Augustinus von Hippo: Vier Buecher ueber die christliche Lehre
Vier Bücher über die christliche Lehre
Quelle: Vier Bücher über die christliche Lehre (De doctrina christiana) In: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften / aus dem Lateinischen übers. (Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften Bd. 8; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 49), Joseph Kösel Verlag und Friedrich Pustet Verlag Kempten-München 1925, S. 6-225; . Unter der Mitarbeit von: P. Beda Szukics
Inhaltsverzeichnis
- 1 Vorwort des hl. Augustinus: Er rechtfertigt die Abfassung dieses Werkes
- 2 1. Buch
- 2.1 1. Kapitel: Bei der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift kann das schwierige, aber verdienstvolle Werk der Auffindung und Darstellung des Sinnes nur mit Gottes Hilfe beendet werden
- 2.2 2. Kapitel: Begriff der Sachen und Zeichen
- 2.3 3. Kapitel: Einteilung der Sachen
- 2.4 4. Kapitel: Der Begriff des Genießens und Gebrauchens
- 2.5 5. Kapitel: Höchster Gegenstand des Genusses ist der dreieinige Gott
- 2.6 6. und 7. Kapitel: Gott ist unaussprechlich; alle Religionen stellen sich Gott als das höchste und beste Wesen vor
- 2.7 8. und 9. Kapitel: Gott als die unveränderliche Weisheit verdient selbstverständlich den Vorrang vor allen Sachen
- 2.8 10. Kapitel: Nur die reine Seele kann die ewige Weisheit genießen
- 2.9 11. und 12. Kapitel: Das Vorbild der Seelenreinigung ist die menschgewordene Weisheit Gottes
- 2.10 13. Kapitel: Durch verschiedene Mittel heilte Gottes Weisheit die Menschen
- 2.11 14. Kapitel: Christi Auferstehung und Himmelfahrt sind Stützen des Glaubens, der durch den Gedanken an die einstige Belohnung mächtig angeregt wird
- 2.12 15. Kapitel: Die Kirche, seinen mystischen Leib, reinigt Christus durch die Arznei der Trübsal
- 2.13 16. Kapitel: Christus öffnete uns durch die Vergebung der Sünden den Weg ins Vaterland
- 2.14 17. Kapitel: Von der Schlüsselgewalt der Kirche
- 2.15 18. und 19. Kapitel: Tod und Auferstehung des Leibes und der Seele für eine Wiedergeburt zum Leben oder zur Strafe
- 2.16 20. und 21. Kapitel: Gott allein darf man genießen
- 2.17 22. Kapitel: Was der Mensch alles lieben muß
- 2.18 23. Kapitel: Die verkehrte Selbstliebe
- 2.19 24. Kapitel : Niemand haßt sein Fleisch, nicht einmal diejenigen, die es züchtigen
- 2.20 25. Kapitel: Es heißt noch nicht seinen Leib hassen, wenn man etwas mehr liebt als ihn
- 2.21 26. Kapitel: Es gibt ein positives Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten und sogar zu sich selbst
- 2.22 27. und 28. Kapitel: Von der Ordnung der Liebe
- 2.23 29. Kapitel: Wir müssen wünschen, daß alle Gott lieben
- 2.24 30. Kapitel: Unsere Nächsten sind alle Menschen und selbst die Engel
- 2.25 31. Kapitel: Gott genießt uns nicht, sondern er gebraucht uns
- 2.26 32. Kapitel: Wie Gott den Menschen gebraucht
- 2.27 33. Kapitel: Wie der Mensch genießen soll
- 2.28 34. Kapitel: Der Weg zu Gott ist Christus
- 2.29 35. Kapitel: Die Fülle und das Ziel des Gesetzes ist die Gottes- und Nächstenliebe
- 2.30 36. und 37. Kapitel: Auch eine an sich fehlerhafte Schrifterklärung ist nicht lügnerisch; nur muß sie die Liebe auferbauen
- 2.31 38. Kapitel : Die Liebe bleibt immer
- 2.32 39. Kapitel: Die Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe können den Besitz der Heiligen Schrift ersetzen
- 2.33 40. Kapitel: Die rechten Leser der Heiligen Schrift
- 3 2. Buch
- 3.1 1. Kapitel: Begriff und Einteilung der Zeichen
- 3.2 2. Kapitel: Angabe des in diesem Buche behandelten Themas
- 3.3 3. Kapitel: Die vornehmlichsten Zeichen sind die Worte
- 3.4 4. Kapitel: Von dem Ursprung der Schrift
- 3.5 5. Kapitel: Von der Verbreitung der Heiligen Schrift unter die Leser aller Zungen
- 3.6 6. Kapitel: Auch die Dunkelheit gewisser Stellen der Heiligen Schrift hat ihre Bedeutung
- 3.7 7. Kapitel: Zum Gipfel der Weisheit steigt man auf sieben Tugendstufen empor
- 3.8 8. Kapitel: Der Kanon der Heiligen Schrift
- 3.9 9. Kapitel: Vom Schriftstudium
- 3.10 10. Kapitel: Unbekannte und zweideutige Zeichen verhindern oft das Verständnis der Heiligen Schrift
- 3.11 11. Kapitel: Grundvoraussetzung zum Verständnis dunkler Stellen in der Heiligen Schrift ist die Kenntnis vor allem des Hebräischen und Griechischen
- 3.12 12. Kapitel: Voneinander verschiedene, wenn auch nicht gerade falsche Übersetzungen des Urtextes sind nicht ohne Wert
- 3.13 13. Kapitel: Eine vollständig wortgetreue Übertragung des Urtextes macht meistens das Verständnis nicht unmöglich, erschwert es aber vielfach in bedeutendem Grade
- 3.14 14. Kapitel: Verhaltungsmaßregeln beim Vorkommen unbekannter Wörter oder unbekannter Redewendungen
- 3.15 15. Kapitel: Die zwei hauptsächlichsten Übersetzungen des Alten Testamentes sind die lateinische Itala und die griechische Septuaginta
- 3.16 16. Kapitel: Wie man zum Verständnis der in vielen Stellen der Heiligen Schrift verborgenen Symbolik gelangen kann
- 3.17 17. Kapitel: Ursprung der Fabel von den neun Musen
- 3.18 18. Kapitel: Was an den Lehren der Heiden Gutes ist, braucht man nicht zu verachten
- 3.19 19. Kapitel: Welche Art von Lehren man bei den Heiden finden kann
- 3.20 20. Kapitel: Verschiedene Arten heidnischen Aberglaubens
- 3.21 21. Kapitel: Von dem Aberglauben der Astrologen (mathematici)
- 3.22 22. Kapitel: Aus der Konstellation der Gestirne lassen sich die Geschicke der Menschen unmöglich erkennen
- 3.23 23. Kapitel: Beim Aberglauben ist oft Teufelsspuk mit im Spiel. — Vom Verhalten des Christen gegenüber dem Aberglauben
- 3.24 24. Kapitel: Den zu abergläubischen Diensten benützten Sachen wohnt an sich keine geheime natürliche Kraft inne; nur die persönliche Torheit der Menschen legt ihnen jeweils solche Kräfte bei
- 3.25 25. Kapitel: Einteilung der nicht abergläubischen menschlichen Dinge in solche, die überflüssig, und in solche, die zweckmäßig und notwendig sind
- 3.26 26. Kapitel: Welche menschliche Einrichtungen man fliehen, und welche man annehmen soll
- 3.27 27. Kapitel: Es gibt aber noch Wissenstatsachen, die nicht von den Menschen selbst erfunden worden sind
- 3.28 28. Kapitel: Der Nutzen der Geschichtswissenschaft
- 3.29 29. Kapitel: Der Nutzen der Naturwissenschaften und der Astronomie
- 3.30 30. Kapitel: Der Nutzen einiger anderer menschlicher Fertigkeiten
- 3.31 31. Kapitel: Der Wert der kunstgemäßen Dialektik
- 3.32 32. Kapitel: Die in einem logischen Schluß liegende Wahrheit hat ihren Grund in sich selbst, aber nicht in menschlicher Einrichtung
- 3.33 33. Kapitel: Wenn aber auch die logischen Schlüsse objektiv wahr sind, so ist es doch möglich, daß die Menschen subjektiv falsche Folgerungen ziehen
- 3.34 34. Kapitel: Logische Schulung und wirkliche Kenntnis der Wahrheit müssen nicht unbedingt beisammen sein
- 3.35 35. Kapitel: Der objektive und subjektive Wahrheitsgehalt der Definition, Division und Partition
- 3.36 36. Kapitel: Der objektive und subjektive Wahrheitswert der Rhetorik
- 3.37 37. Kapitel: Der Wert der Rhetorik und Dialektik
- 3.38 38. Kapitel: Die Wissenschaft der Mathematik stammt nicht aus menschlicher Erfindung, sondern von der Natur der Dinge und wurde von den Menschen nur aufgefunden
- 3.39 39. Kapitel : Die Stellung der Christen zu den oben angeführten Wissenschaften. — Literarische Hilfsmittel zu einem gedeihlichen Studium der heiligen Schriften
- 3.40 40. Kapitel : Von dem, was die Heiden Wahres besitzen, darf auch der Christ ruhig Gebrauch machen
- 3.41 41. Kapitel: Die zu einem gedeihlichen Schriftstudium erforderliche Geistesverfassung
- 3.42 42. Kapitel: Vergleich der heiligen Schriften mit der Profanliteratur
- 4 3. Buch
- 4.1 1. Kapitel: Angabe des in diesem Buche zu behandelnden Themas
- 4.2 2. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auffassung einer Schriftstelle können durch die Wortabteilung des Textes entstehen
- 4.3 3. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auflassung einer Schriftstelle können auch durch eine verschiedene Betonung des Textes entstehen
- 4.4 4. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auffassung einer Schriftstelle können auch noch durch die Stellung der einzelnen Worte des Textes entstehen
- 4.5 5. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auffassung einer Schriftstelle entstehen auch dadurch, daß man in übertragenem Sinn gebrauchte Ausdrücke nicht als solche erkennt
- 4.6 6. Kapitel: Die Juden standen unter dem Banne einer allzu wörtlichen Schriftauslegung; und doch war ihr Grundgedanke noch gut, weil sie alles auf den einen Gott bezogen
- 4.7 7. Kapitel: Im Gegensatz zu den Juden konnten sich die Heiden nicht von einem verderblichen, buchstäblichen Festhalten an den Zeichen losmachen und verfielen so in Götzendienst
- 4.8 8. Kapitel: Von dem Verhältnis der Juden und der Heiden zur christlichen Freiheit
- 4.9 9. Kapitel: Wer befindet sich unter der Knechtschaft der Zeichen und wer nicht?
- 4.10 10. Kapitel: Die Kennzeichen der figürlichen Redeweise. — Die Grundsätze, welche die Heilige Schrift über das sittlich Gute und Schlechte aufstellt, lassen keine bloß figürliche Deutung zu
- 4.11 11. Kapitel: Es kommen in der Heiligen Schrift manche Ausdrücke über Gott und die Heiligen vor, die man für hart und grausam halten könnte
- 4.12 12. Kapitel: Auch Reden und Taten von Gott und den Heiligen werden in der Heiligen Schrift überliefert, die ein Unerfahrener für schändlich halten könnte
- 4.13 13. Kapitel: Bei der Beurteilung von Taten hat man sich nach den Umständen zu richten, unter denen sie geschehen sind
- 4.14 14. Kapitel: Es gibt nicht bloß eine relative, sondern auch eine absolute Gerechtigkeit
- 4.15 15. Kapitel: Verhaltungsmaßregel bei figürlichen Ausdrücken
- 4.16 16. Kapitel: Es kommen in den heiligen Schriften manchmal befehlende Ausdrücke vor, die einen auf den ersten Blick verwirren könnten
- 4.17 17. Kapitel: Manche Befehle der heiligen Schriften sind deshalb verwirrend, weil sie keine allgemeine Gültigkeit haben
- 4.18 18. Kapitel: Manche Gebote der heiligen Schriften gelten nicht für alle Zeiten in gleicher Weise
- 4.19 19. Kapitel: Viele Menschen nehmen bloß deshalb Ärgernis an manchen Geboten der Heiligen Schrift, weil sie in allem ihre eigene Schlechtigkeit zum Maßstab nehmen
- 4.20 20. Kapitel: Viele Menschen können nicht an die Tugend biblischer Personen glauben, weil sie selbst deren nicht fähig wären
- 4.21 21. Kapitel: Selbst so große alttestamentliche Sünder wie David können nicht mit jedem beliebigen Sünder der Gegenwart auf die gleiche Stufe gestellt werden
- 4.22 22. Kapitel: Manchmal wird in den heiligen Schriften eine Tat der Gerechten gelobt, die unseren Sitten widerspricht
- 4.23 23. Kapitel: Auch wenn von den Sünden der Gerechten in den heiligen Schriften die Rede ist, so hat das einen tieferen Grund
- 4.24 24. Kapitel: Wichtig ist es, daß man sich überhaupt darüber klar ist, ob eine Stelle im wörtlichen oder im bildlichen Sinn aufgefaßt werden soll
- 4.25 25. Kapitel: Auch wo ein Ausdruck bildlich gefaßt werden muß, darf man nicht mechanisch in einer Deutung vorgehen
- 4.26 26. Kapitel: Dunkle Stellen in den heiligen Schriften sollen durch klarverständliche erklärt werden
- 4.27 27. Kapitel: Manche Schriftstellen lassen sich recht wohl auch in verschiedenem Sinne deuten
- 4.28 28. Kapitel: Erst wo die Erklärung einer Schriftstelle durch Parallelstellen der Heiligen Schrift nicht möglich ist, verlasse man sich auf das unsichere Vernunfturteil
- 4.29 29. Kapitel: Für eine gedeihliche Schrifterklärung ist auch eine Kenntnis der sogenannten rhetorischen Tropen notwendig
- 4.30 30. Kapitel: Das Werk des Tychonius ist zur Erklärung dunkler Schriftstellen zwar brauchbar, aber doch nicht ausreichend
- 4.31 31. Kapitel: Die erste Regel des Tychonius
- 4.32 32. Kapitel: Die zweite Regel des Tychonius
- 4.33 33. Kapitel: Die dritte Regel des Tychonius
- 4.34 34. Kapitel: Die vierte Regel des Tychonius
- 4.35 35. Kapitel: Die fünfte Regel des Tychonius
- 4.36 36. Kapitel: Die sechste Regel des Tychonius
- 4.37 37. Kapitel: Die siebte Regel des Tychonius
- 5 4. Buch
- 5.1 1. Kapitel: Das vorliegende Werk will keine systematische Rhetorik lehren
- 5.2 2. Kapitel: Der christliche Apologet soll sich jedoch der Rhetorik als eines sehr nützlichen Mittels bedienen
- 5.3 3. Kapitel: Soweit sich eine Beredsamkeit überhaupt schulmäßig erlernen läßt, soll dies in der Jugendzeit geschehen
- 5.4 4. Kapitel: Die nach den Zwecken verschiedene Methode des christlichen Lehrers
- 5.5 5. Kapitel: Für den christlichen Redner ist es von größerer Bedeutung, weise als beredt zu sprechen. Das Ideal ist aber die glückliche Mischung beider Fähigkeiten
- 5.6 6. Kapitel: Diese wünschenswerte Verbindung zwischen innerer Weisheit und äußerer beredter Darstellung ist aufs glücklichste von den Verfassern der heiligen Schriften erreicht
- 5.7 7. Kapitel: An einem Beispiel aus den Briefen des Apostels Paulus und aus dem Buche Amos wird die tatsächliche Verbindung zwischen weisem Inhalt und künstlerischer Form bei den heiligen Schriftstellen ausführlich nachgewiesen
- 5.8 8. Kapitel: Wenn es in den heiligen Schriften aus gewissen Gründen dunkle Stellen gibt, so dürfen deshalb doch die christlichen Schriftsteller nicht auch dunkel schreiben
- 5.9 9. Kapitel: Die Behandlung wirklich schwerverständlicher Dinge
- 5.10 10. Kapitel: Von der Klarheit, die in der Rede herrschen muß
- 5.11 11. Kapitel: Eine klare Ausdrucksweise braucht nicht anmutslos zu sein
- 5.12 12. Kapitel : Von der dreifachen Aufgabe des Redners, zu belehren, zu ergötzen und zu rühren
- 5.13 13. Kapitel: Die hervorragende Bedeutung der Rührung
- 5.14 14. Kapitel: Ein bloß anmutiger Stil kann bedenklich werden
- 5.15 15. Kapitel: Der christliche Redner muß sich nicht bloß durch Studium, sondern ebenso auch durch frommes Gebet auf seine Predigt vorbereiten
- 5.16 16. Kapitel: Der christliche Redner darf sich natürlich nicht bloß auf den Gnadenbeistand Gottes verlassen
- 5.17 17. Kapitel: Der Stil der Rede muß je nach ihrer dreifachen Aufgabe verschieden sein
- 5.18 18. Kapitel: Der christliche Redner muß seinen Stil seinem immer erhabenen Stoff anpassen
- 5.19 19. Kapitel: Der christliche Redner darf aber trotz seines erhabenen Stoffes nicht immer nur im erhabenen Stile sprechen
- 5.20 20. Kapitel: Proben aus den heiligen Schriften für die verschiedenen Stilgattungen
- 5.21 21. Kapitel: Stilproben aus den Kirchenlehrern
- 5.22 22. und 23. Kapitel: Von der Abwechslung in den einzelnen Stilgattungen: 22. Kap.
- 5.23 23. Kapitel
- 5.24 24. Kapitel: Die Wirkung des erhabenen Stiles
- 5.25 25. Kapitel: Die Verwendung des gemäßigten Stiles
- 5.26 26. Kapitel: Man darf nicht mit einer bestimmten Stilgattung ausschließlich ein bestimmtes der drei rhetorischen Ziele erreichen wollen
- 5.27 27. Kapitel: Das praktische Leben des Redners muß seinen theoretischen Forderungen entsprechen
- 5.28 28. Kapitel: Man muß viel mehr nach Wahrheit ah nach schönen Worten streben
- 5.29 29. Kapitel: Von der Benützung fremder Predigten
- 5.30 30. Kapitel: Der Redner muß ein Mann des Gebetes sein
- 5.31 31. Kapitel: Schluß
Vorwort des hl. Augustinus: Er rechtfertigt die Abfassung dieses Werkes
1. Es gibt gewisse Regeln, die man meines Erachtens einem, der sich mit Schriftstudium befaßt, nicht ohne Nutzen mitteilen kann. Man tut sich dann leichter, sowohl bei der Lektüre solcher Autoren, die den in den göttlichen Schriften ruhenden Wahrheitssinn bereits erschlossen haben, als auch dann, wenn man ihn andern seinerseits wieder erschließen soll. Diese Regeln nun will ich denen übermitteln, die sie kennen lernen wollen und sollen; es müßte schon sein, daß mir mein Herrgott das, was er mir beim Nachdenken über diesen Stoff einzugeben pflegt, jetzt vorenthält, wo ich es niederschreiben will. Bevor ich aber damit beginne, glaube ich denen eine Rechtfertigung schuldig zu sein, die mein Beginnen tadeln werden oder die es wenigstens dann tadeln würden, wenn ich sie nicht vorher beruhigte. Urteilen aber die einen oder andern auch nach meiner Rechtfertigung noch abfällig, so werden sie dann doch damit keinen Eindruck mehr auf andere machen und niemanden mehr von dem nützlichen Schriftstudium abbringen und zu einem Leben träger Unwissenheit verführen können, ein Versuch, der ihnen vielleicht gelänge, würden sie ihre Opfer ohne Schutz und Vorbereitung antreffen.
2. Es werden nämlich manche Leute mein Werk tadeln, weil sie die Regeln, die ich aufstellen will, einfach nicht verstehen. Andere wieder werden sie zwar verstehen, werden sie auch anwenden und an die göttlichen Schriften nun wirklich nach den Grundsätzen dieser Regeln herantreten wollen; aber außerstande, sie tatsächlich zu erschließen und ihre Gedanken darüber darzulegen, werden sie meine Arbeit für nutzlos halten, und da sie selbst dadurch nicht gefördert werden, so werden sie meinen, es könne nun überhaupt niemand gefördert werden. Eine dritte Gruppe von Tadlern S. 7bilden endlich jene Leute, die mit den göttlichen Schriften entweder wirklich gut umzugehen wissen oder dies wenigstens von sich meinen: ohne solche Beobachtungen, wie ich sie hier geben will, auch nur gelesen zu haben, wissen oder glauben sie sich im Besitze der Befähigung, die heiligen Bücher auszulegen. Solche Leute werden schreien, es brauche derlei Regeln überhaupt für niemanden, es könne vielmehr alles, was sich füglich aus dem Dunkel jener Schriften ans Licht bringen lasse, durch direkte Mitteilung von Seiten Gottes erfolgen.
3. All diesen Tadlern will ich in Kürze Rede und Antwort stehen: denen, die meine Schrift überhaupt nicht verstehen, sage ich nur, daß doch ich darob keinen Tadel verdiene, weil es ihnen am nötigen Verständnis hierfür fehlt. Das ist geradeso, als wenn ich ihnen beispielsweise den Mond im letzten oder im ersten Viertel oder ein anderes nur ganz wenig helles Gestirn, das sie gerne sehen möchten, mit ausgestrecktem Finger zeigte: hätten sie nun nicht die ausreichende Sehkraft, um auch nur meinen Finger zu sehen, so dürften sie ja auch darum nicht mir grollen. — Die andern aber, die zwar meine Regeln ganz gut verstehen, aber gleichwohl den verborgenen Sinn der göttlichen Schriften nicht zu begreifen vermögen, die sollen dafür halten, daß sie zwar meinen Finger sehen können, nicht aber die Gestirne, zu denen ich ihn emporstrecke, um sie ihnen zu zeigen. Diese zwei Gruppen von Leuten also mögen es aufgeben, mich zu tadeln; sie sollen sich vielmehr erst von Gott das Licht der Augen erflehen. Ich kann nämlich zwar einen Finger von mir bewegen, um ihnen etwas zu zeigen, aber ich kann ihnen nicht auch noch ihre Augen erleuchten, damit auch sie den Gegenstand, den ich ihnen zeigen will, oder wenigstens meinen Finger, mit dem ich zeige, sehen können.
4. Aber auch den Feuereifer derer muß ich ab kühlen, die sich voll freudigen Jubels über ihre von Gott erhaltene Gabe (des Schriftverständnisses) rühmen, ohne Zuhilfenahme solcher Regeln, wie ich sie im folgenden aufstellen will, die heiligen Bücher zu verstehen und auch S. 8erklären zu können und die deshalb glauben, ich hätte etwas Überflüssiges schreiben wollen. Solche Leute mögen sich immerhin mit Recht über eine so große Gottesgabe freuen, aber sie sollen doch daran denken, daß auch sie ihr Wissen nur durch mündliche und schriftliche Vermittlung überkommen haben. Deshalb braucht sich aber keiner durch den ägyptischen Mönch Antonius, einen heiligen und vollkommenen Mann, beschämt fühlen, der zwar keinen Buchstaben lesen konnte, der aber doch vom bloßen Anhören her die göttlichen Schriften auswendig gewußt und infolge seines klugen Nachdenkens darüber auch wirklich verstanden haben soll. Nicht beschämt fühlen brauchen sie sich ferner von einem ganz ungebildeten christlichen Sklaven, von dem uns in jüngster Zeit durchaus ernst zu nehmende und glaubwürdige Leute Nachricht gegeben haben: als dieser Sklave darum betete, es möge ihm doch die Kenntnis der Buchstaben geoffenbart werden, da lernte er ohne jede menschliche Beihilfe nach dreitägigem Beten diese Buchstaben so gründlich kennen, daß er ein ihm vorgelegtes Buch zum Staunen der Anwesenden fließend las. (5.) Hält jemand diese Erzählungen für falsch, so lasse ich mich darob nicht in einen heftigen Streit mit ihm ein. Denn da ich es mit Christen zu tun habe, die sich der Gabe erfreuen wollen, die heiligen Schriften ohne menschliche Hilfe zu verstehen, und die sich, wenn dies wirklich der Fall ist, damit tatsächlich eines wahren und großen Gutes erfreuen, so müssen sie das doch gewiß zugeben, daß ein jeder von uns schon in seiner ersten Kindheit seine Muttersprache nur durch gewohnheitsmäßiges Hören gelernt hat und daß er auch sonst jede Sprache, wie z. B. die griechische, hebräische oder irgendeine andere, in ähnlicher Weise wieder nur durch das Hören oder durch den Unterricht eines menschlichen Lehrers empfangen hat. Sollen wir also wohl all unsere Brüder dazu auffordern, ihre Kinder doch solche Dinge nicht zu lehren, weil die Apostel infolge der Ankunft des (Heiligen) Geistes, von dem sie erfüllt wurden, in einem einzigen Augenblick in den S. 9Sprachen aller Völker geredet haben? Oder soll sich ein jeder, dem so etwas nicht begegnete, darum für keinen Christen halten, oder muß er zweifeln, daß er den Heiligen Geist empfangen hat? Doch im Ernst: ein jeder lerne ohne Selbstüberschätzung, was nun einmal von Menschen erlernt werden muß; und wer andere lehrt, der gebe ohne Selbstüberhebung und ohne Neid wieder weiter, was er selbst empfangen hat. Denjenigen wollen wir nicht versuchen, an den wir glauben: es könnte sonst sein, daß wir, irregeleitet durch solche Schliche unseres Erbfeindes und durch eigene Verkehrtheit, entweder gar nicht mehr in die Kirche gehen wollen, um dort das Evangelium zu hören und kennen zu lernen, oder daß wir kein Buch (zu unserer Belehrung) lesen und keine Vorlesung oder Predigt eines Menschen mehr anhören wollen. Da müßten wir freilich darauf warten, im Körper oder unseres Körpers entkleidet, wie der Apostel sagt, in den dritten Himmel entrückt zu werden und dort geheimnisvolle Worte zu hören, wie sie kein Mensch aussprechen darf, oder dort den Herrn Jesus Christus zu sehen und lieber gleich von ihm selbst als von Menschen das Evangelium zu hören.
6. Wir wollen uns daher vor solchen höchst stolzen und gefährlichen Versuchungen in acht nehmen und lieber bedenken, daß sich selbst ein Apostel Paulus, der doch gewiß von einer göttlichen, himmlischen Stimme zu Boden geworfen und dann unterrichtet worden ist, doch auch zu einem Menschen schicken lassen mußte, um die Sakramente zu empfangen und der Kirche einverleibt zu werden. Und obwohl es ein Engel war, der dem Hauptmann Cornelius meldete, seine Gebete seien erhört und sein Almosen gnädig aufgenommen worden, so wurde er doch an Petrus gewiesen, um von ihm unterrichtet zu werden; von diesem sollte er nicht bloß die Sakramente empfangen, sondern auch zu hören bekommen, was man glauben, hoffen und lieben müsse. Dies S. 10hätte gewiß auch alles durch den Engel geschehen können, aber es bedeutete ein Wegwerfen der Menschenwürde, gäbe sich Gott den Anschein, als wollte er sich nicht der Menschen bedienen, um anderen Menschen sein Wort zu vermitteln. Denn wie wäre sonst der Ausspruch wahr: „Der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr“, wenn Gott aus diesem seinem menschlichen Tempel heraus keine Antwort erteilen, sondern seine ganze Offenbarung an die Menschheit nur vom Himmel herab und nur durch Engel verkünden wollte? Wenn sodann die Menschen nichts voneinander lernten, dann würde selbst der Liebe, welche die Menschen gegenseitig verbindet, keine Gelegenheit geboten, die Geister sozusagen in gegenseitigen Fluß zu bringen und miteinander zu verschmelzen. (7.) Und sicherlich schickte der Apostel jenen Kämmerer, der den Propheten Isaias wohl las, aber nicht verstand, weder zu einem Engel, noch wurde ihm durch einen Engel das erklärt, was er nicht verstand, noch wurde es ohne menschliche Vermittlung gleich von Gott selbst seinem Geist eingegeben: nein, sondern kraft göttlicher Eingebung wurde vielmehr Philippus zu ihm gesandt; und Philippus, der den Propheten Isaias kannte, setzte sich zu dem Kämmerer und erschloß ihm mit den Worten und in der Sprache eines Menschen, was in jener Schrift verborgen war. — War es nicht Gott selbst, der mit Moses sprach? Und doch ließ er sich als ein sehr vorsichtiger und durchaus nicht stolzer Mann von seinem Schwiegervater, der noch dazu ein Ausländer war, Ratschläge für die Führung und Leitung eines so großen Volkes geben. Denn Moses, dieser große Mann, wußte eben gar wohl, daß ein wahrhaft guter Rat, welchem Kopf er auch immer entsprungen sei, nicht diesem zuzuschreiben ist, sondern dem, der die Wahrheit ist, dem unveränderlichen Gott.
8. Der Glaube allerdings eines jeden, der ohne alle Regeln, bloß dank eines göttlichen Geschenkes alle S. 11Dunkelheiten der (heiligen) Schriften zu verstehen sich rühmt, ist schließlich ein guter: denn er hat ja wirklich jene Gabe nicht aus sich selbst, sondern sie ist ihm von Gott gegeben worden; und insofern sucht er auch nicht seine, sondern Gottes Ehre. Wenn aber auch er selbst die Heilige Schrift beim Lesen ohne jede menschliche Erklärung versteht, warum läßt er sich denn dann einfallen, sie nun wieder anderen erklären zu wollen? Warum verweist er sie nicht viel lieber auf Gott, damit auch die anderen Leute nicht durch menschliche Vermittlung, sondern durch eine unmittelbare, innere Belehrung von Seiten Gottes zur Einsicht gelangen? Fürchtet er sich vielleicht, vom Herrn jenes Wort hören zu müssen: „Du nichtsnutziger Knecht, du hättest mein Geld den Wechslern geben sollen!“ Wie nun diese ihr Wissen durch Wort und Schrift wieder anderen mitteilen, so verdiene gewiß auch ich ihren Tadel nicht, wenn auch ich sowohl das, was jene Leute schon wissen, als auch meine Wahrnehmungen darüber, was sie beobachten sollten, weitergebe. Denn es darf ja niemand etwas anderes als sein ausschließliches Eigentum betrachten außer die Lüge. Stammt ja doch jede Wahrheit von dem, der gesagt hat: „Ich bin die Wahrheit.“ Was haben wir denn, das wir nicht empfangen haben? Was rühmen wir uns also dessen, als hätten wir es nicht empfangen?
9. Wer seinen Zuhörern eine Schrift vorliest, spricht dabei gewiß auch jene Buchstaben aus, die er selbst schon kennt; wer sich aber mit dem eigentlichen Unterricht in den Buchstaben selbst befaßt, der will andere damit zum Lesen anleiten: beide wollen anderen etwas beibringen, was sie selbst zuerst empfangen haben. So versieht jener, der sein eigenes Verständnis der (heiligen) Schriften seinen Zuhörern darlegt, gewiß auch das Amt des Vorlesers und spricht dabei die ihm selbst schon bekannten Buchstaben aus. Wer aber förmliche S. 12Regeln zum Verständnis aufstellt, der gleicht recht eigentlich dem Leselehrer, der einem erst beibringt, wie man lesen muß. Wer selbst schon des Lesens kundig ist, der braucht, wenn er ein Buch vor sich hat, keinen anderen Vorleser, von dem er den Inhalt der Schrift erfahren müßte. Ebenso braucht auch derjenige, der sich im Besitz der nachfolgenden Regeln befindet, dann, wenn er auf dunkle Stellen in jenen Büchern stößt, keinen anderen Kenner, der ihm das Verborgene enthüllt; denn die Regeln (die er von mir erhält) sind für ihn soviel wie Buchstaben. Hält er sich nämlich an den (in diesen Regeln) aufgezeigten Weg, so wird er ohne allen Irrtum zu dem verborgenen Sinn gelangen; wenigstens aber wird er auf keine abgeschmackte und verkehrte Ansicht geraten. — Obgleich daher schon aus dem Werke selbst zur Genüge klar wird, daß niemand gegen diese dem Dienste anderer gewidmete Arbeit gerechte Einsprache erheben kann, so glaubte ich doch durch diese Vorrede einigen Gegnern eine entsprechende Antwort geben zu müssen. Nachdem dies nunmehr geschehen ist, möchte ich also den Weg beginnen, den ich in dem vorliegenden Buch gehen will.
1. Buch
Inhalt
S. 13* Augustinus verbreitet sich zunächst über die Aufgabe seines gesamten Traktates, die vor allem in der Auffindung der Lehre der Heiligen Schrift und sodann in der Art der Darlegung der erkannten Lehre bestehen soll, und teilt den Stoff des ersten Buches in die Lehre von den Sachen und von den Zeichen. Die Sachen selbst sind entweder zum Genusse oder zum Gebrauche bestimmt. Zum Genusse sind jene bestimmt, die man um ihrer selbst willen lieben soll, zum Gebrauche jene, die den Gebrauchenden und Genießenden zur Erlangung der zum Genusse bestimmten Dinge verhelfen sollen (1—4). Zum Genusse nun ist der dreieinige Gott bestimmt, der zwar unergründlich in seinem Wesen, aber gleichwohl das höchste Gut ist, die unveränderliche Weisheit, die vor aller veränderlichen den Vorzug verdient (5—9). Zur Erkenntnis und zum Genuß Gottes muß der Mensch eine reine Seele haben; diese wurde gereinigt durch die Menschwerdung der unveränderlichen Weisheit (10—13). Der Glaube an diese Weisheit gründet sich auf Christi Auferstehung und Himmelfahrt; er lebt fort in seiner Kirche, die er als seinen Leib durch Prüfungen reinigt, deren Glieder er durch die der Kirche übertragene Schlüsselgewalt von Sünden befreit (14—17). Nach dem Tode gibt es eine Auferstehung der Guten und der Bösen (18—19). Die Vorbedingung für eine glorreiche Auferstehung ist die Beobachtung der Liebe Gottes und des Nächsten. Die Selbstliebe ist selbstverständlich; es kann sich jedoch der Mensch in verkehrter Weise selbst lieben, und in diesem Falle wird er von seinem Leibe bestraft. Aber er haßt gleichwohl seinen Leib nicht, selbst wenn er ihn züchtigt, weil die Liebe zum Leibe eine höhere Liebe nicht ausschließt (20—24). Gott und den Nächsten zu lieben mußte dem Menschen positiv geboten werden. S. 14Dieses positive Gebot der Liebe ist in der rechten Ordnung zu bewahren, und wir haben zu wünschen, daß auch unsere Nächsten, die Mitmenschen und die Engel, Gott lieben (25—30). — Gott genießt uns nicht, sondern gebraucht uns zu seinen Zwecken; der Weg zu Gott ist Christus (31—34). Das sind die hauptsächlichsten Sachen, die den Inhalt der Heiligen Schrift bilden. Da die Liebe Ziel und Fülle des Gesetzes ist, erscheint selbst eine falsche Schriftauslegung, soferne sie die Liebe fördert, nicht als verkehrt; sie soll jedoch verbessert werden. Die Liebe selbst bleibt immer (35—38). Ein mit Glaube, Hoffnung und Liebe ausgerüsteter Mensch braucht keine Schrift; er ist indessen der beste Leser der Schrift (39 und 40).*
1. Kapitel: Bei der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift kann das schwierige, aber verdienstvolle Werk der Auffindung und Darstellung des Sinnes nur mit Gottes Hilfe beendet werden
1. Um zwei Punkte dreht es sich bei jeglicher Beschäftigung mit den (heiligen) Schriften: einmal um die Auffindung dessen, was verstanden werden soll, und dann um die Darstellung des Verstandenen. Ich will nunmehr zuerst von der Auffindung und dann erst von der Darstellung sprechen. Meine Arbeit ist ein großes und mühevolles Unterfangen, und eben weil es so schwierig auszuführen ist, so fürchte ich schon, es möchte bereits eine Verwegenheit sein, sich überhaupt daranzuwagen. Ja gewiß: gewagt wäre ein solches Unternehmen, wollten wir auf unsere eigene Kraft vertrauen; da aber meine Hoffnung auf eine glückliche Vollendung dieses Werkes auf demjenigen beruht, von dem ich beim Nachdenken über diesen Gegenstand gar manche Erleuchtung erhielt, die ich nun in mir bewahre, so ist nicht zu befürchten, er möchte jetzt, wenn ich das bisher Empfangene auszuteilen beginne, aufhören, mir auch weiterhin seine Gaben zu schenken. Denn jede Sache, die durch Mitteilung an andere nicht verliert, besitzt man nicht, wie man soll, solange man sie nur S. 15selber besitzt, ohne sie wieder an andere weiterzugeben. Christus hat ja gesagt: „Wer hat, dem wird gegeben werden.“ Darum wird er denen geben, die schon haben: das heißt denen, die mit wohltätigem Sinn das gebrauchen, was sie erhielten; ja, solchen wird er seine Gaben in gehäuftem Maß geben. Nur fünf und (das zweitemal) sieben Brote waren es, bevor man anfing, sie an die Hungernden auszuteilen; sobald aber das Verteilen begann, da füllten diese Brote viele Körbe, obgleich so viele Tausende von Menschen damit gesättigt wurden. Wie nun jenes Brot während des Austeilens zunahm, so wird der Herr die Gabe, die er zu Anfang dieses Werkes schon gegeben hat, nach Beginn der Austeilung durch seine Eingebung vermehren, damit wir durch diesen unsern Dienst nicht nur keinen Mangel leiden brauchen, sondern uns sogar noch eines wunderbaren Überflusses erfreuen dürfen.
2. Kapitel: Begriff der Sachen und Zeichen
2. Jede Lehre hat Sachen oder Zeichen zu ihrem Gegenstand; die Sachen werden durch die Zeichen erlernt. Im eigentlichen Sinne habe ich Sachen jene Dinge genannt, die nicht angewendet werden, um etwas Bestimmtes zu bezeichnen, wie z. B. Holz, Stein, Tier u. dgl. Das gilt aber weder von jenem bestimmten Holz, das Moses, wie wir lesen, in bitteres Wasser warf, um es von Bitterkeit frei zu machen, noch von jenem Stein, den Jakob unter sein Haupt legte, noch von jenem Tier, das Abraham für seinen Sohn opferte. Denn dies sind nur insofern Sachen, als sie zugleich auch Zeichen anderer Sachen sind. Es gibt aber auch andere Zeichen, die nur zur Bezeichnung eines Dinges dienen, wie z. B. die Wörter: es bedient sich ja niemand der Wörter zu einem andern Zweck, als um damit etwas zu bezeichnen. Daraus ist ersichtlich, was ich unter einem Zeichen verstehe: es sind jene Sachen, die angewendet werden, um S. 16irgend etwas zu bezeichnen. Daher ist jedes Zeichen auch irgendwie eine Sache; denn was keine Sache ist, das ist ganz und gar nichts: aber nicht jede Sache ist auch ein Zeichen. Nach dieser Abteilung in Sachen und Zeichen werde ich jedesmal so von den Sachen reden, daß sie ungeachtet der symbolischen Kraft einzelner Sachen die Einteilung nicht stören, nach der ich zuerst von den Sachen und dann von den Zeichen sprechen werde. Das wollen wir uns genau merken, daß wir jetzt an den Sachen nur ihr Wesen zu betrachten haben, nicht das, was sie, abgesehen von ihrer eigenen Natur, sonst noch bezeichnen können.
3. Kapitel: Einteilung der Sachen
'3. Die Sachen sind teils solche Dinge, die zum Genusse und zum Gebrauche dienen, teils solche, die selber genießen und gebrauchen. Die zum Genuß bestimmten Sachen machen uns selig; jedoch die zum Gebrauch bestimmten Sachen fördern unser Streben nach Glückseligkeit und bieten uns sozusagen die Handhabe, um zu jenen, die uns selig machen, zu gelangen und ihnen an zuhängen. Wir, die wir genießen und gebrauchen, sind zwischen beide hineingestellt. Wollen wir die zum Gebrauch bestimmten Sachen genießen, so wird unser Lauf aufgehalten und manchmal so irregeleitet, daß wir durch Liebe zum Niedrigen von der Erreichung der zum Genuß bestimmten Sachen zurückgehalten oder so gar ganz abgehalten werden.
4. Kapitel: Der Begriff des Genießens und Gebrauchens
4. Genießen heißt, einer Sache um ihrer selbst willen in Liebe anhangen; gebrauchen aber heißt, die zum Leben notwendigen Dinge auf die Erreichung des S. 17Gegenstandes der Liebe beziehen, wenn der Gegenstand überhaupt Liebe verdient. Denn der unerlaubte Gebrauch ist eher ein Verbrauch oder ein Mißbrauch zu nennen. Wenn wir Pilger wären, die nur in ihrem Vaterland glücklich leben könnten und gerade durch die Wanderschaft sich unglücklich fühlten, so würden wir, um dem Unglück ein Ende zu machen, ins Vaterland zurückkehren wollen. Wir brauchten dann Wagen oder Schiffe, um ins Vaterland, das Ziel unseres Genusses, zu gelangen. Träfe es ich nun, daß uns die Annehmlichkeiten der Reise oder der Gang unserer Fahrzeuge so ergötzten, daß wir uns dem Genusse derjenigen Dinge zuwenden, die wir bloß hätten gebrauchen sollen, so würden wir die Reise nicht schnell beendigen wollen; wir würden uns vielmehr, von falscher Lust verführt, dem Vaterlande entfremden, dessen Süßigkeit uns glücklich machen könnte. So ist es auch in unserem sterblichen Leben: wir befinden uns da auch auf einer Pilgerschaft ferne vom Herrn. Wenn wir nun ins Vaterland zurückkehren wollen, wo wir allein unser Glück finden, so müssen wir diese Welt zwar gebrauchen, aber nicht genießen, damit wir so das Unsichtbare an Gott durch das erschaffene Sichtbare schauen, das heißt von den körperlichen und zeitlichen Sachen eine geistige und ewige Ernte halten.
5. Kapitel: Höchster Gegenstand des Genusses ist der dreieinige Gott
5. Der Gegenstand des Genusses ist also der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, ein und dieselbe Dreieinigkeit, eine einzigartige, höchste Sache, die allen denen gemeinsam ist, die sie genießen. Es ist jedoch eine Frage, ob man sie eine Sache oder nicht vielmehr die Ursache aller Sachen oder auch nur Ursache überhaupt nennen darf. Denn es ist nicht leicht, für ein so ausgezeichnetes Wesen einen passenden Namen zu finden, S. 18wenn man sie nicht besser die Dreieinigkeit, den einen Gott nennt, aus dem, durch den und in dem alles ist. So ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, ein jeder einzelne von ihnen, Gott, und auch alle drei zusammen sind nur ein Gott. Ein jeder einzelne von ihnen ist das ganze Wesen und alle zusammen wieder nur ein Wesen. Der Vater ist weder Sohn noch Heiliger Geist; der Sohn ist weder Vater noch Heiliger Geist; der Heilige Geist ist weder Vater noch Sohn, sondern der Vater ist nur Vater, der Sohn nur Sohn und der Heilige Geist nur Heiliger Geist. Alle drei haben dieselbe Ewigkeit, dieselbe Unveränderlichkeit, dieselbe Majestät, dieselbe Macht. Der Vater ist Träger der Einheit, der Sohn Träger der Gleichheit, der Heilige Geist Träger der einträchtigen Verbindung zwischen Einheit und Gleichheit: und so sind alle drei eins wegen des Vaters, alle drei gleich wegen des Sohnes und alle drei wechselseitig verbunden wegen des Heiligen Geistes.
6. und 7. Kapitel: Gott ist unaussprechlich; alle Religionen stellen sich Gott als das höchste und beste Wesen vor
6. Habe ich nun etwas gesagt oder verlauten lassen, was Gottes würdig wäre? Nein, im Gegenteil: ich fühle recht wohl, daß ich den guten Willen hatte, nur etwas solches zu sagen: habe ich aber einmal etwas gesagt, so ist es nicht das, was ich eigentlich hätte sagen wollen. Woher weiß ich das anders, als weil Gott unaussprechlich ist? Sollte aber nicht dadurch, daß ich sage, Gott sei unaussprechlich, das Unaussprechliche schon ausgesprochen sein? Und daher darf Gott nicht einmal der Unaussprechliche genannt werden, weil ja doch schon dadurch, daß er nur so genannt wird, etwas von ihm ausgesagt wird. Es entsteht dadurch wirklich ein gewisser Widerspruch der Worte, weil es, wenn das unaussprechlich ist, was nicht genannt werden kann, nichts Unaussprechliches geben kann, das auch nur unaussprechlich genannt werden könnte. Diesen S. 19Widerspruch soll man lieber gleich mit Stillschweigen verhüllen, als mit Worten auszugleichen suchen. Obgleich sich über Gott nichts in angemessener Weise aussagen läßt, so hat er dennoch den Dienst des menschlichen Wortes zugelassen und gewollt, daß wir uns an unsern Worten zu seiner Ehre erfreuen. Daher kommt es auch, daß man ihm überhaupt den Namen „Gott“ gab. Ganz gewiß wird beim Klang dieser Silbe nicht Gott selbst (in seinem wirklichen) Wesen erkannt; gleichwohl aber regt dieser Ton, sobald er nur die Ohren berührt, jeden, der das Wort sprachlich überhaupt versteht, dazu an, sich darunter eine vollkommenste und unsterbliche Natur zu denken. (7.) Denn sogar wenn jener eine höchste Gott von jenen Menschen gedacht wird, die noch andere Götter im Himmel oder auf Erden annehmen, nennen und verehren, so denken sie sich ihn in der Weise, daß sie sich das denkbar Beste und Erhabenste vorzustellen suchen.
Von verschiedenen Gütern fühlt sich der Mensch angezogen, teils von solchen, die sich auf das sinnliche Gefühl beziehen, teils von solchen, die mit dem Erkenntnisvermögen der Seele in Berührung stehen. Solche Menschen nun, die es mehr mit dem halten, was man mit den Sinnen sieht, neigen zu der Ansicht, der höchste Gott sei entweder die Sonne selbst oder sonst das glänzendste Gestirn am Himmel oder gleich gar die Welt selbst. Suchen diese Leute aber die irdischen Schranken zu durchbrechen, so stellen sie sich Gott als ein Lichtwesen vor, dem sie in ihrer nichtigen Voraussetzung entweder unendliche Ausdehnung und die scheinbar beste Gestalt zuschreiben oder sie denken sich Gott in menschlicher Gestalt, wenn sie diese für die vorzüglichste (unter allen Gestalten) halten. Wenn sie aber nicht an das Dasein eines höchsten Gottes glauben, sondern vielmehr viele oder gleich unzählige Götter von gleichem Rang annehmen, so stellen sie sich deren Bild im Geiste entsprechend ihrer jeweiligen Ansicht von körperlichen Vorzügen vor. Wer aber das Wesen S. 20Gottes durch die Arbeit des Denkens zu erkennen trachtet, der zieht ihn sowohl allen sichtbaren und körperlichen Wesen, sowie auch allen veränderlichen Wesen mit Verstand und Geist vor. Wie im Wettstreit kämpfen aber alle für Gottes Erhabenheit, und keiner läßt sich finden, der Gott für ein Wesen hielte, mit dem verglichen irgendein anderes besser wäre. Alle also halten das einstimmig für Gott, was sie allen übrigen Dingen vorziehen.
8. und 9. Kapitel: Gott als die unveränderliche Weisheit verdient selbstverständlich den Vorrang vor allen Sachen
8. Da sich nun alle Menschen, die über Gott nachdenken, ihren Gott als etwas Lebendiges vorstellen, so können nur jene eine vernünftige und würdige Vorstellung von Gott haben, die ihn als das Leben selbst denken. Mag ihnen irgendein beliebiges körperliches Wesen begegnen, so sagen sie sich: das Vorhandensein (oder Nichtvorhandensein) des Lebens ist schuld daran, daß dieses körperliche Wesen lebt oder nicht lebt; lebt das Körperwesen, so ziehen sie das einem nicht lebenden Körperwesen vor. Was nun die belebte Körpergestalt anbelangt, so mag sie noch so sehr im Lichte strahlen, durch Größe hervorragen und im Schmuck der Schönheit glänzen, so verstehen sie doch etwas anderes unter dem Leben an sich und der (zufälligen) Lebenserscheinung (an diesem körperlichen Wesen). Gegenüber der bloß belebten und beseelten Körpermasse schreiben sie dem Leben selbst eine unvergleichliche Würde zu. Sie betrachten sich sofort die Art der (zufälligen) Lebenserscheinung, und wenn sie finden, daß es bloß so ohne Gefühl dahinlebt (vegetiert), wie z. B. das Leben der Bäume, so ziehen sie ihm das fühlende Leben vor, wie es z. B. bei den Tieren ist. Vor diesem räumen sie hinwiederum dem vernünftigen Leben, wie es z. B. der Mensch hat, den Vorrang ein. Wenn sie aber sehen, S. 21daß auch diese Lebensart veränderlich ist, dann müssen sie auch diesem Leben irgendein unveränderliches Leben vorziehen, nämlich ein Leben, das nicht bald weise ist, bald wieder nicht, sondern das vielmehr die Weisheit selber ist. Denn ein Geist, der weise ist in dem Sinne, daß er die Weisheit selber erst zugeteilt erhielt, war nicht weise, bevor er die Weisheit erhielt; die Weisheit selbst dagegen war weder selbst einmal unweise noch kann sie unweise sein. Würden sie diese Weisheit nicht erkennen, so zögen sie doch nicht mit voller Zuversicht ein unveränderlich weises Leben einem veränderlichen Leben vor. Das stete Gesetz der Wahrheit nun, durch das jenes Leben, wie sie laut versichern, den Vorzug der Güte hat, halten sie gewiß für unveränderlich; da sie sich selbst aber für veränderlich erklären, so können sie dieses Gesetz der Wahrheit nur über ihrer eigenen Natur finden.
9. Niemand ist so unbescheiden töricht, daß er fragte: „Ja, warum soll denn das unveränderlich weise Leben einen Vorzug vor dem veränderlichen verdienen?“ Denn gerade das, nach dessen Grund er fragt, liegt ja für jedermann und in unveränderlicher Weise klar zutage, so daß es jeder nur zu betrachten braucht. Und wer das nicht sieht, der ist trotz der Sonne gewissermaßen blind; ihm nützt auch der Glanz eines so klaren und nahen Lichtes gar nichts, und wenn es ihm schon förmlich in das Auge strahlt. Wer aber sieht und doch nichts wissen will, dessen Geistesschärfe ist durch den zur Gewohnheit gewordenen Aufenthalt im Schatten der fleischlichen Gelüste ganz abgestumpft worden. Die bösen Sitten also sind die widrigen Stürme, wodurch die Menschen von ihrem Vaterland wegverschlagen werden; dann suchen sie Güter von weit geringerem Werte als jenes Gut, das, wie sie selbst zugeben müssen, weit besser und vorzüglicher ist.
10. Kapitel: Nur die reine Seele kann die ewige Weisheit genießen
10. Da also jene Weisheit genossen werden soll, die unveränderlich lebt, und da in dieser Weisheit der S. 22dreieinige Gott, der Urheber und Schöpfer der gesamten Welt, für die erschaffenen Dinge sorgt, so muß die Seele gereinigt werden, um jenes Licht schauen und lieben zu können. Wir können diese Reinigung in einem gewissen Sinn eine Art von Pilgerschaft oder Heimfahrt ins Vaterland nennen (freilich nur in einem gewissen Sinn); denn zu ihm, dem Allgegenwärtigen, bewegen wir uns ja nicht örtlich, sondern nur durch einen aufs Gute gerichteten Eifer und durch gute Sitten.
11. und 12. Kapitel: Das Vorbild der Seelenreinigung ist die menschgewordene Weisheit Gottes
11. Das könnten wir nun freilich nicht, wenn sich nicht die Weisheit zu unserer überaus großen Schwäche herablassen und, da wir nun einmal Menschen sind, uns in Menschengestalt ein Vorbild zeigen wollte, wie wir leben sollen. Während aber wir klug handeln, wenn wir zu ihr emporsteigen, wurde es von stolzen Menschen für töricht gehalten, daß sie zu uns herniederstieg. Denn wenn wir zu ihr kommen, werden wir stark; als sie zu uns kam, wurde sie für schwach gehalten. „Aber selbst was an Gott töricht ist, ist immer noch weiser als die Menschen, und was an Gott schwach ist, ist immer noch stärker als die Menschen.“ Obgleich sie (die göttliche Weisheit) selbst unsere Heimat ist, wollte sie auch noch unser Weg zu dieser Heimat werden. Während sie für ein gesundes und reines Geistesauge allüberall gegenwärtig ist, wollte sie selbst den fleischlichen Augen jener Menschen erscheinen, deren Geistesauge schwach und unrein war. „Denn weil die Welt in der Weisheit Gottes Gott durch die Weisheit nicht erkennen konnte, so gefiel es Gott, durch die Torheit der Predigt diejenigen selig zu machen, welche glauben.“
S. 23 12. Also nicht durch eine bloße örtliche Veränderung kam, wie gesagt, Gottes Weisheit zu uns, sondern in der Weise, daß sie im sterblichen Fleisch den sterblichen Menschen erschien. Sie kam dorthin, wo sie schon war, weil sie ja in dieser Welt war und die Welt durch sie gemacht worden ist. Weil aber die Menschen das Geschöpf anstatt des Schöpfers genießen wollten und weil sie darum dieser Welt gleichförmig geworden waren und sehr passend mit dem Namen „Welt“ bezeichnet wurden, so erkannten sie die Weisheit nicht, weshalb der Evangelist sagt: „Und die Welt hat ihn nicht erkannt.“ Daher konnte die Welt durch Weisheit Gott nicht in Gottes Weisheit erkennen. Wenn also die Weisheit schon da war, zu welchem anderen Zweck kam sie dann als bloß zu dem, weil es Gott so gefiel, durch die Torheit der Predigt diejenigen selig zu machen, welche glauben. Wie aber kam sie anders als dadurch, daß das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat? (Man hat sich das ungefähr so vorzustellen:) Soll beim Sprechen der Gedanke unseres Innern durch das fleischliche Ohr zum Geiste unserer Zuhörer gelangen, so wird er und das in unserm Herzen schlummernde Wort zum Schall, und heißt dann Sprache. Aber unser Gedanke verwandelt sich nicht in den Schall, sondern er bleibt nach wie vor ein Gedanke und nimmt nur ohne jede Makel der Veränderung die Form der Stimme an, um so in jedes Ohr eindringen zu können. So ist auch das Wort Gottes nicht verändert, aber doch Fleisch geworden, um unter uns zu wohnen.
