt, insofern er Vater aller frommen Christen ist, dadurch dass er sie als seine Kinder angenommen hat.<ref> Cyprian von Karthago, De dominica oratione 9-10, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "homo novus, renatus et Deo suo per eius gratiam restitutus pater prima in loco dicit, quia filius esse iam coepit [ ... ] Nec hoc solum [ ... ] animadvertere et intellegere debemus, quod appellemus patrem qui sit in caelis, sed coniungimus et dicimus pater noster, id est eorum qui credunt, eorum qui per eum sanctificati et gratiae spiritalis nativitate reparati filii Dei esse coeperunt [ ... ] nec peccator populus potest esse filius, sed quibus remissa peccatorum datur, eis filiorum nomen adscribitur" (272-274). "Der neue, wiedergeborene und seinem Gott durch dessen Gnade zurückgegebene Mensch sagt zu allererst: ,Vater', weil er bereits angefangen hat, sein Sohn zu sein [ ... ] Aber nicht nur darauf [ ... ] müssen wir achten und merken, daß wir ihn einen ,Vater' nennen, ,der im Himmel ist', sondern wir fügen noch etwas hinzu und sagen: ,Vater unser', das heißt: derer, die glauben, derer, die durch ihn geheiligt und durch die Geburt der Geistesgnade erneuert, Söhne Gottes geworden sind [ ... ] Ebensowenig kann ein sündhaftes Volk ein Sohn Gottes sein, sondern nur denen, die Vergebung der Sünden erhalten, wird die Bezeichnung ,Söhne' beigelegt" (BKV2 34, 172-174).
Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte II, 4, 15-16, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967: "Dedit eis potestatem filios dei fieri [Joh 1, 12]. Apostolus autem Paulus dicit: Quam diu heres parvulus est, nihil differt a servo [GaI4, 1]; et spiritum adoptionis nos accepisse commemorat, in quo cIamamus: abba pater [Röm 8, 15]. Et quoniam quod vocamur ad aeternam hereditatem, ut simus Christi coheredes et in adoptionem filiorum veniamus, non est meritorum nostrorum sed gratiae dei, eandem ipsam gratiam in orationis principio ponimus, cum dicimus: pater noster" (105-106). ",Er gab ihnen die Macht, Kinder Gottes zu werden' (Joh 1, 12). Und der Apostel Paulus sagt: ,Solange der Erbe ein kleines Kind ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Sklaven' (Gal 4, 1) und er erwähnt, daß wir den Geist der Annahme an Kindes Statt empfangen haben, ,in dem wir rufen: Abba Vater!' (Röm 8, 15). Da unsere Berufung zum ewigen Erbe, um als Miterben Christi zur Annahme an Kindes Statt zu gelangen (vgl. Röm 8, 17.23), nicht unser eigenes Verdienst ist, sondern eine Gnade Gottes, stellen wir eben diese Gnade an den Beginn unseres Gebetes und sprechen: ,Vater unser'" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner [Christliche Meister 54], Einsiedeln 2006, 112-113).
Gregor von Nyssa, De oratione Dominica. Oratio II, in: PG 44, 1135-1148: "Patrem vocas qui vita corruptus es, eum qui incorruptibilitatis et integritatis Pater est? [ ... ] cur falso tibi verbum hoc usurpas? [ ... ] alius est pater vitiorum, quae in te sunt; nam mea soboles paternis bonis decoratur, filius misericordis misericors; integri et puri, integer et purus est [ ... ] et ut summatim dicam, ex bono bonus, et ex justo justus editur [ ... ] Quocirca priusquam aliquis vita expiatus et expurgatus sit, periculosum est in hac oratione audacem esse, et Patrem suum Deum nominare" (1143). ",Du, dessen Leben befleckt ist, nennst Vater jenen, der der Vater der Unversehrtheit ist? [ ... ] Was mißbrauchst du das Wort des Gebetes zur Lüge? [ ... ] Ein ganz anderer ist der Vater deiner schlimmen Eigenschaften. Meine wahren Kinder schmücken sich mit den Eigenschaften ihres Vaters: Kind des Barmherzigen ist der Barmherzige, des Reinen der Reine [ ... ] Kurz: aus dem Guten stammt der Gute, aus dem Gerechten der Gerechte [ ... ] Gefährlich ist es also, sich dieses Gebet anzumaßen und Gott seinen Vater zu nennen, ehe man sein Leben geläutert hat" (BKV2 56, 108-109). </ref> Es stimmt aber ebenfalls, dass auch diejenigen zu Gott "unser Vater" sagen können, die sich bekehren wollen und Kinder Gottes werden wollen,<ref> Eusebius Hieronymus, Epistula XXI. Ad Damasum de duobus filiis 22, in: PL 22, 379-394: ",Dixit autem filius: Pater, peccavi in coelum et coram te, iam non sum dignus vocari filius tuus.' Dicit se non esse dignum filium nuncupari, et tamen ex naturae voce, ex illa substantia, quam illi pater fuerat aliquando largitus, in nomen trepidus veritatis erumpit: Pater, inquiens, peccavi in coelum. Frustra igitur quidam argumentantur, nomen patris in sanctos tatummodo convenire: cum etiam Deum hic patrem vocet, qui se filii nomine confitetur indignum: nisi forte ideo patrem audet vocare, quia plena mente conversus est" (387). "Und der Sohn sprach: Vater, ich habe gegen den Himmel und gegen dich gesündigt. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Er sagt, er sei es nicht mehr wert, Sohn genannt zu werden, und dennoch bricht aus ihm aufgrund der Stimme der Natur, aufgrund des Vermögens, das der Vater ihm einst übergeben hatte, in seiner Aufregung der wahre Name hervor: Vater, so sagt er, ich habe gegen dich gesündigt. Ohne Grund also bringen manche vor, der Name Vater müsse den Heiligen vorbehalten bleiben, wo doch hier auch derjenige Gott Vater nennt, der von sich selbst sagt, er sei des Sohnesnamens unwürdig, es sei denn, er wagt ihn vielleicht deshalb Vater zu nennen, weil er sich von ganzem Herzen bekehrt hat." </ref> so dass nur diejenigen nicht in Wahrheit "Vater unser" sagen können, die keine Kinder Gottes sind und es auch nicht werden wollen, da sie nicht einmal daran denken, sich zu bekehren.
S: Warum heißt es "Vater unser" und nicht "mein Vater"?
L: Man sagt "Vater unser", damit wir begreifen, dass wir alle Brüder und Schwestern sind und uns als Geschwister lieben und untereinander eins sein müssen, sind wir doch Kinder desselben Vaters. Es heißt auch "Vater unser", um uns zu belehren, dass das gemeinsame Gebet besser als das private ist;<ref> Cyprian von Karthago, De dominica oratione 8, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "Ante omnia pacis doctor adque unitatis magister singillatim noluit et privatim precem fieri, ut quis cum precatur pro se tantum precetur [ ... ] publica est nobis et communis oratio, et quando oramus, non pro uno sed pro populo toto oramus, quia totus populus unum sumus" (271). "Vor allem wollte der Lehrer des Friedens und der Erzieher zur Einheit nicht haben, daß wir unser Gebet einzeln und besonders [sc. abgesondert] verrichten, so daß etwa einer, wenn er betet, nur für sich allein betete [ ... ] Öffentlich ist unser Gebet, und es gilt allen; und wenn wir beten, so beten wir nicht für einen einzigen, sondern für das ganze Volk, weil wir alle eins sind" (BKV2 34, 172-174). </ref> außerdem ist es für den, der betet, selbst auch nützlicher. Denn während alle sagen "Vater unser", betet jeder einzelne für alle und alle beten für jeden einzelnen.<ref> Ambrosiastri qui dicitur Commentarius in Epistulas Paulinas I. In Epistulam ad Romanos (ed. H. I. Vogels) (CSEL 81/1), Wien 1966: "hoc est quod singuli orantes pro omnibus oramus, ut veniat regnum dei; tunc enim erit liberatio corporis nostri, id est omnium Christianorum; in corpore enim omnes significavit, quia sumus alter alterius membra [Rom. 12,S]" (285, Auslegung zu Röm 8, 23). "Das ist, dass wir, wenn wir einzeln beten, für alle bitten, nämlich dass das Reich Gottes komme. Dann nämlich wird die Befreiung unseres Leibes eintreten, und das bedeutet die aller Christen. Denn das Wort ,Leib' bedeutet ,alle', denn wir sind untereinander Glieder (Röm 12, 5)." </ref>
S: Warum sagt man "im Himmel"? Ist Gott nicht überall?
L: Man sagt, dass Gott im Himmel wohnt, nicht weil er nicht überall wäre, sondern weil der Himmel der edlere Teil der Welt ist und weil in ihm die Größe, Macht und Weisheit Gottes mehr widerscheint,<ref> Gregor von Nyssa, De oratione Dominica. Oratio II, in: PG 44, 1135-1148: "Sed videntur mihi haec verba etiam profundiorem quamdam sententiam designare; haec enim et patriae, ex qua excidimus, et cognationis quam amisimus, recordationem nobis ingenerant [ ... ] ita etiam hic mihi Dominus, dum coelestem Patrem invocandum esse docet, bonam illam patriam in memoriam redigere tibi videtur, ut vehementiori bonorum iniecto desiderio sistat te rursus in via ad patriam reducenti" (1143.1146). "Doch scheint uns die Anrede noch eine weitere Belehrung zu geben. Jene Worte erinnern uns nämlich auch an das Vaterland, aus dem wir vertrieben, und an den Adel, dessen wir verlustig gegangen sind [ ... ] so scheint mir auch hier der Herr durch seine Weisung, den Vater, der im Himmel ist, anzurufen, dich an jenes herrliche Vaterland erinnern zu wollen, um dir ein heißes Verlangen nach dessen Schönheit einzuflößen und dich dann auf den rechten Weg zu geleiten, der wieder zum Vaterland zurückführt" (BKV2 56, 109-110). Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 19, 4, in: PG 57, 273-286: "Cum autem dicit, In caelis, non ibi Deum hoc dicendo concludit, sed precantem de terra abducit, et in excelsis locis supernisque habitaculis affigit" (278). "Die Worte: ,der du bist im Himmel; sagt er nicht, als wäre Gott daselbst eingeschlossen, sondern um den Beter der Erde zu entrücken, in ein höheres Land und zu den himmlischen Wohnungen emporzuführen" (Des heiligen Johannes Chrysostomus Homilien über das Evangelium des heiligen Matthäus [übers. v. Max, Herzog zu Sachsen] 1, Regensburg 1910, 316). </ref> und schließlich weil Gott sich in ihm den Engeln und den seligen Menschen von Angesicht zu Angesicht zeigt.<ref> Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte II, 5, 17-18, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967: "PATER NOSTER QVI ES IN CAELlS, id est in sanctis et iustis; non enim spatio locorum continetur deus. Sunt autem caeli excellentia quidem mundi corpora sed tamen corpora, quae non possunt esse nisi in loco [ .... ] Sed quemadmodum terra appellatus est peccator, cum ei dictum est: Terra es et in terram ibis [Gen. 3, 19]' sic caelum iustus e contrario dici potest. [ ... ] Quapropter si in templo suo habitat deus, et sancti templum eius sunt, recte dicitur qui es in caelis: qui es in sanctis. [ ... ] Recte ergo intellegitur quod dictum est: PATER NOSTER QVI ES IN CAELlS, in cordibus iustorum esse dictum tamquam in templo sancto suo" (107-108). ",Vater unser, der du bist im Himmel' (Mt 6, 9), das heißt in den Heiligen und Gerechten. Gott wird nämlich nicht durch Raum begrenzt. Wohl ist der Himmel der erhabenste Körper des Weltalls, aber eben ein Körper, der nur im Raum sein kann [ ... ] Wie der Sünder ,Erde' genannt wird, wenn ihm gesagt wird: ,Erde bist du, und zur Erde kehrst Du zurück' (Gen 3, 19), so kann man im Gegensatz dazu den Gerechten ,Himmel' nennen [ ... ] Wenn Gott in seinem Tempel wohnt und die Heiligen sein Tempel sind, kann darum zu Recht gesagt werden: ,Der du bist im Himmel', das heißt: ,Der du bist in den Heiligen' [ ... ] Zurecht werden also die Worte: ,Vater unser, der du bist im Himmel' (Mt 6, 9) so gedeutet, daß Gott in den Herzen der Gerechten als in seinem heiligen Tempel wohnt (vgl. 1 Kor 3, 17)" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner [Christliche Meister 54], Einsiedeln 2006, 114-115).
Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechese 5, 11, in: S. P. N. Cyrilli Hierosolymorum archiepiscopi opera quae supersunt omnia II (ed. J. Rupp), München 1860, 381-395: "pater noster qui es in coelis. coeli autem etiam sunt ii qui coelestis imaginem ferunt, in quibus est deus inhabitans et inambulans" (387-389). ",Vater unser in den Himmeln' - Himmel, das mögen wohl auch diejenigen sein, die die Bilder des Himmlischen tragen, die, in denen Gott zu Hause ist und wandelt (Vgl. 1 Kor 15, 49; Lev 26, 12)" (Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechesen, griech.-deutsch, übers. u. eingel. v. G. Röwekamp [FC 7], Freiburg - Basel- Wien 1992, 155). </ref> Man kann auch sagen, Gott ist im Himmel, weil er in besonderer Weise in den Engeln und in den heiligen Menschen wohnt, die so im geistlichen Sinne Himmel sind.
S: Kommen wir nun zur ersten Bitte. Was bedeutet "geheiligt werde dein Name"?
L: Das Wort "Name" bedeutet an dieser Stelle den Ruf und die Bekanntheit, so wie wir sagen, jemand habe einen großen Namen, weil er bei vielen bekannt ist. Oder wir sagen, jemand habe einen guten oder einen schlechten Namen, weil er einen guten oder einen schlechten Ruf hat, da er bei vielen bekannt ist und als ein Guter gelobt oder als ein Böser getadelt wird. Den Namen Gottes zu heiligen beinhaltet darum nichts anderes als den Glauben an Gott in der Welt zu verbreiten und ihn rein und heilig in den Herzen und im Mund der Menschen zu erhalten, so wie er es an sich ja ist.<ref> Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte II, 5 , 19, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967= "Quod non sic petitur, quasi non sit sanctum nomen dei, sed ut sanctum habeatur ab hominibus, id est ita illis innotescat deus, ut non existiment aliquid sanctius, quod magis offendere timeant. [ ... ] sed ibi magnum est nomen eius, ubi pro suae maiestatis magnitudine nominatur. Ita ibi dicitur sanctum nomen eius, ubi cum veneratione et offensionis timore nominatur. Et hoc est quod nunc agitur, dum euangelium adhuc usque per diuersas gentes innotescendo commendat unius dei nomen per administrationem filii eius" (109). "Diese Bitte besagt nicht, daß der Name Gottes nicht schon heilig sei, sondern daß er von den Menschen heilig gehalten werde, daß Gott ihnen so bekannt wird, daß sie sich nichts Heiligeres vorstellen können und umso mehr fürchten, seinen Namen zu beleidigen. [ ... ] sondern sein Name ist dort groß, wo er aufgrund der Größe seiner Herrlichkeit genannt wird. Sein Name wird dort heilig genannt, wo er mit Verehrung und in der Furcht, ihn zu beleidigen, ausgesprochen wird. Das geschieht jetzt, indem das Evangelium, das bis heute den verschiedenen Völkern bekannt gemacht wird, den Namen des einen Gottes durch das Wirken seines Sohnes empfiehlt" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner (Christliche Meister 54], Einsiedeln 2006, 115).
Johannes Cassian, Conlatio VIlII, 18, in: Cassiani Opera. Collationes XXIII! (ed. M. Petschenig) (CSEL 13), Wien 22004: "in quem filiorum ordinem gradumque provecti illa continuo quae est in bonis filiis pietate flagrabimus, ut iam non pro nostris utilitatibus, sed pro nostri patris gloria totum inpendamus affectum, dicentes ei: sanctificetur nomen tuum [Mt. 6, 9]' nostrum desiderium, nostrum gaudium gloriam nostri patris esse testantes" (266). "Da wir also zu dieser Stufe und Rangordnung der Söhne erhoben worden sind, so wollen wir beständig von jener Liebe brennen, wie man sie bei guten Söhnen findet, so daß wir all unsern Affekt nicht sowohl auf unsern Nutzen, als vielmehr auf die Ehre unseres Vaters richten, indem wir sagen: ,Geheiligt werde dein Name', zum Zeugnis, daß die Ehre unseres Vaters unser Verlangen, unsere Freude sei" (Des ehrwürdigen Johannes Cassianus zwölf Bücher von den Einrichtungen der Klöster [übers. v. A. Abt] [BKV], Kempten 1877, 559).
Bernhard von Clairvaux, In Quadragesima sermo VI. De Oratione Dominica 5, in: PL 183, 181-183: "Sanctificetur nomen tuum. Nomen ejus, gloria ejus. Et illa quando non sancta? Fieri tamen dicitur sancta gloria ejus, cum in sanctitate glorificatur a nobis: sicut et voluntatem ejus, quae aeterna est, in nobis, ut nostra fiat, fieri postulamus. Hoc ergo primum fieri petimus quod maximum est, ut nobis gloriae illius innotescat sanctitas illibata" (183). ",Geheiligt werde dein Name!' Sein Name ist seine Herrlichkeit, und wann wäre die nicht heilig? Gleichwohl bitten wir, seine Herrlichkeit möge geheiligt werden, wenn er in Heiligkeit von uns verherrlicht wird, wie wir ja auch beten, daß sein Wille, der ja ewig ist, in uns geschehe, daß er der unsere werde. Darum also bitten wir zuerst als um das Wichtigste, um Offenbarung der unversehrten Heiligkeit seiner Herrlichkeit" (Bernhard von Clairvaux, Ansprachen auf die kirchlichen Zeiten II. Vom Sonntag Septuagesima bis zum ersten Sonntag im November [hrsg. v. d. Abtei Mehrerau durch E. Friedrich], Wittlich o.]. (ca. 1934]). </ref> Weil es aber auf der Welt viele Ungläubige gibt, die Gott nicht kennen, und viele schlechte Christen, die ihn lästern und verfluchen, beten diejenigen, die Kinder Gottes sind und Eifer für die Ehre ihres Vaters haben, mit großem Verlangen, dass sein Name geheiligt werde, d. h. dass er so, wie er es verdient, auf der ganzen Erde erkannt, angebetet, bekannt, gelobt und gepriesen wird.
S: Wenn wir danach verlangen, dass Gott von den Menschen erkannt und gelobt wird, wäre es dann nicht besser, die Menschen darum zu bitten und nicht Gott?
L: Der Mensch ist nicht von sich aus in der Lage, Gott zu erkennen und zu loben. Deshalb bitten wir Gott, dass er mit seiner heiligen Gnade so wirke, dass die Ungläubigen und die anderen Sünder sich bekehren und, einmal bekehrt, beginnen, seinen heiligen Namen zu erkennen und zu loben.
S: Warum beginnt das Gebet mit der Bitte darum, dass der Name Gottes geheiligt werde?
L: Wir sind dazu verpflichtet, Gott über alles und mehr als uns selbst zu lieben. Darum muss unser erstes und häufigstes Verlangen das nach der Ehre Gottes sein. Dazu nämlich wurden wir erschaffen und mit Vernunft geschmückt, dass wir Gott erkennen und loben. Darin besteht denn auch unser höchstes Gut, wie wir gleich sagen werden.
S: Erklären Sie mir jetzt bitte die zweite Bitte, d. h. "dein Reich komme".
L: Der rechten Ordnung entsprechend erbittet man in dieser Bitte das eigene Heil, denn in der ersten hat man die Ehre Gottes erbeten.
S: Was muss man unter Reich Gottes verstehen?
L: In dreierlei Weise kann man das Reich Gottes verstehen. Denn es gibt ein Reich der Natur, ein Reich der Gnade und ein Reich der Herrlichkeit. Das Reich der Natur ist das, wo Gott alle Geschöpfe als absoluter Herr aller Dinge lenkt und regiert. Obwohl nämlich die gottlosen Menschen sich bemühen, Unheil anzurichten, und das Gesetz Gottes nicht beachten, herrscht Gott dennoch über sie, weil er ihre Pläne vereitelt, wenn es ihm gefällt. Wenn er es aber doch manchmal zulässt, dass sie das erlangen, was sie wollen, bestraft er sie danach streng, und es gibt niemanden, der seinem Willen widerstehen kann oder etwas tun kann, wenn er es nicht befiehlt oder zulässt. Das Reich der Gnade ist das, wo Gott die Seelen und Herzen der guten Christen lenkt und regiert, indem er ihnen die Gesinnung und die Gnade gibt, ihm bereitwillig zu dienen und seine Ehre mehr als alles andere zu suchen. Das Reich der Herrlichkeit wird im Jenseits nach dem Tag des Gerichts sein, weil Gott dann mit allen Heiligen über alles Geschaffene herrschen wird, ohne dass es irgendeinen Widerstand geben wird. Denn dann wird den Dämonen und allen gottlosen Menschen alle Macht genommen sein, und sie werden in den ewigen Kerkern der Hölle gefangen sein. In jener Zeit wird dann auch der Tod ausgelöscht sein sowie der Zustand der Verderbnis samt allen Versuchungen der Welt und des Fleisches, die die Diener Gottes jetzt plagen. Infolgedessen wird es ein friedliches Reich sein, in dem jeder die vollkommene, ewige Glückseligkeit als unverlierbaren Besitz hat.
S: Um welches dieser drei Reiche geht es in dieser Bitte?
L: Es geht nicht um das erste, weil es nicht erst kommen muss, sondern schon gekommen ist, und auch nicht um das zweite, weil davon die erste Bitte handelt und es zum Teil bereits gekommen ist. Vielmehr spricht man vom dritten, das kommen soll<ref> Q. S. Fl. Tertulliani De oratione (ed. G. F. Diercks) V,l, in: Quinti Septimi Florentis Tertulliani Opera I. Opera catholica (CCL 1), Turnhout 1954, 257-274: "Itaque si ad Dei voluntatem et ad nostram suspensionem pertinet regni dominici repraesentatio, quomodo quidam protractum quendam saeculo postulant, cum regnum Dei, quod ut adveniat oramus, ad consummationem saeculi tendat?" (260). "Wenn daher die Verwirklichung des Reiches des Herrn sich auf den Willen Gottes und auf unsern ungewissen Zustand bezieht, wie können manche einen Aufschub für die Welt verlangen, da ja das Reich Gottes, um dessen Ankunft wir bitten, auf die Vollendung der Welt hinarbeitet?" (BKV2 7, 253).
Cyprian von Karthago, De dominica oratione 13, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. G. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "nostrum regnum petimus advenire a Deo nobis repromissum, Christi sanguine et passione quaesitum, ut qui in saeculo ante seruiuimus postmodum Christo dominante regnemus, sicut ipse pollicetur et dicit: venite, benedicti patris mei, percipite regnum quod vobis paratum est ab origine mundi potest vero [ ... ] et ipse Christus esse regnum Dei quem venire cottidie cupimus, cuius adventus ut cito nobis repraesentetur optamus" (275-276). "Unser Reich, so bitten wir, möge zu uns kommen, das Reich, das von Gott uns verheißen, das durch Christi Blut und Leiden erworben ist, auf daß wir, die wir in der Welt vorher gedient haben, nachmals in Christi Reich herrschen, wie er selbst verspricht und sagt: ,Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, empfanget das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! (Matth. 25, 34) Es kann aber [ ... ] auch Christus selbst das Reich Gottes sein, nach dessen Kommen wir täglich verlangen, dessen baldige Ankunft wir sehnsüchtig wünschen" (BKV2 34, 176).
Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechese 5, 13, in: S. P. N. Cyrilli Hierosolymorum archiepiscopi opera quae supersunt omnia II (ed.]. Rupp), München 1860, 381-395: "Veniat regnum tuum mundae animae est dicere cum fiducia: veniat regnum tuum. qui enim audiverit Paulum (ad Romanos 6 12) dicentem ,non ergo regnet peccatum in vestro mortali corpore', et seipsum opere et cogitatione et sermone purum praestiterit, is deo dicturus est: veniat regnum tuum" (389). ",Deine Königsherrschaft komme.' Eine reine Seele kann frei und offen sagen: ,Deine Königsherrschaft komme.' Denn wer Paulus hat sagen hören: ,Laßt also die Sünde nicht König sein in eurem sterblichen Leib' (Röm 6, 12), und sich statt dessen reinigt in Werk, Gedanke und Wort, der kann zu Gott sprechen: ,Deine Königsherrschaft komme'" (Cyrill von jerusalem, Mystagogische Katechesen, griech.-deutsch, übers. u. eingel. v. G. Röwekamp [FC 7], Freiburg - Basel- Wien 1992, 157).
Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 19, 4-5, in: PG 57, 273-286: "Adveniat regnum tuum. Hoc quoque grati probique filii dictum est, qui non haereat rebus sub aspectum cadentibus, neque praesentia magni quidpiam esse putet; sed ad patrem semper tendat, et futura exspectet, quod ex conscientia bona oritur, et ex anima a terrenis rebus expedita [ ... ] Hoc enim Paulus singulis diebus desiderabat, ideoque dicebat: Et ipsi primitias spiritus habentes ingemiscimus, adoptionem filiorum exspectantes, redemptionem corporis nos tri [Rom. 8.23]" (279). ",Es komme dein Reich!' Auch dieses sind Worte eines dankbaren Kindes, welches nicht dem Sichtbaren anhängt und das Gegenwärtige nicht für wichtig hält, sondern immer nach dem Vater eilt und das Zukünftige verlangt. Solches tut derjenige, der ein gutes Gewissen hat und seine Seele von allem Irdischen frei gemacht hat. Paulus sehnte sich täglich danach, darum sprach er: ,Auch wir, die wir den Erstlingsvorzug des Geistes haben, seufzen und erwarten die Annahme an Kindes Statt, die Erlösung unseres Leibes' [Röm. 8, 23]" (Des heiligen Johannes Chrysostomus Homilien über das Evangelium des heiligen Matthäus [übers. v. Max, Herzog zu Sachsen] I, Regensburg 1910, 318).
Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte II, 6, 20, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967: "Deinde sequitur: ADVENIAT REGNUM TUUM, sicut ipse in evangelio docet tunc futurum esse iudicii diem, cum evangelium praedicatum fuerit in omnibus gentibus [ ... ] Non enim et hic ita dictum est: ADVENIAT REGNUM TUUM, quasi nunc deus non regnet. Sed forte quis dicat adveniat dictum esse in terram; quasi vero non ipse etiam nunc regnet in terra, semperque in ea regnaverit a constitutione mundi. Adveniat ergo accipiendum est: manifestetur hominibus. Quemadmodum enim etiam praesens lux absens est caecis et eis qui oculos claudunt, ita dei regnum, quamvis numquam discedat de terris, tamen ignorantibus absens est. Nulli autem licebit ignorare dei regnum, cum eius unigenitus non solum intelligibiliter sed etiam visibiliter in homine dominico de caelo venerit iudicaturus vivos et mortuos [cf. 2 Tim. 4, 1]" (109-110). "Dann folgt die Bitte: ,Dein Reich komme' (Mt 6, 10). Wie der Herr selbst im Evangelium lehrt, wird der Tag des Gerichts dann anbrechen, wenn das Evangelium allen Völkern verkündet ist (vgl. Mt 24, 14) [ ... ] Denn auch hier ist ,dein Reich komme' (Mt 6, 10) nicht so zu verstehen, als herrsche Gott jetzt nicht. Aber vielleicht meint einer, ,komme' bedeute ,auf die Erde'. Als herrsche Gott nicht auch jetzt auf der Erde und habe nicht immer, seit Erschaffung der Welt, auf ihr geherrscht. ,Komme' muß also bedeuten: ,den Menschen offenbar werden'. Wie Licht, obwohl es gegenwärtig ist, für die Blinden und für die, welche die Augen schließen, nicht da ist, ist auch das Reich Gottes, obgleich es die Erde niemals verläßt, denen fern, die nichts von ihm wissen. Aber keiner wird über Gottes Reich in Unwissenheit sein dürfen, wenn der eingeborene Sohn Gottes, nicht nur mittels Einsicht erkennbar, sondern sichtbar als Homo dominicus, vom Himmel kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten (vgl. 2 Tim 4, 1)" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner [Christliche Meister 54], Einsiedeln 2006, 116).
Hieronymus, Commentariorum in Matheum libri IV, liber I, in: S. Hieronymi Presbyteri Opera 1, 7 (edd. D. Hurst I M. Adriaen) (CCL 77), Turnhout 1969: "Veniat regnum tuum. Vel generaliter pro totius mundi petit regno ut diabolus in mundo regnare desistat vel ut in unoquoque regnet Deus et non regnet peccatum in mortali hominum corpore. Simulque et hoc adtendendum quod grandis audaciae sit et purae conscientiae postulare regnum Dei, iudicium non timere" (36, Auslegung zu Mt 6, 10). "Dein Reich komme. Er betet entweder im umfassenden Sinn um seine Herrschaft über die ganze Welt, auf dass der Teufel seine Herrschaft in der Welt verliert, oder darum, dass Gott in jedem Menschen herrscht und dass nicht die Sünde im sterblichen Leib der Menschen herrscht. Beachten wir gleichzeitig auch, dass man einen großen Mut und ein reines Gewissen braucht, um das Reich Gottes zu erflehen, das Gericht nicht zu fürchten."
Johannes Cassian, Conlatio VI!I!, 19, in: Cassiani Opera. Collationes XXIlII (ed. M. Petschenig) (CSEL 13), Wien 22004: "Secunda petitio mentis purissimae advenire iam iamque regnum sui patris exoptat, vel istud scilicet quo cotidie Christus regnat in sanctis (quod ita fit, cum diaboli imperio per extinctionem faetentium uitiorum de nostris cordibus pulso deus in nobis per virtutum bonam fragantiam coeperit dominari et deuicta fornicatione castitas, superato furore tranquilitas, calcata superbia humilitas in nostra mente regnaverit), vel certe illud quod praestituto tempore omnibus est perfectis ac dei filiis generaliter repromissum, in quo eis dicetur a Christo: venite benedicti patris mei, possidete paratum vobis regnum a constitutione mundi [Mt. 25, 34], intentis illud quodammodo obtutibus ac defixis desiderans et expectans dicensque ad eum: veniat regnum tuum [Mt. 6, 10]. novit enim testimonio conscientiae suae, cum apparuerit, mox eius se futuram esse consortem haec enim dicere vel optare criminosorum nullus audebit, quia nec videre tribunal iudicis volet, quisque sub aduentu eius non palmam nec praemia suis meritis, sed poenam novit protinus repensandam" (267-268). "Die zweite Bitte des ganz gereinigten Geistes verlangt, daß das Reich seines Vaters mehr und mehr komme; nämlich entweder jenes, durch welches Christus täglich herrscht in den Heiligen, was ja geschieht, wenn durch Tilgung der häßlichen Laster die Teufelsherrschaft aus unsern Herzen vertrieben ist und Gott in uns durch den Wohlgeruch der Tugenden zu herrschen beginnt; wenn nach Besiegung der Unzucht die Keuschheit, nach Überwindung des Zornes die Ruhe, nach Niederwerfung des Hochmuts die Demut in unserem Geiste herrscht. Aber auch um jenes Reich bittet er, das für die festgesetzte Zeit allen Vollkommenen und Söhnen Gottes überhaupt versprochen ist, und in welchem ihnen von Christus gesagt werden wird: ,Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmet das Reich in Besitz, das euch von Grundlegung der Welt her bereitet war.' Dahin wendet er gleichsam seine Blicke und heftet seine Begierden voll Erwartung und und spricht zum Herrn: ,Zukomme dein Reich!' Denn er weiß gar wohl durch das Zeugnis seines Gewissens, daß, sobald es erscheint, er sein Mitgenosse sein wird. Es wird ja wohl Keiner der Lasterhaften wagen, Solches zu sagen oder zu wünschen, weil der nicht den Thron des Richters wird sehen wollen, der da weiß, daß er bei dessen Ankunft nicht die Palme und den Lohn für seine Verdienste, sondern sogleich die Strafe erhalten wird" (Des ehrwürdigen Johannes Cassianus zwölf Bücher von den Einrichtungen der Klöster [übers. v. A. Abt] [BKV], Kempten 1877, 560-561). </ref> und das all jene mit großem Verlangen erwarten, die das Elend dieses Lebens kennen. Darum betet man in dieser Bitte um unser höchstes Gut und die vollkommene Herrlichkeit für die Seele und den Leib.
S: Wenn das Reich Gottes, nach dem wir verlangen und von dem wir erbitten, dass es bald komme, erst nach dem Tag des Gerichts beginnt, dann verlangen wir also danach und erbitten, dass die Welt bald ein Ende nimmt und dass bald der Tag des Gerichts kommt?
L: Ja, so ist es. Denn während es für die, die die Welt lieben, keine schlimmere Nachricht geben kann, als vom Tag des Gerichts zu hören, sehnen sich die Bürger des Himmels, die jetzt als Pilger und Verbannte hier unten auf der Erde leben, nach nichts mehr als gerade danach. Darum sagt der hl. Augustinus, dass wie vor dem Kommen Christi in die Welt alles Verlangen der Heiligen des alten Bundes sich auf das erste Kommen Christi richtete, sich so jetzt alles Verlangen der Heiligen des neuen Bundes auf die Wiederkunft desselben Christus richtet, der uns die vollkommene Seligkeit bringen wird.<ref> Aurelius Augustinus, In Psalmum CXVIII Enarratio. Sermo XX,l, in: Sancti Aurelii Augustini Enarrationes in Psalmos CI-CL (ed. E. Dekkers I I. Fraipont) (CCL 40), Turnhout 1956: "Prima ergo tempora Ecclesiae, ante virginis partum, sanctos habuerunt, qui desiderarent incarnationis eius adventum; ista vero tempora ex quo adscendit in caelum, sanctos habent, qui desiderent eius manifestationem ad vivos et mortuos iudicandos" (1730). "Die erste Zeit der Kirche also, vor der Jungfrauengeburt, hatte Heilige, welche die Ankunft Seiner Menschwerdung ersehnten, die Zeiten aber, nachdem Er in den Himmel stieg, haben Heilige, welche Seine Offenbarung zum Gericht über Lebende und Tote ersehnen" (Aurelius Augustinus, Über die Psalmen. Ausgewählt und übertragen von Hans Urs von Balthasar (Christliche Meister 20), Einsiedeln sup>21983, 257). </ref>
S: Lassen Sie uns zur dritten Bitte übergehen. Was bedeuten die Worte: "Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden"?
L: Mit diesen Worten erbittet man die Gnade, das Gesetz Gottes in rechter Weise zu befolgen. Weil man nämlich in der zweiten Bitte das ewige Leben erbeten hat, welches das Ziel des Menschen ist, ist es angemessen, dass man nun das wichtigste Mittel erbittet, um zu diesem letzten Ziel auch zu gelangen. Dieses wichtigste Mittel ist aber die Befolgung der Gebote Gottes, wie es uns unser Herr gesagt hat: "Wenn du ins ewige Leben eingehen willst, befolge die Gebote!"<ref> "Si autem vis ad vitam ingredi, serva mandata" (Mt 19, 17; "Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote"). </ref> Weil wir aber nicht von selbst in der Lage sind, alle Gebote in angemessener Weise zu befolgen, bitten wir Gott, dass sein Wille von uns getan wird, d. h. dass er uns die Gnade gibt, seinen Willen zu erfüllen, indem wir in jeder Hinsicht seinen heiligen Geboten gehorchen.
S: Wir sind also dazu verpflichtet, den Willen Gottes zu tun, indem wir seine Gebote befolgen. Sind wir außerdem auch verpflichtet, unseren Willen nach dem Willen Gottes auszurichten, wenn er uns Leiden schickt?
L: Zumindest sind wir dazu verpflichtet, nicht zu murren und uns nicht über die göttliche Vorsehung zu beklagen,<ref> Cyprian von Karthago, De Mortalitate 18, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. Hartel) (CSEl 3/1), Wien 1868, 295-314: "Meminisse debemus voluntatem nos non nostram sed Dei facere debere secundum quod nos Dominus cottidie iussit orare" (308). "Wir dürfen nicht vergessen, daß wir nicht unseren, sondern Gottes Willen tun müssen nach den Worten, die uns der Herr täglich beten hieß" (BKV2 34, 247).
Aurelius Augustinus, Sermo XXII. De versu 3 Psalmi LXVII, Sicut deficit fumus, deficiant, etc. 2, in: PL 38, 148-155: "Numquid ergo quia dixerunt, Fiat voluntas Dei, optaverunt Apostolo, ut talia pateretur, ac non potius mentem suam sublimi et divino statuto devotissime subdiderunt?" (150, bezugnehmend auf Apg 21, 13-14). "Haben sie etwa mit dem Wort ,Es geschehe der Wille Gottes' dem Apostel gewünscht, er möge solche Dinge erleiden, oder haben sie nicht vielmehr in großer Frömmigkeit ihren Geist dem erhabenen und göttlichen Ratschluss unterworfen?" </ref> denn all das, was er uns schickt oder zulässt, tut er mit guter Absicht. Falls wir gut sind, will er uns damit Gelegenheit geben, mehr Verdienste zu erwerben; falls wir böse sind, will er uns dadurch reinigen.
S: Warum ist hinzugefügt: "wie im Himmel, so auf Erden"?
L: Um uns zu lehren, dass wir danach trachten müssen, mit derselben Vollkommenheit, Bereitwilligkeit und Freude Gott zu gehorchen und seine Gebote zu befolgen, wie die Engel im Himmel es tun, die alle Gebote ohne den geringsten Verstoß befolgen.<ref> Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechese 5, 14, in: S. P. N. Cyrilli Hierosolymorum archiepiscopi opera quae supersunt omnia Il (ed. J. Rupp), München 1860, 381-395: "Fiat voluntas tua, sicut in coelo, et in terra. divini ac beati angeli dei voluntatem dei faciunt, sicut David in psalmis dicebat (102 20): benedicite domino omnes angeli eius, potentes virtute, qui facitis voluntates eius quum igitur precaris, quasi hoc dicis: quem ad modum in angelis voluntas tua fit, sic et super terram in me fiat, domine" (389). ",Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.' Die göttlichen, seligen Engel Gottes tun den Willen Gottes. So singt auch David und sagte: ,Preist den Herrn, all seine Engel, ihr Mächtigen mit Stärke, die ihr sein Wort tut' (Ps 103, 20: LXX Ps 102, 20). Mit Macht also bittest du: Wie bei den Engeln dein Wille geschieht, Herr, so geschehe er auch auf Erden, in mir" (Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechesen, griech-deutsch, übers. u. eingel. v. G. Röwekamp [FC 7], Freiburg - Basel- Wien 1992, 157).
Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 19, 5, in: PG 57, 273-286: "Nihil enim impedit quominus, etsi in terra habitemus, ad supernarum virtutum sedulitatem ac diligentiam attingamus: sed possumus hic habitantes, quasi iam in caelo essemus omnia facere. Quod igitur dicit, hujusmodi est: Quemadmodum ibi omnia sine impedimento fiunt, neque angeli modo audiunt, modo iussa contemnunt, sed in omnibus cedunt et obsequuntur; nam ait, Potentes virtute, facientes verbum illius [Psal. 102.20]: sic etiam nobis hominibus largire ut non ex dimidio voluntatem tuam faciamus, sed omnia ut vis impleamus" (280). "Das Leben auf dieser Erde ist nämlich durchaus kein Hindernis, die Vollkommenheit der himmlischen Mächte zu erreichen; vielmehr kann man auch in dieser Welt schon in allem so leben, als wäre man bereits im Himmel. Was also der Herr sagen will, ist dies: So, wie dort alles ohne Hindernis geschieht, und die Engel nicht dem einen Befehl gehorchen, dem anderen sich widersetzen, vielmehr in allem willfährig und gehorsam sind (,denn', heißt es, ,sie sind mächtig in ihrer Kraft und gehorchen seinem Wort' [Ps. 102, 20]), so gib, daß auch wir Menschen Deinen Willen nicht halb tun, sondern alles beobachten, so wie Du es willst (BKV2 25, 13 (353]).
Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte II, 6, 21, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967: "Item FIAT VOLUNTAS TUA recte intellegitur: Oboediatur praeceptis tuis, SICUT IN CAELO ET IN TERRA, id est sicut ab angelis ita ab hominibus. Nam fieri voluntatem dei, cum obtemperatur praeceptis eius, ipse dominus dicit" (111). "Außerdem kann ,dein Wille geschehe' (Mt 6, 10) so verstanden werden: Deinen Geboten soll gehorcht werden ,im Himmel, so auch auf Erden', also von Engeln und von Menschen. Denn daß der Wille Gottes geschieht, wenn man seinen Geboten gehorcht, bestätigt der Herr" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner [Christliche Meister 54), Einsiedeln 2006, 117).
Hieronymus, Commentariorum in Matheum libri IV, liber I, in: S. Hieronymi Presbyteri Opera 1, 7 (edd. D. Hurst I M. Adriaen) (CCL 77), Turnhout 1969: "Fiat voluntas tua sicut in caelo et in terra, ut quo modo tibi angeli inculpate serviunt in caelis, ita in terra serviant homines" (36-37, Auslegung zu Mt 6, 10). "Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden, damit so, wie die Engel dir ohne Schuld im Himmel dienen, dir ebenso die Menschen auf Erden dienen."
Johannes Cassian, Conlatio VIIlI, 20, in: Cassiani Opera. Collationes XXIIII (ed. M. Petschenig) (CSEL 13), Wien 22004: "non potest esse iam maior oratio quam optare, ut terre na mereantur caelestibus coaequari. nam quid est aliud dicere fiat voluntas tua sicut in caelo et in terra quam ut sint homines similes angelis, et sicut voluntas dei ab illis inpletur in caelo, ita etiam hi qui in terra sunt non suam, sed eius universi faciant voluntatem?" (268). "Es kann keine größere Bitte mehr geben, als zu wünschen, daß das Irdische dem Himmlischen gleich kommen möge. Denn was heißt Dieß anders, wenn man sagt: ,Es geschehe dein Wille wie im Himmel so auf Erden; als: es möchten die Menschen ähnlich sein den Engeln; und wie also der Wille Gottes von jenen im Himmel erfüllt wird, so möchten auch die, welche auf der Erde sind, nicht ihren, sondern ganz seinen Willen tun!" (Des ehrwürdigen Johannes Cassianus zwölf Bücher von den Einrichtungen der Klöster [übers. v. A. Abt] [BKV], Kempten 1877, 561). </ref> Man kann auch sagen, dass wir danach verlangen und es erbitten, dass die Sünder, die mit "Erde" gemeint sind, Gott so gehorchen wie die Heiligen, die mit "Himmel" gemeint sind.<ref> Cyprian von Karthago, De dominica oratione 17, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "Potest et sic intelligi, fratres dilectissimi, ut [ ... ] petamus et pro illis qui adhuc terra sunt et necdum caelestes esse coeperunt, ut et circa illos voluntas Dei fiat [ ... ] sic Christo monente oramus et petimus, ut precem pro omnium salute faciamus, ut quomodo in caelo id est in nobis per fidem nostram voluntas Dei facta est ut essemus in caelo, ita et in terra hoc est in illis credere nolentibus fiat voluntas Dei, ut qui adhuc sunt prima nativitate terreni incipiant esse caelestes ex aqua et spiritu nati" (279-280; kursiv eine Konjektur Hartels). "Man kann es auch so verstehen, geliebteste Brüder: [ ... ] [wir sollen] auch für die bitten, die noch Erde sind und noch nicht angefangen haben, himmlisch zu sein, damit auch an ihnen der Wille Gottes geschehe [ ... ] wenn auch wir nach der Mahnung Christi in der Weise beten und flehen, daß wir für das Heil aller Menschen Fürbitte einlegen, damit ebenso wie im Himmel, das heißt: an uns, durch unseren Glauben der Wille Gottes geschehen ist, so daß wir vom Himmel sind, nun auch auf Erden, das heißt: an jenen noch Ungläubigen, der Wille Gottes geschehe und damit sie, die noch von ihrer ersten Geburt her irdisch sind, aus Wasser und Geist neugeboren werden und anfangen, himmlisch zu sein" (BKV2 34, 179-180). </ref> Oder auch, dass die ganze Kirche, für die hier "Erde" steht, Gott ganz und gar gehorche, wie ihm Christus gehorcht hat, für den hier "Himmel" steht.<ref> Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte II, 6, 24, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967: "Nec illud a veritate abhorret, ut accipiamus FIAT VOLUNTAS TUA SICUT IN CAELO ET IN TERRA: sicut in ipso domino Iesu Christo ita et in ecclesia, tamquam in viro, qui patris voluntatem implevit, ita et in femina, quae illi desponsata est" (113). "Zuletzt widerspricht es auch nicht der Wahrheit, wenn wir diese Worte ,dein Wille geschehe wie im Himmel, so auch auf Erden' (Mt 6, 10) folgendermaßen verstehen: wie in Jesus Christus, so auch in der Kirche, wie im Mann, der den Willen des Vaters erfüllt hat, so in der Frau, die ihm anvermählt ist" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner [Christliche Meister 54], Einsiedeln 2006, 119).</ref>
S: Kommen wir zur vierten Bitte. Was bedeutet: "Unser tägliches Brot gib uns heute"?
L: Mit gutem Grund erbittet man das Brot, das das Leben erhält, nachdem man die Gnade erbeten hat, die das Leben selbst ist. Denn das erste, wonach jemand verlangt, der zu leben beginnt, ist nichts anderes als die Speise, mit der man sich am Leben erhält. Ihr müsst aber wissen, dass man in diesem Gebet hauptsächlich das geistliche Brot erbittet, das die Speise für die Seele ist, und erst in zweiter Linie das materielle Brot, das die Speise für den Leib ist. Unter geistlichem Brot versteht man aber das allerheiligste Altarsakrament, das göttliche Brot des Himmels, das auf wunderbare Weise das Leben der Seele nährt. Ebenso versteht man darunter das Wort Gottes, das in den Predigten und in der Lesung geistlicher Bücher nicht wenig dazu beiträgt, dieses Leben der Seele zu nähren. Schließlich versteht man darunter auch die Eingebung Gottes, das Gebet, und alles andere, was dazu hilft, in uns die Gnade zu erhalten und zu vermehren, die wie gesagt das Leben der Seele ist. Unter leiblichem Brot versteht man all das, was nötig ist, um das Leben des Leibes zu erhalten, der für die Seele das Werkzeug ist, mit dem sie ihre guten Werke verrichtet.