13. Kapitel: Durch verschiedene Mittel heilte Gottes Weisheit die Menschen
13. Wie die Heilung der Weg zur Gesundheit ist, so hat es sich auch die (vom Heiligen Geist ausgehende) Heilung zum Ziel gesetzt, die Sünder gesund zu machen und wiederherzustellen. Und wie die Ärzte beim S. 24Verbinden der Wunden diese Arbeit nicht in ungeordneter, sondern in gehöriger Weise verrichten, so daß mit dem Nutzen auch eine gewisse Schönheit verbunden ist, so ist die Arznei der Weisheit durch Annahme der Menschennatur unseren Wunden angepaßt und heilt mit entgegengesetzten und mit gleichartigen Mitteln. So wendet man ja auch bei körperlichen Wunden entgegengesetzte Mittel an, z. B. etwas Kaltes gegen etwas Heißes, etwas Feuchtes gegen etwas Trockenes u. dgl.; man wendet aber auch wieder gleichartige Mittel an, z. B. ein rundes Leinwandstück auf eine runde Wunde oder ein längliches auf eine längliche Wunde; man legt auch nicht für alle Glieder ein und denselben Verband an, sondern einen Verband, der zu dem betreffenden Glied paßt. Geradeso hat sich die Weisheit Gottes, die den Menschen heilte, bei dieser Arbeit der Heilung betätigt; nur daß sie selbst Arzt und Heilmittel zugleich ist. Weil also der Mensch durch seinen Stolz zu Fall kam, so bedient sie sich zu seiner Heilung der Demut; durch die Klugheit der Schlange wurden wir betrogen, durch die Torheit Gottes werden wir wieder frei. Wie aber jene Klugheit der Schlange zwar Weisheit genannt wurde und doch für die Verächter Gottes Torheit war, so ist diese sogenannte Torheit Gottes Weisheit für die Besieger des Teufels. Wir Menschen haben die Unsterblichkeit so schlecht benutzt, daß wir sterben mußten: Christus benützte die Unsterblichkeit so gut, daß wir leben. Die verderbte Seele des Weibes (Eva) befiel die Krankheit: aus dem unverderbten Körper des Weibes (Maria) ging das Heil hervor. — Geradeso ist es ein Gegensatz, wenn unsere Fehler durch die entgegengesetzten Tugenden geheilt werden. Solche gleichartige Heilmittel, die als Verbände an unsere verwundeten Glieder angelegt wurden, sind folgende: die vom Weibe verführten Menschen erlöste ein vom Weib Geborener (Christus), ein Mensch die Menschen, ein Sterblicher die Sterblichen, durch seinen Tod befreite er die Toten. Wer sich nicht (wie Augustinus) zu einer raschen Beendigung eines angefangenen Werkes gedrängt sieht, der wird bei sorgfältigem Nachdenken noch gar mancherlei Belehrung erfahren, sowohl wenn er über entgegengesetzte S. 24als auch über gleichartige Mittel der christlichen Arznei nachdenkt.
14. Kapitel: Christi Auferstehung und Himmelfahrt sind Stützen des Glaubens, der durch den Gedanken an die einstige Belohnung mächtig angeregt wird
14. Die Auferstehung des Herrn von den Toten, an die wir glauben, und seine Himmelfahrt stützen schon jetzt unsern Glauben (durch den Pfeiler) einer großen Hoffnung. Denn sie zeigen deutlich, wie freiwillig der sein Leben hingab, der es so in seiner Gewalt hatte, daß er es wieder nehmen konnte. Wie groß ist also die Zuversicht, mit der sich die Hoffnung der Gläubigen tröstet, wenn sie erwägen, wer es doch gewesen ist, der so vieles gelitten hat für solche, die noch gar nicht glaubten. Da er aber als Richter über die Lebendigen und die Toten vom Himmel her erst noch erwartet wird, so jagt er den Nachlässigen große Furcht ein; denn diese werden sich einer gewissenhaften Sorgfalt befleißigen und werden ihn lieber durch ein gutes Benehmen voll Sehnsucht erwarten wollen, als daß sie ihn wegen ihres schlechten Benehmens fürchten müßten. Wie ließe sich aber die Größe der Belohnung, die er uns am Ende geben wird, mit Worten ausdrücken oder in Gedanken erfassen? Hat er uns ja doch schon zum Trost auf unserer Pilgerschaft eine solche Fülle seines Geistes verliehen, daß wir in den Widerwärtigkeiten dieses Lebens zu ihm, den wir noch gar nicht sehen, doch großes Vertrauen und große Liebe haben. Dazu hat er einem jeden besondere Gaben zur Erbauung seiner Kirche verliehen, so daß wir das, was er uns als unsere Pflicht zeigt, nicht bloß ohne Murren, sondern selbst mit Freuden tun.
15. Kapitel: Die Kirche, seinen mystischen Leib, reinigt Christus durch die Arznei der Trübsal
15. Die Kirche ist nämlich, wie die Lehre des S. 26Apostels einschärft, sein Leib; auch seine Gattin wird sie genannt. Die vielen, zu verschiedenen Verrichtungen berufenen Glieder seines Leibes hält er durch das Band der Einigkeit und der Liebe, gewissermaßen durch das Band der Gesundheit zusammen. Um nun die Kirche, die keine Fehler, keine Runzel oder etwas Derartiges an sich hat, aus dem Verband mit dieser Welt zu lösen und sich in Ewigkeit als Gattin zu verbinden, prüft er sie in dieser Zeitlichkeit und reinigt sie durch die Arznei gewisser Trübsal.
16. Kapitel: Christus öffnete uns durch die Vergebung der Sünden den Weg ins Vaterland
16. Wir haben einen Weg zu wandern, der nicht von einem wirklichen Ort zum andern führt, sondern der sich durch verschiedene Gemütsbewegungen hindurchzieht. Wie eine Dornenhecke versperrte diesen Weg die Bosheit früherer Sünden. Welch größeres Werk der Freigebigkeit und Barmherzigkeit hätte jener, der sich uns selbst als Weg zur Rückkehr ausbreiten wollte, üben können, als daß er den Reuigen all ihre Sünden verzieh und das ernste Verbot unserer Rückkehr durch seinen Kreuzestod für uns vernichtete?
17. Kapitel: Von der Schlüsselgewalt der Kirche
17. Er gab seiner Kirche diese Schlüsselgewalt in der Weise, daß im Himmel gelöst sei, was sie auf Erden löst, und daß im Himmel gebunden sei, was sie auf Erden bindet. Wer nämlich nicht an die Vergebung seiner Sünden durch die Kirche glaubt, dein sollen sie nicht vergeben werden; wer aber daran glaubt, sich bessert und sich von ihnen abwendet, der soll im Schoße dieser Kirche durch seinen Glauben und durch seine S. 27Besserung geheilt werden. Wer nämlich die Vergebung seiner Sünden für unmöglich hält, der wird durch seine Verzweiflung noch schlechter. Mit so einem Menschen ist es gerade, als ob ihm nichts Besseres übrig bliebe, als wie böse zu sein, da er ja an einen Erfolg seiner Umkehr nicht glaubt.
18. und 19. Kapitel: Tod und Auferstehung des Leibes und der Seele für eine Wiedergeburt zum Leben oder zur Strafe
18. Wie es eine Art von Tod der Seele ist, wenn wir durch die Buße unser früheres Leben und Verhalten aufgeben, so ist auch der Tod des Leibes eine Aufhebung der früheren Belebung. Und wie die Seele nach der Buße, durch die sie die früheren verderbten Sitten ertötet, in einem besseren Zustand wieder hergestellt wird, so wird auch der Leib nach dem Tode, dem wir infolge des Sündenbandes alle unterworfen sind, zur Zeit der Auferstehung, wie wir glauben und hoffen dürfen, in einen bessern Zustand umgewandelt werden. Es ist ja unmöglich, daß Fleisch und Blut das Reich Gottes besitzen; daher muß dieses Verwesliche anziehen die Unverweslichkeit und dieses Sterbliche die Unsterblichkeit. Dann wird der Leib keine Beschwerde mehr verursachen, weil er kein Bedürfnis mehr hat, und er wird von der seligen und vollkommenen Seele in der größten Ruhe belebt werden.
19. Derjenige aber, der mit seiner Seele dieser Welt nicht abstirbt und der nicht anfängt, sich nach der Wahrheit zu gestalten, der wird durch seinen körperlichen Tod in einen noch schlimmeren Tod gestürzt und wird wieder aufleben, nicht um himmlische Natur anzunehmen, sondern um seine Strafe abzubüßen. Das ist denn auch Glaubenslehre, und daß es sich so in Wahrheit verhält, das muß man glauben: weder die Seele noch der Leib des Menschen wird vollständig zugrunde gehen, sondern die Gottlosen werden auferstehen zu unermeßlichen S. 28Strafen, die Gottseligen aber zu einem ewigen Leben.
20. und 21. Kapitel: Gott allein darf man genießen
20. Unter all diesen Dingen sind also nur jene zum Genuß bestimmt, die wir als ewig und unveränderlich geschildert haben; alle übrigen Dinge aber hat man nur dazu zu gebrauchen, um zum Genuß jener (ewigen und unveränderlichen) Dinge zu gelangen. Auch wir Menschen, die wir andere Sachen gebrauchen und genießen, sind selber Sachen. Ja wahrlich: eine große Sache ist der Mensch; ist er doch erschaffen nach dem Bilde und Gleichnis Gottes, nicht zwar insofern er von seinem sterblichen Leib umschlossen wird, sondern insofern er durch die Auszeichnung seiner vernünftigen Seele die Tiere überragt. Daher ist es eine große Streitfrage, ob sich die Menschen genießen oder bloß gebrauchen dürfen oder ob ihnen beides gestattet ist. Wir haben zwar das Gebot erhalten, einander zu lieben, aber es steht in Frage, ob denn der Mensch von einem anderen Menschen um seiner selbst willen geliebt werden soll oder wegen etwas anderem. Soll er um seiner selbst willen geliebt werden, so genießen wir ihn; lieben wir ihn aber wegen etwas anderem, so gebrauchen wir ihn bloß. Meiner Ansicht nach muß der Mensch wegen etwas anderem geliebt werden. Denn in einem Gute, das um seiner selbst willen geliebt werden muß, beruht ja schon das ewige Leben. Und dieses haben wir doch noch nicht in seiner Wesenheit, wenn uns auch die Hoffnung darauf schon in diesem Leben tröstet. „Verflucht aber ist, wer seine Hoffnung auf einen Menschen setzt.“
21. Beim rechten Licht betrachtet, darf sich aber der Mensch nicht einmal selbst genießen, weil man ja auch nicht einmal sich selbst um seinetwillen, sondern S. 29um dessen willen lieben soll, der zum Genuß bestimmt ist. Dann ist der Mensch am allerbesten, wenn er mit seinem ganzen Leben nach dem unveränderlichen Leben strebt und mit ganzem Herzen an diesem hängt. Liebt er sich aber um seiner selbst willen, dann bringt er sich nicht mit Gott in Beziehung, sondern da er nur sich selbst zugewandt ist, wendet er sich zu nichts Unveränderlichem. Darum haftet dem Selbstgenuß des Menschen ein Mangel an, weil der Mensch dann besser ist, wenn er ungeteilt an einem unveränderlichen Gut (an Gott) hängt und daran gefesselt ist, als wenn er fern davon auch nur sich selber etwas nachsieht. Wenn also nicht einmal du selbst dich um deinetwillen lieben darfst, sondern nur um dessentwillen, in dem das richtigste Ziel deiner Liebe ruht, so darf auch kein anderer Mensch darüber zürnen, wenn du auch ihn nur liebst wegen Gott. Denn das ist die von Gott vorgeschriebene Ordnung der Liebe: „Du sollst den Nächsten“, sagt er, „lieben wie dich selbst; Gott aber (sollst du lieben) aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüt.“ Daher mußt du all deine Gedanken, dein ganzes Leben, deine ganze geistige Tätigkeit jenem widmen, von dem du diese Gabe empfangen hast. Da er aber sagt: („Du sollst Gott lieben) aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüt“, so läßt er keinen Teil unseres Lebens übrig, der unbeschäftigt wäre und so gewissermaßen Gelegenheit hätte, eine andere Sache zu genießen. Was sich sonst noch Liebenswürdiges der Seele darstellt, das soll dorthin mitfortgerissen werden, wohin der ganze Strom der Liebe läuft. Wer also seinen Nächsten in der rechten Weise liebt, muß bei ihm dahin wirken, daß auch dieser sein Nächster Gott liebt von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte. Wenn er ihn auf diese Weise wie sich selbst liebt, dann bezieht er seine ganze Selbst- und Nächstenliebe auf jene Gottesliebe, die nicht zuläßt, daß von ihrem Strom auch nur ein Bächlein abgeleitet werde, durch dessen Abfluß sie selbst einen Verlust erleiden könnte.
22. Kapitel: Was der Mensch alles lieben muß
S. 30 22. Aber nicht alles, was bloß zum Gebrauch bestimmt ist, darf man auch schon lieben, sondern nur das, was sozusagen zugleich mit uns auf Gott bezogen wird, wie z. B. Menschen und Engel oder auch, was sich nur auf uns Menschen selbst bezieht und um unsertwegen des göttlichen Segens bedarf, wie z. B. den Leib. Geliebt haben sicherlich die Märtyrer die Freveltaten ihrer Verfolger nicht, aber sie gebrauchten sie, um Gott dadurch zu dienen. Vier Dinge sind es also, die wir lieben müssen: Das erste steht über uns (Gott), das zweite sind wir selbst, das dritte ist neben uns (die Mitmenschen), das vierte endlich steht unter uns (unser Leib). Bezüglich des zweiten und vierten ist kein Gebot notwendig; denn mag sich ein Mensch auch noch so sehr von der Wahrheit entfernen, so bleibt ihm doch die Liebe zum eigenen Ich und zu seinem Leib. Selbst dann nämlich, wenn der Menschengeist von dem unveränderlichen, allbeherrschenden Licht hinwegstrebt, verfolgt er damit ja nur das Ziel, die Herrschaft über sich und seinen Leib selbst ausüben zu dürfen: er muß daher sich und seinen Leib lieben.
23. Kapitel: Die verkehrte Selbstliebe
Ein großes Glück glaubt ein solcher Mensch erlangt zu haben, wenn er seine Herrschaft auch noch über Genossen, das heißt über andere Menschen, ausüben kann; denn dem lasterhaften Geist ist es angeboren, lieber das zu erstreben und als sein gutes Recht für sich zu beanspruchen, welches Recht eigentlich nur Gott allein zusteht. Eine solche Liebe aber heißt mit besserem Fug und Recht Haß. Denn es ist ja doch nicht recht, daß einer, der selbst dem Höherstehenden nicht gehorchen will, von einem ihm Untergeordneten Gehorsam verlangt. Darum heißt es ganz richtig: „Wer Ungerechtigkeit liebt, der haßt seine Seele.“ Die Folge S. 31davon ist, daß dann die Seele schwach und von ihrem sterblichen Körper gequält wird. Denn die Seele muß ja ihren Leib lieben und muß durch sein Verderben beschwert werden. Unsterblichkeit und Unversehrtheit des Körpers hängen von der Gesundheit der Seele ab; das aber ist Gesundheit der Seele, wenn man mit ganzer Kraft am Vorzüglicheren, das heißt am unveränderlichen Gott hängt. Will der Mensch aber solche, die ihm von Natur aus gleich stehen, das heißt Menschen, beherrschen, so ist das ein durchaus unerträglicher Übermut.
24. Kapitel : Niemand haßt sein Fleisch, nicht einmal diejenigen, die es züchtigen
24. Niemand also haßt sich selbst: über diesen Satz hat es noch mit keiner Sekte irgendeinen Streit gegeben. Aber auch seinen Leib haßt niemand; denn wahr ist, was der Apostel sagt: „Niemals hat einer sein eigenes Fleisch gehaßt.“ Und wenn auch manche Leute sagen, sie wollten lieber ohne Leib sein, so sind sie in einer argen Täuschung befangen: denn nicht ihr Leib ist es, den sie hassen, sondern nur seine verderbten Neigungen und seine erdrückende Erdenschwere. Ihr Wunsch geht also nicht dahin, überhaupt keinen Leib zu haben, sondern sie möchten einen unverdorbenen, blitzesschnellen Leib besitzen. Aber einen derartig ausgestatteten Leib halten sie schon gar nicht mehr für einen Leib, weil sie sich etwas Solches unter der Seele vorstellen. Wenn sodann solche Leute ihren Leib durch Enthaltsamkeit und durch Mühen gleichsam zu verfolgen scheinen, so haben jene, die sich in rechter Weise abtöten, durchaus nicht die Absicht, überhaupt keinen Leib mehr zu haben, sondern sie wollen ihn nur unter das Joch bringen und für heilsnotwendige Werke in Bereitschaft halten. Denn all die Leidenschaften, die den Leib mißbrauchen, das heißt die schlimmen Gewohnheiten und die Neigungen der Seele zu niedrigen S. 32Genüssen, wollen sie durch einen harten Kriegsdienst ausrotten. Damit töten sie sich ja nicht selbst, sondern tragen nur Sorge für ihre Gesundung.
25. Wer diese Abtötung aber auf verkehrte Weise betreibt, der bekriegt allerdings seinen Leib, als wäre er sein natürlicher Feind. Solche Leute verstehen falsch, wenn sie lesen: „Das Fleisch gelüstet gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; denn diese sind einander entgegen.“ Diese Worte wurden nämlich wegen der unbezähmten Gewohnheiten des Fleisches gesprochen; gegen dieses Fleisch gelüstet es den Geist, nicht töten will er den Leib; nur seine Begierlichkeit, das heißt seine schlechten Gewohnheiten, will er bändigen und ihn unter das Joch des Geistes bringen, so wie es die naturgemäße Ordnung auch verlangt. Denn auch nach der Auferstehung wird es so sein, daß der Leib in höchster Ruhe dem Geiste völlig unterworfen ist und so auf ewig blüht; darum soll man schon in diesem Leben darnach trachten, daß die Gewohnheiten des Fleisches sich verbessern und nicht durch ungeordnete Regungen dem Geiste widerstreiten. Bis dahin gelüstet das Fleisch wider den Geist und der Geist wider das Fleisch. Es widersteht jedoch der Geist (dem Fleisch) nicht aus Haß, sondern um seiner Oberherrschaft (über das Fleisch) willen, weil er den Gegenstand seiner Liebe (den Leib) dem Bessern untergeordnet wissen will. Aber auch das Fleisch widerstrebt (dem Geist) nicht aus Haß, sondern wegen der Macht der Gewohnheit, die auch durch die natürliche Vererbung von den Eltern her alt und hart geworden ist. Das also beabsichtigt der Geist bei der Bändigung des Fleisches: die verkehrten, mit der schlechten Gewohnheit gewissermaßen vertraglich bestehenden Bestimmungen aufzulösen und auf Grund einer guten Gewohnheit Frieden zu schließen. — Aber nicht einmal solche Leute, die durch eine falsche Ansicht irregeleitet ihren Leib verabscheuen, wären bereit, selbst wenn es ganz schmerzlos S. 33geschehen könnte, auch nur ein Auge zu verlieren, auch wenn in dem andern Auge noch so viel Sehkraft zurückbliebe, als vorher in beiden Augen war; nur ein mit einem größeren Vorteil verbundener Anlaß könnte jemand zu einer solchen Handlung drängen. Durch diese und andere Beweise dieser Art kann man jenen, die ohne hartnäckigen Starrsinn nach Wahrheit suchen, zeigen, wie unumstößlich die Behauptung des Apostels ist: „Niemals hat einer sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern“, so fügt Paulus hinzu, „er nährt und pflegt es wie Christus seine Kirche.“
25. Kapitel: Es heißt noch nicht seinen Leib hassen, wenn man etwas mehr liebt als ihn
26. Daher muß man den Menschen wohl die Art der Selbstliebe vorschreiben, das heißt, man muß ihn darüber belehren, wie er sich lieben soll, falls diese Liebe nützlich sein soll; aber Wahnsinn würde es verraten, wollte einer bezweifeln, daß sich einer überhaupt liebt und sich nützen will. Auch das muß man den Menschen vorschreiben, wie sie ihren Leib in wohlgeordneter und kluger Vorsorge lieben sollen; denn daß einer überhaupt seinen Leib liebt und ihn gesund und unversehrt erhalten will, das ist doch geradeso selbstverständlich. Es kann einer also zwar recht wohl etwas mehr lieben als die Gesundheit und die Unversehrtheit seines Leibes; man findet ja viele Leute, die freiwillig Schmerz, ja sogar den Verlust einiger Glieder auf sich genommen haben; jedoch taten sie dies nur in der Absicht, um das Gut zu erlangen, das sie in höherem Grade liebten. Aber deshalb darf man keinem die Wertschätzung der Gesundheit und Unversehrtheit seines Leibes absprechen, weil er etwas anderes mehr liebt. Denn wenn auch zum Beispiel ein Geiziger das Geld liebt, so kauft er sich doch Brot dafür und gibt für diesen Zweck jenes Geld aus, das er so sehr liebt und zu vermehren trachtet. Aber er schätzt eben doch S. 34noch höher (als sein Geld) die Gesundheit seines Leibes, die durch jenes Brot erhalten wird. Es erübrigte sich eigentlich, über eine so offenbare Sache des langen und breiten zu reden, und doch zwingt uns dazu sehr häufig der Irrtum gottloser Menschen.
26. Kapitel: Es gibt ein positives Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten und sogar zu sich selbst
27. Es braucht also kein eigenes Gebot dafür, daß jeder sich und seinen Leib liebe; denn unser eigenes Ich und das, was zwar unter uns steht, aber doch zu uns gehört (den Leib), das lieben wir schon nach dem unerschütterlichen Naturgesetz, das sogar auch für die Tiere erlassen ist, die ja ebenfalls sich und ihren Leib lieben. Es erübrigte daher nur, daß wir bezüglich dessen, was über uns steht (Gott), und dessen, was neben uns steht (die Mitmenschen), Gebot erhielten. Daher sagte nun der Herr: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüte; und deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ Ziel des ganzen Gesetzes ist demnach die Liebe, und zwar die doppelte zu Gott und zum Nächsten. Wenn man sich selbst nach seinem ganzen Wesen, das heißt nach Seele und Leib, begreift, und wenn man auch den Nächsten nach seinem ganzen Wesen, das heißt nach Seele und Leib, begreift — denn aus Seele und Leib besteht ja der Mensch — so ist in diesen beiden Geboten keine Art von Sachen übergangen, die geliebt werden sollen. Da nämlich die Liebe Gottes den Vorrang hat und die Art dieser Liebe klar in der Weise vorgeschrieben ist, daß alles andere in sie zusammenfließt, so scheint von der Eigenliebe nichts gesagt zu sein. Doch ist mit den Worten: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst!“ zugleich auch die Selbstliebe nicht übergangen.
27. und 28. Kapitel: Von der Ordnung der Liebe
S. 35 28. Gerecht und heilig lebt der, der ein unbestechlicher Beurteiler der Dinge ist: das ist aber jener, der eine wohlgeordnete Liebe hat. Ein solcher wird weder lieben, was er nicht lieben darf, noch wird er das nicht lieben, was er lieben soll, noch das mehr lieben, was er weniger lieben soll, noch in gleicher Weise lieben, was weniger oder mehr geliebt werden soll, noch wird er weniger oder mehr lieben, was in gleicher Weise geliebt werden soll. Kein Sünder darf, wenigstens so weit als er ein Sünder ist, geliebt werden; aber jeder Mensch soll in seiner Eigenschaft als Mensch wegen Gott, Gott aber wegen seiner selbst geliebt werden. Und wenn Gott mehr als jeder Mensch geliebt werden muß, dann muß jedermann Gott mehr lieben als sich selbst. Ebenso müssen wir andere Menschen mehr lieben als unsern Leib; denn um Gottes willen muß all dieses geliebt werden. Der Mitmensch kann aber mit uns Gott genießen, was der Leib nicht kann; denn der Leib lebt ja nur durch die Seele, mit der wir Gott genießen.
29. Es sollen zwar alle Menschen in gleicher Weise geliebt werden; da man aber nicht jedermann nützen kann, so muß man vornehmlich für jene Sorge tragen, die einem durch die Verhältnisse des Ortes, der Zeit oder irgendwelcher anderer Umstände gleichsam schon durch das Los näher verbunden sind. Wenn du z. B. von deinem Überfluß etwas an einen Dürftigen mit teilen sollst und du könntest es, falls dir zwei gleich bedürftige und gleich nahestehende Menschen begegneten, nicht beiden geben, so wäre es am gerechtesten, durch das Los den Empfänger einer Gabe zu bestimmen, die nicht beiden zugleich mitgeteilt werden kann. So hat man unter den Menschen, denen man nicht insgesamt helfen kann, die Innigkeit des gegenseitigen augenblicklichen Verbandes für die Entscheidung des Loses zu halten.
29. Kapitel: Wir müssen wünschen, daß alle Gott lieben
S. 36 30. Aus der Zahl all derer, die mit uns Gott genießen können, lieben wir teils solche, die wir selbst unterstützen, teils solche, von denen wir unterstützt werden, teils solche, deren Hilfe wir bedürfen oder deren Dürftigkeit wir abhelfen, teils solche, denen wir weder selbst einen Vorteil verschaffen noch von denen wir einen solchen erwarten. Das aber müssen wir doch wünschen, daß alle mit uns Gott lieben, und alles, womit wir unsere Mitmenschen unterstützen oder womit wir von ihnen unterstützt werden, muß sich auf dieses Ziel beziehen. Wenn einer z. B. in einem Theater, wo es doch so ruchlos zugeht, irgendeinen Schauspieler liebt und seine Kunst als ein hohes, ja höchstes Gut genießt, so liebt er alle, die seinen Schauspieler ebenso lieben; und das tut er nicht ihretwillen, sondern wegen dessen, den sie geradeso lieben wie er. Und je glühender er in seiner Liebe zu ihm ist, desto eifriger versucht er ihm auf jede Weise Liebhaber in großer Zahl zu verschaffen, und einer desto größeren Zahl von Zuschauern will er ihn zeigen. Sieht er einen, der kalt bleibt, so sucht er ihn, soviel er kann, durch Lobeserhebungen auf seinen Helden zu erwärmen; findet er aber gar einen Widersacher, so haßt er leidenschaftlich in ihm die Abneigung gegen seinen Liebling und arbeitet mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln darauf hin, diese Abneigung zu beseitigen. Was sollen daher wir in der Gesellschaft der Liebe Gottes tun, den zu genießen Seligkeit ist, von dem alle, die ihn lieben, sowohl ihr Dasein als auch ihr Lieben haben? Von ihm brauchen wir nicht zu fürchten, daß er einem, der ihn einmal kennt, mißfalle. Will er etwa geliebt werden, um von seinen Liebhabern eine Belohnung zu erhalten? Gibt nicht vielmehr er denen, die ihn lieben, eine ewige Belohnung: sich selbst, den Gegenstand ihrer Liebe? Daher kommt es, daß wir auch unsere Feinde lieben: wir fürchten uns nicht vor ihnen, als könnten sie uns den Gegenstand unserer Liebe entreißen; wir haben vielmehr Mitleid mit ihnen, weil sie uns um so mehr hassen, je S. 37weiter sie vom Gegenstand unserer Liebe getrennt sind. Werden sie aber einmal zu ihm bekehrt, so müssen sie ihn als das seligmachende Gut und uns als die Teilnehmer an einem solchen Gut lieben.
30. Kapitel: Unsere Nächsten sind alle Menschen und selbst die Engel
31. In diesem Zusammenhang drängt sich uns eine Frage bezüglich der Engel auf. Sie sind selig durch den Genuß dessen, den auch wir zu genießen verlangen. Je mehr wir ihn in diesem Leben im Spiegel oder wie in einem Rätsel genießen, desto geduldiger halten wir unsere Wanderschaft aus und desto sehnsüchtiger wünschen wir sie zu beenden. Ob aber zu jenen zwei Geboten auch die Liebe zu den Engeln gehört, das ist keine unvernünftige Frage. Denn daß jener, der die Nächstenliebe anbefohlen hat, keinen Menschen ausschließt, sagt der Herr im Evangelium selbst und auch der Apostel Paulus. Jener Schriftgelehrte, dem er die zwei Gebote vorgehalten und gesagt hatte, an ihnen hänge das ganze Gesetz und die Propheten, fragte ihn nämlich: „Und wer ist denn mein Nächster?“ Daraufhin stellte ihm Christus einen Menschen vor, der auf einer Reise von Jerusalem nach Jericho unter die Straßenräuber gefallen, von ihnen schwer verwundet und schließlich übel zugerichtet und halb tot liegen gelassen worden war; und nun zeigte der Herr dem Schriftgelehrten, daß dessen Nächster nur jener war, der gegen ihn, den der Erquickung und der Heilung bedürftigen Mann, barmherzig war, was der Fragesteller selbst zugestehen mußte. Diesem sagte der Herr: „Gehe hin und tue desgleichen!“, damit wir einsehen möchten, es sei derjenige unser Nächster, dem ein Dienst der Barmherzigkeit erwiesen werden muß, sobald er dessen bedarf, oder dem er wenigstens erwiesen werden müßte, wenn er dessen bedürfte. Daraus ergibt sich auch die S. 38Folgerung, daß auch jener unser Nächster ist, von dem umgekehrt auch uns ein solcher Dienst geleistet werden muß. Denn der Name „Nächster“ bedeutet jemandem wirklich nahe sein, und nur wem man wirklich ganz nahe steht, dem kann man Nächster sein. Wer sieht aber nicht ein, daß keinem ohne Ausnahme ein Dienst der Barmherzigkeit verweigert werden darf? Erstreckt sich diese Pflicht ja sogar auf die Feinde, da der Herr sagt: „Liebet eure Feinde! Tut Gutes denen, die euch hassen!“
32. So lehrt auch der Apostel Paulus, wenn er sagt: „Denn das Verbot: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lüstern sein und jedes andere Gebot ist in das Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; die Liebe zum Nächsten tut nichts Böses.“ Wer also glaubt, der Apostel habe nicht jeden Menschen in dieses Gebot eingeschlossen, muß das höchst abgeschmackte und frevelhafte Zugeständnis machen, der Apostel habe es für keine Sünde gehalten, wenn einer mit dem Weibe eines Nichtchristen oder seines Feindes die Ehe bricht oder wenn er ihn tötet oder nach seinem Gute trachtet. Wenn aber eine solche Behauptung ein Kennzeichen des Wahnsinnes wäre, so ist klar, daß man jeden Menschen für seinen Nächsten halten muß, weil man ja gegen gar niemanden Böses verüben darf.
33. Wenn also derjenige, an dem und auch derjenige, von dem ein Werk der Barmherzigkeit zu üben ist, mit Recht unser Nächster genannt wird, so ist es klar, daß in das Gebot der Nächstenliebe auch die heiligen Engel eingeschlossen sind; denn von jenen werden uns, was aus vielen Stellen der Heiligen Schrift leicht ersichtlich ist, sehr große Werke der Barmherzigkeit erwiesen. Aus diesem Grund hat sogar Gott, unser Herr, unser Nächster heißen wollen. Denn der Herr Jesus Christus bezeichnet sich selbst als jenen (barmherzigen S. 39Samaritan), der dem halbtot Daliegenden zu Hilfe kam, als er auf dem Weg von Räubern verwundet und liegen gelassen worden war. Und der Psalmist sagt in einem Gebet: „Wie einem Nächsten und wie unserem Bruder, so war ich zu Diensten.“ Weil aber das Wesen Gottes vortrefflicher und über unsere Natur erhaben ist, so besteht ein Unterschied zwischen dem Gebot der Gottesliebe und dem der Nächstenliebe. Gott erweist uns nämlich Barmherzigkeit wegen seiner eigenen Güte, wir Menschen aber erweisen uns gegenseitig Barmherzigkeit wegen seiner Güte; das heißt, er erbarmt sich über uns, damit wir ihn genießen möchten, wir aber erbarmen uns gegenseitig, um ihn zu genießen.
31. Kapitel: Gott genießt uns nicht, sondern er gebraucht uns
34. Demnach scheint es, als ob die Ausdrucksweise, daß wir eine Sache genießen, wenn wir sie um ihrer selbst willen lieben und daß wir nur jene Sache, die uns selig macht, genießen, alle anderen aber nur gebrauchen dürfen, noch zweideutig wäre. Denn Gott liebt uns, und die göttliche Schrift spricht gar oft von seiner Liebe zu uns: Wie steht es also mit seiner Liebe zu uns? Liebt er uns, um uns zu gebrauchen oder um uns zu genießen? Aber wenn er uns genießt, so bedarf er unseres Gutes: das wird aber kein vernünftiger Mensch behaupten. Denn all unser Gut, das ist er ja selber oder es stammt wenigstens von ihm. Für wen kann es z. B. auch unklar oder zweifelhaft sein, daß das Licht nicht des Glanzes jener Dinge bedarf, die es selbst erleuchtet? Darum sagt auch der Psalmist ganz deutlich: „Ich sprach zum Herrn: mein Gott bist du, weil du meiner Güter nicht bedarfst.“ Gott genießt uns also nicht, sondern er gebraucht uns. Denn würde er uns weder genießen noch auch gebrauchen, dann sehe ich nicht ein, wie er uns lieben sollte.
32. Kapitel: Wie Gott den Menschen gebraucht
S. 40 35. Aber die Art, wie Gott etwas gebraucht, ist nicht so, wie wir etwas gebrauchen. Wir beziehen die Dinge, die wir gebrauchen, auf den Genuß der göttlichen Güte, Gott aber bezieht den Gebrauch von uns auf seine eigene Güte. Weil er nämlich gütig ist, darum sind wir; und insoweit wir sind, sind wir gut. Er ist aber auch gerecht, und darum sind wir nicht ungestraft böse, und insoweit wir böse sind, ist unser Sein ein weniger vollkommenes. Der ist das höchste und ursprüngliche Sein, der ganz unveränderlich ist und der in vollem Sinn sagen konnte: „Ich bin der ich bin“ und „Sage ihnen: Der ist, der hat mich zu euch gesandt.“ Daher kann alles andere nur von ihm sein Dasein haben und kann nur insofern gut sein, insoweit es von ihm das Dasein erhalten hat. Der Gebrauch, den Gott von uns macht, hat nicht auf seinen, sondern nur auf unseren Nutzen und nur auf seine Güte Bezug. Wenn aber wir uns eines Menschen erbarmen und ihm helfen, so tun wir das zwar im Hinblick auf seinen Nutzen; aber auch für uns hat dieses Tun gewissermaßen einen Nutzen im Gefolge, da ja Gott die einem Dürftigen erwiesene Barmherzigkeit nicht unbelohnt läßt. Seine höchste Belohnung aber besteht darin, daß wir ihn genießen dürfen und daß wir alle, die ihn genießen, uns gegenseitig in ihm genießen.
33. Kapitel: Wie der Mensch genießen soll
36. Wenn wir uns nämlich in uns selbst (und nicht in ihm) genießen, so bleiben wir auf dem Wege stehen und setzen unsere Hoffnung (statt auf Gott) nur auf Menschen oder Engel. Das maßen sich stolze Menschen und Engel in der Tat an und haben ihre Freude daran, wenn andere ihre Hoffnung auf sie richten. Heilige Menschen und heilige Engel jedoch werden uns, auch wenn S. 41wir ermüdet sind und bei ihnen ausruhen und verbleiben wollen, zwar aufnehmen und uns mit einer Gabe erquicken, die sie selbst um unseret oder ihrer selbst wegen empfangen haben; aber dann, wenn wir so gestärkt worden sind, dann verweisen sie uns an den, in dessen Genuß wir geradeso selig werden können (wie sie). So ruft auch der Apostel (Paulus) aus: „Ist denn Paulus für euch gekreuzigt worden oder seid ihr im Namen des Paulus getauft worden?“ und „Weder der ist schon etwas, der pflanzt, noch der, welcher begießt, sondern erst der, welcher das Gedeihen verleiht: das ist Gott.“ Und der Engel mahnt einen Menschen, der ihn anbeten will, doch lieber den anbeten, unter dessen Herrschaft auch er selber nur sein Mitknecht sei).
37. Wenn man aber einen Menschen in Gott genießt, so genießt man mehr Gott als den Menschen. Genießt man ja doch jenen, durch den man selig gemacht wird und freut man sich doch darüber, daß man zu dem gelangt ist, zu dem zu kommen man ja hofft. Daher sagt Paulus zu Philemon: „Ja, mein Bruder, ich möchte dich genießen im Herrn.“ Hätte er nicht hinzugefügt: „Im Herrn“, sondern hätte er nur gesagt „ich möchte dich genießen“, so hätte er seine Seligkeitshoffnung auf Philemon gesetzt. Freilich gebraucht man den Ausdruck „genießen“ auch in dem sehr verwandten Sinn von „etwas mit Vergnügen gebrauchen“. Denn die Anwesenheit des Gegenstandes der Liebe muß Vergnügen mit sich bringen; ist dieses nur vorübergehend und wird es auf jenes Wesen, bei dem man verharren muß, bezogen, so „gebraucht“ man es; nur im uneigentlichen, nicht im eigentlichen Sinn heißt dieses „genießen“. Hängt man aber dauernd an diesem Gegenstand und sucht in ihm das Ziel seiner Freude, dann muß man im wahren und eigentlichen Sinn sagen, man „genieße“ ihn. Ein solcher Genuß ist aber nur möglich bei jener Dreifaltigkeit, die das höchste und unveränderliche Gut ist.
34. Kapitel: Der Weg zu Gott ist Christus
S. 42 38. Obgleich die Wahrheit selbst und das Wort, durch das alles gemacht worden ist, Fleisch geworden ist, um unter uns zu wohnen, so sagt doch der Apostel: „Und wenn wir Christus auch dem Fleische nach gekannt haben, so kennen wir ihn nun nicht mehr.“ Denn der Fleischgewordene bietet sich zum Besitze denen an, die ihre Wanderung schon vollendet haben, Weg aber will er denen sein, die sich erst zum Anfang ihrer Wanderung anschicken. Daher kommt auch jenes Wort: „Der Herr erschuf mich am Anfang seiner Wege.“ Darum müssen alle, die zum Ziel gelangen wollen, von ihm aus anfangen. Obgleich also der Apostel erst noch auf dem Wege wandelte und dem Rufe Gottes zur Palme der höheren Berufung erst folgte, so vergaß er doch, was rückwärts lag, richtete Herz und Sinn auf das, was vor ihm lag, und hatte damit den Anfang der Wege schon überschritten; das heißt, er bedurfte dessen nicht mehr, von dem aus alle diejenigen anfangen und ihre Reise beginnen müssen, die zur Wahrheit gelangen und dauernd dem ewigen Leben angehören wollen. So sagt nämlich Christus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, das heißt: durch mich kommt man, zu mir gelangt man, in mir verbleibt man. Gelangt man nämlich zu ihm, so gelangt man auch zum Vater; durch denjenigen nämlich, der ihm (dem Vater) gleich ist (durch den Sohn), wird auch jener erkannt, dem er gleich ist (der Vater). Durch den Heiligen Geist aber werden wir aufs allerengste mit dem höchsten und unveränderlichen Gute verbunden, auf daß wir darin verharren können. Daraus ist ersichtlich, wie wenig uns irgend etwas auf dem Wege fesseln darf, da ja nicht einmal der Herr selbst, sofern er sich würdigte, unser Weg zu sein, verlangt, daß wir uns bei ihm aufhalten, sondern S. 43nur, daß wir an ihm vorübergehen sollen. An jenen zeitlichen Dingen vollends, die er bloß zu unserem Heile übernahm und ausführte, wollen wir nicht schwächlich haften: Nein, mit frischem Mute wollen wir mitten durch sie hindurcheilen, damit wir wie im Flug bis zu dem vorzudringen verdienen, der unsere Natur vom Zeitlichen befreit und zur Rechten des Vaters gestellt hat.
35. Kapitel: Die Fülle und das Ziel des Gesetzes ist die Gottes- und Nächstenliebe
39. Das Hauptziel all unserer Worte vom Beginn unserer Abhandlung an ist die Erkenntnis, daß die Fülle und die Aufgabe des Gesetzes die Liebe ist, und zwar die Liebe zu der zum Genuß bestimmten Sache und die Liebe zu der mit uns zum Genuß berufenen Sache; denn sich selbst zu lieben, das braucht man niemandem erst vorzuschreiben. Um dieses Ziel erkennen und erreichen zu können, ist die ganze zeitliche Anordnung von der göttlichen Vorsehung zu unserem Heil getroffen worden. Wir dürfen daher diese zeitlichen Vorkehrungen nicht als etwas Bleibendes mit Liebe und Ergötzen gebrauchen, müssen sie vielmehr als etwas Vorübergehendes betrachten, etwa als Wege, als Fahrzeuge oder als sonstige Beförderungsmittel — oder was es etwa sonst für passende Namen dafür gibt —, damit wir ja dasjenige, durch das wir geführt werden, nur um dessentwillen lieben, zu dem wir geführt werden.
36. und 37. Kapitel: Auch eine an sich fehlerhafte Schrifterklärung ist nicht lügnerisch; nur muß sie die Liebe auferbauen
40. Wer also die ganzen heiligen Schriften oder wenigstens irgendeinen Teil davon verstanden zu haben glaubt, dabei aber doch durch dieses Verständnis jene Doppelliebe zu Gott und zum Mitmenschen nicht auf erbaut, der hat sie noch nicht verstanden. Wer aber aus der Heiligen Schrift eine solche Ansicht zieht, die S. 44zur Auferbauung dieser Liebe dient, der ist weder in verderblicher Täuschung noch überhaupt in Lüge befangen, auch wenn er etwas anderes sagt, als der Schriftsteller, den er liest, an dieser Stelle nachweisbar gedacht hat. Denn wenn einer lügt, so hat er doch die bewußte Absicht, etwas Falsches zu sagen. Darum finden wir so viele Menschen, die lügen wollen, wir finden aber niemanden, der belogen werden will. Da nun der Mensch mit Wissen lügt, unwissentlich aber getäuscht wird, so erhellt zur Genüge, daß, wenn es sich um ein und denselben Fall handelt, der Getäuschte besser ist als der Lügner; ist es ja doch besser, Unrecht zu leiden, als wie Unrecht zu tun; jeder aber, der lügt, tut Unrecht. Wenn daher jemand unter Umständen die Lüge für nützlich hält, so kann er auch das Unrecht einmal für nützlich halten. Denn kein Lügner rechtfertigt in dem Punkte, wo er lügt, das Vertrauen, gleichwohl aber will er, daß jener, den er belügt, ihm Vertrauen schenke, das er selbst durch seine Lüge nicht beachtet: jedermann jedoch, der ein Vertrauen verletzt, ist ungerecht. Entweder müßte also die Ungerechtigkeit zuweilen nützlich sein, was niemals geschehen kann, oder die Lüge ist zu jeder Zeit unnütz.
41. Jedermann, der in den heiligen Schriften einen andern Sinn findet, als die Verfasser beabsichtigt haben, der befindet sich in einem Irrtum, ohne daß deshalb die Verfasser lügen. Besteht, wie gesagt, seine Täuschung in der Annahme eines Sinnes, der immerhin die Liebe, das Ziel des Gesetzes auferbaut, so befindet er sich zwar im Irrtum, aber so wie ein Wanderer, der vom Wege abweicht, aber über das Feld eben dahin geht, wohin auch jener Weg führt. Man soll ihn jedoch auf den rechten Weg weisen und ihm zeigen, daß es viel besser sei, den Weg hier nicht zu verlassen, weil er sonst schließlich doch in eine ganz verkehrte Richtung geraten würde. (37. Kap.) Da er nämlich kurzerhand einen Sinn aufstellt, den der Verfasser nicht beabsichtigt, so stößt er meistens auf etwas anderes, was er mit seiner S. 45Behauptung nicht in Einklang bringen kann. Wenn er nun merkt, daß dieses wahr und unumstößlich ist, so kann doch wohl der Sinn, den er selbst herausgefunden hat, nicht wahr sein, und er wird merkwürdigerweise so umgestimmt, daß er aus Vorliebe für seine eigene Ansicht der Heiligen Schrift ungünstiger als sich selbst zu werden beginnt. Läßt er dieses Übel langsam einschleichen, so wird er davon zugrunde gerichtet werden. Denn unser Wandel ist im Glauben und nicht im Schauen; es wird aber der Glaube ins Wanken geraten, sobald das Ansehen der Heiligen Schrift wankt; wankt aber einmal der Glaube, dann wird auch die Liebe kalt. Denn wer vom Glauben abfällt, der muß auch von der Liebe abfallen; er kann ja nicht etwas lieben, an dessen Dasein er nicht glaubt. Wer sodann glaubt und liebt, wer Gutes tut und den Vorschriften guter Sitten gehorcht, der darf damit hoffen, zum Gegenstand seiner Liebe zu gelangen. Darum sind es diese drei Tugenden, deren sich Wissenschaft und Prophetie im Kampfe bedienen, nämlich der Glaube, die Hoffnung und die Liebe.
38. Kapitel : Die Liebe bleibt immer
42. Dem Glauben folgt die Hoffnung, die wir erfüllt sehen werden, der Hoffnung aber folgt die Seligkeit selbst nach, zu der wir gelangen sollen. Aber auch wenn jene nachlassen werden, so wird doch die Liebe noch mehr zunehmen. Wenn wir nämlich schon auf Grund des Glaubens dasjenige lieben, was wir noch gar nicht sehen, um wieviel mehr werden wir es erst dann lieben, wenn wir es einmal wirklich sehen? Und wenn wir auf Grund der Hoffnung das Ziel lieben, zu dem wir noch gar nicht gelangt sind, um wieviel mehr werden wir es erst dann lieben, wenn wir es wirklich einmal erlangt haben? Besteht ja doch zwischen zeitlichen und ewigen Gütern der Unterschied, daß zeitliche Güter etwas mehr geliebt werden, bevor man sie besitzt, während sie an Wert verlieren, sobald sie einmal S. 46eingetroffen sind. Zeitliches vermag nämlich den Geist nicht zu befriedigen, dessen wahrer und ruhiger Sitz die Ewigkeit ist. Ewige Güter aber werden glühender geliebt, wenn man sie einmal erlangt hat, als solange man sich noch nach ihnen sehnt. Kein Mensch kann nämlich, solange er auf das Ewige harrt, mehr davon erwarten, als es in sich schließt, so daß es für ihn wertlos werden könnte, wenn er es geringer findet. Mag einer auf dem Wege auch noch so viel erwarten, er wird bei seiner Ankunft doch noch mehr vorfinden.
39. Kapitel: Die Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe können den Besitz der Heiligen Schrift ersetzen
43. Daher braucht ein Mensch, der sich auf den Glauben, die Hoffnung und die Liebe stützen kann und daran unerschütterlich festhält, die heiligen Schriften nur zur Belehrung anderer Menschen. Darum gibt es viele Menschen, die kraft dieser drei Tugenden auch in der Wüste draußen leben, ohne (heilige) Bücher zu besitzen. An diesen ist wohl die Weissagung schon erfüllt: „Gilt es Weissagungen, sie werden verschwinden; gilt es Sprachen, sie werden aufhören; gilt es Wissenschaften, sie werden abgetan werden.“ Sie sind jedoch durch diese Hilfsmittel mit einem solchen Maß des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe ausgerüstet worden, daß sie, die in dem Besitz des Vollendeten sind, etwas Stückhaftes gar nicht suchen; ihre Vollendung ist freilich nur von der Art, wie sie in diesem Leben eben sein kann. Denn im Vergleich mit dem jenseitigen Leben ist ja kein Leben eines Gerechten oder Heiligen vollkommen. Es blieben denn diese drei: Glaube, Hoffnung und Liebe; das größte darunter aber ist die Liebe. Denn auch, wenn einer einmal zum ewigen Leben gelangt ist und wenn die beiden anderen Tugenden aufgehört haben, dann wird doch die Liebe noch vorhanden sein, und zwar in einem gesteigerten und gesicherten Grade.
40. Kapitel: Die rechten Leser der Heiligen Schrift
S. 47 44. Wer also erkannt hat, daß das Ziel des Gesetzes die Liebe sei aus reinem Herzen, aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben, und wer entschlossen ist, den Sinn der göttlichen Bücher ganz auf diese drei Stücke zu beziehen, der mag ruhig an die Behandlung jener (heiligen) Bücher herantreten. Als der Apostel die Liebe nannte, da fügte er bei, „aus reinem Herzen“, damit nur das geliebt werde, was der Liebe würdig ist. Das gute Gewissen aber verband er damit wegen der Hoffnung: denn einer, dem das beängstigende Gefühl des bösen Gewissens innewohnt, gibt die Hoffnung auf, zum Gegenstand seiner Hoffnung und seiner Liebe zu gelangen. Drittens fordert der Apostel: „Aus ungeheucheltem Glauben.“ Denn wenn unser Glaube von Lüge frei ist, dann lieben wir auch das nicht, was unserer Liebe nicht wert ist, und hoffen auf Grund eines guten Lebens, daß unsere Hoffnung durchaus nicht getäuscht werde. Ich habe deshalb von Glaubenssachen nur das, was ich für zweckmäßig erachte, sagen wollen, weil auch schon in anderen Büchern, mögen sie nun von mir oder von anderen Verfassern stammen, vieles darüber gesagt worden ist. Ich will darum dieses Buch schließen. Über die Zeichen werde ich das Weitere nach Maß der göttlichen Mitteilungen besprechen.
2. Buch
Inhalt
S. 48* Augustinus wendet sich nunmehr zur Besprechung der Zeichen. Diese zerfallen in natürliche und gegebene; nur letztere will er besprechen. Für die zahlreichsten und wichtigsten Zeichen, für die Worte, wurden wieder eigene Zeichen erfunden, die Buchstaben. Die ursprüngliche Einheit der Sprache, ging infolge des menschlichen Hochmutes verloren (1—5). Das wichtigste Buch, die Heilige Schrift, ist dunkel und schwer verständlich; aber gerade dies fesselt den denkenden Geist. Ist auch das Verständnis schwierig, so ist es doch möglich durch die sieben Gaben des Heiligen Geistes (6—7), unter denen die wichtigste die Wissenschaft ist; diese Wissenschaft betätigt sich in dem Studium der kanonischen Schriften. Der Hauptgrundsatz einer katholischen Schriftauslegung besteht darin, dunkle Stellen durch klar verständliche zu erklären und in allem die Glaubensregel als Richtschnur anzulegen (8—9). Was die Zeichen insbesondere betrifft, so sind eigentliche und übertragene Zeichen zu unterscheiden; die Dunkelheit der eigentlichen Zeichen wird gehoben durch die Kenntnis der biblischen Sprachen; sogar aus der Vergleichung der sich vielfach widersprechenden Übersetzungen kann man häufig den richtigen Sinn erschließen. Auch die übertragenen Zeichen lassen sich in ähnlicher Weise wie die eigentlichen durch Wort- und Sachkenntnis, besonders durch Kenntnis der Naturgeschichte, der Zahlen und der Musik erschließen (10—17).*
Die Erwähnung der Musik veranlaßt den hl. Augustinus, die Fabel von den neun Musen zu erwähnen und dann überhaupt die Kenntnisse der Heiden zu besprechen. Soweit diese heidnischen Wissenschaften gut sind, sind sie nicht zu verachten (18—19). Sie sind teils menschliche Erfindungen, teils beruhen sie auf göttlicher Anordnung. Die ersteren sind teils abergläubisch S. 49und verwerflich, wie die Wahrsagerei und die Astrologie (20—25). Soweit die menschlichen Erfindungen nicht abergläubisch sind, sind sie teils überflüssig, wie die Mimik, die Malerei, die Bildhauerei und ein Teil der Poesie, teils aber auch nützlich, wie gewisse gesellschaftliche Einrichtungen, an die sich auch der Christ zu halten hat (26—27). Die von Gott stammenden Kenntnisse der Heiden fallen teils in das Gebiet der Sinneswahrnehmung, wie Geschichte, Naturwissenschaft, Astronomie und die mechanischen Künste (28—31). Unter den geistigen Kenntnissen behauptet die Dialektik den ersten Rang, deren Kenntnis aber keineswegs mit der Kenntnis der Wahrheit selbst zusammenfällt. Sowohl Dialektik als auch Rhetorik sind wertvoll als wissenschaftliche Hilfsmittel; dasselbe gilt von der Mathematik (32—39). Bei weiser Vorsicht ist es dem christlichen Jüngling wohl gestattet, sich die Wissensschätze der Heiden anzueignen (40—41). Doch übertrifft die Heilige Schrift an Tiefe des Inhaltes weitaus alle Schriften der Heiden (42—43).
1. Kapitel: Begriff und Einteilung der Zeichen
1. Als ich von den Sachen schrieb, schickte ich die Mahnung voraus, nur auf ihr Wesen zu achten und nicht auf das, was sie etwa sonst noch bedeuten könnten; da ich jetzt umgekehrt von den Zeichen handle, so mache ich darauf aufmerksam, nicht auf ihre natürliche Bedeutung zu sehen, sondern vielmehr zu beachten, daß sie Zeichen sind, das heißt, daß sie also etwas anzeigen. Ein Zeichen ist nämlich eine Sache, die außer ihrer sinnenfälligen Erscheinung aus ihrer Natur heraus noch einen anderen Gedanken nahelegt: sehen wir z. B. eine Spur, so denken wir uns, es sei das Tier vorübergegangen, dessen Spur es ist; oder sehen wir Rauch, so erkennen wir, daß auch Feuer in der Nähe ist; hören wir die Stimme eines Tieres, so können wir daraus auch einen Schluß auf seine Gemütsstimmung ziehen; an dem Ton der Kriegstrompete erkennen die Soldaten, ob sie vorrücken oder sich zurückziehen oder eine andere zur Schlacht gehörige Bewegung vollführen sollen.
S. 502. Die Zeichen sind also teils natürliche, teils gegebene. Natürliche Zeichen sind jene, die ohne Absicht und ohne etwas anderes bedeuten zu wollen außer ihrer eigenen Natur noch etwas anderes erkennen lassen, so wie z. B. der Rauch auf das Feuer hinweist. Nicht mit Absicht tut dies der Rauch, sondern aus der Beobachtung und aus der Kenntnis der Erfahrung weiß man, daß Feuer in der Nähe ist, wenn auch nur Rauch sichtbar ist. Auch die Spur eines vorübergehenden Tieres gehört zur gleichen Art von Zeichen. Die Miene eines zornmütigen oder eines betrübten Menschen verrät seine Gemütsstimmung, auch ohne daß der Zornige oder der Betrübte es selbst will; auch andere Seelenbewegungen geben sich durch den Gesichtsausdruck kund, auch wenn wir selbst es nicht beabsichtigen. Doch von all diesen Erscheinungen zu sprechen, ist jetzt nicht meine Absicht; nur weil uns unsere Einteilung gerade darauf führte, konnte ich sie nicht ganz übergehen. Das Gesagte mag für diesen Zweck genügen.
2. Kapitel: Angabe des in diesem Buche behandelten Themas
3. Was die gegebenen Zeichen betrifft, so versteht man darunter jene, die sich lebende Wesen gegenseitig geben, um so gut als möglich ihre Gemütsbewegungen, Gefühle und Kenntnisse aller Art anzuzeigen; denn der einzige Grund, etwas anzudeuten, d. h. ein Zeichen zu geben, liegt darin, das, was derjenige, der das Zeichen gibt, in seiner Seele trägt, hervorzunehmen und in die Seele eines anderen überzuleiten. Diese Art von Zeichen also, soweit sie Menschen betrifft, wollen wir betrachten und behandeln; denn auch die von Gott gegebenen, in der Heiligen Schrift enthaltenen Zeichen sind uns wieder nur durch die Menschen, die sie aufschrieben, kund geworden. Gewisse Zeichen unter sich haben wohl auch die Tiere, um dadurch das Verlangen ihrer Seele kund zu tun. Findet z. B. der Hahn etwas zu fressen, so ruft er durch ein Zeichen seiner Stimme seine Henne herbei; der Täuberich lockt durch sein Gurren sein Weibchen und wird so auch wieder von ihm gerufen. S. 51Ähnliche Beispiele lassen sich noch viele beobachten. Ob nun diese Zeichen etwa wie die Miene oder das Geschrei eines schmerzgequälten Menschen ohne die bewußte Absicht, etwas anzudeuten, einfach der Gemütsbewegung folgen oder ob sie im eigentlichen Sinn (bewußt) zur Bezeichnung (eines Affekts) gegeben werden, das ist eine andere Frage, die nicht zur Sache gehört. Wir scheiden diesen Teil der Zeichen als nicht notwendig von diesem Werke aus.
3. Kapitel: Die vornehmlichsten Zeichen sind die Worte
4. Von den Zeichen nun, wodurch sich die Menschen ihre Gefühle mitteilen, gehören einige zu dem Gesichtssinn, die meisten zum Gehörsinn, nur sehr wenige zu den übrigen Sinnen. Wenn wir z. B. jemandem zunicken, so geben wir nur den Augen desjenigen, dem wir dadurch unsere Absicht mitteilen wollen, ein Zeichen. Manche Leute deuten sehr vieles durch Handbewegungen an; auch die Schauspieler geben denen, die solche Zeichen verstehen, durch die Bewegung all ihrer Glieder Zeichen und sprechen gleichsam mit deren Augen; auch beim Militär geben Fahnen und Drachen den Willen der Feldherrn durch den Gesichtssinn kund. All diese Zeichen sind sozusagen sichtbare Worte. — Die Mehrzahl der Zeichen bezieht sich aber, wie gesagt, auf den Gehörsinn: solche Zeichen sind vor allem die Worte. Es geben ja wohl auch Trompete und Flöte und Zither meist Töne von sich, die nicht bloß lieblich klingen, sondern auch etwas Besonderes bedeuten. Doch sind all diese Zeichen im Vergleich mit den Worten sehr gering an Zahl. Die Worte aber nehmen im menschlichen Verkehr durchaus die erste Stelle ein und drücken alle Gedanken aus, die man überhaupt mitteilen will. Freilich hat der Herr auch durch den Geruch des Salböls, mit dem seine Füße gesalbt S. 52wurden, ein Zeichen gegeben, auch gab er dadurch, daß er das Sakrament seines Leibes und Blutes zuerst kostete, ein Zeichen seines Willens; auch das ist ein bezeichnender Umstand, daß das Weib durch die Berührung seines Kleides gesund wurde: aber trotzdem besteht die ungeheure Mehrzahl all der Zeichen, wodurch die Menschen ihre Gedanken darlegen, in Worten. Denn all jene Zeichen, deren Arten ich kurz berührte, hätte ich auch durch Worte ausdrücken können; mit jenen Zeichen aber andererseits die Worte auszudrücken, das wäre mir ganz unmöglich gewesen.
4. Kapitel: Von dem Ursprung der Schrift
5. Weil aber das gesprochene Wort nur die Luft bewegt und vorübergeht und weil es daher nur solange andauert, als es tönt, so hat man durch die Buchstaben Zeichen für die Worte eingeführt. Auf solche Weise werden die gesprochenen Worte nicht ihrem Wesen nach, sondern gleichsam durch ihre sichtbaren Zeichen den Augen gezeigt. Diese Zeichen konnten nicht allen Völkern gemeinsam sein, weil sich das Menschengeschlecht bei der einem jeden innewohnenden Sucht nach Erlangung der Herrschaft aus eigener Schuld getrennt hat. Ein Zeichen dieses menschlichen Hochmutes ist der bis zum Himmel ragende (babylonische) Turm; bei dessen Bau verdienten es die Menschen in ihrer Gottlosigkeit nicht bloß ihrer Gesinnung nach, sondern auch ihrer Sprache nach voneinander getrennt zu werden.
5. Kapitel: Von der Verbreitung der Heiligen Schrift unter die Leser aller Zungen
6. So kam es, daß sogar die göttlichen Schriften, durchgehe so vielen Krankheiten im menschlichen S. 53Begehrungsvermögen begegnet wird und die doch von einer Ursprache ausgehen, in der sie ganz gut über den ganzen Erdkreis hätten ausgebreitet werden können, nur in den verschiedenen Sprachen der Übersetzer überall hingebracht und so den Völkern zu ihrem Heil bekannt gemacht werden. Ihre Leser haben kein anderes Verlangen, als die Gedanken und den Willen ihrer Verfasser und dadurch den Willen Gottes kennen zu lernen; denn wir glauben, daß solche Männer dem göttlichen Willen gemäß gesprochen haben.
6. Kapitel: Auch die Dunkelheit gewisser Stellen der Heiligen Schrift hat ihre Bedeutung
7. Es gibt jedoch in den heiligen Schriften zahlreiche, verschiedene Dunkelheiten und zweideutige Ausdrücke, durch die sich vorwitzige Leser täuschen lassen. Bald verwechseln sie die Gedanken, an manchen Stellen wissen sie nicht einmal eine falsche Vermutung auszusprechen, so dicht ist die Finsternis, die einige dunkle Ausdrücke verbreiten. Diese Vorkehrung wurde ohne Zweifel deshalb von Gott getroffen, um den Hochmut durch mühselige Arbeiten zu zähmen und den Geist, dem ohne Mühe Erforschtes sehr häufig wertlos wird, vor Ekel zu bewahren. Wieviel kommt doch auf die Ausdrucksweise an! Es könnte einer z. B. ganz gut sagen, es gebe heilige und vollkommene Menschen, durch deren Leben und Sitten die Kirche diejenigen, die zu ihr kommen, von jeder Art von Aberglauben lostrennt und sich durch Nachahmung des Guten sozusagen einverleibt: diese guten Gläubigen und wahren Diener Gottes haben die Last der Welt abgelegt und sind zum heiligen Bade der Taufe gekommen, und nach der Taufe bringen sie infolge des Empfangs des Heiligen Geistes die Frucht einer doppelten Liebe hervor, nämlich der Gottes- und Nächstenliebe. Wie kommt es nun, daß eine solche Ausdrucksweise weniger ergötzt, als wenn jemand in demselben Sinn jene Stelle im Hohen Lied erklärt, wo zur Kirche, während sie als schönes Weib gelobt wird, gesagt wird: „Deine Zähne sind wie eine S. 54Herde frischgeschorener Schafe, die gerade aus dem Bade steigt; alle bringen zwei Junge zur Welt, und kein unfruchtbares Schaf ist unter ihnen.“ Lernt man vielleicht aus dieser Stelle etwas anderes, als was man vorhin mit ganz klaren Worten ohne die Beihilfe des Gleichnisses hörte? Und doch betrachte ich mir die Heiligen — ich kann nicht sagen, woher es kommt — mit größerer Süßigkeit, wenn ich sie gleichsam als die Zähne der Kirche die Menschen vom Irrtum abbeißen, das dem Leib der Kirche innewohnende Herbe mildern und es dann gleichsam zerbissen und zerkaut in ihren Leib überleiten sehe. Die größte Freude macht es mir, wenn ich die Schafe (der Kirche) geschoren sehe, nachdem sie die Last der Welt wie Wolle abgelegt haben; sie steigen aus dem Bade heraus, das heißt aus der Taufe; alle Schafe bringen zwei Junge zur Welt, nämlich die zwei Gebote der Liebe (zu Gott und zum Nächsten), und ich sehe, daß keines an jener heiligen Frucht unfruchtbar ist.
8. Aber warum ich sie lieber so sehe, als wenn aus den göttlichen Schriften kein solches Geheimnis gezogen würde, ist bei der vollen Gleichheit der Sache und des Gedankens freilich schwer anzugeben und gehört auch nicht zur Sache. Es zweifelt aber niemand daran, daß der Mensch die Wahrheit viel lieber durch Vermittlung von Gleichnissen erforscht und an ihrem Auffinden viel mehr Freude hat, wenn es mit einiger Schwierigkeit verbunden ist. Wer nämlich gar nicht zu finden weiß, wonach ihn verlangt, der leidet Hunger; wen aber nach gar nichts verlangt, obwohl es ihm zu Diensten steht, der wird oft vor lauter Ekel ganz mager; in beiden Fällen ist Schwäche zu besorgen. Da hat nun der Heilige Geist in großartiger und bekömmlicher Weise die heiligen Schriften so eingerichtet, daß er durch die klaren Stellen den Hunger stillt, aber auch durch schwerer verständliche den Ekel ferne zu halten weiß. Denn aus den schwierigen Stellen wird fast nichts erhoben, was sich nicht auch anderswo ganz deutlich finden läßt.
7. Kapitel: Zum Gipfel der Weisheit steigt man auf sieben Tugendstufen empor
S. 559. Zu allererst ist notwendig, sich mit Gottesfurcht auf die Erforschung seines Willens, seiner Gebote und Verbote zu verlegen. Jene Furcht muß uns den Gedanken an unsere Sterblichkeit und an unseren künftigen Tod einprägen und muß gleichsam durch Annagelung des Fleisches alle Regungen des Hochmutes ans Holz des Kreuzes heften. Dieses Werk muß sodann durch die Frömmigkeit gemildert werden. Wir dürfen daher weder der Schrift widersprechen, wenn wir sie verstehen und sie einige Fehler von uns tadelt, noch dürfen wir sie anklagen, wenn wir sie nicht verstehen, als hätten wir bessere Einsicht und verstünden uns besser darauf, Vorschriften zu erlassen. Im Gegenteil haben wir zu denken und zu glauben, das dort Geschriebene sei, auch wenn es uns verborgen ist, besser und wahrer als das, was wir aus uns selbst zu erkennen vermögen.
10. Nach diesen zwei Stufen der Gottesfurcht und der Frömmigkeit gelangt man zur dritten Stufe, zur Erkenntniswissenschaft, von der ich nun handeln will. Denn darin übt sich ein jeder, der sich mit der Heiligen Schrift in keiner anderen Absicht beschäftigt, als um zu finden, man müsse Gott wegen Gott lieben und den Nächsten auch wegen Gott, und zwar müsse man Gott lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüte, den Nächsten aber wie sich selbst, damit so die ganze Nächsten- und Selbstliebe auf Gott bezogen werde. Von diesen beiden Geboten haben wir im vorigen Buch bei der Behandlung der Sachen gesprochen. Ein jeder muß also in der Heiligen Schrift fürs erste finden, daß er in die Liebe zu dieser Welt, das heißt zu den zeitlichen Dingen, verstrickt und daher weit von jener Gottes- und Nächstenliebe entfernt ist, wie sie die Heilige Schrift vorschreibt. Die Furcht denkt sodann an das Gericht Gottes, und die Frömmigkeit S. 56nötigt ihn, dem Ansehen der göttlichen Bücher zu glauben und sich ihm zu fügen, und so zwingen ihn beide Tugenden, sich selbst zu betrauern. Denn jene Wissenschaft der guten Hoffnung veranlaßt den Menschen nicht zum Übermut, sondern zum Reueschmerz; und dadurch erlangt er auf eifrige Bitten hin den Trost des göttlichen Beistandes und wird so davor bewahrt, in der Verzweiflung zusammenzubrechen. Auf diese Weise kommt er dann zur vierten Stufe, zur Stärke, auf der man förmlichen Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit empfindet. Kraft dieser Tugend löst er sich nämlich von jeder verderblichen Lust an vergänglichen Dingen los und wendet sich von ihnen weg zur Liebe der ewigen Dinge, nämlich zu der unveränderlichen Einheit und wesensgleichen Dreifaltigkeit (Gottes).
11. Wenn er nun, soweit es ihm möglich ist, sieht, wie die göttliche Dreifaltigkeit weithin ihre Strahlen wirft, und wenn er fühlt, daß er wegen der Schwäche seiner Augen jenes Licht nicht zu ertragen vermag, dann reinigt er auf der fünften Stufe, d. h. im Rate der Barmherzigkeit, seine Seele, die sich gewissermaßen in Aufregung befindet und ihm wegen der Flecken, die ihr infolge ihres Verlangens nach niedrigen Dingen anhaften, widerstreben möchte. Auf dieser Stufe übt er sich eifrig in der Nächstenliebe und vervollkommnet sich darin; ist er dann voll Hoffnung und mit ungeteilter Kraft bis zur Feindesliebe gekommen, so steigt er damit zur sechsten Stufe empor. Hier erwirbt er seinem Auge sogar jene Klarheit, mit der man Gott schauen kann, soweit Gott natürlich überhaupt auch von solchen Menschen gesehen werden kann, die dieser Welt nach Kräften absterben. Man sieht nämlich Gott nur insoweit, als man dieser Welt abstirbt; soweit man aber dieser Welt lebt, sieht man ihn nicht. Obgleich nun der Glanz jenes Lichtes schon viel bestimmter und nicht bloß erträglicher, sondern sogar angenehmer zu leuchten beginnt, so sagt man doch (auch noch auf dieser Stufe), unser Schauen geschehe rätselweise und wie durch einen Spiegel; wandeln wir ja doch noch mehr im S. 57Glauben als schon im Anschauen, solange wir in diesem Leben pilgern, und wenn wir unsern Wandel auch noch so sehr schon im Himmel hätten. Auf dieser Stufe reinigt der Mensch das Auge seines Herzens so, daß er der Wahrheit nicht einmal seinen Nächsten vorzieht oder auch nur gleichstellt; auch sich selbst zieht er darum der Wahrheit nicht vor oder stellt sich ihr gleich, weil er es ja auch mit seinem Nächsten nicht tut, den er doch liebt wie sich selbst. Ein solcher Heiliger wird darum so einfachen und reinen Herzens sein, daß er sich weder vom Streben, den Menschen zu gefallen, von der Wahrheit abbringen läßt, noch auch davon abweicht aus Rücksicht auf irgendwelche Beschwerden, die sich diesem Leben hinderlich in den Weg stellen. Ein solcher Sohn steigt dann bis zur siebten und letzten Stufe empor, bis zur Weisheit, und genießt sie in völliger Seelenruhe. Denn der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn. Auf den erwähnten Stufen aber strebt und kommt man von der Furcht zur Weisheit.
8. Kapitel: Der Kanon der Heiligen Schrift
12. Wir wollen unsere Betrachtung jedoch wieder zur dritten Stufe zurücklenken und darüber auseinandersetzen und ausführen, was uns der Herr eingeben wird. Der eifrigste Schriftforscher wird also der sein, der sie zu allererst einmal ganz gelesen hat und sie, wenn auch nicht gerade nach ihrem (vollen) Sinn, so doch dem Wortlaut nach kennt; dies gilt wenigstens von den sogenannten kanonischen Schriften. Denn all die anderen (nichtkanonischen) Schriften wird er mit geringerer Gefahr lesen, wenn er mit dem wahren Glauben ausgerüstet ist. Sie werden dann den schwachen Geist nicht für sich einnehmen, ihn nicht durch gefährliche Lügen und Träumereien narren und so ein Vorurteil gegen ein gesundes Verständnis verursachen. Bezüglich der kanonischen Geltung der Schriften folge er dem S. 58Ansehen der großen Mehrzahl der katholischen Kirchen; unter diesen Kirchen sollen sich wenigstens jene befinden, die gewürdigt wurden, Sitze von Aposteln zu sein und von ihnen Briefe zu empfangen. Er wird also bezüglich der kanonischen Schriften den Grundsatz befolgen, daß er die von allen katholischen Kirchen angenommenen Schriften jenen vorzieht, die einige Kirchen nicht annehmen. Was nun die nicht von allen Kirchen angenommenen Schriften anbelangt, so wird er jenen Schriften, welche die an Zahl und Ansehen überwiegenden Kirchen anerkennen, den Vorzug vor jenen Schriften geben, die nur weniger zahlreiche und weniger angesehene Kirchen als echt annehmen. Findet man aber, daß einige Schriften nur bei einer größeren Zahl von Kirchen, andere Schriften wieder nur bei den bedeutenderen Kirchen in Geltung sind, ein Fall, der wohl nicht leicht vorkommt, so sollen sie nach meiner Ansicht gleiches Ansehen haben.
13. Der ganze Kanon der heiligen Schriften nun, mit dem sich jene Betrachtung befassen muß, enthält folgende Bücher: die fünf Bücher Moses, nämlich das Buch Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium, ein Buch Jesu Nave, ein Buch der Richter, ein Büchlein, genannt Ruth, das eher zum Anfang der Bücher der Könige zu gehören scheint, sodann vier Bücher der Könige und zwei Bücher Paralipomena; diese letzteren schließen sich nicht an die Bücher der Könige an, sondern gehen ihnen gleichsam im gleichen Schritt zur Seite. Das sind die Geschichtsbücher, welche die Tatsachen nach der Ordnung der Zeit und der Reihenfolge nach erzählen. Einige Bücher gibt es auch, die einer verschiedenen Ordnung angehören und sich weder jener Reihenfolge anschließen noch auch untereinander zusammenhängen, wie das Buch Job, Tobias, Esther, Judith, die zwei Bücher der Makkabäer und die zwei Bücher Esdras; es scheint, als ob sie eher auf die bis zum Schluß der Bücher der Könige und der Paralipomena geordnete Geschichte folgten. Daran reihen sich die Propheten: darunter befindet sich von David S. 59ein Buch der Psalmen und von Salomon drei Bücher: nämlich das Buch der Sprichwörter, das Hohe Lied und der Prediger. Die zwei anderen Bücher nämlich, von denen das eine den Titel „Weisheit“ und das andere den Titel „Ecclesiasticus“ führt, werden nur wegen einer gewissen Ähnlichkeit dem Salomon zugeschrieben; in Wirklichkeit hat sie nämlich nach einer sehr bestimmten Überlieferung Jesus Sirach verfaßt. Nachdem sie aber einmal der Aufnahme unter die kanonischen Bücher gewürdigt wurden, müssen sie unter die prophetischen Bücher gezählt werden. Die übrigen Bücher sind die Schriften derjenigen Männer, die im eigentlichen Sinn Propheten heißen. Die einzelnen Bücher von zwölf Propheten werden, weil man sie nie trennt, immer zusammengeschrieben und als ein Buch betrachtet. Die Namen dieser Propheten sind folgende: Osee, Joel, Amos, Abdias, Jonas, Michaeas, Nahum, Habakuk, Sophonias, Aggaeus, Zacharias, Malachias. Von vier Propheten stammen größere Bücher, nämlich von Isaias, Jeremias, Daniel und Ezechiel. Mit diesen vierundvierzig Büchern schließt der geltende Kanon des Alten Testamentes. — Zum Kanon des Neuen Testamentes gehören die vier Bücher Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, die vierzehn Briefe des Apostels Paulus, nämlich einer an die Römer, zwei an die Korinther, einer an die Galater, einer an die Epheser, einer an die Philipper, zwei an die Thessalonicher, einer an die Kolosser, zwei an Timotheus, einer an Titus, einer an Philemon und einer an die Hebräer, ferner zwei Briefe des Petrus, drei des Johannes, einer des Judas und einer des Jakobus, schließlich noch ein Buch der Apostelgeschichte und ein Buch von der Apokalypse des hl. Johannes.
9. Kapitel: Vom Schriftstudium
S. 60 14. In all diesen Büchern suchen Menschen voll Gottesfurcht und sanfter Frömmigkeit den Willen Gottes zu erkennen. Bei dieser mühsamen Arbeit hat man, wie gesagt, zuerst darauf zu schauen, daß man diese Bücher, wenn auch nicht gerade ihrem (vollen) Sinn nach versteht, aber doch durch Lesen dem Gedächtnisse einprägt oder wenigstens nicht mehr ganz unbekannt mit ihnen ist. Sodann müssen alle in diesen Büchern klar niedergelegten Lehren, seien es nun Sittenvorschriften oder Glaubenslehren, besonders sorgfältig und fleißig erforscht werden. Solche Lehren wird einer natürlich um so mehr finden, je umfassender seine Verstandeskraft ist. In den klar ausgesprochenen Stellen der Heiligen Schrift findet man alle Lehren, die sich auf Glaubens- und Sittenlehre, nämlich auf die Hoffnung und die Liebe, beziehen, von welchen Tugenden wir im vorigen Buch gehandelt haben. Hat man einmal eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache der göttlichen Schriften gewonnen, so hat sich das weitere Streben darauf zu richten, dunkle Stellen zu eröffnen und zu beleuchten. Zum Zwecke der Beleuchtung dunkler Redensarten sollen Belege von Stellen genommen werden, die einem klarer sind, und gewisse Zeugnisse von bestimmt lautenden Sätzen sollen Zweifel über unbestimmte Sätze entfernen. Dabei leistet ein gutes Gedächtnis die besten Dienste; mangelt ein solches, so kann es auch durch meine Vorschriften nicht gegeben werden.
10. Kapitel: Unbekannte und zweideutige Zeichen verhindern oft das Verständnis der Heiligen Schrift
15. Zwei Gründe sind es, warum die Schrift nicht verstanden wird: wenn sie nämlich durch unbekannte oder durch zweideutige Zeichen verhüllt wird. Diese Zeichen sind entweder eigentliche oder übertragene. Eigentliche heißen die Zeichen, wenn sie nur zur S. 61Bezeichnung jener Sachen dienen, um derentwillen sie eingeführt wurden. Wir sagen z. B. bovis (Ochs), wenn wir jenes Tier meinen, das mit uns alle lateinischsprechenden Menschen unter diesem Namen kennen. Übertragen aber sind die Zeichen dann, wenn die Sache, die wir mit ihrem eigenen Namen bezeichnen, selbst wieder zur Bezeichnung von etwas anderem gebraucht wird. So sagen wir z. B. „Ochs“ und verstehen hier durch dieses einsilbige Wort jenes Tier, das mit diesem Namen bezeichnet zu werden pflegt: aber unter jenem Tier verstehen wir hinwiederum auch einen Prediger des Evangeliums, den die Schrift nach der Erklärung des Apostels meint, wenn sie sagt: „Dem dreschenden Ochsen sollst du das Maul nicht verbinden.“
11. Kapitel: Grundvoraussetzung zum Verständnis dunkler Stellen in der Heiligen Schrift ist die Kenntnis vor allem des Hebräischen und Griechischen
16. Gegen die Unkenntnis eigentlicher Zeichen bietet die Sprachkenntnis ein großes Heilmittel. Lateinisch sprechende Leute, die wir jetzt belehren wollen, haben zum Verständnis der Heiligen Schrift zwei fremde Sprachen nötig, nämlich das Hebräische und das Griechische: sie müssen nämlich auf die in der Ursprache hergestellten Abschriften zurückgreifen können, wenn die zahllosen Verschiedenheiten der lateinischen Übersetzungen einen Zweifel verursachen. Allerdings finden wir auch in unseren (lateinischen) Büchern nicht selten nicht übersetzte hebräische Wörter, wie z. B. Amen, Alleluja, Rakka, Hosanna u. dgl. Ein Teil von ihnen wurde, obgleich sie hätten übersetzt werden können, wegen ihres ehrfurchtgebietenden Ansehens in der Ursprache beibehalten, wie z. B. Amen und Alleluja, ein anderer Teil dieser Wörter soll in eine andere Sprache gar nicht übersetzt werden können, wie die zwei anderen noch angeführten Wörter. Es gibt nämlich in gewissen Sprachen einige Wörter, die auf dem S. 62Wege der Übersetzung nicht in den Gebrauch einer anderen Sprache übergehen können. Das ist hauptsächlich bei den Interjektionen der Fall, die eher eine gewisse Gemütsbewegung andeuten, als daß sie einen bestimmt gefaßten Gedanken auch nur teilweise ausdrücken. Zu dieser Art von Wörtern sollen auch die zwei noch genannten Ausdrücke gehören: denn man sagt, Rakka sei ein Ausruf, wenn der Mensch zürnt, Hosanna ein Ausruf, wenn der Mensch frohlockt. Aber nicht wegen dieser paar Wörter, die man sich ja sehr leicht merken und nach ihrer Bedeutung erfragen kann, ist die Kenntnis dieser Sprachen notwendig, sondern wegen der, wie gesagt, vorhandenen Abweichungen in den Übersetzungen. Diejenigen Männer nämlich, welche die heiligen Schriften aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzten, lassen sich zählen, die lateinischen aber auf keinen Fall. So wie einem in der ersten Zeit des (christlichen) Glaubens eine griechische Handschrift in die Hände kam, wagte er sich an die Übersetzung, wenn er auch nur ein kleines Maß von Fertigkeit in diesen beiden Sprachen zu besitzen glaubte.
12. Kapitel: Voneinander verschiedene, wenn auch nicht gerade falsche Übersetzungen des Urtextes sind nicht ohne Wert
17. Diese Verschiedenheit der Übersetzungen verhilft jedoch mehr zum Verständnis, als sie es verhindert: wenn nur der Leser nicht nachlässig ist. Denn die Einsichtnahme mehrerer Handschriften hat schon oft dunkle Aussprüche erklärt. So hat z. B. ein Übersetzer die bekannte Stelle des Propheten Isaias folgendermaßen wiedergegeben: „Und verachte nicht die Hausgenossen deines Samens!“; ein anderer sagt dagegen: „Und verachte dein Fleisch nicht!“ Da bezeugen sich die beiden Übersetzer gegenseitig; denn einer erklärt den andern. Man könnte nämlich das Wort „Fleisch“ im eigentlichen Sinn nehmen und meinen, man sei damit S. 63aufgefordert, seinen eigenen Leib nicht zu verachten; ebenso könnte man andrerseits im übertragenen Sinn unter „Hausgenossen deines Samens“ die Christen verstehen, da sie geistigerweise aus demselben Samen des Wortes geboren wurden wie wir. Vergleicht man jedoch den Sinn der Übersetzer, so kommt man auf die wahrscheinlichere Meinung, es sei im eigentlichen Sinn geboten, seine Blutsverwandten nicht zu verachten; denn an die Blutsverwandten denken wir vorzugsweise, wenn wir den Ausdruck „Hausgenossen des Samens“ mit dem Ausdruck „Fleisch“ vergleichen. Im gleichen Sinn sagt wohl auch der Apostel: „(Ich will darauf schauen,) ob ich nicht auf irgendeine Weise mein Fleisch zur Nacheiferung reizen und so einige von ihnen selig machen kann.“ Das will sagen, ob sie nicht vielleicht durch Nachahmung derer, die schon zum Glauben gelangt sind, selbst zum Glauben kommen; sein Fleisch nannte nämlich der Apostel die Juden wegen seiner Blutsverwandtschaft mit ihnen. — Auch den Ausspruch des Propheten Isaias: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht zur Einsicht kommen“, hat einer anders übersetzt: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht bleiben.“ Nur wenn einer den Text der Ursprache nachliest, kann er sicher feststellen, welcher von den beiden Übersetzern wortgetreu übersetzt hat. Doch wird verständigen Lesern aus den verschiedenen Übersetzungen großer Nutzen zuteil. Denn es ist kaum möglich, daß mehrere Übersetzer so vollständig voneinander abweichen, daß sie sich nicht irgendwie berühren. (So ist es auch bei unserer Stelle:) Die Erkenntnis durch Schauen ist ewig; der Glaube aber nährt die Kinder in der Wiege der zeitlichen Dinge gleichsam mit Milch. Jetzt wandeln wir daher im Glauben, noch nicht im Schauen; wenn wir aber nicht im Glauben wandeln, so werden wir nicht zum Schauen gelangen können. Dieses Schauen geht aber nicht mehr vorüber, sondern bleibt dank des dann rein gewordenen Verstandes in uns, die wir mit der Wahrheit innig zusammenhängen. Darum sagt der eine Übersetzer: „Wenn ihr nicht glaubt, so werdet ihr nicht bleiben“, während der andere übersetzt: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht S. 64zur Einsicht kommen.“
18. Kennt ein Übersetzer den Sinn eines Wortes nicht recht genau, so wird er durch zweideutige Wörter der Ursprache häufig irregeführt; er nimmt dann nämlich eine solche Bedeutung in seine Übersetzung auf, die dem wahren Sinn des Schriftstellers durchaus fremd ist. So haben z. B. einige Handschriften: „Scharf sind ihre Füße Blut zu vergießen.“ Das griechische ὀξύς heißt nämlich „scharf“, aber auch „schnell“. Derjenige Übersetzer, der übertrug: „Schnell sind ihre Füße Blut zu vergießen“, hat darum den wahren Sinn getroffen; der erste Übersetzer aber wurde durch ein doppeldeutiges Wort nach der falschen Seite hin in einen Irrtum gezogen. Solche Stellen sind dann nicht dunkel, sondern förmlich falsch, und ihnen gegenüber hat man sich darum ganz anders zu verhalten. Denn solche Handschriften sollten nicht verstanden, sondern verbessert werden. — Da gibt es noch einen gleichen Fall: weil μοσός im Griechischen „Kalb“ heißt, merkten einige nicht, daß „μοσχεύματα“ soviel heißt wie „Sprößling“, sondern übersetzten es mit „junge Kälber“, Dieser Irrtum hat so viele Handschriften erfaßt, daß man kaum eine andere Leseart findet; und doch ist der Sinn ganz klar, wie man aus dem folgenden sieht: Man sagt doch viel passender: „Ehebrecherische Sprößlinge schlagen keine tiefen Wurzeln“, als: „Junge Kälber schlagen keine tiefen Wurzeln“. Denn die jungen Kälber gehen mit ihren Füßen auf dem Erdboden und sind nicht an Wurzeln angewachsen. Daß unsere Übersetzung jener Stelle die richtige ist, dafür bürgt auch der umgebende Text.
13. Kapitel: Eine vollständig wortgetreue Übertragung des Urtextes macht meistens das Verständnis nicht unmöglich, erschwert es aber vielfach in bedeutendem Grade
19. Der wahre Sinn jedoch, den mehrere Übersetzer je nach ihrer persönlichen Fertigkeit und Urteilsfähigkeit S. 65auszusprechen suchen, steht nicht sicher fest, wenn er nicht in der Ursprache eingesehen wird; sehr häufig verfehlt ein Übersetzer den richtigen Sinn, wenn er nicht sehr gelehrt ist. Daher muß man die Kenntnis jener Sprachen, aus denen die Heilige Schrift ins Lateinische übersetzt wurde, zu erlangen suchen oder man muß sich wenigstens an die Arbeiten solcher Übersetzer halten, die sich wörtlich an ihre Vorlage gehalten haben. Allerdings sind solche (wörtliche) Übersetzungen ungenügend, aber sie dienen doch dazu, Wahrheit oder Irrtum derjenigen aufzudecken, die mehr nach dem Sinn als nach dem Wortlaut übersetzen wollten. Oft werden nämlich nicht allein die einzelnen Worte, sondern auch die Satzverbindungen (des Urtextes wörtlich) übertragen, die durchaus nicht in den lateinischen Sprachgebrauch übergehen können, wenn anders einer den herkömmlichen Stil der bisherigen lateinischen Schriftsteller beibehalten will. Eine solche wörtliche Übertragung ist manchmal dem Verständnis nicht gerade hinderlich, aber sie stört doch solche Leser, denen aus dem Inhalt ein Mehr an Freude erwächst, wenn sich auch dessen sprachliche Fassung eine gewisse Reinheit bewahrt hat. So versteht man unter dem sogenannten Soloecismus nichts anderes, als wenn man die Worte nicht nach den Sprachgesetzen aneinanderfügt, nach denen sich diejenigen richteten, deren Sprachgebrauch ehedem bei uns in einigem Ansehen stand. Ob einer z. B. sagt: „unter den Menschen“ oder „unter der Menschen“, das ist für den gleichgültig, der sich bloß um den Inhalt kümmert. Was ist schließlich auch Barbarismus anderes, als wenn man ein Wort mit anderen Buchstaben schreibt oder mit einer anderen Betonung ausspricht, als man es bisher im Lateinischen auszusprechen pflegte. Ob man z. B. ignoscere (das lateinische Wort für „Verzeihung“) in seiner dritten Silbe lang oder kurz ausspricht, das bekümmert jenen nicht viel, der Gott um „Verzeihung“ seiner Sünden bittet, S. 66mag man nun das (lateinische) Wort für Verzeihung mit was immer für einer Betonung aussprechen. Was versteht man also unter Reinheit der Aussprache anderes, als die Beobachtung der durch das Ansehen der alten Schriftsteller bekräftigten Gewohnheiten (des Lateinsprechens)?
20. Je schwächer indes die Menschen sind, um so mehr nehmen sie daran Anstoß, und sie sind um so schwächer, je gelehrter sie scheinen wollen, gelehrter zwar nicht an wirklichem Sachverständnis, wodurch wir ja auferbaut würden, sondern an bloßer Kenntnis von Zeichen. Und durch Zeichen nicht aufgeblasen zu werden ist schwer, da ja gar oft sogar wirkliche Sachkenntnis einem den Nacken steift, wenn er nicht durch das Joch des Herrn niedergehalten wird. Was liegt schließlich dem Fachmann daran, wenn geschrieben steht: „Welches ist das Land, in dem sie wohnen in ihm, ob es gut ist oder schlecht; und welche sind die Staaten, in denen sie wohnen in ihnen?“ So eine Ausdrucksweise halte ich mehr bloß für fremdklingend als wie für besonders tief. Auch jener Ausdruck, den man dem Mund des singenden Volkes nicht mehr zu entreissen vermag: „super ipsum autem floriet sanctificatio mea“, tut dem Verständnis gewiß keinen Eintrag, obwohl ein kundiger Hörer das Wort floriet in florebit verbessert wissen möchte; und es steht einer solchen Verbesserung auch gar nichts im Weg als nur der Umstand, daß man es beim Singen einmal so gewohnt ist. Wenn also einer solche sprachliche Fehler, die einem gesunden Verständnis keinen Eintrag tun, nicht gerade absichtlich vermeiden will, dann kann man sie recht wohl einfach unberücksichtigt lassen. So drückt sich beispielsweise der Apostel an der bekannten Stelle folgendermaßen aus: „Quod stultum est Dei, sapientius est hominibus et quod infirmum est Dei, fortius est hominibus“; wollte S. 67nun einer hierbei die griechische Sprachweise beibehalten und infolgedessen sagen: „Quod stultum est Dei, sapientius est hominum et quod infirmum est Dei, fortius est hominum“, so würde zwar ein achtsamer Leser auch trotzdem das Richtige treffen, ein beschränkterer Leser aber würde es gar nicht oder doch falsch verstehen. Denn eine solche Ausdrucksweise wäre im Lateinischen nicht bloß fehlerhaft, sondern auch zweideutig; (hier an unserer Stelle käme es geradeso heraus,) als ob das Törichte und Schwache am Menschen weiser oder stärker schiene, als das an Gott. Aber auch die Wendung „sapientius est hominibus“ ist nicht frei von Zweideutigkeit, obgleich kein Soloecismus vorliegt. Denn ob „hominibus“ der Dativ oder der Ablativ ist, wird erst im Lichte des Sinnes selbst klar. Besser würde man also sagen: „sapientius est quam homines“ und „fortius est quam homines“.
14. Kapitel: Verhaltungsmaßregeln beim Vorkommen unbekannter Wörter oder unbekannter Redewendungen
21. Von den zweideutigen Zeichen werden wir nachher sprechen; jetzt wollen wir uns mit den unbekannten Zeichen beschäftigen. Dabei ist bezüglich der Wörter ein zweifacher Irrtum möglich: der Leser kommt in Verlegenheit, entweder weil er das Wort an sich nicht kennt, oder weil ihm das Satzgefüge unbekannt ist (in dem das betreffende Wort steht). Stammen diese Wörter aus einer fremden Sprache, so hat man sich entweder bei Menschen zu befragen, die diese Sprache reden, oder man lernt, falls Muße und Talent zur Verfügung stehen, einfach gleich die betreffenden Sprachen selbst oder man muß die Angaben mehrerer Übersetzer zu Rate ziehen. Wenn wir aber manche Wörter oder Redewendungen der eigenen Sprache nicht kennen, so werden diese durch Übung im Lesen oder Anhören bekannt. Jedenfalls natürlich haben wir jene Wörter und Ausdrücke, die wir nicht kennen, an erster Stelle auswendig zu lernen. Begegnet uns dann ein kundiger Mann, von dem man erfahren kann, worauf eine solche S. 68Leseart nach dem, was vorausgeht oder nachfolgt oder kurz nach dem ganzen Zusammenhang hinweist, welche Bedeutung sie hat, was für eine bisher unbekannte Aufklärung sie uns gibt, so wird man sich mit Hilfe des Gedächtnisses (solche bisher unbekannte Wörter) leicht vollständig aneignen können. Allerdings ist die Macht der Gewohnheit auch bezüglich des Lernens so groß, daß sich Männer, die in den heiligen Schriften sozusagen genährt und großgezogen worden sind, über andere Redewendungen förmlich wundern und sie geradezu für weniger gut lateinisch halten als die Ausdrücke, die sie aus den heiligen Schriften kennen, obgleich sich diese Wendungen bei den lateinischen Klassikern gar nicht finden. Sehr gute Dienste leistet hierbei auch die große Anzahl der Übersetzer, wenn die zahlreichen Handschriften verglichen, genau eingesehen und scharf geprüft werden. Ein falscher Text darf freilich nicht vorliegen. Darum müssen sorgfältige Schriftforscher zunächst auf die Verbesserung der Handschriften bedacht sein; falls zwei Handschriften aus ein und derselben Textquelle stammen, so muß die verbesserte Handschrift den Vorrang vor der nicht verbesserten haben.
15. Kapitel: Die zwei hauptsächlichsten Übersetzungen des Alten Testamentes sind die lateinische Itala und die griechische Septuaginta
22. Unter den Übersetzungen selbst verdient die Itala den Vorzug. Denn sie hält sich mehr an den Wortlaut (ihrer Vorlage) und drückt dabei doch die Gedanken klarer aus. Zur Verbesserung aller lateinischen Übersetzungen benütze man griechische, unter denen für das Alte Testament die Septuaginta durch ihr Ansehen hervorragt. Von ihr erzählt man in allen Kirchen, die es einigermaßen wissen können, ihre Übersetzung sei so sehr durch den Beistand des Heiligen Geistes erfolgt, daß all ihre vielen Übersetzer nur einen Mund hatten. Wie man sagt und wie nicht unglaubwürdige Männer aussagen, wurden diese S. 69Übersetzer einzeln in besonderen Zellen getrennt; als sie aber ihre Übersetzungen vollendet hatten, da fand man in der Übersetzung keines einzigen irgend etwas, was sich nicht mit denselben Worten, ja in derselben Wortfolge auch in den übrigen Übersetzungen gefunden hätte. Wenn dem wirklich so ist, wer wagt es dann, dem Ansehen dieser Übersetzung irgend etwas gleichzustellen oder gar vorzuziehen? Haben sie aber ihre Arbeiten bloß miteinander verglichen, damit so auf Grund der gemeinsamen Behandlung und Beurteilung von seiten aller Übersetzer ein einziger Wortlaut entstünde, so wollte oder dürfte sich auch in diesem Fall kein einzelner Mann, und wäre er noch so erfahren, anheischig machen, die einstimmige Ansicht so vieler hochbetagter und gelehrter Männer zu verbessern. Wenn daher in den hebräischen Bibeln etwas anders gefunden wird, als die Übersetzer es gegeben haben, so muß man nach meinem Dafürhalten derjenigen Überlieferungsform der Heiligen Schrift den Vorzug geben, die durch die siebzig Übersetzer auf uns gekommen ist. Diese Übersetzung erfolgte zu dem Zweck, damit die Bücher, die das Judenvolk aus religiöser Scheu oder aus Neid den übrigen Völkern vorenthalten wollte, den Heiden, die durch den Herrn zum Glauben gelangen sollten, durch die mächtige Vermittlung des Königs Ptolemäus viel früher bekannt würden. Darum gelang auch eine Übersetzung, wie sie der Heilige Geist, der jene Männer antrieb und allen einen Mund gegeben hatte, für die Zwecke der Heiden passend erachtete. — Es ist indessen, wie ich schon erwähnte, eine vergleichende Heranziehung auch derjenigen Übersetzer, die sich allzu eng an den Wortlaut hielten, zum Zweck der Darlegung des Sinnes oft förderlich. Die lateinischen Handschriften des Alten Testamentes müssen also, wie ich schon kurz sagte, im Notfall nach den angesehenen griechischen Handschriften verbessert werden; vor allem kommen da die Texte jener Männer in Frage, die, obwohl ihrer siebzig an der Zahl waren, doch wie mit einem Munde übersetzt haben sollen. — Auch die lateinischen S. 70Übersetzungen des Neuen Testamentes müssen wir, wenn ihre lateinischen Texte recht mannigfaltig voneinander abweichen und unsicher sind, ohne allen Zweifel geringer einschätzen als die griechischer Texte; und dabei kommen wieder in erster Linie diejenigen Texte in Frage, die man im Besitz der gelehrteren und sorgfältigeren Kirchen findet.
16. Kapitel: Wie man zum Verständnis der in vielen Stellen der Heiligen Schrift verborgenen Symbolik gelangen kann
23. Wenn etwa der Leser durch die Unkenntnis eines in der Übersetzung vorkommenden fremden Wortes (Zeichens) aufgehalten wird, so läßt sich eine solche Unkenntnis nur durch ein Vertrautsein mit der fremden Sprache oder mit dem Zusammenhang (in dem der fremde Ausdruck steht) lösen. So ist der Teich Siloa, wo der Blindgeborne, dem der Herr den aus Speichel bereiteten Teig auf die Augen gestrichen hatte, sein Gesicht waschen sollte, gewissermaßen ein Gleichnis und deutet ohne Zweifel irgendein Geheimnis an; hätte nun der Evangelist dieses einer fremden Sprache angehörige Wort nicht übersetzt, so wäre ein bedeutungsvoller Sinn unbekannt geblieben. So bieten ohne Zweifel auch noch viele andere, von den Übersetzern jener Bücher nicht übertragene hebräische Namen eine nicht geringe Kraft und Hilfe zur Lösung der in der Heiligen Schrift liegenden Rätsel, vorausgesetzt, daß sie einer übersetzen kann. Diesen gewiß nicht gering zu veranschlagenden Dienst haben einige dieser Sprache kundige Männer den kommenden Geschlechtern erwiesen, indem sie alle diese Wörter gesondert für sich erklärten. Sie geben die Bedeutung von Eigennamen an, wie z. B. von Adam, Eva, Abraham, Moses oder von Ortsnamen, wie z. B. von Jerusalem, Sion, Jericho, Sina, Libanon, Jordan oder was es sonst in jener Sprache noch für S. 71unbekannte Namen gibt. Durch die Erklärung und Übersetzung dieser Namen erhalten viele bildliche Ausdrücke der Schrift einen klaren Sinn.
24. Mangel an Sachkenntnis aber macht bildliche Ausdrücke dunkel, wenn wir die Natur und Beschaffenheit der Tiere, Steine, Pflanzen oder anderer Dinge nicht kennen, die so häufig gleichnisweise in der Schrift aufgeführt werden. So ist es z. B. eine bekannte Tatsache, daß die Schlange jemandem, der nach ihr schlägt, gleich ihren ganzen Leib und nicht bloß ihr Haupt entgegenwirft: Was ist doch das für ein anschauliches Bild für das, was uns der Herr befiehlt, wenn er sagt, wir sollten klug sein wie die Schlangen? Auch wir sollen nämlich für unser Haupt, d. h. für Christus, den Verfolgern lieber den Leib anbieten, damit nicht der christliche Glaube (als das Haupt) in uns ertötet werde, wenn wir aus Schonung für den Leib Gott verleugnen. Man sagt auch, die Schlange zwinge sich in enge Höhlenritzen ein und streife so ihr altes Kleid ab und gewinne dadurch wieder neue Kraft: wie stimmt dies nicht zur Nachahmung dieser Schlangenklugheit, nämlich zum Ausziehen des alten und zum Anziehen des neuen Menschen, wie der Apostel sagt, und zwar zum Ausziehen vermittels der Engen (der Trübsal); sagt ja doch der Herr: „Geht ein durch die enge Pforte!“ Wie nun die Kenntnis der Schlangennatur viele Gleichnisse beleuchtet, welche die Heilige Schrift von diesem Tier zu gebrauchen pflegt, so behindert die Unwissenheit bezüglich einiger Tiere, die ebenso gleichnisweise erwähnt sind, den Forscher im höchsten Grade. Dies gilt von Steinen, von den Kräutern und von allem, was immer fest im Boden wurzelt. Kennt einer z. B. den im Dunkeln leuchtenden Karfunkel, so wird einem dort, wo dieser Stein gleichnisweise angeführt wird, auch gar manche dunkle Stelle in den Büchern (der Heiligen Schrift) klar; andrerseits bleibt gar manche Türe zum S. 72Verständnis verschlossen, weil einer nichts von einem Beryll oder einem Diamanten weiß. Daß der Ölzweig, den die Taube bei ihrer Rückkehr in die Arche trug, den ewigen Frieden bedeutet, ist nur deshalb leicht einzusehen, weil wir wissen, daß dem geschmeidigen Öl keine andere Flüssigkeit zusetzen kann und daß der Ölbaum selbst beständig belaubt ist. Da viele Leute den Hysop nicht kennen und nicht wissen, wie heilkräftig er zur Reinigung der Lunge ist, und daß er, obwohl er nur eine niedrige und unscheinbare Pflanze ist, doch imstande ist, mit seinen Wurzeln selbst den Fels zu durchdringen, so ist es ihnen durchaus unerfindlich, warum man sagen konnte: „Besprenge mich mit Hysop, und ich werde rein!“
25. Auch die Unkenntnis der Zahlen ist schuld, daß gar manche übertragene und geheimnisvolle Ausdrücke in der Heiligen Schrift nicht verstanden werden. So muß sich z. B. schon der uns gewissermaßen angeborene Verstand doch unbedingt die Frage stellen, was es denn zu bedeuten habe, daß Moses, Elias und der Herr selbst gerade vierzig Tage lang gefastet haben. Der durch diese Tatsache geschürzte Knoten wird nur durch die Kenntnis und die Betrachtung dieser Zahl gelöst. In der Zahl Vierzig ist nämlich viermal die Zahl Zehn enthalten und damit gewissermaßen die Kenntnis aller Dinge nach dem Verhältnis der Zeiten. Denn in der Vierzahl vollendet sich der Lauf des Tages und des Jahres; auch der Lauf eines einzelnen Tages zerfällt wieder in Morgen-, Mittag-, Abend- und Nachtstunden, der Lauf eines Jahres sodann zerfällt in Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintermonate. Was nun in diesen Zeiten an Ergötzlichkeiten liegt, davon sollen wir uns, solange wir noch in dieser Zeitlichkeit leben, wegen der Ewigkeit, in der wir einmal leben wollen, enthalten und fasten; denn schon durch die Flüchtigkeit S. 73der Zeit wird uns die Lehre von der Verachtung des Vergänglichen und vom Streben nach Ewigem nahegelegt. Die Zehnzahl bedeutet sodann die Kenntnis des Schöpfers und des Geschöpfes: denn die (in der Zehnzahl enthaltene) Dreizahl kommt dem Schöpfer zu, die Siebenzahl aber weist wegen des Lebens und wegen des Leibes auf das Geschöpf hin. Im Leben wirken drei Kräfte, und darum soll man auch Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüte lieben. Im Leib aber treten die vier Elemente, aus denen er besteht, ganz deutlich hervor. Diese Zehnzahl legt uns also dadurch, daß sie uns Zeitliches einschärft, d. h. viermal vorgehalten wird, nahe, keusch und in Enthaltsamkeit von der Ergötzlichkeit der Welt zu leben, d. h. vierzig Tage zu fasten. Dazu mahnt das Gesetz, das durch Moses vertreten wird, dazu mahnt die Prophezie, deren Vertreter Elias ist, und dazu mahnt uns der Herr selbst, der gleichsam im Besitz des Zeugnisses des Gesetzes und der Propheten mitten zwischen ihnen auf dem Berge (Tabor) leuchtete, wie seine drei Jünger staunend sahen. — Eine andere Frage ist sodann, wie denn aus der Zahl vierzig die Zahl fünfzig entsteht, die in unserer Religion wegen des Pfingstfestes nicht wenig geheiligt ist; daran reiht sich die Frage, wie denn diese Zahl fünfzig, wenn man sie wegen der drei Zeiten vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und unter der Gnade, oder wegen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, dreimal nimmt und zumal, wenn man noch die Dreifaltigkeit selbst hinzufügt, auf das Geheimnis der ganz reinen Kirche bezogen wird und wie man so auf jene hundertdreiundfünfzig Fische kommt, welche die Apostel nach der Auferstehung des Herrn fingen, als sie ihre Netze zur Rechten auswarfen. — So werden unter vielen solchen und ähnlichen Zahlenformen gewisse Geheimnisse in den heiligen Büchern gleichnisweise angegeben, die den Lesern verschlossen bleiben, wenn sie keine Kenntnis von den Zahlen haben.
S. 74 26. Gar manches bleibt auch völlig unbekannt wegen Unkenntnis einiger musikalischer Dinge. So hat jemand z. B. aus dem Unterschied zwischen der Harfe und der Zither nicht ohne Geist mehrere Fälle klargelegt, wo die vorliegende Tatsache auch noch einen übertragenen Sinn hatte, und bezüglich der zehnsaitigen Harfe wird nicht mit Unrecht unter den Gelehrten die Frage aufgeworfen, ob gerade eine solche Anzahl von Saiten ein zwingendes Erfordernis irgendeines musikalischen Gesetzes ist oder ob vielleicht, wenn dieses nicht der Fall ist, gerade diese Zahl mit um so größerer Ehrfurcht betrachtet werden muß. (Eine solche Ehrfurcht wäre am Platz), entweder weil das Gesetz Gottes eine Zehnzahl von Geboten umfaßt, ein Umstand, der auf den Schöpfer und sein Geschöpf bezogen werden müßte, oder wegen der in der Zehnzahl selbst liegenden Bedeutung, von der wir oben schon gehandelt haben, — Auch die im Evangelium erwähnte Zahl der Jahre der Erbauung des Tempels, nämlich sechsundvierzig Jahre, klingt förmlich musikalisch und zwingt, wenn man sie zum Leibe des Herrn, um dessentwillen allein der Tempel überhaupt erwähnt wurde, in Beziehung bringt, manchen Irrgläubigen zu dem Bekenntnis, daß der Sohn Gottes nicht mit einem bloßen Scheinleib, sondern mit einem wirklichen, echt menschlichen Leibe bekleidet gewesen sei. — Solche musikalische Zahlen finden wir noch an sehr vielen anderen Stellen der Heiligen Schrift rühmlich erwähnt.