S: Warum nennt man es "unser" Brot?
L: Darin liegt eine tiefe verborgene Bedeutung, dass wir es als "unser" Brot erbitten. Denn wenn wir vom allerheiligsten Sakrament sprechen, dann ist dies unser Brot, weil es um unseres Heiles willen vom Heiligen Geist im Schoß der seligen Jungfrau gebildet ist sowie, so könnte man bildhaft sagen, im glühenden Ofen des heiligen Kreuzes gebacken und durch die Hand des Priesters auf dem Altar für uns aufgetragen wird. Darüber hinaus ist es unser, weil es das Brot ist, das den Kindern gehört<ref> Cyprian von Karthago, De dominica oratione 18, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "nam panis uitae Christus est et panis hic omnium non est, sed noster est et quomodo dicimus pater noster, quia intellegentium et credentium pater est, sic et panem nostrum vocamus, quia Christus eorum qui corpus eius contingimus panis est" (280). "Das Brot des Lebens nämlich ist Christus, und dieses Brot gehört nicht allen, sondern nur uns. Und wie wir beten: ,Vater unser', weil er der Vater der Erkennenden und Gläubigen ist, so sagen wir auch: ,u nser Brot', weil Christus das Brot derer ist, die wie wir seinen Leib berühren dürfen" (BKV2 34, 180). </ref> und das man nicht den Hunden, d. h. den Ungläubigen, geben kann und auch nicht denen, die sich in Todsünde befinden. Wenn wir von der Lehre sprechen, erbitten wir ebenfalls "unser" Brot, nämlich das, was die wahren Prediger den Kindern der heiligen Kirche austeilen, nicht aber das fremde Brot, d. h. das, was die Häretiker ihren Anhängern geben, ein verdorbenes, verseuchtes Brot. Wenn wir dagegen vom leiblichen Brot sprechen, wünschen wir, dass Gott uns unser Brot gibt und nicht das der anderen, d. h. dass er uns beim gerechten und ordentlichen Broterwerb helfe und dass er auch unsere Besitztümer, Weinberge und all unsere Mühe segne, damit wir uns den Lebensunterhalt ohne Diebstahl und Betrug verschaffen können.<ref> Opus imperfectum in Matthaeum, in: PG 56, 611-946: "In prima quidem facie sic videntur verba sonare, ut qui dicunt, Panem nos trum quotidianum da nobis hodie, non habeant in crastinum, aut in procrastinum praeparatum, ut possint dicere, Panem nostrum quotidianum da nobis hodie [ ... ] Ita ergo intelligendum est, quia non solum ideo oramus, Panem nostrum da nobis, ut habeamus quod manducemus, sed ut quod manducamus de manu Dei accipiamus. Nam habere ad manducandum commune est inter iustos et peccatores, frequenter autem et abundantius peccatores habent quam justi. De manu autem Dei accipere panem non est commune, sed tantum sanctorum. Praeparare ergo non vetant haec verba, tamen cum peccato praeparare vetant. Nam qui cum justitia praeparat, illi Deus dat panem quem manducat: qui autem cum peccato, illi non dat Deus, sed diabolus. Nam omnia quidem a Deo creantur, non tamen a Deo omnia subministrantur" (713). "Auf den ersten Blick scheinen die Worte freilich zu bedeuten, dass diejenigen, die sprechen: Unser tägliches Brot gib uns heute, es nicht auf Vorrat für morgen oder übermorgen haben, damit sie sprechen können: Unser tägliches Brot gib uns heute [ ... ] So also ist es zu verstehen, dass wir nicht allein deshalb beten ,Unser Brot gib uns', damit wir etwas zu essen haben, sondern damit wir das, was wir essen, aus Gottes Hand empfangen. Denn etwas zu essen haben, das trifft für die Gerechten und auch für die Sünder zu; nicht selten haben die Sünder es sogar reichlicher als die Gerechten. Das Brot aus der Hand Gottes zu empfangen hingegen trifft nicht für alle zu, sondern nur für die Heiligen. Somit verbieten diese Worte also nicht, Vorsorge zu treffen, sondern nur, mit Hilfe einer Sünde Vorsorge zu treffen. Denn wer mit Gerechtigkeit Vorsorge trifft, dem gibt Gott das Brot, das er isst. Wer es dagegen mit Hilfe einer Sünde tut, dem gibt es nicht Gott, sondern der Teufel. Denn alles ist zwar von Gott geschaffen, doch nicht alles wird von Gott dargereicht." </ref>
S: Warum nennt man dieses Brot das tägliche?
L: Es heißt täglich, d. h. Brot für jeden Tag, damit wir keine übertriebenen oder außergewöhnlichen Dinge wünschen, sondern nur das, was als einfache tägliche Nahrung ausreicht, und zwar für die Seele ebenso wie für den Leib, vor allem weil wir ja wissen, dass wir in diesem Leben Pilger und Fremde sind.<ref> Cyprian von Karthago, De dominica oratione 19, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. G. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "Potest vero et sic intellegi, ut qui saeculo renuntiavimus et divitias eius et pompas fide gratiae spiritalis abiecimus cibum nobis tantum petamus et victum" (281). "Man kann es aber auch so auffassen, daß wir, die wir der Welt entsagt und ihren Reichtum und Prunk im Vertrauen auf die geistliche Gnade abgeworfen haben, nur um Speise und Lebensunterhalt für uns bitten" (BKV2 34, 181).
Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 19, 5, in: PG 57, 273-286:"Neque enim pro pecuniis, neque pro deliciis, neque pro vestium sumptibus, vel pro alio quopiam simili, sed pro pane tantum iussit orationem emitti, et pro pane quotidiano, ita ut de crastino solliciti non simus" (280). "Der Herr hieß uns ja nicht um Reichtum bitten, nicht um üppiges Leben, nicht um kostbare Kleider, um nichts dergleichen; nur um Brot, und zwar um soviel Brot, als für einen Tag genügt, so daß wir uns nicht um den nächsten Tag kümmern sollen" (BKV2 25, 14 (354]). </ref>
S: Warum sagt man "gib uns"?
L: Wir müssen uns zwar abmühen, um unser geistliches und leibliches Brot zu bekommen, aber wir sollen dabei doch wissen, dass all unsere Mühe umsonst wäre, wenn Gottes Gnade nicht mit uns mitwirkte. So sehen wir es ja häufig, dass die Menschen sich zwar beim Säen und Ernten abmühen, aber trotzdem wegen der Sünden der Welt Hungersnöte kommen. Auch erbitten wir, dass Gott uns unser Brot gibt, nämlich indem er uns nicht nur hilft, es zu beschaffen und zu erwerben, sondern es auch segnet und heiligt, wenn wir es genießen, damit es uns auch wirklich von Vorteil ist bzw. der Seele und dem Leibe nützt.<ref> Opus imperfectum in Matthaeum, in: PG 56, 611-946: "Vel intelligendum est ita, ut dum a Deo datur, sanctificatus accipiatur: et ideo non dixit, Panem quotidianum da nobis hodie: sed addidit, Nostrum, id est, quem habemus jam praeparatum apud nos: illum da nobis ut dum a te datur, sanctificetur" (713). "Oder es ist so zu verstehen, dass man es geheiligt empfängt, indem es von Gott gegeben wird. Und darum sagt man auch nicht: Das tägliche Brot gib uns heute!, sondern man fügt noch ,unser' hinzu, d. h. das Brot, das wir bereits bei uns auf Vorrat haben, das gib du uns, so dass es, indem es von dir gegeben wird, geheiligt ist." </ref>
S: Warum wird das Wort "heute" hinzugefügt?
L: Das Wort "heute" steht für die ganze Zeit, die man auf Erden lebt.<ref> Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechese 5, 15, in: S. P. N. Cyrilli Hierosolymorum archiepiscopi opera quae supersunt omnia II (ed. J. Rupp), München 1860, 381-395: "illud autem hodie dicitur dicitur [sic!] pro quotidie, sicut et Paulus aiebat (ad Hebraeos 3 13): donec hodie cognominatur" (389). "Das ,heute' sagst du anstelle von ,täglich'. Auch Paulus sagte ja: ,Solange es ,heute' heißt' (Hebr 3, 13)" (Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechesen, griech.-deutsch, übers. u. eingel. v. G. Röwekamp [FC 7], Freiburg Basel- Wien 1992, 157).
Aurelius Augustinus, Epistula 130. Ad Prob am XI, 21, in: Sancti Aureli Augustini Epistulae III. Ep. CXXIV-CLXXXIV A (ed. Al. Goldbacher) (CSEL 44), New York - London 1970 (= Wien - Leipzig 1904), 40-77: "cum dicimus: Panem nostrum cotidianum da nobis hodie, per id, quod dicitur ,hodie', significatur ,hoc tempore', ubi vel sufficientiam illam petimus aparte, quae excellit, id est nomine panis totam significantes vel sacramentum fidelium, quod in hoc tempore necessarium est non tamen ad huius temporis sed ad illam aeternam felicitatem adsequendam" (63). "Wenn wir sprechen: ,Gib uns heute unser tägliches Brot', so wird unter ,heute' verstanden ,in dieser Zeit', in der wir um das ausreichende Auskommen bitten, das wir mit dem Ausdruck ,Brot' bezeichnen, da das Brot sein vorzüglichster Bestandteil ist. Oder wir können darunter auch das Sakrament der Gläubigen verstehen, das in dieser Zeit uns notwendig ist, aber nicht um zeitliche, sondern um ewige Glückseligkeit zu erlangen" (BKV2 30, 28). </ref> So bitten wir Gott, dass er uns während dieser ganzen Pilgerschaft mit geistlichem und leiblichem Brot unterstütze, bis wir zur himmlischen Heimat gelangen, wo wir dann keine Sakramente und Predigten, ja nicht einmal mehr leibliches Brot brauchen werden.<ref> Aurelius Augustinus, Sermo LIX. Item in Matthaei cap. VI, 9-13, de oratione Dominica, ad Competentes 3, in: PL 38, 400-402: "Cum autem vita ista transierit, nec panem illum quaeremus quem quaerit fames; nec Sacramentum altaris habemus accipere, quia ibi erimus cum Christo, cuius corpus accipimus; nec verba nobis ista dici habent, quae dicimus vobis, nec codex legendus est, quando ipsum videbimus quod est Verbum Dei, per quod facta sunt omnia, quo pascuntur Angeli, quo illuminantur Angeli, quo sapientes fiunt Angeli, non quaerentes verba locutionis anfractuosae; sed bibentes unicum Verbum, unde impleti ructuant laudes, et non deficiunt in laudibus" (401). "Wenn aber dieses Leben vergangen sein wird, werden wir nicht mehr nach diesem Brot verlangen, nach dem der Hunger verlangt. Auch werden wir nicht das Sakrament des Altares zu empfangen haben, weil wir dort bei Christus sein werden, dessen Leib wir empfangen. Ebensowenig werden dort die Worte zu sprechen sein, die wir jetzt zu euch sprechen, und das Buch vorzulesen sein, wenn wir ihn selbst sehen werden, der das Wort Gottes ist, durch das alles geschaffen wurde, wovon die Engel gespeist, womit die Engel erleuchtet und wodurch die Engel weise werden, indem sie nicht nach den Worten einer weitschweifigen Rede verlangen, sondern das einzige Wort trinken, von dem erfüllt sie in Lob ausbrechen und im Lob nicht müde werden." </ref> Man kann auch sagen, dass wir Gott bitten, dass er uns heute dieses Brot geben möge, weil wir nicht darum besorgt sein wollen, was wir morgen brauchen werden.<ref> Cyprian von Karthago, De dominica oratione 19, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. G. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "qui autem Christi coepit esse discipulus secundum magistri sui vocem renuntians omnibus, diurnum debet cibum petere nec in longum desideria petitionis extendere ipso iterum Domino praescribente et dicente: nolite in crastinum cogitare: crastinus enim dies ipse cogitabit sibi sufficit diei malitia sua (Matth. 6, 34). merito ergo Christi discipulus uictum sibi in diem postulat qui de crastino cogitare prohibetur, quia et contrarium sibi fit et repugnans, ut quaeramus in saeculo diu vivere qui petimus regnum Dei velociter advenire" (281). "Wer aber angefangen hat, Christi Jünger zu sein und nach dem Worte seines Meisters allem entsagt, der darf nur um die tägliche [Korrektur A. W.] Nahrung flehen und nicht auf lange hinaus Wünsche und Bitten äußern, wie abermals der Herr selber vorschreibt und sagt: ,Sorget nicht für morgen; denn der morgige Tag wird selbst für sich sorgen. Jedem Tage genügt seine Plage' [Matth. 6, 34]. Mit Recht also bittet der Jünger Christi, dem es verboten ist, für den kommenden Tag zu sorgen, immer nur für einen Tag um seinen Lebensunterhalt; denn es wäre ein unvereinbarer Widerspruch, wenn wir lange auf dieser Welt zu leben suchten, obwohl wir doch darum bitten, daß das Reich Gottes bald zu uns kommen möge" (BKV2 34, 182).
Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 19, 5, in: PG 57, 273-286 "pro pane tantum iussit orationem emitti, et pro pane quotidiano, ita ut de crastino solliciti non simus. Ideoque addidit, Panem επιουσιον, id est quotidianum. Neque hoc contentus fuit verbo, sed et aliud addidit, Da nobis hodie, ita ut non ulteriori diei crastinae cura nos torqueamus. Cuius enim diei nescis an spatium visurus sis, cur sollicitudinem habes?" (280). "Der Herr hieß uns [ ... ] bitten [ ... ] nur um Brot, und zwar um soviel Brot, als für einen Tag genügt, so daß wir uns nicht um den nächsten Tag kümmern sollen. Darum fügte er hinzu: das tägliche Brot, d. h. soviel, als für den Tag genügt. - Aber auch dieser Ausdruck genügte ihm noch nicht. Er setzte noch ein zweites Wort hinzu, und sagte: ,Gib uns heute', damit wir uns nicht unnötigerweise mit der Sorge um den nächstfolgenden Tag beunruhigen. Da du nämlich gar nicht weißt, ob du den kommenden Tag erleben wirst, was bist du in Sorge um ihn?" (BKV2 25, 14 (354]) </ref> Wir wissen ja nicht, ob wir morgen überhaupt noch am Leben sein werden. So hat uns auch unser Herr gelehrt, nur für die Gegenwart zu sorgen.<ref> "Nolite ergo solliciti esse in crastinum. Crastinus enim dies sollicitus erit sibi ipsi: sufficit diei malitia sua" (Mt 6, 34; "Darum sorget nicht ängstlich für den morgigen Tag; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jedem Tage genüget seine Plage"). </ref> Und so erbitten wir das Brot, das uns für heute reicht, auch am heutigen Tag; das von morgen werden wir auch erst morgen erbitten.
S: Bei dem, was Sie sagen, kommen mir aber Bedenken. Wenn wir nämlich unsere Mühe nur auf die Gegenwart richten sollen, dann handeln ja diejenigen schlecht, die sich für ein ganzes Jahr Vorräte an Korn, Wein und anderem Notwendigen anlegen.
L: Wenn unser Herr uns lehrt, unsere Mühe bloß auf die Gegenwart zu richten, will er uns damit nur von überflüssigen Sorgen befreien, die das Gebet und andere wichtigere Dinge stark behindern, die auf den Gewinn des ewigen Lebens gerichtet sind. Wenn also das Denken an die Zukunft nicht überflüssig, sondern notwendig ist wie etwa beim Anlegen von Vorräten, wovon ihr gesprochen habt, dann ist es nicht schlecht, an die Zukunft zu denken. Ja, ein solcher Gedanke richtet sich nicht auf morgen, sondern auf heute. Würden wir damit nämlich bis morgen warten, dann würden wir die rechte Stunde dafür verpasst haben.
S: Es folgt die fünfte Bitte. Was bedeutet: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern"?
L: In den vorangegangenen vier Bitten haben wir Gott bereits gebeten, dass er uns jegliches ewige sowie zeitliche Gut gebe. In den drei folgenden bitten wir nun, dass er uns von jeglichem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Übel befreie. Ihr seht also, es stimmt, was ich euch schon anfangs sagte, dass nämlich in diesem Gebet alles, wonach man verlangen kann, enthalten ist. In dieser Bitte flehen wir also nun, Gott möge uns vom vergangenen Übel befreien, d. h. von den Sünden, die wir begangen haben. Unser Herr hat ja den heiligen Aposteln, als er sie dieses Gebet lehrte, erklärt, dass man unter Schuld die Sünden verstehen muss.<ref> "Si enim dimiseritis hominibus peccata eorum: dimittet et vobis Pater vester caelestis delicta vestra. Si autem non dimiseritis hominibus: nec Pater vester dimittet vobis peccata vestra" (Mt 6, 14-15; "Denn wenn ihr den Menschen ihre Sünden vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch eure Sünden vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Sünden auch nicht vergeben"). </ref>
S: Warum heißen die Sünden "Schuld"?
L: Aus drei Gründen: Erstens weil jeder Mensch, der sündigt, Gott beleidigt.
Er schuldet Gott die Genugtuung für das Unrecht, das er ihm gegenüber begangen hat. Zweitens weil ein Sünder das Gesetz Gottes übertritt. Weil besagtes Gesetz aber demjenigen Lohn verheißt, der es beachtet, Strafe aber dem, der es nicht beachtet, bleibt der, der es nicht beachtet, die Bezahlung der genannten Strafe schuldig. Drittens weil jeder von uns dazu verpflichtet ist, den Weinberg seiner Seele zu bebauen und Gott die Frucht der guten Werke abzuliefern. Wer darum keine guten Werke tut, und erst recht, wer böse anstelle von guten Werken tut, ist Schuldner Gottes, der der wahre Besitzer all dieser Weinberge ist. Da wir uns aber alle häufig verfehlen, indem wir einerseits tun, was wir nicht dürfen, und andererseits nicht tun, wozu wir verpflichtet sind, ist es ganz recht, dass wir mehrmals am Tag Gott ganz demütig darum bitten, dass er uns unsere Schuld vergibt.
S: Warum fügt man hinzu: "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern"?
L: Unter Schuld versteht man hier erneut die Beleidigungen und Kränkungen, die uns von unserem Nächsten zugefügt werden. Wir sagen Gott dabei, dass er uns die Beleidigungen verzeihen möge, so wie wir sie dem verzeihen, der uns beleidigt hat. Wie folglich jemand, der die ihm vom Nächsten zugefügten Beleidigungen verzeiht, bereiter wird, die Verzeihung für die Beleidigungen, die er Gott zugefügt hat, zu erlangen, so macht sich umgekehrt jemand, der dem Nächsten die Kränkungen selbst nicht verzeihen will, damit unwürdig, von Gott verziehen zu bekommen. Und indem wir sagen, dass wir unseren Feinden die Kränkungen verzeihen, werden wir schließlich zeigen, dass wir Barmherzigkeit für etwas Erstrebenswertes halten und dass wir es für ein Zeichen eines großmütigen und edlen Charakters halten zu verzeihen. Infolgedessen kann Gott, wenn wir ihn um Barmherzigkeit bitten, uns nicht antworten: Wie willst du, dass ich dir Barmherzigkeit erweise, wo du doch die Barmherzigkeit hasst? Und wie kannst du bitten, dass ich dir vergebe, wo du es für ein Zeichen von Charakterschwäche hältst zu verzeihen?<ref> Gregor von Nyssa, De oratione Dominica. Oratio V, in: PG 44, 1177-1194: "Sed irrita atque inefficax est eiusmodi vox, et ad aures divinas non pertinet ac penetrat, nisi conscientia una nobiscum clamet, quod rectum, bonum, et decorum sit misericordiam impertiri. Nam qui judicat humanitatem Deum decere [ ... ] eum aequum fuerit suis factis iudicium de bono atque decoro stabil ire atque confirmare, ne a iusto iudice eiusmodi quid audiat: Medice, cura teipsum, me ad humanitatem hortaris, quam tu proximis non impertiris?" (1187). "Doch bleibt ein solches Flehen wirkungslos und findet bei Gott keine Erhörung, wenn uns das Gewissen nicht zugleich Zeugnis gibt, daß es für Gott am Platze sei, uns Barmherzigkeit zu gewähren. Wer also da glaubt, für Gott sei es geziemend, die Menschen zu lieben [ ... ] der muß auf Grund der Gerechtigkeit sein Urteil über das, was sich geziemt, durch sein eigenes Verhalten gegen die Mitmenschen bekräftigen, damit er nicht vom göttlichen Richter so etwas höre, wie: ,Arzt, heile dich selbst! Mich flehst du um Menschenfreundlichkeit an, die du selbst deinem Nebenmenschen nicht erweisen willst?'" (BKV2 56, 146). </ref>
S: Erklären Sie mir bitte die sechste Bitte: "Und führe uns nicht in Versuchung!"
L: In dieser Bitte erfleht man Hilfe gegen das zukünftige Böse, d. h. gegen die Versuchungen. Sie sind die Mittel, um uns in Sünde fallen zu lassen. Nun müsst ihr wissen, dass man hauptsächlich erfleht, Gott möge es nicht zulassen, dass wir von der Versuchung besiegt bzw. überwunden werden.<ref> Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechese 5, 17, in: S. P. N. Cyrilli Hierosolymorum archiepiscopi opera quae supersunt omnia II (ed. J. Rupp), München 1860, 381-395: "Et ne nos inducas in tentationem, domine idne dominus orare nos docet, ne omnino tentemur? quomodo ergo alibi (ecclesiastici 349 et ad Romanos 5 3) dictum est ,vir non tentatus non est probatus' et iterum (lacobi 1 2) ,summum gaudium existimate, fratres mei, quum in tentationes varias incideritis'? sed illud forsitan est in tentationem ingredi, cum a tentatione aliquis submergitur nam tentatio torrenti ad traiiciendum difficili similis est qui igitur in tentationibus non submerguntur, velut optimi natatores traiiciunt, et nullatenus ab eis pertrahuntur; qui vero tales non sunt, ingressi demerguntur" (391). ",Und führe uns nicht in Versuchung', Herr. Aber: Lehrt uns der Herr hier zu beten, daß wir überhaupt nicht versucht werden? Warum heißt es dann anderswo: Ein unversuchter Mensch ist nicht echt (vgl. Sir 34, 9f)? Und wieder: ,Als volle Freude betrachtet es, meine Brüder, wann immer ihr in allerlei Versuchungen geratet' (Jak 1, 2)? Aber vielleicht meint ,in Versuchung geraten' ,untergehen in der Versuchung'. Denn die Versuchung gleicht einem schwer zu überquerenden Hochwasser. Die einen, die in der Versuchung nicht untergehen, kommen hindurch, weil sie ausgezeichnete Schwimmer sind und deshalb sicher nicht von ihm hinabgezogen werden. Die anderen, die nicht so sind, gehen unter, wenn sie hineingeraten" (Cyrill von Jerusalem, Mystagogische Katechesen, griech.-deutsch, übers. u. eingel. v. G. Röwekamp [FC 7), Freiburg - BaselWien 1992, 159).
Ambrosius von Mailand, De sacramentis V, 29, in: Ambrosius, De Sacramentis. De Mysteriis. Über die Sakramente. Über die Mysterien, lat. - dt., übers. u. eingel. v. J. Schmitz (FC 3), Freiburg - Basel- Wien 1990: "Et ne patiaris induci nos in temptationem ,sed libera nos a malo.' Vide, quid dicat: ,Et ne patiaris induci nos in temptationem', quam ferre non possumus. Non dicit ,non inducas in temptationem', sed quasi athleta talem vult temptationem, quam ferre possit humana condicio et unusquisque, ut ,a malo', hoc est ab inimico, a peccato liberetur" (176.178). ",Laß nicht zu, daß wir in Versuchung geführt werden, sondern rette uns vor dem Bösen.' Beachte, was er sagen will: ,Laß nicht zu, daß wir in eine Versuchung geführt werden', der wir nicht gewachsen sind. Er sagt nicht: ,Führe du uns nicht in Versuchung', sondern er will wie ein Athlet eine solche Versuchung, der die menschliche Natur gewachsen ist, und daß ein jeder ,von dem Bösen', das heißt von dem Feind, von der Sünde, befreit wird" (ebd. 177.179).
Hilarius von Poitiers, Commentarius in Matthaeum 31, 9, in: Hilaire de Poitiers, Sur Matthieu II (ed. J. Doignon) (SC 258), Paris 1979: "Post quae ad discipulos redit et dormientes deprehendit [cf. Matth. 26, 40] et Petrum coarguit cur secum una saltim hora non uigilet [cf. Matth. 26, 40]. Petrum ideo ex tribus, quia prae ceteris non se scandalizaturum fuerat gloriatus. Superioris autem metus sui indicat causae dicens: Orate ne intretis in temptationem [Matth. 26, 41]. Hoc erat igitur quod volebat (et ideo in oratione tradiderat: Non inducas nos in temptationem) [Matth. 6, 13]' ne quid in nos infirmitati carnis liceret. Cur autem ne in temptationem venirent orare eos admonuisset, ostendit dicens: Spiritus quidem promptus, caro autem infirma [Matth. 26, 41] [ ... ] Sed vigilari praecipit et orari ne in temptationem incidant, ne infirmitati corporis succumbant" (236). "Hierauf kehrt er wieder zu seinen Jüngern zurück, und findet sie schlafend; er macht dem Petrus den Vorwurf, warum er nicht wenigstens eine Stunde mit ihm wache, dem Petrus darum aus den Dreyen, weil er sich vor den Uebrigen gerühmt hatte, daß er sich nicht ärgern werde. Er gibt aber die Ursachen seiner obigen Furcht an, indem er sagt: ,Betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet.' Dieses also war es, was er wollte, und deßwegen hatte er im Gebete gelehrt: ,Führe uns nicht in Versuchung; damit nicht die Schwachheit des Fleisches etwa gegen uns vermöchte. Warum er sie aber ermahnt hatte, zu beten, daß sie nicht in Versuchung gerathen möchten, dieses gibt er zu erkennen, mit den Worten: ,Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach;' [ ... ] Aber er heißt sie wachen und beten, damit sie nicht in Versuchung fallen, damit sie nicht der Schwachheit des Körpers unterliegen" (Sämmtliche Schriften des heiligen Hilarius, Bischofs von Poitiers [Sämmtliche Werke der Kirchen-Väter 10], Kempten 1833, 301).
Hieronymus, Commentariorum in Matheum libri IV, liber IV, in: S. Hieronymi Presbyted Opera 1, 7 (edd. D. Hurst I M. Adriaen) (CCL 77), Turnhout 1969: "vigilate et orate, ut non intretis in temptationem. Impossibile est humanam animam non temptari. Unde et in oratione dominica dicimus: Ne nos inducas in temptationem [Matth. 6, 13; Luc. 11, 4], quam ferre non possumus, non temptationem penitus refutantes sed vires sustinendi in temptationibus deprecantes. Ergo et inpraesentiarum non ait: Vigilate et orate ne temptemini, sed ne intretis in temptationem, hoc est ne temptatio vos superet et vincat et intra suos casses teneat" (255, Auslegung zu Mt 26, 41). "Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet. Es ist unmöglich, dass die menschliche Seele nicht versucht wird. Darum sagen wir auch im Vater Unser: Und führe uns nicht in eine Versuchung, die wir nicht zu ertragen imstande sind. Denn wir weisen nicht die Versuchung schlechthin von uns, sondern wir bitten um die Kräfte, in den Versuchungen standzuhalten. Demzufolge sagt er an dieser Stelle auch nicht: Wacht und betet, damit ihr nicht versucht werdet, sondern damit ihr nicht in Versuchung geratet, d. h. damit euch die Versuchung nicht überwindet, euch besiegt und euch in ihren Netzen festhält." Aurelius Augustinus, Epistula 130. Ad Probam XI, 21, in: Sancti Aureli Augustini Epistulae Ill. Ep. CXXIV-CLXXXIV A (ed. Al. Goldbacher) (CSEL 44), New York - London 1970 (= Wien - Leipzig 1904), 40-77: "eum dicimus: Ne nos inferas in temptationem, nos admonemus hoc petere, ne deserti eius adiutorio alicui temptationi vel consentiamus decepti vel cedamus afflicti" (64). "Wenn wir sprechen: ,Führe uns nicht in Versuchung', so ermahnen wir uns, darum zu bitten, daß wir nicht, des göttlichen Beistandes beraubt, uns von irgendeiner Versuchung zur Einwilligung verleiten lassen oder verzagten Sinnes ihr nachgeben" (BKV2 30, 28). </ref> Weil die Versuchungen aber sehr gefährlich sind und der Sieg unsicher ist, erfleht man auch, Gott möge es nicht zulassen, dass wir in Versuchung geraten,<ref> Gregor von Nyssa, De oratione Dominica. Oratio V, in: PG 44, 1177-1194: "Cum dixisset enim, Ne inducas nos in tentationem: subiunxit, Liberari a malo; quasi res eadam per utrumque nomen significetur. Nam si is qui non ingressus est in tentationem prorsus extra malum est, atque is qui in tentationem incidit in malo necessario versatur utique tentatio et malus significatione unum quidem sunt [ ... ] Quoniam autem [ ... ] in malo situm esse mundum Sermo dicit, atque in mundanis negotiis tentationum occasiones exsistunt, recte et convenienter qui a malo liberari precatur, ut tentationibus eximatur orat" (1191.1194). "[A]uf die Worte: ,Führe uns nicht in Versuchung!' läßt der Herr folgen: ,Erlöse uns von dem Bösen', gerade wie wenn durch beides der nämliche bezeichnet würde. Denn wenn bloß derjenige, der nicht in Versuchung gerät, dem Bösen vollständig entrinnt, so nähert sich auch jener, der in Versuchung geraten ist, notwendig dem Bereiche des Bösen; also sind ,Versuchung' und ,der Böse' ihrem Wesen nach ein und dasselbe [ ... ] Nachdem jedoch [ ... ] das Wort Gottes sagt, daß die Welt im argen liege, die Dinge der Welt aber die Anlässe zu den Versuchungen bieten, so fleht, wer bittet, vor dem Bösen beschützt zu werden, gut und passend zugleich, er möge frei von Versuchungen bleiben" (BKV2 56, 149).
Cyprian von Karthago, De dominica oratione 26, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. G. G. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "quando autem rogamus ne in temptationem veniamus, admonemur infirmitatis et inbecillitatis nostrae dum sic rogamus, ne quis se insolenter extollat, ne quis sibi superbe adque adroganter aliquid adsumat, ne quis aut confessionis aut passionis gloriam suam ducat, cum Dominus ipse humilitatem docens dixerit: vigilate et orate, ne veniatis in temptationem: spiritus quidem promptus est, caro autem infirma [Matth. 26, 41]" (286-287). "Wenn wir aber darum bitten, daß wir nicht in Versuchung kommen, so werden wir an unsere eigene Ohnmacht und Schwäche erinnert; denn wir beten so, damit keiner voll Vermessenheit sich überhebe, damit keiner voll Stolz und Eitelkeit sich etwas anmaße, damit keiner den Ruhm des Bekenntnisses oder des Leidens für sich in Anspruch nehme. Hat doch der Herr selbst Demut gelehrt und gesagt: ,Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt; der Geist zwar ist willig, aber das Fleisch ist schwach' [Matth. 26, 41; Mark. 14, 38]" (BKV2 34, 188).
Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 19, 6, in: PG 57, 273-286: "Hic iam nos vilitatem nostram clare docet, et tumorem reprimit: hortans ut certamina fugiamus, sed ne in ea insiliamus" (282). "Der Herr erinnert uns hier deutlich an unsere Armseligkeit, schlägt den Stolz nieder und lehrt uns, den Kampf nicht zu verweigern, uns aber auch nicht in denselben zu stürzen" (Des heiligen Johannes Chrysostomus Homilien über das Evangelium des heiligen Matthäus [übers. v. Max, Herzog zu Sachsen) I, Regensburg 1910, 322). </ref> vor allem, wenn er sieht, dass nicht wir, sondern der Teufel siegen würde. Daraus könnt ihr eine schöne Lehre ziehen, dass nämlich der Teufel uns nicht nur nicht besiegen kann, sondern uns noch nicht einmal in Versuchung führen kann, wenn es Gott nicht zulässt.
S: Die Worte: "Führe uns nicht in Versuchung!" verstehe ich nicht recht. Das scheint doch zu bedeuten, dass Gott die Menschen normalerweise in Versuchung führt und wir ihn nun darum bitten, dass er es nicht tut.
L: In Versuchung führen, sei es zum Bösen versuchen oder sei es in die Sünde stürzen, ist eine Eigenschaft des Teufels, in keinerlei Hinsicht dagegen die Sache Gottes, der ganz im Gegenteil die Sünde aufs äußerste hasst.<ref> "Nemo cum tentatur, dicat quoniam a Deo tentatur: Deus enim intentator malorum est: ipse autem neminem tentat. Unusquisque vero tentatur a concupiscentia sua abstractus, et illectus. Deinde concupiscentia cum conceperit, parit peccatum: peccatum vero cum consummatum fuerit, generat mortem" (Jak 1, 13-15; "Niemand sage, wenn er versucht wird, daß er von Gott versucht werde; denn Gott kann nicht zum Bösen versucht werden, er versucht aber auch niemanden; sondern jeder wird versucht, indem er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird; dann, wenn die Lust empfangen hat, gebieret sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollbracht ist, gebieret den Tod"). </ref> Wenn es von Gott heißt, dass er jemanden in Versuchung führt, dann bedeutet das nach der Redeweise der Heiligen Schrift nichts anderes, als dass er zulässt, dass jemand versucht wird oder von der Versuchung besiegt wird. Folglich ist der Sinn dieser Bitte genau so wie wir es bereits gesagt haben: In Kenntnis unserer Schwäche und Hinfälligkeit und zugleich der List und Macht des Teufels bitten wir Gott, er möge nicht nur nicht zulassen, dass wir von der Versuchung zu Boden gestreckt werden, sondern auch nicht, dass wir versucht werden, wenn er sieht, dass wir nicht Sieger bleiben würden.
S: Nun bleibt noch die letzte Bitte: "Sondern erlöse uns von dem Bösen!" Von was für einem Bösen ist hier die Rede?
L: Teils bekräftigt diese letzte Bitte die zuvor ausgesprochenen Bitten und teils fügt sie etwas Neues hinzu. Darum lautet sie: "sondern erlöse uns von dem Bösen!" D. h. wir bitten nicht nur: Du mögest uns die Sünden der Vergangenheit vergeben und uns vor den zukünftigen bewahren, sondern auch noch: Du mögest uns von allem gegenwärtigen Bösen befreien.<ref> Cyprian von Karthago, De dominica oratione 27, in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. G. Hartel) (CSEL 3/1), Wien 1868, 265-294: "Post ista omnia in consummatione orationis venit clausula universas petitiones et preces nostras collecta brevitate concludens in novissimo enim ponimus: sed libera nos a malo, conprehendentes adversa cuncta quae contra nos in hoc mundo molitur inimicus" (287). "Nach all dem kommt am Ende des Gebetes ein Schlußsatz, der alle unsere Bitten und Anliegen in gedrängter Kürze in sich begreift. Denn wir schließen mit den Worten: ,Sondern erlöse uns von dem Übel', indem wir alle Widerwärtigkeiten zusammenfassen, die der Feind in dieser Welt gegen uns im Schilde führt" (BKV2 34, 188).
Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte II, 9, 35, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967: "Orandum enim est, ut non solum non inducamur in malum quo caremus, quod sexto loco petitur, sed ab illo etiam liberemur quo iam inducti sumus. Quod cum factum fuerit, nihil remanerit formidolosum, nec omnino metuenda erit ulla temptatio" (125). "Wir sollen also darum beten, nicht nur nicht in das Böse geführt zu werden, von dem wir frei sind, wie in der sechsten Bitte erbeten wird, sondern auch von dem Bösen erlöst zu werden, in das wir schon geführt worden sind. Hat sich das einmal erfüllt, bleibt nichts Schreckenerregendes und ist überhaupt keine Versuchung mehr zu fürchten" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner [Christliche Meister 54], Einsiedeln 2006, 127).
Beda Venerabilis, In Matthaei Evangelium Expositio 1, 6, in: PL 92, 9-132: "Sed libera nos a malo. Videlicet, ut ab omnibus quae diabolus et mundus operantur securi stemus ac tuti" (33). "Sondern erlöse uns von den Bösen. Nämlich, dass wir vor allem, was der Teufel und die Welt wirken, sicher und geschützt sein mögen."
Rupert von Deutz, De gloria et honore filii hominis super Matthaeum (ed. H. Haacke) V, 6, 13, in: CCM 29, Turnhout 1979: "magis universale nomen est malum eorum quae nocent et naturae vel saluti humanae adversa sunt" (168). ",Übel' ist ein umfassenderer Begriff für das, was Schaden bringt und der menschlichen Natur und dem Heil des Menschen feindlich ist." </ref> Beachtet dabei, dass unser Herr uns in großer Weisheit lehrt, die Befreiung vom Bösen insgesamt zu erflehen, nicht aber einzelnes nennt, etwa Armut, Krankheit, Verfolgungen und ähnliches. Uns scheint es nämlich oft, dass etwas für uns gut sei, Gott sieht aber, dass es für uns schlecht ist. Umgekehrt scheint uns, etwas sei für uns schlecht, Gott aber sieht, dass es für uns gut ist. Deshalb bitten wir, wie es uns der Herr gelehrt hat, er möge uns von all dem befreien, von dem er sieht, dass es für uns schlecht ist, sei es Wohlstand, sei es Elend.
S: Was bedeutet "Amen"?
L: Dieses Wort ist hebräisch und bedeutet, wie ich euch schon sagte, "So sei es" oder "So ist es". Am Ende des Glaubensbekenntnisse bedeutet "Amen": "So ist es" und "So glaube ich es". Genauso bedeutet "Amen" am Ende des Vater Unser "So sei es", "So wünsche ich es" und "So bitte ich, dass es geschehen möge."
Kapitel V: Erklärung des "Gegrüßet seist du, Maria (Ave Maria)"
S: Da Sie mir das Vater Unser erklärt haben, wünsche ich mir, dass Sie mir auch das "Gegrüßet seist du, Maria" erklären.
L: Sehr gerne will ich das tun, denn ich wünsche mir, dass ihr die Mutter Gottes eifrig verehrt. In unserer Sprache lautet das "Ave Maria": "Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebendeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen."
S: Warum wird dem Vater Unser gerade das "Gegrüßet seist du, Maria" angefügt und nicht irgendein anderes Gebet?
L: Weil wir bei Christus keinen mächtigeren Fürsprecher und Mittler haben als seine Mutter. Wenn wir deshalb das Gebet gesprochen haben, das Christus uns gelehrt hat, wenden wir uns an die Mutter, damit sie uns mit ihrer Fürbitte hilft, das auch zu erlangen, worum wir im Vater Unser gebetet haben. In ganz ähnlicher Weise empfehlen wir ja in dieser Welt, nachdem wir eine Bittschrift an den Fürsten gerichtet haben, diese Angelegenheit dem Einflussreichsten am Hof.
S: Wer hat das "Gegrüßt seist du, Maria" verfasst?
L: Gott selbst hat es verfasst, wenn er es uns auch nicht persönlich gelehrt hat, sondern durch den Mund des Erzengels Gabriel, der hl. Elisabeth und der Kirche. Denn die Worte "Gegrüßt seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen" hat der Erzengel Gabriel gesprochen.<ref> "Et ingressus angelus ad eam dixit: Ave gratia plena: Dominus tecum: Benedicta tu in mulieribus" (Lk 1, 28; "Und der Engel kam zu ihr hinein, und sprach: Gegrüßet seist du, voll der Gnaden, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeiet unter den Weibern!"). </ref> Er sprach sie jedoch als Gesandter Gottes und darum im Namen Gottes, und Gott sprach sie durch den Mund seines Boten. Die weiteren Worte "und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes" sprach Elisabeth, aber sie sprach sie, als sie voll des Heiligen Geistes war, wie der Evangelist Lukas berichtet.<ref> "[E]t repleta est Spiritu sancto Elisabeth: et exclamavit voce magna, et dixit: Benedicta tu inter mulieres, et benedictus fructus ventris tui" (Lk 1, 41-42; "und Elisabeth ward erfüllet von dem heiligen Geiste; und sie rief mit lauter Stimme, und sprach: gebenedeiet bist du unter den Weibern, und gebenedeiet ist die Frucht deines Leibes!"). </ref> Daran kann man sehen, dass der Heilige Geist diese Worte durch den Mund der hl. Elisabeth sprach. Den Rest hat die heilige Kirche angefügt, die vom Heiligen Geist gelenkt und belehrt wird. So kann man also mit Recht sagen, dass das "Gegrüßt seist du, Maria" nach dem Vater Unser, das uns Christus selbst gelehrt hat, das hervorragendste Gebet ist, das es gibt, ist es doch ebenfalls von Gott selbst verfasst und uns durch den Mund seiner Diener gelehrt worden.
S: Kommen wir nun zur Erklärung. Warum sagen wir: "Gegrüßt seist du, Maria"?
L: Das ist ein Gruß, mit dem wir sie ansprechen, um zu zeigen, dass wir ihre Freunde und Bekannten sind und dass wir aus diesem Grund den Mut haben, sie anzusprechen. Dabei gebrauchen wir die Worte des Engels, weil wir wissen, dass sie sich sehr darüber freut, häufig diese gute Kunde zu vernehmen, die ihr der Engel brachte, als er diese Worte zu ihr sagte. Und sie freut sich auch, dass wir uns daran erinnern und Gott für eine so große Wohltat dankbar sind.
S: Was bedeutet "voll der Gnade"?
L: Die Gnade Gottes übt auf die Seele drei Hauptwirkungen aus: Sie löscht die Sünden aus, die wie Makel sind, die die Seele beschmutzen; sie schmückt die Seele mit Gaben und Tugenden; schließlich gibt sie ihr die Kraft, verdienstliche und der göttlichen Majestät wohlgefällige Werke zu tun. Die Mutter Gottes ist voll der Gnade, weil sie aufgrund der ersten Wirkung niemals einen Makel irgendeiner Sünde hatte,<ref> "Tota pulchra es amica mea, et macula non est in te" (Hld 4, 7; "Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir!"). </ref> weder der Erbsünde noch der persönlichen Sünde, weder der lässlichen noch der Todsünde. Aufgrund der zweiten Wirkung hat sie in höchstem Maß alle Tugenden und Gaben des Heiligen Geistes besessen. Aufgrund der dritten Wirkung hat sie Werke getan, die Gott so wohlgefällig und so verdienstvoll waren, dass sie würdig war, mit Seele und Leib über alle Chöre der Engel emporzusteigen.
S: Anscheinend hat die Mutter Gottes nicht mehr Gnade als andere Heilige gehabt, denn ich habe oft gehört, dass auch der hl. Stephanus und andere Heilige voll der Gnade waren.
L: Obwohl man auch von den anderen Heiligen sagt, sie seien voll der Gnade gewesen, so hat doch die Mutter Gottes mehr Gnade als alle gehabt, denn sie ist von Gott zur Aufnahme größerer Gnaden befähigt worden als irgendein anderer Heiliger. Ebenso sind ja, wenn man mehrere Gefäße, eines jeweils größer als das andere, mit Balsam füllt, alle voll. Trotzdem wird dann im größeren mehr Balsam als in den anderen sein. Der Grund dafür ist, dass Gott die Menschen zu größerer oder geringerer Gnade fähig macht, je nach der Aufgabe, die er ihnen gibt. Weil aber die größte Aufgabe, die je einem bloßen Geschöpf übertragen worden ist, darin bestand, die Mutter Gottes zu sein, ist die Mutter Gottes zur Aufnahme größerer Gnade fähig gemacht und mit größerer Gnade erfüllt worden als sonst irgendein Geschöpf.
S: Was bedeutet: "der Herr ist mit dir"?
L: Das ist das zweite unvergleichliche Lob der seligen Jungfrau. Es zeigt uns, dass der Herr vom Anfang ihrer Empfängnis an mit einem immerwährenden Beistand bei der Mutter Gottes war, indem er sie führte und schützte.<ref> Sancti Aureli Augustini De natura et gratia liber unus XXXVI, 42, in: Sancti Augustini Opera (Sect. VIII Pars I) (edd. C. F. Urba / I. Zycha) (CSEL 60), New York - London 1962 (= Wien - Leipzig 1913), 231-299: "excepta itaque sancta virgine Maria, de qua propter honorem domini nullam prorsus, cum de peccatis agitur, haberi volo quaestionem unde enim scimus quid ei plus gratiae conlatum fuerit ad vincendum omni ex parte peccatum, quae concipere ac parere meruit, quem constat nullum habuisse peccatum?" (263-264). "Sehen wir also ab von der heiligen Jungfrau Maria, betreff [sic!] deren ich wegen der Ehre des Herrn überhaupt keine Frage gestellt haben will, wenn von Sünden gesprochen wird. Woher wissen wir nämlich, welcher Reichtum an Gnade ihr verliehen war, um über die Sünde in jeglicher Hinsicht zu siegen, da sie gewürdigt wurde, den zu empfangen und zu gebären, der sicherlich keine Sünde hatte?" (Aurelius Augustinus, Natur und Gnade [übers. v. A. Maxsein], in: Aurelius Augustinus, Schriften gegen die Pelagianer 1, Würzburg 1971, 497).</ref> Daher kam es, dass sie niemals in Gedanken, Worten oder Werken eine Sünde begangen hat. Deshalb hat Gott diese allerheiligste Jungfrau nicht nur mit allen Gnaden geschmückt, sondern er wollte auch stets bei ihr sein, um über einen so großen Schatz zu wachen.
S: Was bedeutet: "du bist gebenedeit unter den Frauen"?
L: Das ist das dritte Lob, das man der Mutter Gottes spendet. Darin gibt man kund, dass sie nicht nur voll von allen Gnaden war, die eine Jungfrau haben kann, sondern auch von denen, die eine Ehefrau haben kann. So aber überragt sie in jeder Hinsicht alle anderen Frauen, die es je gegeben hat und je geben wird. Der Segen der Ehefrauen ist ja die Fruchtbarkeit, und daran fehlte es der seligen Jungfrau nicht, hat sie doch einen Sohn geboren, der mehr wert ist als hunderttausend Söhne. Man kann auch sagen, dass sie sehr, sehr viele Kinder hat, denn alle guten Christen sind Brüder und Schwestern Christi und folglich Kinder der Mutter Gottes, wenn auch nicht aufgrund der Geburt und von Natur aus, denn in dieser Weise ist Christus ihr einziger Sohn. Doch sie sind ihre Kinder aufgrund der Liebe und der mütterlichen Zärtlichkeit, die sie für alle hat. Darum sagt man mit Recht "du bist gebenedeit unter den Frauen", weil die anderen entweder den Ruhm der Jungfräulichkeit, aber ohne Fruchtbarkeit, oder den Segen der Fruchtbarkeit, aber ohne Jungfräulichkeit haben. Allein sie hat von Gott das besondere Privileg verliehen bekommen, dass sie die Ehre der vollkommenen Jungfräulichkeit mit dem Segen der höchsten und überaus heilbringenden Fruchtbarkeit verband.