17. Kapitel: Ursprung der Fabel von den neun Musen
27. Keiner Beachtung wert ist jedoch der Irrtum des heidnischen Aberglaubens, der die neun Musen zu Töchtern des Juppiter und der Memoria machte. Diesen Irrtum hat (M. Terentius) Varro widerlegt, dem in solchen Fragen nicht leicht einer an Kenntnis und Wissensdurst gleichsteht. Er sagt nämlich, es habe einmal eine Stadtgemeinde, deren Namen ich nicht mehr weiß, bei drei Künstlern je drei Bilder der Musen bestellt, um sie im S. 75Tempel des Apollo als Weihegeschenk aufzustellen; wer von den Künstlern nun die schönsten Bilder schaffen werde, von dem sollten sie gekauft werden. Da habe es sich aber nun getroffen, daß alle drei Künstler ihre Werke gleich schön schufen: alle neun Werke hätten darum der Bürgerschaft gefallen und alle neun seien infolgedessen als Weihegeschenke für den Tempel des Apollo angekauft worden. Erst der Dichter Hesiod habe diesen Bildern nachträglich einen Namen beigelegt. Also nicht Juppiter hat die neun Musen gezeugt, sondern drei Künstler haben je drei davon geschaffen. Jene drei Musen hatte die Stadt aber nicht deshalb bestellt, weil sie vielleicht im Traum gerade drei gesehen hatte oder weil sich gerade so viel Musen den Augen irgendeines ihrer Bürger gezeigt hatten, sondern weil es eben überhaupt eine leichte Sache war, die Wahrnehmung zu machen, daß jeder der Musik zugrunde liegende Ton von Natur aus dreifach ist. Ein Ton wird nämlich entweder von der Stimme hervorgebracht, wie es bei denen der Fall ist, die ohne Begleitung eines Instrumentes bloß mit ihrer Kehle singen, oder er entsteht durch Blasen, wie bei den Trompeten und Flöten, oder er entsteht durch Schlagen, wie bei den Zithern, Pauken und allen Schlaginstrumenten.
18. Kapitel: Was an den Lehren der Heiden Gutes ist, braucht man nicht zu verachten
28. Mag es sich nun wirklich so verhalten, wie Varro sagt, oder auch nicht, jedenfalls brauchen wir wegen des heidnischen Aberglaubens weder die Musik zu fliehen, falls wir daraus zum Verständnis der Heiligen Schrift etwas Zweckdienliches gewinnen können, noch dürfen wir uns zu den theatralischen Possen der Heiden wenden, wenn wir über Zithern und andere Instrumente etwas sagen, was der Erfassung geistiger Dinge förderlich ist. Wir haben ja auch nicht deshalb auf die Erlernung der Buchstaben verzichten müssen, weil ihre Erfindung dem Merkur zugeschrieben wird, und brauchen uns nicht deshalb von der Gerechtigkeit und der S. 76Tugend abzuwenden, weil die Heiden der Gerechtigkeit und der Tugend Tempel geweiht haben und weil sie das, was im Herzen gehegt werden soll, lieber in Gebilden von Stein anbeteten. Im Gegenteil wird jeder wahre und gute Christ einsehen, daß die Wahrheit, die er in der Heiligen Schrift bekennt und anerkennt, das rechtmäßige Eigentum seines Herrn ist, mag er sie nun auch sonstwo immer finden, und er wird daher von abergläubischen Erfindungen nichts wissen wollen. Er wird vielmehr diejenigen Menschen bedauern und sich vor jenen in acht nehmen, die Gott zwar erkannt haben, ihn aber nicht als Gott verherrlichten und ihm nicht dankten, sondern die in ihren eitlen Gedanken sich vergingen und deren unverständiges Herz darum verfinstert wurde. Sie nennen sich zwar Weise, sind aber Toren geworden; denn sie übertrugen die Herrlichkeit des unwandelbaren Gottes auf eine bildliche Darstellung des vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und kriechenden Tiere.
19. Kapitel: Welche Art von Lehren man bei den Heiden finden kann
29. Um aber dieses ganze Kapitel sorgfältiger erklären — und das ist ein dringendes Bedürfnis — unterscheiden wir zwei Arten von Lehren, die auch in den Gebräuchen der Heiden ihre praktische Anwendung finden. Die eine bezieht sich auf die Sachen, welche die Menschen eingeführt haben, die andere auf solche Sachen, die sie als Bräuche der Vorzeit oder als göttliche Einrichtungen wahrnehmen. Was auf menschlichen Einrichtungen beruht, ist teils abergläubisch, teils nicht.
20. Kapitel: Verschiedene Arten heidnischen Aberglaubens
30. Abergläubisch ist alles, was die Menschen zur Aufstellung und zur Verehrung von Götzen erfunden haben. Diese Erfindungen dienen teils dazu, irgendein Geschöpf oder auch nur einen Teil eines Geschöpfes als S. 77Gott zu verehren, teils dazu die bösen Geister um Rat zu fragen, ja mit ihnen in aller Form gleichsam Wahrsagungsverträge abzuschließen, wie uns dergleichen in den Versuchen der magischen Künste vorliegen, welche die Dichter mehr bloß zu erwähnen als regelrecht zu lehren pflegen. Von der Art sind, nur daß in ihnen die innere Hohlheit gewissermaßen viel freier zutage tritt, die Bücher der Haruspices und der Auguren; ferner gehören hierher alle auch von den Ärzten verurteilten Verbände und Heilmittelchen, ob es sich nun dabei um Beschwörungen oder um geheime Zeichen, sogenannte Charaktere, oder um Dinge zum Aufhängen oder Anbinden handelt. Derlei Dinge hängt man sich ja nicht an, um seinem Körper ein schöneres Maß zu geben, sondern um offen oder geheim etwas Bestimmtes anzudeuten. Man bezeichnet dieses abergläubige Tun auch mit dem harmlosen Namen „physisch“, um es scheinbar nicht mit Aberglauben in Verbindung zu bringen, sondern damit es aussieht, als ob es durch natürliche Kräfte von Nutzen sei. Dazu gehören Ohrringe oben an den beiden Ohren oder Henkelchen aus Straußenknochen an den Fingern oder der Brauch, einem, der den Schlucken hat, zu sagen, er solle mit der rechten Hand den linken Daumen halten.
31. Hierher gehören sodann die tausenderlei ganz törichten Gebräuche, z. B.: Wenn irgendein Glied zuckt oder wenn mitten zwischen zwei nebeneinandergehende Freunde ein Stein, ein Hund oder ein Kind gerät: daß sie den Stein als Trenner der Freundschaft mit Füßen treten, das ist noch leichter zu ertragen, als wenn sie dem unschuldigen Kind Ohrfeigen geben, weil es zwischen spazierengehende Leute hineinläuft. Manchmal trifft es sich freilich recht schön, daß diese Kinder von den Hunden gerächt werden; denn sehr häufig kommt es vor, daß einige Leute so abergläubisch sind, daß sie auch einen Hund, der zwischen sie hineinläuft, zu schlagen wagen. Dies kommt ihnen aber teuer zu stehen: denn gar schnell trifft es sich, daß der Hund den, der ihn schlug, um sich dadurch törichterweise (vor den schlimmen Folgen der Begegnung) zu bewahren, zu einem Arzt S. 78schickt, (der ihn wirklich heilen muß). In den Bereich dieses Aberglaubens gehört ferner auch, wenn man beim Vorübergehen an seinem Haus auf die Schwelle tritt, wenn man wieder ins Bett zurückkehrt, falls man beim Schuhanziehen wiederholt niesen muß, wenn man gleich wieder umkehrt, sobald man beim Fortgehen an etwas anstoßt, wenn man, falls einem das Kleid von Mäusen angefressen wird, mehr infolge der Vorahnung eines künftigen Übels zittert als den gegenwärtigen Schaden beklagt. In betreff des letzteren Aberglaubens hat Cato einmal einen feinen Witz gemacht: Einer erzählte ihm einmal, es seien ihm seine Schuhe von Mäusen angefressen worden und fragte darum den Cato um Rat. Da gab dieser zur Antwort: dies sei gar kein Wunder; aber für ein wahrhaftes Wunder hätte man es halten müssen, wenn die Mäuse von den Schuhen angefressen worden waren.
21. Kapitel: Von dem Aberglauben der Astrologen (mathematici)
32. Von dieser Art des verderblichen Aberglaubens sind auch jene Leute nicht freizusprechen, die man deswegen, weil sie betreffs der Geburtstage ihre Beobachtungen anstellen, „Geburtswahrsager“, jetzt aber gewöhnlich Astrologen nennt. Das ist ja wahr, daß sie die wirkliche Stellung der Gestirne zur Zeit der Geburt aufspüren und manchmal auch tatsächlich auffinden, aber sie befinden sich doch im Irrtum, weil sie sich anheischig machen, aus dieser Stellung entweder unsere Handlungen oder deren Erfolge vorherzusagen, und weil sie so an unwissende Menschen einen unwürdigen Knechtesdienst verkaufen. Denn jedermann, der als freier Mann zu den Astrologen kommt, zahlt eigens dazu Geld, um als Knecht des Mars, der Venus oder vielmehr aller Gestirne hinwegzugehen. Den Gestirnen haben jene, die zuerst irrten und ihren Irrtum der Nachwelt S. 79wieder weitergaben, entweder wegen der Ähnlichkeit der Gestalt die Namen von Tieren oder, um Menschen zu ehren, die Namen von Menschen gegeben. Darüber darf man sich auch gar nicht wundern: haben ja doch die Römer in der uns näher liegenden neueren Zeit noch den Versuch gemacht, den Lucifer genannten Stern dem glorreichen Namen des Cäsar zu weihen, und vielleicht wäre dieses auch geschehen und wäre dieser Name auf die spätere Nachwelt übergegangen, wenn nicht seine Urahnin Venus dieses Namensgut schon früher in Besitz genommen hätte; und die würde doch ohne alles Recht ein Gut auf ihre Nachkommen vererben, das sie selbst bei ihren Lebzeiten nicht besaß und nicht zu besitzen verlangte. Freilich, wenn ein Ort noch herrenlos und noch nicht für die Ehre früherer Toten in Besitz genommen war, so geschah, was in diesen Fällen immer zu geschehen pflegt: für die Monate Quintilis und Sextilis sagen wir heute Juli und August, und zwar heißen wir diese Monate so zu Ehren des Julius Cäsar und des Kaisers Augustus. Aus dem Gesagten kann jedermann leicht erkennen, daß früher die Gestirne ohne diese Namen am Himmel umhergewandert sind. Als aber jene Menschen gestorben waren, deren Andenken zu ehren man entweder von königlicher Gewalt gezwungen oder von der eigenen Torheit veranlaßt wurde, da legte man ihre Namen den Sternen bei und glaubte, man erhebe damit diese Menschen selbst bis in den Himmel. Mögen diese Gestirne aber nun von den Menschen genannt werden, wie sie wollen, sie sind doch Gestirne, die Gott nach seinem Wohlgefallen geschaffen und geordnet hat, mit einer ganz bestimmten Bewegung, die den Unterschied und den Wechsel der Zeiten bewirkt. Es ist nun ein Leichtes die Bewegung der Gestirne zur Zeit der Geburt eines Menschen anzugeben; man braucht sich nur an die schon längst gefundenen und schriftlich aufgezeichneten Regeln derjenigen Gelehrten zu halten, welche die Heilige Schrift mit folgenden Worten verurteilt: Wenn sie schon einmal so gescheit sein konnten, daß sie sich auf die Berechnung der S. 80Zeiten verstanden, warum haben sie denn dann nicht auch gleich den Herrn der Zeiten gefunden, was doch viel leichter wäre?
22. Kapitel: Aus der Konstellation der Gestirne lassen sich die Geschicke der Menschen unmöglich erkennen
33. Es ist doch ein großer Irrtum und ein großer Wahnsinn, aus solchen Gestirnsbeobachtungen die Sitten, Handlungen und Schicksale des neugeborenen Menschen vorhersagen zu wollen. Auch jenen Leuten gegenüber, die solche Künste gelehrt haben — übrigens eine Kunst, die man (ohne Schaden) wieder verlernen darf —, kann dieses Wissen ganz unzweifelhaft als Aberglaube widerlegt werden. Die sogenannten Konstellationen sind die Beobachtung der Gestirne zur Zeit der Geburt desjenigen, über welchen jene Unglücklichen von noch Unglücklicheren befragt werden. Es ist aber nun recht gut möglich, daß z. B. Zwillinge in so rascher Folge aus dem Mutterschoß hervortreten, daß man überhaupt keinen Zeitunterschied wahrnehmen und ihre Konstellation zifferngemäß feststellen kann. Demgemäß müßten einige Zwillingspaare ganz die gleichen Konstellationen haben, und doch ist der Ausgang der Dinge, die diese Zwillinge verrichten oder erleben, keineswegs gleich, sondern meist so ungleich, daß der eine ganz glücklich, der andere dagegen ganz unglücklich leben kann. So wissen wir z. B. daß Esau und Jakob allerdings als Zwillingsbrüder geboren wurden, und zwar so, daß der später geborene Jakob mit seiner Hand die Ferse des vor ihm geborenen Bruders hielt. Bei diesen konnte man doch sicherlich über Tag und Ort ihrer Geburt nichts bemerken, als daß beide ein und dieselbe Konstellation besaßen. Und doch besagt uns das schon im Munde aller Völker lebende Zeugnis der Heiligen Schrift, welch gewaltiger Unterschied zwischen den Sitten, Taten, Arbeiten und Geschicken der beiden Brüder bestand.
S. 81 34. Das tut nämlich gar nichts zur Sache, daß die Astrologen sagen, schon die kleinste und unbedeutendste Spanne Zeit, welche die Geburt der Zwillinge trennt, sei bei der Natur der Sache und bei der reißenden Schnelligkeit (der Sterne) von großer Bedeutung. Daß diese kleine Zeitspanne sehr viel ausmacht, das gebe ich schon zu. Doch können die Astrologen diesen kleinen Zeitunterschied zwischen ihren Konstellationen eben nicht bemessen; und gerade diese (zeitlich von einander scharf getrennten) Konstellationen müßten sie nach ihrer eigenen Aussage zuerst deutlich erkennen, bevor sie das Geschick (der Neugeborenen) weissagen könnten. Er sieht unbedingt nur ein und dieselbe Konstellation, mag er nun über Jakob oder über seinen Bruder befragt werden; denn er findet nun einmal keinen Unterschied in den Konstellationen. Was hilft es ihm also, wenn zwar am Himmel, gegen den er gefahrlos verwegene Verdächtigungen erhebt, ein (freilich von ihm nicht wahrnehmbarer) Unterschied (zwischen den Konstellationen) besteht, wenn er diesen Unterschied aber auf seiner Berechnungstafel nicht finden kann, die er vergebens sorgfältig betrachtet? Darum ist auch der Glaube an gewisse Zeichen der Dinge, die durch menschliche Vermessenheit eingeführt wurden, auf die gleiche Stufe zu stellen, wie die in aller Form abgeschlossenen Verträge mit den Dämonen.
23. Kapitel: Beim Aberglauben ist oft Teufelsspuk mit im Spiel. — Vom Verhalten des Christen gegenüber dem Aberglauben
35. Daher kommt es, daß infolge eines geheimen göttlichen Gerichtes solche Menschen, die nach bösen Dingen lüstern sind, zur Strafe für ihre schlimmen Absichten dem Hohn und der Täuschung preisgegeben werden. Es verhöhnen und täuschen sie aber jene bösen Engel, denen nach der so schönen Ordnung der Dinge der unterste Teil der Welt durch das Gesetz der göttlichen Vorsehung unterworfen ist. Dieser (teuflische) Hohn und Trug ist daran schuld, daß durch solche abergläubische und verderbliche Art von Weissagung gar S. 82manches Vergangene und Zukünftige ganz nach dem wirklichen Verlauf angegeben wird und daß manches nicht anders eintrifft, als wie es (von diesen Wahrsagern) geweissagt wurde. Durch diese vielen Beobachtungen, mit denen sie sich immer beschäftigen, werden sie dann immer noch neugieriger und verstricken sich immer mehr in die vielfältigen Schlingen eines höchst verderblichen Irrtums. Von dieser Art geistiger Buhlerei hat die Heilige Schrift zu unserem Heil nicht geschwiegen und zu unserem heilsamen Schrecken uns nicht bloß vor ihr gewarnt, weil von den Ausübern solcher Künste die Unwahrheit ausgesagt wird, sondern sie spricht auch: „Wenn sie (die falschen Propheten und Traumdeuter, die zum Dienste fremder Götter auffordern,) euch etwas, sagen und es trifft wirklich so ein, so glaubt ihnen nicht!“ Denn deshalb, weil das Schattenbild des verstorbenen Samuel dem König Saul die Wahrheit vorhergesagt hat, sind solche gottesräuberische Beschwörungen, wodurch es berufen wurde, nicht weniger verabscheuungswert. Und deshalb, weil in der Apostelgeschichte ein bauchrednerisches Weib den Aposteln des Herrn ein wahres Zeugnis gab, verschonte der Apostel jenen (bösen) Geist nicht, sondern er tadelte vielmehr jenen Teufel, trieb ihn aus und reinigte so das Weib.
36. Der Christ hat also alle derartigen Künste durchaus zu verschmähen und zu fliehen, und zwar ganz gleich, ob es sich um einen mehr spaßhaften oder mehr schädlichen Aberglauben handelt; denn letzten Endes geht er ja doch auf eine Art von verderblichem, gewissermaßen auf einer treulosen und verschlagenen Freundschaft beruhendem Übereinkommen zwischen Menschen und bösen Geistern zurück. Der Apostel sagt: „(Ich behaupte nicht, daß) ein Götze etwas sei. (Ich sage nur:) Was die Heiden opfern, das opfern sie Dämonen, aber nicht Gott; ich will aber nicht, daß ihr euch S. 83mit Dämonen in Verbindung setzt.“ Was hier der Apostel von den Götzenbildern und den Opfern, die zu ihrer Ehre dargebracht werden, sagt, das ist von allen bildlichen Zeichen zu verstehen, die entweder zum Dienst der Götzen oder zu göttlicher Verehrung eines Geschöpfes oder seiner Teile verführen oder die zur Besorgung abergläubischer Heilmittel und Beobachtungen gehören. Sie sind alle insgesamt nicht von Gott zum Zweck der Gottes- und Nächstenliebe gewissermaßen allgemein angeordnet worden, sie dienen vielmehr nur dem Streben einzelner nach zeitlichen Dingen und zerstören so die Herzen der Unglücklichen. Bei all diesen (abergläubischen) Lehren hat man also die Gemeinschaft mit den Dämonen zu fürchten und zu fliehen, die mitsamt ihrem Fürsten, dem Teufel, nur unsere Heimkehr (zu Gott) verschließen und verriegeln wollen. Wie aber von den Sternen, die Gott erschaffen und geordnet hat, von den Menschen rein menschliche und trügerische Wahrsagungen abgeleitet worden sind, so ergeht es auch mit allen anderen Dingen, die nach der Ordnung der göttlichen Vorsehung entstehen und irgendwie existieren. Wenn sich da irgendwie etwas Ungewöhnliches ereignet, wie wenn z. B. eine Mauleselin Junge bekommt oder wenn etwas vom Blitz getroffen wird, dann haben viele Menschen auf bloß menschliche Mutmaßungen hin gleich viele Deutungen schriftlich aufgezeichnet (und zwar mit einer solchen Sicherheit), als wären sie ganz regelrechte Schlußfolgerungen.
24. Kapitel: Den zu abergläubischen Diensten benützten Sachen wohnt an sich keine geheime natürliche Kraft inne; nur die persönliche Torheit der Menschen legt ihnen jeweils solche Kräfte bei
37. Dies alles hat nur insoweit Kraft, als es durch den die Geister beherrschenden Wahn als der gemeinsamen Sprache mit den Dämonen verabredet worden ist; aber alles ist voll von verderblicher Neugier, von S. 84quälender Sorge und von todbringender Knechtschaft. Nicht weil es Kraft hatte, gab man sich damit ab, sondern weil man sich mit diesen Dingen abgab und sie bezeichnete, erlangten sie erst Kraft. Daher kommt für einen jeden aus ein und derselben Sache etwas Besonderes heraus je nach seinen Gedanken und Vermutungen. Denn die auf Trug sinnenden (bösen) Geister besorgen für jeden gerade das, worin sie ihn schon an sich durch seine persönlichen Vermutungen und Neigungen verstrickt sehen. So hat z. B. auch die Gestalt ein und desselben kreuzweise geschriebenen Buchstabenzeichens X bei den Griechen einen anderen Wert als bei den Lateinern;, und zwar kommt ihm diese verschiedene Bedeutung nicht schon von Natur aus zu, sondern weil man eben stillschweigend gerade über diese Bedeutung übereingekommen ist. Wer also von diesen beiden Sprachen etwas versteht, der wird, wenn er an einen Griechen schreibt, diesen Buchstaben in anderer Bedeutung schreiben, als wenn er an einen Lateiner schreibt. Auch ein und dasselbe Wort „beta“ ist bei den Griechen der Name eines Buchstabens, bei den Lateinern aber die Bezeichnung eines Gemüses; ferner wenn ich „lege“ sage, so denkt sich bei diesen zwei Silben sowohl der Grieche, als auch der Lateiner etwas anderes. Wie nun alle diese Bezeichnungen gerade so auf die Geister wirken, wie die daran interessierten Kreise eben darüber übereingekommen sind, und wie ihre Wirkung verschieden ist, wenn die Übereinstimmung eine verschiedene ist, und wie sich die Menschen bezüglich dieser Bezeichnung nicht deshalb verstanden haben, weil diese Bezeichnung schon an sich eine bezeichnende Kraft besaß, sondern sie vielmehr nur deshalb ihre bezeichnende Kraft hat, weil man sich eben bezüglich ihrer miteinander verstand, so haben auch jene Zeichen, durch die man sich die verderbliche Gesellschaft der Dämonen erwirbt, Kraft nur nach der Tätigkeit desjenigen, der sie beobachtet. Dies zeigt ganz klar der Gebrauch der Auguren: bevor diese S. 85ihre eigentlichen Beobachtungen anstellen, und auch nachher, wenn sie ihr Zeichen einmal beobachtet haben, bemühen sie sich gar nicht, auf den Flug der Vögel zu sehen oder auf ihre Stimme zu hören: denn Vogelflug und Vogelstimme sind ja keine Zeichen, wenn der Beobachter seine Aufmerksamkeit nicht darauf richtet.
25. Kapitel: Einteilung der nicht abergläubischen menschlichen Dinge in solche, die überflüssig, und in solche, die zweckmäßig und notwendig sind
38. Nachdem wir nun diese (abergläubischen) Zeichen aus dem Herzen der Christen geschnitten und mit der Wurzel ausgerissen haben, müssen wir jetzt auch auf die nicht abergläubischen menschlichen Einrichtungen unser Augenmerk richten, das heißt auf jene, die nicht mit Dämonen, sondern mit den Menschen selbst getroffen worden sind. Denn alles, was unter den Menschen nur deshalb Geltung hat, weil sie sich darüber verständigt haben, beruht auf menschlichen Einrichtungen. Diese menschlichen Einrichtungen nun sind zum Teil überflüssig und entbehrlich, teils aber auch zweckmäßig und notwendig. Würden z. B. jene Zeichen, welche die Gaukler beim Tanze geben, schon von Natur aus und nicht erst durch menschliche Einrichtung und Übereinkunft ihre bestimmte Bedeutung haben, dann hätte in alten Zeiten beim Tanz eines Pantomimen kein Herold den Karthagern lange verkündigen müssen, was der Tänzer eigentlich verstanden wissen wollte. An solche Erklärungen (durch den Herold) können sich noch viele alte Leute erinnern, aus deren Erzählungen ich solche Dinge zu schöpfen pflege. Dies ist auch deshalb ganz gut glaublich, weil noch heute ein in solchen Possen unerfahrener Mann beim Besuch eines Theaters mit gespannter Aufmerksamkeit zuschauen kann, ohne etwas davon zu haben, wenn ihm nicht jemand anderer die Bedeutung der Bewegungen erklärt. Es suchen aber alle nach einer Bezeichnung, bei der sich der bezeichnende Ausdruck und das zu bezeichnende Ding tunlichst ähnlich sind. Weil aber ein Ding einem anderen in S. 86vielfacher Beziehung ähnlich sein kann, so haben solche Zeichen unter Menschen keine allgemeine Geltung, sofern man sich darüber nicht eigens verständigt.
39. Was nun Gemälde, Statuen und die anderen nachbildenden Werke, zumal von wirklichen Meistern betrifft, so befindet sich niemand im Irrtum, wenn er aus der Ähnlichkeit des Bildes die diesem Bild ähnlichen Dinge erkennen will. Diese ganze Gruppe von Gegenständen gehört zu den überflüssigen Einrichtungen der Menschen, höchstens daß das Objekt, die Veranlassung, der Ort, die Zeit oder der Schöpfer eines solchen Werkes einen Unterschied ausmacht. — Endlich sind auch die tausenderlei dichterischen Schöpfungen, an deren Erfindung sich die Menschen ergötzen, nur menschliche Einrichtungen; und gerade auf die falschen und lügenhaften darunter darf der Mensch am allermeisten sein ursprüngliches Eigentumsrecht geltend machen. — Zweckmäßige und notwendige Einrichtungen im Verkehr der Menschen untereinander sind jedoch alle Unterschiede in Kleidung und Körperhaltung, die man zur Unterscheidung des Geschlechtes und des Ranges braucht. Dazu gehören dann die zahllosen Arten von Bezeichnungen, ohne welche die menschliche Gesellschaft gar nicht oder wenigstens nicht so zweckmäßig bestände. Hierher gehört sodann auch alles, was jeder Staat und jedes Volk bezüglich des Gewichtes und des Maßes, der Prägung und Währung des Geldes Eigentümliches hat u. dgl. Wären dies nicht menschliche Einrichtungen, dann wären sie nicht bei verschiedenen Völkern verschieden, auch könnten sie nicht bei den verschiedenen Völkern nach Belieben der Fürsten verändert werden.
26. Kapitel: Welche menschliche Einrichtungen man fliehen, und welche man annehmen soll
40. Die ganze Gruppe menschlicher Einrichtungen, die den notwendigen Lebensverkehr fördern, soll der Christ keineswegs fliehen, sondern, soweit es notwendig S. 87ist, vielmehr sein Augenmerk darauf richten und sie im Gedächtnis behalten; sind sie ja doch gleichsam als Schattenbilder, die den wirklichen Gegenständen irgendwie ähnlich sind, von den Menschen eingeführt worden. Von diesen menschlichen Einrichtungen muß man, wie gesagt, jene, die sich auf den Verkehr mit Dämonen beziehen, durchaus verschmähen und verabscheuen; diejenigen aber, die zum gegenseitigen Verkehr der Menschen untereinander dienen, soll man annehmen, sofern sie nicht bloß die Sinnlichkeit begünstigen und darum überflüssig sind. So hat man vor allem die Buchstaben anzunehmen, weil man sonst eben nicht lesen kann, und die verschiedenen Sprachen je nach Maßgabe des Bedürfnisses: doch davon haben wir ja schon früher gesprochen. Hierher gehören auch die sogenannten Noten, deren Kenntnis vorausgestzt ist, wenn man im eigentlichen Sinn Notar heißen will. Dies sind nützliche Kenntnisse, können ohne Sünde erlernt werden, verstricken nicht in Aberglauben und entnerven nicht durch Sinnlichkeit; aber auch sie dürfen uns nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie keine größeren Ziele verhindern, zu deren Erreichung sie bloß Mittel sein sollen.
27. Kapitel: Es gibt aber noch Wissenstatsachen, die nicht von den Menschen selbst erfunden worden sind
41. Jene Kenntnisse, welche die Menschen nicht als eigene Erfindung, sondern als einfache Ergebnisse der Zeitverhältnisse oder als Anordnungen Gottes an die Nachwelt weitergeben, sind, wo immer sie erlernt werden, nicht für menschliche Einrichtungen zu halten. Die einen davon beziehen sich auf die Sinneswahrnehmung, die anderen auf die rein geistige Vernunfterkenntnis. Die ersteren glauben wir, wenn man sie uns erzählt, nehmen wir wahr, wenn man sie uns zeigt, und erschließen wir auf Grund der Erfahrung.
28. Kapitel: Der Nutzen der Geschichtswissenschaft
S. 88 42. Alles, was die sogenannte Geschichtswissenschaft von der Ordnung der vergangenen Zeiten angibt, ist ein sehr wirksames Hilfsmittel zum Verständnis der heiligen Bücher, selbst wenn es außerhalb der Kirche im Schulunterricht gelehrt wird. Durch die Olympiaden und die Konsulnamen erhalten wir z. B. oft über viele Dinge Aufschluß; und die Unkenntnis des Konsulates, unter dem der Herr geboren wurde und gelitten hat, gab einigen Historikern Anlaß zu dem Irrtum, der Herr habe in einem Alter von sechsundvierzig Jahren gelitten, weil die Juden an ihrem Tempel, der doch ein Vorbild des Leibes unseres Herrn war, gerade so viele Jahre gebaut haben sollen. Daß der Herr ungefähr in einem Alter von dreißig Jahren getauft worden ist, das wissen wir wohl aus dem Bericht des Evangeliums; aber wie viele Jahre er nachher noch gelebt hat, das kann man zunächst zwar nur aus dem Zusammenhang seiner Taten erfahren; um aber nun jeden dunklen Zweifel von irgendeiner Seite her auszuschließen, vergleicht man die Weltgeschichte mit dem Evangelium, und der wirkliche Sachverhalt läßt sich sofort viel klarer und sicherer erschließen. Man wird nämlich dann sehen, daß die Angabe, der Tempel sei in sechsundvierzig Jahren erbaut worden, keine vergebliche ist: man darf diese Zahl zwar nicht auf das Alter des Herrn beziehen, wohl aber auf die geheime Erbauung des menschlichen Leibes, den der eingeborene Sohn Gottes, durch den alles gemacht worden ist, unseretwegen anzuziehen nicht verschmäht hat.
43. Um den Nutzen der Geschichte zu beweisen, will ich von den Griechen ganz absehen: hat ja doch auch unser (lateinischer Kirchenvater) Ambrosius eine bedeutsame geschichtliche Frage für die verleumderischen Leser und Freunde des Plato gelöst. Diese Leute S. 89wagten die Behauptung aufzustellen, all die Aussprüche unseres Herrn Jesus Christus, denen auch sie ihre volle Bewunderung nicht versagen können, habe Christus einfach aus den Büchern des Plato gelernt: habe ja doch dieser Philosoph schon lange vor der fleischlichen Ankunft des Herrn gelebt. Hat sich da nicht der oben erwähnte Bischof Einblick in die Geschichte der Völker verschafft und, da er fand, Plato sei zu den Zeiten des Propheten Jeremias nach Ägypten, dem damaligen Aufenthaltsort des Propheten, gereist, es für wahrscheinlicher zu machen gewußt, daß Plato sein Wissen eher von Jeremias bezogen hat, so daß er das, was an seiner Lehre mit Recht gelobt wird, recht wohl schreiben konnte? Denn nicht einmal Pythagoras, von dessen Nachfolgern doch nach ihrer eigenen Behauptung Plato erst sein Wissen von göttlichen Dingen lernte, lebte vor der Abfassung der Schriften des hebräischen Volkes, in dem die Verehrung des einen Gottes leuchtete und aus dem der Herr seinem Fleische nach hervorging. Betrachtet man so die Aufeinanderfolge der Zeiten, dann wird doch die Ansicht, die Heiden hätten das, was sie Gutes und Wahres zu sagen hatten, aus unseren Schriften genommen, viel wahrscheinlicher als der höchst unsinnige Glaube von einer Abhängigkeit unseres Herrn Jesus Christus von Plato.
44. Obgleich nun durch die Geschichtserzählung auch die vergangenen menschlichen Einrichtungen überliefert werden, so ist die Geschichte selbst doch nicht unter die menschlichen Einrichtungen zu zählen. Denn was schon vorüber ist und nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, das gehört unwiderruflich der Reihenfolge der Zeiten an, deren Begründer und Ordner S. 90Gott ist. Denn bloß zu erzählen, was geschehen ist, ist etwas ganz anderes als anzugeben, was geschehen solle. So erzählt die Geschichte getreulich und zu unserem Nutzen die geschehenen Tatsachen, die Bücher der Haruspices dagegen und ähnliche schriftliche Erzeugnisse wollen nicht nur mit der schlichten Treue des bloßen Erzählers, sondern mit der Anmaßung eines Ratgebers darüber belehren, was zu tun und zu beachten ist.
29. Kapitel: Der Nutzen der Naturwissenschaften und der Astronomie
45. Es gibt (außer der die Vergangenheit behandelnden Geschichte) auch noch eine mehr der Beschreibung ähnliche Art der Erzählung, durch die der unkundige Mensch nicht über etwas Vergangenes, sondern über Gegenwärtiges unterrichtet wird. Dazu gehört all das, was über die Lage der einzelnen Örtlichkeiten, über die Natur der Lebewesen, der Bäume, der Pflanzen, der Steine oder anderer körperlicher Dinge aufgeschrieben ist. Wir haben davon schon weiter oben gehandelt und dabei gezeigt, daß ein solches Wissen zur Lösung der in der Heiligen Schrift verborgenen Rätsel beitrage. Natürlich dürfen diese Dinge nicht zu gewissen Zeichen dienen, die gewissermaßen nur Mittel und Werkzeuge des Aberglaubens sind. Auch diese Art von Dingen haben wir schon von der hier besprochenen unterschieden. Denn es ist recht wohl ein Unterschied, ob ich sage: Wenn du diese Pflanze da zerreibst und (ihren Saft) trinkst, dann wirst du kein Leibweh haben, oder ob ich sage: Wenn du dir diese Pflanze bloß an den Hals hängst, dann wirst du kein Leibweh haben. Im ersten Falle wird ein heilsamer Gebrauch gebilligt, im zweiten aber ein abergläubisches Zeichen verurteilt. In Fällen jedoch, wo keinerlei Bezauberung, Beschwörung und Zauberzeichen zur Anwendung kommen, da ist es meist zweifelhaft, ob das Ding, das an den der Heilung bedürftigen Körper angebunden oder sonst befestigt werden soll, durch seine natürliche Kraft wirkt, und in dem Falle stünde seine Anwendung frei, oder ob der Erfolg abhängt von einer besonderen Art, wie das betreffende S. 91Ding am Körper befestigt ist: in letzterem Falle muß der Christ um so vorsichtiger sein, je kräftiger der Erfolg zu sein scheint. Ist aber der Grund der Wirksamkeit ganz unklar, dann kommt es auf die Absicht an, in der einer das Mittel gebraucht, ob er sich nämlich der Mittel, welche die medizinische Kunst oder die Naturwissenschaft zur Verfügung stellen, wirklich bloß zur Heilung oder Linderung körperlicher Gebrechen bedient.
46. Auch bei der Kenntnis der Gestirne, deren die Heilige Schrift nur sehr wenige erwähnt, haben wir es nicht mit einer Erzählung, sondern mit einer Beschreibung zu tun. Den allermeisten ist der Lauf des Mondes, nach dem man sich auch bei Berechnung der jährlichen Feier des Leidens des Herrn zu richten pflegt, eine bekannte Sache: gerade so wenig ist aber anderseits das völlig irrtumslose Wissen vom Auf- und Untergang oder von den übrigen Erscheinungen der anderen Gestirne bei den meisten Leuten etwas ganz Bekanntes. Diese Kenntnis führt nun an und für sich nicht zum Aberglauben. Es ist aber damit auch nicht viel oder gar nichts für die Behandlung der göttlichen Schrift gedient, stört vielmehr bloß durch eine nutzlose Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit; und weil sie zudem ganz nahe mit dem ganz verderblichen Irrtum derjenigen verwandt ist, die töricht Lebensschicksale prophezeien, so ist es zweckmäßiger und ehrenvoller, wenn man sich gar nicht damit abgibt. — Die Gestirnkunde hat jedoch außer der Beschreibung gegenwärtiger Vorgänge auch etwas an sich, was mit der Erzählung vergangener Dinge verwandt ist: Man kann nämlich aus der gegenwärtigen Stellung und Bewegung der Gestirne regelmäßig auf ihre früheren Bahnen schließen. Auch für die Zukunft lassen sich aus der Kenntnis der Gestirne regelrechte Schlußfolgerungen ziehen, und zwar keine solchen, die bloß auf Vermutungen und Ahnungen beruhen, sondern ganz bestimmte und feste; (es ist das nun nicht so zu verstehen,) als ob wir aus den Gestirnen etwas herauslesen könnten, was unser Tun und unsere Erfolge betrifft, so etwa, wie es bei den Albernheiten der Astrologen der Fall ist; sondern (was man herauslesen kann,) S. 92das betrifft die Gestirne selbst. Denn gerade so gut wie einer, der Berechnungen am Mond vornimmt, dann, wenn er sieht, wie groß der Mond heute ist und wie groß er vor so und so viel Jahren gewesen ist, auch angeben kann, wie groß er nach beliebig vielen Jahren sein wird, so pflegen erfahrene Astronomen über jedes einzelne Gestirn Auskunft zu geben. Über den praktischen Wert dieser ganzen Wissenschaft habe ich meine Ansichten schon geäußert.
30. Kapitel: Der Nutzen einiger anderer menschlicher Fertigkeiten
47. Was die übrigen Fertigkeiten anbelangt, so wird durch einen Teil davon etwas geschaffen, was auch nach der Tätigkeit des Künstlers als sein Werk noch bestehen bleibt, wie z. B. ein Haus, eine Bank, irgendein Gefäß oder etwas anderes von der Art. Ein anderer Teil davon leistet gewissermaßen der Wirksamkeit Gottes Beihilfe, wie die Heilkunde, die Landwirtschaft und Verwaltungskunst. Bei einem dritten Teil beruht der ganze Erfolg lediglich in der Tätigkeit selbst, wie beim Tanzen, Laufen oder Ringen. Die aus der Vergangenheit gewonnene Erfahrung läßt bei all diesen Fertigkeiten einen Schluß auf die Zukunft zu. Denn kein Mensch, der in einer dieser Fertigkeiten bewandert ist, bewegt bei ihrer Ausübung ein Glied, ohne die Erinnerung an das Vergangene mit der Erwartung des Zukünftigen zu verbinden. Von all diesen Künsten soll man im menschlichen Leben nur leichthin und oberflächlich Kenntnis nehmen, nicht um sie auszuüben — es müßte schon sein, daß eine besondere Pflicht uns dazu zwingt, ein Fall, von dem wir jetzt nicht handeln wollen —, sondern nur um ein Urteil darüber zu haben. Sonst wüßten wir ja nicht, was denn die Heilige Schrift andeuten will, wenn sie figürliche Ausdrücke gebraucht, die solchen Fertigkeiten entlehnt sind.
31. Kapitel: Der Wert der kunstgemäßen Dialektik
48. Es bleiben uns jetzt nur noch jene Kenntnisse übrig, die nicht in das Gebiet der Sinneswahrnehmung S. 93fallen, sondern dem Denkvermögen der Seele angehören, wo die Wissenschaft der Dialektik und der Mathematik herrscht. Die Wissenschaft der Dialektik trägt zur Erfassung und Lösung aller in der Heiligen Schrift auftauchenden Fragen sehr viel bei: man hat sich jedoch vor Streitsucht und vor dem knabenhaften Prunken mit dem Täuschen des Gegners zu hüten. Denn es gibt viele sogenannte Sophismen, das heißt falsche logische Schlußfolgerungen, die sehr häufig den richtigen so täuschend nachgemacht sind, daß sie nicht bloß langsam begreifende Köpfe, sondern sogar scharfsinnige Männer täuschen, wenn sie nicht sehr achtsam sind. So stellte z. B. einer einem seiner Gegner gegenüber folgenden Obersatz auf: „Was ich bin, das bist du nicht.“ Der erklärte sich damit einverstanden; denn zum Teil war der Satz ja ganz richtig. Doch war dabei jener ein hinterlistiger, dieser aber ein argloser Mensch. Jener fuhr also fort: „Ich bin aber ein Mensch.“ Und als auch dieser Untersatz von seinem Gegner angenommen worden war, da machte er folgenden Schluß: „Dann bist also du kein Mensch.“ Diese Art von verfänglichen Schlüssen weist meines Erachtens die Heilige Schrift an der Stelle zurück, wo es heißt: „Wer sophistisch redet, der ist verhaßt.“ Außerdem heißt man allerdings auch eine an sich unverfängliche Rede sophistisch, wenn sie in größerer Fülle, als dem Ernste geziemend ist, nach gezierten Worten hascht.
49. Es gibt auch richtige Schlußfolgerungen des Syllogismus, die gleichwohl falsche Ansichten enthalten; diese verfolgen den Irrtum desjenigen, mit dem man verhandelt, bis in seine Konsequenzen; sie werden aber von einem anständigen Gelehrten nur angewendet, damit derjenige, auf dessen Irrtum sie eingehen, aus Scham über die Schlußfolgerungen (die man aus seinem Irrtum zieht) eben diesen Irrtum aufgebe. So war z. B. die Schlußfolgerung nicht richtig, die der Apostel (Paulus) zog, als er sagte: „Auch Christus ist nicht auferstanden; eitel ist daher unsere Predigt und eitel euer Glaube“ S. 94usw. Das war an sich vollständig falsch, weil ja Christus wirklich auferstanden war und daher die Predigt derer nicht eitel war, die dies verkündeten, noch der Glaube derer, die dies geglaubt hatten. Und doch reihten sich jene falschen Behauptungen ganz folgerichtig an den aufgestellten Obersatz, es gebe keine Auferstehung der Toten. Sind aber einmal jene Sätze als falsch erwiesen, dann ergibt sich anderseits als folgerichtiger Schluß auch die Auferstehung der Toten; denn umgekehrt wären sie ja, falls es eine Auferstehung der Toten nicht gäbe, auch wahr gewesen. Da also nicht bloß die logische Verbindung wahrer, sondern auch falscher Sätze richtig sein kann, so kann man die Wahrheit dieser Verbindungen auch in jenen Schulen lernen, die außerhalb der Kirche stehen. Die Wahrheit der Sätze selbst aber muß in den heiligen Büchern der Kirche gesucht werden.
32. Kapitel: Die in einem logischen Schluß liegende Wahrheit hat ihren Grund in sich selbst, aber nicht in menschlicher Einrichtung
50. Die Wahrheit der logischen Verbindungen wurde nicht von den Menschen eingeführt, sondern von ihnen nur zum Zweck der eigenen Belehrung und des Unterrichts beobachtet und schriftlich niedergelegt; denn die Wahrheit selbst liegt in der unveränderlichen und von Gott selbst gesetzten Natur der Dinge. Wer die Reihenfolge der Zeiten erzählt, der setzt sie nicht selbst zusammen; wer die Lage der Örtlichkeiten, die Natur der Lebewesen, Pflanzen und Steine darlegt, legt damit keine von Menschen eingeführten Dinge dar; wer die Gestirne und ihre Bewegung zeigt, zeigt damit wiederum keine von ihm selbst oder überhaupt von einem Menschen eingeführte Sache. Gerade so drückt sich auch jener, der sagt: „Wenn der Schluß falsch ist, muß auch der Obersatz falsch sein“, ganz richtig aus; er bewirkt aber nicht selbst, daß es sich so verhält, sondern er zeigt nur, daß es so ist. So ist es auch mit dem, was ich vom Apostel Paulus angeführt habe: Der Obersatz lautet, es gebe keine Auferstehung der Toten; das war die S. 95Behauptung derjenigen, deren Irrtum die Apostel vernichten wollten. Auf den von ihnen aufgestellten Vordersatz folgt notwendig der Schluß: Auch Christus ist nicht auferstanden. Dieser Schluß ist aber falsch; denn Christus ist eben wirklich auferstanden: und darum ist auch der Obersatz falsch. Dieser Vordersatz heißt aber, es gebe keine Auferstehung der Toten: folglich gibt es also eine Auferstehung der Toten. Der ganze Schluß läßt sich also in Kürze folgendermaßen zusammenfassen: Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dann ist auch Christus nicht auferstanden. Christus ist aber wirklich auferstanden: darum gibt es also eine Auferstehung der Toten. Die Tatsache also, daß der Obersatz fällt, wenn die Schlußfolgerung abgewiesen wird, haben die Menschen nicht eingeführt, sondern nur auf sie hingewiesen. Und diese Regel bezieht sich nur auf die Wahrheit der logischen Verbindung, nicht auf die Wahrheit der Sätze selbst.
33. Kapitel: Wenn aber auch die logischen Schlüsse objektiv wahr sind, so ist es doch möglich, daß die Menschen subjektiv falsche Folgerungen ziehen
51. Als wir eben von der Auferstehung handelten, war sowohl das Gesetz vom logischen Schluß, als auch die im Schluß sich ergebende Behauptung wahr. Bei (innerlich) falschen Sätzen stellt sich die Richtigkeit der Aufeinanderfolge in dieser Weise dar: Wir wollen den Fall setzen, es habe einer den Obersatz zugegeben: „Wenn die Schnecke ein Tier ist, dann hat sie auch eine Stimme.“ Wird nun nach diesem Zugeständnis bewiesen, daß die Schnecke keine Stimme hat, so ergibt sich, da bei der Unrichtigkeit des Schlusses auch der Obersatz fällt, daß die Schnecke kein Tier ist. Diese Behauptung ist inhaltlich falsch; die Schlußfolgerung aber ist, nachdem eine (im Obersatz behauptete) unwahre Tatsache einmal zugestanden worden ist, unbestreitbar. Ob also ein Satz inhaltlich wahr ist, das hängt ganz von dem Satz selbst ab; die Wahrheit der logischen Verbindung aber richtet sich ganz nach der Meinung und dem S. 96Zugeständnis dessen, mit dem verhandelt wird. Deshalb also weil solche Schlußfolgerungen richtig sind, reiht man, wie oben gesagt wurde, ein falsches Glied ein, damit es denjenigen, dessen Irrtum wir aufklären wollen, reut Prämissen zugestanden zu haben, deren Folgerungen er ablehnen muß. — Schon daraus können wir sehen, daß es ebenso gut wie bei falschen Sätzen wahre, so bei wahren Sätzen falsche Schlüsse geben kann. Nimm einmal an, es habe einer den Obersatz aufgestellt: „Wenn jener gerecht ist, dann ist er auch gut“, und das sei zugestanden worden; dann habe er den Untersatz aufgenommen: „Er ist aber nicht gerecht“, und nachdem auch dies zugestanden, den Schluß gezogen: „Also ist er auch nicht gut.“ Wenn auch alle diese Aufstellungen wahr sind, so ist doch das hier angewendete Gesetz vom Schluß nicht wahr. Denn wenn auch bei Ablehnung der Schlußfolgerungen der Obersatz notwendig fällt, so muß deshalb bei Ablehnung des Obersatzes doch nicht auch die Schlußfolgerung notwendig verneint werden. So ist es z. B. ganz richtig, wenn wir behaupten: „Wenn er ein Redner ist, so ist er auch ein Mensch“; wollten wir aber aus diesem Obersatz den Untersatz bilden: „Er ist kein Redner“, so wird der Schluß nicht erlaubt sein: „Also ist er auch kein Mensch.“
34. Kapitel: Logische Schulung und wirkliche Kenntnis der Wahrheit müssen nicht unbedingt beisammen sein
52. Es ist daher schon ein Unterschied, ob einer bloß die Gesetze der logischen Verbindung kennt oder auch die inhaltliche Wahrheit der Sätze. Durch jene Gesetze lernt man, was folgerichtig, was nicht folgerichtig oder was widersprechend ist. Folgerichtig ist z. B. der Satz: „Wenn einer ein Redner ist, dann ist er auch ein Mensch“; nicht folgerichtig ist der Satz: „Wenn einer ein Mensch ist, dann ist er auch ein Redner“; und widersprechend ist der Satz: „Wenn einer ein Mensch ist, dann ist er vierfüßig.“ In solchen Fällen bezieht sich das Urteil nur auf die Richtigkeit der logischen Verbindung. Will man sich aber ein Urteil über die innere S. 97Wahrheit der Sätze verschaffen, so müssen diese selbst und nicht ihr logischer Zusammenhang betrachtet werden. Wenn aber mit wahren und gewissen Sätzen solche, die noch ungewiß sind, in folgerichtigem Zusammenhang verbunden werden, dann müssen auch diese (bisher noch ungewissen) Sätze unbedingt gewiß werden. Es gibt Leute, die sich brüsten, als seien sie schon im Besitze der in den Sätzen selbst liegenden Wahrheit, wenn sie auch bloß die Wahrheit der logischen Verbindungen kennen gelernt haben. Im Gegensatz zu diesen setzen sich wieder andere, die tatsächlich im Besitze der Wahrheit sind, zu tief herab, bloß weil sie die Gesetze der Schlußfolgerung nicht kennen. Und doch ist der besser daran, welcher weiß, es gibt eine Auferstehung der Toten, als derjenige, welcher weiß, es sei folgerichtig, daß auch Christus nicht auferstanden ist, wenn es keine Auferstehung von den Toten gibt.
35. Kapitel: Der objektive und subjektive Wahrheitsgehalt der Definition, Division und Partition
53. Auch die Wissenschaft von der Begriffsbestimmung, Einteilung und Zerlegung) ist trotz ihrer häufigen Anwendung auf falsche Dinge weder selbst falsch, noch von den Menschen eingeführt, sondern aus der Natur der Dinge abgeleitet. Von dieser Wissenschaft machen ja wohl auch die Dichter in ihren erdichteten Werken Gebrauch und falsche Philosophen in ihren irrigen Lehrmeinungen, ja sogar auch die Häretiker, das heißt falsche Christen; aber deshalb ist doch der Satz nicht falsch, daß weder in die Begriffsbestimmung noch in die Einteilung oder Zerlegung etwas nicht zur Sache Gehöriges aufgenommen oder etwas zur Sache Gehöriges übergangen werden darf. Diese Regel bleibt wahr, auch wenn die in ihrem Begriff bestimmten oder eingeteilten Sachen nicht wahr sind. So wird z. B. auch das Wort „falsch“ selbst begrifflich erklärt, wenn wir üben sagen: Unter falsch versteht man die Bezeichnung S. 98einer Sache, die sich in Wirklichkeit anders verhält, als sie bezeichnet wird, oder wenn wir eine ähnliche Erklärung geben. Diese Begriffsbestimmung ist wahr, wenn auch das Falsche selbst niemals wahr sein kann. Wir können auch eine solche Einteilung geben, daß wir sagen: Es gibt zwei Arten von Falschem; die eine umfaßt solche Dinge, die überhaupt nicht möglich sind, die andere aber solche, die nicht sind, obgleich sie an sich sein könnten. Wer nämlich z. B. sagt: 7 + 3 = 11, der sagt etwas, was überhaupt unmöglich ist; wer aber sagt: Am 1. Januar habe es geregnet, der sagt damit etwas aus, was, selbst wenn es in Wirklichkeit nicht geschehen ist, doch an sich hätte der Fall sein können. Die Begriffsbestimmung und die Einteilung auch falscher Dinge kann daher recht wohl wahr sein, obgleich das Falsche selbst durchaus nicht wahr sein kann.
36. Kapitel: Der objektive und subjektive Wahrheitswert der Rhetorik
'54. Es gibt auch noch Regeln einer wortreichen Dialektik, die man Beredsamkeit heißt. Diese Regeln selbst sind wahr, obgleich durch sie auch Falsches geraten werden kann. Weil aber das Angeratene auch wahr sein kann, so ist nicht die Gabe der Beredsamkeit an sich schuldbar, sondern der verkehrte Wille jener, die davon einen schlechten Gebrauch machen. Denn das ist keine menschliche Einrichtung, daß eine vom Geist der Liebe getragene Art der Rede den Zuhörer gewinnt oder daß eine knappe und klare Art der Darstellung geeignet ist, die Absicht (des Redenden) erreichen zu lassen, oder daß eine abwechslungsreiche Rede die Zuhörer vor Langweile bewahrt und ihre Aufmerksamkeit fesselt. Diese und ähnliche Beobachtungen, die bei wahren so gut wie bei falschen Gegenständen insofern wahr sind, als sie eben ein Wissen oder ein Glauben bewirken oder jemand dazu veranlassen, etwas anzustreben oder etwas zu fliehen, sind mehr in ihrer Zweckdienlichkeit erst aufgefunden, als eigens zu diesen Zwecken eingerichtet worden.
37. Kapitel: Der Wert der Rhetorik und Dialektik
S. 99 55. Wenn die Redekunst erlernt wird, dann soll man sie mehr dazu anwenden, um dasjenige vorzutragen, was wir selber schon verstanden haben, als um unser eigenes Wissen dadurch zu mehren. Alles, was mit den Schlüssen, den Begriffsbestimmungen und den Einteilungen zusammenhängt, das macht dem Kenner sehr viel Vergnügen. Nur muß der Irrtum fern bleiben, daß die Menschen schon die Wahrheit des seligen Lebens gelernt zu haben glauben, sobald sie diese Dinge gelernt haben. Und dabei trifft es sich noch, daß die Menschen meistens leichter gleich in den Besitz derjenigen Wahrheiten selbst gelangen, um deretwegen man jene Dinge lernt, als daß sie Kenntnis solch verwickelter und spitzfindiger Vorschriften erhalten. Das ist gerade so, als wollte jemand die Vorschriften über das Gehen lehren: so einer würde mahnen, man dürfe den hinteren Fuß nicht eher aufheben, als bis man den vorderen Fuß auf den Boden gesetzt hat; dann würde er bis ins Einzelne beschreiben, wie die Gelenke der Glieder und Kniekehlen bewegt werden müssen. Er würde damit die Wahrheit sagen; denn man kann tatsächlich nicht anders gehen. Aber dies setzen die Menschen viel leichter beim Gehen selbst gleich ins Werk, als daß sie jetzt eigens darauf aufpassen oder es nur verstehen, wenn sie es hören. Die aber überhaupt nicht gehen können, kümmern sich noch viel weniger um etwas, was sie nicht durch einen praktischen Versuch erproben können. So sieht ein Mann mit gesundem Hausverstand meist schneller ein, daß das Ergebnis eines Schlusses falsch ist, als bis er die theoretischen Gesetze (über den Schluß) begreift; ein Schwachkopf aber merkt weder, daß der Schluß unrichtig ist, und noch weniger versteht er die hierüber geltenden Gesetze. Unsere Freude besteht also bei solchen Dingen gar oft mehr darin, daß wir die Wahrheit zutage kommen sehen, als daß wir daraus in unserer Fähigkeit, zu disputieren und ein Urteil zu fassen, gefördert werden. Eine Schulung des Geistes bedeuten diese Künste ja allerdings, obgleich sie daneben auch ziemlich S. 100boshaft und aufgeblasen machen. Solche Leute täuschen nämlich gerne durch den Schein der Wahrheit und glauben, weil sie solche Dinge verstünden, so hatten sie vor den Guten und Arglosen einen großen Vorzug voraus.