S: Was bedeutet: "und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus"?
L: Das ist das vierte Lob, das man der Mutter Gottes spendet, d. h. dass sie nicht nur hinsichtlich ihrer eigenen Vorzüge ehrwürdig ist, sondern auch hinsichtlich der Vorzüge der Frucht ihres Leibes. Denn das Lob der Frucht fällt auf den Baum zurück, und der Ruhm des Sohnes auf die Mutter. Weil Jesus aber nicht nur wahrer Mensch ist und gebenedeit unter den Menschen, sondern Gott, gepriesen über allem, wie uns der hl. Paulus lehrt,<ref> "Christus [ ... ] qui est super omnia Deus benedictus in saecula" (Röm 9, 5; "Christus [ ... ] der da ist über alles, Gott, hochgelobt in Ewigkeit!"). </ref> darum ist seine Mutter nicht nur gebenedeit unter den Frauen, sondern gebenedeit unter allen Geschöpfen auf Erden und im Himmel.
S: Erklären Sie mir bitte den Rest des "Gegrüßet seist du, Maria"!
L: In den folgenden Worten bittet die heilige Kirche die Mutter Gottes, dass sie für uns Fürbitte einlegen möge, dass wir das sehr nötig haben, weil wir Sünder sind, und dass sie uns stets helfen möge, solange wir leben, besonders aber an der Schwelle des Todes, wenn die Gefahr für uns am größten sein wird. Dabei wiederholt die heilige Kirche das größte Lob der Mutter Gottes, nämlich eben dass sie die Mutter Gottes ist, und zeigt so, dass diese von Gott alles erlangen kann, was sie will.
S: Ich möchte gern wissen, warum man dreimal am Tag zum "Gegrüßet seist du, Maria" läutet, nämlich morgens, mittags und abends.
L: Damit wir verstehen, dass wir es nötig haben, häufig Gott und die Heiligen um ihre Hilfe anzurufen, sind wir doch von sichtbaren und unsichtbaren Feinden umgeben. Und wir sollen auch begreifen, dass wir uns nicht damit zufrieden geben dürfen, zu Beginn unserer Werke zu den Waffen des Gebetes zu greifen, sondern dasselbe auch im Verlauf und am Ende tun sollen. Noch ein weiterer verborgener Grund für dieses dreimalige Läuten des "Gegrüßet seist du, Maria" liegt darin, dass uns die heilige Kirche fortwährend die drei Hauptgeheimnisse unserer Erlösung in Erinnerung rufen will, d. h. die Menschwerdung, die Passion und die Auferstehung. Deshalb will sie, dass wir die Mutter Gottes morgens im Gedenken an die Auferstehung des Herrn grüßen, mittags im Gedenken an die Passion und abends im Gedenken an die Menschwerdung. Denn wir wissen sicher, dass unser Herr mittags ans Kreuz geschlagen wurde und morgens auferstand, und wir glauben, dass die Menschwerdung nachts geschah.<ref> "Cum enim quietum silentium contineret omnia, et nox in suo cursu medium iter haberet, omnipotens sermo tuus de caelo a regalibus sedibus, durus debellator in mediam exterminii terram prosilivit" (Weish 18, 14-15; "Während nämlich tiefe Stille alles umfing und die Nacht sich in ihres Laufes Mitte befand, stieg dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom Königsthrone, wie ein furchtbarer Streiter, in die Mitte des dem Verderben geweihten Landes herab"). </ref>
Kapitel VI: Erklärung der zehn Gebote Gottes
S: Da ich die Erklärung des Glaubensbekenntnisses, des Vater Unser und des "Gegrüßet seist du, Maria" bereits verstanden habe, möchte ich gern, dass Sie mir nun die zehn Gebote des Gesetzes Gottes erklären. Denn das ist der dritte Teil des Katechismus, wie Sie mir am Anfang gesagt haben.
L: Ihr habt recht, dass ihr die zehn Gebote des Gesetzes Gottes lernen und gut verstehen wollt, denn der Glaube und die Hoffnung reichen ohne die Liebe und ohne die Befolgung des göttlichen Gesetzes nicht, um gerettet zu werden.
S: Es gibt doch in der Welt und in der Kirche so viele Gesetze und so viele Gebote, warum ist dieses Gesetz, das die zehn Gebote enthält, wichtiger als alle anderen?
L: Für die überragende Bedeutung dieses Gesetzes lassen sich viele Gründe anführen. Denn zum ersten ist dieses Gesetz von Gott gemacht und von ihm selbst zuerst in die Herzen der Menschen und danach auch auf zwei Marmortafeln<ref> "Deditque Dominus Moysi, completis huiuscemodi sermonibus in monte Sinai, duas tabulas testimonii lapideas, scriptas digito Dei" (Ex 31, 18; "Und der Herr gab dem Moses, als er geendet hatte, solches zu reden auf dem Berge Sinai, zwei steinerne Tafeln des Zeugnisses, beschrieben mit dem Finger Gottes").
"Praecide, ait, tibi duas tabulas lapideas instar priorum, et scribam super eas verba, quae habuerunt tabulae, quas fregisti [ ... ] Excidit ergo duos tabulas lapideas, quales antea fuerant" (Ex 34, 1 und 4; "Und weiter sprach er: Hau dir zwei steinerne Tafeln wie die vorigen, und ich will auf sie die Worte schreiben, die auf den Tafeln waren, welche du zerbrochen hast [ ... ] Also hieb er zwei steinerne Tafeln, wie sie ehevor waren"). </ref> geschrieben worden. Zum zweiten ist dieses Gesetz das älteste von allen und gleichsam die Quelle aller anderen. Drittens ist es das Gesetz mit der uneingeschränktesten Geltung, das es gibt. Denn es verpflichtet nicht nur die Christen, sondern auch die Juden und die Heiden, Männer wie Frauen, Reiche wie Arme, Fürsten wie einfache Bürger, Gelehrte wie Unwissende. Viertens ist dieses Gesetz unveränderbar, und man kann davon kein einziges Wort wegnehmen oder jemanden davon entpflichten.<ref> Thomas von Aquin, Summa theologiae I-Il qu. 100. art. 8, in: S. Thomae Aquinatis Summa theologica (ed. J. Pecci) I!, Paris 1887: "Si qua ergo praecepta dentur quae contineant ipsam conservationem boni communis, vel ipsum ordinem iustitiae et virtutis, huiusmodi praecepta continent intentionem legislatoris; et ideo indispensabilia sunt" (474). "Wenn es daher Gebote gibt, die eben die Wahrung des Gemeingutes oder eben die Ordnung der Gerechtigkeit und der Tugend enthalten, so enthalten sie die Absicht des Gesetzgebers: und deswegen lassen sie keine Ausnahme zu" (OThA 13, 229).</ref> Fünftens ist es für alle notwendig, um gerettet zu werden, wie uns unser Herr mehrfach in seinem heiligen Evangelium gelehrt hat.<ref> "Et ecce unus accedens, ait illi: Magister bone, quid boni faciam ut habeam vitam aeternam? Qui dixit ei: [ ... ] Si autem vis ad vitam ingredi, serva mandata. Dicit illi: Quae? Iesus autem dixit: Non homicidium facies: Non adulterabis: Non facies furtum: Non falsum testimonium dices: Honora patrem tuum, et matrem tuam, et diliges proximum tuum sicut teipsum" (Mt 19, 16-19; "Und siehe, da trat einer hinzu, und sprach zu ihm: Guter Meister! Was muß ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben erlange? Da sprach er zu ihm [ ... ] Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Er sprach zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst kein falsches Zeugnis geben! Ehre deinen Vater und deine Mutter, und liebe deinen Nächsten wie dich selbst!"). </ref> Und schließlich ist es mit höchster Feierlichkeit auf dem Berg Sinai unter dem Klang von Engelsposaunen, lautem Donner und Blitzen vom Himmel in Gegenwart des ganzen Volkes Gottes verkündet worden.<ref> "Cunctus autem populus videbat voces et lampades, et sonitum buccinae, montemque fumantem: et perterriti ac pavore concussi, steterunt procul" (Ex 20, 18; "Und das ganze Volk hörte den Donner und den Schall der Posaunen und sah das Blitzen und den rauchenden Berg; und da sie sich fürchteten und von Schrecken getroffen waren, traten sie in die Ferne"). </ref>
S: Bevor wir zur Erklärung der Gebote im einzelnen kommen, würde ich zunächst gern ihren Inhalt insgesamt und die Reihenfolge der Gebote begreifen.
L: Das Ziel all dieser Gebote ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten, weil alle uns lehren, weder Gott noch den Nächsten zu beleidigen.<ref> "Finis autem praecepti est caritas de corde puro, et conscientia bona, et fide non ficta" (1 Tim 1, 5; "Denn der Endzweck des Gebotes ist Liebe aus reinem Herzen, und gutem Gewissen, und unverfälschtem Glauben").
"Nemini quidquam debeatis: nisi ut invicem diligatis: qui enim diligit proximum, legem implevit. Nam: Non adulterabis: Non occides: Non furaberis: Non falsum testimonium dices: Non concupisces: et si quod est aliud mandatum, in hoc verbo instauratur: Diliges proximum tuum sicut teipsum. Dilectio proximi malum non operatur. Plenitudo ergo legis est dilectio" (Röm 13, 8-10; "Bleibet niemandem etwas schuldig, als daß ihr euch einander liebet; denn wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn das Verbot: Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst kein falsches Zeugnis geben; du sollst nicht gelüsten; und jedes andere Gebot ist in dieser Vorschrift enthalten: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses; die Liebe ist also die Erfüllung des Gesetzes"). </ref> Darum sind sie in zwei Teile gegliedert und wurden, wie schon gesagt, auf zwei Marmortafeln geschrieben. Der erste Teil enthält drei Gebote, die uns lehren, wozu wir Gott gegenüber verpflichtet sind; der zweite enthält sieben weitere Gebote, die uns lehren, wozu wir dem Nächsten gegenüber verpflichtet sind.<ref> Vgl. Clemens von Alexandrien, Stromata VI, 16, in: PG 9, 357-380; deutsch in: BKV2 2. Reihe 119, 329-341. Aurelius Augustinus, Quaestionum in Heptateuchum libri VI! (ed. 1. Fraipont). Liber 11. Quaestiones Exodi. Quaest. LXXI, 1-2, in: Aurelii Augustini Opera V (CCL 33), Turnhout 1958, 1-377: "Quaeritur decem praecepta legis quemadmodum diuidenda sint: utrum quattuor sint usque ad praeceptum de sabbato, quae ad deum pertinent, sex autem reliqua, quorum primum est: honora patrem et matrem, quae ad hominem pertinent, an potius illa tria sint et ista septem ... Mini [sic!] tamen videntur congruentius accipi tria illa et ista septem" (102-103). "Es erhebt sich die Frage, wie die zehn Gebote des Gesetzes zu unterteilen sind. Sind es nämlich vier bis zum Sabbatgebot, die sich auf Gott beziehen, sechs weitere hingegen, deren erstes lautet: ,Ehre Vater und Mutter!', die sich auf den Menschen beziehen? Oder sind erstere vielmehr drei Gebote und letztere sieben? ... Mir scheint jedoch die Einteilung in drei und sieben schlüssiger."
Aurelius Augustinus, Ad inquisitiones Ianuarii liber secundus XI, 20 (= Epistula 55, XI, 20), in: S. Augustini Epistulae 11. Ep. XXXI-CXXIII (ed. Al. Goldbacher) (CSEL 341 I!), Prag - Wien - Leipzig 1898, 169-213: "Hinc est, quod etiam in tribus primis praeceptis decalogi, quae ad deum pertinent - cetera enim septem ad proximum pertinent, id est ad hominem, quia in duobus praeceptis tota lex pendet [Matth. XXII, 40]-, tertium ibi de obseruatione sabbat i positum est" (190). "Daher kommt es auch, daß von den drei ersten Gebotes des Dekalogs, die sich auf Gott beziehen - die anderen sieben beziehen sich ja auf den Nächsten, das ist auf den Menschen, weil ,das ganze Gesetz in zwei Geboten enthalten ist' [Mt 22, 40]-, das dritte von der Sabbatfeier handelt" (BKV2 29, 234).</ref> Ihr müsst aber wissen, dass, obwohl auf einer Tafel nur drei Gebote und auf der anderen sieben waren, die beiden Tafeln einander doch gleich und beide ganz mit Schrift bedeckt waren. Denn die ersten drei waren mit mehr Worten aufgeschrieben, die übrigen sieben hingegen mit weniger, und so waren die sieben kürzeren Gebote den drei längeren Geboten hinsichtlich des Textumfangs gleich.
S: Warum sind auf der ersten Tafel gerade drei Gebote?
L: Weil sie uns lehren, Gott mit dem Herzen, mit den Worten und mit den Werken zu lieben.
S: Und warum sind auf der zweiten Tafel sieben Gebote?
L: Eines lehrt uns, dem Nächsten Gutes zu tun. Die anderen sechs lehren uns, ihm nichts Böses zu tun, zunächst an seiner Person, dann an seiner Ehre und schließlich an seinem Eigentum, und das weder in Werken noch mit Worten noch im Herzen.
S: Kommen wir jetzt zu den Geboten selbst. Lehren Sie mich bitte als erstes den Wortlaut, mit dem sie von Gott auf diese Tafeln geschrieben wurden!
L: Der Wortlaut ist wie folgt: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten und aus dem Haus der Knechtschaft herausgeholt hat.
1. Du sollst mir keinen anderen Gott vorziehen.
2. Du sollst den Namen Gottes nicht ohne Grund nennen.
3. Denke daran, die Feste zu heiligen.
4. Ehre den Vater und die Mutter.
5. Nicht töten.
6. Keinen Ehebruch begehen.
7. Nicht stehlen.
8. Kein falsches Zeugnis gegen deinen Nächsten geben.
9. Die Frau eines anderen nicht begehren.
10. Das Eigentum eines anderen nicht begehren.<ref> Die italienische Form der zehn Gebote weicht etwas von der üblichen deutschen ab.
Diese lautet (nach "Gotteslob" Nr. 61): Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat.
1. Du sollst keine andern Götter neben mir haben!
2. Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren!
3. Gedenke, dass du den Sabbat heiligst!
4. Du sollst Vater und Mutter ehren!
5. Du sollst nicht töten!
6. Du sollst nicht ehebrechen!
7. Du sollst nicht stehlen!
8. Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten!
9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau!
10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut! </ref><ref> "Ego sum Dominus Deus tuus, qui eduxi te de Terra Aegypti, de domo servitutis. Non habebis deos alienos coram me. Non facies tibi sculptile, neque omnem similitudinem quae est in caelo desuper, et quae in terra deorsum, nec eorum quae sunt in aquis sub terra. Non adorabis ea, neque coles [ ... ] Non assumes nomen Domini Dei tui in vanum [ ... ] Memento ut diem sabbati sanctifices [ ... ] Honora patrem tuum et matrem tuam, ut sis longaevus super terram, quam Dominus Deus tuus dabit tibi. Non occides. Non moechaberis. Non furtum facies. Non loqueris contra proximum tuum falsum testimonium. Non concupisces domum proximi tui: nec desiderabis uxorem eius, non servum, non ancillam, non bovem, non asinum, nec omnia quae illius sunt" (Ex 20, 2-5.7.8.12-17; "I. Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten geführt, aus dem Hause der Knechtschaft. Du sollst keine fremden Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis von dem, was im Himmel oben, oder auf der Erde unten, oder was unter der Erde im Wasser ist. Du sollst sie nicht anbeten, noch ihnen dienen [ ... ] II. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht eitel nennen [ ... ] III. Gedenke, daß du den Sabbattag heiligest [ ... ] IV. Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf daß du lange lebest im Lande, das der Herr, dein Gott, dir geben wird. V. Du sollst nicht töten. VI. Du sollst nicht ehebrechen. VII. Du sollst nicht stehlen. VIII. Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten. IX. X. Du sollst nicht begehren das Haus deines Nächsten, noch begehren sein Weib, noch seinen Knecht, noch seine Magd, noch seinen Ochsen, noch seinen Esel, noch alles, was sein ist"). </ref>
S: Was bedeuten die Worte, die den Geboten vorausgehen?
L: In diesen Worten werden vier Gründe genannt, die uns zeigen sollen, dass Gott das Recht hat, uns ein Gesetz zu geben, und dass wir verpflichtet sind, es zu halten. Der erste Grund liegt in den Worten "Ich bin der Herr", denn weil Gott unser erster und oberster Herr ist, der uns aus nichts geschaffen hat, kann er uns als seinen eigenen Knechten zweifellos ein Gesetz geben. Der zweite Grund liegt in dem Wort "Gott". Denn dieses Wort zeigt uns, dass unser Herr nicht nur Herrscher ist, sondern auch oberster Richter und Lenker und als solcher ein Gesetz geben und den bestrafen kann, der es nicht hält. Der dritte Grund liegt im Wort "dein", weil wir über die Gehorsamspflicht hinaus, die wir als Knechte gegenüber dem Herrn und als Untergebene gegenüber dem Richter haben, noch eine weitere Verpflichtung aufgrund des Bundes haben, den Gott mit uns und wir mit ihm in der heiligen Taufe schließen. Denn darin nimmt er uns eigens als seine Adoptivkinder an, und wir nehmen ihn eigens als unseren Vater an, so wie Gott auch alle Gläubigen als sein besonderes Volk annimmt und die Gläubigen Gott als ihren eigenen Gott und Herrn. Der vierte Grund liegt in den Worten "der dich aus dem Land Ägypten und aus dem Haus der Knechtschaft herausgeholt hat". Denn außer so vielen anderen Verpflichtungen gibt es ja noch die Dankespflicht, hat Gott uns doch aus der Knechtschaft des Teufels und der Sünde befreit, deren biblisches Vorbild jene Knechtschaft in Ägypten unter Pharao war, woraus Gott das jüdische Volk befreite.
Erklärung des ersten Gebots
S: Erklären Sie mir jetzt bitte das erste Gebot!
L: Das erste Gebot besteht aus drei Teilen. Der erste ist, dass wir Gott auch wirklich als Gott ansehen sollen. Das zweite ist, dass wir nichts anderes für Gott halten sollen. Der dritte, dass wir keine Götzen, d. h. Statuen oder Bilder, anfertigen sollen, die für Gott gehalten werden sollen, und dass wir die besagten Götzen nicht anbeten sollen.
S: Erklären Sie mir bitte den ersten Teil!
L: Gott will für den gehalten werden, der er ist, d. h. für den wahren Gott. Das tut man durch die Ausübung von vier Tugenden gegenüber seiner göttlichen Majestät, nämlich Glaube, Hoffnung, Liebe und Gottesverehrung. Wer an Gott glaubt, hält Gott für Gott, denn er hält ihn für die höchste Wahrheit. Darin versündigen sich die Irrgläubigen, dass sie ihm nicht glauben. Wer auf Gott hofft, hält Gott für Gott, weil er ihn für überaus treu, barmherzig und auch mächtig hält, denn er ist voll Vertrauen, dass Gott in jeder Not helfen kann und auch will. Dagegen versündigen sich diejenigen, die an der Barmherzigkeit Gottes verzweifeln oder die mehr auf die Menschen als auf Gott oder ebenso sehr auf die Menschen wie auf Gott ihre Hoffnung setzen. Wer Gott über alles liebt, hält Gott für Gott, weil er ihn für das höchste Gut hält. Dagegen versündigen sich diejenigen, die irgendein Geschöpf mehr als Gott oder genauso sehr wie Gott lieben, und noch viel mehr sündigen die, die Gott hassen. Wer Gott schließlich mit höchster Ehrfurcht anbetet, so wie es uns die Tugend der Gottesverehrung lehrt, der hält Gott für Gott, weil er ihn für den ersten Ursprung und den Urheber aller Dinge hält. Dagegen versündigen sich diejenigen, die Gott und dem, was ihm geweiht ist, also etwa Kirchen, heiligen Gefäßen, Priestern und ähnlichem wenig Achtung entgegenbringen, aber auch diejenigen, die die Menschen genauso sehr ehren wie Gott oder sogar noch mehr als Gott.
S: Erklären Sie mir bitte den zweiten Teil dieses Gebotes!
L: Im zweiten Teil will und gebietet Gott, dass wir nichts Geschaffenes für Gott halten. Dagegen versündigten sich in alter Zeit die Heiden, die, da sie den wahren Gott nicht kannten, verschiedene Geschöpfe wie die Sonne, den Mond oder einige verstorbene Menschen für Gott hielten und anbeteten. Dagegen versündigen sich ebenfalls die Hexenmeister, die Hexen und all die Zauberer, die Geisterbeschwörer und die Wahrsager, die dem Teufel in der Hölle jene Ehre geben, die man Gott geben muss. Einige von ihnen halten ihn sogar für ihren Gott. Sie beten ihn an und meinen, mit seiner Hilfe die Zukunft vorhersagen zu können, Schätze zu finden oder ihre anderen verwerflichen Begierden befriedigen zu können. Weil der Teufel aber der größte Feind des Menschengeschlechts ist, betrügt er diese armen Leute und bringt sie dazu, wegen unbegründeter Hoffnungen viele Sünden begehen, so dass sie am Ende ihre Seele und oft auch ihren Leib verlieren.
S: Erklären Sie mir bitte den dritten Teil!
L: Im dritten Teil gebietet Gott, dass wir, wie gesagt, nicht nur das von ihm Geschaffene nicht für Gott halten sollen, sondern wir erst recht selbst keine Dinge herstellen sollen, um sie dann für Gott zu halten und anzubeten. Dagegen versündigten sich in alter Zeit die Heiden, die so blind waren, dass sie Götzen herstellten, d. h. Statuen aus Gold, Silber, Holz oder Marmor, und sich einbildeten, diese seien Götter, vor allem weil die Dämonen der Hölle manchmal in sie hineinfuhren und sie sprechen oder sich bewegen ließen. Und so brachten sie ihnen Opfer dar und beteten sie an. Weil aber die heiligen Märtyrer so etwas auf keinen Fall tun wollten, ließen die Heiden sie unter schlimmsten Qualen sterben.
S: Ist zu diesem Gebot sonst noch etwas zu sagen?
L: Diesem Gebot hat Gott eine schreckliche Drohung beigefügt für die, die es übertreten, und eine große Verheißung für die, die es befolgen. Denn nachdem Gott dieses Gebot gegeben hat, spricht er diese Worte: Ich bin ein eifernder Gott. Ich strafe nicht nur die, die mich nicht lieben, sondern auch ihre Nachkommen bis in die vierte Generation; wer mich aber liebt, dem tue ich Gutes bis in die tausendste Generation. Hier müsst ihr beachten, dass unser Herr sagt, dass er ein eifernder Gott ist. So sollen wir nämlich begreifen, dass er uns aufs strengste bestrafen kann, weil er Gott ist, und dass er uns auch aufs strengste bestrafen will, weil er eifersüchtig auf seine Ehre, auf die Gerechtigkeit und das Recht bedacht ist. Darum kann er die Gottlosigkeit und Bosheit nicht dulden. Das ist gegen die gerichtet, die fortwährend sündigen und doch fröhlich leben, so als ob das Gott gar nicht interessieren würde. Aber ihr seht schon, dass Gott sich sehr wohl darum kümmert und es zur entsprechenden Zeit auch zeigen wird.
S: Was bedeutet es, dass Gott den, der Böses tut, bis in die vierte Generation bestraft, dem aber, der Gutes tut, bis in die tausendste Generation belohnt?
L: Gott bestraft bis in die vierte Generation, weil der Mensch meist nur solange lebt, dass er noch die Kinder seiner Enkel sehen kann oder höchstens die Enkel seiner Enkel. Gott will aber nur in den Nachkommen strafen, die der Sünder selbst noch sehen kann. Aber Gutes erweist Gott nicht nur bis in die vierte Generation, sondern bis in die tausendste, wenn es denn so viele gäbe. Unser Herr ist nämlich mehr zum Belohnen als zum Bestrafen geneigt. Denn das Belohnen ist eine Folge seiner Güte, und so tut er es sehr gerne. Das Bestrafen dagegen ist eine Folge unserer Sünden, und so tut er es gewissermaßen widerwillig, d. h. unsere bösen Taten treiben ihn dazu.
S: Warum sind diese Drohung und diese Verheißung nur beim ersten Gebot hinzugefügt?
L: Weil es das Hauptgebot und das wichtigste von allen ist und auch weil es das erste ist. Das, was von ihm gesagt ist, kann auch von den anderen gelten.
S: Ich möchte gern wissen, wieso die Ehre, die wir den Heiligen sowie ihren Reliquien und Bildern erweisen, nicht gegen dieses Gebot ist. Es scheint doch, als würden wir all das anbeten. Denn wir knien vor ihnen nieder und beten zu ihnen, so wie wir es auch gegenüber Gott tun.
L: Die heilige Kirche ist die Braut Gottes und hat den Heiligen Geist zum Lehrer. Darum besteht keine Gefahr, dass sie betrogen wird oder dass sie etwas tut oder zu tun lehrt, was gegen die Gebote Gottes ist.<ref> "Mulieres viris suis subditae sint, sicut Domino: quoniam vir caput est mulieris: sicut Christus caput est Ecclesiae: Ipse, salvator corporis eius. Sed sicut Ecclesia subiecta est Christo, ita et mulieres viris suis in omnibus. Viri diligite uxores vestras, sicut et Christus dilexit Ecclesiam, et seipsum tradidit pro ea, ut illam sanctificaret, mundans lavacro aquae in verbo vitae, ut exhiberet ipse sibi gloriosam Ecclesiam, non habentem maculam, aut rugam, aut aliquid huiusmodi, sed ut sit sancta et immaculata [ ... ] Nemo enim umquam carnem suam odio habuit: sed nutrit, et foveat eam, sicut et Christus Ecclesiam [ ... ] Sacramentum hoc magnum est, ego autem dico in Christo et in Ecclesia" (Eph 5, 22-27.29.32; "Die Weiber seien ihren Männern untertänig, wie dem Herrn; denn der Mann ist das Haupt des Weibes, wie Christus ist das Haupt der Kirche; er, der Retter seines Leibes. Aber so wie die Kirche Christo unterworfen ist, so auch seien es die Weiber ihren Männern in allem. Männer! liebet eure Weiber, wie auch Christus die Kirche geliebt, und sich selbst für sie hingegeben hat, um sie zu heiligen, und zu reinigen in der Wassertaufe durch das Wort des Lebens, um selbst herrlich die Kirche sich darzustellen, ohne Makel, ohne Runzel, oder etwas dergleichen, sondern daß sie heilig und unbefleckt sei [ ... ] niemand hat je sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er nährt und pfleget es, wie auch Christus die Kirche [ ... ] Dieses Geheimnis ist groß; ich sage aber in Christo und in der Kirche").
"[U]t scias quomodo oporteat te in domo Dei conversari, quae est Ecclesia Dei vivi, columna et firmamentum veritatis" (1 Tim 3, 15; "damit du wissest, wie du wandeln sollst im Hause Gottes, welches ist die Kirche des lebendigen Gottes, eine Säule und eine Grundfeste der Wahrheit"). </ref> Was aber nun diese Einzelfrage angeht, so ehren wir die Heiligen und rufen sie an als Freunde Gottes, die uns mit ihren Verdiensten und Gebeten bei Gott helfen können. Aber wir halten sie nicht für Götter und beten sie auch nicht als Gott an.<ref> Aurelius Augustinus, Contra Faustum (ed. 1. Zycha) XX, 21, in: CSEL 25/1, Prag - WienLeipzig 1891, 249-797: "colimus ergo martyres eo cultu dilectionis et societatis, quo et in hac uita coluntur sancti homines dei, quorum cor ad talem pro evangelica veritate passionem paratum esse sentiamus; sed illos tanto devotius, quanto securius post certamina omnia superata, quanto etiam fidentiore laude praedicamus iam in vita feliciores victores quam in ista adhuc usque pugnantes at illo cultu, quae graece λατρεια dicitur, latine uno verbo dici non potest, cum sit quaedam proprie divinitati debita servitus, nec colimus nec colendum docemus nisi unum deum" (562). "Mit eben dem Erweis von Liebe und Gemeinschaft verehren wir darum die Märtyrer, mit dem man auch in diesem Leben heilige Männer und Frauen Gottes verehrt, deren Herz wir zu einem solchen Leiden für die Wahrheit des Evangeliums bereit erkennen. Jene freilich verehren wir umso inniger, desto sicherer wir sie nach dem Sieg in all ihren Kämpfen und mit desto zuversichtlicherem Lob wir sie als glückseligere Sieger im Leben im Vergleich zu solchen preisen, die noch bis jetzt in diesem Leben zu kämpfen haben. Doch mit jener Art der Verehrung, die griechisch Latreia heißt, lateinisch hingegen nicht mit einem einzigen Wort wiedergegeben werden kann, verehren wir nur den einen Gott und lehren es auch dementsprechend, da es sich um eine spezifische Pflicht gegenüber Gott handelt." </ref> Dagegen spricht auch nicht, dass wir uns niederknien, denn diese Ehrbezeigung wird nicht nur Gott erwiesen, sondern man macht sie auch gegenüber sehr hochgestellten Geschöpfen wie dem Papst, und vielerorts knien auch die Ordensleute vor ihrem Oberen nieder. So braucht man sich nicht zu wundern, wenn man sich gegenüber den Heiligen, die mit Christus im Himmel herrschen, so verhält, wie man sich auch gegenüber einigen Menschen auf Erden verhält.
S: Aber was ist mit den Reliquien der Heiligen? Sie können nicht hören, und trotzdem knien wir vor ihnen nieder und beten.
L: Wir beten nicht zu den Reliquien, denn wir wissen sehr wohl, dass sie nicht hören können. Stattdessen ehren wir die heiligen Reliquien als die Werkzeuge, mit denen die Heiligen ihre vielen guten Werke getan haben und die einst lebendige, verherrlichte Leiber sein werden. Jetzt sind sie für uns kostbare Zeugnisse der Liebe, die die Heiligen zu uns hatten und noch immer haben.<ref> Ambrosius von Mailand, De Viduis IX, 55, in: PL 16, 233-262: "Obsecrandi sunt angeli pro nobis, qui nobis ad praesidium dati sunt: martyres obsecrandi, quorum videmur nobis quodam corporis pignore patrocinium vindicare. Possunt pro peccatis rogare nostris, qui proprio sanguine, etiam si qua habuerunt peccata, laverunt; isti enim sunt Dei martyres, nostri praesules, speculatores vitae actuumque nostrorum. Non erubescamus eos intercessores nostrae infirmitatis adhibere, quia ipsi infirmitates corporis, etiam cum vincerent, cognoverunt" (251). "Anrufen muß man also die heiligen Engel, deren Schutz wir übergeben sind; anrufen müßen wir die Märtyrer, deren Reliquien uns ihren Schutz zusichern dürfen. Diejenigen können wohl für unsere Sünden beten, welche durch ihr eigenes Blut ihre Sünden - wenn sie deren hatten - abgewaschen haben: sie sind ja Gotteszeugen und unsere Hirten, unseres Lebens und Tuns getreue Wächter. Wir dürfen also nicht scheuen, sie als Vermittler für unsere Armseligkeit anzurufen; haben sie doch selbst die Elendigkeit des Leibeslebens - wenn sie auch als Sieger daraus hervorgegangen - wohl erkannt" (Ausgewählte Schriften des heiligen Ambrosius I [übers. v. F. X. Schulte) [BKV], Kempten 1871, 124).
Hieronymus, Contra Vigilantium 6, in: PL 23, 339-352: "Si apostoli et martyres adhuc in corpore constituti possunt orare pro caeteris, quando pro se adhuc debent esse solliciti: quanto magis post coronas, victorias et triumphos? Unus homo Moyses, sexcentis millibus armatorum impetrat a Deo veniam (Exod. XXXI!; Act. VII): et Stephanus imitator Domini sui, et primus martyr in Christo, pro persecutoribus veniam deprecatur; et postquam cum Christo esse coeperint, minus valebunt? Paulus apostolus ducentas septuaginta sex sibi dicit in navi animas condonatas, et postquam resolutus esse coeperit cum Christo, tunc ora clausurus est (Ibid. 27): et pro his qui in toto orbe ad suum Evangelium crediderunt, mutire non poterit?" (344; vgl. hierzu auch Kapitel 4-8 insgesamt). "Wenn die Apostel und Märtyrer für andere beten konnten, als sie noch von ihrem Leibe umgeben waren, also zu einer Zeit, in welcher sie noch für sich zu sorgen hatten, um wieviel mehr vermögen sie es, nachdem sie Krone, Sieg und Triumph davongetragen haben. Ein einzelner Mann, Moses, verlangte von Gott Verzeihung für 600000 Bewaffnete [Exod. 32, 31]. Stephanus, der erste Märtyrer für Christus, bat in Nachahmung seines Herrn um Verzeihung für seine Verfolger [Apg. 7, 60]. Sollen sie weniger Einfluß besitzen, seitdem sie angefangen haben, bei Christus zu sein? Der Apostel Paulus berichtet, daß ihm zweihundertsechsundsiebzig Seelen, die mit ihm im Schiffe waren, geschenkt worden seien [Apg. 27, 24]. Wird er etwa den Mund verschließen, seitdem er aufgelöst und bei Christus ist? Soll er sich nicht rühren können im Interesse jener, die auf dem ganzen Erdkreise an sein Evangelium geglaubt haben?" (BKV2 15, 310-311). </ref> Deshalb beten wir vor diesen Reliquien zu den Heiligen und bitten sie, dass sie um dieser kostbaren Zeugnisse willen, die wir von ihnen haben, an uns denken und uns helfen mögen, wie ja auch wir an sie denken und sie ehren.
S: Dann kann man wohl dasselbe auch von den Bildern sagen?
L: Genau. Wir halten die Bilder des Herrn, der Mutter Gottes und der Heiligen nicht für Götter, also sind sie auch keine Götzenbilder, wie sie die Heiden hatten.<ref> Concilium Nicaenum I!, [Terminus], in: COD I, 135-136: "definimus in omni certitudine ac diligentia, sicut figuram pretiosae ac vivificae crucis, ita venerabiles ac sanctas imagines proponendas, tam quae de coloribus et tessellis, quam quae ex alia materia congruenter se habente in sanctis Dei ecclesiis et sacris vasis et vestibus et in parietibus ac tabulis, domibus et viis; tam videlicet imaginem domini Dei et salvatoris nostri Iesu Christi, quam intemeratae dominae nostrae sanctae Dei genitricis, honorabiliumque angelorum, et omnium sanctorum simul et almorum virorum. Quanto enim frequent ius per imaginalem formationem videntur, tanto qui has contemplantur, alacrius er iguntur ad primitivorum earum memoriam et desiderium, et his osculum et honorariam adorationem tribuendam. Non tamen veram latriam, quae secundum fidem est, quaeque sol am divinam naturam decet, impartiendam; ita ut istis, sicuti figurae pretiosae ac vivificae crucis et sanctis evangeliis et reliquis sanctis monumentis, incensorum et luminum ad harum honorem efficiendum exhibeatur, quemadmodum et antiquis piae consuetudinis erat. Imaginis enim honor ad primitivum transit [Cf. Basilius Caes., De Spiritu S. 18, 45 (PG 3Z, 149; SC 17, 194)]; et qui adorat imaginem, adorat in ea depicti subsistentiam." "[Wir] entscheiden mit aller Genauigkeit und Sorgfalt: Wie die Gestalt des kostbaren und lebendigmachenden Kreuzes werden die verehrten und heiligen Bilder, seien sie aus Farben, Mosaiksteinchen oder anderem geeigneten Material, in den heiligen Kirchen Gottes, auf heiligen Geräten und Gewändern, Wänden und Tafeln, Gebäuden und Wegen angebracht, und zwar das Bild unseres göttlichen Herrn und Erlösers Jesus Christus, unserer makellosen Gebieterin, der heiligen Gottesgebärerin, der verehrungswürdigen Engel und aller Heiligen und Frommen. Je häufiger sie nämlich durch eine bildliche Gestalt angeschaut werden, desto mehr werden auch deren Betrachter angeregt, der Urgestalten zu gedenken und sich nach ihnen zu sehnen. Man grüßt sie und erweist ihnen achtungsvolle Verehrung. Ihnen gebührt jedoch nicht die wahre Anbetung, die unserem Glauben gemäß ist und allein der göttlichen Natur zusteht. Vielmehr soll man sie auf die Weise verehren wie die Gestalt des kostbaren und lebendigmachenden Kreuzes, die heiligen Evangelien und die übrigen heiligen Weihegaben. Zu ihrer Ehre werden Weihrauch und Lichter dargebracht, wie es auch bei den Alten fromme Sitte war. Denn die Ehrung des Bildes geht über auf die Urgestalt [Vgl. Basilius von Caesarea, De Spiritu Sancto 18, 45 (PG 3z, 149; SC 17, 194)], und wer das Bild verehrt, verehrt in ihm die Person des Dargestellten" (COO 1, 135-136).
Vgl. Johannes von Damaskus, Orationes pro imaginibus, in: PG 94, 1231-1420; deutsch: Johannes von Damaskus, Drei Verteidigungsschriften gegen diejenigen, welche die heiligen Bilder verwerfen, Leipzig sup>21996. </ref> Vielmehr sind sie für uns Bilder, die uns an den Herrn, die Mutter Gottes und die Heiligen erinnern. So ersetzen sie denjenigen, die nicht lesen können, die Bücher, weil sie viele Geheimnisse unseres heiligen Glaubens<ref> Gregorius Magnus, Registrum IX, 209: Sereno, episcopo Massiliensi, in: S. Gregorii Magni Registrum epistularum libri VIII-XIV, Appendix (ed. D. Norberg) (CCL 140 A), Turnhout 1982: "Praeterea indico dudum ad nos pervenisse quod fraternitas vestra quosdam imaginum adoratores aspiciens easdem ecclesiis imagines confregit atque proiecit. Et quidem zelum vos, ne quid manufactum adorari possit, habuisse laudauimus, sed frangere easdem imagines non debuisse iudicamus. Idcirco enim pictura in ecclesiis adhibetur, ut hi qui litteras nesciunt saltem in parietibus videndo legant, quae legere in codicibus non valent. Tua ergo fraternitas et illa servare et ab eorum adoratu populum prohibere debuit, quatenus et litterarum nescii haberent, unde scientiam historiae colligerent, et populus in picturae adoratione minime peccaret" (768). "Außerdem weise ich darauf hin, dass uns vor kurzem zu Ohren gekommen ist, dass Du, mein Bruder, einige Anbeter von Bildern bemerkt hast und Du diese Bilder zerbrochen und aus der Kirche hinweggeschafft hast. Und wir haben Dir zwar für den Eifer, dass nicht etwas von Händen Geschaffenes angebetet werden könne, Lob ausgesprochen, bestimmen aber zugleich, dass man dieselben Bilder nicht hätte zerbrechen dürfen. Denn aus dem Grund werden Bilder in den Kirchen verwendet, damit diejenigen, die des Lesens nicht kundig sind, wenigstens durch den Blick auf die Wände lesen, was sie in Büchern nicht lesen können. Du hättest also sowohl die Bilder beibehalten als auch dem Volk ihre Anbetung verbieten sollen, damit zum einen die des Lesens Unkundigen ein Mittel haben, wodurch sie ihre Kenntnis der Geschichte erwerben könnten, und zum anderen das Volk nicht durch die Anbetung der Bilder eine Sünde begeht." </ref> und das Leben und Sterben vieler Heiliger aus den Bildern kennenlernen. Die Ehre jedoch, die wir ihnen erweisen, erweisen wir ihnen nicht, weil sie Figuren auf Papier oder aus Metall sind oder weil sie schön gemalt oder besonders künstlerisch gestaltet sind, sondern weil sie uns den Herrn, die Mutter Gottes oder die anderen Heiligen darstellen. Und weil wir wissen, dass die Bilder nicht lebendig sind und nicht hören können, da sie ja von Menschenhand gemacht sind, erbitten wir auch nichts von ihnen. Vielmehr beten wir vor ihnen zu denen, die sie zeigen, also zum Herrn, zur Mutter Gottes oder den anderen Heiligen.<ref> Concilium Tridentinum, Sessio XXV, De invocatione, veneratione et reliquiis sanctorum, et de sacris imaginibus, in: COD III, 775: "Imagines porro Christi, deiparae Virginis et aliorum sanctorum, in templis praesertim habendas et retinendas, eisque debitum honorem et venerationem impertiendam, non quod credatur inesse aliqua in iis divinitas vel virtus, propter quam sint colendae, vel quod ab eis sit aliquid petendum, vel quod fiducia in imaginibus sit figenda, veluti olim fiebat a gentibus, quae in idolis spem suam collocabant [Cf. Ps. 113, 8; 134, 18]: sed quoniam honos, qui eis exhibetur, refertur ad prototypa, quae illae repraesentant: ita ut per imagines, quas osculamur et coram quibus caput aperimus et procumbimus, Christum adoremus, et sanctos, quorum illae similitudinem gerunt, veneremur [ ... ] tum vero ex omnibus sacris imaginibus magnum fructum percipi, non solum quia admonetur populus beneficiorum et munerum, quae a Christo sibi collata sunt, sed etiam, quia Dei per sanctos miracula et salutaria exempla oculis fidelium subiiciuntur, ut pro iis Deo gratias agant, ad sanctorumque imitationem vitam moresque suos componant, excitenturque ad adorandum ac diligendum Deum, et ad pietatem colendam." "Ferner wird den Bildern Christi, der jungfräulichen Gottesgebärerin und der anderen Heiligen, die vor allem in den Gotteshäusern sein und bleiben müssen, die schuldige Hochachtung und Verehrung erwiesen, nicht als würde geglaubt, in ihnen sei irgendeine Göttlichkeit oder Kraft, weshalb sie verehrt werden sollten, oder als müsse man von ihnen etwas erbitten, oder das feste Vertrauen sei an den Bildern festzumachen, wie es einst von Heiden geschah, die ihre Hoffnung auf die Götzenbilder setzten [vgl. Ps 113, 16 (Vulg.); vgl. Ps 115, 8 (E.); Ps 134 (135), 18 (Vulg.)]: sondern weil die Ehre, die ihnen erwiesen wird, sich auf die Urgestalten bezieht, die jene Bilder vergegenwärtigen, so daß wir durch die Bilder, die wir küssen und vor denen wir das Haupt entblößen und uns niederknien, Christus anbeten und die Heiligen, die sie darstellen, verehren [ ... ] Dann aber wird aus allen heiligen Bildern großer Nutzen gezogen, weil das Volk einerseits an die Wohltaten und Geschenke erinnert wird, die es von Christus empfangen hat, und den Gläubigen durch die Heiligen andererseits Gottes Wunder und segensreiche Beispiele vor Augen gestellt werden, so daß sie Gott dafür danken, ihr Leben und ihre Sitten auf die Nachahmung der Heiligen ausrichten und zur Anbetung und Liebe Gottes sowie zur Pflege der Frömmigkeit angeregt werden" (COO IlI, 775).</ref>
S: Wenn die Reliquien und Bilder nicht hören können, wie kommt es dann, dass sie so viele Wunder wirken für diejenigen Gläubigen, die sich ihnen anempfehlen?
L: Alle Wunder werden von Gott gewirkt, doch häufig ist es die Fürsprache der Heiligen, die ihn dazu veranlasst, vor allem die seiner heiligsten Mutter. Oft wirkt er sie für diejenigen Gläubigen, die die Heiligen vor den Reliquien und Bildern anrufen, und manchmal bedient er sich der Reliquien und der Bilder als Werkzeuge für solche Wunder, um uns zu zeigen, dass es ihm gefällt, wenn wir die Heiligen, ihre Reliquien und Bilder andächtig verehren.
S: Wenn es also heißt, dass jemand sich dieser oder jener Reliquie oder diesem oder jenem wundertätigen Bild anempfohlen hat und daraufhin die gewünschte Gnade erhalten hat, hat man das so zu verstehen, dass er sich eigentlich dem Heiligen, dessen Reliquie oder Bild es ist, anempfohlen hat und dass Gott ihm auf die Fürsprache dieses Heiligen und mittels dieser Reliquie oder dieses Bildes die Gnade gewährt hat?
L: Genau, und ich freue mich, dass ihr das, was ich gesagt habe, so gut verstanden habt.
S: Als letztes möchte ich gern noch wissen, aus welchem Grund man Gottvater als einen alten Mann, den Heiligen Geist als eine Taube und die Engel als junge Männer mit Flügeln darstellt, wo Gott und die Engel doch Geister sind und überhaupt keine körperliche Gestalt haben, die die Maler wiedergeben könnten, wie man es bei den Menschen macht.
L: Wenn man Gottvater in Gestalt eines alten Mannes, den Heiligen Geist in Gestalt einer Taube und die Engel als junge Männer malt, dann malt man nicht das, was sie eigentlich sind, denn sie sind körperlose Geistwesen, wie ihr ganz richtig gesagt habt. Stattdessen werden sie in der Gestalt gemalt, in der sie manchmal erschienen sind. So malt man Gottvater als alten Mann, weil er in dieser Gestalt dem Propheten Daniel in einer Vision erschienen ist,<ref> "Aspiciebam donec throni positi sunt, et antiquus dierum sedit: vestimentum eius candidum quasi nix, et capilli capitis eius quasi lana munda: thronus eius flammae ignis: rotae eius ignis accensus" (Dan 7, 9; "Solches sah ich, bis daß Stühle gesetzt wurden, und der Altbetagte sich setzte; sein Kleid war weiß wie der Schnee, die Haare seines Hauptes wie reine Wolle, sein Stuhl lauter Feuerflammen, des Stuhles Räder brennend Feuer"). </ref> den Heiligen Geist malt man in Gestalt einer Taube, weil er in dieser Gestalt über Christus erschienen ist, als dieser von Johannes dem Täufer getauft wurde,<ref> "Et testimonium perhibuit Ioannes, dicens: Quia vidi Spiritum descendentem quasi columbam de caelo, et mansit super eum" (Joh 1, 32; "Und Joannes bezeugte, und sprach: Ich sah den Geist wie eine Taube vom Himmel herabsteigen, und er blieb auf ihm"). </ref> und die Engel malt man in Gestalt von jungen Männern, weil sie mehrfach so erschienen sind.<ref> Vgl. Gen 18 und 19; Tob 5 und 12. </ref> Darüberhinaus müsst ihr wissen, dass viele Dinge dargestellt werden, nicht damit wir verstehen, wie sie eigentlich sind, sondern welche besondere Eigenschaft sie haben oder welche Wirkungen sie normalerweise hervorbringen. So malt man den Glauben als Frau mit einem Kelch in der Hand und die Liebe rings umgeben von vielen Kindern. Dabei wissen wir doch genau, dass der Glaube und die Liebe keine Frauen, sondern Tugenden sind. So kann man also auch sagen, dass Gottvater in Gestalt eines alten Mannes gemalt wird, um uns verstehen zu lassen, dass er ganz alt, also ewig, ist und vor aller Schöpfung dagewesen ist. Den Heiligen Geist malt man als Taube, um uns auf die Gaben von Unschuld, Reinheit und Heiligkeit hinzuweisen, die der Heilige Geist in uns wirkt. Die Engel aber malt man als junge Männer wegen ihrer unveränderlichen Schönheit und Stärke, mit Flügeln, weil sie schnell dorthin eilen, wohin es Gott gefällt, und in weißen Kleidern und mit heiligen Paramenten, weil sie reine und unschuldige Diener der göttlichen Majestät sind.