38. Kapitel: Die Wissenschaft der Mathematik stammt nicht aus menschlicher Erfindung, sondern von der Natur der Dinge und wurde von den Menschen nur aufgefunden
56. Daß die Wissenschaft der Mathematik von den Menschen nicht selbst erfunden, sondern von ihnen nur entdeckt und aufgefunden worden ist, das sieht der größte Schwachkopf ein. Die erste Silbe des Wortes „Italien“, welche die Alten noch kurz aussprachen, wurde einfach deshalb lang, weil es eben (der Dichter) Vergil so wollte: [nicht so bei der Mathematik]. Denn beim besten Willen kann niemand machen, daß dreimal drei nicht neun sei, oder daß es kein Quadrat sei, oder daß es im Verhältnis zur Dreizahl nicht das Dreifache, im Verhältnis zur Sechszahl nicht das Einundeinhalbfache sei, oder daß es nicht von einer (ganzen) Zahl das Doppelte sei, weil ja die ungeraden Zahlen keine (gerade) Hälfte haben. Ob man nun die Zahlen an sich (arithmetisch) betrachtet oder ob man sie auf die Gesetze der Geometrie, der Töne oder anderer Bewegungen anwendet: immer haben sie unveränderliche Gesetze, die nicht von Menschen erfunden, sondern nur durch den Scharfsinn heller Köpfe gefunden worden sind. <ergänzt!>
57. Gar mancher hat an all diesen Dingen so sehr seine Freude gewonnen, daß er unter unerfahrenen Menschen mit seinem Wissen prahlen will, statt daß er lieber untersuchte, woher denn das Wahre stammt, das er nur als wahr fühlt, und woher denn das, was er als unveränderlich begreift, nicht bloß wahr, sondern auch unveränderlich ist. Wenn er nun so von der Körpergestalt zum Menschengeist aufsteigt und dann sieht, daß auch dieser veränderlich ist, weil er bald gelehrt, bald ungelehrt zwischen die unveränderliche Wahrheit über S. 101ihm und all die anderen veränderlichen Dinge unter ihm gestellt ist, dann muß er alles auf die Ehre und Liebe des einen Gottes beziehen, den er als Urheber aller Dinge kennt. (Tut er das nicht,) dann mag er zwar als gelehrt erscheinen, weise kann er aber keineswegs sein.
39. Kapitel : Die Stellung der Christen zu den oben angeführten Wissenschaften. — Literarische Hilfsmittel zu einem gedeihlichen Studium der heiligen Schriften
58. Man soll daher meines Erachtens lernbegierigen und begabten Jünglingen, die zudem gottesfürchtig sind und das ewige Leben suchen, zu ihrem eigenen Heile vorschreiben, doch ja keiner außerhalb der Kirche geübten Wissenschaft ohne Besorgnis für die Erreichung des ewigen Lebens zu folgen, sondern sie nüchtern und sorgsam zu prüfen. Wenn sie nun finden, daß einige der von den Menschen selbst begründeten Wissenschaften eine große Mannigfaltigkeit aufweisen, weil jeder der Begründer etwas anderes dabei wollte, oder wenn sie finden, daß sie dunkel sind, weil jeder der Irrenden etwas anderes vermutet, und vollends, wenn sie gewissermaßen durch ein an gewisse äußere Zeichen geknüpftes vertragliches Übereinkommen in ein Bündnis mit bösen Geistern kämen: dann sollen sie eine solche Wissenschaft voll Abscheu gänzlich von sich weisen. Auch mit den überflüssigen und rein sinnlichen Einrichtungen der Menschen sollen sie sich nicht befassen. Jene Einrichtungen jedoch, die im gesellschaftlichen Leben von Bedeutung sind, sollen sie, je nachdem sie dieselben fürs Leben brauchen, nicht vernachlässigen. Von all den übrigen heidnischen Kenntnissen, die sich auf die sinnliche Wahrnehmung beziehen und zu denen auch die praktischen Versuche und Aufstellungen über einzelne körperliche Fertigkeiten gehören, halte ich nur die Geschichte der Vergangenheit und Gegenwart für nützlich und außerdem noch die Wissenschaft der Dialektik und Mathematik. Aber auch bei diesen Wissenschaften hat man immer den Grundsatz festzuhalten: „Nur kein S. 102Übermaß“; vor allem gilt dies bei jenen, die mit den körperlichen Sinnen zu tun haben und die infolgedessen veränderlich und räumlich begrenzt sind.
59. Wie einige Gelehrte alle Wörter und Namen, die sich aus dem Hebräischen, Syrischen, Ägyptischen oder aus einer anderen Sprache in der Heiligen Schrift finden lassen und die dort ohne jede Übersetzung vorkommen, herausgegriffen und erklärt haben, so hat auch Eusebius eine Weltgeschichte verfaßt, weil verschiedene Fragen in den göttlichen Büchern den Besitz eines solchen Buches forderten. Diese Männer haben auf ihren Gebieten solche Arbeiten geschaffen, damit der Christ (beim Studium der Heiligen Schrift) nicht wegen einiger Einzelheiten im großen Zusammenhang gestört wird. So meine ich, sollte es auch noch auf anderen Gebieten gehalten werden. Es dürfte nur einem Sachverständigen gütigst gefallen, sich zum Nutzen seiner Mitbrüder zu bemühen, um alle unbekannten Orte, Tiere, Pflanzen, Bäume, Steine und Metalle und alle sonstwie in der Heiligen Schrift erwähnten Gegenstände nach Klassen zu ordnen, einfach zu erklären und in einer Schrift zusammenzustellen. Auch bezüglich der Zahlen könnte es geschehen, daß nur die in der Heiligen Schrift erwähnten erläutert und zusammengeschrieben würden. Einige von diesen Arbeiten, ja vielleicht sogar schon alle sind bereits gemacht worden; so habe ich selbst schon gar manche schriftliche Arbeiten von guten und gelehrten Christen ganz unvermutet aufgefunden; viele aber kennen wir noch nicht, weil es viele gibt, die sich darum gar nicht kümmern und weil viele Neidlinge solche Werke einfach verborgen halten. Ob sich ein solches Werk auch bezüglich der biblischen Dialektik schreiben ließe, S. 103weiß ich nicht und ich halte es fast für unmöglich, weil sie wie ein Nervennetz den ganzen Text der Heiligen Schrift durchzieht. Daher hat der Lehrer auch mehr Nutzen von ihr, wo es sich um Lösung und Erklärung von Zweideutigkeiten (des Sinnes) handelt, wovon wir erst später reden werden, als gegenüber unbekannten Erscheinungen, wovon wir jetzt gerade handeln.
40. Kapitel : Von dem, was die Heiden Wahres besitzen, darf auch der Christ ruhig Gebrauch machen
60. Wenn aber die sogenannten Philosophen, vor allem die Platoniker, einmal etwas aussagen, was wahr ist und mit unserem Glauben übereinstimmt, so brauchen wir uns davor nicht nur durchaus nicht zu fürchten, sondern wir dürfen ihr Wahrheitsgut von ihnen als den ungerechten Besitzern für uns in Gebrauch nehmen. So hatten z. B. auch die Ägypter nicht bloß Götzenbilder und schwere Lasten, die das Volk Israel verabscheuen und fliehen mußte, sondern sie hatten auch goldene und silberne Gefäße und Schmuckgegenstände und Kleider, die sich das Volk Gottes bei seinem Auszug aus Ägypten nicht zwar aus eigener Machtvollkommenheit, sondern auf Befehl Gottes heimlich zum besseren Gebrauch aneignete; die Ägypter traten damit ihrerseits ohne ihr Wissen diejenigen Güter ab, von denen sie selbst einen schlechten Gebrauch machten: geradeso umfassen auch alle Kenntnisse der Heiden nicht bloß nachgeäffte und abergläubische Gebilde und schwere Lasten einer unnützen Arbeit, die jeder von uns verabscheuen und meiden muß, wenn er unter der Führung Christi aus der Gesellschaft der Heiden auszieht, sondern sie haben auch schöne Künste, die besser zum Dienste der Wahrheit passen. Dazu gehören z. B. einige sehr nützliche Sittenvorschriften; ja selbst über die Verehrung des einen Gottes kann man bei ihnen manches Wahre finden. Was sie so als ihr Gold und Silber besitzen, das haben sie sich nicht selbst gegeben, S. 104sondern sozusagen aus den Schächten der überall waltenden göttlichen Vorsehung (wie aus einem Bergwerk) gezogen, haben es aber dann verkehrt und ungerecht zum Dienst der bösen Geister mißbraucht: wenn sich nun der Christ innerlich von der unglückseligen Gemeinschaft mit den Heiden loslöst, dann muß er ihnen diese Schätze entreißen und in gerechter Weise zur Verkündigung des Evangeliums gebrauchen. Auch ihre Kleider, das heißt die rein menschlichen Einrichtungen, die nur für den Dienst der menschlichen Gesellschaft berechnet und in diesem Leben unentbehrlich sind, dürfen wir uns aneignen und zum Gebrauch der Christen verwenden.
61. Oder haben vielleicht viele gute und gläubige Männer unter uns etwas anderes getan? Sehen wir nicht, wie schwer Cyprian, der süße Lehrer und selige Märtyrer, mit Gold und Silber belastet war, als er Ägypten verließ? So machten es auch Lactantius, so Victorinus, Optatus, Hilarius und, um von den noch Lebenden zu schweigen, unzählige Griechen. So hatte es vordem auch der getreueste Diener Gottes, Moses, gemacht, von dem geschrieben steht, er sei in jeglicher Weisheit der Ägypter unterrichtet gewesen. All diesen Männern hätten die abergläubischen Heiden, zumal in jenen Zeiten, als sie das Joch Christi ablehnten und die Christen verfolgten, niemals ihre nützlichen Wissenschaften zur Verfügung gestellt, wenn sie vermutet hätten, sie würden zum Gebrauche der Verehrung des einen Gottes verwendet werden, durch den der richtige Götzendienst vernichtet werden sollte. Aber S. 105sie gaben ihr Gold und ihr Silber und ihre Kleider dem aus Ägypten ausziehenden Volk Gottes, eben weil sie nicht wußten, wie die Güter, die sie hergaben, in den Dienst Christi treten sollten. Was dort im Buche Exodus vorging, ist ohne Zweifel ein Vorbild, um dies anzudeuten. Das möchte ich jedoch bloß behauptet haben, ohne dem Urteil eines anderen Mannes von gleicher und besserer Einsicht vorzugreifen.
41. Kapitel: Die zu einem gedeihlichen Schriftstudium erforderliche Geistesverfassung
62. Wenn ein auf diese Weise ausgerüsteter, nach dem Verständnisse der Heiligen Schrift strebender Mann an die Erforschung derselben herantritt, dann darf er nicht aufhören, die Worte des Apostels zu erwägen: „Das Wissen bläht auf, die Liebe erbaut.“ Er wird darum bedenken, daß er, auch wenn er Ägypten reich verläßt, doch nicht gerettet werden kann, wenn er sein Paschamahl nicht gehalten hat. Als unser Paschalamm aber ist Christus geopfert worden, und die Opferung Christi mahnt uns an nichts so dringend als an seinen Ruf, den er gewissermaßen an alle richtet, die er in Ägypten unter der Herrschaft des Pharao schmachten sieht: „Kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, und ich will euch erquicken. Nehmet mein Joch auf euch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen; und dann werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Bürde ist leicht“; sie ist aber nur leicht für diejenigen, die sanftmütig und demütig von Herzen sind, für diejenigen, die das Wissen nicht aufbläht, sondern die Liebe erbaut. Sie sollen sich darum erinnern, daß jene, die zu jener Zeit unter Bildern und Schatten ihr Paschamahl hielten, mit Hysop besprengt wurden, als sie die Türpfosten mit dem Blut bestreichen mußten. Dies ist eine bescheidene, niedrig wachsende S. 106Pflanze, nichts aber ist stärker und tiefer eindringend als ihre Wurzeln. So sollen auch wir in der Liebe gewurzelt und begründet sein, um mit allen Heiligen begreifen zu können, welches da sei die Breite und Länge und Höhe und Tiefe: das ist das Kreuz Christi. Seine Breite ist der Querbalken, an dem die Hände ausgestreckt werden, seine Länge ist das Stück von der Erde bis zum Querbalken, an dem der ganze Leib von den Händen abwärts angeheftet ist; seine Höhe ist das Stück von der Breite aufwärts bis zur Spitze, auf dem das Haupt ruht; seine Tiefe endlich ist das Stück, das in die Erde befestigt ist und sich darum dem Blicke entzieht. Durch dieses Zeichen des Kreuzes wird die ganze Lebensweise des Christen beschrieben, nämlich gut zu wirken in Christus, ihm beharrlich anzuhangen, auf das Himmlische zu hoffen, die Sakramente nicht zu entheiligen. Wenn wir uns durch eine solche Lebensweise geheiligt haben, dann werden wir auch die alles Verständnis übersteigende Liebe Christi zu erkennen vermögen, in welcher der (Sohn Gottes), durch den alles gemacht worden ist, dem Vater gleich ist; und so werden wir mit der ganzen Fülle Gottes erfüllt werden. Auch im Hysop liegt eine reinigende Kraft: so sagt der Psalmist, damit er sich nicht, wenn das Wissen von dem aus Ägypten mitgenommenen Reichtum aufgebläht macht, stolz in die Brust werfe: „Besprenge mich mit Hysop und ich werde rein werden; wasche mich und ich werde weißer wie Schnee; und du wirst mir zu hören geben Wonne und Freude.“ Daran reiht er dann, um zu zeigen, daß die Reinigung vom Stolz durch den Hysop angedeutet wird, ganz folgerichtig noch die weiteren Worte: „Und frohlocken werden die gedemütigten Gebeine.“
42. Kapitel: Vergleich der heiligen Schriften mit der Profanliteratur
63. Wie gering ist aber der Vorrat von Gold, Silber und Kleidern, den jenes Volk aus Ägypten mit sich nahm, S. 107im Vergleich zu jenem Reichtum, der ihm nachher in Jerusalem zuteil wurde, was sich vor allem am König Salomon zeigt. Ebenso verhält es sich bei allem Nutzen mit jeder Wissenschaft, die aus den Schriften der Heiden gesammelt wird, sobald man sie mit der Wissenschaft der Heiligen Schrift vergleicht. Mag der Mensch außerhalb der Heiligen Schrift gelernt haben, was er will: dieses sein Wissen wird dort verurteilt, sobald es schädlich ist; ist es aber nützlich, dann findet es sich auch in der Heiligen Schrift. Und während er dort alles wieder findet, was er anderswo zu seinem Nutzen gelernt hat, wird er in noch viel reicherem Maße dort auch noch das finden, was er nirgendwo anders, sondern nur in der wunderbaren Tiefe und Demut jener Schriften lernen kann.
Wenn einen so ausgerüsteten Leser, der sanftmütig und demütig von Herzen ist, der sich unter das sanfte Joch Christi schmiegt, der sich mit seiner leichten Bürde belasten läßt, der in der Liebe begründet, festgewurzelt und auferbaut ist, die (in der Heiligen Schrift vorkommenden) unbekannten Zeichen nicht mehr aufhalten, dann mag er sich daran machen, nun auch die zweideutigen Zeichen der Heiligen Schrift zu betrachten und aufzulösen. Von diesen werde ich im dritten Buch dasjenige zu sagen versuchen, was der Herr mir zu geben sich würdigen wird.
3. Buch
Inhalt
S. 108* Das dritte Buch ist der Besprechung der bei den eigentlichen und bildlichen Zeichen vorkommenden Zweideutigkeiten gewidmet; diese beruhen entweder auf einer zweifelhaften Interpunktion, auf einem zweideutigen Silbenmaß oder auf einer verwirrenden Wortfolge. Die christliche Glaubensregel, das Licht klarer Stellen und die Vergleichung mehrerer Handschriften wird für alle wesentlichen Punkte Gewißheit verschaffen (1—4).*
Sehr viele Stellen dürfen aber nur im bildlichen Sinne aufgefaßt werden, sonst gerät der Mensch in eine schlimmere Knechtschaft als die einem engherzigen Buchstabendienst verfallenen Juden; diese dienten aber immerhin dem einen Gotte im Gegensatz zu den einem verwerflichen Götzendienst frönenden Heiden; daher wurden durch das Christentum auch die jüdischen Zeichen nicht abgeschafft, sondern erfüllt, während die heidnischen ganz beseitigt wurden (5—9).
Augustinus wendet sich sodann in einer etwas an Mangel an Ordnung leidenden Erörterung der Beantwortung der Frage zu, wann im einzelnen ein eigentliches und wann ein bildliches Zeichen vorliegt. Im eigentlichen Sinn ist alles zu verstehen, was die Glaubens- und Sittenlehre betrifft. Stellen, die auf Gott oder die Heiligen den Schein der Grausamkeit werfen, beweisen, richtig verstanden, nur seine göttliche Gerechtigkeit. Schändliche Taten können von den Heiligen aber nur im figürlichen Sinn ausgesagt sein; vielfach sind solche Taten aus den verschiedenen Zeitverhältnissen heraus gerechtfertigt, wie z. B. die Polygamie. Alle für die Liebe, das Ziel aller Schrifterklärung, sprechenden Stellen, alle Gebote, die etwas Gutes befehlen, und alle Verbote, die etwas Böses untersagen, sind im eigentlichen, alle gegenteiligen Gebote und Verbote aber im bildlichen Sinne zu nehmen. Wenn Handlungen, die gegen unser sittliches Bewußtsein verstoßen, gelobt S. 109werden, so sind sie figürlich zu erklären; sie können aber wie die Polygamie in den Zeitverhältnissen gerechtfertigt sein, weshalb z. B. in der Vielweiberei unter Umständen eine viel größere Enthaltsamkeit herrschen konnte als in mancher monogamen Ehe. Die wirklichen Sünden großer Männer sind für uns eine Mahnung zur Vorsicht (10—24). — Ein und dasselbe Wort kann an verschiedenen Stellen verschiedene, ja sogar entgegengesetzte Bedeutung haben; dunkle Stellen erhalten ihre Beleuchtung durch andere klare Stellen; eine bloß auf Vernunft gründe sich stützende Erklärung ist nur im Notfalle gestattet und bleibt immer bedenklich. Ein wichtiges Hilfsmittel zur Erklärung bildlicher Ausdrücke bietet die Kenntnis der rhetorischen Figuren (25—29j. — Den Schluß des Buches bildet eine längere Auseinandersetzung mit den sogenannten sieben Regeln des Tychonius (30—37).
1. Kapitel: Angabe des in diesem Buche zu behandelnden Themas
1. Ein gottesfürchtiger Mensch sucht in den heiligen Schriften sorgfältig nach dem göttlichen Willen. Fromm und sanftmütig lasse er sich in keine Streitigkeiten ein. Wenn er sodann ausgerüstet ist mit der notwendigen Sprachkenntnis, um nicht an unbekannten Wörtern und Ausdrücken hängen zu bleiben, wenn er sodann auch über die nötige Sachkenntnis verfügt, um die Bedeutung und das Wesen auch von Dingen zu verstehen, die nur gleichnisweise angeführt sind, und wenn er sich schließlich noch der Unterstützung von echten, mit Verstand und Sorgfalt verbesserten Handschriften erfreuen darf, dann darf er sich auch an die Auflösung und Enträtselung der in der Heiligen Schrift vorkommenden zweideutigen Stellen heranwagen. Soweit ich ihn belehren kann, soll er durch solche zweideutige Zeichen nicht irre geführt werden. Möglich wäre es allerdings auch, daß einer wegen seines eigenen großen Verstandes oder wegen des Lichtes einer höheren Erleuchtung die Wege, die ich angeben will, als kindisch verlacht. Soweit aber, wie anfänglich schon gesagt, ein für eine Belehrung doch S. 110noch fähiger Mensch von mir belehrt werden kann, so soll er wissen, daß die in der Heiligen Schrift vorkommende Zweideutigkeit notwendig in den betreffenden Wörtern selbst oder in ihrer Übertragung beruhen kann. Auf beide Arten habe ich schon im zweiten Buch hingewiesen.
2. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auffassung einer Schriftstelle können durch die Wortabteilung des Textes entstehen
2. Wenn aber ein Wort selbst die Zweideutigkeit der Heiligen Schrift verursacht, so hat man zuerst darauf zu sehen, daß wir die Wörter nicht schon (in der Handschrift) falsch abteilen oder falsch betonen. Wenn man aber sieht, daß es trotz des besten Willens nicht zu entscheiden ist, wie man die Wörter abteilen oder wie man sie betonen soll, dann befrage man die Glaubensregel, die man aus Stellen gezogen hat, die deutlicher sind (als die vorliegende dunkle Stelle), und die uns die Lehrautorität der Kirche zur Verfügung stellt. Davon haben wir schon ausführlich genug gehandelt, als wir im ersten Buch von den Sachen sprachen. Wenn nun beide oder bei mehreren Satzgliedern alle Sinne selbst bei Beiziehung der Glaubensregel noch zweideutig lauten, dann bleibt nur noch übrig, den Textzusammenhang selbst zu befragen, und zwar sowohl in den Teilen, die der in der Mitte liegenden Zweideutigkeit vorausliegen, als in denen, die ihr nachfolgen; dann wird man schon sehen, welchen der verschiedenen Sinne, die möglich sind, der Zusammenhang begünstigt und mit sich vereinigen läßt.
3. Nur ein Beispiel: Die bekannte häretische Wortabteilung: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war“, (die zu dem Zweck vorgenommen wurde), damit sich als anderer Sinn ergebe: „Dieses Wort war im Anfang bei Gott“, will verhüten, daß (durch diese Stelle) das Wort als Gott anerkannt S. 111werde. Dieser Irrtum muß aus der Glaubensregel widerlegt werden. Nach dieser Glaubensregel nun müssen wir bezüglich der Gleichheit in der Dreifaltigkeit so sagen: „Und Gott war das Wort.“ Daran dürfen wir dann fügen: „Dieses war im Anfang bei Gott).“
4. Eine andere zweideutige Wortabteilung, die aber nach keiner Seite hin dem Glauben widerstrebt und die daher nach dem Textzusammenhang selbst beurteilt werden muß, haben wir im folgenden Ausspruche des Apostels: „Ich weiß wahrlich nicht, was ich vorziehen soll. Ich fühle mich gedrängt in doppelter Hinsicht. Ich wünsche nämlich aufgelöst und mit Christus vereinigt zu werden; denn das ist bei weitem das Beste (für mich). Aber auch daß ich noch im Fleische verweile (und meine apostolische Arbeit fortsetze), das ist notwendig wegen euch.“ Da ist es nun ungewiß, ob die Worte so abzutrennen sind: „In doppelter Hinsicht wünsche ich …“ oder: „Ich fühle mich gedrängt in doppelter Hinsicht“, so daß es (im letzteren Falle) weiter heißen würde: „Ich wünsche nämlich aufgelöst und mit Christus vereinigt zu werden.“ Weil aber der Text weiter lautet: „Denn das ist bei weitem das Beste“, so meint er offenbar, er wünsche dieses Beste, so daß also für ihn, obwohl er sich in doppelter Hinsicht gedrängt fühlt, doch nur bezüglich des einen, nämlich bei Christus zu sein, ein Verlangen, bezüglich des anderen aber, nämlich im Fleische zu bleiben, nur eine Notwendigkeit besteht. Diese Zweideutigkeit wird durch ein einziges nachfolgendes Wort, durch „denn“ richtig entschieden. Solche Übersetzer, welche diese Partikel ausließen, wurden von der Ansicht geleitet, als scheine er sich nicht bloß in doppelter Hinsicht gedrängt zu fühlen, sondern als scheine er auch in doppelter Hinsicht zu wünschen. Die Stelle ist also (richtig) so abzuteilen: „Ich weiß wahrlich nicht, was ich vorziehen soll. Ich fühle mich gedrängt in doppelter Hinsicht.“ Hier folgt dann die Satzpause, worauf es weiter heißt: „Ich wünsche S. 112nämlich aufgelöst und mit Christus vereinigt zu werden.“ Und gleichsam als würde die Frage gestellt, warum er denn darnach mehr Verlangen habe, sagt er weiter: „Denn das ist bei weitem das Beste.“ Warum fühlt er sich dann in doppelter Hinsicht gedrängt? Weil eben auch noch die Notwendigkeit für ihn besteht, noch weiter zu verweilen. Dies drückt er so aus: „Aber auch daß ich noch im Fleische verweile, das ist notwendig wegen euch.“
5. Wo aber die Zweideutigkeit weder durch eine Glaubensvorschrift noch durch den textlichen Zusammenhang erklärt werden kann, da steht nichts im Wege, die Abteilung nach jeder der möglichen Ansichten vorzunehmen. So verhält es sich z. B. mit den Worten (des Apostels Paulus) an die Korinther: „Da wir nun solche Verheißungen haben, so müssen wir uns rein halten von aller sündhaften Befleckung des Leibes und des Geistes, Heiligung vollendend in der Furcht Gottes. Schließet uns ein in euer Herz! Niemandem haben wir geschadet.“ Hier ist zweifelhaft, ob man die Worte so verbinden muß: „… so müssen wir uns rein halten von aller sündhaften Befleckung des Leibes und des Geistes“, so wie es der Fall ist bei der Stelle: „… auf daß (die unverheiratete Jungfrau) heilig sei dem Leibe und dem Geiste nach“, oder so: „… so müssen wir uns rein halten von aller sündhaften Befleckung des Leibes.“ In letzterem Falle würde sich der Sinn ergeben: „und die Heiligung des Geistes vollendend in der Furcht Gottes. Schließet uns ein in euer Herz!“ Die Entscheidung über derlei zweideutige Abteilungen ist dem Belieben der Leser anheimgestellt.
3. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auflassung einer Schriftstelle können auch durch eine verschiedene Betonung des Textes entstehen
6. Was wir über zweideutige Abteilungen gesagt haben, das ist auch bei zweideutiger Aussprache zu S. 113beobachten. Auch solche Stellen müssen, wenn sie nicht bloß durch eine allzu große Sorglosigkeit der Vorleser gefälscht sind, nach den Regeln des Glaubens und nach dem ganzen Zusammenhang des Textes verbessert werden. Kann aber keines von diesen beiden Mitteln zur Verbesserung angewendet werden und bleibt die Betonung nicht weniger zweifelhaft, so trifft den Leser keine Schuld, wie er auch betonen mag. Wenn nicht unser Glaube, daß Gott nicht gegen seine Auserwählten Klage erheben und Christus sie nicht verdammen werde, uns abhielte, dann könnte z. B. die Stelle: „Wer wird eine Anklage erheben gegen die Auserwählten Gotte?“ so ausgesprochen werden, daß auf diese Frage die Antwort folgte: „Gott, der sie rechtfertigt“, und wenn weiter gefragt wird: „Wer ist es, der sie verdammt?“, dann könnte geantwortet werden: „Christus Jesus, der gestorben ist.“ Das zu glauben wäre höchst unsinnig. Darum wird man die Stelle so betonen, daß auf die vorhergehende Wortfrage eine Satzfrage folgt. Zwischen Wort- und Satzfrage besteht nach der Angabe der Alten der Unterschied, daß auf die Wortfragen vielerlei Antworten möglich sind, auf die Satzfragen aber nur „nein“ oder „ja“. Darum wird man unsere Stelle so aussprechen, daß auf die Wortfrage: „Wer wird gegen die Auserwählten Gottes Anklage erheben?“ das folgende im Ton der Satzfrage gesprochen werde: „Etwa Gott, der sie rechtfertigt?“, worauf dann die stille Antwort: „nein“ erfolgt. Und wenn wir wiederum die Wortfrage stellen: „Wer ist es, der sie verdammt?“, so lassen wir wiederum die Satzfrage folgen: „Etwa Christus Jesus, der gestorben ist, ja noch mehr, der auch auferstanden ist, zur Rechten Gottes sitzet und für uns bittet?“ Auf alle diese Fragen wird stillschweigend geantwortet: „nein“. — Was aber jene Stelle betrifft, wo der Apostel sagt: „Was werden wir nun sagen, daß die Heiden, die nicht nach Gerechtigkeit strebten, doch Gerechtigkeit erlangten“, so muß auf die Frage: „Was werden wir nun sagen?“ als Antwort erfolgen: „Daß die Heiden, welche S. 114nicht nach Gerechtigkeit strebten, doch Gerechtigkeit, erlangten“; denn sonst würde der folgende Text nicht, organisch zusammenhängen. — Ganz beliebig darf man endlich die Worte des Nathanael aussprechen: „Von Nazareth kann etwas Gutes kommen“: entweder im Tone der Bejahung, so daß nur das Wort: „von Nazareth“ zur Frage gehört, oder die ganze Stelle im Tone einer zweifelhaften Frage. Wie man hier die Entscheidung treffen soll, sehe ich nicht ein; aber es ist keiner der beiden Sinne gegen den Glauben.
7. Es gibt auch bei Silben von zweifelhafter Betonung eine Zweideutigkeit, die sich gleichfalls auf die Aussprache bezieht. Ob in der Schriftstelle: „Nicht verborgen ist vor dir mein ‚os‘ (‚Gesicht‘ oder ‚Gebein‘), das du im Verborgenen gemacht hast“, die Silbe „os“ kurz oder gedehnt auszusprechen ist, das ist dem Leser nicht klar. Nimmt er die Silbe kurz, dann ist es der Singular von „ossa“ (Gebein). Nimmt er sie aber lang, so ist es der Singular von „ora“ (Gesichter). Derlei Schwierigkeiten lassen sich durch einen Einblick in die Ursprache lösen: Denn im Griechischen steht nicht „στόμα“ (Gesicht), sondern „ὀστέον“ (Gebein). Sehr häufig ist darum zur Bezeichnung der Sachen die Volkssprache zweckdienlicher als die reine Schriftsprache. Ich für meine Person würde darum trotz des Barbarismus lieber sagen: „Nicht verborgen ist vor dir mein ‚ossum‘“, als daß ich im Interesse eines besseren Lateins weniger klar wäre. Manchmal aber wird die zweifelhafte Betonung einer Silbe durch ein nahestehendes Wort des nämlichen Satzes richtig gestellt. So ist es z. B. der Fall bei folgender Stelle des Apostels (Paulus): „Quae praedico vobis, sicut praedixi … Das sage ich euch, was ich euch ja früher schon gesagt habe: Wer solches tut, der wird das Reich Gottes nicht erben.“ Hätte er nur gesagt: „quae praedico vobis“ und nicht gleich hinzugefügt „sicut praedixi“, so bliebe S. 115nichts übrig als sich an die Handschrift der Ursprache zu wenden, um zu erkennen, ob in dem angegebenen Wort „praedico“ die mittlere Silbe gedehnt oder kurz auszusprechen sei. Jetzt aber ist es klar, daß sie gedehnt werden muß; denn Paulus sagt nicht „sicut praedicavi“, sondern „sicut praedixi“.
4. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auffassung einer Schriftstelle können auch noch durch die Stellung der einzelnen Worte des Textes entstehen
8. Nicht bloß diese Zweideutigkeiten, sondern auch all die anderen, wo es sich nicht darum handelt, richtig abzuteilen oder zu betonen, sind ähnlich zu lösen (wie wir es im vorausgehenden angegeben haben). Derart sind z. B. die Worte (des Apostels Paulus) an die Thessaloniker: „Propterea consolati sumus fratres in vobis.“ Da weiß man nicht, ob das Wort „fratres“ im Vokativ steht oder im Akkusativ. Keine Leseart verstößt gegen den Glauben: im Griechischen aber lauten die beiden Kasus nicht gleich; zieht man darum diese Sprache zu Rate, dann ergibt sich, daß das „fratres“ der Vokativ ist, gleich „o fratres“. Hätte der Übersetzer sagen wollen: „propterea consolationem habuimus fratres in vobis“, dann hätte er zwar an den Worten nicht viel ändern müssen, aber der Sinn des Satzes wäre weniger zweifelhaft gewesen. Oder würde man wenigstens „nostri“ beifügen, dann würde fast niemand zweifeln, daß er den Vokativ vor sich habe, wenn er hört; „propterea consolati sumus fratres nostri in vobis“. Die Erlaubnis (zu einer solch willkürlichen Textabteilung) ist aber immerhin eine etwas gefährliche Sache. So heißt es z. B. auch an einer Stelle des Korintherbriefes des Apostels (Paulus): „Quotidie morior per vestram gloriam, fratres ….“ Ein Übersetzer sagt nun (einfach) : „Alle Tage bestehe ich Todesnot, das schwöre ich bei dem Ruhme, den ich mir an euch verdient habe.“ S. 116 (Das kann er auch ruhig tun;) denn die griechische Schwurpartikel (νή) läßt ja unzweifelhaft keinerlei Doppelsinn zu. — Nur sehr selten und nur mit größter Mühe kann man daher an den eigentlichen Worten der Bücher der göttlichen Schriften eine Zweideutigkeit entdecken, die nicht eine die Absicht der Verfasser verratende Redewendung oder die Vergleichung der Übersetzer oder die Einsichtnahme des Urtextes lösen könnte.
5. Kapitel: Zweideutigkeiten in der Auffassung einer Schriftstelle entstehen auch dadurch, daß man in übertragenem Sinn gebrauchte Ausdrücke nicht als solche erkennt
9. Aber die Zweideutigkeiten der übertragenen Worte, von denen wir nun zu reden haben, verlangen eine nicht gewöhnliche Sorgfalt und beharrliche Tätigkeit. Zunächst hat man sich davor zu hüten, eine bildliche Redeweise buchstäblich zu nehmen. Hierauf beziehen sich die Worte des Apostels: „Der Buchstabe tötet, der Geist belebt“; denn es verrät fleischliche Weisheit, wenn ein figürlicher Ausdruck so genommen wird, als sei er wörtlich zu fassen. Und nichts kann man mit mehr Fug und Recht einen Seelentod heißen, als wenn man auch den Hauptvorzug, den der Mensch vor dem Tiere voraus hat, die Vernunft, durch einen Buchstabendienst dem Fleische unterwirft. Wer dem Buchstaben dient, der hält übertragene Worte für solche, die er wörtlich zu nehmen hat, und bezieht auch das, was mit eigentlichen Worten bezeichnet wird, nicht auf einen anderen Sinn, sondern wenn er z. B. das Wort „Sabbat“ hört, dann versteht er darunter gar nichts anderes als nur einen von den sieben aufeinanderfolgenden Tagen, und wenn er das Wort „Opfer“ hört, dann beschränkt sich sein Denken rein auf die Tätigkeit, die man eben mit Opfertieren und Feldfrüchten vorzunehmen pflegt. Das erst ist doch wirklich eine jämmerliche S. 117Geistesknechtschaft, wenn man am Buchstaben hängen bleibt, anstatt an der Sache selbst, und wenn man das Geistesauge nicht über den geschaffenen Körper hinweg zur Aufnahme des ewigen Lichtes erheben kann.
6. Kapitel: Die Juden standen unter dem Banne einer allzu wörtlichen Schriftauslegung; und doch war ihr Grundgedanke noch gut, weil sie alles auf den einen Gott bezogen
10. Bei den Juden freilich unterscheidet sich diese Knechtschaft wesentlich von dem, was bei den übrigen Völkern der Brauch war: denn sie waren den irdischen Dingen nur so unterworfen, daß sie in allem noch auf den einen Gott hingewiesen wurden. Sie hielten zwar die Zeichen der (hinter diesen Zeichen verborgenen) geistigen Dinge aus Unkenntnis über deren Bedeutung für die Dinge selbst; aber trotzdem war ihnen das Bewußtsein tief eingeprägt, durch einen solchen Dienst dem einzigen unter allen, den sie nicht sahen, zu gefallen, nämlich Gott. Das war gleichsam die Aufsicht unter dem Lehrmeister, wie der Apostel schreibt. Solche Leute nun, die hartnäckig an solchen Zeichen hingen, konnten daher den Herrn nicht ertragen, der solche Zeichen gering achtete, da ja die Zeit gekommen war, wo sie (in ihrer wirklichen Bedeutung) enthüllt werden sollten. Daher kam es auch, daß die Führer der Juden den Umstand als Grund zu Verleumdungen benutzen konnten, daß er am Sabbate heilte; und das Volk, das sich an diese Zeichen gefesselt fühlte, als wären sie schon die Sachen selbst, glaubte nicht, daß der Gott sei oder von Gott gekommen sei, der diesen Zeichen keine solche Aufmerksamkeit schenken wollte wie die Juden. Diejenigen aber, welche (an Christus) glaubten und aus denen die erste Kirche in Jerusalem gebildet wurde, zeigten zur Genüge, wie nützlich es sei, auf solche Weise unter der Aufsicht eines Lehrmeisters zu stehen, daß die Zeichen, die jenen für die Zeit der Knechtschaft auferlegt waren, den Geist derer, die auf diese Zeichen achteten, an die Verehrung S. 118des einen Gottes banden, der Himmel und Erde erschaffen hat. Denn gerade in zeitlichen und fleischlichen Wünschen und Zeichen hatten sie trotz ihrer Unkenntnis über deren geistige Bedeutung doch den ewigen Gott zu verehren gelernt: und so standen sie den geistigen Dingen sehr nahe. Darum wurden sie auch so empfänglich für (die Kraft des) Heiligen Geistes, daß sie all das Ihrige verkauften, den Erlös zur Verteilung unter die Armen den Aposteln zu Füßen legten und sich ganz als neue Tempel dem Gott weihten, dessen irdischem Bilde, d. h. dem alten Tempel, sie gedient hatten.
7. Kapitel: Im Gegensatz zu den Juden konnten sich die Heiden nicht von einem verderblichen, buchstäblichen Festhalten an den Zeichen losmachen und verfielen so in Götzendienst
11. Die Christengemeinden nun, die so handelten, waren aber, wie die Heilige Schrift berichtet, keine Gemeinden von Heiden; denn da diese ja von Menschenhand gemachte Bilder für wirkliche Götter hielten, so wurden sie (dem Heiligen Geiste) nicht so nahestehend befunden. Wenn auch einige unter den Heiden diese Bilder wie bloße Zeichen zu deuten suchten, so bezogen sie dieselben doch nur auf den Dienst und die Ehre eines Geschöpfes. Was nützt es mir, daß man z. B. ein Bild des Neptun nicht für den Gott selbst halten darf, wenn ich aber doch glauben muß, daß dadurch das ganze Meer und sogar auch noch alle übrigen Gewässer, die aus Quellen hervorsprudeln, angedeutet werden? So wird der Gott, wenn ich mich recht erinnere, von einem Dichter der Heiden also beschrieben:
| „Wenn du, Vater Neptun, die ergrauten Schläfen bewegest, >| Dann ertönet des Meeres Gewölb. Aus dem Kinne dir fließet >| Stets das unendliche Meer, und Flüsse irren aus Haaren.“
S. 119 Das sind Schoten, die rauschend unter einer süßen Schale ihre Kerne schütteln: es ist aber keine Speise für Menschen, sondern nur für die Schweine. Wer das Evangelium versteht, der versteht auch meine Worte. Wenn es eine solche Bedeutung ist, auf die ich das Bild des Neptun zurückführen muß, so kann mich das nur dazu bestimmen, daß ich eben weder das Bild noch seine Bedeutung verehre. Denn so wenig wie irgendeine Statue ist auch das Meer für mich ein Gott. Das gebe ich allerdings zu, daß noch tiefer diejenigen Menschen gesunken sind, welche Werke aus Menschenhand für Götter halten, als diejenigen, die wenigstens Werke aus Gotteshand für solche halten. Wir Christen aber dürfen nur Gott allein lieben und verehren, der all das erschaffen hat, wovon jene die Bilder als Götter oder wenigstens als Zeichen und Bilder von Göttern verehren. Wenn es daher schon fleischliche Knechtschaft verrät, einem zum Nutzen eingesetzten Zeichen zu folgen anstatt der Sache, zu deren Bezeichnung es eingeführt wurde, eine wieviel schlimmere Knechtschaft ist es dann, die eingesetzten Zeichen nutzloser Sachen für die Sachen selbst zu nehmen? Bezieht man sie aber auf den durch sie angedeuteten Gegenstand und verpflichtet man den Geist zu dessen Verehrung, so ist man trotzdem nicht weniger frei von knechtischer und fleischlicher Last und Hülle.
8. Kapitel: Von dem Verhältnis der Juden und der Heiden zur christlichen Freiheit
12. Deshalb hat die christliche Freiheit diejenigen, die sie im Dienste nützlicher Zeichen antraf, als schon fast Gefundene dadurch, daß sie ihnen die Zeichen, denen sie unterworfen waren, erklärte, zu den durch diese Zeichen angedeuteten Sachen emporgehoben und so frei gemacht. Aus jenen wurden die Kirchen heiliger Israeliten gebildet. Bei denjenigen nun, welche die christliche Freiheit im Dienste nutzloser Zeichen antraf, S. 120hat sie nicht bloß den unter solchen Zeichen geübten Sklavendienst, sondern auch gleich die Zeichen selbst für aufgehoben erklärt und alles entfernt. Die Heiden sollten von dem in der Heiligen Schrift oft im eigentlichen Sinn „Buhlerei“ genannten Verderben, das im Dienste der vielen erdichteten Götter lag, zum Dienste des einen Gottes bekehrt werden; dabei sollten sie nicht einmal mehr unter nützlichen Zeichen dienen müssen, sondern sich vielmehr gleich in ihrem geistigen Verständnis üben.
9. Kapitel: Wer befindet sich unter der Knechtschaft der Zeichen und wer nicht?
13. Unter einem Zeichen dient nämlich derjenige, der irgendeiner etwas bezeichnenden Sache dient oder sie verehrt, ohne zu wissen, was sie eigentlich bezeichnet. Wer aber einem nützlichen Zeichen dient oder es als göttliche Einrichtung ehrt und seine Kraft und Bedeutung kennt, der verehrt nicht das, was man sieht und was vorübergeht, sondern vielmehr das, worauf er all das erst beziehen muß. Ein solcher Mann ist ein Mann des Geistes und frei, selbst zur Zeit der Knechtschaft, in der fleischlichen Gemütern die Zeichen, durch deren Joch sie gezähmt werden sollen, noch nicht erschlossen werden dürfen. Solche geistige Männer waren die Patriarchen und Propheten und all die Männer im Volke Israel, durch die uns der Heilige Geist die trostvolle Hilfe der Heiligen Schrift vermittelt hat. Nachdem aber in unserer Zeit durch die Auferstehung unseres Herrn der klarste Beweis unserer Freiheit gegeben wurde, sind wir nicht einmal mehr durch den schweren Dienst jener Zeichen belastet, die wir schon verstehen. Statt der vielen Zeichen hat der Herr selbst und die Lehre der Apostel nur wenige angeordnet, und zwar solche, die bezüglich des Vollzuges sehr leicht, bezüglich des Inhaltes hochheilig und rücksichtlich des Gebrauches höchst fromm sind; wie z. B. das Sakrament der Taufe und die Feier des Leibes und Blutes des Herrn. Jeder, der diese Sakramente empfängt, der erfährt durch den christlichen Unterricht, auf wen sie sich beziehen, so daß S. 121seine Ehrfurcht vor ihnen ihren Grund nicht in fleischlicher Knechtschaft, sondern vielmehr in geistiger Freiheit hat. Wie es aber knechtische Schwäche verrät, dem bloßen Buchstaben zu folgen und die Zeichen für die durch sie bezeichneten Dinge zu nehmen, so verrät es einen ganz ausschweifenden Irrtum, die Zeichen in nutzloser Weise zu erklären. Wer aber die Bedeutung eines Zeichens nicht kennt, aber doch so viel versteht, daß es überhaupt bloß ein Zeichen ist, auch der steht nicht unter dem Joche der Knechtschaft. Besser ist es aber, unter dem Joche unbekannter, aber nützlicher Zeichen zu stehen, als durch schädliche Erklärung den kaum vom Joche der Knechtschaft befreiten Nacken in die Schlingen des Irrtums zu bringen.
10. Kapitel: Die Kennzeichen der figürlichen Redeweise. — Die Grundsätze, welche die Heilige Schrift über das sittlich Gute und Schlechte aufstellt, lassen keine bloß figürliche Deutung zu
14. Mit der Warnung, einer figürlichen, d. h. über tragenen Redeweise nicht wie einer eigentlichen zu folgen, müssen wir die andere verbinden, nämlich eine eigentliche Redeweise nicht für eine figürliche zu nehmen. Daher muß zuerst eine Richtschnur angegeben werden, nach der bemessen werden kann, ob wir eine eigentliche oder eine figürliche Redeweise vor uns haben. Diese Richtschnur ist folgende: alles, was im Worte Gottes im eigentlichen Sinn weder auf die Sittenlehre noch auf die Glaubenswahrheit bezogen werden kann, muß man für figürlich halten. Dabei bezieht sich die Sitten lehre auf die Liebe Gottes und des Nächsten, die Glaubenswahrheit auf die Erkenntnis Gottes und des Nächsten. Seine Hoffnung aber hat jeder in seinem eigenen Gewissen nach dem Maße, als er Fortschritte in der Liebe und Erkenntnis Gottes und des Nächsten in sich fühlt. Von all dem aber war schon die Rede im ersten Buch.
15. Weil aber das Menschengeschlecht geneigt ist, die Sünden nicht nach dem Gewichte der sündhaften S. 122Leidenschaft selbst zu beurteilen, sondern eher nach dem Einflüsse seiner Gewohnheit, so kommt es häufig vor, daß jeder Mensch nur das für schuldbar hält, was die Menschen seiner Heimat und seiner Zeit zu tadeln und zu verdammen pflegen, und daß er umgekehrt nur das für billigenswert und lobwürdig hält, was die Gewohnheit seiner Zeitgenossen gestattet. Trifft es sich nun, daß die Heilige Schrift etwas vorschreibt, was von der Gewohnheit der Zuhörer abweicht oder daß sie etwas tadelt, was ihr entspricht, so halten sie dies einfach für eine bloß bildliche Redeweise, wenn anders sie sich überhaupt schon durch das Ansehen des Wortes (der Heiligen Schrift) gebunden fühlen. Die Heilige Schrift aber schreibt nichts vor als die Liebe und klagt nichts an als die sündige Begierlichkeit: dies ist ihre Art, die Sitten der Menschen zu bilden. Auch wenn den menschlichen Geist irgendeine irrtümliche Ansicht befangen hält, so meinen die Menschen, sie hätten eine figürliche Redeweise vor sich, wenn die Heilige Schrift einmal irgend etwas anderes behauptet. Die Heilige Schrift aber behauptet weder in dem, was vergangen, noch was zukünftig oder gegenwärtig ist, etwas anderes als den katholischen Glauben. Das, was vergangen ist, das erzählt sie uns, was zukünftig ist, verkündet sie vorher, und was gegenwärtig ist, das beschreibt sie. Aber all dies dient nur dazu, um die Liebe zu nähren und zu stärken und die sinnliche Begierde zu besiegen und auszurotten.
16. Ich nenne aber Liebe die Bewegung der Seele dahin, um Gott wegen seiner selbst, sich und den Nächsten aber wegen Gott zu lieben; Begierlichkeit aber heiße ich das Streben des Geistes, sich, den Nächsten und jeden Körper nicht wegen Gott zu genießen. Was die ungezähmte Begierlichkeit tut, um die geistige Seele und den eigenen Leib zu verderben, das heißt man Schandtat (flagitium), was sie aber tut, um dem Nächsten zu schaden, das nennt man Übeltat (facinus). Das sind die zwei Arten, in die man alle Sünden einteilt: zuerst kommen die Schandtaten; haben diese nämlich den Geist erschöpft und sozusagen an den Bettelstab S. 123 gebracht, dann schreitet er zu den Übeltaten vor, um die Hindernisse seiner Schandtaten zu entfernen oder Hilfsmittel dafür zu suchen. — So heißt man auch die Tätigkeit der Liebe für das eigene Beste Nutzen, was man aber zum Wohle des Nächsten tut, das heißt man Wohltätigkeit. Auch hier kommt zuerst der Nutzen, weil niemand aus dem, was er selbst nicht besitzt, dem Nächsten Nutzen verschaffen kann. In dem Maße aber, als das Reich der Begierlichkeit zerstört wird, wächst das der Liebe.
11. Kapitel: Es kommen in der Heiligen Schrift manche Ausdrücke über Gott und die Heiligen vor, die man für hart und grausam halten könnte
17. Alles, was man in den heiligen Schriften von Gott und seinen Heiligen Hartes, ja gewissermaßen Grausames in Wort und Tat liest, zielt dahin, das Reich der Begierlichkeit zu zerstören. Klingt es klar und verständlich, dann darf man es nicht als bloß figürliche Ausdrucksweise auf etwas anderes beziehen. Dazu gehören z. B. die Worte des Apostels: „Du häufest dir nur das Maß des Zornes (Gottes) für den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden vergelten wird nach seinen Werken. Wer sich im Guten standhaft bewährt, den wird er mit den herrlichen Gütern des ewigen Lebens, mit unvergänglicher Glorie belohnen. Über jene aber, die aus Streitsucht der erkannten Wahrheit widerstreben und der Ungerechtigkeit dienen, wird sein Zorn und Grimm entbrennen. Trübsal und Angst wird dann alle befallen, die Böses getan haben, die Juden zunächst und die Griechen (= Heiden).“ Diese Worte schrieb der Apostel an solche, mit denen die Begierlichkeit, die sie nicht besiegen wollten, zugleich selbst vernichtet wird. Wenn aber das Reich der Begierlichkeit in einem Menschen, den sie beherrschte, einmal gestürzt wird, dann gilt jener Ausspruch: „Diejenigen aber, die Christus angehören, haben ihr Fleisch mitsamt den Leidenschaften und S. 124Begierlichkeiten gekreuzigt“ Auch unter diesen Ausdrücken finden sich übertragene Worte, wie „der Zorn Gottes“ und „sie haben gekreuzigt“; aber sie sind nicht so groß an Zahl und so gebraucht, daß sie den wahren Sinn verhüllten und eine Allegorie oder ein Rätsel bewirkten: und nur diese nenne ich im eigentlichen Sinne übertragene Redeweisen. Wenn aber an Jeremias die Worte gerichtet werden: „Siehe, ich habe dich heute über Völker und über Reiche gesetzt, daß du sie ausrottest und niederreißest, zerstörest und zerstreuest“, so haben wir ohne Zweifel eine figürliche Redeweise, die wir auf die von mir angegebene Art aufzufassen haben.
12. Kapitel: Auch Reden und Taten von Gott und den Heiligen werden in der Heiligen Schrift überliefert, die ein Unerfahrener für schändlich halten könnte
18. Es gibt selbst von Gott oder von Personen, deren Heiligkeit die Heilige Schrift rühmend erwähnt, Worte und sogar Taten, die unerfahrenen Menschen geradezu wie Schandtaten vorkommen; diese sind rein figürlich und man hat ihren geheimen Sinn zur Mehrung der Liebe zu erklären. Wer von den vergänglichen Dingen einen kärglichen Gebrauch macht, als es die Sitten seiner Zeitgenossen erlauben, der tut dies entweder aus Gründen der Mäßigkeit oder aus Aberglauben; überschreitet einer aber im Genuß dieser Dinge die Schranken der Gewohnheit guter Menschen, in deren Mitte er lebt, so hat das entweder seinen besonderen Grund oder der Betreffende ist ein lasterhafter Mensch. In solchen Fällen ist nie der Gebrauch der Dinge an sich schuldbar, sondern nur die Begierlichkeit des Gebrauchenden. So wird z. B. doch kein vernünftiger Mensch glauben, die Füße des Herrn seien von dem Weibe mit kostbarer Salbe in derselben Weise gesalbt worden, wie das unzüchtige und verkommene Menschen zu tun pflegen, deren sündhafte Gastmähler wir verabscheuen. Der S. 125gute Geruch der Salbe bedeutet den guten Ruf des einzelnen Menschen. Jeder, der sich durch die Werke eines guten Lebens einen solchen Ruf erworben hat, salbt, indem er Christi Fußstapfen folgt, dessen Füße gleichsam mit dem kostbarsten Salböl. Wie in diesem Falle, ist auch sonst wohl das, was bei anderen Personen eine Schandtat wäre, bei einem gottgesandten Manne oder bei einem Propheten ein Zeichen für irgendeine große Sache. So ist z. B. bei einem verdorbenen Menschen die Verbindung mit einer Dirne etwas ganz anderes als bei der Weissagung des Propheten Oseas. Oder wenn es eine Schande ist, bei den Gelagen trunksüchtiger und ausgelassener Menschen sich zu entkleiden, so ist es deshalb doch keineswegs eine Schande, beim Baden nackt zu sein.
13. Kapitel: Bei der Beurteilung von Taten hat man sich nach den Umständen zu richten, unter denen sie geschehen sind
19. Man muß deshalb sorgfältig darauf achten, was den Landessitten, den Zeitumständen und den persönlichen Verhältnissen des einzelnen angemessen ist: sonst brandmarkt man vielleicht voreilig etwas als Schandtat. So ist es durchaus möglich, daß der Weise, ohne irgendwie den Vorwurf der Schlemmerei und der Gefräßigkeit zu verdienen, die kostbarsten Speisen genießt, während der Tor der schmählichsten Gaumenlust dient, obwohl er nur ganz wertlose Gerichte zu verschlingen trachtet. Alle Leute von gesunder Lebensauffassung ziehen es, so wie es auch der Herr gemacht hat, vor, einen Fisch zu essen, als sich wie das Vieh von Linsen oder Gerste zu nähren, wie es Abrahams Enkel, Esau, gemacht hat. So sind die meisten Tiere bloß deshalb, weil ihre Nahrung aus geringeren Dingen besteht wie die unsrige, keineswegs mäßiger als wir. Denn bei allen Dingen dieser Art hängt das Lob oder der Tadel unserer Tat nicht von der natürlichen Beschaffenheit der zum Gebrauche S. 126dienenden Sache ab, sondern nur von dem Grunde, weshalb man sie gebraucht, und von der Art, wie man darnach verlangt.
20. Unter dem Bilde des irdischen Reiches stellten sich die Gerechten des Alten Bundes das himmlische Reich vor und unter diesem Bilde verkündeten sie es auch. Die Absicht, eine zahlreiche Nachkommenschaft zu erhalten, war der Grund zu der an sich unentschuldbaren Gewohnheit, daß ein Mann zur gleichen Zeit mehrere Weiber hatte; aus demselben Grunde war es sittlich unzulässig, daß ein Weib mehrere Männer besaß. Denn ein Weib ist nicht um so kinderreicher (je mehr Männer sie hat), sondern es grenzt schon mehr an schändliche Buhlerei, Gewinn und Kinder gewissermaßen auf dem Markte zu suchen. Was bei solchen sittlichen Zuständen die Heiligen jener Zeit ohne sinnliche Lust taten, das tadelt die Schrift nicht, obgleich es in unserer Zeit nur aus böser Lust geschehen könnte. Was dort an solchen Dingen erzählt wird, das muß man unter dem Gesichtspunkt der Liebe Gottes oder des Nächsten oder beider erklären, mag man es nun in rein sachlichem und wörtlichem oder auch in figürlichem und prophetischem Sinn auffassen. So war es beispielsweise bei den alten Römern eine Schande, die Tunika bis zu den Knöcheln und mit langen Ärmeln zu tragen; heutzutage aber ist es für Leute aus anständigem Hause eine Schande, sie gegebenenfalls nicht so zu tragen. So müssen wir auch beachten, daß es sonst darauf ankommt, daß eben die böse Lust fern bleibt. Diese mißbraucht eben nicht allein in sündhafter Weise die Gewohnheit ihrer Zeit, ja sie setzt sich förmlich über ihre Schranken hinweg und offenbart so ihre unter dem Verschlusse gewohnheitsmäßig geheiligter Sitten verborgene Häßlichkeit in den schändlichsten Ausbrüchen.
21. Was aber mit den Sitten derjenigen übereinstimmt, auf deren Lebensverkehr die Notwendigkeit oder die Pflicht jemanden hinweist, das muß von guten und großen Männern auf den Nutzen und auf das Wohltun bezogen werden, und zwar entweder im eigentlichen S. 127Sinn, so wie es uns gewöhnlichen Menschen zusteht, oder im figürlichen, wie es den Propheten freisteht.
14. Kapitel: Es gibt nicht bloß eine relative, sondern auch eine absolute Gerechtigkeit
22. Wenn ungelehrte Leute, die eine andere Lebensweise gewohnt sind, beim Lesen (der Heiligen Schrift) auf solche Taten stoßen, so halten sie dieselben für Schandtaten, wenn sie nicht durch eine höhere Autorität davon zurückgehalten werden. Sie können sich auch gar nicht vorstellen, daß ihr ganzes Verhalten bei ehelichen Verbindungen, bei Gastmählern, in ihrer Art sich zu kleiden und in ihrem ganzen übrigen Lebensbedarf und Unterhalt anderen Völkern und anderen Zeiten schändlich vorkommen kann. Wegen dieser bei unzähligen Gewohnheiten herrschenden Verschiedenheit haben einige Träumer, um mich so auszudrücken, die zwar nicht im tiefen Schlafe der Torheit schlummerten, aber auch nicht zum Lichte der Wahrheit aufzuwachen vermochten, geglaubt, es gebe keine Gerechtigkeit an sich, sondern es gelte eben einem jeden Volke seine Gewohnheit für gerecht: und da nun die Gewohnheit bei jedem Volke anders sei, die Gerechtigkeit aber unveränderlich bleiben müsse, so gebe es ganz offenbar auch nirgends eine wahre Gerechtigkeit. Diese Menschen wußten eben nicht, daß z. B., um nicht zu viel anzuführen, der Grundsatz: „Was du nicht willst, daß man dir tut, das füge auch keinem anderen zu!“, durch keine Volksverschiedenheit verändert werden kann. Wird dieser Grundsatz auf die Liebe zu Gott bezogen, so ersterben alle Schandtaten; wird er auf die Liebe zum Nächsten bezogen, dann hören alle Übel auf. Denn niemand will, daß seine eigene Wohnung verderbt wird: daher darf er auch die Wohnung Gottes, nämlich sich selbst, nicht verderben; und niemand will, daß ihm selbst Schaden zugefügt wird; daher darf er auch selbst niemandem schaden.
15. Kapitel: Verhaltungsmaßregel bei figürlichen Ausdrücken
S. 128 23. Wenn so die Gewaltherrschaft der Begierlichkeit gestürzt ist, dann herrscht die Liebe nach den höchst gerechten Gesetzen der Gottesliebe wegen Gott und nach denen der Selbst- und Nächstenliebe um Gottes willen. Bei figürlichen Ausdrücken wird daher die Regel eingehalten werden, das, was man liest, so lange sorgfältig zu wenden, bis die Erklärung zum Reiche der Liebe gelangt. Klingt aber das Gelesene so, als ob es im eigentlichen Sinne gebraucht sei, dann soll man den Ausdruck nicht für figürlich halten.
16. Kapitel: Es kommen in den heiligen Schriften manchmal befehlende Ausdrücke vor, die einen auf den ersten Blick verwirren könnten
24. Wenn ein gebietender Ausdruck eine Schandtat oder eine Übeltat verbietet oder Nutzen oder Wohltätigkeit anbefiehlt, so ist er nicht bildlich; wenn er aber eine Schandtat oder eine Übeltat anzubefehlen oder Nutzen oder Wohltätigkeit zu verbieten scheint, so ist er figürlich. So sagt Christus: „Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht essen und sein Blut nicht trinken werdet, so werdet ihr das Leben nicht in euch haben.“ Damit scheint er eine Schandtat oder eine Übeltat anzubefehlen; es ist also nur ein Bild, das befiehlt, am Leiden des Herrn Anteil zu nehmen und mit süßer Freude und zu seinem Heil das im Gedächtnis zu bewahren, daß sein Fleisch für uns gekreuzigt und verwundet wurde. Es sagt die Schrift: „Wenn dein Feind hungert, so gib ihm zu essen; wenn er dürstet, so reiche ihm zu trinken!“ Mit diesen Worten schreibt sie ohne Zweifel Wohltätigkeit S. 129vor; wenn es aber weiter heißt: „… wenn du dies tust, dann wirst du glühende Kohlen auf seinem Haupte sammeln“, so möchte man glauben, es sei damit eine Tat des Übelwollens anbefohlen. Daher darf man sich nicht bedenken, diesen Ausspruch für bildlich zu halten. Da man ihn doppelt deuten kann, entweder als sollte man einen Schaden zufügen oder einen Dienst leisten, so soll dich die Liebe eher zum Wohltätigsein rufen. Darum verstehe unter den glühenden Kohlen die brennenden Seufzer der Reue, wodurch der Hochmut desjenigen geheilt wird, der seine Feindseligkeit gegen seinen Helfer in der Not schmerzlich bedauert. Ebensowenig darf man glauben, der Herr verbiete mit den Worten: „Wer seine Seele liebt, wird sie verlieren“ den Nutzen, nach dem jeder seine Seele retten soll; es ist vielmehr nur figürlich gesagt „er wird sie verlieren“, d. h. er solle den Gebrauch, den er jetzt von seiner Seele macht, vernichten und verlieren, weil dieser Gebrauch unrecht und verkehrt und den zeitlichen Dingen so zugeneigt ist, daß sie die ewigen nicht sucht. Es steht auch geschrieben: „Gib dem Barmherzigen, den Sünder aber nimm nicht auf!“ Der zweite Teil dieses Ausspruches scheint die Wohltätigkeit zu verbieten, da er sagt: „Nimm den Sünder nicht auf!“ Daher muß man den Ausspruch figürlich so verstehen, daß das Wort „Sünder“ für „Sünde“ steht: seine Sünde also darf man nicht aufnehmen.
17. Kapitel: Manche Befehle der heiligen Schriften sind deshalb verwirrend, weil sie keine allgemeine Gültigkeit haben
25. Oft kommt es vor, daß jemand, der schon auf einer höheren Stufe des geistigen Lebens steht oder wenigstens zu stehen glaubt, der Meinung ist, die an die niederen Stufen gerichteten Vorschriften seien bloß figürliche Ausdrücke. Wenn er z. B. ein eheloses Leben führt und um des himmlischen Reiches willen sich selbst S. 130seiner Mannbarkeit entäußert hat, so behauptet er, die Vorschriften der heiligen Bücher über die Liebe und Leitung des Weibes müßten nicht im eigentlichen, sondern im bildlichen Sinne genommen werden. Ebenso sucht ein anderer, der seine noch jungfräuliche Tochter unvermählt lassen will, die Worte: „Verheirate deine Tochter und du hast ein großes Werk getan“ bloß als bildliche Redeweise zu erklären. Es gehört also auch diese Erkenntnis zu den Beobachtungen über das Verständnis der Heiligen Schrift, daß einige Vorschriften für alle Menschen gemeinsam, andere aber nur für einzelne Klassen von Menschen gelten, geradeso wie eine Arznei auch nicht bloß allein auf den ganzen Gesundheitsstand berechnet sein, sondern auch auf die eigentümliche Schwäche eines jeden einzelnen Gliedes eingehen soll. Denn dasjenige, was nicht zur höheren Art erhoben werden kann, das muß in seiner Art geheilt werden.
18. Kapitel: Manche Gebote der heiligen Schriften gelten nicht für alle Zeiten in gleicher Weise
26. Ebenso darf man auch das, was im Alten Testament nach der Lage jener Zeit nicht bloß im figürlichen, sondern sogar im eigentlichen Sinne keine Schandtat und keine Übeltat war, ja nicht auch in unserer Zeit für den Gebrauch des Lebens anwendbar erachten. Das könnte einer nur dann tun, wenn die Begierlichkeit herrscht und selbst den Schutz der Heiligen Schrift sucht, durch die sie ja eben ausgerottet werden soll. Der Unglückliche sieht nicht ein, daß solche Fälle zu dem praktischen Zweck überliefert sind, daß Menschen von guter Hoffnung zu ihrem Heil einerseits sehen, eine von ihnen verachtete Gewohnheit könne recht wohl mit einem guten Gebrauch verbunden sein, während andererseits die Gewohnheit, an der sie selbst hängen, verdammenswert sein kann: man braucht eben nur acht zu geben, daß sich die einen dort mit Liebe, die anderen hiermit sinnlicher Begierde ihrer Gewohnheit hingeben.
S. 131 27. Denn wenn ein Mann zu seiner Zeit viele Frauen in Keuschheit gebrauchen kann, so kann ein anderer eine einzige Frau mit sinnlicher Lust gebrauchen. Ich billige es aber mehr, die Fruchtbarkeit vieler Frauen zu einem nicht selbstsüchtigen Zwecke zu gebrauchen, als das Fleisch einer einzigen um ihrer selbst willen. Denn im ersteren Falle strebt man nach einem für jene Zeiten angemessenen Nutzen, im zweiten Falle handelt es sich aber nur um die Befriedigung einer aufs irdische Vergnügen gerichteten Lust, Deshalb stehen jene, denen der Apostel wegen ihrer Unenthaltsamkeit den fleischlichen Verkehr mit einer Frau nachsichtig gestattet, auf einer tieferen Stufe des Weges zu Gott als jene, die trotz ihrer vielen Frauen mit der ehelichen Beiwohnung geradeso nur die Erzeugung von Kindern beabsichtigten, wie der vernünftige Mensch beim Genuß von Speise und Trank nur auf die Gesunderhaltung seines Leibes abzielt. Hätte die Ankunft des Herrn diese Männer noch am Leben getroffen, so hätten sie sich zu der Zeit, als es galt, nicht mehr Steine zu werfen, sondern zu sammeln, um des himmlischen Reiches willen selbst ihrer Mannbarkeit entäußert. Denn im Entbehren liegt keine Schwierigkeit, solange mit dem Besitze keine Begierlichkeit verbunden ist. Jene Männer wußten ganz gut, daß auch im Verkehr mit Ehegatten ein Übermaß im Genusse Unzucht ist. Dies bezeugt die Rede des Tobias, als er seiner Gattin angetraut wurde; er sagt an jener Stelle: „Gepriesen seist du, o Herr, Gott unserer Väter, und gepriesen sei dein Name in alle Ewigkeit! Preisen sollen dich die Himmel und all deine Geschöpfe! Du hast den Adam erschaffen und gabst ihm die Eva zur Gehilfin. Und nun weißt du, o Herr, daß ich nicht der Wollust wegen meine Schwester (zur Frau) nehme, sondern in der Wahrheit, damit du dich unser erbarmest, o Herr.“
19. Kapitel: Viele Menschen nehmen bloß deshalb Ärgernis an manchen Geboten der Heiligen Schrift, weil sie in allem ihre eigene Schlechtigkeit zum Maßstab nehmen
S. 132 28. Es gibt Menschen, die in zügelloser Lust entweder in vielen Ehebrüchen im Übermaße ausschweifen oder auch bezüglich der einen Ehegattin selbst nicht allein die zur Erzeugung von Kindern dienende Art des geschlechtlichen Verkehrs überschreiten, sondern mit der durchaus schamlosen Ausgelassenheit einer knechtischen Freiheit den Schmutz einer noch naturwidrigeren Unenthaltsamkeit anhäufen. Solche Leute halten es für unmöglich, daß die Männer der alten Zeit ihre vielen Frauen mäßig gebrauchten und bei jenem Gebrauche nur die zeitgemäße Pflicht, ihre Nachkommenschaft zu vermehren, im Auge hatten. Sie halten vielmehr das, was sie selbst unter den Banden der Lust bei einer Frau nicht zu halten vermögen, bei einer Mehrzahl von solchen für durchaus unmöglich.
20. Kapitel: Viele Menschen können nicht an die Tugend biblischer Personen glauben, weil sie selbst deren nicht fähig wären
29. Solche Leute könnten gerade so gut auch sagen, man dürfe gute und heilige Menschen nicht einmal mehr ehren und loben, weil sie selbst immer gleich von Hochmut aufgeblasen werden, sobald sie geehrt und gelobt werden. Und zwar sind sie um so begieriger nach dem nichtigsten Ruhm, je öfter und von je mehr Seiten her sie die schmeichelnde Stimme (des Lobes wie ein an genehmer Luftzug) umfächelt. Daher kommt es dann, daß sie so leicht werden, daß der Windhauch des Rufes, mag er nun für günstig oder für ungünstig gelten, sie in alle Strudel jeglicher Schandtat treibt oder an die Felsen der Übeltaten schleudert. Diese Leute mögen daher zusehen, wie viele harte Schwierigkeiten sie selbst noch zu bestehen haben, bis sie weder vom Köder des Ruhmes angelockt, noch vom Stachel der Schmach durch bohrt werden und sollen nicht an andere ihren eigenen S. 133Maßstab anlegen. Sie sollen vielmehr glauben, daß unsere Apostel weder aufgeblasen wurden, wenn sie sich von den Menschen geachtet sahen, noch auch zermalmt, wenn sie verachtet wurden. Und doch blieb diesen Männern keine von diesen Versuchungen erspart: denn sie wurden gefeiert durch das Lob der Gläubigen und mit Schmach überhäuft durch die Beschimpfungen ihrer Verfolger. Wie daher diese Männer alle diese Wechselfälle an sich herankommen ließen, so wie sie eben kamen, und nicht dadurch verderbt wurden, so haben auch die oben erwähnten Männer der alten Zeit von ihren Frauen einen ihrer Zeit entsprechenden Gebrauch gemacht, ohne jene Herrschaft der bösen Lust ertragen zu müssen, der diejenigen dienen, die daran nicht glauben.
21. Kapitel: Selbst so große alttestamentliche Sünder wie David können nicht mit jedem beliebigen Sünder der Gegenwart auf die gleiche Stufe gestellt werden
30. Diese Zweifler würden sich gegebenenfalls nicht enthalten können, mit unversöhnlichem Hasse die Söhne zu verfolgen, von denen sie erfahren müßten, sie hätten ihre rechtmäßigen Gemahlinnen oder auch nur ihre Nebenfrauen versucht und sich an ihnen vergriffen. Der König David aber mußte diese Schmach von seinem gottlosen und unnatürlichen Sohn erdulden, und doch ertrug er nicht bloß dessen Übermut, sondern betrauerte auch noch seinen Tod. Der Mann war doch gewiß nicht in den Fesseln fleischlicher Eifersucht verstrickt, den nicht der erlittene Schimpf ergrimmte, sondern bloß die Sünde des Sohnes erschütterte. Darum hatte er auch für den Fall des Sieges verboten, seinen Sohn zu töten, um dem Überwundenen Gelegenheit zur Buße zu geben; weil er das nicht konnte, so klagte er bei dessen Tod nicht über den Verlust eines Sohnes, sondern deshalb, weil er die Strafen kannte, denen die Seele eines Ehebrechers und Vatermörders übergeben wird. Denn für S. 134einen anderen Sohn hatte er sich früher schon bloß während dessen Krankheit gehärmt, weil eben dieser Sohn ein unschuldiges Kind war; als er aber dann starb, da hatte er sich über den Tod dieses (unschuldigen) Sohnes gefreut.
31. Daraus erhellt ganz deutlich, mit welch maßvoller Enthaltsamkeit jene Männer ihre Frauen gebrauchten. Als derselbe König sich sozusagen von der leidenschaftlichen Glut seines noch jugendlichen Alters und von seinem zeitlichen Glück verführen ließ, in unerlaubter Weise gegen ein Weib zu entbrennen und darum ihren (rechtmäßigen) Gatten töten ließ, da wurde er von dem Propheten angeklagt. Dieser kam zu ihm, um ihn seiner Sünde zu überführen, und stellte ihm zu diesem Zwecke das Gleichnis von einem armen Manne vor, der nur ein einziges Schaf besaß, während sein Nachbar deren viele hatte. Als nun ein Gastfreund zu diesem Nachbarn auf Besuch kam, da bot dieser trotzdem lieber das einzige Schäflein seines (armen) Nachbarn (dem Gaste) zum Mahle an. David ergrimmte gegen diesen Reichen und befahl ihn zu töten und dem armen Mann sein Schaf vierfach zu ersetzen. Mit diesem Urteil sollte derjenige unwissentlich seine eigene Verurteilung aussprechen, der wissentlich gesündigt, hatte. Als ihm nun dieser Zweck (vom Propheten) kundgetan und die über ihn vom Himmel verhängte Strafe verkündet worden war, da tilgte er seine Sünde durch Reue. In diesem Gleichnis wurde ihm aber durch das Schaf des Nachbarn nur sein Ehebruch angedeutet; über den Mord des Gatten seines Weibes, beziehungsweise über den Mord des Armen, der nur ein Schaf besaß, wurde David durch das Gleichnis deshalb nicht verhört, weil er nur das Verdammungsurteil über seinen Ehebruch aussprechen sollte. Daraus ersieht man doch, wie maßvoll er im Gebrauche seiner vielen Frauen gewesen sein muß, da er wegen einer einzigen, um derentwillen er das rechte Maß überschritt, sich selbst strafen mußte. In diesem Manne konnte die unmäßige S. 135Lust keinen bleibenden, sondern nur einen vorübergehenden Aufenthalt nehmen; daher redete auch der tadelnde Prophet von jenem unerlaubten Verlangen bloß unter dem Bilde des Gastfreundes; denn er sagt nicht, der reiche Mann habe seinem König, sondern seinem Gastfreunde das Schaf des Armen zur Speise geboten. In Davids Sohn Salomon dagegen hatte die böse Lust nicht bloß vorübergehenden Aufenthalt wie ein Gast, nein, sie besaß die dauernde Herrschaft über ihn. Von ihm schweigt die Schrift nicht, sie beschuldigt ihn vielmehr, er sei ein Liebhaber der Weiber gewesen. Die Anfänge (seiner Regierung) hatten erglüht von Verlangen nach der Weisheit: als er diese Tugend aber durch geistige Liebe erlangt hatte, da verlor er sie wieder durch fleischliche Liebe.
22. Kapitel: Manchmal wird in den heiligen Schriften eine Tat der Gerechten gelobt, die unseren Sitten widerspricht
32. Der gesamte Inhalt oder nahezu der gesamte Inhalt des Alten Testamentes muß (grundsätzlich schon) nicht bloß im eigentlichen, sondern zugleich auch im bildlichen Sinne aufgefaßt werden; trotzdem muß der Leser auch das, was ausdrücklich im eigentlichen Sinn verstanden werden will, zugleich auch noch im figürlichen Sinn betrachten. Wenn jene Männer, die diese Taten vollbrachten, dafür gelobt wurden, obwohl diese Taten im Widerspruch mit der Gewohnheit der guten Menschen stehen, die seit der Ankunft Christi die Gebote Gottes beobachteten, so soll der Leser zu verstehen trachten, wie die Sache bildlich gemeint ist, ohne daß er aus der Handlung praktische Folgerung für die Sitten ziehen darf. Denn vieles geschah zu jener Zeit aus Pflichtgefühl, was heutzutage nur noch aus Lüsternheit geschehen kann.
23. Kapitel: Auch wenn von den Sünden der Gerechten in den heiligen Schriften die Rede ist, so hat das einen tieferen Grund
S. 136 33. Wenn aber einer vielleicht von Sünden großer Männer liest, so kann er auch darin ein Bild zukünftiger Dinge wahrnehmen und erforschen. Den eigentlichen Sinn der Handlung aber soll er sich insofern zunutze machen, daß er keineswegs mit seinen eigenen guten Handlungen zu prahlen wagt und im Vergleich mit seiner Gerechtigkeit die anderen Menschen als Sünder verachtet; denn er sieht ja, was für Stürme jene großen Männer hatten vermeiden müssen und was für traurige Schiffbrüche sie zu beklagen hatten. Denn zu dem Zwecke sind die Sünden jener Männer aufgezeichnet, damit man sich überall mit Furcht und Zittern der Mahnung des Apostels erinnere: „Wer darum zu stehen glaubt, der sehe zu, daß er nicht falle!“ Denn es gibt fast keine Seite der Heiligen Schrift, wo nicht (die alte Wahrheit) anklingt, daß Gott den Hoffärtigen widersteht, den Demütigen aber seine Gnade verleiht.
24. Kapitel: Wichtig ist es, daß man sich überhaupt darüber klar ist, ob eine Stelle im wörtlichen oder im bildlichen Sinn aufgefaßt werden soll
34. Man muß daher vor allem darnach forschen, ob eine Redeweise, die wir verstehen wollen, im eigentlichen oder im figürlichen Sinn aufzufassen ist. Haben wir einmal erkannt, daß wir es mit einer figürlichen Ausdrucksweise zu tun haben, so ist es durch Anwendung der Regeln, die wir im ersten Buch dargelegt haben, leicht, sie nach allen Richtungen zu würdigen so lange, bis wir zum (vollen) Verständnis der Wahrheit gelangt sind. Das gilt um so mehr, wenn noch eine durch Übung der Frömmigkeit gestärkte Gewandtheit dazu S. 137 kommt. Berücksichtigen wir das oben Gesagte, dann finden wir schon, ob eine Redeweise im eigentlichen oder im figürlichen Sinn gemeint ist.
25. Kapitel: Auch wo ein Ausdruck bildlich gefaßt werden muß, darf man nicht mechanisch in einer Deutung vorgehen
Ist letzteres einmal ersichtlich, dann wird man finden, daß die Worte, in denen der figürliche Sinn enthalten ist, entweder von ähnlichen oder von naheliegenden Dingen hergenommen sind. (35.) Da jedoch Dinge einander in gar mannigfacher Beziehung ähnlich sind, so brauchen wir es durchaus nicht für ein unbedingtes Gesetz zu halten, daß etwa das, was es an einer bestimmten Stelle gleichnisweise bedeutet, nun immer bedeuten muß. So gebraucht z. B. der Herr den Ausdruck „Sauerteig“ als Tadel, wenn er sprach: „Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer!“, während er ihn als Lob gebraucht an der Stelle: „Das Himmelreich ist gleich einem Weibe, das Sauerteig in drei Maß Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war.“
36. Wir können eine doppelte Art dieser Verschiedenheit beobachten. Jedes Ding hat alle möglichen Bedeutungen, die bald etwas ganz Entgegengesetztes, bald wenigstens etwas Verschiedenes bezeichnen. Entgegengesetztes bedeutet es nämlich, wenn ein und dasselbe Ding bald im guten, bald im schlimmen Sinne steht, so wie wir oben bezüglich des Sauerteiges angegeben haben. Etwas Ähnliches ist es, wenn das Wort „Löwe“ bald Christus bedeutet, wie z. B. an der Stelle, wo es heißt: „Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamme Juda“, während es andererseits auch den Teufel bedeutet an der S. 138Stelle: „Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen kann.“ Auch das Wort „Schlange“ steht im guten Sinn in dem Ausdruck: „Klug wie die Schlangen“, im schlechten aber an der Stelle: „Die Schlange verführte die Eva durch ihre Klugheit.“ Im guten Sinn steht das Wort „Brot“, wenn es heißt: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist“, im bösen aber in den Worten: „Ihr esset gerne verborgene Brote.“ Und so gibt es noch viele ähnliche Fälle. Die von mir erwähnten Stellen haben durchaus keine zweifelhafte Bedeutung, weil ja nur ganz Offenkundiges beispielsweise erwähnt werden brauchte. Es gibt aber doch auch Ausdrücke, wo es unsicher ist, in welchem Sinne sie zu nehmen sind, wie z. B. die Worte: „Ein Becher ist in der Hand des Herrn mit Wein voll Würze).“ Denn an dieser Stelle ist es unsicher, ob sie den Zorn Gottes bezeichnen soll, der noch nicht bis zur letzten Strafe, d. h. bis zur Hefe, geschritten ist, oder ob sie nicht vielmehr die Gnade der heiligen Schriften bezeichnen will, die von den Juden auf die Heiden überging. „Denn er neigte seinen Becher dahin und dorthin“, indem die fleischlich schmeckenden Beobachtungen bei den Juden blieben, weil „seine Hefe nicht geleert wird“. — Dafür aber, daß ein und dieselbe Sache nicht gerade etwas ganz Entgegengesetztes, sondern bloß etwas Verschiedenes bezeichnet, dient als Beleg, daß der Begriff „Wasser“ z. B. auch das Volk bedeutet, wie wir in der geheimen Offenbarung lesen; es kann auch den Heiligen Geist bezeichnen, wenn es z. B. heißt: S. 139„Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Bauche fließen,“ Selbstverständlich bedeutet der Begriff „Wasser“ auch noch manches andere, je nach den Stellen, wo es vorkommt.
26. Kapitel: Dunkle Stellen in den heiligen Schriften sollen durch klarverständliche erklärt werden
37. So bedeuten auch andere Sachen, nicht bloß wenn man sie alle zusammen als ein einzelnes (abgeschlossenes) Ganzes betrachtet, sondern auch jede Einzelsache innerhalb des Ganzen, nicht bloß zwei verschiedene Dinge, sondern oft gleich viele, je nach ihrer bestimmten Stellung in einem Ausspruch. Aus Stellen, wo sie deutlicher stehen, muß man lernen, wie sie an dunklen Stellen zu verstehen sind. Nirgends z. B. kann man den Sinn der Worte: „Ergreife Waffen und Schild und erhebe dich zu meinem Schutze!“ besser erkennen als aus der Stelle, wo gelesen wird: „Herr, wie mit einem Schild deiner Huld hast du uns umkränzt.“ Die Sache verhält sich nun freilich nicht so, daß wir jetzt an allen Stellen, wo wir das Wort „Schild“ für irgendeinen Schutz lesen, es nur für die Huld Gottes nehmen dürfen. Denn es ist auch einmal die Rede von einem „Schild des Glaubens, mit dem ihr alle Feuergeschosse des Bösen auslöschen könnt“. Aber deshalb dürfen wir nun unter allen derartigen Schutzwaffen nicht wiederum dem Schild allein den Glauben zuteilen, denn an einer an deren Stelle ist auch die Rede von einem „Panzer“ des Glaubens: „Angetan“, heißt es da, „mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe ….“
27. Kapitel: Manche Schriftstellen lassen sich recht wohl auch in verschiedenem Sinne deuten
38. Wenn aber aus denselben Worten der Schrift nicht ein eindeutiger, bestimmter, sondern ein doppelter S. 140oder mehrfacher Sinn gefunden wird, so entsteht doch, selbst wenn der vom Verfasser selbst beabsichtigte Sinn verborgen bleibt, daraus keine Gefahr, wenn nur aus anderen Stellen der Schrift nachgewiesen werden kann, daß jeder dieser Sinne mit der katholischen Wahrheit übereinstimmt. Es haben die Schriftforscher jedoch den Versuch zu machen, zum Sinn des Verfassers zu gelangen, durch den der Heilige Geist jene Schrift gemacht hat. Mag er nun diesen Sinn herausfinden oder mag er aus jenen Worten zwar einen anderen, aber dem rechten Glauben nicht widersprechenden Sinn herausbringen: er mag seine Ansicht immerhin herausarbeiten, wenn er nur aus irgendeiner anderen Stelle der göttlichen Aussprüche einen Beleg dafür aufweisen kann. Denn vielleicht hat der Verfasser in den Worten, die wir verstehen wollen, auch diesen Sinn gesehen; wenigstens hat der durch ihn wirkende Heilige Geist ohne allen Zweifel vorhergesehen, daß auch dieser Sinn dem Leser oder Hörer entgegentreten kann; ja er hat selbst dafür Sorge getragen, daß er ihm begegne, weil sich ja auch dieser Sinn auf die Wahrheit stützen kann. Ja, wie hätte Gott in reichlicherem Maße Vorsorge treffen können als gerade dadurch, daß ein und dieselben Worte in mehrfachem Sinne verstanden werden, dessen Richtigkeit andere ebenso göttliche Zeugnisse beweisen.
28. Kapitel: Erst wo die Erklärung einer Schriftstelle durch Parallelstellen der Heiligen Schrift nicht möglich ist, verlasse man sich auf das unsichere Vernunfturteil
'39. Wo sich aber ein solcher Sinn ergibt, dessen Ungewißheit durch keine anderen sicheren Stellen der Heiligen Schrift klargelegt werden kann, da bleibt nur übrig, durch vernunftgemäße Überlegung einen klaren Sinn herzustellen, selbst auf die Gefahr hin, daß dieser etwa nicht der ursprüngliche Sinn desjenigen ist, dessen Worte wir verstehen wollen. Dies ist jedoch eine gefährliche Übung: viel sicherer geht man, wenn man sich an die heiligen Schriften hält. Sind diese durch übertragene Worte verdunkelt und wir wollen gerade diese S. 141dunklen Stellen erforschen, so soll sich entweder gleich ein unbestrittenes Ergebnis herausstellen, oder wenn sich doch eine strittige Ansicht ergeben hat, so werde diese durch bezeugende Stellen entschieden, die man überall in eben diesen heiligen Schriften gefunden und beigezogen hat.
29. Kapitel: Für eine gedeihliche Schrifterklärung ist auch eine Kenntnis der sogenannten rhetorischen Tropen notwendig
40. Die Gebildeten mögen wissen, daß unsere Verfasser alle Redensarten, welche die Grammatiker mit dem griechischen Namen „Tropen“ bezeichnen, angewendet haben, und zwar vielfältiger und reichhaltiger als diejenigen meinen und glauben können, welche sie nicht kennen oder sie nur in anderen Schriften kennen gelernt haben. Diejenigen, welche die Tropen kennen, finden sie auch in der Heiligen Schrift und werden durch diese Kenntnis im Verständnis der Heiligen Schrift nicht wenig gefördert. Es ziemt sich jedoch nicht, sie dem Nichtkenner an diesem Orte darzulegen, damit es nicht scheint, als wollten wir die Grammatik lehren. Ich fordere aber dazu auf, sie sonstwo zu lernen, wie ich schon oben im zweiten Buch geraten habe, wo ich über die notwendige Sprachkenntnis redete. (Vor allem lesen müßte einer können;) die Buchstaben — von dem (griechischen) Worte dafür hat die (ganze Wissenschaft der) Grammatik ihren Namen; sagen ja doch die Griechen „γράμματα“ für Buchstaben — sind nämlich die (schriftlichen) Zeichen für die Laute unserer vernünftigen Sprache, in der wir reden. Was jene Tropen anbelangt, so liest man in den heiligen Büchern nicht allein Beispiele von allen, sondern von einigen sogar die Namensbezeichnung, wie z. B. Allegorie, Änigma, Parabel. Freilich finden sich fast alle Tropen, die in der schönen Wissenschaft gelernt werden sollen, auch in den Ausdrücken solcher Personen, die niemals einen Professor gehört haben und sich mit der gewöhnlichen Volkssprache begnügen. Denn wer gebraucht nicht S. 142den Ausdruck: „So magst du blühen!“: das ist ein Tropus, den man Metapher heißt. Wer redet nicht von einem „Fischteich“, auch wenn gerade keine Fische darinnen sind oder wenn der Teich gar nicht für Fische angelegt ist? Und doch spricht man von einem „Fischteich“. Diesen Tropus heißt man Katachresis.
41. Es würde zu weit führen, wollten wir so alle anderen Tropen durchgehen. Denn der gewöhnliche Sprachgebrauch des Volkes benützt ja schon solche Redewendungen, die um so erstaunlicher sind, weil sie eigentlich das gerade Gegenteil von dem bezeichnen, was sie aussagen, z. B. die sog. Ironie oder Antiphrasis. Aber die Ironie deutet durch die Aussprache schon an, was sie eigentlich besagen will; so sagen wir z. B. zu einem Menschen, der Böses verübt: „Du treibst schöne Sachen!“ Die Antiphrasis aber bewirkt ihre gegenteilige Bedeutung nicht durch den Ton der Aussprache, sondern sie benützt entweder ihre eigentümlichen Wörter, die einen ganz entgegengesetzten Ursprung haben: so redet sie z. B. von einem „lucus“ (Hain), wo von einem „lucere“ gar keine Rede ist; oder sie gebraucht gewohnheitsmäßig einen Ausdruck, der auch im eigentlichen Sinn vorkommt: So antwortet man uns z. B., wenn wir etwas bekommen wollen, wo nichts ist, mit dem Wort: „Ja freilich! Wir haben es ja genug!“ Endlich bewirken wir durch Beifügen von Worten, daß unsere Worte im gegenteiligen Sinn verstanden werden: So z. B. wenn wir sagen: „Hüte dich vor diesem Mensch! Denn — er ist ein guter Kerl.“ Wo gibt es also einen Ungebildeten, der nicht derlei Ausdrucksweisen im Munde führte ohne eine Ahnung zu haben, was überhaupt Tropen sind und wie sie jetzt im einzelnen Falle gerade genannt werden. — Um die Zweideutigkeiten der heiligen Schriften aufzulösen ist darum die Kenntnis der Tropen notwendig, weil man, falls der Sinn nach dem Wortlaut gefaßt widersinnig ist, ganz gewiß die Frage stellen muß, ob denn nicht vielleicht dieser oder jener Tropus in den nicht verstandenen S. 143Worten angewendet ist. Auf solche Weise wurde schon gar mancher verborgene Sinn herausgefunden.
30. Kapitel: Das Werk des Tychonius ist zur Erklärung dunkler Schriftstellen zwar brauchbar, aber doch nicht ausreichend
42. Ein gewisser Tychonius, der gegen die Donatisten ganz unwiderleglich geschrieben hat, obwohl er selbst Donatist gewesen ist und gerade darin die größte Herzenstorheit offenbart, daß er sich von jenen nicht vollständig trennen wollte, verfaßte ein Buch, das er „Buch der Regeln“ nannte, weil er sieben Regeln darin durchführte, durch die wie mit Schlüsseln das Verborgene der göttlichen Schriften geoffenbart werden soll. Die erste von diesen Regeln, die er aufstellt, handelt vom Herrn und seinem Leib (von Christus und seiner Kirche), die zweite vom zweifachen Leib des Herrn (von der Kirche Christi, soweit sich in ihr gute und schlechte Christen finden), die dritte von den Verheißungen und dem Gesetze (von der Rechtfertigung und dem Gesetz, vom Glauben und den Werken), die vierte von der Art und den Gattungen (vom Ganzen und seinen Teilen), die fünfte von den Zeiten (Jahreszeiten oder auch -zahlen), die sechste von der Wiederholung (von Fällen, wo der biblische Autor vom Typus und Antitypus, von der Verheißung und der Erfüllung spricht), die siebte endlich von dem Teufel und seinem Leib (von den Prophetien über den Teufel und seine S. 144Anhänger). Faßt man diese Regeln, so wie sie von ihm dargelegt werden, ins Auge, so muß man gestehen, daß sie zur Durchdringung verdeckter Aussprüche Gottes nicht geringe Dienste leisten. Es können aber nicht alle schwerverständlichen Schriftstellen durch diese Regeln aufgefunden werden. Solche Stellen werden auf viele andere Arten erläutert. Diese aber hat er so wenig mit seiner Siebenzahl von Regeln umfaßt, daß er selbst viele dunkle Stellen erklärt, wo er keine dieser Regeln anwendet. Das ist auch nicht notwendig: denn bei diesen Stellen wird keiner der in den sieben Regeln aufgestellten Punkte behandelt oder in Frage gestellt. So untersucht er in der geheimen Offenbarung des heiligen Johannes, wie die sieben Engel der Gemeinde zu verstehen seien, denen Johannes schreiben mußte. Er bringt vielfache Gründe bei und gelangt zu dem Ergebnis, daß wir unter diesen Engeln die Kirchen selbst zu verstehen haben. Bei dieser sehr umfangreichen Untersuchung finden jene (sieben) Regeln durchaus keine Anwendung, und doch handelt es sich dabei um eine sehr dunkle Sache. Dieses Beispiel mag genügen; denn es würde zu weitläufig und zu mühsam sein, all das zusammenzustellen, was von den dunklen Stellen in den kanonischen Schriften einen solchen Inhalt hat, daß es dabei von jenen sieben Punkten nichts zu untersuchen gibt.
43. Gleichwohl hat Tychonius bei der Empfehlung dieser Regeln ihnen einen so großen Wert beigelegt, als vermöchten wir durch ihr Verständnis und ihre Anwendung alles zu verstehen, was wir im Gesetze, d. h. in den göttlichen Büchern an dunklen Aussprüchen finden. Sagt er ja doch in der Einleitung zu seinem Buche: „Ich habe es zu allererst für notwendig gehalten, das Büchlein der Regeln zu schreiben und damit gleichsam die Schlüssel und Leuchten für die dunklen Stellen des Gesetzes fertigzustellen. Denn es gibt einige geheimnisvolle Regeln, die das Verborgene des ganzen Gesetzes beherrschen und die für manche Leute unsichtbaren S. 145Schätze der Wahrheit sichtbar machen. Wenn nun die Darbietung dieser Regeln so neidlos, wie wir sie hingeben, angenommen wird, dann wird alles, was verschlossen ist, eröffnet und alles Dunkle erleuchtet werden. Wer daher durch das endlose Gehege der Propheten wandeln muß, der wird von diesen Regeln wie von lichten Wegen geführt werden und so vor Verirrung sicher sein.“ Hätte Tychonius gesagt: „Es gibt einige geheimnisvolle Regeln, die manches Verborgene des Gesetzes beherrschen“ oder wenigstens „die großen Dunkelheiten beherrschen“, aber nicht „die das Verborgene des ganzen Gesetzes beherrschen“, wie er wirklich gesagt hat, und hätte er nicht von Regeln geredet, „die alles, was verschlossen ist, eröffnen werden“, sondern bloß von Regeln, „die vieles Verschlossene öffnen werden“, dann hätte er die Wahrheit gesagt und hätte seinem fleißigen und nützlichen Werke keine ungebührlich große Bedeutung zuerkannt und hätte im Leser und Kenner keine falsche Hoffnung erweckt. Diese Bemerkung glaubte ich machen zu müssen, damit zwar das Buch selbst von Wißbegierigen gelesen werde, weil es tatsächlich zum Verständnis der heiligen Schriften sehr viel nützt, damit man aber doch andererseits nichts erwarte, was es doch nicht enthält. Man muß es mit Vorsicht lesen, nicht bloß wegen einzelner Dinge, worin er als Mensch geirrt hat, sondern hauptsächlich um dessenwillen, was er als häretischer Donatist sagt. Die Lehren und Unterweisungen der erwähnten sieben Regeln will ich nun kurz angeben.
31. Kapitel: Die erste Regel des Tychonius
44. Die erste Regel handelt von dem Herrn und seinem Leibe. Darin wird uns, die wir die eine Person des Hauptes und des Leibes, d. h. Christi und seiner Kirche erkennen, eingeschärft, ohne Bedenken vom Haupte zum Leibe und vom Leib zum Haupt überzugehen, ohne ein und dieselbe Person zu verlassen. Denn nicht umsonst ist den Gläubigen gesagt: „Darum seid ihr der Same Abrahams“, da es eben nur einen S. 146Samen Abrahams gibt, nämlich Christus. Es ist ein und dieselbe Person, die spricht: „Wie einem Bräutigam setzte er mir den Kopfschmuck auf und wie eine Braut bekleidete er mich mit Schmuck.“ Trotzdem muß man sehr wohl verstehen, was denn dem Haupte und was dem Leibe, d. h. was Christus und was der Kirche gebührt.
32. Kapitel: Die zweite Regel des Tychonius
45. Die zweite Regel handelt von dem zweigeteilten Leibe des Herrn. So sollte man ihn aber nicht heißen; denn was nicht in Ewigkeit mit ihm sein wird, das gehört überhaupt nicht zum Leibe des Herrn. Man hätte vielmehr sagen sollen: „Von dem wahren und dem gemischten Leib des Herrn“ oder „von dem wahren und dem verstellten Leib des Herrn“ u. dgl. Denn man muß sagen, daß z. B. die Heuchler nicht bloß nicht in Ewigkeit, sondern nicht einmal jetzt mit ihm seien, obgleich sie in seiner Kirche zu sein scheinen; darum hätte man diese Regel auch so benennen können, daß es geheißen hätte „von der gemischten Kirche“. Diese Regel fordert einen achtsamen Leser: Oft scheint nämlich die (Heilige) Schrift das Wort noch an die bisher Angesprochenen zu richten, wahrend sie in Wirklichkeit schon zu anderen spricht, oder sie scheint noch von den Bisherigen zu sprechen, während sie schon von andern spricht, gleich als ob infolge der Vermischung in dieser Zeit und der gemeinsamen Teilnahme an den Sakramenten der Leib beider nur einer wäre. Hierher gehören die Worte (der Braut) im Hohen Lied: „Gebräunt bin ich (von der Sonne) und doch schön wie die Gezelte Zedars und wie die Teppiche Salomons).“ Sie sagt nicht: „Ich bin gebräunt gewesen wie die Gezelte Zedars und bin nun schön wie die Teppiche Salomons“, sondern sie sagt von sich beides aus wegen der zeitlichen Einheit innerhalb des einen Netzes der guten und der schlechten Fische. Denn die Zelte Zedars S. 147beziehen sich auf Ismael, der nicht mit dem Sohne der Freien erben soll. Daher sagt Gott vom guten Teil: „Ich werde Blinde auf einen Weg führen, den sie nicht kennen, und sie werden Pfade betreten, die sie nicht kennen; und ich werde ihnen die Finsternis zum Lichte machen und das Verkehrte gerade: diese Worte werde ich erfüllen und nicht werde ich sie (die Blinden) verlassen.“ Darauf aber spricht er von dem übel vermischten Teil: „Sie aber wandten sich zurück“, obgleich mit diesen Worten schon andere Personen gemeint sind. Weil sie aber jetzt vereint sind, spricht er von ihnen wie von den Vorigen. Sie werden aber nicht immer vereint sein. Er selbst ist ja der im Evangelium erwähnte Knecht, dessen Herr bei seiner Ankunft ihn absondern und ihm seinen Teil mit den Heuchlern geben wird.
33. Kapitel: Die dritte Regel des Tychonius
46. Die dritte Regel handelt von den Verheißungen und vom Gesetze oder wie man anders auch sagen könnte „vom Geist und vom Buchstaben“. Letzteren Titel haben wir selber gewählt, als wir hierüber ein Buch schrieben. Man könnte auch noch sagen: „Von der Gnade und vom Gebote.“ Dieses Problem scheint mir indes mehr eine große Streitfrage zu sein als eine Regel, die zur Lösung der Frage dienlich ist. Die Pelagianer haben dies nicht verstanden: darum haben sie ihre Irrlehre aufgestellt und sogar noch vertieft. Was Tychonius zur Lösung dieser Frage beigebracht hat, ist wohl eine gute, aber keineswegs ausreichende Arbeit. Bei Besprechung des Problems vom Glauben und den Werken sagte er, die Werke würden uns infolge des Verdienstes des Glaubens gegeben, der S. 148Glaube selbst jedoch stamme so sehr von uns selbst, daß wir ihn nicht von Gott haben. Dabei gab er nicht auf die Worte des Apostels acht: „Friede sei den Brüdern und Liebe mit dem Glauben von Gott dem Vater und dem Herrn Jesus Christus!“ Aber er hatte die Häresie noch nicht kennen gelernt, die erst zu unserer Zeit entstand und uns in der Verteidigung der Gnade Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus vielfach übte. Nach den Worten des Apostels: „Es muß auch Irrlehren geben, auf daß die Bewährten unter euch kund werden“, hat sie uns vielfach wachsamer und sorgfältiger gemacht, auf dasjenige in der Heiligen Schrift besser acht zu geben, was dem weniger aufmerksamen und, weil er sich ohne Feinde glaubte, auch weniger sorgfältigen Tychonius entging, daß nämlich auch der Glaube ein Geschenk desjenigen ist, der das Maß des Glaubens einem jeden zuteilt. Infolge dieser Wahrheit ist einigen gesagt worden: „Euch ist ja die Gnade verliehen, nicht nur an Christus glauben, sondern auch für ihn leiden zu dürfen).“ Wer zweifelt demnach daran, daß diese beiden Gnaden wirklich Geschenke Gottes seien, wenn er mit gläubigem Sinn und mit Verständnis hört, daß beide Gnaden geschenkweise verliehen worden sind? Es gibt noch mehrere andere Stellen, mit denen sich diese Wahrheit beweisen läßt; aber wir haben davon jetzt nicht zu handeln; bei vielen anderen Gelegenheiten aber sind wir schon sehr oft darauf zu sprechen gekommen.
34. Kapitel: Die vierte Regel des Tychonius
47. Die vierte Regel des Tychonius handelt von der Art und von der Gattung: so drückt er sich nämlich aus und will unter der Art einen Teil, unter der Gattung aber das Ganze verstanden wissen. Ein Teil der Gattung ist also das, was er Art nennt, so wie jeder einzelne Staat sicherlich ein Teil der Gesamtheit S. 149der Völker ist: den Einzelstaat nennt er Art, alle Völker zusammen aber Gattung. Wir dürfen jedoch die von den Dialektikern gelehrte Feinheit der Unterscheidung hier nicht anwenden; denn diese disputieren sehr scharfsinnig über den Unterschied zwischen den Teilen und der Art. Derselbe Einteilungsgrund liegt vor, wenn nicht von einer einzelnen Stadt, sondern von einer einzelnen Provinz oder einem Volke oder einem Reiche etwas Derartiges in den göttlichen Aussprüchen gefunden wird. Denn es wird z. B. nicht bloß von Jerusalem oder auch von irgendeiner heidnischen Stadt wie Tyrus oder Babylon oder von einer anderen in der Heiligen Schrift etwas ausgesagt, was ihre Grenzen überschreitet, sondern auch von Judäa, Ägypten, Assyrien oder jedem beliebigen Volke, dem sehr viele einzelne Städte angehören, aber nicht gleich der ganze Erdkreis, von dem sie bloß Teile sind, ist etwas ausgesagt, was ihre Grenzen überschreitet und mehr dem Ganzen angemessen ist, von dem sie bloß Teile sind oder was, wie Tychonius sich ausdrückt, mehr der Gattung angemessen ist, von der diese einzelnen Teile nur Arten sind. Diese Ausdrucksweise ist jetzt sogar zur Kenntnis des gewöhnlichen Volkes gekommen, so daß heute auch ungebildete Leute verstehen, was in einem kaiserlichen Erlaß „nach Art und nach Gattung“ verordnet wird. — Diese Unterscheidung kann man sogar auch auf einzelne Menschen anwenden: so überschreitet auch das, was (eigentlich bloß) von Salomon erzählt wird, sein Maß und wird vielmehr erst klar, wenn man es auf Christus oder die Kirche bezieht, von der er nur ein Teil ist.
48. Es wird aber die Art nicht immer überschritten: denn es wird oft etwas ausgesagt, was auch für sie oder sogar für sie allein ganz deutlich paßt. Wo aber ein Übergang von der Art zur Gattung stattfindet, während es noch so ausschaut, als spreche die Schrift noch von der Art, da muß der Leser sorgsam wachen, daß er nicht dasjenige noch an der Art suchen will, was er leichter und besser schon an der Gattung finden kann. S. 150Leicht ist der Ausspruch des Propheten Ezechiel zu verstehen: „Das Haus Israel wohnte in seinem Lande und sie verunreinigten es durch ihren Wandel, durch ihre Götzen und ihre Sünden. Ihr Wandel ist vor mir wie die Unreinigkeit eines blutflüssigen Weibes geworden. Und ich schüttete meinen Zorn über sie aus und zerstreute sie über die Völker und worfelte sie hinaus in die Länder: nach ihrem Wandel und nach ihren Sünden richtete ich sie.“ Diese Stelle ist, wie gesagt, leicht zu verstehen von jenem Haus Israel, von dem der Apostel sagt: „Sehet Israel nach dem Fleische!“, weil das fleischliche Israel all dies tat und dafür all dies erdulden mußte. Auch das Folgende paßt offenbar für dasselbe Volk. Aber wenn der Prophet anfängt zu reden: „Ich will heiligen meinen heiligen, großen Namen, der entweiht worden ist unter den Völkern, den ihr entweiht habt mitten unter ihnen, und die Völker werden erfahren, daß ich der Herr bin“, dann muß der Leser mit gespannter Aufmerksamkeit achten, wie über die Art hinausgegangen und wie die Gattung beigefügt wird. Der Prophet fährt nämlich fort mit den Worten: „Wenn ich aber durch euch geheiligt werde vor ihren Augen, dann werde ich euch von den Heiden wegnehmen und euch sammeln aus allen Ländern und euch in euer Land zurückführen. Und ich will euch mit reinem Wasser besprengen, und ihr werdet gereinigt werden von allen euren Götzenbildern, und ich will euch reinigen und euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euch senken. Und ich werde das Herz von Stein aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein Herz von Fleisch geben und meinen Geist in euch hineinsenken. Und ich werde bewirken, daß ihr in meinen Geboten wandelt, auf meine Rechte achtgebet und darnach handelt. Und ihr sollt wohnen in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe, und ihr werdet mein Volk sein, und ich werde euer Gott sein. Und ich will euch reinigen von all euren Unreinigkeiten.“ Dies ist S. 151vom Neuen Testament geweissagt, zu dem nicht bloß jenes eine Volk in seinen Überbleibseln gehört, von denen an einer anderen Stelle geschrieben steht: „Wäre auch die Zahl der Kinder Israels wie Sand am Meere, so wird doch nur ein Überrest davon gerettet werden.“ Zum Neuen Testament gehören aber auch all die anderen Völker, die ihren Vätern, die auch die unsrigen sind, verheißen wurden; das bezweifelt niemand, der beachtet, daß hier das Bad der Wiedergeburt versprochen worden ist, das wir jetzt allen Völkern eröffnet sehen. Was der Apostel zur Empfehlung der Gnade des Neuen Testamentes und für seinen Vorrang vor dem Alten sagt: „Unser Brief, das seid ihr: geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste des lebendigen Gottes, nicht auf steinernen Tafeln, sondern auf die fleischernen Tafeln des Herzens.“ Das ist ganz sicherlich von der Stelle genommen, wo der Prophet sagt: „Und ich will euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euch senken und ich werde das Herz von Stein aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein Herz von Fleisch geben.“ Das Herz von Fleisch, auf das der Apostel mit den Worten „auf die fleischernen Tafeln des Herzens“ anspielt, soll im Unterschied zu den steinernen Herzen das fühlende Leben bezeichnen; mit dem fühlenden Leben aber deutete er das erkennende Leben an. So wird das geistige Israel nicht Eigentum bloß eines einzelnen Volkes, sondern aller Völker, die den Vätern in ihrem Samen, d. h. in Christus verheißen worden sind.
49. Dieses geistige Israel also unterscheidet sich von dem fleischlichen, das nur einem einzelnen Volke angehört, durch die Neuheit des Gnadenbandes, nicht durch die Freiheit des Vaterlandes, durch Mut, nicht durch Blut, aber der Schwung des Propheten geht unvermerkt S. 152vom alten auf das neue Israel über, und wo er schon vom neuen Israel redet und sich an dieses wendet, da scheint es, als rede er noch vom alten Israel und wende sich an dieses. Damit will er uns nicht gleichsam mit feindseligem Neid das Verständnis der heiligen Schriften vorenthalten, sondern nur unseren Verstand heilsam üben. Daher müssen wir die Worte: „Und ich werde euch in euer Land führen“, und die kurz darauf folgenden: „Und ihr werdet im Lande wohnen, das ich euren Vätern versprochen habe:“, nicht fleischlich wie das fleischliche Israel, sondern als geistiges Israel geistig nehmen. Die Kirche nämlich ohne Flecken und Runzeln, aus allen Völkern gesammelt, berufen, mit Christus in Ewigkeit zu herrschen, ist selbst das Land der Seligen, das Land der Lebendigen. Unter ihr ist das Land zu verstehen, das den Vätern schon damals gegeben worden war, als es jenen durch den gewissen und unveränderlichen Willen Gottes verheißen wurde. Denn gerade durch das unerschütterliche Versprechen und Vorherbestimmen wurde es ihnen schon damals gegeben, als die Väter glaubten, es werde ihnen seinerzeit gegeben werden. So schreibt auch der Apostel von der den Heiligen verliehenen Gnade an Timotheus: „Nicht als ob wir es durch unsere Werke verdient hätten, nein, der Grund unserer Berufung ist seine freie Vorherbestimmung und Gnade, die uns in Christus Jesus vor den ewigen Zeiten gegeben, jetzt aber durch die Ankunft unseres Heilandes geoffenbart worden ist.“ Er sagt, die Gnade sei gegeben worden, als noch niemand da war, dem sie hätte gegeben werden können, weil in der Anordnung und Vorherbestimmung Gottes das schon geschehen war, was zu seiner Zeit erst geschehen sollte: das heißt der Apostel „offenbaren“. Doch kann das Land der Lebendigen auch vom Lande der künftigen Zeit verstanden werden, wo ein neuer Himmel und eine neue Erde sein wird, auf der keine Ungerechten wohnen S. 153können. Darum sagt man mit Recht den Frommen, das sei ihr Land, das in keiner Beziehung den Bösen gehört: denn auch dieses Land ist dann schon weggegeben, wenn einmal feststeht, daß es überhaupt weggegeben wird.