Erklärung der zweiten Gebots
S: Kommen wir nun zum zweiten Gebot. Was bedeutet: "Du sollst den Namen Gottes nicht ohne Grund nennen."
L: In diesem Gebot geht es um die Ehre und die Verunehrung, die man Gott in Worten erweist bzw. zufügt, d. h. die Ehre wird geboten und die Verunehrung wird verboten. Bei diesem Gebot lassen sich vier Aussagen unterscheiden, denn auf vierfache Weise kann man Gott mit Worten ehren oder verunehren. Erstens ehrt man Gott, wenn man seinen Namen aus Liebe häufig nennt; man verunehrt ihn hingegen, indem man seinen Namen häufig gedankenlos nennt. Zweitens ehrt man ihn mit dem Eid und verunehrt ihn mit dem Meineid. Drittens ehrt man ihn, indem man Gelübde macht, und verunehrt ihn, indem man die gemachten Gelübde bricht. Viertens ehrt man ihn, indem man ihn anruft und ihn lobt; man verunehrt ihn hingegen, indem man ihn lästert und ihn verflucht.
S: Erklären Sie mir bitte den ersten Teil!
L: Einfach den Namen Gottes und ebenso den der Mutter Gottes und der Heiligen zu nennen, kann eine gute oder eine schlechte Handlung sein. Die Gott innig lieben, denken oft an ihn und reden viel über ihn, und das tun sie mit Andacht und Liebe, wie man in den Briefen des hl. Paulus sieht, in denen oft der Name JESUS CHRISTUS zu lesen ist. Denn wie der hl. Paulus Christus im Herzen hatte, so hatte er ihn auch auf den Lippen. Andere stattdessen haben die schlechte Gewohnheit, wenn sie in Zorn geraten oder scherzen, den Namen Gottes oder irgendeines Heiligen zu nennen, ohne dabei zu bedenken, was sie sagen, nur weil ihnen gerade nichts anderes einfällt. Das aber ist sündhaft, weil es bedeutet, mit dem heiligsten Namen Gottes nachlässig umzugehen.<ref> Theodoret, Quaestiones in Exodum. Interrogatio XLI, in: PG 80, 225-298: "Quid sibi vult: ,Non assumes nomen Domini Dei tui in vanum' [Ex 20, 7]? Quidam prohiberi dicunt, ne quis res vanas, hoc est idola, nomine Dei vocet: alii, ne quis jurando mentiatur. Ego autem puto, divinam legem statuere, ne quis nomen Dei pronuntiet sine aliqua ratione aut docendi, aut orandi, aut necessariae cuiuspiam occasionis. Solent enim nonnulli, etiam ludentes et ridentes, ut inciderit, reverendum nomen Dei lingua proferre. Hoc arbitror divina lege prohiberi" (267.270). "Was bedeutet die Aussage: ,Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht ohne Grund gebrauchen' (Ex 20, 7)? Einige sagen, damit werde verboten, dass jemand nichtige Dinge, d. h. Götzenbilder, mit dem Namen Gottes bezeichnet; andere, dass jemand nicht unter Eid lügt. Ich dagegen vertrete die Ansicht, das göttliche Gesetz verbiete es, den Namen Gottes auszusprechen, es sei denn, dass man lehrt, betet oder sonst irgendeine Notwendigkeit dazu besteht. Denn manche Leute haben die Gewohnheit, auch im Spiel oder im Scherz den verehrungswürdigen Namen Gottes beiläufig in den Mund zu nehmen. Das aber, so meine ich, wird im göttlichen Gesetz verboten." </ref> Ich will euch ein Beispiel geben, wenn es auch nicht ganz das gleiche ist: Es ist, wie wenn jemand ein kostbares Gewand, ohne es im geringsten zu schonen und darauf zu achten, überall und jederzeit tragen würde.
S: Erklären Sie mir jetzt bitte den zweiten Teil, der dem Schwören gewidmet ist!
L: Schwören ist nichts anderes als Gott zum Zeugen für die Wahrheit anzurufen. Damit aber ein Schwur etwas Gutes ist, muss er von dreierlei begleitet sein, nämlich von Wahrheit, Gerechtigkeit und Urteil, wie uns Gott selbst durch den Mund des Propheten Jeremia lehrt.<ref> "Et iurabis: Vivit Dominus in veritate, et in iudicio, et in iustitia" (Jer 4, 2; "sondern schwören in der Wahrheit, recht und gerecht: So wahr der Herr lebet!"). </ref> Mit dem unter den rechten Bedingungen geleisteten Eid ehrt man Gott, da man bekennt, dass er alles sieht, überaus wahrhaftig und ein Verteidiger der Wahrheit ist. Ebenso verunehrt man im Gegenteil Gott über alle Maßen, wenn man unwahr, ungerecht oder unüberlegt schwört. Denn wer so schwört, behauptet damit, dass Gott entweder bestimmte Dinge nicht weiß oder dass er ein Freund der Lüge und des Unrechts ist.
S: Erklären Sie mir bitte im einzelnen, was es bedeutet, wahrhaftig zu schwören!
L: Um wahrhaftig zu schwören, darf jemand nur das mit einem Eid bekräftigen, wovon er sicher weiß, dass es wahr ist, und mit einem Eid nur das versprechen, was er auch wirklich halten will. Deshalb sind diejenigen meineidig und begehen eine Todsünde, die mit einem Eid bestimmte Dinge behaupten, von denen sie wissen, dass sie falsch sind, oder wovon sie zumindest nicht wissen, ob sie tatsächlich wahr sind; ebenso aber auch diejenigen, die mit einem Eid etwas versprechen, was sie nicht vorhaben zu halten.
S: Was bedeutet, gerecht zu schwören?
L: Es bedeutet, dass jemand mit einem Schwur nur das zu tun verspricht, was gerecht und erlaubt ist. Deshalb begehen diejenigen eine Todsünde, die schwören, sich für ein erlittenes Unrecht zu rächen oder sonst irgend etwas zu tun, was Gott missfällt. Auch darf man solche Versprechen nicht halten. Sie sind keinesfalls bindend, denn niemand kann verpflichtet sein, Böses zu tun, da uns das Gesetz Gottes ja im Gegenteil dazu verpflichtet, das Böse nicht zu tun.
S: Was bedeutet, mit Urteil zu schwören?
L: Es bedeutet, mit Klugheit und reiflicher Überlegung zu schwören. D. h. man muss bedenken, dass es nur im Notfall und in Angelegenheiten von großer Wichtigkeit recht ist, Gott zum Zeugen anzurufen, und dass dies selbst dann in ehrfürchtiger Scheu geschehen muss. Deshalb sündigen diejenigen, die für jede Kleinigkeit, ja sogar aus Spielerei oder im Scherz, schwören. Durch eine solche schlechte Gewohnheit, oft und leichtfertig zu schwören, geraten sie in die Gefahr, schließlich auch falsch zu schwören, und der Meineid ist eine der größten Sünden, die man begehen kann. Darum gebietet uns der Herr im Evangelium und auch der hl. Jakobus in seinem Brief, dass wir nicht schwören sollen, d. h. nicht ohne Notwendigkeit.<ref> "Iterum audistis quia dictum est antiquis: Non periurabis: reddes autem Domino iuramenta tua. Ego autem dico vobis, non iurare omnino, neque per caelum, quia thronus Dei est: neque per terram, quia scabellum est pedum eius: neque per Ierosolymam, quia civitas est magni regis: neque per caput tuum iuraveris, quia non potes unum capillum album facere, aut nigrum. Sit autem sermo vester, est, est: non, non: quod autem his abundantius est, a malo est" (Mt 5, 33-37; "Wiederum habt ihr gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht falsch schwören, sondern du sollst dem Herrn halten, was du geschworen hast. Ich aber sage euch: Ihr sollet gar nicht schwören, weder bei dem Himmel, weil er der Thron Gottes ist; noch bei der Erde, weil sie der Schemel seiner Füße ist; noch bei Jerusalem, weil sie die Stadt des großen Königs ist; noch sollst Du bei deinem Haupte schwören, weil du nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz machen kannst. Eure Rede soll sein: Ja, ja; nein, nein! Was darüber ist, das ist vom Bösen").
"Ante omnia autem fratres mei nolite iurare, neque per caelum, neque per terram, neque aliud quodcumque iuramentum. Sit autem sermo vester: Est, est: Non, non: uti non sub iudicio decidatis" (Jak 5, 12; "Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwöret nicht, weder bei dem Himmel, noch bei der Erde, noch sonst einen Eid; sondern eure Rede soll sein: Ja, ja; nein, nein! damit ihr nicht ins Gericht fallet"). </ref> Den Grund dafür geben uns die Heiligen an. Der Eid wurde als Heilmittel für das schwache Vertrauen der Menschen erfunden, weil die Menschen einander nur schwer Glauben schenken.<ref> Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte I, 17, 51, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967: "Quapropter qui intellegit non in bonis sed in necessariis iurationem habendam, refrenet se quantum potest, ut non ea utatur nisi necessitate, cum videt pigros esse homines ad credendum quod eis utile est credere nisi iuratione firmentur. Ad hoc itaque pertinet quod sic dicitur: SIT AUTEM SERMO VESTER: EST EST, NON NON. Hoc bonum est et adpetendum. QUOD AUTEM AMPLIVS EST A MALO EST [Matth. 5, 37]; id est si iurare cogeris, scias de necessitate venire infirmitatis eorum quibus aliquid suades" (58-59). "Nimmt man es sich zu Herzen, nicht zu schwören, außer in klaren Fällen, dann wird man sich nach Kräften zurückhalten, selbst wenn man den Mißmut der Menschen sieht, die, was ihnen paßt, nur glauben, wenn sie es durch einen Eid bekräftigt sehen. Darauf beziehen sich auch die folgenden Worte: ,Vielmehr sei eure Rede: Ja, ja; nein, nein'. Das ist gut so und erstrebenswert, denn: ,Was darüber ist, das ist vom Bösen' (Mt 5, 37); das bedeutet: Bist du zum Schwur gezwungen, dann wisse, daß die Notwendigkeit dazu in der Schwäche von denen liegt, die du zu überzeugen versuchst" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner [Christliche Meister 54], Einsiedeln 2006, 76).
Johannes Chrysostomus, Homiliae ad populum Antiochenum 36, 37, 38. Diese von Bellarmin angeführten Predigten finden sich als Corpus zuletzt noch im 5. Band der Ausgabe der Werke des Johannes Chrysostomus, die in Venedig 1549 erschienen ist. </ref> Darum muss man den Eid so gebrauchen, wie wir uns auch sonst der Arzneimittel bedienen: man nimmt sie nicht häufig ein, sondern so selten wie möglich.
S: Erklären Sie mir bitte den dritten Teil des Gebotes, der die Gelübde betrifft!
L: Das Gelübde ist ein Gott gegebenes Versprechen einer guten und seiner göttlichen Majestät wohlgefälligen Sache.<ref> Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II qu. 88. art. 1, in: S. Thomae Aquinatis Summa theologica (ed. J. Pecci) III, Paris 1887, 426-427. </ref> Dabei habt ihr dreierlei zu bedenken. Erstens dass das Gelübde ein Versprechen ist. So reicht, um ein Gelübde abzulegen, nicht der bloße Vorsatz und erst recht nicht der Wunsch, etwas zu tun, sondern ein Gelübde ist ein ausdrückliches Versprechen mit dem Mund oder wenigstens mit dem Herzen. Sodann habt ihr zu beachten, dass man dieses Versprechen an Gott richtet, denn im eigentlichen Sinn steht es nur Gott zu, ein Gelübde entgegenzunehmen. Wenn ihr also hört, dass man der Mutter Gottes oder Heiligen etwas als ein Gelübde macht, müsst ihr das so verstehen, dass man dieses Gelübde in erster Linie Gott macht, jedoch zur Ehre der Mutter Gottes oder der Heiligen, in denen Gott in besonderer und erhabenerer Weise wohnt als in den anderen Geschöpfen. Infolgedessen ist das einem Heiligen gemachte Gelübde nichts anderes, als dass man Gott verspricht, das Gedenken dieses Heiligen mit einer Gabe zu ehren, was bedeutet, dass man Gott selbst in seinen Heiligen ehrt. Drittens müsst ihr wissen, dass man in einem Gelübde nur eine gute und Gott wohlgefällige Sache versprechen kann, etwa die heilige Jungfräulichkeit oder die freiwillige Armut und ähnliches. Wenn darum jemand ein Gelübde ablegen würde, eine Sünde zu begehen, eine Handlung zu verrichten, die mit der Verehrung Gottes in keinerlei Zusammenhang steht, oder auch irgendetwas Gutes zu tun, das aber zugleich ein Hindernis für ein größeres Gut wäre, dann würde er damit keine Sache versprechen, die der göttlichen Majestät wohlgefällig wäre. Er würde also mit dem Gelübde Gott nicht ehren, sondern ihn stattdessen verunehren und damit gegen dieses zweite Gebot sündigen. Ebenso versündigt man sich schwer gegen dieses Gebot, wenn man ein Gelübde ablegt, es aber nicht sobald wie möglich erfüllt. Denn Gott gebietet in der Heiligen Schrift, dass derjenige, der ein Gelübde ablegt, nicht nur daran denken soll, es auch zu erfüllen, sondern dass er die Erfüllung auch nicht aufschieben soll.<ref> "Cum votum voveris Domino Deo tuo, non tardabis reddere: quia requiret illud Dominus Deus tuus; et si moratus fueris, reputabitur tibi in peccatum. Si nolueris polliceri, absque peccato eris. Quod autem semel egressum est de labiis tuis, observabis, et facies sicut promisisti Domino Deo tuo, et propria voluntate et ore tuo locutus es" (Dtn 23, 21-23; "Wenn du ein Gelübde gelobest dem Herrn, deinem Gott, so säume nicht, es zu erfüllen, denn der Herr, dein Gott, wird es fordern; und wenn Du säumest, wird es dir zur Sünde gerechnet. Wenn du nichts geloben willst, hast du keine Sünde; was aber einmal deinen Lippen entgangen, sollst du halten, und tun, wie du verheißen dem Herrn, deinem Gott, und wie du aus deinem Willen und deinem Munde gesprochen"). "Si quid vovisti Deo, ne moreris reddere: displicet enim ei infidelis et stulta promissio; sed quodcumque voveris, redde: multoque melius est non vovere, quam post votum promissa non reddere" (Koh 5, 3-4; "Hast du Gott etwas gelobet, so säume nicht, es zu erfüllen; denn ein treuloses und törichtes Versprechen mißfällt ihm; aber alles, was du gelobet hast, das erfülle! Viel besser ist, nicht geloben, als geloben und das Versprochene nicht halten"). </ref>
S: Erklären Sie mir bitte den letzten Teil, der vom Lob Gottes und von der Gotteslästerung handelt!
L: Im letzten Teil dieses zweiten Gebotes verlangt Gott, dass man seinen heiligen Namen nicht lästert, sondern dass man ihn im Gegenteil lobt und preist. Was dabei zunächst das Lob angeht, so gibt es da keinerlei Unklarheit. Es ist ja offenkundig, dass wir alles Gute von Gott haben und dass alle Werke Gottes voll von Weisheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind. So ist es vernünftig, dass er für alles gelobt und gepriesen wird. Was aber nun die Lästerung angeht, so müsst ihr wissen, dass die Gotteslästerung nichts anderes ist, als dass man Gott selbst mit Worten beleidigt oder seine Heiligen, wodurch ebenfalls Gott selbst beleidigt wird.<ref> Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II qu. 13. art. 1, in: S. Thomae Aquinatis Summa theologica (ed. J. Pecci) 111, Paris 1887: "blasphemare est contumeliam vel aliquod convicium inferre in iniuriam Creatoris [ ... ] Ad primum ergo dicendum quod ille qui contra Deum loquitur, convicium inferre intendens, derogat divinae bonitati, non solum secundum falsitatem intellectus, sed etiam secundum pravitatem voluntatis detestantis, et impedientis pro posse divinum honorem: quod est blasphemia perfecta. Ad secundum dicendum quod sicut Deus in sanctis suis laudatur, in quantum laudantur opera quae Deus in sanctis efficit, ita et blasphemia quae fit in sanctos, ex consequenti in Deum redundat" (81-82). "Lästern heißt, dem Schöpfer eine Beschimpfung oder irgendeine Schmähung zufügen, um Ihn zu beleidigen [ ... ] Zu 1. Derjenige, der gegen Gott redet in der Absicht, Ihm eine Schmähung zuzufügen, tut der göttlichen Gutheit Eintrag nicht nur im Hinblick auf ein unverfälschtes Verständnis, sondern auch durch boshaften Willen, indem dieser, so gut er kann, die göttliche Ehre herabwürdigt und hemmt. Und dies ist Lästerung im Vollsinne. Zu 2. Wie Gott in Seinen Heiligen gepriesen wird, sofern man die Werke preist, die Gott in den Heiligen wirkt, so greift auch eine Lästerung, die gegen Heilige erfolgt, folgerichtig auf Gott über" (OThA 15, 255·257).</ref> Es gibt aber sechs Arten von Gotteslästerungen. Die erste liegt vor, wenn man Gott etwas zuschreibt, was ihm nicht angemessen ist, wie dass er Hörner habe und ähnliche abscheuliche Dinge. Die zweite liegt vor, wenn man Gott etwas abspricht, was ihm zukommt, wie die Macht, Weisheit, Gerechtigkeit oder andere Vorzüge, etwa wenn man sagt, dass Gott etwas nicht tun könne, etwas nicht sehe oder er nicht gerecht sei. Die dritte, wenn man einem Geschöpf eine Eigenschaft Gottes zuschreibt, so wie es diejenigen tun, die sagen, der Teufel wisse Zukünftiges oder er könne echte Wunder wirken. Die vierte, wenn man Gott, die Mutter Gottes oder andere Heilige verflucht. Die fünfte, wenn man einzelne Glieder Christi oder der Heiligen nennt, um sie zu beleidigen, so als wären sie bei ihnen unehrenhaft, wie bei uns. Die sechste, wenn man bestimmte Teile Christi oder von Heiligen nennt, um mit ihnen einen Scherz zu machen, so wie es diejenigen machen, die sagen: "beim Bart Christi" oder "beim Bart des hl. Petrus" oder andere solche Dinge, die der Neid des Teufels und die Schlechtigkeit des Menschen erfunden hat.
S: Ich möchte gern wissen, eine wie große Sünde die Gotteslästerung ist.
L: Sie ist eine so große Sünde, dass sie gewissermaßen die größte von allen ist. Das kann man an der Strafe erkennen, die sie verdient. Denn im Alten Testament gebot Gott, dass die Gotteslästerer sofort vom ganzen Volk gesteinigt werden sollten, und auch die weltlichen Gesetze bestrafen die Gotteslästerer mit dem Tod.<ref> "Qui [Sc. Dominus] locutus est ad Moysen, dicens: Educ blasphemum extra castra, et ponant omnes qui audierunt, manus suas super caput eius, et lapidet eum populus universus. Et ad filios Israel loqueris: Homo, qui maledixerit Deo suo, portabit peccatum suum: et qui blasphemaverit nomen Domini, morte moriatur: lapidibus opprimet eum omnis multitudo, sive ille civis, sive peregrinus fuerit. Qui blasphemaverit nomen Domini, morte moriatur" (Lev 24, 13-16; "Dieser redete zu Moses und sprach: Führe den Lästerer hinaus vor das Lager, und alle, die es gehöret, sollen ihre Hände auf sein Haupt legen, und das ganze Volk soll ihn steinigen. Und sage den Söhnen Israels: Ein Mensch, der seinem Gott flucht, soll seine Missetat tragen. Und wer den Namen des Herrn lästert, soll des Todes sterben; steinigen soll ihn die ganze Gemeine, sei er ein Eingeborner oder ein Fremdling. Wer den Namen des Herrn lästert, soll des Todes sterben").
Novella LXXII. Constitutio, ut qui per deum iurant et blasphemantur, poena afficiantur, in: Corpus Iuris Civilis (edd. A. et M. Kriegel I Aem. Herrmann I E. Osenbrüggen). Pars tertia Novellas et reliqua continens, Leipzig 1840: "Quia vero nonnulli [ ... ] etiam blasphema verba et iuramenta per deum iurant, deum ad iracundiam provocantes, his quoque similiter praecipimus, ut a blasphemis istis verbis et iureiurando per capillos et caput, atque id genus aliis verbis abstineant [ ... ] Praecepimus enim gloriosissimo praefecto regiae urbis, ut eos, qui post hanc quoque legem nostram in dictis absurdis et impiis perseverant actionibus, comprehendant, ultimisque suppliciis afficiant" (355-356). "Da aber Einige [ ... ] auch noch gotteslästerliche Reden führen und Eide bei Gott schwören, wodurch sie Gott zum Zorne auffordern, so rufen Wir auf gleiche Weise auch Diesen zu, dass sie sich solcher gotteslästerlicher Reden und des Schwörens beim Haar und Haupt und solcher ähnlicher Reden enthalten sollen [ ... ] Wir haben nämlich den ruhmwürdigsten Praefectus der Kaiserstadt beauftragt, Diejenigen, welche bei den angegebenen unerlaubten und frevelhaften Handlungen auch nach dieser Unserer Anordnung beharren, fesseln zu lassen und der höchsten Strafe (Todesstrafe) zu unterwerfen" (Das Corpus Iuris Civilis [Romani] ins Deutsche übers. v. einem Verein Rechtsgelehrter und herausgeg. v. K. E. Otto, B. Schilling und K. F. F. Sintenis) VII. Novellen, Edikte, Konstitutionen, Lehnsrechtsbücher, Aalen 1985 [= Leipzig 1833], 380-382). Der griechische Text findet sich in: Imp. Iustiniani PP. A. Novellae quae vocantur sive Constitutiones quae extra codicem supersunt ordine chronologico digestae (ed. C. E. Zachariae a Lingenthal) I, Leipzig 1881, 184-186. </ref> Der hl. Gregor schreibt, dass ein fünf jähriger Junge, nachdem er Gott zu lästern gelernt hatte und dafür vom Vater nicht zurechtgewiesen worden war, in den Armen des Vaters starb und dass die Seele des Jungen von Dämonen, die sichtbar erschienen, in das Feuer der Hölle getragen wurde.<ref> Gregor der Große, Dialoge IV, 19. Der komplette Text findet sich in: Gregoire le Grand, Dialogues III (Livre IV) (ed. de Vogüe) (SC 265), Paris 1980, 72.74; Gregor der Große, Vier Bücher Dialoge, in: BKV2 2. Reihe I 3, 210-211. </ref> Dass so etwas einmal wegen einer anderen Sünde geschehen wäre, ist nirgendwo zu lesen. Folglich muss man unbedingt alle Sorgfalt darauf verwenden, sich vor einer so großen Beleidigung der göttlichen Majestät zu hüten. Diese Sünde zu meiden müsste aber umso leichter fallen, als man aus ihr keinerlei Nutzen oder Lust gewinnt wie bei manchen anderen Sünden, sondern bloß den Schaden, den die Sünde mit sich bringt. Freilich darf man niemals sündigen, was für einen Nutzen oder was für ein Vergnügen auch immer man damit erlangen würde.
Erklärung des dritten Gebots
S: Die beiden ersten Gebote habe ich bereits verstanden. Nun möchte ich gern, dass Sie mir das dritte erklären.
L: Das dritte Gebot, nämlich die Feiertage zu heiligen, ist etwas anders als die übrigen. Denn alle anderen, d. h. die beiden vorherigen und die sieben folgenden, sind vollständig mit der Natur gegeben und nicht nur für die Christen, sondern auch für die Juden und für die Heiden verpflichtend. Dieses dritte dagegen ist teilweise natürlich und für alle Menschen verpflichtend, teilweise ist es aber auch nicht aus der Natur abgeleitet und verpflichtet nicht alle. Denn den Feiertag zu heiligen, d. h. irgendeinen Tag heilig zu halten, den man in frommen Werken und vor allem mit dem Gottesdienst verbringen muss, ist eine mit der Natur gegebene Vorschrift, ist es doch so, dass die natürliche Vernunft dies alle Menschen lehrt und man so in jedem Teil der Welt irgendeinen bestimmten Feiertag beachtet. Jedoch die genaue Festlegung eines solchen Tages, d. h. dass es eher dieser als jener ist, entspringt nicht der menschlichen Natur. Deshalb ist der Hauptfesttag bei den Juden der Sabbat, bei den Christen aber der Sonntag.
S: Aus welchem Grund gebot Gott den Juden, den Sabbat zu halten, und warum gerade diesen und nicht einen anderen Tag?
L: Zwei Hauptgründe gibt es dafür. Der erste ist, dass Gott am Sabbat die Erschaffung der Welt vollendete und deshalb wollte, dass man diesen Tag zum Gedenken an diese große Wohltat der Erschaffung der Welt heilig halte. Das diente auch dazu, den Irrtum bestimmter Philosophen niederzuschmettern, die behaupteten, die Welt sei schon immer da gewesen. Denn indem man den Feiertag zum Gedenken an die Erschaffung der Welt beging, gestand man auch ein, dass die Welt einen Anfang gehabt hat. Der zweite Grund ist: Weil der Mensch seine Knechte, Mägde und Tiere sechs Tage der Woche arbeiten und sich abmühen lässt, wollte Gott, dass diese Untergebenen, Männer wie Frauen, und auch Ochs und Esel am siebten Tag, dem Sabbat, ausruhen können und dass die Herren lernen, freundlich und nicht grausam zu ihren Arbeitern zu sein und selbst mit den Tieren Mitleid zu haben.
S: Was bedeutet es, dass wir Christen nicht wie die Juden den Sabbat halten, wo es doch so gute Gründe gibt, ihn zu halten?
L: Ganz zu Recht hat Gott den Sabbat gegen den Sonntag ausgetauscht, ganz wie die Beschneidung gegen die Taufe, das Osterlamm gegen das allerheiligste Sakrament und alle anderen guten Einrichtungen des Alten Testamentes gegen die noch besseren des Neuen Testamentes. Wenn man darum den Sabbat zum Gedenken an die Erschaffung der Welt feierte, weil an diesem Tag das Schöpfungswerk beendet wurde, feiert man mit noch größerem Recht den Sonntag zum Gedenken an die Schöpfung, denn am Sonntag nahm die Schöpfung ihren Anfang.<ref> S. Iustini Apologia prima pro Christianis ad Antoninum Pium 67, in: PG 6, 327-440: "Die autem solis omnes simul convenimus, tum quia prima haec dies est, qua Deus, cum tenebras et materiam vertisset, mundum creavit, tum quia Jesus Christus Salvator noster eadem die ex mortuis resurrexit" (430). "Am Sonntage aber halten wir alle gemeinsam die Zusammenkunft, weil er der erste Tag ist, an welchem Gott durch Umwandlung der Finsternis und des Urstoffes die Welt schuf und weil Jesus Christus, unser Erlöser, an diesem Tage von den Toten auferstanden ist" (BKV2 12, 82).
Leo 1., Epistola IX. Ad Dioscorum Alexandrinum episcopum 1, in: PL 54, 624-627: "[ ... ] ut quidquid est a Domino insignius constitutum, in huius diei dignitate sit gestum. In hac mundus sumpsit exordium. In hac per resurrectionem Christi, et mors interitum, et vita accepit initium. In hac apostoli a Domino praedicandi omnibus gentibus Evangelii tubam sumunt [Joan. XX, 21], et inferendum universo munda sacramentum regenerationis accipiunt. In hac, sicut beatus Joannes evangelista testatur, congregatis in unum discipulis, ianuis clausis, cum ad eos Dominus introisset, insufflavit, et dixit: Accipite Spiritum sanctum; quorum remiseritis peccata remittuntur eis; et quorum detinueritis, detenta erunt [Ibid., 22]. In hac denique promissus a Domino apostolis Spiritus sanctus advenit [Act. II, 1; Joan. XIV, 16; XVI, 7]" (626). "[D]aß, was immer Hervorragenderes vom Herrn angeordnet ist, an diesem erhabenen Tage geschah. An diesem Tage nahm die Welt ihren Anfang; an demselben fand durch die Auferstehung Christi der Tod sein Ende und das Leben seinen Anfang; an ihm erhalten die Apostel vom Herrn den Auftrag, allen Völkern das Evangelium zu verkündigen und der ganzen Welt das Sacrament der Wiedergeburt zu spenden. An ihm hauchte, wie es der heilige Evangelist Johannes bezeugt, der Herr, nachdem er zu den versammelten Jüngern bei verschlossenen Türen eingetreten war, sie an und sprach: ,Empfanget den heiligen Geist; denen ihr die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen, und welchen ihr sie vorbehalten werdet, denen sind sie vorbehalten.' An diesem (Tage) endlich kam der vom Herrn den Aposteln verheissene heilige Geist" (Die Briefe der Päpste und die an sie gerichteten Schreiben IV [übers. v. S. Wenzlowsky] [BKV], Kempten 1878, 60). </ref> Wenn die Juden Gott den letzten Tag der Woche schenkten, so tun die Christen noch besser daran, ihm den ersten zu schenken. Darüber hinaus gedenkt man am Sonntag der drei hauptsächlichen Wohltaten der Erlösung. Denn an einem Sonntag wurde Christus geboren, an einem Sonntag ist er auferstanden und an einem Sonntag sandte er den Heiligen Geist auf die Apostel herab. Schließlich bedeutet der Sabbat die Ruhe, die die heiligen Seelen in der Vorhölle genossen. Der Sonntag bedeutet die Herrlichkeit, die die heiligen Seelen bereits jetzt und einst auch die Leiber im Himmel haben. Deshalb feierten die Juden den Sabbat, weil sie bei ihrem Tod in die Ruhe der Vorhölle eingingen; die Christen aber müssen den Sonntag feiern, weil sie bei ihrem Tod in die Seligkeit des Paradieses eingehen, d. h. selbstverständlich, wenn sie gute Werke entsprechend dem heiligen Gesetz, das Gott ihnen gegeben hat, getan haben.
S: Muss man außer dem Sonntag auch noch andere Feiertage halten?
L: Man muss viele andere Feiertage halten, die des Herrn ebenso wie die der Mutter Gottes oder der anderen Heiligen, d. h. all jene, die von der heiligen Kirche geboten sind. Wir haben jedoch insbesondere vom Sonntag gesprochen, weil er der älteste Feiertag ist und häufiger als alle anderen gefeiert wird. So gab es auch bei den Juden viele Feiertage, aber der älteste, häufigste und größte von allen war der Sabbat. Deshalb wird in den zehn Geboten nur der Sabbat eigens erwähnt, dessen Nachfolge, wie gesagt, der Sonntag angetreten hat.
S: Was muss man tun, um die Feiertage zu halten?
L: Zweierlei ist nötig: Zum einen sich von knechtischen Arbeiten zu enthalten, welche diejenigen sind, die man für gewöhnlich von Dienstboten und Handwerkern machen lässt, die körperlich arbeiten. Denn diejenigen Arbeiten, bei denen hauptsächlich der Verstand tätig ist, kann man nicht knechtisch nennen, auch wenn man zur Unterstützung des Verstandes ebenfalls die Zunge, die Hand oder ein anderes Körperteil gebraucht. Zum anderen sind wir verpflichtet, an den gebotenen Festtagen dem heiligen Messopfer beizuwohnen. Obwohl uns die heilige Kirche aber zu nichts anderem verpflichtet, ist es dennoch sehr angemessen, den ganzen Tag oder doch den größeren Teil von ihm mit Gebeten, geistlichen Lesungen, dem Besuch von Kirchen, Hören von Predigten und ähnlichen frommen Übungen zu verbringen, ist dies doch der Zweck, wozu diese Festtage eingesetzt worden sind.
S: Wenn man am Feiertag keine knechtische Arbeit verrichten darf, dann kann man doch nicht einmal die Glocken läuten, den Tisch decken und erst recht nicht das Essen kochen, weil all das knechtische Arbeiten sind.
L: Das Verbot knechtischer Arbeiten gilt unter zwei Bedingungen. Erstens dass sie nicht für das menschliche Leben notwendig sind. Deshalb ist Essen kochen, den Tisch decken und ähnliches mehr, was man nicht am Vortag erledigen kann, erlaubt. Zweitens dass sie nicht zum Dienst Gottes notwendig sind. Deshalb ist Glocken läuten gestattet ebenso wie andere Dienste in der Kirche, die man nicht an anderen Tagen erledigen kann. Über diese Bedingungen hinaus ist es auch erlaubt, knechtische Arbeiten am Feiertag zu tun, wenn es eine Erlaubnis des kirchlichen Vorgesetzten gibt und ein vernünftiger Grund vorliegt.
Erklärung des vierten Gebots
S: Es folgt das vierte Gebot, das darin besteht, Vater und Mutter zu ehren. Ich möchte gern wissen, warum die Gebote der zweiten Tafel mit der Ehre von Vater und Mutter beginnen.
L: Die Gebote der zweiten Tafel beziehen sich auf den Nächsten, so wie die der ersten Tafel sich auf Gott beziehen. Weil aber Vater und Mutter uns unter allen Menschen am nächsten sind und wir ihnen am meisten verpflichtet sind, haben wir von ihnen doch das Sein und das Leben, welches die Grundlage aller anderen zeitlichen Güter ist, darum beginnt die zweite Tafel ganz zu Recht mit der Ehre von Vater und Mutter.
S: Was versteht man unter dieser Ehre, die man Vater und Mutter schuldet?
L: Man versteht darunter dreierlei: Hilfe, Gehorsam und Ehrerbietung. Zum ersten sind wir dazu verpflichtet, Vater und Mutter in ihren Bedürfnissen zu helfen und zu unterstützen. Diese Hilfe heißt in der Heiligen Schrift Ehre,<ref> Hieronymus, Commentariorum in Matheum libri IV, liber II, in: S. Hieronymi Presbyteri Opera 1, 7 (edd. D. Hurst I M. Adriaen) (CCL 77), Turnhout 1969: "Honor in scripturis non tantum in salutationibus et officiis deferendis quantum in elemosinis ac munerum oblatione sentitur. Honora, inquit apostolus, viduas quae uere viduae sunt [1 Tim. 5, 3], hic honor donum intellegitur [ ... ] Praeceperat Dominus vel inbecillitates vel aetates vel penurias parentum considerans ut filii honorarent etiam in vitae necessariis ministrandis parentes suos" (127-128, Auslegung zu Mt 15, 4-6). "In der Heiligen Schrift bedeutet Ehre weniger das Grüßen und den Erweis von Freundlichkeiten als vielmehr das Geben von Almosen und die Darbringung von Gaben. Der Apostel sagt: Ehre die Witwen, die wirkliche Witwen sind [1 Tim 5, 3]' und dabei versteht er unter Ehre die Gabe. [ ... ] Der Herr hat im Blick auf die Gebrechen, das Alter und die Bedürftigkeit der Eltern geboten, dass die Kinder ihre Eltern auch durch die Unterstützung mit dem für das Leben Notwendigen ehren." </ref> und es ist sehr vernünftig, dass die Kinder, die doch von Vater und Mutter das Leben empfangen haben, dafür sorgen, diesen wiederum das Leben zu erhalten. Darüber hinaus sind wir dazu verpflichtet, Vater und Mutter, wie der hl. Paulus sagt, in allem im Herrn zu gehorchen,<ref> "Filii oboedite parentibus per omnia: hoc enim placitum est in Domino" (Kol 3, 20; "Ihr Kinder, gehorchet den Eltern in allem; denn das ist wohlgefällig im Herrn!"). </ref> d. h. in allem, was dem Willen des Herrn entspricht. Denn wenn der Vater oder die Mutter etwas gebietet, was gegen den Willen Gottes ist, dann muss man nach dem Gebot Christi Vater und Mutter hassen, d. h. ihnen nicht gehorchen und sie nicht anhören, nicht anders, als wären sie unsere Feinde.<ref> "Si quis venit ad me, et non odit patrem suum, et matrem, et uxorem, et filios, et fratres, et sorores, adhuc autem et animam suam, non potest meus esse discipulus" (Luk 14,z6; "Wenn jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater und Mutter, und Weib, und Kinder, und Brüder, und Schwestern, ja auch sogar seine eigene Seele, der kann mein Jünger nicht sein"). </ref> Schließlich sind wir dazu verpflichtet, Vater und Mutter Ehrerbietung zu erweisen, indem wir sie achten und sie mit Worten und mit äußeren Zeichen ehren, so wie es sich gehört. Im Alten Testament sah Gott dies als so schwerwiegend an, dass er befahl, den zu töten, der es gewagt hatte, Vater und Mutter zu fluchen.<ref> "Qui maledixerit patri suo, aut matri, morte moriatur: patri, matrique maledixit, sanguis eius sit super eum" (Lev 20, 9; "Wer seinem Vater oder seiner Mutter fluchet, soll des Todes sterben; er hat seinem Vater oder seiner Mutter gefluchet, sein Blut sei auf ihm"). </ref>
S: Ich verstehe nicht, warum das Gesetz Gottes den Kindern gebietet, Vater und Mutter zu helfen und zu unterstützen, nicht aber ebenso den Vätern und Müttern gebietet, den Kindern zu helfen und sie zu unterstützen, vor allem solange sie noch klein sind und Hilfe nötig haben.
L: Tatsächlich besteht die Pflicht wechselseitig zwischen Eltern und Kindern. So wie letztere verpflichtet sind, erstere zu unterstützen, zu ehren und ihnen zu gehorchen, ebenso sind erstere dazu verpflichtet, nicht nur für Nahrung und Kleidung der Kinder zu sorgen, sondern auch für ihre Erziehung und Bildung. Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern ist aber so natürlich und normal, dass kein weiteres geschriebenes Gesetz nötig war, die Eltern an die Pflicht, die sie gegenüber den Kindern haben, zu erinnern. Dagegen sieht man häufig, dass die Kinder die Liebe der Eltern nicht erwidern. Deshalb war es notwendig, sie mit diesem Gebot auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen. Gott hat sich nicht mit dem bloßen Gebot begnügt, sondern er hat ihm eine Verheißung und eine Drohung hinzugefügt, damit es auch befolgt wird.
S: Ich möchte gerne wissen, was für eine Verheißung bzw. Drohung das ist.
L: Gott fügte diesem vierten Gebot die folgenden Worte hinzu: "damit du lange lebst auf der Erde". Das heißt, dass diejenigen, die Vater und Mutter ehren, als Lohn erhalten werden, dass sie lange leben; diejenigen hingegen, die sie nicht ehren, neben anderen Strafen insbesondere diese erhalten werden, dass sie nicht alt werden. Das ist eine sehr angemessene Strafe, weil es nicht recht ist, dass derjenige lange das Leben genießt, der diejenigen verunehrt, von denen er dieses Leben empfangen hat.
S: Als letztes kommt mir noch die Frage, ob das, was von Vater und Mutter gesagt worden ist, nicht auch für die anderen Vorgesetzten gilt, die uns gegenüber Vaterstelle einnehmen.
L: Ihr habt euch darüber sehr gut Gedanken gemacht, denn dieses Gebot muss man auf alle kirchlichen ebenso wie weltlichen Vorgesetzten ausdehnen.
Erklärung des fünften Gebots
S: Erklären Sie mir jetzt bitte das fünfte Gebot!
L: Dieses Gebot verbietet zunächst den Mord, d. h. Menschen umzubringen.
Denn Tiere umzubringen ist durch dieses Gebot nicht untersagt. Der Grund dafür ist, dass Tiere für den Menschen geschaffen sind. Wenn der Mensch sich also des Lebens der Tiere zu seinem Nutzen bedienen kann, dann darf er sie töten. Der Mensch aber ist nicht für einen anderen Menschen geschaffen, sondern für Gott. Deshalb ist der Mensch nicht Herr über das Leben eines anderen Menschen. Folglich ist es ihm nicht erlaubt, ihn zu töten.
S: Wir sehen aber doch, dass die Fürsten und Regierenden Räuber und andere Übeltäter hinrichten lassen, die doch auch Menschen sind; und man ist der Ansicht, dass sie dabei nicht falsch, sondern richtig handeln.
L: Wenn die Fürsten und Regierenden, die die staatliche Gewalt innehaben, die Verbrecher hinrichten lassen, dann handeln sie dabei nicht etwa als Herren über das Leben der Menschen, sondern als Diener Gottes, wie der hl. Paulus sagt.<ref> "[N]am principes non sunt timori boni operis, sed mali. Vis autem non timere potestatem? Bonum fac: et habebis laudem ex illa: Dei enim minister est tibi in bonum. Si autem malum feceris, time: non enim sine causa gladium portat. Dei enim minister est: vindex in iram ei, qui malum agit" (Röm 13, 3-4; "Denn die Obrigkeiten sind nicht den guten Werken, sondern den bösen furchtbar. Willst du aber die (obrigkeitliche) Gewalt nicht fürchten, so tu Gutes, und du wirst von ihr Lob erhalten; denn sie ist Gottes Dienerin, dir zum Besten. Wenn du aber Böses tust, so fürchte dich, denn nicht umsonst trägt sie das Schwert; denn sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Bestrafung für den, der das Böse tut"). </ref> Gott will nämlich und gebietet, dass die Verbrecher bestraft und, wenn sie es verdienen, auch getötet werden, damit die rechtschaffenen Menschen in Sicherheit und in Frieden leben können. Dafür hat Gott selbst den Fürsten und Regierenden das Schwert in die Hand gegeben, um für Gerechtigkeit zu sorgen, indem sie die Guten verteidigen und die Schuldigen bestrafen. Wenn darum durch die staatliche Gewalt ein Verbrecher getötet wird, heißt das nicht Mord, sondern Hinrichtung. Und wenn das Gebot Gottes lautet: "Nicht töten!", dann ist damit gemeint: nicht aus eigener Vollmacht.
S: Dabei kommt mir ein Gedanke. Untersagt dieses Gebot auch, sich selbst zu töten, so wie es verbietet, einen anderen zu töten?
L: Ohne jeden Zweifel untersagt dieses Gebot auch, sich selbst zu töten,<ref> Vgl. Aurelius Augustinus, De civitate Dei I, 17-27, in: Sancti Aurelii Augustini De civitate Dei. Libri I-X (edd. B. Dombart / A. Kalb) (CCL 47), Turnhout 1955, 18-z8. </ref> weil niemand Herr über das eigene Leben ist. Denn der Mensch ist nicht für sich selbst geschaffen, sondern für Gott. Deshalb kann sich niemand eigenmächtig das Leben nehmen. Wenn aber manche heiligen Männer oder Frauen sich selbst getötet haben, um nicht den Glauben oder die Keuschheit zu verlieren, muss man annehmen, dass Gott ihnen eigens ganz klar eingegeben hat, so etwas zu tun. Andernfalls könnte man eine solche Handlung nicht von schwerster Sünde freisprechen. Denn wer sich selbst tötet, tötet einen Menschen und begeht so einen Mord, welches die Sünde ist, die hauptsächlich in diesem fünften Gebot des Gesetzes verboten wird.
S: Warum sagen Sie: hauptsächlich?
L: Weil nicht nur das Töten verboten ist, sondern auch das Verwunden, Schlagen und jedes beliebige andere Unrecht am Leben oder an der Person des Nächsten. Ja, wo Christus, unser Herr, im heiligen Evangelium dieses Gebot erklärt, verbietet er zugleich sogar den Zorn, den Hass, den heimlichen Groll, die Schmähung und andere ähnliche Gefühle oder Worte, die normalerweise die Ursache und Wurzel von Tötungsverbrechen sind.<ref> "Audistis quia dictum est antiquis: Non occides: qui autem occiderit, reus erit iudicio. Ego autem dico vobis: quia omnis, qui irascitur fratri suo, reus erit iudicio. Qui autem dixerit fratri suo, raca: reus erit concilio. Qui autem dixerit, fatue: reus erit gehennae ignis" (Mt 5, 21-22; "Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichtes schuldig sein. Ich aber sage euch, daß ein jeder, der über seinen Bruder zürnt, des Gerichtes schuldig sein wird. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka! wird des Rates schuldig sein; und wer sagt: Du Narr! wird des höllischen Feuers schuldig sein"). </ref> Er will, dass wir im Gegenteil sanftmütig und entgegenkommend sind und uns um Frieden und Eintracht mit allen bemühen.
Erklärung des sechsten Gebots
S: Was ist im sechsten Gebot enthalten?
L: Es enthält in erster Linie das Verbot des Ehebruchs, also das Sündigen mit der Frau eines anderen. Weil aber nach dem Leben das am meisten geschätzte Gut in dieser Welt die Ehre ist, wird nach dem Gebot, nicht zu töten, ganz zu Recht der Ehebruch verboten, durch den man seine Ehre verliert.
S: Warum sagen Sie: in erster Linie?