35. Kapitel: Die fünfte Regel des Tychonius
50. Als fünfte Regel setzt Tychonius die an, welche er von den Zeiten benennt; durch sie soll gar oft die in der Heiligen Schrift verborgene Zeitdauer gefunden oder erschlossen werden können. Diese Regel hat nach seiner Versicherung in doppelter Weise Kraft, entweder nach dem Tropus Synekdoche oder nach den gesetzlichen Zahlen. Bei der Synekdoche kann ein Teil das Ganze und das Ganze einen Teil bedeuten. So sagt z. B. der eine Evangelist, es sei nach acht, und der andere, es sei nach sechs Tagen geschehen, daß das Angesicht des Herrn auf dem Berge in Gegenwart von nur drei Jüngern wie die Sonne und seine Kleider wie Schnee geglänzt hätten. Beide Angaben über die Zahl der Tage können unmöglich richtig sein, wenn nicht der Evangelist, der von acht Tagen spricht, den letzten Teil des Tages, an dem der Herr die Erscheinung vorhersagte, und den ersten Teil des Tages, an dem er die Erfüllung zeigte, für zwei ganze und vollständige Tage angesetzt hat, während der Evangelist, der von sechs Tagen spricht, nur alle dazwischen liegenden Tage als ganze zählte. Durch diese Redeweise, nach welcher der Teil zugleich auch das Ganze bedeutet, wird auch die berühmte Frage von der Auferstehung Christi gelöst. Denn wenn nicht der letzte Teil des Leidenstages mit Einschluß der vorhergehenden Nacht für einen ganzen Tag und die Nacht, in deren letztem Teil er auferstand, mit Einschluß des anbrechenden Sonntags für einen ganzen Tag genommen wird, dann können es nicht drei Tage und drei Nächte sein, wo er nach seiner Vorhersage im Schoße der Erde sein sollte.
S. 154 51. Gesetzliche Zahlen nennt er jene, welche die Heilige Schrift in hervorragender Weise empfiehlt, wie die Sieben-, Zehn- oder Zwölfzahl und wie sie sonst alle heißen: ein aufmerksamer Leser kann sie leicht von selbst finden. Häufig werden solche Zahlen für die ganze Zeit gesetzt. So ist z. B. der Ausspruch: „Siebenmal im Tage werde ich dich loben“ nichts anderes als: „Immer ist sein Lob in meinem Munde. Dieselbe Kraft haben solche Zahlen, wenn man sie multipliziert, z. B. mit zehn (und dabei Zahlen erhält) wie siebzig oder siebenhundert. Daher können die siebzig Jahre des Jeremias geistigerweise von der ganzen Zeit verstanden werden, in der die Kirche in der Fremde ist. (Dieselbe Kraft haben diese Zahlen weiterhin,) wenn man sie mit sich selbst multipliziert wie z. B. zehnmal zehn gleich hundert und zwölfmal zwölf gleich hundertvierundvierzig. Mit letzterer Zahl wird in der geheimen Offenbarung die Gesamtzahl aller Heiligen bezeichnet. Daraus geht hervor, daß nicht bloß Zeitfragen durch jene Zahlen zu lösen sind, sondern daß ihre Bedeutung weiter reicht und sich auf gar Vielerlei erstreckt. Denn die erwähnte Zahl in der Geheimen Offenbarung bezieht sich beispielsweise nicht auf Zeiten, sondern auf Menschen.
36. Kapitel: Die sechste Regel des Tychonius
52. Die sechste Regel nennt Tychonius Wiederholung, die man an dunklen Stellen der Heiligen Schrift bei hinreichender Aufmerksamkeit entdecken kann. Manches wird nämlich so dargelegt, als halte es sich an die zeitliche Ordnung oder als werde es nach dem sachlichen Zusammenhang erzählt, während die Erzählung in Wirklichkeit unvermerkt auf früher Übergangenes zurückgreift. Erforscht man nun den Sinn solcher Stellen nicht nach der vorliegenden (sechsten) S. 155Regel, so geht man irre. So heißt es in der Genesis: „Und der Herr Gott pflanzte gegen Morgen das Paradies in Eden und setzte darein den Menschen, den er gebildet. Und Gott brachte aus dem Boden allerlei Bäume hervor, die schön zum Anschauen und gut zum Essen waren.“ Dies scheint so gesagt zu sein, als sei es geschehen, nachdem Gott den erschaffenen Menschen ins Paradies versetzt hatte. Aber nach kurzer Erwähnung der beiden Tatsachen, der Pflanzung des Paradieses nämlich und der Versetzung des von Gott gebildeten Menschen in dieses Paradies, greift er (der biblische Verfasser) wiederholend zurück und erzählt das Übergangene, wie nämlich das Paradies dadurch gepflanzt wurde, daß Gott aus dem Boden allerlei Bäume hervorbrachte, die schön anzuschauen und gut zu essen waren. In unmittelbarer Folge verbindet er damit: „Auch den Baum des Lebens in der Mitte des Paradieses und den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen.“ Hierauf wird dargelegt, daß der Fluß, von dem das Paradies bewässert werden sollte, in die vier Quellen von vier Strömen geteilt worden sei, ein Umstand, der sich auch noch ganz auf die Ausstattung des Paradieses bezieht. Nach Beendigung dieser Erzählung wiederholt er, was er schon früher gesagt hatte, was aber in der Tat erst jetzt folgte, und sagt: „Und es nahm der Herr Gott den Menschen, den er gebildet hatte, und versetzte ihn in das Paradies …“; denn erst nach Erschaffung der Dinge wurde der Mensch ins Paradies versetzt, und nicht nach der Versetzung des Menschen wurden die Dinge erst erschaffen; in letzterem Sinn könnte man nämlich die früheren Worte verstehen, wenn man nicht bei sorgsamem Aufpassen an dieser Stelle eine Wiederholung erkennen würde, durch die einfach etwas Übergangenes wieder aufgenommen wird.
53. Ebenso wurde in demselben Buche bei Erwähnung der Geschlechter der Söhne Noes gesagt: „Dies S. 156sind die Söhne des Cham nach ihren Stämmen und Sprachen und Geschlechtern, nach ihren Ländern und Völkerschaften.“ Auch nach Aufzählung der Söhne Sems heißt es: „Dies sind die Söhne Sems nach ihren Stämmen und Sprachen, Ländern und Völkerschaften.“ Und in Betreff aller (Nachkommen des Noe) wird beigefügt: „Das sind die Geschlechter der Söhne Noes nach ihren Völkern und Nationen. Aus ihnen schieden sich die Völkerinseln auf Erden nach der Flut. Es war aber auf Erden nur ein Mund und eine Stimme für alle.“ Dieser Zusatz: „Es war aber auf Erden nur ein Mund und eine Stimme für alle“, das heißt, eine Sprache scheint so gesprochen worden zu sein, als hätten die Menschen auch noch zur Zeit ihrer Zerstreuung nach den Völkerinseln nur eine allen gemeinsame Sprache gehabt. Dies steht aber zweifelsohne in offenem Widerspruch mit den früher angeführten Worten: „… nach ihren Stämmen und Sprachen.“ Man könnte nämlich nicht sagen, die einzelnen Stämme, welche die einzelnen Völker bildeten, hätten ihre (eigene) Sprache gehabt, wenn sie alle eine gemeinsame Sprache gehabt hätten. Daher ist es nur eine Wiederholung, wenn beigefügt wurde: „Und auf der ganzen Erde war nur ein Mund und eine Stimme für alle.“ Es wendet sich nämlich die Erzählung unvermerkt wieder zurück, um anzugeben, wie es gekommen sei, daß die Menschen nach vielen Sprachen geteilt wurden, nachdem sie doch (ursprünglich) nur eine Sprache besessen hatten. Darum wird auch im unmittelbaren Zusammenhang von der Erbauung jenes Turmes (von Babel) erzählt, wo ihnen durch Gottes Gericht diese Strafe für ihren Hochmut auferlegt wurde. Nach dieser Begebenheit sind sie nach ihren eigenen Sprachen auf Erden zerstreut worden.
54. So eine Wiederholung erfolgt auch auf verdeckte Art; so, wenn der Herr im Evangelium sagt: „An S. 157dem Tage, wo Loth aus Sodoma wegging, regnete es Feuer vom Himmel und vertilgte alle: so wird es auch an dem Tage sein, an dem der Sohn des Menschen offenbar werden wird. An jenem Tage steige der, welcher auf dem Dache ist, während sich sein Gerät im Hause befindet, nicht herab um es zu holen, und wer auf dem Felde ist, der kehre ebenfalls nicht zurück: er gedenke vielmehr des Weibes des Loth!“ Soll man denn am Tage der Offenbarung des Herrn darauf achten, daß keiner rückwärts blicke, d. h. das vergangene Leben, dem er widersagt hat, untersuche, oder soll er es nicht vielmehr jetzt tun, damit er am Tage der Offenbarung des Herrn den Lohn für das empfange, was er beachtet und verachtet hat? Bei dem Wortlaut „in dieser Stunde“ glaubt man, es sei am Tage der Offenbarung des Herrn zu beobachten, wenn sich nicht der Sinn des Lesers achtsam dem Verständnis der Wiederholung zuwendet. Dazu verhilft ihm eine andere Schriftstelle, die noch zur Zeit der Apostel ruft: „Söhne, die letzte Stunde ist da!“ Also gerade die Zeit der Verkündigung des Evangeliums bis zur Offenbarung des Herrn ist die Stunde, zu der das zu beachten ist, weil auch die Offenbarung des Herrn noch zu derselben Stunde gehört, die erst mit dem Tage des Gerichtes beendet wird.
37. Kapitel: Die siebte Regel des Tychonius
55. Die siebte und letzte Regel des Tychonius handelt vom Teufel und seinem Leib. Denn auch er ist das Haupt der Gottlosen, die gleichsam sein Leib sind und mit ihm in die Qual des ewigen Feuers gehen sollen, geradeso wie Christus das Haupt seiner Kirche ist, die sein Leib ist und mit ihm im Reich der ewigen Herrlichkeit sein wird. Wie man daher nach der ersten Regel „vom Herrn und seinem Leibe“ dort, wo S. 158die Heilige Schrift von ein und derselben Person spricht, sorgfältig darauf zu achten hat, was dem Sinne nach dem Haupt und was dem Leib angemessen ist, so wird auch bei dieser letzten Regel gar manchmal etwas vom Teufel ausgesagt, was man nicht so fast auf ihn selbst, sondern viel eher auf seinen Leib anwenden kann. Diesen seinen Leib bilden aber nicht bloß jene, die ganz offenbar außerhalb der Kirche stehen, sondern auch jene, die, obgleich sie zu ihm gehören, eine Zeitlang der Kirche beigemischt sind, bis jeder einzelne das Leben verläßt oder durch den letzten Schaufelwurf als Spreu vom Getreide getrennt wird. Bei Isaias steht geschrieben: „Wie ist doch vom Himmel gefallen Luzifer, der im Osten aufgeht usw.).“ Nach dem Wortzusammenhang ist dies unter dem Bilde des Königs von Babylon von derselben Person oder zu derselben Person gesprochen; darunter ist sicherlich der Teufel zu verstehen. Aber die Worte: „Auf der Erde wurde derjenige zertreten, der zu allen Völkern sendet“, passen nicht ganz für das Haupt selbst. Obgleich nämlich der Teufel seine Engel zu allen Völkern sendet, so wird doch auf Erden nur sein Leib, nicht er selbst zertreten. Freilich ist er selbst in seinem Leib, der zertreten wird wie Staub, den der Wind von der Erde aufwirbelt.
56. Mit Ausnahme einer einzigen, „von den Verheißungen und vom Gesetz“ überschriebenen Regel lassen alle das eine aus dem anderen erkennen. Dies ist aber die Eigentümlichkeit der tropischen Redeweise, die sich meines Erachtens viel weiter erstreckt, als daß von irgendeinem einzelnen alles umfaßt werden könnte. Wo also auch immer unter anderen Worten etwas anderes verstanden werden soll, da ist die Redeweise tropisch, wenn sich auch der Name des betreffenden Tropus in der Grammatik nicht findet. Steht ein Tropus im gewöhnlichen Sinn, so ergibt sich sein Verständnis ohne S. 159Mühe; steht er aber in einem ungebräuchlichen Sinn, dann haben sich zum Zweck des Verständnisses die einen mehr, die anderen weniger zu bemühen, je nach dem Maße der Gabe Gottes im Geiste der Menschen oder nach dem Maß der vorhandenen Hilfsmittel. Wie nun bei den im eigentlichen Sinn gebrauchten Worten, von denen wir früher sprachen, die Sache nach dem Wortlaut verstanden werden muß, so muß bei übertragenen Worten das eine aus dem andern verstanden werden. Hievon haben wir bisher, soweit es notwendig schien, mit genügender Ausführlichkeit gehandelt. Aber wir müssen diejenigen, welche die verehrungswürdigen Schriften studieren, nicht bloß ermahnen die in der Heiligen Schrift gebrauchten Redeweisen zu erkennen, sorgfältig auf ihre gewöhnliche Ausdrucksweise zu achten und diese Ausdrücke dem Gedächtnis einzuprägen, sondern wir müssen sie auch auffordern um das Verständnis derselben zu bitten: denn das ist die Hauptsache und eine unerläßliche Voraussetzung. Sie lesen ja in jenen Schriften, mit denen sie sich abgeben, daß „der Herr die Weisheit gibt und daß aus seinem Munde Wissenschaft und Erkenntnis kommt“. Von ihm haben sie auch ihren Eifer empfangen, wenn anders sie sich durch Frömmigkeit auszeichnen.
Damit ist nun auch von den Zeichen, soweit sie die Worte betreffen, genug geredet. Es erübrigt nur noch, über die Darstellung unserer Gedanken im folgenden Buche das zu erörtern, was der Herr schenken wird.
4. Buch
Inhalt
S. 160* Dieses Buch bildet den eigentlichen zweiten Teil der ganzen Abhandlung und will über die Darstellung der aus dem Studium der heiligen Schriften gewonnenen Gedanken belehren, ohne eine eigentliche theoretische Unterweisung in der Rhetorik geben zu wollen. Immerhin kann diese Kunst brauchbare Hilfe im Dienste der Weisheit leisten (1—3). Bei der eigentümlichen Aufgabe des christlichen Lehrers ist Weisheit notwendiger als Beredsamkeit: in der Heiligen Schrift ist beides wohl gemischt. Das Hauptbestreben der praktischen christlichen Beredsamkeit gehe auf Klarheit; Anmut braucht man daneben nicht zu verachten (4—11). — Die Aufgabe des weltlichen wie des christlichen Redners besteht darin: zu belehren, zu ergötzen und zu bewegen. Dieser dreifachen Aufgabe entspricht im allgemeinen auch ein dreifacher Stil: der niedere, der gemäßigte und der erhabene Stil; eine mechanische Anwendung jedes einzelnen Stiles ist aber zu vermeiden. Der hl. Augustinus gibt sodann Proben für die einzelnen Stilgattungen aus der Heiligen Schrift und aus den Werken einzelner Väter (12—27).*
Das Bestreben des christlichen Redners, mit Verständnis, Interesse und mit bereitwilligem Gehorsam gehört zu werden, muß seine stärkste Stütze in seinem sittlichen Verhalten haben, da nur ein guter Mann auf Ansehen bei seinen Zuhörern zu rechnen hat. Der christliche Prediger trachtet daher mehr nach Wahrheit als nach schönen Worten und verschmäht es unter Umständen nicht einmal, die Predigten besserer Redner zu gebrauchen. Eines seiner Hauptmittel zur Erzielung eines gedeihlichen Erfolges ist das Gebet (28—31).
Vorbemerkung
S. 161 1. Mein ganzes Werk von der „Christlichen Lehre“ hatte ich bei der ersten Einteilung in zwei Teile gegliedert. Denn nach der Vorrede, in der ich den Tadlern antwortete, sagte ich: „Um zwei Punkte dreht es sich bei jeglicher Beschäftigung mit den (heiligen) Schriften: einmal um die Auffindung dessen, was verstanden werden soll und dann um die Darstellung des Verstandenen, Ich will nunmehr zuerst von der Auffindung und dann von der Darstellung sprechen.“ Weil ich aber nun von der Auffindung schon viel genug gesagt und über diesen einen Teil bereits volle drei Bücher geschrieben habe, so will ich mit Gottes Hilfe über die Darstellung nur mehr wenig sagen, um womöglich alles in ein Buch zusammenfassen und das ganze Werk mit vier Büchern abschließen zu können.
1. Kapitel: Das vorliegende Werk will keine systematische Rhetorik lehren
2. Zuerst weise ich daher die Hoffnung jener Leser, die vielleicht glauben, ich werde ihnen im folgenden die von mir in den weltlichen Schulen gelernten und gelehrten Unterweisungen in der Rhetorik bieten, durch diese Vorbemerkung in die gebührenden Schranken und bitte sie, doch so etwas von mir nicht zu erwarten. Ich tue das, nicht als ob diese Vorschriften keinen Nutzen hätten; aber einen solchen Nutzen müssen sich meine Leser schon von anderswoher zu verschaffen suchen: vielleicht hat ein tüchtiger Mann einmal Zeit, auch solche Dinge zu lehren, von mir aber darf man dergleichen weder in diesem noch in irgend einem anderen Werke erwarten.
2. Kapitel: Der christliche Apologet soll sich jedoch der Rhetorik als eines sehr nützlichen Mittels bedienen
3. Die Rhetorik sieht ihre Kunst darin, jemandem eine feste Überzeugung nicht bloß vom Wahren, S. 162sondern sogar auch vom Falschen beizubringen: wer wagte demnach die Behauptung, die Wahrheit müsse in ihren Verteidigern gegen die Lüge unbewaffnet sein? So eine Forderung geschähe natürlich bloß zu dem Zweck, damit jene, die einem etwas Falsches beizubringen versuchen, schon von vorne herein das Wohlwollen, die Aufmerksamkeit und die Gelehrigkeit des Zuhörers zu erwecken verstehen, während die Verteidiger der Wahrheit dazu nicht imstande sein sollen. Jene sollen das Falsche kurz, klar und wahrscheinlich erzählen, diese aber das Wahre bloß so darlegen dürfen, daß das Anhören Ekel verursacht, das Verständnis erschwert und zuletzt Abneigung gegen das Glauben bewirkt wird! Jene sollen durch trügerische Beweisgründe die Wahrheit bekämpfen und der Lüge Geltung verschaffen dürfen, diese aber sollen weder die Wahrheit zu verteidigen noch die Lüge zu widerlegen vermögen! Jene sollen bei dem Versuch, ihre Zuhörer um jeden Preis in den Irrtum zu treiben, deren Gemüt schrecken, betrüben, erfreuen, feurig ermahnen dürfen; die Verteidiger der Wahrheit aber sollen eine kalte und matte Rede voll Schläfrigkeit halten müssen! Wer ist so töricht, eine solche Forderung zu ersinnen? Da also die Gabe der Rede an sich etwas Neutrales ist und zur Überredung sowohl zu guten als auch zu schlechten Dingen viel vermag, warum soll sie dann von dem Eifer der Guten nicht zu dem Zwecke erworben werden, um der Wahrheit Dienste zu leisten, während sie doch auf der anderen Seite schlechte Menschen zur Stütze verkehrter und nichtiger Dinge, zum Gebrauch der Ungerechtigkeit und des Irrtums mißbrauchen?
3. Kapitel: Soweit sich eine Beredsamkeit überhaupt schulmäßig erlernen läßt, soll dies in der Jugendzeit geschehen
4. Wenn nun zu allen sachlichen Beobachtungen und Vorschriften auch noch die sorgfältige Vertrautheit mit einer in Wortfülle und Redeschmuck wohlgeübten Sprache hinzutritt, so entsteht das, was man Wohlredenheit oder Beredsamkeit heißt. Eine solche Kenntnis S. 163soll außerhalb des Kreises des von uns behandelten Wissens innerhalb einer eigens hiefür bestimmten angemessenen Zeit in dem dazu passenden und geeigneten Alter von denjenigen erlernt werden, die hiezu schnell imstande sind; denn sogar die Fürsten der römischen Beredsamkeit standen nicht an zu behaupten, wer diese Kunst nicht schnell erlernen könne, der sei überhaupt unfähig, sie gründlich zu erlernen. Die Frage, ob diese Behauptung wahr sei, brauche ich nicht zu untersuchen. Denn wenn diese Vorschriften wirklich auch von langsamen Köpfen endlich einmal erlernt werden könnten, so legen wir ihnen doch keinen so großen Wert bei, daß wir für ihre Erlernung noch ein schon reifes oder gar schon vorgerücktes Alter verwendet wissen wollten. Es genügt, daß sich die Jünglinge damit befassen, und das ist nicht einmal für all diejenigen notwendig, die wir für den Dienst der Kirche erziehen wollen, sondern nur für jene, die vorläufig noch kein dringenderes Geschäft in Anspruch nimmt, das ohne Zweifel vor der Rhetorik den Vorrang verdiente. Denn wenn der Geist scharf und lebhaft ist, so fällt die Beredsamkeit eher solchen zu, welche gleich praktisch die Schriften beredter Männer lesen und ihre Reden hören, als jenen, welche die Vorschriften der Beredsamkeit bloß theoretisch befolgen. Es fehlt auch, ganz abgesehen von dem in der Burg der (kirchlichen) Autorität zum Heile aufgestellten Kanon, nicht an anderen kirchlichen Schriften, durch deren Lektüre ein fähiger Mann, selbst wenn er nur auf den sachlichen Inhalt achtet, dabei gleichwohl ganz unabsichtlich auch von der Beredsamkeit berührt wird, mit der sie vorgetragen werden. Dies gilt namentlich dann, wenn auch noch Übung im Schreiben oder Diktieren und zuletzt im mündlichen Vertrag über dasjenige hinzukommt, was er nach der Richtschnur des frommen Glaubens denkt. Wo aber eine natürliche Anlage zur Beredsamkeit fehlt, da S. 164werden weder die Vorschriften der Rhetorik begriffen noch nützen sie etwas, wenn trotz großer Mühe ihr Verständnis nur zu einem kleinen Teil eingebläut werden konnte. Ja selbst wer sie tatsächlich erlernt hat und mit Wortfülle und Redeschmuck zu sprechen weiß, kann nicht immer während des Redens daran denken, seinen Regeln gemäß zu sprechen; es müßte denn schon sein, daß er eigens über die Vorschriften (der Rhetorik) redete. Ich glaube vielmehr, daß es auch unter den in der Rhetorik Geschulten kaum den einen oder anderen gibt, der beides zugleich kann: nämlich gut sprechen und während des Redens zu diesem Zweck an jene Vorschriften über das Reden denken. Denn man hat zu besorgen, es möchte der Inhalt der Rede dem Gedächtnisse entfallen, während man auf eine kunstvolle Form der Rede acht gibt. Und doch sind in den Reden und Aussprüchen beredter Männer die Vorschriften der Beredsamkeit erfüllt, an die sie zum Zwecke oder bei Gelegenheit des Redens nicht gedacht haben, mögen sie nun sonst dieselben gelernt oder sich gar nie um sie gekümmert haben. Denn sie erfüllen die Vorschriften der Rhetorik, weil sie eben beredt sind, wenden sie aber nicht deshalb an, um beredt zu sein.
5. Da nun auch die unmündigen Kinder nur durch das Einlernen der Worte Erwachsener selbst reden lernen, warum sollten dann die Menschen nicht ohne alle (theoretische) Kenntnis der Rhetorik beredt werden können, wenn sie bloß die Ausdrücke beredter Männer lesen oder hören und soweit als möglich nachahmen? Sehen wir diese Möglichkeit nicht auch tatsächlich durch Beispiele bestätigt? Wir wissen doch, daß sehr viele ohne im Besitze der rhetorischen Vorschriften zu sein, viel beredter sprechen als gar manche, die sie gelernt haben, während andererseits niemand beredt ist, der nicht Abhandlungen und Reden beredter Männer gelesen oder gehört hat. Nicht einmal die Grammatik, aus der man die reine Sprache erlernt, hätten die Knaben nötig, wenn sie unter Menschen aufwachsen und leben könnten, die eine fehlerlose Sprache reden. Ohne auch nur erfahren zu haben, daß es etwas sprachlich Unrichtiges S. 165überhaupt gibt, würden sie alles Fehlerhafte, das sie aus dem Munde irgendeines Redenden hörten, infolge der gesunden Gewohnheit tadeln und selber meiden; so werden z. B. die Leute vom Lande von Städtern (wegen ihrer fehlerhaften Sprechweise) getadelt, auch wenn diese selbst von einer wissenschaftlichen Rhetorik nichts wissen.
4. Kapitel: Die nach den Zwecken verschiedene Methode des christlichen Lehrers
6. Aufgabe des Erforschers und Lehrers der (heiligen) Schriften, des Verteidigers des rechten Glaubens und des Bekämpfers des Irrtums ist es, das Gute zu lehren und vor dem Bösen zu warnen. Da dies der Zweck seiner Rede ist, so muß er die Gegner gewinnen, die Schlaffen aufrütteln und den Unwissenden einschärfen, worum es sich handelt und was sie erwarten sollen. Trifft er aber von vorneherein schon wohlwollende, aufmerksame und gelehrige Zuhörer oder hat er sie selbst in diesen Stand versetzt, so sind die übrigen Punkte zweckentsprechend durchzuführen: brauchen z. B. die Zuhörer eine Belehrung, so hat dies durch die Erzählung zu geschehen, vorausgesetzt, daß sie zur Kenntnis des Gegenstandes notwendig ist; soll Zweifelhaftes gegen Zweifel sichergestellt werden, so hat man an der Hand von Gründen den Beweis zu führen; handelt es sich aber darum, die Zuhörer mehr innerlich zu packen als bloß zu belehren, damit sie in der Ausführung dessen, was sie bereits wissen, nicht erlahmen, sondern damit sie den Dingen, deren Wahrheit sie bekennen, tatsächlich auch im Herzen beistimmen, dann braucht es eine eindringlichere Rede. In diesem Falle sind nötig: Beschwörungen und Schelten, Aufrührung und Strafworte und all die anderen Mittel, die man sonst noch zur Erschütterung des Herzens braucht.
5. Kapitel: Für den christlichen Redner ist es von größerer Bedeutung, weise als beredt zu sprechen. Das Ideal ist aber die glückliche Mischung beider Fähigkeiten
7. Alles, was ich eben gesagt habe, das beobachten fast alle Menschen unaufhörlich in ihrer rednerischen S. 166Tätigkeit. Aber während es die einen stumpf, unschön und kalt tun, tun es die anderen scharfsinnig, formenschön und begeistert. Muß nun einer an die von uns beabsichtigte Aufgabe herantreten, der wenn nicht gerade beredt, so doch wenigstens weise zu disputieren und zu sprechen vermag, so nützt er dann doch auch wirklich seinen Zuhörern, wenn der Nutzen auch nicht so groß ist, als wenn er auch redegewandt (und nicht bloß weise) zu sprechen versteht. Wer aber eine bloß unweise Beredsamkeit im Überflusse hat, vor dem muß man sich um so mehr hüten, je mehr der Zuhörer von ihm in nutzlosen Sachen ergötzt wird und meint, der Redner spreche deshalb auch schon wahr, weil er ihn beredt sprechen hört. Diese Wahrheit kennen selbst jene recht gut, die einen eigentlichen Unterricht in der Rhetorik für notwendig halten: sie geben zu, daß Weisheit ohne Beredsamkeit einer Gemeinde allzu wenig nütze, daß aber Beredsamkeit ohne Weisheit meistens geradezu sehr viel schade ohne jemals zu nützen. Wenn sich also schon die Lehrer der Beredsamkeit gerade in den hierauf bezüglichen Büchern unter dem Zwange der Wahrheit zu diesem Bekenntnis genötigt sehen, obgleich sie doch die wahre Weisheit, die von oben vom Vater des Lichtes kommt, nicht kennen, um wieviel weniger dürfen wir, die Söhne und Diener dieser Weisheit, einer anderen Ansicht huldigen? Weise aber spricht ein Mann in einem höheren oder tieferen Grade, je nachdem er in den heiligen Schriften größere oder geringere Fortschritte gemacht hat. Dies will ich aber nicht vom vielen Lesen und Auswendiglernen, sondern von ihrem guten Verständnis und ihrer sorgsamen Erforschung gesagt haben; denn es gibt auch solche, die sie zwar lesen, aber nicht verstehen, und solche, die sie lesen um sie zu behalten, die es aber versäumen, sie auch verstehen zu lernen. Solchen Leuten sind zweifelsohne jene anderen bei weitem vorzuziehen, die den Wortlaut zwar weniger genau behalten, aber den Kern der Worte mit den Augen des Geistes schauen. Den Vorzug vor diesen beiden Menschenklassen verdient aber der, welcher die S. 167heiligen Schriften anführen kann, wann er will, und sie versteht, wie er soll.
8. Für den also, der auch über das, was er nicht beredt behandeln kann, weise sprechen soll, ist es höchst notwendig, die Worte der Schrift zu behalten. Je ärmer er sich an eigenen Worten weiß, um so reicher muß er an Schriftworten sein; dann kann er mit diesen Worten beweisen, was er mit seinen eigenen schon gesagt hat, und durch das Zeugnis der großen Worte wächst dann sozusagen, was er an den eigenen zu klein ist. Denn der ergötzt darin wenigstens durch die (Kraft seiner) Beweisführung, der es nicht durch die (Schönheit seiner) Rede kann. Wer aber nicht bloß weise, sondern auch beredt sprechen will, weil er in der Tat mehr nützen wird, wenn er beides kann, den weise ich an, viel lieber gleich beredte Männer zu lesen oder zu hören und sie dann durch eigene Übung nachzuahmen, als sich lange mit Lehrern der Rhetorik zu beschäftigen. Es müssen jedoch die Männer, die man liest oder hört, wirklich das Lob verdienen, daß sie nicht bloß beredt, sondern auch weise gesprochen haben und noch sprechen. Wer nämlich bloß beredt spricht, der wird zwar mit süßem Behagen, wer aber auch weise spricht, der wird mit Nutzen angehört. Daher sagt die Schrift nicht, daß die Menge der Wohlredner, wohl aber, daß die Menge der Weisen die Gesundheit des Erdkreises sei. Wie man aber oft auch ein bitteres Heilmittel nehmen muß, so muß man auch immer eine verderbliche Süßigkeit meiden. Was gibt es aber Besseres als eine Süßigkeit, die zugleich heilsam, oder eine Heilsamkeit, die zugleich süß ist? Je mehr man nämlich in diesem Falle nach Süßigkeit verlangt, um so leichter kann ja die Heilsamkeit nützen. Es gibt also Männer der Kirche, welche die göttlichen Aussprüche nicht allein weise, sondern auch beredt behandelt haben. Wollte man sie alle lesen, so würde es denen, die sie lesen und studieren wollen, eher an der nötigen Zeit mangeln, als daß die Zahl der Schriftsteller nicht mehr ausreichte.
6. Kapitel: Diese wünschenswerte Verbindung zwischen innerer Weisheit und äußerer beredter Darstellung ist aufs glücklichste von den Verfassern der heiligen Schriften erreicht
S. 168 9. Hier stellt vielleicht jemand die Frage, ob unsere Verfasser, deren von Gott inspirierte Schriften uns einen Kanon von so heilsamem Ansehen schufen, nur weise oder auch beredt genannt werden müssen. Diese Frage findet bei mir und meinen Gesinnungsgenossen eine sehr einfache Beantwortung: wo ich sie nämlich verstehe, da kann mir nicht bloß nichts weiser, sondern auch nichts beredter scheinen. Und ich wage die Behauptung, daß alle, die sie recht verstehen, auch so gut wie ich begreifen, daß die Verfasser gar nicht anders sprechen durften. Denn wie es eine Beredsamkeit gibt, die sich mehr für das jugendliche Alter schickt, und wie es eine andere gibt, die mehr fürs Greisenalter paßt, und wie eine Beredsamkeit ihren Namen nicht mehr verdient, wenn sie mit der Person des Redenden in Widerspruch steht, so gibt es auch eine Beredsamkeit, die sich für Männer schickt, die das allerhöchste Ansehen verdienen und geradezu göttlichen Charakter an sich tragen. Mit dieser Beredsamkeit sprechen sie, für sie paßt keine andere, so wenig wie die ihrige für andere Menschen paßt, Für sie paßt sie nun einmal, und je niedriger sie anderen zu sein scheint, um so höher ragt sie in Wirklichkeit empor nicht an Aufgeblasenheit, sondern an fester Kraft. Wo ich diese Männer aber nicht verstehe, da leuchtet mir zwar ihre Beredsamkeit weniger ein, aber trotzdem zweifle ich nicht, daß sie hier ebenso vorhanden ist, wie dort, wo ich sie verstehe. Denn gerade das Dunkel der heilsamen göttlichen Aussprüche mußte mit einer Mischung von solcher Beredsamkeit dargestellt werden, daß unser Verstand dadurch nicht allein durch das Auffinden, sondern auch durch die Übung gewinnen mußte.
10. Hätte ich Zeit, dann könnte ich den ganzen Vorzug und Schmuck der Beredsamkeit, um S. 169dessenwillen diejenigen aufgeblasen sind, die ihre eigene Sprechweise der Sprache unserer (heiligen) Schriftsteller zwar nicht wegen ihrer Erhabenheit, sondern wegen ihres Schwulstes vorziehen, auch in den heiligen Schriften jener Männer nachweisen, welche die göttliche Vorsehung zum voraus berufen hat, um uns zu unterweisen und aus dieser verkehrten Welt ins ewige Leben zu versetzen. Aber nicht jene Vorzüge, die diese Männer mit den Rednern und Dichtern der Heiden gemein haben, ergötzen mich an ihrer Beredsamkeit mehr als ich sagen kann: sondern ich staune voll Bewunderung noch mehr das an, daß sie von unserer Beredsamkeit in einer ihnen ganz eigentümlichen Art so Gebrauch gemacht haben, daß diese Beredsamkeit in ihren Schriften weder ganz fehlt noch auch sich auffallend bemerkbar macht. Die heiligen Verfasser durften sie nämlich weder mißbilligen noch auch besonders zur Schau tragen: das erstere geschähe dann, wenn ganz auf sie verzichtet würde, das letztere aber könnte man annehmen, wenn sie (allzu) leicht zu erkennen wäre. Wo sie nun wirklich von gelehrten Männern erkannt wird, da werden solche Dinge ausgesagt, daß die an diesen Stellen gebrauchten Worte nicht absichtlich vom Redner beigezogen, sondern den Dingen gleichsam von selbst zu folgen scheinen. Da kann man sehen, daß die Weisheit aus der Brust des Weisen wie aus ihrem Hause hervortritt, und daß ihr wie eine unzertrennliche Dienerin auch ungerufen die Beredsamkeit nachfolgt.
7. Kapitel: An einem Beispiel aus den Briefen des Apostels Paulus und aus dem Buche Amos wird die tatsächliche Verbindung zwischen weisem Inhalt und künstlerischer Form bei den heiligen Schriftstellen ausführlich nachgewiesen
11. Wer sollte nicht den Sinn und die Weisheit der Worte des Apostels (Paulus) einsehen, wenn er sagt: „Wir rühmen uns in den Trübsalen, weil wir wissen, daß die Trübsal Geduld bewirkt, die Geduld aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung; die Hoffnung S. 170aber läßt nicht zu Schanden werden: denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist.“ Wenn an dieser Stelle ein Kenner, um mich so auszudrücken, recht unkennerhaft behaupten wollte, der Apostel habe hier ganz unabsichtlich rhetorische Vorschriften befolgt, würde der nicht von gelehrten und ungelehrten Christen verlacht? Erkennt man ja doch hier die rednerische Figur, die man im Griechischen κλίμαξ (Leiter), im Lateinischen aber manchmal gradatio (Steigerung) heißt. „Leiter“ (scala) wollte man sie nämlich (im Lateinischen) nicht nennen, da sich die Worte und Gedanken in organischer Entwicklung auseinander entwickeln: so sehen wir z. B. an unserer Stelle die Trübsal mit der Geduld, die Geduld mit der Bewährung, die Bewährung aber mit der Hoffnung sich verbinden. Noch eine zweite (rhetorische) Feinheit kann man an unserer Schriftstelle sehen: nachdem nämlich einige Satzteile, die man bei uns „membra et caesa“ (Glieder und Einschnitte), bei den Griechen aber „κῶλα“ und „κόμματα“ heißt, mit besonderer Betonung abgeschlossen sind, erfolgt „die Umkehr oder die Wendung“ (ambitus sive circuitus), welche die Griechen „περίοδος“ nennen: deren Glieder spricht der Redner mit gehobener Stimme, bis die Periode schließlich ihren Abschluß findet. An unserer Stelle heißt von den der „Wendung“ vorausgehenden Gliedern das erste: „weil Trübsal Geduld bewirkt“, das zweite: „Geduld aber Bewährung“, das dritte: „Bewährung aber Hoffnung“. Daran reiht sich dann die sogenannte „Wendung“ (περίοδος) selbst, die wiederum in drei Gliedern durchgeführt wird, von denen das erste ist: „die Hoffnung aber läßt nicht zu Schanden werden“, das zweite: „denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz“, das dritte: „durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist“. Solches und Ähnliches aber wird in der Rhetorik gelernt. Wir behaupten nun zwar nicht, der Apostel habe die Vorschriften der Beredsamkeit absichtlich befolgt, wir leugnen aber auch nicht, daß seine Weisheit mit Beredsamkeit verbunden ist.
S. 171 12. In einem Schreiben an die Korinther, nämlich in seinem zweiten Brief, widerlegt Paulus einige Gegner, die als falsche Apostel aus dem Judentum gekommen waren und ihn verleumdeten. Da er sich dabei selbst rühmen muß, rechnet er sich dies auf eine höchst weise und beredte Art zur Torheit. Aber als Gefährte der Weisheit ist er zugleich auch Führer der Beredsamkeit; indem er der Weisheit folgt, geht er zugleich auch vor der Beredsamkeit einher ohne ihre Gefolgschaft zu verschmähen. Seine Worte lauten: „Ich wiederhole es: Niemand halte mich für so töricht (, daß ich aus Eitelkeit mich rühme). Tut ihr es aber, so höret mich, wenn auch nur als Toren an und gestattet, daß auch ich mich ein wenig rühme. Was ich nun mit solcher Zuversicht zu meinem Ruhme rede, das sage ich freilich nicht wie einer, der sich von Gott leiten läßt, sondern gewissermaßen in Torheit. Da viele sich dem Fleische nach (ihrer äußeren, natürlichen Vorzüge) rühmen, so will auch ich mich einmal rühmen. Ihr seid ja kluge Leute und habt mit den Toren gerne Geduld. Ihr laßt es euch sogar gefallen, wenn euch einer knechtet, wenn euch einer ausbeutet, wenn euch einer überlistet, wenn sich einer stolz überhebt und euch ins Antlitz schlägt. Zu solchem Verfahren bin ich allerdings, zu meiner Schande bekenne ich es, zu schwach gewesen. Wessen sich einer aber keck rühmt, dessen darf auch ich mich rühmen, mag auch mein Rühmen als Torheit erscheinen. Sie sind Hebräer? Ich auch. Sie sind Israeliten? Ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams? Ich auch. Sie sind Diener Christi? Ich bin es, als Tor rede ich, in höherem Grade durch häufigere Mühen und zahlreichere Einkerkerungen, durch über die Maßen erlittene Schläge und öftere Todesgefahren. Von den Juden erhielt ich fünfmal neununddreißig Geißelhiebe, (von den Heiden) wurde ich dreimal mit Ruten gestrichen, einmal gesteinigt, dreimal litt ich Schiffbruch, Tag und Nacht habe ich auf hohem Meere zugebracht. Ich bin es mit größerem Rechte durch öftere Reisen, Gefahren auf Flüssen, Gefahren von Räubern, Gefahren von Stammesgenossen, Gefahren von Heiden, Gefahren in Städten, Gefahren in der Wüste, Gefahren auf dem S. 172Meere, Gefahren unter falschen Brüdern, durch Mühen und Beschwerden, durch häufigeres Wachen, durch Hunger und Durst, durch Kälte und Blöße. Dazu noch das, was von außen kommt, der tägliche Andrang zu mir, die Sorge für sämtliche Gemeinden. Ist einer schwach ohne daß ich mit ihm schwach bin (um ihn von seinem Falle aufzurichten)? Wird jemand zum Bösen verleitet ohne daß ich entbrenne (vor Eifer und Unwillen)? Soll ich mich nun einmal rühmen, so will ich mich meiner Schwäche rühmen.“ Die Größe der Weisheit, die in diesen Worten liegt, sieht einer, der wachen Auges ist; den reißenden Fluß ihrer Beredsamkeit merkt einer aber auch noch im tiefen Schlaf.
13. Der Sachverständige vollends erkennt sodann, daß die Abschnitte, welche die Griechen „κόμματα“ nennen, die Glieder und Wendungen, von denen ich kurz vorher gesprochen habe, mit sehr passender Abwechslung gesetzt sind und den ganzen Schmuck jener Rede und gleichsam ihr Antlitz bilden, durch das auch Ungebildete ergötzt und gerührt werden. Denn an dem Punkte, wo wir die eben angeführte Schriftstelle beginnen ließen, setzen die sogenannten Wendungen ein. Die erste ist die kürzeste, d. h. sie ist bloß zweigliedrig; denn weniger als zwei Glieder kann eine Wendung nicht haben, wohl aber mehr. Die erste also heißt: „Ich wiederhole es: niemand halte mich für töricht.“ Es folgt dann eine dreigliedrige Wendung: „Tut ihr es aber, so höret mich, wenn auch nur als Toren, an und gestattet, daß auch ich mich ein wenig rühme.“ Die dritte nun folgende Wendung hat vier Glieder: „Was ich nun rede, mit solcher Zuversicht zu meinem Ruhme, das sage ich freilich nicht wie einer, der sich von Gott leiten läßt, sondern gewissermaßen in Torheit.“ Die vierte hat zwei Glieder: „Da sich viele dem Fleische nach rühmen, so will auch ich mich einmal rühmen.“ Auch die fünfte Wendung hat zwei Glieder: „Ihr seid ja kluge Leute und habt mit den Toren gerne Geduld.“ Auch die sechste ist zweigliedrig: „Ihr laßt es euch gefallen, S. 173wenn euch einer knechtet.“ Es folgen sodann drei Abschnitte: „… wenn euch einer ausbeutet, wenn euch einer überlistet, wenn sich einer stolz überhebt.“ Daran reihen sich nochmal drei Glieder: „… wenn euch einer ins Antlitz schlägt. Zu solchem Verfahren bin ich allerdings zu schwach gewesen, zu meiner Schande bekenne ich es.“ Daran schließt sich eine dreigliedrige Wendung: „Wessen sich einer aber keck rühmt, dessen darf auch ich mich rühmen, mag auch mein Rühmen als Torheit erscheinen.“ Von da an erfolgen auf die einzelnen in Frageform gesetzten Einschnitte in ebensovielen Einschnitten die Antworten, und zwar drei: Sie sind Hebräer? Ich auch. Sie sind Israeliten? Ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams? Ich auch. Auf den vierten Einschnitt, der in ähnlicher Frageform gesetzt ist, antwortet er nicht durch Entgegenstellung eines Einschnittes, sondern eines Gliedes. „Sie sind Diener Christi? Ich bin es, als Tor rede ich, in höherem Grade.“ Nun werden die vier folgenden Einschnitte, nachdem die Frageform höchst passend aufgegeben ist, gleichsam im raschen Flusse gesprochen: „… durch häufigere Mühen und zahlreichere Einkerkerungen, durch über die Maßen erlittene Schläge und öftere Todesgefahren.“ Es wird sodann eine kurze Wendung gesetzt, weil die Worte: „Von den Juden erhielt ich fünfmal“ als erstes Glied von dem zweiten „neununddreißig Geißelhiebe“ durch erhöhte Betonung unterschieden werden müssen. Dann kehrt die Rede wieder zu den Einschnitten zurück, deren zunächst drei gesetzt werden. „Dreimal wurde ich mit Ruten gestrichen, einmal gesteinigt, dreimal litt ich Schiffbruch.“ Hierauf folgt ein einzelnes Glied: „Tag und Nacht habe ich auf hohem Meere zugebracht.“ Sodann fließen vierzehn Einschnitte mit sehr passendem Ungestüm hervor: „… durch öftere Reisen, Gefahren auf Flüssen, Gefahren von Räubern, Gefahren von Stammesgenossen, Gefahren von Heiden, Gefahren in Städten, Gefahren in der Wüste, Gefahren auf dem Meere, Gefahren unter falschen Brüdern, durch Mühen und Beschwerden, durch häufigeres Wachen, durch Hunger und Durst, durch Kälte und Blöße.“ Darauf setzt er eine dreigliedrige Wendung: „Dazu noch das, S. 174was von außen kommt, der tägliche Andrang zu mir, die Sorge für sämtliche Gemeinden.“ Daran reiht er dann zwei Frageglieder: „Ist einer schwach ohne daß ich mit ihm schwach bin? Wird jemand zum Bösen verleitet ohne daß ich entbrenne?“ Zuletzt wird die ganze, gleichsam nach Atem ringende Stelle durch eine zweigliedrige Wendung abgeschlossen: „Soll ich mich nun einmal rühmen, so will ich mich meiner Schwäche rühmen.“ Wenn aber nun Paulus nach dieser stürmischen Periode durch Einschiebung einer kleinen Erzählung gewissermaßen ausruht und auch den Zuhörer ausruhen läßt, so liegt darin eine ganz außerordentliche (stilistische) Feinheit und (ästhetische) Ergötzung. Nachdem nämlich Paulus zunächst mit den Worten fortfährt: „Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, hochgelobt in Ewigkeit, weiß, daß ich nicht lüge“, erzählt er sodann ganz kurz, wie er in Gefahr geriet, ihr aber noch entrann.
14. Es würde zu weit führen, wollte ich noch alles andere durchgehen oder an anderen Stellen der heiligen Schriften diese stilistischen Erscheinungen nachweisen. Hätte ich auch noch die in jener Kunst behandelten Redefiguren nur in dem erwähnten Ausspruch des Apostels behandeln wollen, würden mich dann nicht eher reife Männer für weitschweifig, als einer der Studierenden für ausführlich genug halten? Dieses ganze Wissen wird, wenn es von den Professoren gelehrt wird, hoch geschätzt, um hohen Preis gekauft und unter lautem Prahlen verkauft. Einen Geruch von Prahlerei habe auch ich zu befürchten, wenn ich mich darüber so ausführlich äußere. Aber ich mußte den eingebildeten Gelehrten eine Antwort geben, die unsere Verfasser für verächtlich halten, nicht weil sie nicht haben, sondern bloß weil sie nicht prunkend zeigen, was die Herren selbst allzu hoch einschätzen: — die Beredsamkeit.
S. 175 15. Aber vielleicht könnte einer glauben, ich hätte eigens den Apostel Paulus ausgewählt, weil der eben unter den Männern unseres Glaubens beredt sei. Denn wenn er auch einmal sagt: „Wenn ich auch in der Redekunst unerfahren bin, so bin ich es doch nicht in der Erkenntnis“, so scheint es doch, als hätte er damit seinen Verleumdern ein bloß äußeres Zugeständnis gemacht ohne damit auch bekannt zu haben, daß er diese Behauptung auch wirklich als richtig anerkenne. Hätte er nur gesagt: „unerfahren in der Redekunst“ und nicht hinzugefügt „aber doch nicht in der Erkenntnis“, so könnte man freilich seine Worte nicht anders (als wörtlich) verstehen. Daß er aber Erkenntnis besitze, dessen machte er sich unbedenklich anheischig; denn ohne sie könnte er ja gar nicht der Apostel der Heiden sein. Freilich, wenn wir von ihm etwas als Beleg für seine Beredsamkeit anführen, so entnehmen wir es seinen Briefen; denn diesen gestanden selbst seine Verleumder, die doch seine persönliche, mündliche Rede für verächtlich gehalten haben wollten, Gewicht und Kraft zu.
Daher muß ich wohl auch etwas über die Beredsamkeit der Propheten sagen, bei denen so vieles durch die figürliche Ausdrucksweise verdeckt wird. Je mehr aber dasselbe durch übertragene Worte verdunkelt zu sein scheint, um so süßer mundet es, wenn es einmal eröffnet ist. Hier brauche ich jedoch bloß eine Stelle zu erwähnen, die ich nicht nach ihrem Inhalt erklären, sondern nur nach ihrer Form empfehlen muß. Und zwar möchte ich sie am liebsten aus dem Buche jenes Propheten nehmen, der selbst sagt, er sei Schaf- und Rinderhirte gewesen, als er von Gott diesem Beruf entzogen und ausgesendet worden sei, um dem Volke Gottes zu weissagen. Ich will meine Stelle aber nicht nach dem Texte der siebzig Übersetzer anführen; denn ihr Werk ist, wenn es auch unter dem Beistand des Heiligen Geistes zustande kam, doch bloß eine Übersetzung, worin sie nach ihrem eigenen Kopf manches anders S. 176gesagt zu haben scheinen, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Erforschung des geistigen Sinnes zu lenken. Infolgedessen ist bei ihnen manches wegen seiner allzu figürlichen Fassung dunkel. (Ich gebe darum die Stelle nicht nach dem Septuagintatext,) sondern so, wie sie der in beiden Sprachen erfahrene Priester Hieronymus in seiner Übersetzung aus der hebräischen in die lateinische Sprache übertragen hat.
16. Als der dem Bauernstand angehörige oder wenigstens aus dem Bauernstand hervorgegangene Prophet (Amos) die gottlosen, hochmütigen, üppigen und deshalb im Werke der Bruderliebe höchst nachlässigen Mitmenschen tadeln mußte, da brach er in folgende Worte aus: „Wehe euch Reichen zu Sion, und die ihr vertrauet auf Samarias Berge, euch hohen Häuptern der Völker, die ihr mit Pomp ins Haus Israel kommet! Ziehet hin nach Chalane und schauet, gehet von da zum großen Emath und steiget hinab nach Geth im Philisterland und in all ihre besten Reiche, um zu sehen, ob ihr Gebiet größer ist als euer Gebiet! Ihr habt euch abgesondert für den schlimmen Tag und tretet nahe dem Sitze des Unrechts; ihr schlafet auf Betten von Elfenbein und schwelget auf euren Lagern; ihr verzehret die Lämmer von der Herde und die Kälber vom Mastvieh; ihr singet zum Klange des Saitenspieles —. gleich David wähnten sie Musikinstrumente zu haben. Sie tranken Wein in Schalen und salbten sich mit dem besten Öl: um die Leiden Josephs aber kümmerten sie sich nichts.“ Hätten nun jene Leute, die selbst so gelehrt und beredt sind, die unsere Propheten aber als ungebildete und ungewandte Männer verachten, bei einem ähnlichen Anlaß zu ähnlich gearteten Menschen anders sprechen wollen, wenn anders sie nicht hätten verrückt sein wollen?
17. Was könnten auch vernünftige Ohren mehr verlangen wollen als die eben angeführte Rede? Mit welchem Getöse dröhnt doch der erste Angriff ans Ohr! S. 177Es ist, als ob die Sinne betäubt wären und er sie nun auferwecken wollte. „Wehe euch Reichen zu Sion, und die ihr vertrauet auf Samarias Berge, euch hohen Häuptern der Völker, die ihr mit Pomp ins Haus Israel kommet!“ Um sodann zu zeigen, daß sie gegen die Wohltaten Gottes, der ihnen ein großes Reich gegeben habe, undankbar seien, weil sie auf Samarias Berge, wo Götzen verehrt wurden, vertrauten, fährt der Prophet fort: „Ziehet hin nach Chalane und schauet, gehet von da zum großen Emath, ziehet hinab nach Geth im Philisterland und in all ihre besten Reiche, um zu sehen, ob ihr Gebiet größer ist als euer Gebiet!“ Dabei erhält die Rede durch die Ortsnamen wie durch Lichtpunkte ihren Schmuck; diese Namen sind: Sion, Samaria, Chalane, das große Emath und Geth im Philisterland. Auch die diese Ortsnamen verbindenden Ausdrücke weisen eine treffliche Abwechslung auf: Ihr Reichen, ihr vertrauet; ziehet hin, gehet, steiget hinab!