L: Die zehn Gebote sind ein Gesetz der Gerechtigkeit. Darum werden in ihnen in erster Linie die Sünden verboten, durch die man eine offensichtliche Ungerechtigkeit begeht; eine solche ist der Ehebruch. Dennoch werden darin in zweiter Linie auch alle anderen Arten von fleischlichen Sünden verboten,<ref> Aurelius Augustinus, Quaestionum in Heptateuchum libri VI! (ed. 1. Fraipont). Liber II, Quaestiones Exodi, Quaestio LXXI, 4, in: Aurelii Augustini Opera V (CCL 33), Turnhout 1958, 1-377: "nomine moechiae omnis inlicitus concubitus atque illorum membrorum non legitimus usus prohibitus debet intellegi" (105). "Unter dem Begriff Ehebruch ist jeder unerlaubte Beischlaf und jeder unrechtmäßige Gebrauch jener Körperteile zu verstehen." </ref> so das Sakrileg, also das Sündigen mit einer gottgeweihten Person; der Inzest, also das Sündigen mit einem Verwandten; die Schändung, also das Sündigen mit einer Jungfrau; die Unzucht, also das Sündigen mit einer lasterhaften, aber nicht gebundenen Frau, etwa einer Witwe oder einer Prostituierten; und andere Arten von noch abscheulicheren Sünden, die man unter Christen nicht einmal beim Namen nennen soll.
S: Auch wenn ich glaube, dass all das wahr ist, was Sie gesagt haben, möchte ich doch gerne verstehen, worauf es beruht, dass die Unzucht eine Sünde ist. Denn anscheinend fügt man doch niemandem einen Schaden oder eine Beleidigung zu, wenn man diese einfache, zuletzt genannte Form der Unzucht begeht.
L: Dies ist in allen Gesetzen begründet, im Naturgesetz, im Gesetz der Heiligen Schrift und im Gesetz der Gnade. Im Naturgesetz findet man, dass der Patriarch Juda eine Frau namens Thamar töten lassen wollte. Sie war seine Schwiegertochter gewesen, und als sie Witwe war, stellte sich heraus, dass sie schwanger war.<ref> Vgl. Gen 38,17-27. </ref> Daran sieht man, dass die Menschen zu jener Zeit, noch bevor das Gesetz an Mose gegeben worden war, durch einen natürlichen Instinkt erkannten, dass die Unzucht Sünde ist. Im Gesetz des Mose ist dann an verschiedenen Stellen die Unzucht verboten,<ref> Vgl. Dtn 22, 13-30. </ref> und in den Briefen des heilige Paulus lesen wir häufig, dass die Unzüchtigen nicht in die Herrlichkeit des Paradieses gelangen werden.<ref> "An nescitis quia iniqui regnum Dei non possidebunt? Nolite errare: Neque fornicarii, neque idolis servientes, neque adulteri, neque molles, neque masculorum concubitores, neque fures, neque avari, neque ebriosi, neque maledici, neque rapaces regnum Dei possidebunt" (1 Kor 6, 9-10; "Wisset ihr nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht besitzen werden? Täuschet euch nicht! Weder Hurer, noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch Weichlinge, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Geizige, noch Säufer, noch Lästerer, noch Räuber werden das Reich Gottes besitzen").
"Nolo enim vos ignorare fratres quoniam patres nostri omnes sub nube fuerunt, et omnes mare transierunt [ ... ] sed non in pluribus eorum beneplacitum est Deo: nam prostrati sunt in deserto. Haec autem in figura facta sunt nostri, ut non simus concupiscentes malorum, sicut et illi concupierunt [ ... ] Neque fornicemur, sicut quidam ex ipsis fornicati sunt, et ceciderunt una die viginti tria millia" (1 Kor 10, 1.5-6.8; "Denn ich will euch nicht vorenthalten, Brüder, daß unsere Väter alle unter der Wolke waren, und alle durch das Meer gingen [ ... ] aber an den mehreren von ihnen hatte Gott kein Wohlgefallen; denn sie fielen dahin in der Wüste. Dies ist uns zum Vorbilde geschehen, daß wir uns des Bösen nicht gelüsten lassen, gleichwie auch jene sich gelüsten ließen [ ... ] Lasset uns nicht Hurerei treiben, wie einige von ihnen Hurerei trieben, und an einem Tage dreiundzwanzigtausend umkamen").
Manifesta sunt autem opera carnis: quae sunt fornicatio, immunditia, impudicitia, luxuria [ ... ] quae praedico vobis, sicut praedixi: quoniam qui talia agunt, regnum Dei non consequentur" (Gal 5, 19.21; "Offenkundig sind die Werke des Fleisches, als da sind: Hurerei, Unreinigkeit, Unzucht, Geilheit [ ... ] wovon ich euch verkündige, wie ich es schon ehedem gesagt habe, daß die, welche solches tun, das Reich Gottes nicht erlangen werden").
"Hoc enim scitote intelligentes: quod omnis fornicator, aut immundus, aut avarus, quod est idolorum servitus, non habet hereditatem in regno Christi, et Dei" (Eph 5, 5; "Denn das wisset und erkennet, daß kein Hurer oder Unzüchtiger, oder Geiziger, der ein Götzendiener ist, ein Erbteil an dem Reiche Christi und Gottes habe").
"Haec est enim voluntas Dei, sanctificatio vestra: ut abstineatis vos a fornicatione [ ... ] quoniam vindex est Dominus de his omnibus, sicut praediximus vobis, et testificati sumus. Non enim vocavit nos Deus in immunditiam, sed in sanctificationem. Itaque qui haec spernit, non hominem spernit, sed Deum: qui etiam dedit Spiritum suum sanctum in nobis" (1 Thess 4, 3.6-8; "Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, daß ihr euch enthaltet von der Unzucht [ ... ] denn der Herr ist Rächer von allem diesem, wie wir euch vorhergesagt und bezeugt haben. Denn nicht hat uns Gott berufen zur Unlauterkeit, sondern zur Heiligung. Wer daher nicht darauf achtet, der verachtet nicht den Menschen, sondern Gott, der auch seinen heiligen Geist uns gegeben hat"). "Honorabile conubium in omnibus, et thorus immaculatus. Fornicatores enim, et adulteros iudicabit Deus" (Hebr 13, 4; "Ehrbar sei die Ehe in allem, und das Ehebett unbefleckt; denn die Unzüchtigen und Ehebrecher wird Gott richten"). </ref> Es ist auch nicht wahr, dass die Unzucht niemandem Schaden oder eine Beleidigung zufügt. Denn sie fügt der Frau selbst Schaden zu, weil sie dadurch ehrlos wird; sie fügt der Nachkommenschaft Schaden zu, die als illegitim zur Welt kommt. Sie fügt Christus eine Beleidigung zu, denn wir sind alle Glieder Christi, und wer Unzucht begeht, macht aus den Gliedern Christi Glieder von Dirnen.<ref> "Nescitis quoniam corpora vestra membra sunt Christi? Tollens ergo membra Christi, faciam membra meretricis? Absit. An nescitis quoniam qui adhaeret meretrici, unum corpus efficitur? Erunt enim (inquit) duo in carne una. Qui autem adhaeret Domino, unus spiritus est. Fugite fornicationem. Omne peccatum, quodcumque fecerit homo, extra corpus est: qui autem fornicatur, in corpus suum peccat. An nescitis quoniam membra vestra, templum sunt Spiritus sancti, qui in vobis est, quem habetis a Deo, et non estis vestri? Empti enim estis pretio magno. Glorificate, et portate Deum in corpore vestro" (1 Kor 6, 15-20; "Wisset ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind? Soll man nun die Glieder Christi nehmen, und sie zu Gliedern einer Hure machen? Das sei ferne! Oder wisset ihr nicht, daß, wer einer Hure anhängt, ein Leib mit ihr wird? Denn es werden (sagt er) die zwei in einem Fleische sein. Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm. Fliehet die Hurerei! Jede Sünde, die ein Mensch begeht, ist außer dem Leibe; wer aber Hurerei treibt, der sündigt wider seinen eigenen Leib. Wisset ihr nicht, daß eure Glieder ein Tempel des heiligen Geistes sind, der in euch ist, den ihr von Gott habet, und daß ihr nicht euch selbst gehöret? Denn ihr seid um teuern Preis erkauft. Verherrlichet, und traget Gott in eurem Leibe!"). </ref> Schließlich fügt sie dem Heiligen Geist eine Beleidigung zu, denn unsere Leiber sind Tempel des Heiligen Geistes, und wer den Leib durch Unzucht besudelt, entweiht somit den Tempel des Heiligen Geistes.<ref> "Nescitis quia templum Dei estis, et Spiritus Dei habitat in vobis? Si quis autem templum Dei violaverit, disperdet illum Deus. Templum enim Dei sanctum est, quod estis vos" (1 Kor 3, 16-17; "Wisset ihr nicht, daß ihr ein Tempel Gottes seid, und der Geist Gottes in euch wohnet? Wenn aber jemand den Tempel Gottes entheiligt, so wird ihn Gott zugrunde richten; denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr"). </ref>
S: Verbietet dieses Gebot noch anderes außer der Art von Sünden, die Sie genannt haben?
L: Es verbietet auch alle übrigen schamlosen Handlungen, die wie breite Straßen zum Ehebruch oder zur Unzucht führen, nämlich die lüsternen Blicke, die wollüstigen Küsse und ähnliche andere Dinge. So hat es uns unser Herr im heiligen Evangelium gelehrt, wo er bei der Erklärung dieses sechsten Gebots sagt, wer eine Frau mit bösem Begehren anschaue, habe in seinem Herzen bereits Ehebruch begangen.<ref> "Audistis quia dictum est antiquis: Non moechaberis. Ego autem dico vobis: quia omnis, qui viderit mulierem ad concupiscendum eam, iam moechatus est eam in corde suo" (Mt 5, 27-28; "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht ehebrechen! Ich aber sage euch, daß ein jeder, der ein Weib, mit Begierde nach ihr, ansieht, schon die Ehe mit ihr gebrochen hat in seinem Herzen"). </ref> Wer deshalb ähnliche Sünden ernstlich meiden will, der muss unbedingt sorgfältig über seine Sinne wachen, vor allem über seine Augen, die wie Türen sind, durch die der Tod in die Seele hineingelangt.
Erklärung des siebten Gebots
S: Was enthält das siebte Gebot?
L: Es enthält das Verbot des Diebstahls, d. h. das Eigentum eines anderen gegen den Willen des Besitzers an sich zu nehmen. In schöner Ordnung folgt das Verbot des Diebstahls auf das Verbot des Mordes und des Ehebruchs, denn unter den Gütern dieser Welt schätzt man nach dem Leben die Ehre und nach der Ehre das Eigentum am meisten.
S: Wie viele Arten gibt es, gegen dieses Gebot zu handeln?
L: Im Grunde sind es zwei Arten, auf die sich alle anderen zurückführen lassen. Die erste Art besteht darin, das Eigentum eines anderen heimlich zu entwenden, und das ist Diebstahl im eigentlichen Sinn. Die zweite Art besteht darin, das Eigentum eines anderen ganz offen zu entwenden, so wie es die Straßenräuber machen, und das nennt man Raub. Obwohl nun das Gebot Gottes mit den Worten "nicht stehlen" das erste verbietet, gilt es doch auch für das zweite. Wer nämlich das kleinere Übel verbietet, verbietet zweifellos auch das größere.
S: Welches sind die Sünden, die sich auf Diebstahl und Raub zurückführen lassen und die damit in diesem Gebot ebenfalls verboten sind?
L: Es sind die folgenden. Erstens jeder Betrug und jede Täuschung, bei Kauf, Verkauf und anderen Verträgen.<ref> Aurelius Augustinus, Quaestionum in Heptateuchum libri VII (ed. I. Fraipont). Liber II. Quaestiones Exodi, Quaest. LXXI, 4, in: Aurelii Augustini Opera V (CCL 33), Turnhout 1958, 1-377: "furti nomine bene intellegitur omnis inlicita usurpatio rei alienae - non enim rapinam permisit qui furtum prohibuit; sed utique aparte totum intellegi voluit, quidquid inlicite rerum proximi aufertur" (105). "Unter dem Begriff Diebstahl wird zutreffenderweise jede unrechtmäßige Aneignung von fremdem Gut verstanden. Denn den Raub hat derjenige nicht erlaubt, der den Diebstahl verboten hat. Er wollte aber auf jeden Fall, dass unter dem Teil das Ganze verstanden wird, also jegliche unrechtmäßige Entwendung des Besitzes des Nächsten." </ref> Das lässt sich auf Diebstahl zurückführen, denn wer heimlich solche Betrügereien macht, nimmt vom Nächsten mehr, als dieser ihm schuldig ist. Zweitens jeder Wucher, indem man jemandem Geld leiht unter der Bedingung, dass man es mit Zinsen zurückerhält, und das lässt sich auf Raub zurückführen. Denn wer Wucher treibt, verlangt ganz offen mehr, als er gegeben hat. Drittens jeder dem Nächsten zugefügte Schaden, auch wenn der Schädiger davon keinerlei Gewinn hat, wie etwa wenn er das Haus eines anderen niederbrennt. Das lässt sich bald auf Diebstahl und bald auf Raub zurückführen, je nachdem ob der Schaden heimlich oder ganz offen zugefügt wird. Viertens sündigt gegen dasselbe Gebot, wer etwas nicht zurückgibt, obwohl er dazu verpflichtet ist, und das ist, als würde er stehlen, weil er das Eigentum des anderen gegen den Willen des Eigentümers behält. Fünftens sündigt gegen dasselbe Gebot und begeht einen Diebstahl, wer etwas findet, was andere verloren haben, und es für sich behält. Dabei sage ich "was andere verloren haben", weil es keine Sünde ist, das an sich zu nehmen, was niemandem gehört, so wie die kostbaren Steine, die man manchmal am Meeresstrand findet. Sechstens ist auf Diebstahl oder Raub die Aneignung von Gemeingut zurückzuführen, denn wer sich Gemeingut aneignet, beraubt die Gefährten des Gebrauchs der Dinge, die ihnen gehören.
S: Ich möchte wissen, ob der Diebstahl eine große Sünde ist.
L: Alle Todsünden kann man große Sünden nennen, da sie den Menschen des ewigen Lebens berauben. Der Diebstahl aber hat die besondere Eigenschaft, zu ganz großen Übeln zu führen. So sehen wir, dass Judas durch die Gewohnheit zu stehlen (er behielt das für sich, was ihm zur gemeinsamen Nutzung durch den Herrn und die Apostel anvertraut war) schließlich so weit gebracht wurde, seinen heiligsten Meister zu verraten. Auch sehen wir ständig, wie Straßenräuber sich daran machen, andere Menschen umzubringen, die sie nie zuvor gesehen haben und gegen die sie weder Hass noch Feindschaft im Herzen tragen, nur um ihnen das Wenige, was sie bei sich tragen, zu stehlen. Gott aber lässt es zu, dass, wer anderen etwas wegnimmt, nur wenig Freude daran hat, und so hat Judas sich selbst erhängt, und die Räuber werden meist vom Arm des Gesetzes erreicht.
Erklärung des achten Gebots
S: Was enthält das achte Gebot?
L: Es wurde bereits vom Unrecht gesprochen, das man gegen den Nächsten durch Werke begeht. Nun folgt das Unrecht, das man gegen ihn durch Worte begeht. Darum verbietet das achte Gebot das falsche Zeugnis, das eine der bedeutendsten Ungerechtigkeiten ist, die man mit Worten begehen kann.
S: Ich möchte gern wissen, ob es gegen dieses Gebot ist, wenn jemand Unwahres sagt, ohne damit jemandem zu schaden.
L: Es gibt normalerweise drei Formen, wie man die Unwahrheit sagt. Erstens um dem Nächsten zu schaden, wie etwa wenn vor dem Richter jemand als Zeuge über einen anderen aussagt, er habe gestohlen oder jemanden umgebracht, dabei aber genau weiß, dass das überhaupt nicht wahr ist. Das nennt man Schadenlüge bzw. bösartige Lüge. Zweitens dem Nächsten zu helfen, wie etwa wenn jemand eine Lüge sagt, um einen anderen aus einer Gefahr zu befreien, und das nennt man Nutzlüge (Notlüge, Dienstlüge). Drittens ohne zu schaden und ohne zu nützen, und das nennt man grundlose Lüge oder Scherzlüge. Die erste dieser Formen ist ausdrücklich in diesem Gebot verboten, denn dabei handelt es sich nicht nur um ein falsches, sondern auch um ein ungerechtes Zeugnis, und dies ist eine sehr schwere Sünde. Die anderen beiden Formen sind, obwohl sie keine Ungerechtigkeit enthalten und keine so schweren Sünden wie die erste sind, ebenfalls wirkliche Sünden, zumindest lässliche.<ref> Aurelius Augustinus, Contra mendacium (ed. I. Zycha) III, 4, in: CSEL 41, Prag Wien - Leipzig 1900, 467-528: "Mendaciorum genera multa sunt, quae quidem omnia universaliter odisse debemus. nullum est enim mendacium, quod non sit contrarium veritati nam sicut lux et tenebrae, pietas et inpietas, iustitia et iniquitas, peccatum et recte factum, sanitas et inbecilitas, vita et mors, ita inter se sunt veritas mendaciumque contraria" (474). "Es gibt viele Arten von Lügen, die man alle insgesamt hassen muß. Keine Lüge gibt es ja, die nicht das Gegenteil der Wahrheit wäre. Denn wie Licht und Finsternis, Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Gerechtigkeit und Unrecht, Sünde und Rechttun, Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, so sind Wahrheit und Lüge einander entgegengesetzt" (Aurelius Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge [übers. v. P. Keseling), Würzburg 1953, 66).
Aurelius Augustinus, Contra mendacium XV, 31: "Nihil autem iudicandus est dicere, qui dicit aliqua iusta esse mendacia, nisi aliqua iusta esse peccata ac per hoc aliqua iusta esse, quae iniusta sunt: quo quid absurdius dici potest? unde enim est peccatum, nisi quia iustitiae contrarium est? dicantur ergo alia magna, alia parua esse peccata, quia verum est nec auscultandum stoicis, qui omnia paria esse contendunt; dicere autem quaedam iniusta, quaedam iusta esse peccata, quid est aliud quam dicere quasdam esse iniustas, quasdam iustas iniquitates?" (511-512). "Wer jedoch sagt, manche Lügen seien recht, von dem muß gelten, daß er nichts sagt, es sei denn, daß er die Folgerung zieht und auch sagt, manche Sünden seien recht und dementsprechend manches sei recht, was unrecht ist, das Unsinnigste, was man sagen kann. Denn woher kommt es, daß etwas Sünde ist? Doch nur daher, daß es das Gegenteil der Gerechtigkeit ist. Man mag daher sagen, manche Sünden seien groß, manche klein; das ist wahr, und man darf auf die Stoiker nicht hören, die da behaupten, alle seien gleich; wenn man aber sagt, manche Sünden seien unrecht, manche recht, so heißt das nichts anderes als, manche Ungerechtigkeiten seien unrecht, manche recht" (Aurelius Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge [übers. v. P. Keseling], Würzburg 1953, 107).</ref> Man darf nämlich um keinen Preis der Welt eine Lüge sagen.
S: Enthält dieses Gebot noch etwas anderes neben dem Verbot der Lüge?
L: Es enthält das Verbot von drei anderen Arten von Sünden, die man mit Worten begeht und die sich in gewisser Weise auf das falsche Zeugnis zurückführen lassen, nämlich Schmähung, Verleumdung und Verwünschung.
S: Was bedeutet Schmähung?
L: Eine Schmähung ist ein verletzendes Wort, das man ausspricht, um den Nächsten zu entehren, wie etwa wenn jemand zu einem anderen sagt, er sei dumm, er habe Stroh im Kopf, er sei gemein, ehrlos und ähnliches mehr. Dass es aber eine große Sünde ist, wenn man etwas in der Absicht sagt zu beleidigen, zeigt der Heiland im heiligen Evangelium, wo er sagt, wer seinen Nächsten einen Dummkopf nennt, habe das Feuer der Hölle verdient.<ref> "Ego autem dico vobis: quia omnis, qui irascitur fratri suo, reus erit iudicio. Qui autem dixerit fratri suo, raca: reus erit concilio. Qui autem dixerit, fatue: reus erit gehennae ignis" (Mt 5, 22; "Ich aber sage euch, daß ein jeder, der über seinen Bruder zürnt, des Gerichtes schuldig sein wird. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka! wird des Rates schuldig sein; und wer sagt: Du Narr! wird des höllischen Feuers schuldig sein"). </ref> Ich habe dabei gesagt, "wenn es in der Absicht gesagt ist zu beleidigen", denn wenn man es zum Scherz oder zur Mahnung oder zur Besserung sagt, so wie es manchmal der Vater mit dem Kind und der Lehrer mit dem Schüler macht, ohne einen Gedanken daran, damit zu verletzen, dann heißt das nicht Schmähung und ist auch keine Sünde, allenfalls vielleicht eine lässliche.
S: Was ist Verleumdung?
L: Verleumdung ist, den guten Ruf des Nächsten zu schädigen, indem man schlecht über ihn redet. Das tut man entweder, indem man vom Nächsten Böses erzählt, was nicht wahr ist, oder Böses, was zwar wahr ist, aber nicht allgemein bekannt, und ihn so den guten Ruf verlieren lässt, den er bei denen hatte, die von seiner Sünde nichts wussten. Eine solche Verleumdung ist ein unter den Menschen sehr verbreitetes Übel. Sie ist eine schwere und gefährliche Sünde, weil der Ruf wichtiger ist als das Eigentum und von einigen sogar höher als das Leben geschätzt wird. Darum ist es ein großes Übel, die Ursache für seinen Verlust zu sein. Außerdem ist es bei den anderen Übeln leicht, eine Abhilfe zu finden; den geschädigten Ruf dagegen kann man nur mit größter Schwierigkeit wiederherstellen. Daher kommt es, dass derjenige, der ihn durch seine Verleumdung geschädigt hat, dazu verpflichtet ist, ihn wiederherzustellen. So ist es denn ein äußerst nützlicher Entschluss, stets gut über alle zu reden, wenn man es kann, ohne die Wahrhaftigkeit zu verletzen; wenn man es aber nicht kann, zu schweigen.
S: Was bedeutet Verwünschung?
L: Verwünschung ist es, wenn einer seinen Nächsten verwünscht mit den Worten: "Sei verflucht!", oder ihm verschiedene Arten von Verwünschungen nachschickt mit den Worten: "Dieses oder jenes Übel komme über dich!" Dieses Verwünschen ist eine sehr schwere Sünde, wenn man es aus Hass und mit dem Verlangen tut, dass diese Übel dem Nächsten tatsächlich widerfahren. Wenn man es dagegen ohne Hass und böse Wünsche aus Scherz, Leichtsinn oder einem augenblicklichen Zorn tut, ohne darauf zu achten, was man sagt, ist es nicht ganz so schlimm, aber es ist doch immer noch etwas Böses, weil aus dem Mund eines Christen, der von Gott an Kindes Statt angenommen worden ist, nur Segensworte kommen sollten.
Erklärung des neunten Gebots
S: Was beinhaltet das neunte Gebot?
L: Es beinhaltet das Verbot, nach der Frau des Nächsten zu verlangen. Denn obwohl im sechsten Gebot bereits der Ehebruch verboten worden ist, hat Gott noch gesondert das Verlangen nach dem Ehebruch verboten, um uns verstehen zu lassen, dass das zwei unterschiedliche Sünden sind.
S: Es scheint, dass in diesem Gebot nicht der Wunsch der Frau, mit dem Mann einer anderen die Ehe zu brechen, sondern nur der Wunsch des Mannes, mit der Frau eines anderen die Ehe zu brechen, enthalten ist. Es heißt doch: "Du sollst nicht begehren die Frau eines anderen!"
L: Das stimmt nicht. Der Wunsch nach dem Ehebruch ist in gleicher Weise für den Mann wie für die Frau verboten. Es heißt zwar: "Du sollst nicht begehren die Frau eines anderen!", aber bei dem, was zum Mann gesagt ist, ist auch die Frau mit gemeint, weil im Mann als edlerem auch die Frau eingeschlossen ist. Mehr noch, jeder weiß, dass (zumindest für die Welt) der Ehebruch der Frau schändlicher ist als der des Mannes, so wie auch an der Frau die Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit mehr gelobt wird als am Mann. Wenn es also dem Mann verboten ist, die Frau eines anderen zu begehren, dann ist es zweifellos auch für die Frau verboten, den Mann einer anderen zu begehren.
S: Vorhin haben Sie gesagt, dass zugleich mit dem Ehebruch auch alle anderen Arten von fleischlichen Sünden verboten sind. Ich möchte gern wissen, ob dasselbe auch für das Verlangen gilt.
L: Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass, wenn das Verlangen nach dem Ehebruch verboten ist, darin auch das Verlangen nach Unzucht und nach allen anderen schamlosen Dingen eingeschlossen ist, weil es ein und dieselbe Ursache für alle diese Sünden ist.
S: Ich möchte gern wissen, ob jedes Verlangen nach der Frau eines anderen Sünde ist, auch wenn man einem solchen Verlangen nicht mit dem Willen zustimmt.
L: Der heilige Papst Gregor hat uns gelehrt, dass es beim bösen Verlangen drei Stufen gibt: die erste nennt man Verlockung, die zweite Wohlgefallen und die dritte Zustimmung.<ref> Gregorius I. papa Augustino episcopo, in: Gregorii I Papae Registrum Epistolarum II (edd. P. Ewald I L. M. Hartmann) (= MGH. Ep II), Berlin 1899, 331-343: "Tribus enim modis impletur omne peccatum, videlicet suggestione, delectatione, consensu. Suggestio quippe fit per diabolum, delectatio per carnem, consensus per spiritum [ ... ] Et necessaria est magna discretio, ut inter suggestionem atque delectationem, inter delectationem et consensum iudex sui animus praesideat. Cum enim malignus spiritus peccatum suggerit in mente, si nulla peccati delectatio sequatur, peccatum omni modo perpetratum non est; cum vero delectari caro coeperit, tunc peccatum incipit nasci; si autem etiam ex deliberatione consensit, tunc peccatum cognoscitur perfici. In suggestione igitur peccati initium est, in delectatione fit nutrimentum, in consensu perfectio" (343). "Durch drei Schritte nämlich kommt jede Sünde zustande, durch die Vorstellung, die Lust und die Zustimmung. Allerdings wird die Vorstellung durch den Teufel, die Lust durch das Fleisch und die Zustimmung durch den Geist bewirkt. [ ... ] Dabei ist nun eine hohe Unterscheidungsgabe nötig, damit der Geist Richter sein kann in eigener Sache zwischen der Vorstellung und der Lust sowie zwischen der Lust und der Zustimmung. Wenn der böse Geist nämlich im Geist die Vorstellung einer Sünde weckt, hat man doch keinesfalls eine Sünde begangen, falls daraus keine Lust an der Sünde entstanden ist. Wenn freilich das Fleisch eine Lust zu haben beginnt, dann fängt auch die Sünde an zu entstehen. Falls es jedoch auch unter Erwägung der Sache zustimmt, dann erkennt man daran, dass die Sünde vollendet ist. In der Vorstellung findet sich also der Anfang der Sünde, in der Lust wird sie genährt und in der Zustimmung wird sie vollendet." </ref> Die Verlockung liegt vor, wenn der Teufel uns einen schamlosen Gedanken in den Sinn kommen lässt, der vom plötzlichen Beginn eines bösen Verlangens begleitet ist. Wenn man einer solchen Verlockung sofort Widerstand leistet, so dass sie nicht zu einem Wohlgefallen wird, sündigt der Mensch nicht, ja er hat sogar bei Gott ein Verdienst erworben. Wenn jedoch die Verlockung in ein sinnliches Wohlgefallen übergeht, der Verstand und der Wille jedoch nicht zustimmen, dann ist der Mensch nicht ohne eine lässliche Sünde. Wenn jedoch zur Verlockung und zum sinnlichen Wohlgefallen die Zustimmung des Verstandes und des Willens tritt, so dass der Mensch sich dessen bewusst wird, was er denkt und wonach er verlangt, und sich absichtlich bei einem solchen Verlangen und Gedanken aufhält, begeht er eine Todsünde, und das ist es, was im eigentlichen Sinn in diesem Gebot verboten ist.
Erklärung des zehnten Gebots
S: Was beinhaltet das zehnte Gebot?
L: Es enthält das Verbot des Wunsches nach dem Eigentum anderer, und zwar nach dem unbeweglichen Besitz wie Häuser und Besitzungen ebenso wie nach dem beweglichen Besitz wie Geld, Vieh, Früchte und ähnliches mehr. Auf diese Weise erfüllt man die vollkommene Gerechtigkeit, indem wir dem Nächsten weder in Werken noch in Worten Unrecht tun, ja nicht einmal mit Gedanken oder durch bloße Wünsche.
S: Ich wundere mich, dass Gott, der doch den Mord, den Ehebruch und den Diebstahl verboten hat, nicht auch den Wunsch nach dem Mord verbietet, so wie er den Wunsch nach dem Ehebruch und dem Diebstahl verbietet.
L: Der Grund ist der, dass der Mensch in erster Linie nur das begehrt, was ihm irgendein Gut verschafft, zumindest scheinbar. So wünscht er den Ehebruch, weil er ihm Lust bringt, und den Diebstahl, weil er ihm Nutzen bringt. Der Mord verschafft ihm dagegen kein Gut. Und deshalb wünscht er nicht den Mord an sich, sondern nur um zum Ehebruch, Diebstahl oder der Verwirklichung sonst irgendeinem seiner Pläne zu gelangen. Obwohl das Verlangen nach dem Mord eine sehr schwere Sünde ist, verbot es Gott darum nicht gesondert. Denn es konnte zugleich mit dem Mord selbst als verboten gelten. Hatte er außerdem einmal dem ungeordneten Verlangen nach Lüsten und nutzbringenden Dingen einen Riegel vorgeschoben, so hatte er schließlich auch dem Wunsch nach dem Mord einen Riegel vorgeschoben. Denn der Wunsch nach dem Mord entsteht meist nur, um auf diesem Wege zu irgendeiner Lust oder einem Nutzen zu gelangen.
S: Ich möchte wissen, warum in den menschlichen Gesetzen nie das Verlangen verboten ist, so wie man es im Gesetz Gottes sieht.
L: Der Grund dafür ist offensichtlich, dass die Menschen, mögen sie auch Bischöfe und Kaiser sein, nicht in die Herzen sehen können, sondern nur das Äußere. Weil sie darum nicht über die Gedanken oder das Verlangen urteilen können, können sie diese auch nicht bestrafen. So ist es nicht angemessen, dass sie sich damit belasten, sie zu verbieten. Gott aber, der die Herzen aller Menschen kennt, kann die bösen Gedanken und Wünsche bestrafen, und aus diesem Grund verbietet er sie in seinem heiligen Gesetz.
Kapitel VII: Erklärung der Kirchengebote
S: Ich möchte gern wissen, ob man außer den Geboten Gottes noch andere befolgen muss.
L: Da sind noch die Gebote der heiligen Kirche, und zwar folgende:
1. An gebotenen Feiertagen zur Heiligen Messe zu kommen.
2. In der Fastenzeit, an den Quatembertagen und an den gebotenen Vigiltagen zu fasten und sich am Freitag und am Samstag der Fleischspeisen zu enthalten.
3. Mindestens einmal im Jahr zu beichten.
4. Wenigstens an Ostern die heilige Kommunion zu empfangen.
5. Den Zehnt an die Kirche zu zahlen.
6. Nicht in den geschlossenen Zeiten Hochzeit zu feiern, d. h. vom ersten Adventssonntag bis Dreikönig und vom Aschermittwoch bis zum Weißen Sonntag.
Ich denke, zu diesen Geboten brauche ich euch nichts weiter zu sagen: teils weil sie leicht zu verstehen sind, teils weil wir gleich, bei der Erklärung der heiligen Sakramente, von Messe, Beichte und Kommunion sowie vom Fasten reden werden.
Kapitel VIII: Erklärung der evangelischen Räte
S: Ich möchte gern wissen, ob der Herr außer den Geboten auch noch einige Räte für ein vollkommeneres Leben gegeben hat.
L: Es gibt viele ganz heilige und nützliche Räte, um die Gebote in größerer Vollkommenheit zu befolgen, doch am wichtigsten sind drei: die freiwillige Armut, die Keuschheit und der Gehorsam.
S: Worin besteht der Rat der Armut?
L: Darin, überhaupt nichts eigenes mehr zu haben, indem man sein Eigentum den Armen gibt oder es zum gemeinsamen Besitz hinzufügt, was das gleiche ist. Diesen Rat lehrte Christus nicht nur mit Worten,<ref> "Ait illi Iesus: Si vis perfectus esse, vade, vende, quae habes, et da pauperibus, et habebis thesaurum in caelo: et veni, sequere me" (Mt 19, 21; "Jesus antwortete ihm: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkauf alles, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, und folge mir nach!"). </ref> sondern auch durch sein Beispiel. Und nach Christus haben ihn die Apostel ebenso wie auch die ersten Christen in ihrer Gesamtheit, die in Jerusalem zur Zeit der Kirche des Anfangs lebten, befolgt.<ref> "Multitudinis autem credentium erat cor unum, et anima una: nec quisquam eorum, quae possidebat, aliquid suum esse dicebat, sed erant illis omnia communia" (Apg 4, 32; "Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz, und eine Seele; auch sagte nicht einer, daß etwas von dem, was er besaß, sein sei, sondern sie hatten alles miteinander gemein"). </ref> Schließlich legen alle Ordensleute das Gelübde ab, diesen heiligen Rat der freiwilligen Armut zu befolgen.
S: Worin besteht der Rat der Keuschheit?
L: Im Vorsatz, für immer keusch zu bleiben, indem man sich nicht nur jeder Form der Fleischessünde enthält, sondern auch der Ehe. Auch diesen Rat hat unser Herr mit Worten<ref> "Dicunt ei discipuli eius: Si ita est causa hominis cum uxore, non expedit nubere. Qui dixit illis: Non omnes capiunt verbum istud, sed quibus datum est. Sunt enim eunuchi, qui de matris utero sic nati sunt: et sunt eunuchi, qui facti sunt ab hominibus: et sunt eunuchi, qui seipsos castraverunt propter regnum caelorum. Qui potest capere capiat" (Mt 19, 10-12; "Da sprachen seine Jünger zu ihm: Wenn die Sache des Mannes mit seinem Weibe sich so verhält, so ist nicht gut heiraten. Er sprach zu ihnen: Nicht alle fassen dieses Wort, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn es gibt Verschnittene, die vom Mutterleibe so geboren sind; und es gibt Verschnittene, die von Menschen dazu gemacht wurden; und es gibt Verschnittene, die sich um den Himmelreiches willen selbst verschnitten haben. Wer es fassen kann, der fasse es!"). </ref> und durch sein Beispiel gelehrt, und die Mutter Gottes, der heilige Johannes der Täufer sowie alle Apostel, nachdem sie von Christus zum Apostelamt berufen worden waren, haben ihn befolgt. Darum legen alle Ordensleute ein besonderes Gelübde der Keuschheit ab, ebenso wie die Kleriker, die die heiligen Weihen haben.
S: Worin besteht der Rat des Gehorsams?
L: Darin, auf das eigene Urteil und den eigenen Willen zu verzichten, was das heilige Evangelium "sich selbst verleugnen" nennt,<ref> "Tunc Iesus dixit discipulis suis: Si quis vult post me venire, abneget semetipsum, et tollat crucem suam, et sequatur me" (Mt 16, 24; "Dann sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wenn mir jemand nachfolgen will, so verleugne er sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich, und folge mir nach"). </ref> und sich in allem, was sich nicht gegen Gott richtet, dem Willen des Oberen zu unterwerfen. Auch diesen Rat hat der Erlöser der Welt nicht nur mit Worten, sondern auch durch sein Beispiel gelehrt, indem er in allem dem ewigen Vater gehorchte, und außerdem, indem er sich als Kind seiner Mutter und dem hl. Joseph unterordnete.<ref> "Et descendit cum eis, et venit Nazareth: et erat subditus illis" (Lk 2, 51; "Und er zog mit ihnen hinab, und kam nach Nazareth, und war ihnen untertan"). </ref> Dieser wurde für seinen Vater gehalten, weil er der Bräutigam der Mutter Gottes war. Dennoch war er in Wirklichkeit nicht sein Vater, war der Erlöser doch von einer allzeit jungfräulichen Mutter geboren worden. Dies ist der dritte Rat, zu dem sich alle Ordensleute mit einem Gelübde verpflichten.
S: Warum gibt es nur drei hauptsächliche Räte und nicht mehr?
L: Weil die hauptsächlichen Räte dazu dienen, die Hindernisse für die Vollkommenheit zu beseitigen. Die Vollkommenheit besteht in der Liebe, und Hindernisse dafür gibt es drei: die Liebe zum Besitz, die durch die Armut beseitigt wird; die Liebe zu fleischlichen Lüsten, die durch die Keuschheit beseitigt wird; und die Liebe zu Ehre und Macht, die durch den Gehorsam beseitigt wird. Ein weiterer Grund liegt darin, dass der Mensch nur drei Arten von Gütern hat, die Seele, den Leib und die äußeren Dinge. Wenn er darum Gott die äußeren Güter in der Armut, den Leib in der Keuschheit und die Seele im Gehorsam schenkt, dann bringt er Gott alles, was ihm gehört, als Opfer dar. Auf diese Weise macht er sich auf die beste Art, die in diesem Leben überhaupt möglich ist, geeignet für die vollkommene Liebe.
Kapitel IX: Erklärung der Sakramente der heiligen Kirche
S: Mit Hilfe der Gnade Gottes habe ich die drei Hauptstücke der christlichen Lehre gelernt. Nun müssen Sie mir noch den vierten Teil erklären, der, wenn ich mich recht erinnere, die sieben Sakramente der Kirche enthält.
L: Dieser Teil der Lehre ist von großem Nutzen. Deshalb müsst ihr ihn besonders sorgfältig lernen. Ihr müsst also wissen, dass es in der heiligen Kirche einen großen Schatz gibt, die heiligen Sakramente, durch die wir die Gnade Gottes erwerben, sie bewahren, sie vermehren und, falls wir sie aus eigener Schuld verlieren, sie wieder gewinnen.<ref> Concilium Tridentinum, Sessio VI!, Decretum primum (De sacramentis), Prooemium, in: COD IlI, 684: "Ad consummationem salutaris de iustificatione doctrinae, quae in praecedenti proxima sessione uno omnium patrum consensu promulgata fuit, consentaneum visum est, de sanctissimis ecclesiae sacramentis agere, per quae omnis vera iustitia vel incipit, vel coepta augetur, vel amissa reparatur." "Zur Vollendung der heilsamen Lehre über die Rechtfertigung, die in der letzten Sitzung durch die Übereinstimmung aller Väter verkündet worden ist, erschien es folgerichtig, die heiligen Sakramenten der Kirche zu behandeln, durch die alle wahre Gerechtigkeit beginnt, als begonnene vermehrt oder als verlorene wiederhergestellt wird" (COO III, 684). </ref> Ich will euch also erklären, was ein Sakrament ist, wie viele Sakramente es gibt, von wem sie eingesetzt worden sind und einige wenige andere Punkte. Danach gehen wir zur Erklärung jedes einzelnen von ihnen über.
S: Beginnen Sie bitte mit der Erklärung, was ein Sakrament ist! Das möchte ich nämlich besonders gern wissen.
L: Ein Sakrament ist ein heiliges Geheimnis, durch das Gott uns seine Gnade mitteilt und uns dabei zugleich äußerlich die unsichtbare Wirkung darstellt, die die Gnade in unserer Seele vollbringt. Denn wenn wir körperlose Geistwesen wären, wie es die Engel sind, würde Gott uns seine Gnade auf geistliche Weise geben. Da wir aber aus Seele und Leib zusammengesetzt sind, gibt uns unser Herr seine Gnade mittels bestimmter leiblicher Handlungen, um unserer Natur entgegenzukommen.<ref> Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 82, 4 (al. 83, 4), in: PG 58, 737-746: "Nihil enim sensibile nobis Christus dedit; sed rebus etiam sensibilibus omnia sunt spiritualia. Sic enim et in baptismo per rem sensilem donum aquae conceditur, quod efficitur spirituale est, generatio et regeneratio, sive renovatio. Nam si incorporeus esses, nuda tibi illa et incorporea dona tribuisset; sed quia corpori conjuncta est anima, in sensibilibus spiritualia tibi largitur" (743). "Christus hat uns nichts Sinnfälliges übergeben, sondern lauter Geistiges, aber in sinnfälliger Hülle. - So ist es ja auch bei der Taufe; in der sinnfälligen Handlung empfangen wir äußerlich das Wasser, die Wirkung, die Wiedergeburt und Erneuerung ist jedoch geistig. Wenn du ein körperloses Wesen wärest, hätte er die die unkörperlichen Gaben unmittelbar gegeben; nachdem aber die Seele an einen Leib geknüpft ist, reicht er dir das Geistige in sinnfälliger Gestalt" (BKV2 27, 145-146[1175-1176]). </ref> Wie gesagt erklären uns diese Handlungen durch bestimmte äußere Ähnlichkeiten die innere Wirkung der Gnade. Zum Beispiel erfolgt die heilige Taufe, eines der Sakramente der Kirche, dadurch, dass der Leib mit Wasser abgewaschen wird und gleichzeitig die allerheiligste Dreifaltigkeit angerufen wird. Mittels dieses Ritus einer Waschung gibt Gott seine Gnade und legt sie in die Seele dessen, der getauft wird. Und er zeigt uns, dass die Gnade die Seele so wäscht und von jeglicher Sünde reinigt, wie jenes Wasser den Leib abwäscht.
S: Wenn ich das richtig verstanden habe, müssen drei Bedingungen erfüllt sein, um etwas zu einem Sakrament zu machen: erstens dass es ein Ritus, d. h. eine äußere Handlung ist, zweitens dass Gott durch sie seine Gnade gibt und drittens dass dieser Ritus eine Ähnlichkeit mit der Wirkung der Gnade aufweist und sie so darstellt und äußerlich auf sie hinweist.
L: Das habt ihr sehr gut verstanden. Darüber hinaus müsst ihr nun wissen, dass es insgesamt sieben Sakramente gibt und dass sie Taufe, Firmung oder Firmsalbung, Eucharistie, Buße, Letzte Ölung, Weihe und Ehe heißen.<ref> Concilium Tridentinum, Sessio VII, Decretum primum (De sacramentis), Canones de sacramentis in genere, can. 1, in: COD IIr, 684: "Si quis dixerit, sacramenta novae legis [ ... ] esse plura vel pauciora, quam septem, videlicet baptismum, confirmationem, eucharistiam, poenitentiam, extremam unctionem, ordinem et matrimonium, aut etiam aliquod horum septem non esse vere et proprie sacramentum: a. s." "Wer sagt [ ... ] es gebe mehr oder weniger als sieben [Sc. Sakramente des Neuen Bundes], nämlich Taufe, Firmung, Eucharistie, Buße, Letzte Ölung, Weihe und Ehe; oder auch: eines von diesen sieben sei nicht wahrhaft und im eigentlichen Sinne Sakrament: der sei mit dem Anathema belegt" (DH 1601). </ref> Dass es sieben sind, hat folgenden Grund: Bei der Verleihung des geistlichen Lebens wollte Gott genauso vorgehen, wie er normalerweise bei der Verleihung des leiblichen Lebens vorgeht. Beim leiblichen Leben ist es wie folgt: man muss zuerst geboren werden; zweitens wachsen; drittens Nahrung erhalten; viertens, wenn man krank ist, geheilt werden; fünftens, wenn man zu kämpfen hat, eine Rüstung erhalten; sechstens muss es jemanden geben, der die bereits geborenen und aufgewachsenen Menschen anleitet und führt; siebtens muss es jemanden geben, der sich der Vermehrung des Menschengeschlechts widmet, denn wenn die einmal Geborenen ohne Nachfolger sterben würden, würde die Menschheit bald aussterben. Beim geistlichen Leben nun muss in uns zuerst die Gnade Gottes geboren werden, und das geschieht durch die Taufe. Zweitens muss diese Gnade wachsen und stark werden, und das geschieht durch die Firmung. Drittens muss sie genährt und erhalten werden, und das tut die Eucharistie. Viertens muss sie wiedergewonnen werden, wenn sie verloren wurde, und das geschieht durch die Arznei der Buße. Fünftens muss der Mensch an der Schwelle des Todes gegen den höllischen Feind bewaffnet werden, und das geschieht durch die Letzte Ölung. Sechstens muss es in der Kirche jemanden geben, der uns in diesem geistlichen Leben anleitet und führt, und dazu ist die Weihe da. Siebtens muss es in der Kirche ebenso jemanden geben, der sich in heiliger Weise der Vermehrung des Menschengeschlechts widmet, weil sich so die Zahl der Gläubigen mehrt, und dazu ist das Ehesakrament da.
S: Wer hat denn so wunderbare Dinge erdacht und eingesetzt?
L: Diese so wunderbaren Sakramente konnte nur die göttliche Weisheit selbst erfinden, und einsetzen konnte sie ebenfalls nur Gott selbst, da er die Gnade verleihen kann.<ref> Concilium Tridentinum, Sessio VII, Decretum primum (De sacramentis), Canones de sacramentis in genere, can. 1, in: COD II!, 684: "Si quis dixerit, sacramenta novae legis non fuisse omnia a Iesu Christo domino nostro instituta [ ... ]: a. s." "Wer sagt, die Sakramente des Neuen Bundes seien nicht alle von unserem Herrn Jesus Christus eingesetzt [ ... ] der sei mit dem Anathema belegt" (DH 1601). </ref> Und so hat Christus, unser Herr, der Gott und Mensch ist, sie erdacht und eingesetzt. Außerdem sind alle Sakramente wie Kanäle, durch die die Kraft des Leidens Christi zu uns fließt. Es ist also klar, dass dieser Schatz des Leidens Christi auch nur in der Weise und mit den Mitteln ausgeteilt werden kann, die Christus selbst festgelegt hat.
S: Ich möchte gerne wissen, ob es zur Zeit des Alten Testamentes auch Sakramente gab und ob sie so vortrefflich waren wie unsere.
L: Im Alten Testament gab es viele Sakramente, jedoch unterschieden sie sich von den unseren in vier Punkten.<ref> Aurelius Augustinus, Ad inquisitiones Ianuarii liber primus I, 1 (= Epistula 54, 1, 1), in: S. Augustini Epistulae Ir. Ep. XXXI-CXXIII (ed. Al. Goldbacher) (CSEL 34/II), PragWien - Leipzig 1898, 158-168: "primo itaque tenere te uolo, quod est huius disputationis caput, dominum nostrum Iesum Christum, sicut ipse in euangelio loquitur, leni iugo suo nos subdidisse et sarcinae leui [Matth. 11, 30]. unde sacramentis numero paucissimis, obseruatione facillimis, significatione praestantissimis societatem noui populi conligavit, sicuti est baptismus trinitatis nomine consecratus, communicatio corporis et sanguinis ipsius et si quid aliud in scripturis canonicis commendatur exceptis his, quae servitutem populi veteris pro congruentia cordis illorum et prophetici temporis onerabant, quae et in quinque libris Moysi leguntur" (159). "Vor allem bitte ich dich, daran festzuhalten, worauf es bei dieser Erörterung am meisten ankommt, daß uns der Herr nach seinen eigenen Worten im Evangelium ,ein süßes Joch und eine leichte Bürde' [Mt 11, 30] auferlegt hat. Deshalb hat er sein Volk im Neuen Bunde durch Sakramente verbunden, die, an Zahl sehr gering, ohne Schwierigkeiten beim Empfange und von augenfälliger Bedeutung sind. Hierher gehört z. B. die durch den Namen der Dreifaltigkeit geheiligte Taufe, der Genuß seines Leibes und Blutes und was sonst noch in den kanonischen Schriften begründet ist und sich von jenen Verordnungen unterscheidet, die im Alten Bunde dem Volke das Joch der Knechtschaft auferlegten und zu seiner Herzenshärtigkeit und den Zeiten der Propheten paßten, kurz von dem Inhalte der fünf Bücher Moses" (BKV2 29, 209).
Concilium Tridentinum, Sessio VII, Decretum primum (De sacramentis), Canones de sacramentis in genere, can. 2, in: COD III, 684: "Si quis dixerit, ea ipsa novae legis sacramenta a sacramentis antiquae legis non differre, nisi quia ceremoniae sunt aliae et alii ritus externi: a. s." "Wer sagt, eben diese Sakramente des Neuen Bundes unterschieden sich nicht von den Sakramenten des Alten Bundes, außer daß die Zeremonien und die äußeren Riten andere sind: der sei mit dem Anathema belegt" (DH 1602). </ref> Erstens war ihre Zahl größer als bei unseren. Darum war das alte Gesetz auch schwieriger als das neue. Zweitens waren die damit verbundenen Erfordernisse schwieriger einzuhalten als bei unseren. Drittens waren sie dunkler, weshalb ihre Bedeutung auch nur von wenigen verstanden wurde, während unsere eine so klare Bedeutung haben, dass jeder sie begreifen kann. Viertens teilten sie nicht wie unsere die Gnade mit, sondern gaben von ihr nur ein Vorausbild und eine Verheißung. So sind unsere Sakramente viel vortrefflicher, weil sie geringer an Zahl, leichter, klarer und wirksamer als jene sind.
S: Ich möchte auch gern wissen, welches von unseren Sakramenten das bedeutendste ist.
L: Sie alle sind bedeutsam, jedes von ihnen besitzt eine ganz eigene erhabene Größe. Das größte von allen ist das allerheiligste Sakrament der Eucharistie, weil in ihm der Urheber der Gnade und alles Guten selbst enthalten ist, Christus, unser Herr. Was allerdings die Notwendigkeit angeht, sind die Taufe und die Buße die wichtigsten. Was die Würde dessen, der die Sakramente spenden kann, angeht, sind die Firmung und die Weihe die bedeutendsten, weil diese beiden Sakramente normalerweise nur der Bischof spenden kann. Was die Leichtigkeit angeht, so nimmt die Letzte Ölung den ersten Platz ein, weil bei ihr die Sünden ohne die Mühe der Buße vergeben werden. Was die Ebene des Sinnbildes angeht, so ist die Ehe das größte, weil sie die Verbindung Christi mit der Kirche darstellt.
Die Taufe
S: Beginnen Sie nun, wenn es Ihnen recht ist, das erste Sakrament zu erklären, und sagen Sie mir zuerst, warum es Taufe ("baptisma") heißt!
L: Dieser Begriff "baptisma" ist ein griechisches Wort und heißt übersetzt Waschung. Die heilige Kirche wollte jedoch diesen griechischen Begriff verwenden, da der Begriff Waschung zu gewöhnlich ist und er täglich für die banalsten Dinge gebraucht wird. Damit dieses Sakrament also einen eigenen Namen hat und klarer unterschieden und höher geschätzt wird, wurde es Taufe, "baptisma" genannt.
S: Was braucht man, um die Taufe zu spenden?
L: Man benötigt mindestens drei Dinge. Merkt sie euch gut! In bestimmten Notfällen kann nämlich, wie wir gleich sehen werden, jeder taufen. Darum ist es gut, wenn auch jeder weiß, wie es geht. Erstens braucht man echtes, natürliches Wasser; damit übergießt man denjenigen, den man tauft. Zweitens muss man im gleichen Moment, da man das Wasser über ihn gießt, folgende Worte sprechen: Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Drittens ist es erforderlich, dass derjenige, der tauft, wirklich die Absicht hat zu taufen, d. h. das Sakrament zu spenden, das Christus eingesetzt hat und das die Kirche spendet, wenn sie tauft. Wenn jemand also dabei nur die Absicht hätte, einen Scherz zu machen oder vom Leib irgendeinen Schmutz abzuwaschen, beginge er eine sehr schwere Sünde, und der arme Mensch wäre dann nicht wirklich getauft.
S: Welche Wirkungen hat die Taufe?
L: Sie hat drei Wirkungen. Erstens erneuert sie den Menschen vollkommen, indem sie ihm die Gnade Gottes verleiht, durch die er von einem Kind des Teufels zu einem Kind Gottes wird und von einem Sünder zu einem Gerechten. Sie wäscht die Seele nicht nur von jedem Makel der Schuld rein, sondern befreit sie auch von jeder Strafe der Hölle oder des Fegfeuers, so dass jemand, der sofort nach der Taufe sterben würde, direkt ins Paradies käme, so als ob er nie eine Sünde begangen hätte. Zweitens hinterlässt die Taufe in der Seele ein bestimmtes geistiges Zeichen, das man in ihr in keiner Weise wieder auslöschen kann. Deshalb wird man auch bei denen, die in die Hölle kommen, noch erkennen, dass jemand die Taufe empfangen und zur Herde Christi gehört hat, so wie man in dieser Welt an einer Brandmarke erkennt, wem bestimmte Sklaven oder Tiere gehören. Das ist auch der Grund, warum man die Taufe nur ein einziges Mal empfangen kann: Sie geht nie verloren, denn die Wirkung dieser Taufe bleibt allezeit in die Seele eingeprägt. Drittens tritt dieser Mensch durch die Taufe in die heilige Kirche ein, er hat als Kind dieser Kirche an all ihren Gütern Anteil und er bekennt öffentlich, dass er ein Christ ist und denen gehorchen will, die die Kirche an Christi Stelle lenken.
S: Wessen Sache ist es an sich, die heilige Taufe zu spenden?
L: Von Amts wegen ist es die Sache des Priesters, besonders dessen, der an einem Ort für die Seelsorge verantwortlich ist. Wenn aber der Priester nicht da ist, ist es die Aufgabe des Diakons, und im Notfall, d. h. wenn die Gefahr besteht, dass das Kind ohne Taufe stirbt, ist es die Aufgabe eines jeden, Priester oder Laie, Mann oder Frau. Stets hat man dabei jedoch die Ordnung zu wahren, dass die Frau nicht tauft, wenn ein Mann da ist, und dass ein Laie nicht tauft, wenn ein Kleriker anwesend ist, und bei den Klerikern hat der höhere Rang stets den Vortritt.
S: Mich wundert, dass die Taufe Neugeborenen gespendet wird, die doch das, was sie empfangen, gar nicht verstehen.
L: Die Taufe ist so notwendig, dass jemand, der stirbt, ohne sie empfangen zu haben oder sie wenigstens zu begehren, nicht ins Paradies kommen kann.<ref> "Respondit Iesus: Amen, amen dico tibi, nisi quis natus fuerit ex aqua, et Spiritu sancto, non potest introire in regnum Dei" (Joh 3, 5; "Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, sag ich dir, wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und heiligen Geiste, so kann er in das Reich Gottes nicht eingehen"). </ref> Weil aber die kleinen Kinder besonders in Gefahr sind zu sterben und zugleich unfähig, die Taufe zu begehren, ist es erforderlich, sie sobald wie möglich zu taufen. Sie verstehen zwar nicht, was sie empfangen, doch die Kirche ersetzt es. Sie antwortet nämlich anstelle des Kindes durch den Mund des Paten oder der Patin und gibt Versprechen ab, und das genügt. Denn wie wir durch Adam in die Sünde und die Ungnade Gottes gefallen sind, ohne dass wir irgendetwas davon gewusst hätten, so begnügt sich Gott damit, dass wir durch die Taufe und die heilige Kirche von der Sünde befreit werden und in seine Gnade zurückkehren, auch wenn wir uns dessen zu dem Zeitpunkt nicht bewusst sind.
S: Sie haben den Paten und die Patin erwähnt. Was genau ist das, und was ist ihre Aufgabe?
L: Nach altem Brauch der Kirche braucht man zur Spendung der Taufe einen Mann, der Pate heißt, eine Art zweiten Vater, und manchmal eine Frau, die Patin heißt, eine Art zweite Mutter. Diese beiden oder einer von ihnen hält das Kind auf dem Arm, während es getauft wird, und antwortet an seiner Stelle, wenn der Priester es fragt, ob es getauft werden will und ob es die Artikel des Glaubensbekenntnisses glaubt usw. Wenn das Kind dann heranwächst, sind Pate und Patin verpflichtet, dafür zu sorgen, es im Glauben und den guten Sitten zu unterweisen, falls Vater und Mutter darin nachlässig sind. Außerdem ist zu beachten, dass sie durch die Taufe die geistlichen Verwandten des Täuflings und seiner Eltern werden, und zwar sowohl der Taufspender als auch Pate und Patin, jedoch diese nicht untereinander.
Die Firmung
S: Über die Taufe weiß ich jetzt genug. Sagen Sie mir nun, was Firmung oder Firmsalbung bedeutet, also das zweite Sakrament!
L: Das zweite Sakrament heißt Firmung, weil seine Wirkung darin besteht, einen Menschen im Glauben firm, also fest zu machen, wie wir in Kürze darlegen werden. Es heißt auch Salbung mit dem "Chrisma". Das ist ein griechischer Begriff und bedeutet Salbung, weil bei diesem Sakrament die Stirn dessen, der dieses Sakrament empfängt, gesalbt wird. Denn wie bei der Taufe der Täufling mit Wasser gewaschen wird, um zu zeigen, dass die Gnade Gottes ihm die Seele vom Schmutz aller Sünden reinwäscht, so wird bei der Firmsalbung die Stirn gesalbt, um zu zeigen, dass die Gnade Gottes die Seele salbt und sie so kräftigt und stärkt, damit sie in der Lage ist, gegen den Teufel zu kämpfen und tapfer den heiligen Glauben zu bekennen ohne Furcht vor Qualen, ja selbst vor dem Tod.
S: In welchem Alter soll man dieses Sakrament empfangen?
L: Man soll es empfangen, wenn man zum Vernunftgebrauch gelangt ist.
Denn dann fängt man an, den Glauben zu bekennen, und hat es damit auch nötig, in der Gnade Gottes gestärkt und gefestigt zu werden.
S: Hat dieses Sakrament noch eine andere Wirkung als die, die Seele zu kräftigen?
L: Es hinterlässt ein unveränderliches, in die Seele geprägtes Zeichen, das man in Ewigkeit nicht auslöschen kann. Deshalb kann man dieses Sakrament nur einmal empfangen.
S: Weshalb muss in die Seele ein zweites Zeichen geprägt werden? Genügt denn nicht das von der Taufe?
L: Dieses zweite Zeichen wird nicht ohne Grund eingeprägt, weil man an dem ersten nur erkennt, dass jemand ein Christ ist, also zur Familie Christi gehört. An diesem zweiten erkennt man dagegen, dass er ein Soldat Christi ist. Er trägt nämlich das Abzeichen seines Heerführers in der Seele, so wie die Soldaten in der Welt es an ihren Kleidern tragen. Wer dieses Sakrament empfangen hat, danach aber in die Hölle kommt, wird sich über alle Maßen schämen müssen, weil jeder sehen wird, dass er den Fahneneid der Soldaten Christi abgelegt hat, sich aber dann so ruchlos gegen ihn aufgelehnt hat.
Die Eucharistie
S: Erklären Sie mir jetzt das dritte Sakrament? Sagen sie mir bitte zuerst, was Eucharistie bedeutet.
L: Auch das ist ein griechisches Wort. Es bedeutet dankbares Gedenken oder Danksagung, weil man in diesem Geheimnis der hocherhabenen Wohltat des heiligsten Leidens des Heilands gedenkt und Gott dafür dankt. Dabei wird uns zugleich der wahre Leib und das wahre Blut des Herrn gegeben, wofür es unsere Pflicht ist, Gott unablässig Dank zu sagen.
S: Erklären Sie mir bitte alles ausführlicher, was in diesem heiligen Sakrament enthalten ist. Denn wenn ich weiß, wie vortrefflich es ist, kann ich es umso besser ehren.
L: Bevor die Hostie, die ihr auf dem Altar seht, konsekriert ist, ist sie nichts anderes als ein wenig Brot, das in Form einer dünnen Oblate gebacken ist. Sobald aber der Priester die Wandlungsworte ausgesprochen hat, befindet sich in dieser Hostie der wahre Leib des Herrn. Weil aber der wahre Leib des Herrn lebendig und mit der Gottheit vereint ist in der Person des Sohnes Gottes, befindet sich in der Hostie zusammen mit dem Leib auch das Blut, die Seele und die Gottheit und damit der ganze Christus, Gott und Mensch. In gleicher Weise ist im Kelch vor der Konsekration nichts anderes als ein wenig Wein mit etwas Wasser. Sobald aber die Wandlung beendet ist, befindet sich im Kelch das wahre Blut Christi. Weil aber das Blut Christi nicht außerhalb seines Leibes ist, befindet sich im Kelch zusammen mit dem Blut auch der Leib, die Seele und die Gottheit Christi und damit der ganze Christus, Gott und Mensch.
S: Ich sehe doch aber, dass die Hostie nach der Konsekration die Gestalt von Brot hat wie zuvor, und das, was im Kelch ist, die Gestalt von Wein hat wie zuvor.
L: Das ist richtig. Die Hostie behält die Gestalt und auch die Farbe und den Geschmack von Brot, genau wie zuvor. Doch die Substanz des Brotes, die zuvor darin war, ist nun nicht mehr darin: So ist unter der Gestalt des Brotes kein Brot mehr, sondern der Leib des Herrn. Ich will euch einen Vergleich geben, damit ihr es versteht. Ihr habt gelernt, dass die Frau Lots sich in eine Salzsäule verwandelt hat. Wer nun also diese Säule sah, sah die Gestalt der Frau Lots, und dennoch war dies nicht mehr die Frau Lots, sondern Salz in Gestalt einer Frau. Wie sich also in dieser Verwandlung die Substanz innen veränderte, die Gestalt außen aber erhalten blieb, so verwandelt sich bei diesem Geheimnis die innere Substanz des Brotes in den Leib des Herrn, außen aber bleibt die Gestalt des Brotes erhalten, die zuvor schon da war. Dasselbe gilt vom Kelch. Die Gestalt, der Geschmack, die Farbe und der Geruch von Wein sind vorhanden, nicht jedoch die Substanz des Weines, sondern stattdessen das Blut des Herrn unter dieser Gestalt des Weines.
S: Das kommt mir als etwas Außerordentliches vor, dass ein so großer Leib wie der des Herrn sich unter einer so kleinen Gestalt wie der der gewandelten Hostie befinden kann.
L: Gewiss ist es etwas Außerordentliches, aber außerordentlich groß ist auch die Macht Gottes. Sie kann Dinge tun, die das Begreifen übersteigen. Als Christus im heiligen Evangelium sagte, Gott könne es machen, dass ein Kamel, also ein Tier, das größer als ein Pferd ist, durch ein Nadelöhr gehe, fügte er deshalb hinzu: Solche Dinge sind für die Menschen unmöglich, aber für Gott ist alles möglich.<ref> "Et iterum dico vobis: Facilius est camelum per foramen acus transire, quam divitem intrare in regnum caelorum. Auditis autem his, discipuli mirabantur valde, dicentes: Quis ergo poterit salvus esse? Aspiciens autem lesus, dixit illis: Apud homines hoc impossibile est: apud Deum autem omnia possibilia sunt" (Mt 19, 24-26; "Ja, ich sage es euch noch einmal: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Himmelreich eingehe. Da die Jünger dies hörten, verwunderten sie sich sehr, und sprachen: Wer kann denn selig werden? Jesus aber blickte sie an, und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist das unmöglich; bei Gott aber ist alles möglich"). </ref>
S: Ich hätte gerne ein Beispiel, um zu verstehen, wie ein und derselbe Leib des Herrn in so vielen Hostien sein kann, die sich wiederum in so vielen Tabernakeln befinden.
L: Die Wunder Gottes braucht man nicht zu verstehen. Es genügt, sie zu glauben, da wir sicher sind, dass Gott uns nicht betrügen kann. Trotzdem gebe ich euch einige Beispiele, um euch zu bestärken. Wir haben ohne Zweifel jeder eine einzige Seele. Und doch befindet sie sich ganz in allen Gliedern des Leibes, ganz im Kopf, ganz im Fuß, ganz auch in jedem beliebigen Teilchen unseres Leibes. Was muss man sich da wundern, dass Gott machen kann, dass sich der Leib seines Sohnes in vielen Hostien befindet, wenn er doch machen kann, dass ein und dieselbe Seele sich ganz und vollständig in so vielen, so verschiedenen und von einander entfernten Teilen des Leibes befindet? In der Lebensbeschreibung des hl. Antonius von Padua ist zu lesen, dass dieser Heilige einmal in einer Stadt Italiens predigte, sich zur gleichen Zeit aber durch die Macht Gottes in Portugal befand, um dort irgendein anderes gutes Werk zu tun. Wenn Gott also bewirken konnte, dass der hl. Antonius gleichzeitig an zwei so weit voneinander entfernten Orten sein konnte, und dies noch dazu in seiner eigenen Gestalt, warum sollte er es dann nicht bewirken können, dass Christus in vielen Hostien ist, und zwar unter der Gestalt dieser Hostien?
S: Sagen Sie mir bitte, verlässt Christus den Himmel, wenn er in die Hostie kommt, oder befindet er sich dann noch im Himmel?
L: Wenn Christus, unser Herr, in der Hostie gegenwärtig wird, verlässt er den Himmel nicht, sondern befindet sich durch göttliche Kraft gleichzeitig im Himmel und in der Hostie. Haltet euch das Beispiel unserer Seele vor Augen! Wie ihr seht, ist jemand als Säugling von wenigen Tagen ganz klein, und wer ihn messen würde, würde auf etwa einen halben Meter kommen. Wenn er dann aber wächst, ist er irgendwann doppelt so groß wie vorher, und beim Messen käme man auf mehr als einen ganzen Meter. Jetzt frage ich euch: Wenn die Seele vorher nur in einem halben Meter war, hat sie dann diese erste Hälfte des Meters verlassen, um in die zweite zu kommen, oder nicht? Natürlich hat sie diese nicht verlassen und sich auch nicht ausgedehnt, denn die Seele ist unteilbar. Ohne also die erste zu verlassen, ist sie auch in der zweiten gegenwärtig geworden. Ebenso verlässt Christus, unser Herr, den Himmel nicht, um in der Hostie gegenwärtig zu sein, und er verlässt auch nicht die eine Hostie, um sich in der anderen zu befinden, sondern er befindet sich zugleich ganz im Himmel und in allen Hostien.
S: Nun habe ich gelernt, was dieses Sakrament enthält. Jetzt möchte ich gern wissen, was nötig ist, um es würdig zu empfangen.
L: Drei Dinge sind erforderlich. Erstens muss man seine Sünden beichten und dafür sorgen, dass man im Gnadenstand ist, wenn man zur Kommunion geht. Denn einer der Gründe, warum uns dieses Sakrament unter der Gestalt von Brot gereicht wird, ist, dass wir begreifen sollen, dass es Lebenden gereicht wird und nicht Toten, und zwar um die Gnade Gottes zu nähren und sie wachsen zu lassen. Zweitens müssen wir vollkommen nüchtern sein, das heißt, dass wir wenigstens seit Mitternacht nichts zu uns genommen haben, nicht einmal einen Schluck Wasser. Drittens ist es notwendig, dass wir begreifen, was wir tun, und dass wir eine fromme und andächtige Haltung gegenüber einem so großen Geheimnis haben. Aus diesem Grund reicht man dieses Sakrament auch nicht Kleinkindern, Geistesgestörten oder anderen, die keinen Vernunftgebrauch haben.
S: Wie oft sollen wir kommunizieren?
L: Das Gebot der heiligen Kirche verlangt, wenigstens einmal imJahr zu kommunizieren, und zwar an Ostern.<ref> Concilium Lateranense IV, Constitutio 21, in: COD II, 245: "Omnis utriusque sexus fidelis, postquam ad annos discretionis pervenerit, omnia sua solus peccata confiteatur fideliter, saltem semel in anno proprio sacerdoti, et iniunctam sibi poenitentiam studeat pro viribus adimplere, suscipiens reverenter ad minus in pascha eucharistiae sacramentum, nisi forte de consilio proprii sacerdotis ob aliquam rationabilem causam ad tempus ab eius perceptione duxerit abstinendum; alioquin et vivens ab ingressu ecclesiae arceatur et moriens christiana careat sepultura." "Jeder Gläubige, Mann oder Frau, soll nach Erreichen der Jahre der Unterscheidung wenigstens einmal im Jahr persönlich all seine Sünden gewissenhaft seinem eigenen Priester beichten und sich bemühen, die auferlegte Buße nach Kräften zu erfüllen. Er soll wenigstens an Ostern mit Ehrfurcht das Sakrament der Eucharistie empfangen, es sei denn, er sei auf Anraten seines eigenen Priesters aus einem vernünftigen Grund der Meinung, sich eine Zeitlang ihres Empfangs enthalten zu müssen. Andernfalls wird ihm zu Lebzeiten das Betreten der Kirche und nach seinem Tod das christliche Begräbnis verwehrt" (Übersetzung nach COO II, 245). </ref> Dennoch ist es wünschenswert, dass man häufiger kommuniziert, und zwar entsprechend der Entscheidung des Beichtvaters.
S: Erklären Sie mir jetzt bitte, welche Früchte man aus diesem Sakrament erlangen kann, und den Zweck, wozu es eingesetzt worden ist!
L: Aus drei Gründen hat Christus, unser Herr, dieses überaus erhabene Sakrament eingesetzt. Erstens als Speise für die Seelen. Zweitens als Opfer des neuen Bundes. Drittens zum immerwährenden Gedenken an sein Leiden und als untrüglichen Beweis seiner Liebe zu uns.
S: Welche Wirkung hat es als Speise für die Seele?
L: Es hat die Wirkung, die die materielle Speise im Leib hat. Deshalb wird es auch in der Gestalt von Brot gereicht. Wie nämlich das Brot die natürliche Körperwärme erhält, worin das Leben des Leibes besteht, so erhält dieses allerheiligste Sakrament, wenn es würdig empfangen wird, die Liebe, die das Leben der Seele ist, und lässt sie wachsen.
S: Welche Wirkung hat es als Opfer?
L: Es versöhnt Gott und erlangt viele Wohltaten nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Verstorbenen im Fegfeuer. Ihr müsst folgendes wissen. Im Alten Bund wurden Gott Tiere geopfert. Im Neuen Bund aber ist an die Stelle all dieser Opfer das heilige Messopfer getreten.<ref> [Johannes Chrysostomus,] Homilia in Psalmum XCV, in: PG 55, 619-630: "Posteaquam enim lex in Veteri Testamento multas habuit hostias, aliam pro peccatis, aliam quae dicta est holocautomata, aliam vocatam laudis, aliam salutaris, aliam pro leprosis mundandis, breviter alias et multas et varias pro his qui innumeris expiationibus censebantur, omnino magnus erat et modo carens numerus sacrificiorum in lege: quae omnia nova gratia superveniens uno complectitur sacrificio, unam ac veram statuens hostiam" (623). "Nachdem nämlich das Gesetz im Alten Testament viele Opfer hatte eines für die Sünden, ein anderes, das sogenannte Ganzopfer, wieder ein anderes, das Lobopfer hieß, ein Heilsopfer und eines für die Reinigung von Aussätzigen, kurz, noch viele andere unterschiedliche Opfer für diejenigen, die für unzählige Entsühnungen bestimmt worden sind -, so war die Zahl der Opfer im Gesetz wahrhaftig groß und ohne Maß. Sie alle hat die neue Gnade bei ihrem Kommen in einem einzigen Opfer zusammengefasst, da sie ein einziges und wahres Opfer einsetzte."
Aurelius Augustinus, Contra adversarium legis et prophetarum I, 18, 37, in: Aurelii Augustini Opera XV, 3 (ed. K.-D. Daur) (CCL 49), Turnhout 1985, 35-131: "iam sacrificia talia non offert dei populus deo, posteaquam venit unicum sacrificium, cuius umbrae fuerunt illa omnia non hoc improbantia, sed hoc significantia. Sicut enim res una multis locutionibus et multis linguis significari potest, sic unum uerum et singulare sacrificium multis est antea sacrificiorum significatum figuris. [ ... ] Sacrificiis autem deum non egere quis nesciat? Sed nec laudibus nostris eget. Verum sicut nobis, non illi utile est laudare deum, sic nobis, non illi utile est offerre sacrificium deo. Quoniam singulari et solo vero sacrificio pro nobis Christi sanguis effusus est, ideo primis temporibus ad hoc sacrificium talibus significationibus prophetandum immaculatorum animalium sacrificia deus sibi iussit offerri ut quemadmodum illa immaculata erant a corporum uitiis, ita speraretur immolandus esse pro nobis, qui solus immaculatus fuerat a peccatis. [ ... ] Unde illud quod David obtulit, ut populo parceretur, umbra erat futuri, qua significatum est, quod per unum sacrificium, cuius illa figura erat, saluti populi spiritaliter parcitur. Ipse est enim Christus Iesus, qui traditus est, sicut apostolus dicit, propter delicta nostra, et resurrexit propter iustificationem nostram [Rom. 4, 25], propter quod etiam dicit, Pascha nostrum immolatus est Christus [1 Cor. 5, 7]" (66-67). "Nicht länger bringt das Volk Gottes Gott solche Opfer dar, nachdem das einzige Opfer gekommen ist, dessen Schattenbild all jene gewesen sind, nicht indem sie es zurückweisen, sondern indem sie auf es hinweisen. Denn wie auf eine einzige Sache mit vielen Ausdrücken und in vielen Sprachen hingewiesen werden kann, so ist auch auf das eine, wahre und einzigartige Opfer zuvor mit vielen Vorausbildern der Opfer hingewiesen worden. [ ... ] Wer aber wüsste nicht, dass Gott keine Opfer braucht? Doch er braucht auch nicht unser Lob. Wie es aber für uns und nicht für Gott von Nutzen ist, ihn zu loben, so ist es für uns, nicht für Gott von Nutzen, ihm ein Opfer darzubringen. Weil das Blut Christi in einem einzigartigen und einzigen wahren Opfer für uns vergossen worden ist, darum hatte Gott geboten, dass ihm in den früheren Zeiten die Opfer unbefleckter Tiere dargebracht werden sollten, damit dieses Opfer mit solchen Hinweisen prophetisch vorausverkündigt würde. Wie jene von körperlichem Makel unbefleckt waren, so sollte sich die Hoffnung auf den richten, der als einzig von Sünden Unbefleckter für uns geopfert werden sollte. [ ... ] Darum war das, was David darbrachte, um dem Volk Schonung zu verschaffen, ein Schatten des Zukünftigen, durch den darauf hingewiesen wurde, dass durch das eine Opfer, dessen Vorausbild es darstellt, in geistlicher Weise für das Heil des Volkes Schonung erwirkt wird. Es ist nämlich Christus Jesus selbst, der, wie der Apostel sagt, wegen unserer Vergehen dahingegeben wurde und wegen unserer Rechtfertigung auferstanden ist [Röm 4, 25]. Darum sagt er auch: Unser Osterlamm ist geopfert, Christus [1 Kor 5, 7]." </ref> In ihm wird Gott durch die Hand des Priesters das ganz wohlgefällige Opfer des Leibes und Blutes seines Sohnes dargebracht. Darauf haben all jene Opfer des Alten Bundes hingewiesen.
S: Welche Wirkung hat es als Gedenken und Beweis der Liebe des Herrn zu uns?
L: Es bewirkt, dass wir für eine so große Wohltat dankbar sind und uns selbst dazu anspornen, den wiederzulieben, der uns so sehr geliebt hat. Wie deshalb Gott im Alten Bund wollte, dass die Juden das Manna nicht nur aßen, das er ihnen vom Himmel sandte, sondern auch wollte, dass sie ein Gefäß voll von diesem Manna aufbewahrten zum Gedächtnis an all die Wohltaten, die Gott ihnen erwiesen hatte, als er sie aus Ägypten herausführte,<ref> "Dixit autem Moyses: Iste est sermo, quem praecepit Dominus: Imple gomor ex eo, et custodiatur in futuras retro generationes: ut noverint panem, quo alui vos in solitudine, quando educti estis de Terra Aegypti. Dixitque Moyses ad Aaron: Sume vas unum, et mitte ibi Man, quantum potest capere gomor: et repone coram Domino ad servandum in generationes vestras: sicut praecepit Dominus Moysi. Posuitque illud Aaron in tabernaculo reservandum" (Ex 16, 32-34; "Moses aber sprach: Das ist das Wort, so der Herr befohlen: Fülle einen Gomor davon, daß man's bewahre den künftigen Geschlechtern, damit sie das Brot kennen, womit ich euch genährt in der Wüste, nachdem ihr geführt worden aus dem Lande Ägypten. Und Moses sprach zu Aaron: Nimm ein Gefäß und tu Man darein, soviel ein Gomor hält, und stelle es vor den Herrn, um es aufzubehalten euern Geschlechtern, wie der Herr dem Moses befohlen. Und Aaron stellte es ins heilige Zelt, um es aufzubehalten"). </ref> so hat Christus auch gewollt, dass dieses allerheiligste Sakrament von uns nicht nur gegessen, sondern auch auf dem Altar im Tabernakel aufbewahrt und bisweilen in einer Prozession umhergetragen werden sollte, damit wir uns jedesmal, wenn wir es sehen, an seine unendliche Liebe zu uns erinnern. Doch insbesondere ist die Heilige Messe eine Zusammenfassung des ganzen Lebens des Herrn, damit es uns nie aus dem Sinn gehe.
S: Ich möchte gern verstehen, inwiefern die Messe eine Zusammenfassung des ganzen Lebens Christi ist, damit es mir hilft, bei der Heiligen Messe frommer und aufmerksamer zu sein.
L: Ich will es ganz kurz machen. Der Vers zur Eröffnung ("Introitus") der Messe bedeutet die Sehnsucht der heiligen Väter nach der Ankunft des Herrn. Das "Kyrie eleison" bedeutet die Rufe der Patriarchen und Propheten, die von Gott dieses so lange ersehnte Kommen erbaten. Das "Gloria in excelsis" bedeutet die Geburt des Herrn. Das Gebet, das unmittelbar darauf folgt, bedeutet die Darstellung und Aufopferung im TempeL Die Epistel, die auf der linken Seite des Altars gelesen wird, bedeutet die Predigt des heiligen Johannes des Täufers, der die Menschen zu Christus führte. Der Gradualvers bedeutet die Bekehrung des Volkes auf die Predigt des hl. Johannes hin. Das Evangelium, das auf der rechten Seite des Altars gelesen wird, bedeutet die Predigt des Herrn, der uns von der linken auf die rechte Seite versetzt, also von den zeitlichen zu den ewigen Dingen und von der Sünde zur Gnade. Dabei werden die Leuchter und der Weihrauch mitgetragen, um zu zeigen, dass das heilige Evangelium die Welt erleuchtet und mit dem Wohlgeruch der Ehre Gottes erfüllt hat. Das Glaubensbekenntnis bedeutet die Bekehrung der heiligen Apostel und der anderen Jünger des Herrn. Die Stillgebete, die nach dem Glaubensbekenntnis beginnen, bedeuten die geheimen Pläne der Juden gegen Christus. Die Präfation, die mit lauter Stimme gesungen wird und die mit dem "Hosanna in der Höhe" endet, bedeutet den feierlichen Einzug, den Christus in Jerusalem am Palmsonntag hielt. Die stillen Gebete, die darauf folgen, bedeuten die Passion des Herrn. Die Erhebung der Hostie bedeutet die Erhöhung Christi am Kreuz. Das Vater Unser bedeutet das Gebet des Herrn, während er am Kreuz hing. Die Brechung der Hostie bedeutet die Wunde durch die Lanze. Das "Agnus Dei" bedeutet die Klage der Marien, als Christus vom Kreuz abgenommen wurde. Die Kommunion des Priesters bedeutet das Begräbnis. Das Gebet nach der Kommunion, das freudig gesungen wird, bedeutet die Auferstehung. Das "lte Missa est" bedeutet die Himmelfahrt. Der Segen des Priesters bedeutet das Kommen des Heiligen Geistes. Das Evangelium am Schluss der Messe bedeutet die Predigt der heiligen Apostel, als sie, erfüllt vom Heiligen Geist, begannen, in der ganzen Welt das Evangelium zu predigen, und so den Anfang zur Bekehrung der Heiden legten.
Die Buße
S: Nun folgt das vierte Sakrament namens Buße. Erklären Sie mir bitte: Was ist das für ein Sakrament?
L: Das Wort Buße hat drei Bedeutungen. Erstens bedeutet es eine bestimmte Tugend, durch die der Mensch seine Sünden bereut. Das entgegengesetzte Laster heißt Unbußfertigkeit, also wenn der Mensch nicht bereuen, sondern in der Sünde verharren will. Zweitens bedeutet "Buße" den Schmerz, den der Mensch sich zufügt, um Gott für das Böse, das er getan hat, Sühne zu leisten. So sprechen wir davon, dass jemand schwere Buße tut, weil er sich mit Fasten und anderen strengen Dingen großen Schmerz zufügt. Drittens ist "Buße" ein Sakrament, das von Christus eingesetzt wurde, um denen die Sünden zu vergeben, die nach der Taufe die Gnade Gottes verloren haben, dann aber ihre Fehler bereut haben und in seine Gnade zurückzukehren wollen.
S: Was ist das Wesentliche an diesem Sakrament?
L: Zweierlei: die Beichte des Sünders und die Lossprechung durch den Priester. Denn Christus hat die Priester zu Richtern über diejenigen Sünden gemacht, die nach der Taufe begangen wurden, und er will, dass sie an seiner Stelle die Vollmacht haben, sie zu vergeben,<ref> "Dixit ergo eis iterum: Pax vobis. Sicut misit me Pater, et ego mitto vos. Haec cum dixisset, insufflavit: et dixit eis: Accipite Spiritum sanctum: quorum remiseritis peccata, remittuntur eis: et quorum retinueritis, retenta sunt" (Joh 20, 21-23; "Er sprach dann abermal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende auch ich euch. Da er dies gesagt hatte, hauchte er sie an, und sprach zu ihnen: Empfanget den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen; und welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie behalten"). </ref> wenn der Sünder sie bekennt und entsprechend innerlich vorbereitet ist. Demnach besteht das Bußsakrament in folgendem: Wie der Sünder äußerlich wahrnehmbar seine Sünden bekennt und der Priester äußerlich wahrnehmbar die Lossprechung ausspricht, so löst Gott im Inneren durch diese Worte des Priesters die Fesseln, womit die Seele gebunden war, schenkt ihr wieder seine Gnade und erlässt ihr die Strafe, die sie sich zugezogen hatte, nämlich, in die Hölle gestürzt zu werden.
S: Was ist zum Empfang dieses Sakramentes notwendig?
L: Dreierlei ist notwendig: Reue, Bekenntnis und Genugtuung. Dies sind die drei Teile des Bußsakramentes.
S: Was bedeutet Reue?
L: Dass das harte Herz des Sünders weich wird und gewissermaßen am Schmerz darüber zerbricht, Gott beleidigt zu haben. Doch näherhin enthält die Reue zweierlei, und das eine genügt nicht ohne das andere. Erstens dass dem Sünder wirklich alle seit der Taufe begangenen Sünden leid tun. Aus diesem Grund muss man sich gut erforschen, all seine Taten bedenken und Schmerz darüber erwecken, dass man sie nicht so verrichtet hat, wie es das heilige Gesetz Gottes vorschreibt. Zweitens ist notwendig, dass der Sünder den festen Vorsatz hat, nicht mehr zu sündigen.
S: Was bedeutet Bekenntnis?
L: Dass der Sünder es nicht mit der Reue gut sein lässt, sondern vor dem Priester niederkniet, so wie Magdalena vor Christus niederkniete,<ref> Vgl. Lk 7, 36-50. </ref> und dort seine Sünden aufrichtig bekennt, ohne etwas hinzuzufügen, zu verkleinern oder irgendeine Lüge einfließen zu lassen; des weiteren einfach, ohne sich zu entschuldigen, anderen die Schuld zu geben oder viele überflüssige Worte zu machen; vollständig, indem er alle Sünden nennt, ohne irgendetwas aus Scham auszulassen, und indem er sagt, wie oft er jede von ihnen begangen hat, und die bedeutenderen Umstände nennt, soweit er sich daran erinnern kann; schließlich zerknirscht und demütig, indem er die Sünden nicht wie eine Geschichte erzählt, sondern sie wie etwas Beschämendes und eines Christen Unwürdiges bekennt und demütig dafür um Vergebung bittet.
S: Was bedeutet Bußwerk?
L: Dass der Sünder die Absicht hat, Buße zu tun, und aus diesem Grund die Buße, die ihm der Beichtvater auferlegt, bereitwillig annimmt und sie so bald wie möglich verrichtet. Dabei muss er bedenken, dass Gott ihm ja die allergrößte Gnade erweist, indem er ihm die ewige Strafe der Hölle erlässt und sich mit einer zeitlichen Strafe begnügt, die noch dazu viel geringer ist, als die Sünden es verdient hätten.
S: Sagen Sie mir jetzt, welche Nutzen dieses Sakrament bringt!
L: Viererlei sehr großen Nutzen haben wir von diesem Sakrament. Der erste ist schon genannt worden, dass Gott uns nämlich die nach der Taufe begangenen Sünden vergibt und uns die ewige Strafe der Hölle in eine zeitliche umwandelt, die in diesem Leben oder im Fegfeuer zu erdulden ist. Der zweite besteht darin, dass die guten Werke, die wir verrichtet haben, als wir in der Gnade Gottes waren, und die wir dann durch die Sünde verloren haben, uns durch dieses Sakrament wieder angerechnet werden. Der dritte besteht darin, dass wir von der Fessel der Exkommunikation befreit werden, falls wir vielleicht damit gebunden waren. Denn ihr müsst wissen, dass die Exkommunikation eine sehr schwere Strafe ist, die bewirkt, dass uns die Gebete der heiligen Kirche nicht mehr zugute kommen, dass wir die Sakramente nicht mehr empfangen können, mit den anderen Gläubigen keinen Umgang mehr haben können und schließlich nicht in geweihter Erde begraben werden können. Von dieser so schrecklichen Strafe werden wir also durch das Bußsakrament befreit, und zwar entsprechend der Vollmacht, die die Beichtväter vom Bischof oder vom Papst bekommen haben. Allerdings kann diese Auflösung einer Exkommunikation auch außerhalb des Sakramentes gewährt werden, und zwar vom kirchlichen Oberen, auch wenn er kein Priester ist. Der vierte und letzte Nutzen besteht darin, dass wir fähig werden, aus dem Schatz der Kirche Ablässe zu gewinnen, welche häufig von den Päpsten gewährt werden.
S: Was versteht man unter Ablass?
L: Der Ablass ist ein Mittel Gottes, den Gläubigen gegenüber freigebig zu sein, indem er ihnen nämlich die zeitliche Strafe ganz oder teilweise erlässt, die sie für ihre Sünden in dieser Welt oder im Fegfeuer hätten leiden müssen. Dazu bedient er sich seines Stellvertreters.
S: Welche Voraussetzung braucht man, um in den Genuss von Ablässen zu kommen?
L: Der Mensch muss in der Gnade Gottes sein - d. h. falls er in der Sünde ist, muss er beichten -, und er muss das erfüllen, was der Papst vorschreibt, wenn er den Ablass gewährt.
S: Wie oft muss man das Bußsakrament empfangen?
L: Die heilige Kirche schreibt vor, dass jeder wenigstens einmal im Jahr beichtet.<ref> Concilium Lateranense IV, Constitutio 21, in: COD I!, 245: "Omnis utriusque sexus fidelis, postquam ad annos discretionis pervenerit, omnia sua solus peccata confiteatur fideliter, saltem semel in anno proprio sacerdoti, et iniunctam sibi poenitentiam studeat pro viribus adimplere, suscipiens reverenter ad minus in pascha eucharistiae sacramentum, nisi forte de consilio proprii sacerdotis ob aliquam rationabilem causam ad tempus ab eius perceptione duxerit abstinendum; alioquin et vivens ab ingressu ecclesiae arceatur et moriens christiana careat sepultura." "Jeder Gläubige, Mann oder Frau, soll nach Erreichen der Jahre der Unterscheidung wenigstens einmal im Jahr persönlich all seine Sünden gewissenhaft seinem eigenen Priester beichten und sich bemühen, die auferlegte Buße nach Kräften zu erfüllen. Er soll wenigstens an Ostern mit Ehrfurcht das Sakrament der Eucharistie empfangen, es sei denn, er sei auf Anraten seines eigenen Priesters aus einem vernünftigen Grund der Meinung, sich eine Zeitlang ihres Empfangs enthalten zu müssen. Andernfalls wird ihm zu Lebzeiten das Betreten der Kirche und nach seinem Tod das christliche Begräbnis verwehrt" (Übersetzung nach COO II, 245). </ref> Jedoch muss man jedes Mal beichten, wenn man kommunizieren will, sich aber einer Todsünde bewusst ist, und ebenso, wenn man im Sterben liegt oder sich an etwas begibt, was einen in Todesgefahr bringt. Doch über diese Verpflichtungen hinaus ist es sehr gut, häufig zu beichten und das Gewissen rein zu halten, ganz besonders weil der, der nur selten beichtet, nur schwer gut beichten kann.
S: Schließlich möchte ich Sie gern noch fragen, welches die guten und Gott wohlgefälligen Werke sind, mit denen man für die Sünden Genugtuung leisten kann.
L: Sie alle lassen sich auf drei zurückführen, nämlich auf Gebet, Fasten und Almosen, wie es der Engel Raphael den Tobias lehrte.<ref> "Bona est oratio cum ieiunio, et eleemosyna magis quam thesauros auri recondere: quoniam eleemosyna a morte liberat, et ipsa est, quae purgat peccata, et facit invenire misericordiam et vitam aeternam" (Tob 12, 8-9; "Besser ist Gebet mit Fasten und Almosen, als Schätze Goldes aufzuhäufen; denn Almosen geben errettet vom Tode und tilgt die Sünden und läßt Erbarmung und ewiges Leben finden"). </ref> Der Grund dafür ist, dass der Mensch Seele, Leib und äußere Güter besitzt. Mit dem Gebet bringt er Gott Güter der Seele dar, mit dem Fasten Güter des Leibes und mit dem Almosen äußere Güter. Unter Gebet versteht man dabei auch den Messbesuch, die sieben Bußpsalmen beten, das Totenoffizium beten und weitere vergleichbare Dinge. Unter Fasten versteht man dabei auch alle anderen leiblichen Kasteiungen wie Bußgürtel tragen, sich geißeln, auf dem Boden schlafen, Wallfahrten unternehmen und ähnliches. Unter Almosen versteht man auch jedes andere Werk der Nächstenliebe und jeden Dienst, welche man aus Liebe zu Gott dem Nächsten erweist.
S: Was ist nötig, um in rechter Weise zu fasten?
L: Drei Dinge sind nötig: an dem betreffenden Tag nur einmal zu essen, und zwar gegen Mittag (je später man es tun kann, desto besser), auf Fleischspeisen zu verzichten sowie auf Eier und Milchspeisen, wo diese ebenfalls nicht erlaubt sind.
S: Ist es besser, Gott mit diesen Werken selbst Genugtuung zu leisten oder einen Ablass zu erwerben?
L: Es ist besser, selbst mit diesen Werken Genugtuung zu leisten, weil man mit dem Ablass nur für die verdiente Strafe Genugtuung leistet, mit diesen Werken dagegen Genugtuung leistet und gleichzeitig das ewige Leben verdient. Das Beste von allem aber ist, sich beider Dinge zu bedienen, indem man, soviel man nur kann, selbst Genugtuung leistet und außerdem auch Ablässe erwirbt.
Die Letzte Ölung
S. Was ist die Letzte Ölung?
L: Die Letzte Ölung ist ein Sakrament, das unser Herr für die Kranken eingesetzt hat. Es heißt "Ölung", weil es in der Salbung des Kranken mit heiligem Öl und im Verrichten einiger Gebete über ihn besteht. "Letzte" heißt es, da sie unter den Salbungen mit Öl, die bei den Sakramenten der Kirche vollzogen werden, die letzte ist. Denn die erste wird bei der Taufe vollzogen, die zweite bei der Firmung, die dritte bei der Priesterweihe und die letzte in der Krankheit. Man kann sie auch die letzte nennen, weil sie am Ende des Lebens gespendet wird.
S: Welche Wirkungen hat dieses Sakrament?
L: Es sind drei. Erstens die Vergebung der Sünden, die manchmal nach den anderen Sakramenten noch verbleiben, also die, an die man sich nicht erinnert oder die man nicht erkennt - die man aber, wenn man sie erkennen würde oder sich an sie erinnern würde, bereitwillig bereuen und auch beichten würde. Zweitens die Aufmunterung und Stärkung des Kranken zu der Zeit, da er von der Krankheit und den Versuchungen des Teufels niedergedrückt wird. Drittens die Wiederherstellung der Gesundheit des Leibes, wenn dies dem ewigen Heil des Kranken förderlich ist.<ref> "Infirmatur quis in vobis? inducat presbyteros Ecclesiae, et orent super eum, ungentes eum oleo in nomine Domini: et oratio fidei salvabit infirmum, et alleviabit eum Dominus: et si in peccatis sit, remittentur ei" (Jak 5, 14-15; "Ist jemand krank unter euch, so rufe er die Priester der Kirche zu sich, und die sollen über ihn beten, und ihn mit Öl salben im Namen des Herrn; und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken zum Heile sein, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden auf sich hat, so werden sie ihm vergeben werden"). </ref> Auf diese drei Wirkungen deutet das Öl hin, das bei diesem Sakrament verwendet wird, denn das Öl stärkt, bringt Linderung und heilt.
S: Zu welchem Zeitpunkt soll man dieses Sakrament empfangen?
L: Viele begehen darin den großen Irrtum, dass sie dieses Sakrament erst empfangen wollen, wenn sie im Sterben liegen. Der rechte Zeitpunkt, dieses Sakrament zu spenden, ist dann, wenn die Ärzte die Krankheit als gefährlich beurteilen und ihrer Ansicht nach menschliche Mittel wohl nicht mehr ausreichen. Dann nimmt man also seine Zuflucht zu himmlischen Mitteln, und so passiert es nicht selten, dass der Kranke durch das heilige Öl wieder gesund wird. Darum darf man dieses Sakrament nicht erbitten, wenn keine Todesgefahr besteht, aber ebensowenig darf man so lange warten, bis überhaupt keine Hoffnung aufs Überleben mehr besteht. Das ist auch der Grund, warum man dieses Sakrament denen nicht spendet, die aufgrund eines Gerichtsurteils hingerichtet werden. Denn sie sind nicht krank und haben auch keine Hoffnung aufs Überleben.
Die Weihe
S: Was ist das Weihesakrament?
L: Das ist ein Sakrament, wodurch die Vollmacht verliehen wird, die Allerheiligste Eucharistie zu konsekrieren sowie die anderen Sakramente dem Volk zu spenden oder kraft eigenen Amtes denen zu dienen, die diese Vollmacht empfangen haben. Es heißt auch "Ordo"-Sakrament (von "ordo" = Ordnung), weil es bei diesem Sakrament viele Stufen gibt, eine jeweils unter der anderen, nämlich Priester, Diakon und andere niedrigere Stufen. Doch es ist nicht nötig, dass ich Euch dazu noch mehr erkläre, weil dieses Sakrament nicht alle betrifft, sondern nur schon erwachsene und gelehrte Männer, die den Katechismus nicht mehr zu lernen brauchen, weil sie ihn selbst anderen beizubringen haben.
Die Ehe
S: Was ist das Ehesakrament?
L: Das Ehesakrament ist die Verbindung von Mann und Frau. Diese Verbindung ist wiederum ein Hinweis auf die Verbindung Christi mit der Kirche durch die Fleischwerdung<ref> "Propter hoc relinquet homo patrem, et matrem suam, et adhaerebit uxori suae: et erunt duo in carne una. Sacramentum hoc magnum est, ego autem dico in Christo et in Ecclesia" (Eph 5, 31-32; "Darum wird der Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen, und seinem Weibe anhängen; und die zwei werden sein ein Fleisch. Dieses Geheimnis ist groß; ich sage aber in Christo und in der Kirche"). </ref> sowie auf die Verbindung Gottes mit der Seele durch die Gnade, und sie ist ein Abbild davon.
S: Was bewirkt dieses Sakrament?
L: Erstens verleiht es die Gnade, sich in der Ehe gut miteinander zu vertragen und zugleich einander geistig zu lieben, so wie Christus die Kirche liebt<ref> "Viri diligite uxores vestras, sicut et Christus dilexit ecclesiam, et seipsum tradidit pro ea" (Eph 5, 25; "Männer! liebet eure Weiber, wie auch Christus die Kirche geliebt, und sich selbst für sie hingegeben hat"). </ref> und Gott die treue und gerechte Seele liebt. Zweitens verleiht es die Gnade, die Kinder in der Furcht Gottes erziehen zu können und zu wollen. Drittens bringt es ein so festes Band zwischen Ehemann und Ehefrau hervor, dass es auf keine Weise gelöst werden kann, so wie es ebenfalls unmöglich ist, das Band zwischen Christus und der Kirche aufzulösen. Daraus folgt, dass niemand die Erlaubnis dazu geben kann, dass der Mann seine erste Frau verlässt und sich eine andere nimmt und ebenso dass die Frau den ersten Mann verlässt und sich einen anderen nimmt.<ref> "Iis autem, qui matrimonio iuncti sunt, praecipio non ego, sed Dominus, uxorem a viro non discedere: quod si discesserit, manere innuptam, aut viro suo reconciliari. Et vir uxorem non dimittat" (1 Kor 7, 10-11; "Denen aber, welche durch die Ehe verbunden sind, gebiete nicht ich, sondern der Herr, daß das Weib sich nicht vom Manne scheidet. Wenn sie aber geschieden ist, so bleibe sie ehelos, oder versöhne sich mit ihrem Manne. Auch der Mann entlasse sein Weib nicht"). </ref>
S: Was ist nötig, um eine Ehe zu schließen?
L: Drei Dinge sind nötig. Erstens dass die Personen dazu in der Lage sind, sich verbinden zu können, d. h. dass sie das gesetzliche Mindestalter erreicht haben, dass sie nicht vom vierten Grad aufwärts miteinander verwandt sind und dass sie kein feierliches Keuschheitsgelübde abgelegt haben und dergleichen. Zweitens dass bei der Eheschließung Zeugen zugegen sind und insbesondere dass der zuständige Seelsorger oder besser gesagt Pfarrer anwesend ist. Drittens dass das Jawort beider Teile frei gegeben wird, also nicht durch eine schwere Furcht erpresst, und dass es mit Worten oder einem anderen gleichwertigen Zeichen gegeben wird. Wenn aber eines dieser drei Dinge fehlt, ist die Ehe ungültig.
S: Was ist besser, das Ehesakrament zu empfangen oder jungfräulich zu bleiben?
L: Der hl. Apostel Paulus hat diese Frage für uns gelöst. Er hat geschrieben, dass derjenige gut handelt, der sich in der Ehe verbindet, dass aber, wer sich nicht darin verbindet, um die Jungfräulichkeit zu bewahren, besser handelt.<ref> "Volo enim omnes vos esse sicut meipsum: sed unusquisque proprium donum habet ex Deo: alius quidem sic, alius vero sic. Dico autem non nuptis, et viduis: bonum est illis si sic permaneant, sicut et ego. Quod si non se contineant, nubant. Melius est enim nubere, quam uri. [ ... ] De virginibus autem praeceptum Domini non habeo: consilium autem do, tamquam misericordiam consecutus a Domino, ut sim fidelis. [ ... ] lgitur et qui matrimonio iungit virginem suam, bene facit: et qui non iungit, melius facit" (1 Kor 7, 7-9.25.38; "Denn ich wünschte, daß ihr alle wäret, wie ich; aber ein jeder hat seine eigene Gabe von Gott: der eine so, der andere so. Ich sage aber den Unverheirateten und den Witwen: es ist ihnen gut, wenn sie so bleiben, wie auch ich. Wenn sie aber nicht enthaltsam sind, so sollen sie heiraten; denn es ist besser heiraten, als Brunst leiden [ ... ] Was aber die Jungfrauen betrifft, so habe ich kein Gebot vom Herrn; einen Rat aber gebe ich, als der ich vom Herrn Barmherzigkeit erlangt habe, treu zu sein [ ... ] Also, wer seine Jungfrau verheiratet, tut wohl; wer sie aber nicht verheiratet, tut besser"). </ref> Der Grund dafür ist, dass die Ehe etwas Menschliches ist, die Jungfräulichkeit dagegen etwas Engelhaftes. Die Ehe entspricht der Natur, die Jungfräulichkeit überschreitet die Natur.<ref> Ambrosius, De virginibus I, 3, 10-11, in PL 16, 187-231: "Invitat nun integritatis amor [ ... ] ut aliquid de virginitate dicamus [ ... ] Quis autem humano eam possit ingenio comprehendere, quam nec natura suis inclausit legibus? [ ... ] E coelo accersivit quod imitaretur in terris [ ... ] Postremo non meum est illud, quoniam quae non nubent, neque nubentur, erunt sicut angeli in coelo [Matth. XXII, 30]. Nemo ergo miretur si angelis comparentur, quae angelorum Domino copulantur. Quis igitur neget hanc vitam fluxisse de coelo" (191-192). "Es drängt uns jetzt die Liebe zur Enthaltsamkeit [ ... ] zu einiger Besprechung der Jungfräulichkeit [ ... ] Wer könnte mit dem bloßen Menschenverstand eine Tugend begreifen, welche die Natur nicht in den Bereich ihrer Gesetze eingeschlossen hat? [ ... ] Aus dem Himmel mußte sie das Vorbild herabholen, das sie auf Erden nachahmte [ ... ] Sodann endlich ist es nicht mein Wort, daß die, ,welche weder heiraten noch verheiratet werden, wie die Engel im Himmel sein werden' [Matth. 22, 30]. Niemand wundere sich denn, wenn sie Engeln gleich erachtet werden, die dem Herrn der Engel sich vermählen! Wer wollte denn leugnen, daß dieses Leben dem Himmel entströmt?" (BKV2 32, 316-317). Ambrosius, De virginibus 1, 5, 20: "Si enim ibi est patria, ubi genitale domicilium: in coelo profecto est patria castitatis. Itaque hic advena, ibi incola est" (194). "Wenn die Heimat dort liegt, wo das Vaterhaus steht, so ist fürwahr die Heimat der Jungfräulichkeit im Himmel. Hier ist sie daher fremd, dort heimisch" (BKV2 32, 322). </ref> Doch nicht nur die Jungfräulichkeit, sondern auch die Witwenschaft ist besser als die Ehe. Als darum der Heiland in einem Gleichnis gesagt hatte, dass der gute Samen auf einem Feld dreißigfach, auf einem anderen sechzigfach und wieder auf einem anderen hundertfach Frucht brachte,<ref> Vgl. Mt 13, 3-8. </ref> da haben die heiligen Kirchenlehrer es dahingehend erklärt, dass die dreißigfache Frucht von der Ehe, die sechzigfache von der Witwenschaft und die hundertfache von der Jungfräulichkeit hervorgebracht wird.<ref> Eusebius Hieronymus, Adversus Jovinianum I, 3, in: PL 23, 211-338: "Ut poma ex arbore, frumentum e stipula, ita virginitas e nuptiis. Centesimus et sexagesimus et tricesimus fructus quamquam de una terra, et de una semente nascatur, tamen multum differt in numero. Triginta referuntur ad nuptias. Nam et ipsa digitorum coniunctio, quasi molli se complexans osculo, et foederans, maritum pingit et coniugem. Sexaginta vero ad viduas, eo quod in angustia et tribulatione sunt positae. Unde et superiori digito deprimuntur; quantoque maior est difficultas expertae quondam voluptatis illecebris abstinere, tanto maius est praemium. Porro centesimus numerus [ ... ] de sinistra transfertur ad dexteram, et iisdem quidem digitis, sed non eum [sic!] manu, quibus in laeva nuptae significantur et viduae, circulum faciens, exprimit virginitatis coronam" (213-214; der hl. Hieronymus bezieht sich hier auf die Art und Weise, wie man in der Antike mittels der Finger Zahlen anzeigte bzw. rechnete). "Wie die Äpfel aus dem Baum, das Getreide aus der Stoppel, so sproßt die Jungfrauschaft aus der Ehe hervor. - Obwohl aus demselben Ackerlande und aus demselben Samen entsprießend, unterscheidet sich doch die hundert-, sechzig- und dreissigfältige Frucht gar sehr von einander in der Zahl. Die Zahl dreissig bezieht sich auf die Ehe. Denn auch die Verbindung der Finger selbst, die sich gleichsam in süßem Kusse umarmen und vereinigen, versinnbildet den Gatten und die Gattin. Die Zahl sechzig aber bezieht sich auf die Wittwen, weil sie in Angst und Trübsal wandeln. Deshalb werden sie auch mit dem oberen Finger niedergedrückt. Je schwerer nämlich für sie die Enthaltung von dem Reiz der einst genossenen geschlechtlichen Befriedigung ist, desto größer ihr Lohn. Die Zahl hundert endlich [ ... ] springt von der Linken auf die Rechte über und drückt, mit demselben Finger zwar, aber nicht an derselben Hand, womit an der Linken die Verheiratheten und Witwen angedeutet werden, indem sie einen Kreis bilden, den Kranz der Jungfrauschaft aus" (Ausgewählte Schriften des heiligen Hieronymus [übers. v. P. Leipelt) [BKV], Kempten 1874, 263-264).
Aurelius Augustinus, De sancta virginitate (ed. I. Zycha) XLV, 46, in: CSEL 41, Prag Wien - Leipzig 1900, 233-302: "Hoc autem [Sc. donum martyrii] tam magnum est, ut eum fructum centenum quidam intellegant perhibet enim praeclarissimum testimonium ecclesiastica auctoritas, in qua fidelibus notum est quo loco martyres et quo defunctae sanctimoniales ad altaris sacramenta recitantur sed quid significet fecunditatis illa diuersitas, uiderint, qui haec melius quam nos intellegunt: siue virginalis vita in centeno fructu sit, in sexageno vidualis, in triceno autem coniugalis; siue centena fertilitas martyrio potius imputetur, sexgena continentiae, tricena conubio; sive virginitas accedente martyrio centenum fructum inpleat, sola vero in sexageno sit, coniugati autem tricenum ferentes ad sexagenum perveniant, si martyres fuerint; sive, quod probabilius mihi videtur, quoniam divinae gratiae multa sunt munera et est aliud alio maius ac melius - unde dicit apostolus: imitamini autem dona meliora [1 Cor. 12, 31] - intellegendum est plura esse quam ut in tres differentias distribui possint" (290). "Diese aber [Sc. die Gabe des Martyriums] ist so erhaben, daß manche darin die hundertfältige Frucht erblicken (Mt 13, 23). Das vornehmlichste Zeugnis dafür ist der Brauch der Kirche. Aus ihm ersehen die Gläubigen, an welcher Stelle die Märtyrer und an welcher die verstorbenen Nonnen bei der Feier der heiligen Geheimnisse verlesen werden. Was aber die verschiedenen Grade des Fruchtbringens bedeuten, mögen jene untersuchen, die es besser verstehen als ich: Ob das jungfräuliche Leben die hundertfältige Frucht sei, die Witwenschaft die sechzigfältige, die Ehe aber die dreißigfältige; oder ob die hundertfältige Frucht besser dem Martyrium zuerkannt werde, die sechzigfältige der Enthaltsamkeit, die dreißigfältige der Ehe; oder ob die Jungfräulichkeit erst zusammen mit dem Martyrium zur hundertfältigen Frucht wird, die Jungfräulichkeit aber allein nur die sechzigfältige sei, während andererseits die Eheleute, die an sich nur dreißigfältige Frucht bringen, zur sechzigfachen gelangen, wenn sie Martyrer werden. Doch kann es auch so sein, - und das dünkt mich wahrscheinlicher, weil die göttlichen Gnadengaben zahlreich sind, die eine größer und besser als die andere, weshalb der Apostel sagt: ,Strebet nach den besseren Gnadengaben!' (1 Kor 12, 31) - es kann also auch sein, daß darunter so zahlreiche Gaben zu verstehen sind, daß man sie nicht bloß in drei Stufen einteilen kann" (Aurelius Augustinus, Heilige Jungfräulichkeit (übers. v. I. M. Dietz), Würzburg 1952, 47-48). Cyprian von Karthago, De habitu virginum , in: S. Thasci Caecili Cypriani Opera omnia (ed. G. Hartel) (CSEL 3/l), Wien 1868, 187-205: "arta et angusta est via quae ducit ad vitam, durus et arduus limes qui tendit ad gloriam per hunc viae limitem martyres pergunt, eunt virgines, iusti quique gradiuntur [ ... ] primus cum centeno martyrum fructus est, secundus sexagenarius uester est, ut aput martyras non est carnis et saeculi cogitatio nec parva et levis et delicta congressio, sic et in vobis, quarum ad gratiam merces secunda est, sit et virtus ad tolerantiam proxima" (202). "Eng und schmal ist der Weg, der zum Leben führt; hart und steil der Pfad, der zur Herrlichkeit leitet. Auf diesem engen Steig ziehen die Märtyrer, gehen die Jungfrauen, schreiten alle Gerechten [ ... ] Die erste Frucht mit hundertfältigem Ertrag ist die der Märtyrer, die zweite, sechzigfältige ist die eurige. Wie die Märtyrer weder an das Fleisch noch an die Welt denken und wie sie keinen kleinen, leichten und bequemen Kampf zu bestehen haben, so möget ihr, deren Gnadenlohn an zweiter Stelle folgt, ihnen auch an Kraft und Ausdauer am nächsten stehen!" (BKV2 34, 79). </ref>
Kapitel X: Die Tugenden im allgemeinen
S: Sie haben bereits die vier Hauptstücke der christlichen Lehre erklärt. Nun möchte ich gern wissen, ob es sonst noch etwas zu lernen gibt.
L: Diese vier Stücke, die ich euch schon vorgelegt habe, muss jeder wissen.
Doch es gibt noch einiges andere, dessen Kenntnis sehr nützlich ist, um das Ziel zu erreichen, das wir anstreben, das ewige Heil: dazu gehören die Tugenden und die Laster, die guten Werke und die Sünden. Davon war zwar schon nebenbei die Rede bei der Erklärung des Glaubensbekenntnisses und der Gebote. Trotzdem wird es von großem Nutzen sein, davon gesondert und im einzelnen zu reden.
S: So sagen Sie mir bitte: Was ist Tugend?
L: Die Tugend ist eine Eigenschaft der Seele, die bewirkt, dass man gut ist.
Wie die Wissenschaft bewirkt, dass jemand ein guter Gelehrter ist, und die Kunst, dass jemand ein guter Künstler ist, so bewirkt die Tugend, dass jemand ein guter Mensch ist, und darüber hinaus, dass er das Gute mühelos, rasch und vollkommen tut. Wer diese Tugend dagegen nicht besitzt, wird zwar auch bisweilen das Gute tun, jedoch nur mit Mühe und in mangelhafter Weise. Dafür gebe ich euch einen Vergleich. Mit der Tugend ist es nämlich wie mit der Kunst und der praktischen Übung. Da ist einer, der die Kunst erlernt hat, Zither oder Laute zu spielen, und der viel Übung darin hat. Er spielt ausgezeichnet und ganz mühelos, obwohl er nicht einmal auf die Saiten schaut. Ein anderer dagegen, der keine Übung darin hat, wird zwar die Saiten berühren können und auch spielen, aber weder schnell noch gut. Wer darum etwa die Tugend der Mäßigkeit besitzt, wird wenn nötig ganz mühelos und freudig fasten, und er fastet in vollkommener Weise, indem er die für das Essen vorgesehene Zeit abwartet, nur eine Mahlzeit am Tag zu sich nimmt und dabei nur erlaubte Speisen. Wer dagegen diese Tugend nicht besitzt oder im Gegenteil sogar gierig ist, für den ist es der Weltuntergang, wenn er fasten muss, und wenn er doch fastet, dann kann er die Stunde der Mahlzeit nicht abwarten, und am Abend will er dann statt der kleinen Stärkung, wie sie beim Fasten üblich ist, eine so große Mahlzeit zu sich nehmen, dass sie am Ende kaum weniger als ein normales Abendessen darstellt.
S: Wie viele Tugenden gibt es?
L: Es gibt zahlreiche Tugenden, doch die hauptsächlichen, auf die sich alle anderen zurückführen lassen, sind sieben an der Zahl: die drei göttlichen Tugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe,<ref> "Nunc autem manent, fides, spes, caritas: tria haec" (1 Kor 13, 13; "Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei"). </ref> und die vier Kardinaltugenden, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigkeit.<ref> "Et si iustitiam quis diligit: labores huius magnas habent virtutes: sobrietatem enim, et prudentiam docet, et iustitiam, et virtutem, quibus utilius nihil est in vita hominibus" (Weish 8, 7; "Und wenn jemand Gerechtigkeit lieb hat, so hat ihr Bemühen große Tugenden als Wirkung; denn sie lehrt Mäßigkeit und Klugheit, Gerechtigkeit und Starkmut, welche das Nützlichste sind im Menschenleben"). </ref> Sieben an der Zahl sind auch die Gaben des Heiligen Geistes<ref> "Et requiescet super eum spiritus Domini: spiritus sapientiae, et intellectus, spiritus consilii, et fortitudinis, spiritus scientiae, et pietatis, et replebit eum spiritus timoris Domini" (Jes 11, 2-3; "Und der Geist des Herrn wird auf ihm ruhen, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Wissenschaft und der Frömmigkeit; und der Geist der Furcht des Herrn wird ihn erfüllen"). </ref> und die Seligpreisungen aus dem Evangelium, die uns zu einem vollkommenen christlichen Leben anleiten.<ref> "Beati pauperes spiritu: quoniam ipsorum est regnum caelorum. Beati mites: quoniam ipsi possidebunt terram. Beati, qui lugent: quoniam ipsi consolabuntur. Beati, qui esuriunt, et sitiunt iustitiam: quoniam ipsi saturabuntur. Beati misericordes: quoniam ipsi misericordiam consequentur. Beati mundo corde: quoniam ipsi Deum videbunt. Beati pacifici: quoniam filii Dei vocabuntur. Beati, qui persecutionem patiuntur propter iustitiam: quoniam ipsorum est regnum caelorum. Beati estis cum maledixerint vobis, et persecuti vos fuerint, et dixerint omne malum adversum vos mentientes, propter me: gaudete, et exsultate, quoniam merces vestra copiosa est in caelis; sie enim persecuti sunt prophetas, qui fuerunt ante vos" (Mt 5, 3-12; "Selig sind die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig sind, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott anschauen. Selig sind die Friedsamen; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen schmähen und verfolgen, und alles Böse mit Unwahrheit wider euch reden um meinetwillen. Freuet euch, und frohlocket; denn euer Lohn ist groß im Himmel! Denn ebenso haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch gewesen"). </ref> Auch leibliche Werke der Barmherzigkeit gibt es sieben<ref> Vgl. Mt 25, 31-46. </ref> und ebenso sieben geistige Werke der Barmherzigkeit. Von alledem will ich euch kurz in Kenntnis setzen.
Kapitel XI: Die göttlichen Tugenden
S: Was ist Glaube?
L: Der Glaube ist die erste göttliche Tugend. Das sind diejenigen Tugenden, die Gott zum Ziel haben. Dabei besteht die besondere Aufgabe des Glaubens darin, den Verstand zu erleuchten und ihn dahin zu erheben, all das fest zu glauben, was Gott uns durch die Kirche offenbart, auch wenn es etwas Schwieriges und die natürliche Vernunft Übersteigendes ist.
S: Aus welchem Grund muss man die Glaubensgegenstände so fest glauben?
L: Der Grund ist, dass der Glaube sich auf die unfehlbare Wahrheit, nämlich Gott, stützt. Denn alles, was der Glaube uns vorlegt, wurde von Gott geoffenbart, und Gott ist die Wahrheit selbst. Darum ist es unmöglich, dass das, was Gott sagt, falsch ist. Wenn uns der Glaube darum etwas vorstellt, was gegen die Vernunft zu sein scheint - so etwa, dass eine Jungfrau geboren hat - , dann muss man entschlossen sagen, dass die menschliche Vernunft schwach ist und leicht irren kann; Gott aber kann nicht irren, und er kann uns auch nicht täuschen.
S: Auf welche Dinge muss sich diese Tugend des Glaubens unbedingt erstrecken?
L: Unbedingt muss man alle einzelnen Artikel des Glaubensbekenntnisses ausdrücklich glauben, die wir bereits erklärt haben, und ganz besonders die, für die es in der heiligen Kirche im Lauf des Jahres ein eigenes Fest gibt: die Fleischwerdung des Herrn, die Geburt, die Passion, die Auferstehung, die Himmelfahrt, die Herabkunft des Heiligen Geistes, die allerheiligste Dreifaltigkeit usw. Darüber hinaus muss man bereit sein, all das zu glauben, was uns die heilige Kirche sagt. Und schließlich muss man sich auch vor allen äußeren Dingen in acht nehmen, die ein Zeichen dafür sind, ein Ungläubiger zu sein. Das wäre etwa der Fall, wenn man sich wie ein Muslim oder ein Jude kleiden würde, wenn man wie die Irrgläubigen freitags und samstags Fleisch essen würde und ähnliches mehr. Es ist also notwendig, nicht nur im Herzen und mit dem Mund, sondern auch mit dem äußeren Verhalten den wahren Glauben zu bekennen<ref> "Quia si confitearis in ore tuo Dominum Iesum, et in corde tuo credideris quod Deus illum suscitavit a mortuis, salvus eris. Corde enim creditur ad iustitiam: ore autem confessio fit ad salutem" (Röm 10, 9-10; "Denn wenn du mit deinem Munde den Herrn Jesum bekennest, und in deinem Herzen glaubest, daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du selig werden. Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, und mit dem Munde geschieht das Bekenntnis zur Seligkeit"). </ref> und deutlich zu zeigen, dass man mit den Abspaltungen, die der heiligen Kirche feindlich gegenüberstehen, nichts zu tun hat.
S: Was ist Hoffnung?
L: Die Hoffnung ist die zweite göttliche Tugend, denn auch sie hat Gott zum Ziel. Durch den Glauben glauben wir an Gott, durch die Hoffnung hoffen wir auf Gott.
S: Was für eine Aufgabe hat die Hoffnung?
L: Sie soll unseren Willen dazu erheben, die ewige Seligkeit zu erhoffen. Weil dies ein so großes Gut ist, dass man es unmöglich mit menschlichen Kräften erreichen kann, darum gibt Gott uns diese übernatürliche Tugend, so dass wir durch sie darauf vertrauen, dieses große Gut erlangen zu können.
S: Worauf gründet sich diese Hoffnung, worauf stützt sie sich?
L: Sie gründet und stützt sich auf die unendliche Güte und Barmherzigkeit Gottes, für die wir ganz sichere Beweise haben. Denn er hat uns doch seinen eigenen Sohn gegeben, uns durch ihn aIs seine Kinder angenommen und uns das Himmelreich als Erbe versprochen, wenn wir Werke tun, die dieser Würde entsprechen, die wir erhalten haben. Und zugleich hat er uns ja auch die Gnade und genügend Hilfe gegeben, um solche Werke zu tun.
S: Was ist Liebe?
L: Das ist die dritte göttliche Tugend, das heißt, sie hat Gott zum Ziel, denn mit ihr erhebt sich unsere Seele dazu, Gott über alles zu lieben, nicht nur als den Schöpfer und Urheber unserer natürlichen Güter, sondern außerdem auch als den Geber der Gnade und der Herrlichkeit, welche übernatürliche Güter sind.
S: Ich möchte gern wissen, ob sich die Liebe auch auf die Geschöpfe erstreckt.
L: Die Liebe erstreckt sich tatsächlich auf alle Menschen und alle Dinge, die Gott geschaffen hat, mit dem Unterschied freilich, dass man Gott um seiner selbst willen zu lieben hat, da er ein unendliches Gut ist. Die Liebe erstreckt sich jedoch auch auf alle anderen Dinge, die man um Gottes willen lieben muss. Insbesondere muss man den Nächsten lieben, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist, so wie wir. Deshalb hat man unter dem Nächsten nicht nur den Verwandten oder den Freund zu verstehen, sondern jeden Menschen, wäre es auch unser Feind, weil jeder Mensch ein Bild Gottes ist und als solches geliebt werden muss.
S: Ist die Liebe eine große Tugend?
L: Sie ist die größte von allen<ref> "Nunc autem manent, fides, spes, caritas: tria haec; maior autem horum est caritas" (1 Kor 13, 13; "Jetzt aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber das größte unter diesen ist die Liebe"). </ref> und sie ist so groß, dass jeder, der sie besitzt, das Heil nicht verlieren kann, wenn er nicht zuvor die Liebe verliert. Wer sie aber nicht besitzt, kann keinesfalls gerettet werden, wenn er auch alle anderen Tugenden und Gaben Gottes besäße.
Kapitel XII: Die Kardinaltugenden
S: Was ist Klugheit?
L: Das ist die erste der vier Kardinaltugenden. Sie tragen diesen Namen, weil sie die vier Haupttugenden sind, aus ihnen entspringen gewissermaßen alle anderen moralischen und menschlichen Tugenden. Denn die Klugheit lenkt den Verstand, und die Gerechtigkeit leitet den Willen, die Mäßigkeit das Begehren und die Tapferkeit die Zorneskraft.
S: Worin besteht die Aufgabe der Klugheit?
L: Sie zeigt bei jeder Handlung das rechte Ziel, die passenden Mittel und alle Umstände, d. h. die Zeit, den Ort, die Art und Weise und ähnliches mehr, so dass das Werk voll und ganz gut getan ist. Aus diesem Grund heißt sie auch die Lehrerin der übrigen Tugenden und ist das, was das Auge für den Leib, was das Salz für die Speisen und was die Sonne für die Welt ist.
S: Was sind die der Klugheit entgegengesetzten Laster?
L: Die Tugend steht immer in der Mitte und hat deshalb zwei entgegengesetzte Laster, welche in den beiden Extremen liegen. Das eine der Klugheit entgegenstehende Laster ist die Unklugheit, d. h. Leichtsinn und Verwegenheit. Es ist bei Leuten zu finden, die nicht bedenken, was sie zu tun haben, und darum nicht das wahre Ziel anstreben und nicht die richtigen Mittel anwenden. Das andere Laster ist die Verschlagenheit oder Klugheit des Fleisches. Es ist bei denen zu finden, die mit aller Sorgfalt an das Ziel und an die Mittel denken, jedoch alles auf den Erwerb irgendwelcher irdischen Güter und damit auf den eigenen Nutzen hin ausrichten. In scharfsinniger Weise bemühen sie sich, den Nächsten zu betrügen, um die Angelegenheiten nach ihrem Sinn ausgehen zu lassen. Doch am Ende wird man sehen, dass solche Leute am allerdümmsten gewesen sind, da sie aus Liebe zu einem verschwindend kleinen Gut das höchste Gut verloren haben.
S: Was ist Gerechtigkeit und welche Aufgabe hat sie?
L: Die Gerechtigkeit ist eine Tugend, die jedem das Seine gibt. So besteht ihre Aufgabe darin, die Dinge ins Gleichgewicht zu bringen und das Geben und Nehmen der Menschen in Gleichheit zu gestalten, was die Grundlage von Ruhe und Frieden ist. Denn wenn jeder sich mit dem Seinen zufrieden gäbe und nicht etwas, was einem anderen gehört, begehrte, gäbe es niemals Krieg oder Streit.
S: Welches sind die der Gerechtigkeit entgegengesetzten Laster?
L: Es sind zwei. Das eine ist die Ungerechtigkeit, d. h. wenn jemand sich aneignet, was einem anderen gehört, oder bei Verträgen weniger geben will, als er schuldig ist, oder mehr verlangt, als ihm zusteht. Das andere ist die übertriebene Gerechtigkeit, d. h. wenn jemand zu streng ist und die Dinge noch genauer ausgleichen will, als es die Vernunft verlangt. Denn in vielen Fällen muss man mit der Gerechtigkeit das Mitleid verbinden. Wenn zum Beispiel ein Armer nicht alles, was er schuldig ist, ohne schwersten Nachteil unverzüglich zahlen kann, dann ist es vernünftig und gerecht, ihm etwas Zeit zu lassen; sie ihm dagegen nicht gewähren zu wollen, wäre zu streng.
S: Was ist Tapferkeit und worin besteht ihre Aufgabe?
L: Die Tapferkeit ist eine Tugend, die uns bereit macht, alle Schwierigkeiten zu überwinden, die uns vom Tun des Guten abhalten, und sie geht bis dahin, für die Ehre Gottes oder, um unsere Pflicht nicht zu verletzen, wenn nötig den Tod zu erleiden. Und so haben alle Märtyrer mittels dieser Tugend über ihre Verfolger den Sieg errungen. In ähnlicher Weise haben sich alle mutigen Soldaten, die in den gerechten Kriegen große Heldentaten vollbracht haben, mittels dieser Tugend mit Ruhm bedeckt.
S: Welches sind die der Tapferkeit entgegengesetzten Laster?
L: Es sind die Furcht und die Waghalsigkeit. Die Furcht bewirkt, dass jemand sich zu rasch ergibt, was aus mangelnder Tapferkeit erwächst. Die Waghalsigkeit bewirkt, dass ein Mensch sich ohne Notwendigkeit in offenkundige Gefahren begibt, was sozusagen ein Übermut ist. Er verdient kein Lob, sondern Tadel und ist darum keine Tugend, sondern ein Laster.
S: Was ist Mäßigkeit und worin besteht ihre Aufgabe?
L: Die Mäßigkeit ist eine Tugend, die den sinnlichen Genüssen Zügel anlegt und bewirkt, dass jemand sich dieser Freuden in dem Maß bedient, wie es die Vernunft gebietet.
S: Welches sind die der Mäßigkeit entgegengesetzten Laster?
L: Es sind die Unmäßigkeit und die Gefühllosigkeit. Unmäßigkeit liegt dann vor, wenn jemand zu sehr den Genüssen ergeben ist und es deshalb beim Essen, Trinken und ähnlichen Dingen übertreibt, was der Seele und dem Leib schadet. Gefühllosigkeit liegt dann vor, wenn jemand ins andere Extrem fällt und alle Freuden in dem Ausmaß meidet, dass er zur Gesundheit Notwendiges nicht essen will, um nicht das Wenige an Genuss zu empfinden, das eine geeignete Speise natürlicherweise mit sich bringt. Bei den Menschen ist das Laster der Unmäßigkeit allerdings viel verbreiteter als das der Gefühllosigkeit. Aus diesem Grund haben uns alle Heiligen mit Wort und Beispiel zum Fasten und zur Abtötung des Fleisches ermuntert.
Kapitel XIII: Die sieben Gaben des Heiligen Geistes
S: Welches sind die Gaben des Heiligen Geistes?
L: Es sind jene, die uns der Prophet Isaias gelehrt hat, nämlich Weisheit, Erkenntnis, Rat, Stärke, Wissenschaft, Frömmigkeit und Gottesfurcht.
S: Wozu nützen uns diese Gaben?
L: Um zu einem vollkommenen christlichen Leben zu gelangen. Denn sie sind wie eine Leiter, die uns vom Zustand des Sünders über verschiedene Stufen bis zum Gipfel der Heiligkeit führt. Ihr müsst jedoch wissen, dass der Prophet diese Stufen von oben nach unten aufzählte, denn er sah sie wie eine Leiter, die vom Himmel ausgeht. Wir dagegen nehmen sie in umgekehrter Reihenfolge, um aufzusteigen und von der Erde zum Himmel zu gelangen. So ist die erste Stufe die Gottesfurcht, die den Sünder erschreckt, wenn er bedenkt, dass er den allmächtigen Gott zum Feind hat. Die zweite Stufe ist die Frömmigkeit, denn wer die Strafen fürchtet, die Gott dem Sünder androht, beginnt fromm zu werden und wünscht, Gott zu gehorchen und ihm zu dienen und in allem seinen heiligen Willen zu tun. Die dritte Stufe ist die Wissenschaft, denn wer den Willen Gottes tun will, bittet Gott, dass er ihn seine heiligen Gebote lehrt. Dann lässt ihn Gott alles für ihn Notwendige wissen, teils durch Predigten, teils durch Bücher und teils durch innere Eingebungen. Die vierte Stufe ist die Stärke, denn derjenige, der in allem Gott dienen will, stößt auf viele Schwierigkeiten und Versuchungen der Welt, des Fleisches und des Teufels. Deshalb gibt ihm Gott dann die Gabe der Stärke, damit er alle Schwierigkeiten überwindet. Die fünfte Stufe ist der Rat, weil der Teufel, wenn er nicht mit Gewalt zu siegen vermag, es mit List versucht und sich bemüht, den Gerechten zu Fall zu bringen, indem er ihm etwas Gutes vorspiegelt. Doch Gott lässt ihn nicht im Stich und gibt ihm die Gabe des Rates, damit er auf die Täuschungen des Feindes nicht hereinfällt. Die sechste Stufe ist die Gabe der Erkenntnis, denn wenn sich jemand im tätigen Leben schon gut geübt hat und viele Siege über den Teufel davongetragen hat, dann lenkt und erhebt Gott ihn zum Leben der Beschauung und lässt ihn mit der Gabe der Erkenntnis die göttlichen Geheimnisse verstehen und durchdringen. Die siebte Stufe ist die Gabe der Weisheit, worin die Vollendung der Vollkommenheit besteht. Denn weise ist der, der die Erstursache kennt und ihr entsprechend all seine Taten ordnet. Das gelingt nur dem, der zur Gabe der Erkenntnis die vollkommene Liebe hinzufügt. Mit dem Verstand nämlich erkennt er die Erstursache und durch die Liebe richtet er alles auf sie als das letzte Ziel hin aus. Weil aber die Weisheit mit dem Verstand das Gefühl verbindet, heißt sie Weisheit (lat. "sapientia" von "sapere" = schmecken, verkosten), d. h. köstliche Erkenntnis, wie uns der heilige Bernhard lehrt.
Kapitel XIV: Die acht Seligpreisungen
S: Was sind die acht Seligpreisungen, die uns unser Herr im Evangelium gelehrt hat?
L: Sie sind wie eine zweite Leiter, um zur Vollkommenheit aufzusteigen, ähnlich der Gaben des Heiligen Geistes. Denn in sieben Sätzen sind sieben Stufen enthalten, um zur Seligkeit zu gelangen; der achte nennt uns dann ein deutliches Zeichen, an dem man erkennen kann, ob jemand diese Leiter erstiegen hat oder nicht.
S: Erklären Sie mir bitte kurz diese Leiter!
L: Christus, unser Herr, lehrt uns auf den ersten drei Stufen, die Hindernisse für die Vollkommenheit und damit für die Seligkeit beiseite zu räumen. Die allgemeinen und gewöhnlichen Hindernisse sind drei: der Wunsch nach Besitz, nach Ehren und nach Vergnügungen. Deshalb sagt uns Christus auf der ersten Stufe: Selig sind die Armen im Geiste, d. h. diejenigen, die freiwillig auf eigenen Besitz verzichten. Auf der zweiten Stufe sagt er: Selig sind die Sanftmütigen, d. h. diejenigen, die allen nachgeben und denen keinen Widerstand leisten, die sich vor sie drängen und sie selbst zurücksetzen. Auf der dritten Stufe sagt er: Selig sind die Weinenden, d. h. diejenigen, die nicht den Vergnügungen und Freuden der Welt nachlaufen, sondern sich der Buße widmen und ihre Sünden beweinen. Auf den folgenden zwei Stufen lehrt er uns das vollkommene tätige Leben, das darin besteht, all das zu erfüllen, was die Gerechtigkeit und die Liebe fordern. Darum sagt er auf der vierten Stufe: Selig sind die, die Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit haben. Auf der fünften Stufe sagt er: Selig sind die Barmherzigen. Auf den letzten beiden Stufen lenkt er uns hin zum vollkommenen Leben der Beschauung. Darum sagt er auf der sechsten Stufe: Selig sind die, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. D. h. sie werden ihn im Jenseits in der Herrlichkeit schauen, und noch in diesem Leben werden sie ihn in der gnadenhaften Beschauung erkennen. Auf der siebten Stufe sagt er: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. D. h. selig sind diejenigen, die der Beschauung die vollkommene Liebe hinzugefügt haben und die so alles auf Gott hingeordnet haben und in deren Seele Frieden herrscht. So werden sie Söhne Gottes sein, ihrem Vater ähnlich, heilig und vollkommen. Im achten Satz ist keine neue Stufe der Vollkommenheit mehr enthalten, wie der heilige Augustinus treffend bemerkt,<ref> Aurelius Augustinus, De sermone Domini in monte 1, 3, 10, in: Sancti Aurelii Augustini De sermone Domini in monte libri duo (ed. A. Mutzenbecher) (CCL 35), Turnhout 1967: "Octava tamquam ad caput redit, quia consummatum perfectumque ostendit et probat. Itaque in prima et in octava nominatum est regnum caelorum. [ ... ] Septem sunt ergo quae perficiunt; nam octava clarificat et quod perfectum est demonstrat, ut per hos gradus perficiantur et ceteri, tamquam a capite rursus exordiens" (9). "Mit der achten Seligpreisung nimmt der Herr die erste gleichsam wieder auf, weil sie dargelegt und gutheißt, was vollkommen und vollendet ist. Darum wird in der ersten und in der letzten Seligpreisung das Himmelreich als Lohn genannt ... Sieben Stufen führen also zur Vollkommenheit, die achte Seligpreisung wirft ein Licht auf das, was vollkommen ist und zeigt, daß über diese Stufen auch die anderen, angefangen von der ersten, vollendet werden" (Aurelius Augustinus, Die Bergpredigt. Ausgewählt und übertragen von Susanne Greiner [Christliche Meister 54], Einsiedeln 2006, 39-40). </ref> sondern hier wird ein deutliches Zeichen genannt, an dem man erkennen kann, ob jemand zur Vollkommenheit gelangt ist. Dieses Zeichen besteht darin, dass jemand ungerechte Verfolgung bereitwillig erduldet, denn wie Gold im Feuer geprüft wird, so wird der Gerechte und Vollkommene in den Prüfungen erprobt.
Kapitel XV: Die sieben leiblichen und die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit
S: Nun sind noch die leiblichen und die geistlichen Werke der Barmherzigkeit übrig. Bitte erklären Sie sie mir.
L: Leibliche Werke der Barmherzigkeit gibt es sieben, von denen wir sechs im heiligen Evangelium haben: den Hungrigen zu essen geben, den Dürstenden zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Pilger beherbergen, die Kranken besuchen und die Gefangenen trösten.<ref> Vgl. Mt 25, 31-46. </ref> Das siebte Werk, nämlich die Toten begraben, haben uns der heilige Tobias und der Erzengel Raphael gelehrt.<ref> "Quando orabas cum lacrimis, et sepeliebas mortuos, et derelinquebas prandium tuum, et mortuos abscondebas per diem in domo tua, et nocte sepeliebas eos, ego obtuli orationem tuam Domino. Et quia acceptus eras Deo, necesse fuit ut tentatio probaret te" (Tob 12,12-13; "Als du mit Tränen betetest, und die Toten begrubst, und dein Mahl stehen ließest und die Toten bei Tage in deinem Hause verbargst und sie bei Nacht begrubst, habe ich dein Gebet dem Herrn dargebracht. Und weil du wohlgefällig warst vor Gott, mußte die Prüfung dich bewähren"). </ref> Geistliche Werke der Barmherzigkeit gibt es ebenfalls sieben: die Unwissenden lehren, den Zweifelnden raten, die Traurigen trösten, die Irrenden zurechtweisen, die Beleidigungen vergeben, die Fehler anderer ertragen und für die Lebenden und die Toten beten.
S: Gibt es einen Grund, der uns von der Pflicht, diese Werke der Barmherzigkeit zu verrichten, entbindet?
L: Drei Gründe können uns davon entbinden. Der erste liegt vor, wenn jemand nicht die Mittel hat, sie zu tun. So hat der gute Lazarus, der Bettler, von dem man im Evangelium liest, kein einziges leibliches Werk der Barmherzigkeit getan, weil er selbst fast alle diese Werke nötig hatte, und so erhielt er stattdessen seinen Lohn dafür, dass er geduldig war. So hat es nämlich Gott eingerichtet, dass die Reichen durch die Barmherzigkeit gerettet werden und die Armen durch die Geduld. So ist auch, wer selbst keine Kenntnisse und keine Klugheit besitzt, nicht verpflichtet, andere zu lehren oder ihnen Ratschläge zu geben. Der zweite Grund liegt vor, wenn jemand Gott in einem höheren Stand als dem tätigen Leben dient und aufgrund dieses Standes keine Gelegenheit hat, viele Werke der Nächstenliebe zu tun. So sind die Einsiedler, die sich an einsame Orte oder in ihre Zellen zurückgezogen haben, um sich in die Betrachtung der himmlischen Dinge zu versenken, nicht dazu verpflichtet, auf diese gottgefällige Übung zu verzichten, um loszugehen und jemanden zu suchen, dem sie ein Werk der Barmherzigkeit erweisen können. Ein dritter Grund liegt dann vor, wenn jemand niemanden findet, der seiner Barmherzigkeit in nennenswerter Weise bedarf. Wir sind also nur verpflichtet, denen zu helfen, die sich selbst nicht helfen können und sonst niemanden haben, der ihnen helfen kann und will. Die vollkommene Barmherzigkeit wartet allerdings nicht, bis sie verpflichtet ist zu handeln, sondern sie ist bereit, zu helfen, wo sie nur kann und so gut sie kann.
S: Mir scheint, dass das letzte Werk der Barmherzigkeit, nämlich zu Gott für den Nächsten zu beten, jeder ausüben kann.
L: So ist es. Deshalb verrichten auch die heiligen Einsiedler Werke der Barmherzigkeit, denn sie beten zu Gott, dass er mit seiner Gnade doch allen zu Hilfe kommen wolle, die ihrer bedürfen.
Kapitel XVI: Die Laster und die Sünden im allgemeinen
S: Sie haben mich bereits über die Tugenden und die guten Werke belehrt, damit ich mich in rechter Weise darum bemühen kann. Belehren Sie mich nun bitte auch über das Laster und die Sünde, damit ich sie meiden kann.
L: Die Sünde ist nichts anderes als eine absichtliche Handlung oder Unterlassung, die dem Gesetz Gottes widerspricht. Dabei müsst ihr bedenken, dass drei Dinge zusammenkommen müssen, damit etwas eine Sünde ist: Erstens muss es eine Handlung oder eine Unterlassung sein, d. h. dass man etwas Verbotenes tut bzw. bewirkt oder etwas Gebotenes nicht tut. So ist z. B. Fluchen eine Handlung und nicht in die Messe zu gehen eine Unterlassung.
Zweitens muss diese Handlung oder Unterlassung gegen das Gesetz Gottes gerichtet sein, denn das Gesetz Gottes ist die allgemeine Regel für das richtige Handeln, so wie die Baukunst die Regel für das richtige Bauen ist. Wie darum ein Baumeister kein guter Baumeister ist und nicht richtig baut, wenn er sich nicht an die Regeln der Kunst hält, so lebt jemand nicht in der richtigen Weise und ist kein guter Mensch, wenn er das Gesetz Gottes nicht befolgt. Unter dem Gesetz Gottes hat man aber nicht nur das zu verstehen, das er selbst gegeben hat, wie die zehn Gebote, sondern auch das, das er uns durch den Papst und die anderen geistlichen und weltlichen Vorgesetzten gibt, denn sie sind alle Diener Gottes und haben von ihm ihre Autorität. Drittens muss die Handlung oder Unterlassung absichtlich sein. Deshalb ist das, was jemand ohne Zustimmung des Willens tut, keine Sünde, wie etwa wenn jemand flucht, während er schläft oder wenn er noch nicht das Alter des Vernunftgebrauchs erreicht hat oder wenn er nicht weiß, dass dieses Wort ein Fluch ist. In diesem Fall sündigt die betreffende Person nicht, weil keine Zustimmung des Willens vorliegt.
S: Was eine Sünde ist, habe ich verstanden. Sagen Sie mir jetzt bitte, was ein Laster ist!
L: Ein Laster ist eine schlechte Neigung und eine schlechte Gewohnheit zu sündigen, die durch häufiges Sündigen erworben wurde und dazu führt, dass jemand leichter und mit größerer Frechheit und Lust sündigt. Wir sagen ja von jemandem, dass er ein Flucher oder ein Spieler ist, wenn er die Gewohnheit hat, zu fluchen oder zu spielen. In diesem Fall ist das Fluchen die Sünde und ein Flucher zu sein das Laster. Ebenso verhält es sich auch mit allem Bösen.
S: Ist die Sünde etwas sehr Schlimmes?
L: Sie ist das Schlimmste, was es überhaupt gibt; ja sie allein ist schlechthin böse und missfällt Gott mehr als alles andere. Das kann man daran erkennen, dass es Gott nicht kümmert, die edelsten Dinge zu zerstören und zu verderben, die er hat, nur um die Sünde zu strafen. Wenn ein Fürst ein wunderschönes, ganz wertvolles Gefäß aus Silber oder Gold hätte, darin aber eine stinkende Flüssigkeit fände und diese ein so großes Missfallen bei ihm erregte, dass er dieses Gefäß zerbrechen und in die Tiefen des Meeres werfen ließe, da würdet ihr sicher sagen, dass dieser Fürst diese Flüssigkeit über alle Maßen hasst. Nun hat Gott zwei sehr kostbare Gefäße gemacht, eines aus Silber, das ist der Mensch, und eines aus Gold, das ist der Engel. Weil er aber diese stinkende Flüssigkeit der Sünde im einen wie im anderen gefunden hat, hat er all die Engel, die gesündigt haben, zerschmettert und in die Tiefe der Hölle geworfen, in die ewige Pein. Und Tag für Tag wirft er all die Menschen, die mit der Sünde beladen sterben, an denselben Ort der Verdammnis. Einmal ließ er auch aufgrund der Sünden der Welt die Sintflut kommen und tötete alle Menschen außer Noah mit seiner Familie, der gerecht geblieben war.
S: Wie viele Arten von Sünden gibt es?
L: Es gibt zwei Arten der Sünde. Die eine heißt Erbsünde und die andere Tatsünde. Bei der Tatsünde gibt es wiederum zwei Arten, einerseits die Todsünde und andererseits die lässliche Sünde.
Kapitel XVII: Die Erbsünde
S: Was ist die Erbsünde?
L: Die Erbsünde ist diejenige Sünde, mit der wir geboren wurden und die wir als Erbe von unserem Stammvater Adam haben. Dabei müsst ihr wissen, dass Gott, als er den ersten Mann und die erste Frau namens Adam und Eva erschuf, ihnen sieben Gaben verlieh. Erstens gab er ihnen seine Gnade, durch die sie gerecht waren, Freunde Gottes und seine angenommenen Kinder. Zweitens gab er ihnen eine große Einsicht, damit sie das Gute tun und das Böse meiden konnten. Drittens verlieh er ihnen die Gabe, dass das Fleisch dem Geist gehorcht, so dass es nicht von unerlaubten, vernunftwidrigen Begierden angestachelt wurde. Viertens gab er ihnen eine sehr große Bereitschaft und Gewandtheit darin, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, und er gab ihnen lediglich ein einziges sehr leichtes Gebot. Fünftens befreite er sie von aller Mühe und Furcht, weil die Erde von selbst Früchte hervorbrachte, die für den Menschen zum Leben ausreichten, und weil es nichts gab, was dem Menschen hätte schaden können. Sechstens machte er sie unsterblich, d. h. dass sie niemals hätten sterben müssen, wenn sie nicht gesündigt hätten. Siebtens wollte er sie dann nach einiger Zeit in den Himmel versetzen zu einem ewigen Leben voll Herrlichkeit, so wie es die Engel haben. Doch betrogen vom Teufel, befolgten der erste Mann und die erste Frau dieses Gebot nicht und sündigten so gegen Gott. Deshalb verloren sie alle diese genannten sieben Gaben. Weil aber Gott ihnen diese Gaben nicht nur für sie selbst, sondern auch für alle ihre Nachkommen verliehen hatte, deshalb haben sie diese Gaben für sich selbst und zugleich für uns alle verloren und uns an ihrer Sünde und an all ihrem Elend Anteil gegeben, so wie wir an ihrer Gnade und an den übrigen Gütern teilgehabt hätten, wenn sie nicht gesündigt hätten. Das also ist die Erbsünde: Feindschaft mit Gott und Verlust seiner Gnade. Und da wir mit diesem Mangel geboren werden, so geht aus ihm die Unwissenheit, die Neigung zum Bösen, die Schwerfälligkeit im Tun des Guten und die Leichtigkeit im Tun des Bösen hervor, die Plage und Mühsal in der Sorge ums Überleben, die Ängste und Gefahren, in denen wir uns befinden, die Gewissheit des Todes des Leibes und noch dazu der ewige Tod der Seele, wenn wir nicht vor dem Tod von der Sünde befreit werden und die Gnade Gottes wiedererlangen.
S: Welches Mittel haben wir denn gegen diese Erbsünde ?
L: Wir haben vorhin bereits gesagt, dass das Leiden und der Tod Christi, unseres Herrn, das Mittel gewesen ist. Denn Gott hat gewollt, dass derjenige, der für die Sünde Adams Genugtuung leisten wollte, ohne Sünde, ja Gott und Mensch wäre, damit er Gott unendlich wohlgefällig wäre. Und er sollte nicht in etwas Leichtem gehorsam sein, wie es von Adam gefordert war, sondern in etwas überaus Schwerem wie dem schändlichen Tod am Kreuz. Wie schon gesagt, wird uns dieses Mittel durch die heilige Taufe zugewandt. Gott wollte uns zwar nicht sofort all jene sieben Gaben wiedergeben, wohl aber die wichtigste, nämlich seine Gnade, durch die wir gerecht sind, Freunde und Kinder Gottes und Erben des Paradieses. Die anderen Gaben werden wir dann mit viel Zugewinn im Jenseits erhalten, wenn wir uns in diesem Leben auf Erden gut verhalten haben.
Kapitel XVIII: Die Todsünde und die lässliche Sünde
S: Erklären Sie mir jetzt bitte, was die Tatsünde ist und wie sie einmal eine Todsünde und einmal eine lässliche Sünde ist!
L: Eine Tatsünde ist eine Sünde, die wir aus eigenem Willen begehen, nachdem wir zum Vernunftgebrauch gelangt sind, indem wir z. B. stehlen, töten, falsch schwören oder ähnliches tun, was dem Gesetz Gottes widerspricht. Diese Sünde ist eine Todsünde, wenn sie den Menschen der Gnade Gottes beraubt, die das Leben der Seele ist, und den ewigen Tod in der Hölle verdient. Eine lässliche Sünde ist sie, wenn sie Gott zwar missfällt, aber nicht so sehr, dass sie den Menschen seiner Gnade beraubt. Sie verdient zwar ebenfalls Strafe, aber keine ewige.
S: Wie kann ich erkennen, ob eine Sünde eine Todsünde oder eine lässliche Sünde ist?
L: Um zu erkennen, ob die Sünde eine Todsünde ist, muss man zwei Regeln im Auge behalten. Die eine Regel besteht darin, dass die Sünde gegen die Gottes- oder die Nächstenliebe verstößt. Die zweite, dass sie mit voller Zustimmung des Willens geschieht. Wenn ihr also eine dieser zwei Bedingungen fehlt, ist sie keine Todsünde, sondern eine lässliche Sünde. Eine Sünde verstößt dann gegen die Liebe, wenn sie bei einem schwerwiegenden Tatbestand gegen das Gesetz gerichtet ist, so dass sie eine Beleidigung darstellt, die groß genug ist, um die Freundschaft zu zerstören. Wenn sie aber bei einem geringfügigen Tatbestand geschieht und nicht reicht, um die Freundschaft zu zerstören, dann ist sie nicht gegen die Liebe, sondern man spricht davon, dass sie nicht der Liebe gemäß ist. Ebenso sagt man bei ersterer, dass sie gegen das Gesetz ist, weil sie gegen die Liebe ist, die das Ziel des Gesetzes darstellt. Bei zweiterer sagt man nicht, dass sie gegen das Gesetz ist, sondern nur, dass sie nicht dem Gesetz gemäß ist, weil sie nicht gegen die Liebe, sondern nur der Liebe nicht gemäß ist. Führt euch folgendes Beispiel vor Augen: Eine große Summe Geld zu stehlen ist eine Todsünde, weil es gegen das Gesetz Gottes ist, weil es einen schwerwiegenden Tatbestand darstellt und weil es, wie jeder weiß, ausreicht, um eine Freundschaft zu zerstören. Somit verstößt es gegen die Liebe. Einen Groschen, eine Stecknadel oder etwas ähnliches zu stehlen ist dagegen keine Todsünde, sondern eine lässliche Sünde, weil es sich um einen geringfügigen Tatbestand handelt, und obwohl es nicht der Liebe gemäß ist, ist es dennoch auch nicht gegen die Liebe, weil es nichts ist, was normalerweise ausreicht, um eine Freundschaft zu zerstören. Ähnliches können wir von der zweiten Bedingung, der Freiwilligkeit, sagen. Wenn etwas in einem schwerwiegenden Tatbestand gegen das Gesetz gerichtet ist und völlig freiwillig geschieht, ist es eine Todsünde. Wenn es dagegen nicht völlig freiwillig wäre, wie wenn jemand plötzlich den Gedanken oder Wunsch hätte zu stehlen, zu morden oder zu fluchen, sich aber gleich korrigierte, bevor er mit dem Willen vollkommen zugestimmt hätte, so wäre es nur eine lässliche Sünde. Man muss freilich sorgfältig auf sich acht geben, und sobald man sich eines schlechten Gedankens oder Wunsches bewusst ist, muss man ihn verjagen, bevor der Wille ihm zustimmt.
Kapitel XIX: Die sieben Hauptsünden
S: Jetzt möchte ich gern wissen, welches die bedeutendsten Sünden sind, damit ich sie sorgfältiger meiden kann.
L: Einige Sünden sind bedeutender, weil sie wie die Quelle und die Wurzel für viele andere Sünden sind; sie heißen Hauptsünden und sind sieben an der Zahl. Andere sind bedeutender, weil sie nur schwer vergeben werden; sie heißen Sünden gegen den Heiligen Geist und sind sechs an der Zahl. Andere schließlich sind bedeutender, weil sie offenkundiger ganz ungeheuer sind und ganz und gar gegen die Vernunft; darum nennt man sie himmelschreiende Sünden, denn sie schreien zum Himmel um Rache. Davon gibt es vier.
S: Welches sind die Hauptsünden?
L: Es sind Hochmut (oder, wie andere sagen, eitle Ehre), Habgier, Unkeuschheit, Neid, Völlerei, Zorn und Trägheit.<ref> Gregor der Große, Moralia in lob XXXI,XLV, 87, in: S. Gregorii Magni Moralia in lob. Libri XXIII-XXXV (ed. M. Adriaen) (CCL 143 B), Turnhout 1995: "Ipsa namque vitiorum regina superbia cum devictum plene cor ceperit, mox illud septem principalibus vitiis, quasi quibusdam suis ducibus devastandum tradit. Quos videlicet duces exercitus sequitur, quia ex eis procul dubio importunae vitiorum multitudines oriuntur. Quod melius ostendimus, si ipsos duces atque exercitum specialiter, ut possumus, enumerando proferamus. Radix quippe cuncti mali superbia est, de qua, scriptura attestante, dicitur: Initium omnis peccati superbia [Eccli. 10, 15]. Primae autem eius soboles, septem nimirum principalia vitia, de hac virulenta radice proferuntur, scilicet inanis gloria, invidia, ira, tristitia, avaritia, ventris ingluvies, luxuria" (1610; Auslegung zu Ijob 39,Z5: "Exhortationem ducum, et ululatum exercitus"). "Denn die Königin der Laster selbst ist der Hochmut. Wenn er vollständig Besitz vom besiegten Herzen ergriffen hat, übergibt er es bald den sieben hauptsächlichen Lastern wie seinen Hauptmännern zur Zerstörung. Diesen Hauptmännern folgt nämlich das Heer, da aus ihnen zweifellos eine zudringliche Schar von Lastern entsteht. Das legen wir noch besser dar, wenn wir in einer Aufzählung möglichst die Hauptmänner und das Heer gesondert anführen. Die Wurzel alles Bösen nämlich ist der Hochmut, von dem es nach dem Zeugnis der Schrift heißt: Der Anfang jeder Sünde ist der Hochmut [Sir 10, 15]. Seine ersten Sprösslinge aber, genau diese sieben hauptsächlichen Laster, entstehen aus dieser verpesteten Wurzel. Es sind eitle Ehre, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habgier, Völlerei des Bauches und Unkeuschheit" (Auslegung zu Ijob 39, 25: "Die Aufmunterung der Hauptmänner und das Geheul des Heeres"). </ref>
S: Warum heißen sie Hauptsünden?
L: Sie heißen nicht etwa Hauptsünden, weil sie Todsünden sind. Denn viele Sünden sind Todsünden, aber keine Hauptsünden, wie das Fluchen oder der Mord. Und viele sind Hauptsünden, aber nicht immer auch Todsünden, wie der Zorn, die Völlerei und die Trägheit. Sie heißen stattdessen Hauptsünden, weil sie Anfang vieler anderer Sünden sind, die aus ihnen wie frische Triebe aus der Wurzel und wie Bäche aus der Quelle hervorgehen.
S: Was ist der Hochmut, welche Sünden bringt er hervor und welches Gegenmittel gibt es dafür?
L: Hochmut ist eine Sünde, die darin besteht, dass jemand denkt, er sei mehr, als er in Wirklichkeit ist. Deshalb will er über den anderen stehen und niemanden über sich und neben sich haben. Die Sünden, die der Hochmut hervorbringt, sind Angeberei und eitle Selbstgefälligkeit, das Streiten mit anderen, die Zwietracht, der Ungehorsam und ähnliches. Das Gegenmittel besteht darin, sich mit großem Eifer um die heilige Tugend der Demut zu bemühen. Sie besteht darin zu wissen, dass man von sich aus nichts ist und dass alles, was wir haben, eine Gabe Gottes ist, und darin zu denken, dass die anderen besser als wir sind, und sich deshalb für geringer als alle anderen zu halten und sich innerlich allen unterzuordnen, äußerlich aber alle entsprechend ihrem Rang zu ehren. Weiterhin hilft es sehr zu bedenken, dass der Stolz einen Menschen dem Teufel ähnlich macht und dass er Gott über alle Maßen missfällt. Denn es steht geschrieben, dass Gott den Stolzen widersteht, den Demütigen hingegen sich zuneigt; jene macht er zuschanden, diese hingegen erhöht er.<ref> "Omnes autem invicem humilitatem insinuate, quia Deus superbis resistit, humilibus autem dat gratiam. Humiliamini igitur sub potenti manu Dei, ut vos exaltet in tempore visitationis" (1 Petr 5, 5-6; "Alle aber begegnet einander in Demut, denn Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade. Demütiget euch also unter die gewaltige Hand Gottes, daß er euch erhöhe zur Zeit der Heimsuchung").
"Deus superbis resistit, humilibus autem dat gratiam [ ... ] Humiliamini in conspectu Domini, et exaltabit vos" (Jak 4, 6.10; "Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade [ ... ] Demütiget euch vor dem Herrn, so wird er euch erhöhen"). </ref>
S: Was ist Habgier, welche Sünden bringt sie hervor, und welches Mittel gibt es gegen sie?
L: Die Habgier ist eine ungeordnete Anhänglichkeit an materiellen Besitz.
Sie besteht in dreierlei Dingen. Erstens darin, dass man nach dem Besitz anderer verlangt und nicht mit dem eigenen zufrieden ist. Zweitens darin, dass man mehr haben will, als für einen ausreichend ist, und das Überflüssige nicht den Armen geben will, wie man verpflichtet ist. Drittens darin, dass man seinen Besitz zu sehr liebt, sei es auch der eigene und sei er unentbehrlich. Das erkennt man daran, dass jemand nicht bereit ist, seinen Besitz zu verlieren, falls es die Ehre Gottes verlangt. Darum nennt der heilige Paulus die Habgier auch eine Art von Götzendienst,<ref> "Hoc enim scitote intelligentes: quod omnis fornicator, aut immundus, aut avarus, quod est idolorum servitus, non habet hereditatem in regno Christi, et Dei" (Eph 5, 5; "Denn das wisset und erkennet, daß kein Hurer oder Unzüchtiger, oder Geiziger, der ein Götzendiener ist, ein Erbteil an dem Reiche Christi und Gottes habe"). </ref> denn dem Habgierigen ist sein Besitz wichtiger als Gott. Sünden, die aus der Habgier hervorgehen, gibt es viele, so z. B. Diebstahl, Raub, Betrug beim Kaufen und beim Verkaufen, Grausamkeit gegenüber den Armen und dergleichen mehr. Das Gegenmittel besteht darin, sich in der Tugend der Freigebigkeit zu üben, indem man bedenkt, dass wir in diesem irdischen Leben Pilger sind, die zu Fuß unterwegs sind, und dass es darum von großen Nutzen ist, sich nicht mit Besitz zu beladen, sondern ihn lieber mit den Reisegefährten zu teilen. Sie tragen ihn dann für uns in die Heimat. So kommen wir selbst auf unserer Reise schneller voran, weil wir weniger zu tragen haben.
S: Und was ist die Unkeuschheit? Welche Sünden bringt sie hervor, und welches Gegenmittel gibt es dafür?
L: Die Unkeuschheit ist eine ungeordnete Neigung zu fleischlichen Genüssen und Freuden. Sünden, die daraus entstehen, sind Verblendung, Verwegenheit und Unbeständigkeit, und darüberhinaus Ehebruch, Unzucht, unanständige Reden und alles mögliche andere Schmutzige. Das Gegenmittel besteht darin, sich in Fasten und Gebet zu üben und schlechte Gesellschaft zu fliehen. Dies sind nämlich die Mittel, um die Keuschheit zu bewahren. Vor allem darf man nie auf sich selbst vertrauen, auch nicht auf die eigene Tugend oder Frömmigkeit, sondern muss sich von der Gefahr fern halten und sorgfältig über seine Sinne und seine Gedanken wachen. Dabei soll man sich vor Augen halten, dass ein Samson, der so stark war, ein Salomo, der so weise war, und ein David, der so fromm war, von diesem Laster überlistet worden sind und in eine große Verblendung geraten sind, ganz besonders Salomo, mit dem es soweit kam, dass er sogar alle Götzenbilder seiner Nebenfrauen anbetete.
S: Was ist Neid, welche Sünden bringt er hervor, und worin besteht das Gegenmittel?
L: Der Neid ist eine Sünde, die darin besteht, dass einem Menschen das Gute, was die anderen haben, missfällt. Er meint nämlich, dass dadurch seine eigene Größe angetastet wird. Insofern müsst ihr folgendes beachten. Wenn euch missfällt, dass ein anderer etwas Gutes hat, weil er es nicht verdient oder weil er schlecht damit umgeht, dann ist das keine Sünde. Ebenso ist es, wenn euch missfällt, dass ihr etwas Gutes noch nicht habt, was andere bereits besitzen, vor allem die Tugend, die Frömmigkeit und ähnliches. Auch das ist keine Sünde, ja man nennt das sogar einen heiligen und lobenswerten Neid. Wenn euch aber missfällt, dass ein anderer etwas Gutes hat, weil ihr denkt, dass er euch dadurch in den Schatten stellt, und ihr nicht wollt, dass er dieses Gute hat, damit er euch nicht gleichgestellt wird oder euch gar übertrifft, dann ist das eine Sünde des Neides. Der Neid bringt viele Sünden hervor, wie ungerechtes Urteil über andere, Freude darüber, wenn anderen Böses widerfährt, üble Nachrede und Verleumdung. Denn der Neidische ist bestrebt, den guten Ruf des Nächsten zu beein-trächtigen. Schließlich führt der Neid auch bisweilen zum Mord. So hat ja Kain seinen Bruder aus Neid getötet, und die Juden haben aus Neid den Tod des Herrn herbeigeführt. Das Gegenmittel besteht darin, sich in der Nächstenliebe zu üben und fortwährend daran zu denken, dass der Neid dem Neidischen selbst mehr schadet als dem Beneideten, weil der Neidische sich quält und innerlich verzehrt. Und oft kommt es vor, dass Gott gerade dadurch den Beneideten erhöht, wodurch ihn der Neidische herabsetzen wollte. So hat der Teufel aus Neid den Menschen um das irdische Paradies gebracht, und Gott hat dies zum Anlass genommen, um Christus auf die Erde zu senden und uns das himmlische Paradies zu schenken. Der Patriarch Josef wurde von seinen Brüdern aus Neid verkauft, und Gott hat dies zum Anlass genommen, alles so zu fügen, dass Josef der Herr seiner Brüder wurde. Der König Saul verfolgte David aus Neid, und Gott ließ Saul das Königtum verlieren und gab es David.
S: Was ist Völlerei? Welche Sünden entstehen aus ihr, und was für ein Mittel gibt es dagegen?
L: Völlerei ist ein ungeordnetes Begehren danach, zu essen und zu trinken.
Diese Ungeordnetheit zeigt sich darin, dass man mehr isst, als man verträgt, dass man sich um teure, auserlesene Speisen bemüht, dass man verbotene Speisen zu haben wünscht, wie z. B. Fleischspeisen am Freitag, dass man die Essenszeit nicht abwarten kann, besonders an Fasttagen, und schließlich darin, dass man das Essen zu gierig hinunterschlingt und sich den Bauch vollschlägt. Die Sünden, die aus der Völlerei entstehen, sind Trübung des Geistes, alberne Ausgelassenheit und Geschwätzigkeit. Sehr häufig entsteht aus Völlerei Unkeuschheit mit allen Sünden, die sie im Gefolge hat. Das Gegenmittel besteht darin, dass man sich mit großem Eifer um Mäßigkeit und Enthaltsamkeit bemüht, denn sie nützen sowohl der Seele als auch dem Leib. Von besonderem Nutzen ist es zu bedenken, dass eine solche Gaumenfreude nur eine kleinen Augenblick dauert, aber oft langandauernde Magenschmerzen, Kopfschmerzen und dergleichen hinterlässt.
S: Was ist Zorn? Welche Sünden entspringen aus ihm, und welches Mittel gegen den Zorn gibt es?
L: Der Zorn ist ein ungeordnetes Verlangen danach, sich zu rächen. Dabei müsst ihr aber wissen, dass ein gemäßigter und geordneter Zorn gut ist. Daher heißt es im Psalm: Zürnt, aber sündigt nicht.<ref> "Irascimini, et nolite peccare" (Ps 4, 5; "Zürnet ihr, so sündigt nicht"). </ref> Der heilige Basilius sagt, dass der Zorn wie ein Hund ist: Er ist brav, wenn er Feinde anbellt, aber nicht, wenn er auch Freunde verletzt.<ref> Basilius Magnus, Homilia X (Adversus eos qui irascuntur), 5, in: PG 31, 353-37Z: "Oportet enim, opinor, tanto studio virtutem amari, quanto odio oportet peccatum haberi. Quam in rem ira utilis est maxime; cum ut canis pastorem, ita ira rationem secuta, mitis permaneat, et morigera iuvantibus, possitque facile a ratione reduci: contra ad alienam tum vocem, tum faciem exasperetur, etiamsi utraque obsequiosa esse videatur. Sed si inclamet familiaris et amicus, pavet formidatque [ ... ] Nam qui talis fuerit, nunquam cum insidiantibus in gratiam ac concordiam reducetur, nullam unquam cum re ulla noxia amicitiam admittens, sed insidiosam voluptatem quasi lupum quemdam iugiter allatrans, dilaniansque. Haec est igitur irae utilitas iis, qui tractare eam ac moderari noverint" (366). "Denn ich glaube, man muß mit demselben Feuer die Tugend lieben, mit dem man die Sünde haßt. Dazu ist eben der Zorn behilflich, wenn er der Vernunft folgt wie der Hund dem Hirten, wenn er besänftigt und zutraulich bleibt gegen die, welche ihm nützen, und leicht von der Vernunft sich leiten läßt, dagegen bei fremder Stimme und fremdem Gesicht erregt wird, auch wenn sie ihm willfährig erscheinen, sich aber schmiegt, sobald sein Vertrauter und Freund ihm zuruft [ ... ] Ein solcher Mensch wird nie mit seinen (wirklichen) Feinden sich versöhnen und verbinden, nie eine üble Freundschaft unterhalten, sondern die feindliche Lust wie einen Wolf immer anbellen und zerfleischen. Solchen Nutzen ziehen also die aus dem Zorne, die ihn zu handhaben wissen" (BKV2 47, 285). </ref> Ein ungeordneter Zorn zeigt sich in dreierlei. Erstens darin, dass man an jemandem Rache üben will, der keine Strafe verdient hat und einen gar nicht beleidigt hat. Zweitens darin, dass man sich auf eigene Faust rächen will. Das Recht, an den Übeltätern Rache zu nehmen und sie zu strafen, steht nämlich allein der Obrigkeit zu, d. h. dem Fürsten bzw. den örtlichen Justizbehörden. Und weil Gott der oberste Herrscher über alle ist, darum sagt er, dass es vor allem seine Sache ist, Rache zu nehmen.<ref> "Non vosmetipsos defendentes carissimi, sed date locum irae. Scriptum est enim: Mihi vindicta: ego retribuam, dicit Dominus" (Röm 12, 19; "Rächet euch selber nicht, Geliebteste, sondern gebet dem Zorne [Gottes] Raum; denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr"). </ref> Drittens zeigt sich der ungeordnete Zorn darin, dass man Rache üben will aus Hass, nicht aus Eifer für die Gerechtigkeit, und darin, dass man dabei in Art und Weise und anderem das rechte Maß überschreitet. Sünden, die aus dem ungeordneten Zorn hervorgehen, sind Streitereien, verletzende Worte, Misshandlungen sowie ungebührliches Verhalten, als ob man den Verstand verloren hätte. Der ungeordnete Zorn ähnelt nämlich dem Wahnsinn. Das Gegenmittel besteht darin, sich in den Tugenden der Sanftmut und der Geduld zu üben und sich dabei das Beispiel, das uns die Heiligen und Christus selbst gegeben haben, vor Augen zu halten. Indem sie alles geduldig ertragen und gelitten haben, haben sie schließlich viel großartiger triumphiert als die weltlich gesinnten Menschen, denen es gelingt, sich an ihren Feinden zu rächen.
S: Was ist Trägheit? Welche Sünden bringt sie hervor, und was für ein Gegenmittel gibt es?
L: Trägheit (lateinisch "acedia", ein Wort, das ursprünglich aus dem Griechischen stammt) bedeutet hier Überdruss, Widerwillen, Unlust. Die betreffende Hauptsünde liegt dann vor, wenn es einen anwidert, das Gute zu tun, und es einem lästig ist und man es satt hat, sich den Geboten Gottes zu unterwerfen und auf dem Weg der Tugend voranzuschreiten. Sünden, die daraus hervorgehen, sind die Missachtung der Gebote, sich den Lastern überlassen, daran verzweifeln, dass man überhaupt Gutes tun kann, Hass und heimlicher Groll gegen diejenigen, die einen drängen, die Sünde aufzugeben und wieder den rechten Weg einzuschlagen. Das Mittel gegen die Trägheit besteht darin, niemals müßig zu sein, geeignete Bücher zu lesen und sich den reichen Lohn vor Augen zu halten, den Gott denen verspricht, die seine Gebote gewissenhaft befolgen, sowie die ewige, unerträgliche Strafe, die die Nachlässigen erwartet.
Kapitel XX: Die Sünden gegen den Heiligen Geist
S: Wieviele Sünden gegen den Heiligen Geist gibt es und welche sind es?
L: Es sind sechs: Verzweiflung am Heil, Anmaßung, ohne Verdienste gerettet zu werden, Bekämpfung der erkannten Wahrheit, Neid auf die Gnade anderer, Verstockung in den Sünden und Unbußfertigkeit bis zuletzt.
S: Warum heißen sie Sünden gegen den Heiligen Geist?
L: Weil sie aus reiner Bosheit begangen werden, am meisten die dritte, die noch eigentlicher als alle anderen eine Sünde gegen den Heiligen Geist ist, nämlich wenn jemand die Wahrheit kennt und trotzdem hartnäckig widerspricht und beweisen will, dass sie unwahr ist. Die Sünde aus Bosheit wird eine Sünde gegen den Heiligen Geist genannt, weil dem Heiligen Geist die Güte als etwas ihm besonders Eigenes zuerkannt wird, die der Bosheit entgegengesetzt ist. Ebenso nennt man die Sünde aus Unwissenheit eine Sünde gegen den Sohn, dem die Weisheit zuerkannt wird und die Sünde aus Schwäche eine Sünde gegen den Vater, dem die Macht zuerkannt wird.
S: Was ist das Besondere an diesen Sünden?
L: Das Besondere daran ist, dass sie weder in dieser Welt noch im Jenseits vergeben werden, wie uns der Herr im Evangelium mahnt.<ref> "Ideo dico vobis: Omne peccatum, et blasphemia remittetur hominibus, spiritus autem blasphemia non remittetur. Et quicumque dixerit verbum contra filium hominis, remittetur ei: qui autem dixerit contra Spiritum sanctum, non remittetur ei neque in hoc saeculo, neque in futuro" (Mt 12, 31-32; "Darum sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen nachgelassen; aber die Lästerung wider den [heiligen] Geist wird nicht nachgelassen werden. Und wer ein Wort wider des Menschen Sohn redet, dem wird vergeben werden; wer aber wider den Heiligen Geist redet, dem wird weder in dieser, noch in der zukünftigen Welt vergeben werden"). </ref> Das ist allerdings so zu verstehen, dass es schwer ist, dafür Vergebung zu erlangen. Es ist nämlich sehr schwierig und kommt nur sehr selten vor, dass diejenigen, die in diese Sünden fallen, zu wirklicher Buße gelangen. Es ist ähnlich wie wenn wir sagen, dass eine Krankheit unheilbar ist. Wir wollen damit ja nicht sagen, dass es absolut unmöglich ist, sie zu heilen, sondern nur, dass man davon nur sehr selten wieder gesund wird, normalerweise überhaupt nicht.
Kapitel XXI: Die himmelschreienden Sünden
S: Wieviele himmelschreiende Sünden gibt es und welche sind es?
L: Es sind vier: vorsätzliche Tötung,<ref> "Dixitque Cain ad Abel fratrem suum: Egrediamur foras. Cumque essent in agro, consurrexit Cain adversus fratrem suum Abel, et interfecit eum. Et ait Dominus ad Cain: Ubi est Abel frater tuus? Qui respondit: Nescio: Num custos fratris mei sum ego? Dixitque ad eum: Quid fecisti? vox sanguinis fratris tui clamat ad me de terra" (Gen 4, 8-10; "Und Kain sagte zu Abel, seinem Bruder: Laß uns hinausgehen! Und als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und erschlug ihn. Und der Herr sprach zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Und er sprach zu ihm: Was hast du getan? Die Stimme von deines Bruders Blut schreiet auf zu mir von der Erde"). </ref> widernatürliche fleischliche Sünde,<ref> "Dixit itaque Dominus: Clamor Sodomorum et Gomorrhae multiplicatus est, et peccatum eorum aggravatum est nimis" (Gen 18, 20; "Der Herr sprach also: Das Geschrei von Sodoma und Gomorrha hat sich gemehret, und ihre Sünde ist sehr schwer geworden"). </ref> Unterdrückung der Armen, besonders der Waisen und Witwen,<ref> "Viduae et pupillo non nocebitis. Si laeseritis eos, vociferabuntur ad me, et ego audiam clamorem eorum: et indignabitur furor meus, percutiamque vos gladio, et erunt uxores vestrae viduae, et filii vestri pupilli" (Ex 22, 22-24; "Witwen und Waisen sollt ihr nicht wehe tun; wenn ihr ihnen aber wehe tuet, werden sie zu mir schreien, und ich werde ihr Geschrei hören, und mein Zorn wird ergrimmen, und ich werde euch mit dem Schwerte schlagen, und eure Weiber werden Witwen sein und eure Kinder Waisen"). </ref> und dem Arbeiter den Lohn vorzuenthalten.<ref> "Ecce merces operariorum, qui messuerunt regiones vestras, quae fraudata est a vobis, clamat: et clamor eorum in aures Domini sabbaoth introivit" (Jak 5, 4; "Siehe, der Lohn der Arbeiter, die eure Felder eingeernet haben, welcher von euch vorenthalten worden, schreiet; und ihr Geschrei ist zu den Ohren es Herrn der Heerscharen gekommen"). </ref>
S: Warum heißen sie "himmelschreiend"?
L: Weil die Ungerechtigkeit dieser Sünden so offensichtlich ist, dass man sie weder zudecken noch sonst in irgendeiner Weise verbergen kann.
Kapitel XXII: Die vier letzten Dinge
S: Nennen Sie mir bitte ein umfassendes Hilfsmittel, um die Sünde fliehen zu können.
L: Der Weise sagt: Denke an die letzten Dinge, und du wirst niemals sündigen.<ref> "In omnibus operibus tuis memo rare novissima tua, et in aeternum non peccabis" (Sir 7, 40; "Bei allem, was du tust, gedenke an dein Ende, so wirst du in Ewigkeit nicht sündigen"). </ref> Vier letzte Dinge gibt es: Tod, Allgemeines Gericht, Hölle und Paradies.
S: Warum heißen diese vier Dinge "die letzten"?
L: Weil der Tod das Ende des Lebens ist und das letzte, was uns in dieser Welt unvermeidlich zustoßen wird. Das Endgericht ist das letzte von allen Gerichten, die je erfolgen werden; deshalb gibt es dagegen dann keinerlei Berufung mehr. Die Hölle ist das letzte Übel, das die Übeltäter bekommen werden, und in diesem Zustand müssen sie für immer bleiben, ohne ihn je ändern zu können. Das Paradies ist das letzte Gut, das die Guten bekommen werden, und sie werden es nie mehr verlieren.
S: Ich hätte von Ihnen gern einige Anregungen, wie ich über diese letzten Dinge nachdenken kann, denn wenn ich mich oft an sie erinnere, werde ich nie mehr sündigen, wie der von Ihnen zitierte Weise sagt.
L: Was den Tod angeht, könnt ihr diese vier Punkte bedenken: Erstens, dass der Tod unweigerlich jeden treffen wird und niemand ihm entfliehen kann. Zweitens, dass sein Zeitpunkt ungewiss ist und viele dann sterben, wenn sie am wenigsten daran denken. Drittens, dass es im Tod mit allen Plänen dieses Lebens aus ist und man dann die Nichtigkeit dieser Welt erkennen wird. Viertens, dass jeder angesichts des Todes das Böse, das er getan hat, bereut und ebenso das Gute, das er nicht getan hat, und es deshalb eine große Torheit ist, etwas zu tun, was wir einmal bereuen werden.
Was das Gericht angeht, könnt ihr diese vier Punkte betrachten: Erstens, dass es bei diesem Gericht um etwas außerordentlich wichtiges gehen wird, nämlich um das größte Gut oder das größte Übel. Zweitens, dass es vom obersten Richter gehalten wird, der alles weiß und dem gegenüber sich niemand verteidigen kann. Drittens, dass es vor den Augen der ganzen Welt geschehen wird und niemand sich verstecken kann. Viertens wird es keinerlei Hoffnung geben, dem Urteilsspruch oder der Vollstreckung des Urteils durch die göttliche Gerechtigkeit zu entgehen.
Was die Hölle angeht, so bedenkt, dass sie breit, lang, hoch und tief ist: breit, weil sie alle nur denkbaren Strafen enthält; lang, weil diese Strafen ewig sind; hoch, weil sie alle in höchstem Grad schmerzlich sind; tief, weil sie reine Strafen sind ohne jegliche Beimischung von Trost.
Was das Paradies angeht, so bedenkt, dass es ebenfalls breit ist, weil es alle nur denkbaren Güter enthält, noch mehr als die, die wir uns ausdenken oder ersehnen können; dass es lang ist, weil alle diese Güter ewig sind; dass es hoch ist, weil es die höchsten und edelsten Güter sind; dass es tief ist, weil es reine Güter ohne jegliche Beimischung von Übel sind. Hier könnt ihr noch anfügen, dass die Güter des irdischen Lebens keine dieser vier Eigenschaften besitzen, denn sie sind gering an der Zahl, kurz, klein und allzeit mit Sorgen und Ängsten vermischt. Ebenso sind die Übel dieser Welt gering an der Zahl, kurz, klein und allzeit vermischt mit irgendeinem Trost. Daraus könnt ihr schließen, dass all jene wirklich den Verstand verloren haben, die aus Liebe zu den Gütern dieses irdischen Lebens und aus Furcht vor den gegenwärtigen Bedrängnissen die zukünftigen Güter verlieren und in die zukünftigen Übel stürzen.
Allgemeine Anmerkungen zu den Quellen des "Großen Katechismus"
1. Der Text ist übersetzt nach: Robertus Bellarminus, Dichiarazione più copiosa della dottrina cristiana. Composta in forma di dialogo, in: Opera omnia. Hg. von Justin Févre. 12 Bde., Paris 1874, XII, 283-337 (= 00), sowie Roberto Bellarmino, Copiosa dichiarazione della dottrina cristiana. Composta per ordine di N. S. Papa Clemente VI!I., Mantua 1763. Beide Ausgaben fügen noch einige Gebete oder Hinweise zum Empfang der Kommunion an. In Zweifelsfällen wurde das Autograph konsultiert.
2. Einige Hinweise auf Quellen wurden eingefügt, die im Autograph Bellarmins enthalten sind, aber in den Druckausgaben fehlen.
3. Der hl. Robert Bellarmin zitiert die Heilige Schrift nach der Vulgata. Alle Stellen sind darum im entsprechenden lateinischen Wortlaut sowie mit Hilfe folgender Vulgata-Übersetzungen deutsch wiedergegeben:
- Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Aus der Vulgata mit Bezug auf den Grundtext übersetzt von J. F. von Allioli. Text der vom apostolischen Stuhle approbierten Ausgabe, Wien 1963.
- Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Mit dem Urtexte der Vulgata. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von A. Arndt. 3 Bände, Regensburg - Rom - New York - Cincinnati 1907. Erster Band (für das Buch Tobias). Zweiter Band (für Weisheit und Jesus Sirach).
4. Auch griechische Originale wurden lateinisch angeführt, da Bellarmin trotz seiner ausgezeichneten Griechischkenntnisse jeweils mit der lateinischen Version arbeitete.
5. Übersetzungen, die nicht belegt werden, stammen von eigener Hand.
6. Alle Abkürzungen entsprechen: Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von M. Buchberger. Hg. von W. Kasper. 3., völlig neubearbeitete Auflage. Abkürzungsverzeichnis, Freiburg 1993.
7. Der hl. Robert Bellarmin stellt in seinem Großen Katechismus die Lehre der Kirche dar, wie sie bereits in der Bibel enthalten ist und wie sie von den Kirchenvätern, den Konzilien und den Theologen im einzelnen geklärt wurde. Aus der neueren Lehre und Praxis der Kirche lassen sich noch einige Hinweise geben:
Zu Kapitel III, Fünfter Artikel des Glaubensbekenntnisses ("hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten"): Ohne die Heilsnotwendigkeit der Taufe zu schmälern, sagt der Katechismus der katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, München 2003, auch: "Was die ohne Taufe verstorbenen Kinder betrifft, kann die Kirche sie nur der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen, wie sie dies im entsprechenden Begräbnisritus tut. Das große Erbarmen Gottes, ,der will, daß alle Menschen gerettet werden' (1 Tim 2,4), und die zärtliche Liebe Jesu zu den Kindern, die ihn sagen läßt: "Laßt die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran!" (Mk 10,14), berechtigen uns zu der Hoffnung, daß es für die ohne Taufe gestorbenen Kinder einen Heilsweg gibt. Die Kirche bittet die Eltern eindringlich, die Kinder nicht daran zu hindern, durch das Geschenk der heiligen Taufe zu Christus zu kommen" (Nr. 1261).
Zu Kapitel III, Neunter Artikel des Glaubensbekenntnisses ("die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen"):
An dieser Stelle und an vielen anderen seiner Schriften geht Robert Bellarmin von der Bindung des Heils an die katholische Kirche aus, ohne die Frage des Heils außerhalb der Kirche ausführlich zu erwägen. Die heutige Lehre der katholischen Kirche findet sich im "Katechismus der katholischen Kirche":
",Außerhalb der Kirche kein Heil'
Wie ist diese von den Kirchenvätern oft wiederholte Aussage zu verstehen? Positiv formuliert, besagt sie, daß alles Heil durch die Kirche, die sein Leib ist, von Christus dem Haupt herkommt:
- ,Gestützt auf die Heilige Schrift und die Überlieferung lehrt (das Konzil), daß diese pilgernde Kirche zum Heile notwendig sei. Der eine Christus nämlich ist Mittler und Weg zum Heil, der in seinem Leib, der die Kirche ist, uns gegenwärtig wird; indem er aber selbst mit ausdrücklichen Worten die Notwendigkeit des Glaubens und der Taufe betont hat, hat er zugleich die Notwendigkeit der Kirche, in die die Menschen durch die Taufe wie durch eine Tür eintreten, bekräftigt. Darum können jene Menschen nicht gerettet werden, die sehr wohl wissen, daß die katholische Kirche von Gott durch Jesus Christus als eine notwendige gegründet wurde, jedoch nicht in sie eintreten oder in ihr ausharren wollten' (Lumen Gentium 14).
Diese Feststellung bezieht sich nicht auf solche, die ohne ihre Schuld Christus und seine Kirche nicht kennen:
- ,Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott jedoch aufrichtigen Herzens sucht und seinen durch den Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in den Taten zu erfüllen versucht, kann das ewige Heil erlangen' (Lumen Gentium 16).
,Wenngleich Gott Menschen, die das Evangelium ohne ihre Schuld nicht kennen, auf Wegen, die er weiß, zum Glauben führen kann, ohne den es ,unmöglich' ist, ihm ,zu gefallen' (Hebr 11,6), so liegt doch auf der Kirche die Notwendigkeit und zugleich das heilige Recht der Verkündigung der Frohbotschaft" (Ad Gentes 7) an alle Menschen' (Nrn. 846-848).
Zu Kapitel VI, Erklärung des fünften Gebots ("Nicht töten!"):
Der "Katechismus der katholischen Kirche" sieht die Notwendigkeit der Todesstrafe in der heutigen Gesellschaft kaum mehr gegeben: "Unter der Voraussetzung, daß die Identität und die Verantwortung des Schuldigen mit ganzer Sicherheit feststeht, schließt die überlieferte Lehre der Kirche den Rückgriff auf die Todesstrafe nicht aus, wenn dies der einzig gangbare Weg wäre, um das Leben von Menschen wirksam gegen einen ungerechten Angreifer zu verteidigen. Wenn aber unblutige Mittel hinreichen, um die Sicherheit der Personen gegen den Angreifer zu verteidigen und zu schützen, hat sich die Autorität an diese Mittel zu halten, denn sie entsprechen besser den konkreten Bedingungen des Gemeinwohls und sind der Menschenwürde angemessener. Infolge der Möglichkeiten, über die der Staat verfügt, um das Verbrechen wirksam zu unterdrücken und den Täter unschädlich zu machen, ohne ihm endgültig die Möglichkeit der Besserung zu nehmen, sind jedoch heute die Fälle, in denen die Beseitigung des Schuldigen absolut notwendig ist, ,schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben' (Evangelium Vitae 56)" (Nr. 2267).
Zu Kapitel VII (Kirchengebote):
Die Kirchengebote ("Weisungen der Kirche") fasst der "Katechismus der katholischen Kirche" mit folgenden Worten zusammen:
1. "Du sollst an Sonn- und Feiertagen der heiligen Messe andächtig beiwohnen."
2. "Du sollst deine Sünden jährlich wenigstens einmal beichten."
3. "Du sollst wenigstens zur österlichen Zeit sowie in Todesgefahr die heilige Kommunion empfangen."
4. "Du sollst die gebotenen Feiertage halten."
5. "Du sollst die gebotenen Fasttage halten.
6. Schließlich fügt er hinzu: "Die Gläubigen sind auch verpflichtet, ihren Möglichkeiten entsprechend zu den materiellen Bedürfnissen der Kirche beizutragen" (Nr. Z041).
Zu den gebotenen Fasttagen im 5. Kirchengebot führt das kirchliche Recht aus: "Bußtage und Bußzeiten für die ganze Kirche sind alle Freitage des ganzen Jahres und die österliche Bußzeit. - Abstinenz von Fleischspeisen oder von einer anderen Speise entsprechend den Vorschriften der Bischofskonferenz sind zu halten an allen Freitagen des Jahres, wenn nicht auf einen Freitag ein Hochfest fällt; Abstinenz aber und Fasten ist zu halten an Aschermittwoch und Karfreitag. - Das Abstinenzgebot verpflichtet alle, die das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben; das Fastengebot verpflichtet alle Volljährigen bis zum Beginn des sechszigsten Lebensjahres [ ... ]" (CIC/1983 can. 1250-1252).
Zu Kapitel IX, Die Eucharistie:
Die heutige Regelung der eucharistischen Nüchternheit legt CIC/1983 can. 919 § 1 vor:
- "Wer die heiligste Eucharistie empfangen will, hat sich innerhalb eines Zeitraumes von wenigstens einer Stunde vor der heiligen Kommunion aller Speisen und Getränke mit alleiniger Ausnahme von Wasser und Arznei zu enthalten."
Anmerkungen
<references />
Literatur
- Robert Bellarmin: Der Große Katechismus des heiligen Bellarmin (Reihe: Kleine historisch-katechetische Bibliothek), Übersetzer: Raymund Schlecht (1811-1891), Verlagsbuchhandlung Sabat Kulmbach 2023 (212 Seiten, 1. Auflage, Hardcover, ISBN 978-3-943506-16-7).