18. Es folgt nun ganz richtig die Ankündigung, daß die Gefangenschaft unter dem ungerechten König nahe sei. Es heißt nämlich weiter: „Ihr habt euch abgesondert für den schlimmen Tag und tretet nahe dem Sitze des Unrechts.“ Daran reihen sich die „Verdienste“ der Schwelgerei: „Ihr schlafet auf Betten von Elfenbein und schwelget auf euren Lagern; ihr verzehret die Lämmer von der Herde und die Kälber vom Mastvieh.“ Diese sechs Glieder bilden drei zweigliedrige Wendungen. Er sagt nämlich nicht: „Ihr habt euch abgesondert für den schlimmen Tag, ihr tretet nahe dem Sitze des Unrechts, ihr schlafet auf Betten von Elfenbein, ihr schwelget auf euren Lagern, ihr verzehret die Lämmer von der Herde und die Kälber vom Mastvieh.“ Wenn er sich so ausdrückte, so wäre das zwar auch schön, daß von dem immer wiederholten Pronomen sechs Glieder ausgingen, die schon sprachlich immer einen selbständigen Gedanken einschlössen. Aber schöner ist (das sprachliche Bild) dadurch geworden, daß unter einem Pronomen immer zwei Glieder zusammengefaßt wurden, die drei Gedanken erörtern. Der erste bezieht sich auf die Ankündigung der Gefangenschaft: „Ihr habt euch abgesondert S. 178für den schlimmen Tag und tretet nahe dem Sitze des Unrechts“; der zweite auf die sinnliche Lust: „Ihr schlafet auf Betten von Elfenbein und schwelget auf euren Lagern“; der dritte endlich bezieht sich auf die Gefräßigkeit: „Ihr verzehret die Lämmer der Herde und die Kälber vom Mastvieh“. Daher ist es dem Leser freigestellt, ob er die Glieder einzeln für sich nehmen und so sechs Glieder machen will oder ob er das erste, dritte und fünfte Glied mit gehobener Stimme sprechen und das zweite mit dem ersten, das vierte mit dem dritten und das sechste mit dem fünften verbinden und so höchst passend drei zweigliedrige Wendungen bilden will, wobei in der ersten das bevorstehende Unglück, in der zweiten das unreine Bett und in der dritten die schwelgerische Tafel gezeigt wird.
19. Der Prophet greift sodann den üppigen Ohrenkitzel heftig an. Aber nach den Worten: „Ihr singet zum Klange des Saitenspieles“, mäßigt er, weil die Musik von Weisen weise betrieben werden kann, mit wunderbarem Redeschmuck das Ungestüm des Angriffes und spricht nicht mehr (direkt in der zweiten Person) zu ihnen, sondern nur mehr (indirekt in der dritten Person) von ihnen. Um uns zu veranlassen, die Musik eines Weisen von der Musik eines Schwelgers zu unterscheiden, sagt er nicht: „Ihr singet zum Klange des Saitenspieles und wähnet gleich David Musikinstrumente zu haben“, sondern nachdem er zu ihnen gesagt hat, was Schwelger hören sollen: „Ihr singet zum Klange des Saitenspieles“, deutet er auch ihre Unkenntnis gewissermaßen andern an, indem er beifügte: „Gleich David wähnten sie Musikinstrumente zu haben, sie tranken Wein in Schalen und salbten sich mit dem besten Öle.“ Diese drei Glieder werden am besten so ausgesprochen, daß die zwei ersten Glieder mit erhöhter Stimme gesprochen, mit dem dritten aber abgeschlossen werden.
20. Die all diesen Gliedern beigefügten Worte: „Um die Leiden Josephs aber kümmerten sie sich nichts“ können entweder zusammenhängend als ein Glied oder besser als zweigliedrige Periode gelesen werden, indem S. 179die Worte: „Sie kümmerten sich nichts“ mit erhöhter Stimme ausgesprochen und nach dieser Unterscheidung die Worte: „Um die Leiden Josephs“ beigefügt werden. Mit wunderbarer Anmut ist nicht gesagt: „Sie kümmerten sich nichts um die Leiden des Bruders“, sondern anstatt „Bruder“ wurde „Joseph“ gesetzt in der Absicht, jeden Bruder mit dem Eigennamen desjenigen zu bezeichnen, dessen Ruhm in seinem Verhalten gegen seine Brüder, in dem Schlimmen, das er erlitt, und in dem Guten, mit dem er vergalt, gefeiert ist. Ob in der von mir gelernten und gelehrten Kunst (der Rhetorik) von dem Tropus, der unter Joseph jeden Bruder verstehen läßt, die Rede ist, weiß ich nicht. Wie schön er aber tatsächlich ist und wie sehr er sachverständige Leser ergreift, das braucht man einem, der es nicht selbst fühlt, gar nicht zu sagen.
21. Es ließe sich ja noch manches andere, auf rhetorische Vorschriften Bezügliche gerade an dieser beispielsweise angeführten Stelle auffinden. Aber sie belehrt einen freundlichen Zuhörer nicht so fast, wenn sie sorgfältig zergliedert wird, als sie ihn hinreißt, wenn sie mit Feuer vorgetragen wird. Denn diese Worte sind ja nicht durch menschliche Sorgfalt zusammengestellt, sondern durch den göttlichen Geist weise und beredt ergossen worden, so daß nicht die Weisheit auf die Beredsamkeit achtete, sondern die Beredsamkeit nicht von der Weisheit wich. Denn wenn, wie einige sehr beredte und scharfsinnige Männer sehen und aussprechen konnten, das, was durch die sogenannte Redekunst erlernt wird, nur deshalb beobachtet, aufgezeichnet und in diese Wissenschaft (der Rhetorik) aufgenommen werden konnte, weil es sich eben tatsächlich in den Geisteserzeugnissen der Redner vorfindet, so ist es doch nicht verwunderlich, daß es sich auch bei den Schriftstellern vorfindet, die der Schöpfer des Verstandes gesendet hat. Darum wollen wir es offen aussprechen, daß unsere kanonischen Autoren und Lehrer nicht bloß weise, sondern auch beredt sind, beredt freilich nach einer Art von Beredsamkeit, die solchen Männern geziemt.
8. Kapitel: Wenn es in den heiligen Schriften aus gewissen Gründen dunkle Stellen gibt, so dürfen deshalb doch die christlichen Schriftsteller nicht auch dunkel schreiben
S. 180 22. Wenn wir nun aber auch aus den leichtverständlichen Schriften (unserer kirchlichen Autoren) einige Redemuster ausgezogen haben, so sind wir damit doch nicht zu der Annahme berechtigt, wir dürften sie jetzt auch in dem nachahmen, was sie deshalb mit nützlicher und heilsamer Unklarheit gesagt haben, um den Geist der Leser zu üben und gleichsam zu feilen, um den Überdruß zu überwinden und den Eifer der Lernbegierigen anzuspornen und endlich um die Gottlosen in Unkenntnis zu halten und sie zur Bekehrung zu veranlassen oder von der Kenntnis von Geheimnissen auszuschließen. Denn deshalb haben jene heiligen Männer so gesprochen, damit diejenigen unter den später Lebenden, die sie recht verständen und erklärten, gerade diese Gnade (des Schriftverständnisses) als zweite von der ersten Gnade (der Berufung zum Christentum) zwar verschiedene, aber in ihrem Gefolge befindliche Gnade in der Kirche Gottes fänden. Darum dürfen die Erklärer jener kirchlichen Schriftsteller auch nicht so sprechen, als wollten sie selbst als Männer von ähnlicher Geltung erst wieder erklärt werden, sondern sie haben sich in ihren Reden in erster Linie und im höchsten Grade zu bemühen, daß sie verstanden werden. Daher müssen sie mit möglichster Klarheit reden, damit nur ein wirklich langsamer Kopf sie nicht verstehe oder damit der Grund, warum unsere Worte weniger oder langsamer verstanden werden können, tatsächlich nur in der Schwierigkeit und Feinheit der Dinge gelegen ist, die wir erörtern und zeigen wollen, nicht aber in unserer Ausdrucksweise.
9. Kapitel: Die Behandlung wirklich schwerverständlicher Dinge
S. 181 23. Es gibt nämlich wirklich gar manches, das man schon seiner Natur entsprechend entweder gar nicht oder doch nur höchst mühsam versteht, wenn es auch geraume Zeit durch die Rede des Sprechenden nach allen Seiten hin und her gewendet wird. Solche Dinge sollen entweder nur selten, wenn nämlich tatsächlich ein dringender Notfall vorliegt, oder überhaupt nicht vor das Volk gebracht werden. In Büchern aber, die so geschrieben sind, daß sie den Leser selbst für sich einnehmen, wenn sie verstanden werden, die aber anderseits falls sie nicht verstanden werden, doch jenen nicht lästig fallen, die sie nicht lesen wollen, desgleichen in Unterredungen mit einigen wenigen darf man die Pflicht nicht verabsäumen, auch sehr schwer verständliche Wahrheiten, die wir selbst verstehen, sogar um den Preis einer höchst mühsamen Disputation anderen zum Verständnis zu bringen. Vorausgesetzt ist dabei, daß der Zuhörer oder der Unterredner die nötige Lernbegierde und Fassungskraft hat, um das auf alle Weise Eingeschärfte auch in sich aufzunehmen. Dabei hat derjenige, der die Belehrung gibt, nicht so fast für Beredsamkeit als für Klarheit seiner Worte Sorge zu tragen.
10. Kapitel: Von der Klarheit, die in der Rede herrschen muß
24. Wessen Streben vor allem nach Klarheit geht, der verschmäht gelegentlich den stilistisch feineren Ausdruck und kümmert sich nicht um den Wohlklang der Wörter, sondern bloß darum, daß sie treffend den Sinn dessen, was er sagen will, anzeigen und kund tun. Einer, der von dieser Art zu reden handelte, sagt daher, es finde sich darin eine gewisse geflissentliche Nachlässigkeit. Wenn sie sich nun auch des Schmuckes entkleidet, so zieht sie damit doch auch noch keine S. 182schmutzige Kleidung an. Darum tragen gute Lehrer gewissermaßen pflichtgemäß so große Sorge dafür, wirklich zu belehren, daß sie in einem Falle, wo nur ein unklares oder zweideutiges Wort wirklich gut lateinisch sein kann, während ein Ausdruck der Volkssprache die Zweideutigkeit und Unklarheit sichtlich erklärt, lieber nicht wie die Gebildeten, sondern wie die Ungebildeten sprechen. Wenn sich nämlich unsere Übersetzer nicht zu sagen scheuten: „Non congregabo conventicula eorum de sanguinibus, weil sie merkten, es gehöre zur Sache, dieses Wort in den Plural zu setzen, obgleich es im Lateinischen nur im Singular vorkommt: warum sollte sich dann ein Lehrer der Frömmigkeit scheuen, lieber „ossum“ als „os“ zu sagen, wenn er zu Ungebildeten spricht? Es könnte nämlich sonst da, wo afrikanische Ohren die Kürze oder Länge der Vokale nicht beurteilen, die Meinung entstehen, die Silbe „os“ komme nicht von „ossa“ sondern von „ora“. Was nützt denn auch eine reine Sprache, wenn sie dann der Zuhörer nicht versteht, da es ja doch überhaupt keinen Grund zum Sprechen gibt, wenn diejenigen unsere Worte nicht verstehen, denen wir durch unser Reden etwas begreiflich machen wollen? Der Lehrer wird also alle Wörter vermeiden, die nicht wirklich belehren; kann er für sie andere, sprachlich reine und verständliche Wörter finden, so räume er diesen den Vorzug ein; kann er solche nicht angeben, weil es entweder keine gibt oder weil sie ihm augenblicklich nicht einfallen, so bediene er sich auch sprachlich weniger reiner Wörter: die Hauptsache ist, daß die Sache selbst richtig gelehrt und richtig gelernt wird.
25. Aber nicht bloß bei Unterredungen mit einzelnen oder mit mehreren, sondern in noch viel höherem Grade in einer Rede ans Volk haben wir das Ziel anzustreben, verstanden zu werden. Denn bei Unterredungen hat jeder die Möglichkeit zu fragen; wenn aber alle schweigen, um den einen Redner zu hören, wenn aller Blicke auf diesen einen gerichtet sind, dann ist es S. 183weder gebräuchlich noch schicklich, darüber eine Frage zu stellen, was ein einzelner etwa nicht verstanden hat: darum muß hier die Sorgfalt des Redners dem schweigenden Zuhörer ganz besonders zu Hilfe kommen. Die wissensdurstige Menge pflegt zwar durch ihre Bewegung anzudeuten, ob sie den Redner verstanden hat; bis sie dies aber tut, muß der behandelte Gegenstand in vielfachem Wechsel der Rede hin und her gewendet werden. Dies steht jedoch außerhalb des Vermögens der Redner, die ängstlich vorbereitete und wörtlich auswendig gelernte Reden halten. Sobald aber einmal feststeht, daß etwas verstanden ist, hat man die Rede zu schließen oder auf andere Punkte überzugehen. Denn so gut ein Redner angenehm ist, der einem den Gegenstand des Erkennens klar macht, ebenso wird einer, der schon Erkanntes immer wieder einschärft, wenigstens den Zuhörern lästig, deren ganze Erwartung auf die Lösung der Schwierigkeit des unterbreiteten Stoffes gerichtet war. Um des reinen Vergnügens willen wird ja wohl auch einmal etwas schon Bekanntes besprochen: man achtet dann aber dabei nicht so fast auf die Sache selbst als vielmehr auf die Art ihrer Darstellung. Kennt man diese einmal und findet sie bei den Zuhörern Anklang, dann spielt es fast keine Rolle, ob man dabei einen frei vortragenden Redner oder auch nur einen Vorleser vor sich hat. Denn etwas, was gut geschrieben ist, pflegt nicht bloß von solchen, die es zum erstenmal kennen lernen, mit Vergnügen gelesen zu werden, sondern auch solche, denen es schon bekannt ist und die es noch keineswegs vergessen haben, lesen es nicht ohne Vergnügen nochmals, und beide Arten von Menschen hören es gerne einmal. Was aber jemand bereits vergessen hat, darüber wird einer belehrt, sobald er wieder daran erinnert wird. Jetzt handle ich jedoch nicht vom Ergötzen, sondern ich spreche von der Art, wie diejenigen zu belehren sind, die etwas lernen wollen. Die beste Art ist die, welche bewirkt, daß der Zuhörer das Wahre hört und daß er auch versteht, was er hört. Hat man dieses Ziel einmal erreicht, so hat man sich nicht weiter zu bemühen, über die Sache selbst jetzt immer noch weitere Belehrung zu geben, sondern man empfehle S. 184sie jetzt so, daß sie nun auch im Herzen hafte. Wo dies notwendig erscheint, da hat es aber trotzdem in bescheidenen Grenzen zu geschehen; denn sonst verursacht man schließlich Überdruß.
11. Kapitel: Eine klare Ausdrucksweise braucht nicht anmutslos zu sein
26. Die Beredsamkeit, die belehren will, stellt sich nicht die Aufgabe, daß nun das wohlgefalle, was bisher abschreckte oder daß nun das getan werde, wovor man bisher Abscheu hatte, sondern sie besteht durchweg darin, daß klar gemacht werde, was bisher unbekannt war. Geschieht dies aber auf eine anmutslose Art, dann ziehen daraus nur ein paar Leute mit besonders großem Lerneifer einen Nutzen, die einen Gegenstand kennen lernen wollen, selbst wenn er mit ganz gewöhnlichen und ungebildeten Worten dargelegt wird. Haben sie diesen Zweck erreicht, so finden sie in der Wahrheit selbst einen ergötzenden Genuß; und dies ist in der Tat die auszeichnende Anlage guter Talente, die in den Worten liegende Wahrheit, nicht aber die Worte selbst zu lieben. Denn was nützt ein goldener Schlüssel, wenn er nicht öffnen kann, was wir wollen; was schadet aber ein bloß hölzerner, wenn er das kann? Wir wollen ja doch nichts anders als nur, daß überhaupt offen sei, was verschlossen war. Weil aber zwischen Essen und Lernen eine gewisse Ähnlichkeit besteht, so müssen wegen des Ekels, den sonst sehr viele empfinden würden, selbst die notwendigsten Nahrungsmittel gewürzt werden.
12. Kapitel : Von der dreifachen Aufgabe des Redners, zu belehren, zu ergötzen und zu rühren
27. Ein beredter Mann also hat die wahren Worte gesprochen, der Redner müsse so sprechen, daß er S. 185belehre, ergötze und rühre. Er fügt dann bei: „Das Belehren ist notwendige Voraussetzung, das Ergötzen macht die Rede angenehm, die Kunst des Rührens endlich verschafft den Sieg.“ Die an erster Stelle geforderte Voraussetzung, nämlich die Notwendigkeit des Belehrens, liegt in dem Stoff unserer Rede selbst; die beiden anderen aber in der Art, wie wir reden. Wer also zum Zwecke der Belehrung spricht, der nehme, solange er nicht verstanden wird, an, er habe zu seinem Schüler überhaupt noch nicht gesagt, was er beabsichtigt. Denn wenn er auch gesagt hat, was er selbst versteht, so darf er doch nicht glauben, er habe es nun auch schon dem gesagt, von dem er nicht verstanden worden ist. Ist er aber einmal wirklich verstanden worden, so ist die Mitteilung tatsächlich erfolgt, ganz gleich, in welcher Weise er nun gesprochen hat. Kommt es ihm aber auch noch darauf an, seine Zuhörer zu ergötzen oder zu rühren, so wird er dieses Ziel nicht durch die nächstbeste Ausdrucksweise erreichen, sondern es hängt sehr viel davon ab, wie er spricht, um zu seinem Ziel zu gelangen. Wie man aber den Zuhörer ergötzen muß, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln, so muß man ihn anderseits rühren, um ihn zum Handeln zu bestimmen. Und zwar wird der Zuhörer ergötzt, wenn du mit Anmut sprichst, und er wird gerührt, wenn er liebt, was du versprichst, fürchtet, was du androhst, haßt, was du anklagst; wenn er gerne tut, was du empfiehlst, wenn er das bedauert, was du bedauernswert nennst, wenn er sich darüber freut, was du freudig anpreisest, wenn er sich derer erbarmt, die du ihm durch deine Rede als erbarmungswürdig darstellst, und wenn er vor jenen flieht, vor denen du ihn durch Schreckensworte warnst. Dies und noch manches andere kann durch eine bedeutsame Beredsamkeit zur seelischen Ergreifung der Zuhörer geschehen. Es besteht dabei weniger die Absicht, ihnen erst mitzuteilen, was sie tun sollen, als vielmehr sie zu bestimmen, die schon erkannte Pflicht zu erfüllen.
28. Kennen sie aber ihre Pflicht noch nicht, so kommt es natürlich zuerst darauf an, sie erst einmal darüber zu belehren, bevor man sie rühren will. S. 186Vielleicht sind sie dann, wenn sie einmal die notwendige Sachkenntnis besitzen, schon so gerührt, daß hiezu größere Kräfte der Beredsamkeit gar nicht mehr in Bewegung gesetzt werden müssen. Im Falle der Notwendigkeit hat es indessen zu geschehen, und dieser Fall tritt dann ein, wenn sie trotz der Kenntnis ihrer Pflicht sie nicht erfüllen wollen. Darum ist es durchaus notwendig, daß eine Belehrung stattfindet. Denn nur was die Menschen wissen, das können sie tun oder lassen; wer möchte aber behaupten, sie seien verpflichtet etwas zu tun, was sie nicht kennen? Darum ist es auch andererseits nicht durchaus notwendig, eine Rührung hervorzurufen; denn das braucht es dann nicht mehr, wenn der Zuhörer schon der Belehrung oder auch bloß der Ergötzung zustimmt. Den endgültigen Sieg aber entscheidet die Rührung, weil ja der Mensch trotz Belehrung und Ergötzung seine Zustimmung verweigern kann. Was helfen aber dann Belehrung und Ergötzung, wenn die Zustimmung fehlt? Aber auch die Ergötzung ist nicht etwas durchaus Notwendiges; denn wenn gemäß der Aufgabe der Belehrung die Wahrheit durch das Reden nachgewiesen wird, so hat die Rede doch nicht den Zweck und die Absicht, daß die Wahrheit oder die Rede selbst ergötze, sondern die geoffenbarte Wahrheit ergötzt an und für sich, eben weil sie wahr ist. Darum ergötzen gar oft selbst falsche Behauptungen, wenn sie als solche nachgewiesen und widerlegt worden sind. Sie ergötzen nämlich nicht deshalb, weil sie falsch sind, sondern weil es wahr ist, daß sie falsch sind; und es ergötzt auch die Rede, durch die dieser Nachweis geliefert wurde.
13. Kapitel: Die hervorragende Bedeutung der Rührung
29. Um jener Menschen willen jedoch, deren verderbtem Geschmack die Wahrheit nur dann zusagt, wenn auch der Vortrag des Redners gefällt, ist in der Beredsamkeit auch der Ergötzung ein nicht geringer Spielraum eingeräumt. Aber selbst dieses Zugeständnis genügt für harte Herzen nicht: ihnen bringt es keinen Nutzen, daß sie durch die Rede des Lehrenden zur S. 187Erkenntnis gebracht und ergötzt worden sind. Denn welchen Vorteil bringen Belehrung und Ergötzung einem Menschen, der die Wahrheit zwar anerkennt und die Rede auch lobt, ihr aber gleichwohl seine (innere) Zustimmung versagt, um deretwillen allein doch der Redner bei allem, was angeraten wird, seine Absicht auf die besprochenen Dinge lenkt? Werden nämlich solche Dinge gelehrt, bei denen es schon genügt, sie bloß zu glauben oder zu kennen, so ist schon das bloße Bekenntnis ihrer Wahrheit zugleich auch die Zustimmung hiezu; werden aber sittliche Pflichten gelehrt, und zwar in der Absicht, um jemanden zu ihrer Erfüllung zu bestimmen, so ist es ganz umsonst, bloß von ihrer Wahrheit überzeugt zu sein, und es ist ganz umsonst, wenn einem die Art gefällt, wie sie vorgetragen werden: es kommt nur darauf an, daß die Belehrung so gegeben wird, daß man die sittliche Pflicht auch wirklich erfüllt. Wenn also der kirchliche Redner eine Pflicht einschärft, dann muß er nicht bloß lehren, um zu unterrichten und darf nicht bloß ergötzen, um zu fesseln, sondern er muß auch rühren, um zu siegen. Denn derjenige muß noch durch eine erhabene Beredsamkeit zur Zustimmung hingerissen werden, bei dem dies weder der bis zu seinem Zugeständnis geführte Beweis der Wahrheit noch auch die Zugabe eines anmutigen Stiles bewirkte.
14. Kapitel: Ein bloß anmutiger Stil kann bedenklich werden
30. Auf diese Anmut (des Stiles) verwenden die Menschen soviel Mühe, damit so viele und große Übel und Schandtaten, die man nicht bloß nicht tun, sondern vielmehr fliehen und verabscheuen sollte, die aber gleichwohl bösen und schändlichen Menschen auf die beredteste Weise eingeredet wurden, gelesen würden, nicht zwar, um ihnen zuzustimmen, sondern nur, um sich daran zu ergötzen. Es bewahre aber Gott seine Kirche vor dem, was der Prophet Jeremias von der Synagoge der Juden mit folgenden Worten erwähnt: „Dinge zum Entsetzen und Schauder sind im Lande geschehen: die Propheten weissagten Ruchloses, und die Priester S. 188klatschten Beifall dazu mit ihren Händen und mein Volk hatte seine Freude daran. Und was werdet ihr erst noch in der Zukunft tun?“ O Beredsamkeit! Je feiner, um so schrecklicher und je gediegener, um so heftiger! O Axt, die wahrhaft Felsen spaltet! Denn daß sein durch die heiligen Propheten gesprochenes Wort wirklich einer Axt ähnlich ist, das hat Gott selbst gerade durch diesen Propheten gesagt. Ferne sei es daher, ja ferne sei es von uns, daß die Priester denen, die Ruchloses reden, mit den Händen Beifall klatschen und daß das Volk seine Freude daran hat. Ferne sei von uns, sage ich, ein solcher Wahnsinn! Denn was werden wir erst in der Zukunft tun? Und mögen unsere Worte auch weniger verstanden werden und mögen sie weniger gefallen und weniger rühren, so soll doch nur Wahres gesprochen und Gerechtes, nicht Ruchloses gerne gehört werden. Letzteres würde gewiß nicht geschehen, wenn es nicht auf anmutige Weise vorgebracht würde.
31. Bei einem ernsten Volk, von dem zu Gott gesprochen wurde: „Bei einem ernsten Volk werde ich dich loben“, erregt nicht einmal jene Anmut Ergötzen, die nichts Ruchloses sagt, sondern die bloß kleine und hinfällige Güter mit so schäumendem Wortschwall schmückt, wie nicht einmal große und unvergängliche Güter bei gemessenem Anstand und Ernst geschmückt werden sollten. Etwas solches findet sich z. B. in einem Brief des höchst seligen Cyprian, was wohl nur deshalb zufällig oder absichtlich geschehen ist, um die Nachwelt zu überzeugen, wie sehr die gesunde christliche Lehre die Sprache von dieser Überfülle zurückgerufen und in die Schranken einer ernsteren und maßvolleren Beredsamkeit gewiesen hat. Ein Muster dieser Beredsamkeit liebt man in seinen folgenden Schriften ohne Gefahr, sucht es mit frommem Sinn nachzuahmen, kann es jedoch nur sehr schwer erreichen. Cyprian sagt also S. 189einmal irgendwo: „Laßt uns diesen Sitz hier aufsuchen; Abgeschiedenheit bietet die nahe Einsamkeit, wo das Laubdach eine Rebenhalle gebildet hat, indem die hinschlängelnden Reben in herabhängenden Verschlingungen an den lasttragenden Weinpfählen kriechen.“ So kann man sich nur mit wundersam überreicher Wortfülle der Beredsamkeit ausdrücken, man erregt aber durch eine solche allzu große Wortfülle das Mißfallen ernster Männer. Wer für einen solchen Stil eine Vorliebe hat, der glaubt, daß jene, die sich einer anderen, knapper bemessenen Redeweise bedienen, nicht absichtlich jene Redeweise vermeiden, sondern überhaupt nicht so sprechen können. Daher hat jener heilige Mann gezeigt, er könne so sprechen, weil er wenigstens an einer Stelle tatsächlich so gesprochen hat, und er wolle nicht so sprechen, weil er sich später nirgends mehr so ausdrückt.
15. Kapitel: Der christliche Redner muß sich nicht bloß durch Studium, sondern ebenso auch durch frommes Gebet auf seine Predigt vorbereiten
32. Da also unser (kirchlicher) Redner nur gerechte, heilige und gute Dinge bespricht und etwas anderes auch gar nicht besprechen darf, so richtet er beim Reden sein Augenmerk darauf, daß er mit verständigem, willigem und gehorsamem Herzen angehört werde. Und soweit ihm das überhaupt möglich ist, kann er es ohne Zweifel durch frommes Gebet eher als durch gewandtes Reden erreichen. Darum sei er durch sein Beten für sich und seine Zuhörer zuvor ein Beter, bevor er ein Redner wird. Wenn dann die Stunde zum Sprechen selbst heranrückt, erhebe er, bevor er seinen Mund zum Vortrag öffnet, die dürstende Seele zu Gott, auf daß er (nur solches) verkünde, was er (im Gebete) eingesogen, oder darlege, was er selbst schon erfüllt hat. Denn da über jeden Gegenstand, der nach der Norm des Glaubens und der Liebe behandelt werden soll, gar vieles gesagt werden kann, und da es von Sachverständigen S. 190auf gar vielerlei Weise gesagt werden kann, wer weiß da, was gerade für diesen Augenblick uns zu sagen oder anderen durch unsere Vermittlung zu hören frommt, als derjenige, der die Herzen aller durchschaut? Und wer bewirkt, daß wir reden, was und wie wir sollen, als jener, in dessen Hand wir und unsere Reden sind? Wer daher selbst erkennen und andere belehren will, der lerne alles, was gelehrt werden soll und erwerbe sich auch, wie es einem Mann der Kirche ziemt, die Befähigung zu reden. Ist aber dann die Stunde der Rede selbst herangerückt, so bedenke er lieber, daß für eine gute Gesinnung die Worte des Herrn passen: „Seid nicht besorgt darüber, wie oder was ihr reden sollt; denn in jener Stunde wird es euch schon gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn nicht ihr seid es da, die reden, sondern der Geist eures Vaters, der in euch redet.“ Wenn also der Heilige Geist in denen redet, die den Verfolgern für Christus übergeben werden, warum dann nicht auch in denen, die Christum den Lernenden übergeben?
16. Kapitel: Der christliche Redner darf sich natürlich nicht bloß auf den Gnadenbeistand Gottes verlassen
33. Wer aber behauptet, man dürfe den Menschen über Inhalt und Form der Rede keine Vorschrift machen, da es ja der Heilige Geist ist, der sie zu Lehrern macht, der kann geradeso gut auch sagen, man dürfe nicht beten, weil ja der Herr sagt: „Euer Vater weiß, was euch notwendig ist, noch bevor ihr ihn darum bittet“, oder der Apostel Paulus habe dem Timotheus und Titus nicht vorschreiben dürfen, was und wie sie andern wieder vorschreiben sollten. Und doch muß der, dem das Amt eines Lehrers in der Kirche obliegt die an diese beiden Jünger gerichteten drei Briefe vor Augen haben. Liest man denn nicht im ersten Brief an S. 191Timotheus: „Solches kündige an und lehre!“ Was aber damit gemeint ist, das ist schon früher gesagt. Heißt es nämlich nicht: „Einen älteren Mann fahre nicht an, sondern rede zu ihm, wie zu einem Vater!“ Und wird ihm nicht im zweiten Brief gesagt: „Halte fest an dem Vorbild der gesunden Lehre, die du von mir gehört hast!“ Wird ihm dort nicht gesagt: „Beeifere dich, vor Gott bewährt zu sein als ein Arbeiter, der sich nicht zu scheuen hat, der das Wort der Wahrheit rein und lauter ausspendet.“ Dort finden sich auch die Worte: „Verkündige das Wort, halte die Leute an, ob es nun gelegen ist oder ungelegen, überführe, ermahne inständig, rüge mit aller Langmut und Belehrung!“ Sagt er nicht ebenso im Briefe an Titus, ein Bischof müsse der Lehre gemäß am zuverlässigen Worte festhalten, damit er tüchtig sei, in der gesunden Lehre zu unterweisen und diejenigen, die dagegen reden, zu überführen? Dort sagt er auch: „Du aber rede, was der gesunden Lehre geziemt, daß die älteren Männer nüchtern seien usw..“ Dort finden sich auch die Worte: „Solches lehre und schärfe ein und weise zurecht mit allem Ansehen! Keiner möge dich mißachten! Ermahne sie, den Fürsten und Obrigkeiten Untertan zu sein usw..“ Was sollen wir darum annehmen? Ist der Apostel mit sich selber im Widerspruch, wenn er einerseits sagt, man werde durch die Wirkung des Heiligen Geistes zu Lehrern gemacht, und ihnen doch anderseits Inhalt und Form der Lehre vorschreibt? Oder ist es so zu verstehen, daß trotz der Gnadenmitteilung des Heiligen Geistes selbst bei der Belehrung der Lehrer auch menschliche Beihilfe fortwährend tätig sein muß und daß gleichwohl weder der etwas ist, welcher pflanzt, noch der, welcher begießt, sondern nur Gott, der das Gedeihen gibt? Daher lernt selbst durch Vermittlung heiliger Männer oder selbst durch die Tätigkeit der Engel niemand recht, was zum Leben mit Gott gehört, S. 192wenn er nicht für Gott gelehrig gemacht wird von Gott selbst, zu dem im Psalm gesprochen wird: „Lehre mich deinen Willen tun, denn du bist mein Gott!“ Daher sagt auch der Apostel Paulus zu demselben Timotheus, obgleich er als Lehrer zum Schüler spricht: „Du aber beharre bei dem, was du gelernt hast und was dir anvertraut worden ist, da du weißt, von wem du gelernt hast!“ Die leiblichen Arzneimittel, wie sie Menschen einander reichen, nützen nur denen, welchen Gott die Gesundheit schenkt; Gott kann ja auch ohne Heilmittel Heilung schenken, während die Heilmittel ohne Gott keine Heilung vermitteln können; trotzdem werden sie angewendet: geschieht es in dienstfertiger Absicht, so wird dies (auch wenn sie nichts helfen) unter die Werke der Barmherzigkeit oder Wohltätigkeit gerechnet. Ebenso nützen auch die Heilmittel der Lehre, die durch Menschen der Seele gereicht werden, nur dann, wenn Gott ihren Nutzen bewirkt, der auch sein Evangelium dem Menschen nicht von Menschen noch auch durch einen Menschen (sondern nur durch den Gottmenschen Christus) geben konnte.
17. Kapitel: Der Stil der Rede muß je nach ihrer dreifachen Aufgabe verschieden sein
34. Wer sich also bestrebt, durch Reden etwas Gutes anzuraten und dabei keines der drei Mittel, nämlich das Belehren, Ergötzen und Rühren, außer acht läßt, der muß beten und arbeiten, daß er, wie oben erwähnt, mit verständigem, willigem und gehorsamem Herzen angehört werde. Tut er es in passender und geziemender Weise, so kann er mit Recht beredt genannt werden, auch wenn er die Zustimmung seines Zuhörers nicht erlangt. Auf die eben angeführten drei Zwecke, nämlich auf das Belehren, Ergötzen und Rühren, scheint der schon erwähnte Meister der römischen Beredsamkeit S. 193auch die bekannten drei Stile bezogen zu haben, wenn er an der dort zitierten Stelle sagt: „Der also wird beredt sein, der einen bescheidenen Stoff im niedrigen, einen mäßigen im gemäßigten und einen bedeutenden Stoff im erhabenen Stil behandeln kann.“ Es scheint fast, als wollte er damit auf die erwähnten drei Redeziele anspielen und als wollte er ein und dieselbe Behauptung mit den Worten erklärt haben: „Der also wird beredt sein, der zum Zwecke der Belehrung einen bescheidenen Stoff im niedrigen, zum Zwecke der Ergötzung einen mäßigen Stoff im gemäßigten und zum Zweck der Rührung einen bedeutenden Stoff im erhabenen Stil behandeln kann.“
18. Kapitel: Der christliche Redner muß seinen Stil seinem immer erhabenen Stoff anpassen
35. Diese drei Stücke könnte Cicero in der Form, wie er sie gegeben hat, wohl an Gerichtssachen nachweisen, nicht aber in unserem Fall, d. h. in kirchlichen Fragen, in denen sich die Art von Reden bewegt, über die wir belehren wollen. Dort heißt man nämlich die Fälle bescheiden, wo bloß über Geldangelegenheiten zu verhandeln ist, bedeutend aber solche, wo Heil und Leben von Menschen auf dem Spiele stehen; wo aber nichts Derartiges zu beurteilen ist und der Zuhörer zu keiner Tat oder Entscheidung veranlaßt, sondern nur ergötzt werden soll, da liegen die Dinge gleichsam in der Mitte und man sprach darum von mittelmäßigen, d. h. mäßigen Fällen. „Mäßig“ kommt aber von dem (an sich keinerlei Quantität ausdrückenden) Worte „Maß“, weshalb es eigentlich ein Mißbrauch und nicht ein im Wesen des Begriffes liegender Grund ist, warum man von „mäßig“ und nicht gleich von „klein“ spricht. In unseren S. 194 (kirchlichen) Reden ist aber alles, was wir sagen, groß; müssen wir ja doch alles, zumal das, was wir von erhabener Stelle (von der Kanzel) aus zum Volke sprechen, nicht auf das zeitliche, sondern auf das ewige Heil der Menschen beziehen und uns dabei vor dem ewigen Verderben hüten. Dies gilt so sehr, daß selbst dasjenige, was der kirchliche Lehrer über Gewinn oder Verlust in Geldsachen redet, nicht klein erscheinen soll, mag nun die Summe klein oder groß sein. Denn nichts Kleines ist die Gerechtigkeit, die wir sicherlich auch bei einer kleinen Summe wahren müssen; sagt ja doch der Herr: „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu.“ Etwas Geringes bleibt also an sich wohl etwas Geringes: im Geringsten aber treu zu sein, das ist etwas Großes. Das Wesen des Rundseins, daß man nämlich von einem Punkte in der Mitte aus gegen die Peripherie zu lauter gleiche Linien zieht, bleibt ein und dasselbe bei einer großen Scheibe und bei einer kleinen Münze; geradeso wird die Größe der Gerechtigkeit nicht kleiner, wenn etwas Kleines gerecht ausgeführt wird.
36. Als daher der Apostel von weltlichen Händeln sprach, und was meinte er dabei wohl anderes als Geldhändel, da sagte er: „Wagt es einer von euch, der mit einem anderen einen Rechtsstreit hat, die Sache vor ungläubigen (heidnischen) Richtern zur Entscheidung zu bringen und nicht vor den Heiligen (Gläubigen)? Oder wißt ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? Wenn nun durch euch die Welt gerichtet werden soll, seid ihr da unwürdig, den geringsten Streithandel zu entscheiden? Wißt ihr nicht, daß wir, um von irdischen Dingen zu schweigen, selbst die Engel richten werden? Habt ihr nun Streit über bloß zeitliche Dinge, so stellt die ersten besten, auch die niedrigsten Mitglieder der Gemeinde als Richter auf! Zu eurer Beschämung sage ich es: Ist denn keiner von euch verständig genug, um unter Brüdern Streit schlichten zu können? Muß denn der Bruder mit dem Bruder Prozeß führen und S. 195noch dazu vor Ungläubigen? Schon das ist allemal ein beklagenswerter Mangel, daß ihr überhaupt Streitigkeiten miteinander habt. Warum leidet ihr nicht lieber Unrecht? Warum laßt ihr euch nicht lieber übervorteilen? Statt dessen übt ihr selber Unrecht und Betrug, und zwar den Brüdern gegenüber. Oder wißt ihr denn nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden?“ Warum ist der Apostel so unwillig, warum tadelt, beschimpft, schilt und bedroht er die Korinther so? Warum bezeugt er seine Gemütserregung durch einen so häufigen und bitteren Wechsel der Stimme? Warum endlich spricht er von den unbedeutendsten Dingen in so erhabenem Stile? Haben denn weltliche Dinge in seinen Augen so großen Wert? Das sei ferne! Er tut dies vielmehr wegen der Gerechtigkeit, Liebe und Frömmigkeit, lauter Tugenden, die, wie kein ruhig denkender Geist bezweifelt, auch in den kleinsten Dingen groß sind.
37. Wollten wir die Menschen unterrichten, wie sie auch ihre weltlichen Rechtshändel vor den kirchlichen Richtern für sich und die Ihrigen führen sollen, so würden wir sie mit Recht dazu auffordern, dieselben als unbedeutende Angelegenheiten im niederen Stil zu behandeln. Da wir aber von der Sprache eines Mannes reden, der über jene Dinge belehren soll, durch die wir von den ewigen Übeln frei werden und zu den ewigen Gütern gelangen, so sind es immer große Dinge, mögen sie vor dem Volk oder vor einzelnen, vor einem oder vor mehreren, vor Freunden oder vor Feinden, in fortlaufender Rede oder in der Unterredung, in Abhandlungen oder in Büchern, in sehr langen oder in ganz kurzen Briefen behandelt werden. Sollte etwa deshalb, weil ein Becher kalten Wassers eine sehr geringe und wertlose Sache ist, der Ausspruch des Herrn auch etwas ganz Geringes und Wertloses sein, daß der seinen Lohn nicht verliere, der einem seiner Schüler einen solchen Becher reicht? Oder soll ein Redner, der darüber in der Kirche spricht, S. 196glauben, er bespreche nur etwas Geringfügiges und dürfe daher nicht im gemäßigten oder erhabenen, sondern müsse im niederen Stil sprechen? Ist nicht, als wir einmal darüber zum Volke redeten und wir dabei durch Gottes Beistand nicht unpassend sprachen, aus jenem kalten Wasser gleichsam eine Flamme entstanden, die auch die kalten Herzen der Menschen zur Übung der Werke der Barmherzigkeit durch die Hoffnung auf himmlischen Lohn entflammte?
19. Kapitel: Der christliche Redner darf aber trotz seines erhabenen Stoffes nicht immer nur im erhabenen Stile sprechen
38. Obgleich der christliche Lehrer ein Redner über große Dinge ist, so darf er doch darüber nicht die ganze Zeit im erhabenen Stil sprechen, sondern muß auch einmal im niederen reden, wenn er über etwas belehrt, und im gemäßigten, wenn er etwas lobt oder tadelt. Soll aber etwas getan werden und sprechen wir zu jenen, die es tun sollen, es aber nicht tun wollen, dann müssen große Dinge in erhabener und auf Rührung des Gemütes berechneter Weise gesprochen werden. Und manchmal kann es sogar vorkommen, daß über eine und dieselbe bedeutsame Sache im niederen Stil gesprochen wird, wenn sie gelehrt wird, im gemäßigten, wenn sie gepriesen wird und im erhabenen, wenn das ihr abgeneigte Gemüt zur Umkehr bestimmt wird. Was gibt es denn Größeres als Gott selbst? Wird über sein Wesen niemals eine Belehrung gelben? Oder darf derjenige, der über die Einheit der Dreifaltigkeit belehren will, etwa nur im (gewöhnlichen) niederen Umgangston sprechen, damit man die schwerverständliche Sache so gut, als es überhaupt möglich ist, verstehen kann? Sucht man bei einer solchen Belehrung Schönheiten und nicht vielmehr Wahrheiten? Soll der Zuhörer gerührt werden, auf daß er etwas tue, oder soll er nicht vielmehr bloß über etwas belehrt werden, was er lernen soll? Wenn aber dann Gott in seinem Wesen oder in seinen Werken gelobt S. 197werden soll, welches Ideal eines schönen und glänzenden Stiles böte sich da demjenigen dar, der Gott loben kann, soweit überhaupt der gelobt werden kann, den kein Mensch in geziemender Weise zu loben vermag und den jeder irgendwie loben muß! Wo aber dieser Gott nicht verehrt wird oder wo neben und sogar vor ihm Götzen, Dämonen oder sonst irgendein Geschöpf verehrt wird, da muß gewiß die Größe dieses Übels und die Notwendigkeit der Abkehr der Menschen davon im erhabenen Stil dargelegt werden.
20. Kapitel: Proben aus den heiligen Schriften für die verschiedenen Stilgattungen
39. Ein Beispiel des niederen Stiles findet sich, um mich in meinen Ausführungen deutlicher zu fassen, beim Apostel Paulus. Er sagt nämlich: „Saget mir, die ihr unter dem Gesetze stehen wollt: höret ihr denn (in der Gemeindeversammlung) nicht das Gesetz (des Moses) vorlesen? Da steht doch geschrieben: ‚Abraham hatte zwei Söhne, einen (Ismael) von der Magd und einen (Isaak) von der freien Gemahlin.‘ Der Sohn der Magd ist auf fleischlichem Wege geboren, der Sohn der Freien jedoch kraft (göttlicher) Verheißung. Diese Geschichte hat noch eine höhere Bedeutung: es sind da nämlich die beiden Testamente vorgebildet. Die Sklavin Agar stellt den alten, auf dem Sinai errichteten Bund dar, der auch seine Kinder zu Sklaven macht. Der Sinai ist nämlich ein Berg in Arabien (wo die Ismaeliten wohnen) und ist gleichbedeutend mit dem jetzigen Jerusalem. Das jenseitige (himmlische) Jerusalem aber, das ist die Freie, nämlich unsere Mutter.“ Ebenso spricht Paulus im niederen Stil, wo er Gründe angibt und sagt: „Brüder, ich spreche nach Menschenweise. Schon eines Menschen rechtskräftiges Testament kann keiner umstoßen oder durch Zusätze abändern. (Von Gott) sind nun dem Abraham und seinem Samen Verheißungen zugesagt. S. 198Es heißt da aber nicht in der Mehrzahl ‚und denen aus seinem Samen‘, sondern es heißt bloß in der Einzahl ‚und deinem Samen‘. Dieser Same ist Christus. Ich sage also: Dieses von Gott bestätigte Testament entkräftigt das 430 Jahre später gegebene Gesetz nicht, so daß die Verheißung unwirksam würde. Denn würde das Erbe kraft des Gesetzes zuteil, dann würde es ja nicht mehr auf der Verheißung beruhen; nun aber hat Gott das Erbe dem Abraham durch Verheißung zugesichert.“ Weil aber der Zuhörer auf den Gedanken kommen konnte, wozu denn das Gesetz überhaupt gegeben sei, wenn von ihm doch das Erbe nicht ausgehe, so hat sich der Apostel diesen Einwurf gleich selbst gemacht und gleichsam fragend gesagt: „Wozu also das Gesetz?“ Darauf antwortete er: „Der Übertretung wegen ist es (der Verheißung) hinzugefügt, bis jener Same (nämlich die Christenheit) käme, auf den die Verheißung lautete. Darum wurde es auch bloß durch Engel angeordnet durch die Hand einer Mittelsperson. Ein Mittler setzt mehr als eine Partei voraus, Gott aber ist nur einer.“ An dieser Stelle fiel ihm nun ein Einwurf ein, den er sich selber machte: „Steht aber darum das Gesetz den göttlichen Verheißungen feindlich gegenüber?“ Darauf gibt Paulus zur Antwort: „Das sei ferne!“ Und er rechtfertigt diese Behauptung mit den Worten: „Ja, wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das lebendig machen könnte, dann käme wirklich die Gerechtigkeit aus dem Gesetze. Aber die Heilige Schrift bezeugt, daß alles der Botmäßigkeit der Sünde unterworfen sei, auf daß die Verheißung durch den Glauben an Jesus Christus zuteil werde denen, die glauben usw..“ Zur Aufgabe der Belehrung gehört nicht bloß das Verborgene klar zu legen und die verschlungenen Knoten der Fragen zu lösen, sondern dabei auch anderen, sich zufällig ergebenden Fragen zu begegnen, damit unsere Worte dadurch nicht etwa entkräftet oder widerlegt werden. Es darf dies jedoch nur dann geschehen, wenn uns zugleich mit dem S. 199Einwurf auch seine Lösung einfällt, nicht daß wir schließlich eine Schwierigkeit vorbringen, die wir dann nicht beseitigen können. Geschieht es aber, daß man von einer Frage in eine andere fällt und daß daraus aufs neue sich ergebende Fragen behandelt und gelöst werden, so spinnt sich die Gedankenentwicklung in eine so lange Reihe von Beweisführungen aus, daß der Redner nur bei einem sehr guten und frischen Gedächtnis zur behandelten Hauptsache zurückfindet. Es ist aber sehr gut, den möglichen Einwurf gleich wenn wir auf ihn stoßen, zu widerlegen, sonst tritt er uns vielleicht irgendwo entgegen, wo ihn niemand beantworten kann. Er könnte auch einem Zuhörer begegnen, der zwar zugegen ist, sich aber schweigsam verhält: so einer müßte dann weggehen, ohne ganz geheilt zu sein.
40. Gemäßigt ist der Stil in folgenden Worten des Apostels: „Einen älteren Mann fahre nicht mit harten Worten an, sondern rede ihm zu wie einem Vater; jüngere Männer behandle wie Brüder, ältere Frauen wie Mütter, jüngere wie Schwestern!“ Ebenso ist der Stil auch in den Worten: „So beschwöre ich euch denn, Brüder, bei der Erbarmung Gottes, ihm euren Leib als ein lebendiges, heiliges, wohlgefälliges Opfer zu weihen!“ Fast die ganze Stelle dieser Ermahnung hat den gleichen gemäßigten Stil; dabei sind die schönsten Stellen dort, wo sich ein besonderer Gedanke zu seinem besonderen sprachlichen Ausdruck verhält wie die Schuld zu ihrer Bezahlung. So ist es z. B. im folgenden: „Nach der uns verliehenen Gnade haben wir nun aber auch verschiedene Gaben (und Pflichten): wer die Gabe der Prophetie hat, der halte sich an die Richtschnur des Glaubens; hat jemand ein Kirchenamt, der besorge, was zur Verwaltung seines Dienstes gehört; der Lehrer halte sich an seine Lehre; der erbauende Redner kümmere sich um die Erbauung; der Armenpfleger spende seine Gabe in Herzenseinfalt; der Vorsteher erfülle mit rastlosem Eifer seine Pflicht; der Krankenwart versehe S. 200seinen Dienst mit freudigem Sinne! Die Liebe zu Gott sei aufrichtig! Verabscheuet das Böse, haltet fest am Guten) Liebet einander mit herzlichem Wohlwollen wie Geschwister; kommet euch gegenseitig mit Ehrerbietung zuvor! Sorget mit unverdrossenem Eifer für alle; seid inbrünstig im Geiste und dienstbeflissen dem Herrn! Freuet euch in der Hoffnung (auf künftigen Lohn), bleibet standhaft in der Trübsal, beharrlich im Gebete! An den Bedürfnissen der Gläubigen nehmet innigen Anteil; befleißigt euch der Gastfreundschaft! Segnet die, welche euch verfolgen; segnet sie und fluchet nicht! Freuet euch mit den Fröhlichen, weinet mit den Weinenden! Seid einträchtig untereinander!“ Und wie schön schließt er all diese Ergießungen mit der zweigliedrigen Wendung: „Strebet nicht nach höherer Stellung, seid zufrieden mit einem geringeren Dienste!“ Und weiter unten sagt der Apostel: „Gebet somit immer jedem, was ihm zukommt: Steuer wem Steuer, Zoll wem Zoll, Ehrfurcht wem Ehrfurcht, Achtung wem Achtung gebührt!“ Auch diese einzelnen Satzglieder werden wieder mit einer zweigliedrigen Wendung abgeschlossen: „Bleibet niemandem etwas anderes schuldig, als daß ihr einander liebet!“ Kurz nachher sagt er: „Die Nacht (des gegenwärtigen Lebens) ist vorgeschritten, der Tag (der Ewigkeit) ist nahe. So lasset uns denn die Werke der Finsternis ablegen und anziehen die Waffen des Lichtes! Wie am hellen Tag lasset uns ehrbar wandeln, nicht bei Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Unlauterkeit und Ausschweifung, nicht in Zank und Neid! Ziehet vielmehr den Herrn Jesus Christus an; und was euer Fleisch will, das tuet nicht in eurer Sinnlichkeit!“ Ein anderer würde bei dieser Stelle vielleicht mit einem wohlklingenden Schluß die Ohren kitzeln; aber der ernstere Übersetzer wollte lieber seine (weniger rhythmische) Wortfolge beibehalten. Wie dies vollends im Griechischen, in welcher Sprache doch die Apostel redeten, klingt, das mögen jene entscheiden, die darin bis zu diesen S. 201Feinheiten herab gebildet sind. Mir scheint unsere in derselben Wortfolge gefertigte (lateinische) Übersetzung keinen rhythmischen Ausgang zu haben.
41. Das muß man ja jedenfalls zugeben, daß unsere kirchlichen Schriftsteller den sogen. rhythmischen Satzschluß nicht kennen. Ob daran bloß die Übersetzer schuld sind oder ob sie, wie ich lieber glauben möchte, absichtlich auf solche gefällige Stilmittel verzichtet haben, das wage ich nicht zu entscheiden, denn ich muß meine Unkenntnis hierüber schon zugeben. Das aber weiß ich, daß einer, der von Rhythmus etwas versteht, bloß ihre Schlußsätze nach dem Gesetze dieses Rhythmus zu ordnen braucht, was durch Vertauschung mit einigen gleichbedeutenden Wörtern, ja schon durch bloße Umstellung der vorhandenen Wörter ganz leicht geschehen kann, um zu der Einsicht zu gelangen, daß jenen Männern Gottes nichts von den Künsten gemangelt hat, die er in den Schulen der Grammatiker und Rhetoren als etwas Großes erlernt hat. Er wird dabei sogar viele ausnehmend schöne Redensarten finden, die zwar hauptsächlich in ihrer (griechischen und hebräischen), aber immerhin auch in unserer (lateinischen) Sprache schön sind; von diesen Redensarten finden sich in den Schriften, die diese gelehrten Leute zu aufgeblasen machen, keine einzige. Man muß sich jedoch davor hüten, dem Gewicht der göttlichen Aussprüche nicht an Kraft zu entziehen, was man ihnen an Rhythmus gibt. (Letzteres ist gar nicht notwendig,) denn sogar die Kenntnis der Musik, worin der Rhythmus doch im vollsten Maße gelernt wird, hat unseren Propheten so wenig gefehlt, daß der hochgelehrte Hieronymus die von einigen derselben gebrauchten, rein hebräischen Versmaße eigens anführt; im Interesse des getreuen Wortlautes hat er die Versmaße aber nicht übersetzt. Um aber meine eigene Ansicht auszusprechen, die mir gewiß viel bekannter ist als anderen und als die Ansicht anderer, so gefällt mir, obgleich ich in meinem eigenen Sprachgebrauch jener rhythmischen Satzschlüsse innerhalb S. 202bescheidener Grenzen anwende, bei den heiligen Vätern der Umstand mehr, daß ich sie bei ihnen nur sehr selten finde.
42. Der erhabene Stil ist vom gemäßigten vor allem darin verschieden, daß er nicht so fast durch Wortschmuck geziert, als vielmehr durch Gemütsaffekte kräftig ist. Er verwendet zwar fast allen rhetorischen Schmuck jenes Stiles auch für sich, aber wo er ihm nicht (ungezwungen) zur Verfügung steht, da sucht er ihn nicht auf. Er stürmt vielmehr kraft des ihm selbst innewohnenden Schwunges dahin und reißt die Schönheit der Sprache mit sich fort, wo er ihr gerade begegnet, nimmt sie aber nicht deshalb in sich auf, weil er sich vielleicht eigens um solchen Schmuck kümmerte. Im Interesse seines Zweckes genügt es ihm, daß die entsprechenden Worte nicht mit ängstlicher Sorge um den Wohllaut ausgewählt werden, sondern daß sie dem Feuereifer der Seele folgen. Denn wenn ein tapferer, kampfbereiter Mann mit einem vergoldeten und mit Edelsteinen besetzten Schwerte bewaffnet wird, so führt er mit diesen Waffen seine Großtaten aus, nicht deshalb weil sie kostbar, sondern weil sie überhaupt Waffen sind; er bleibt aber ein und derselbe Mann und verrichtet die größten Heldentaten, auch wenn ihm sein Kampfeszorn die nächstbeste Waffe in die Hand drückt. — Dem Apostel kommt es einmal darauf an, daß im Dienste des Evangeliums alle Übel dieser Zeit mit dem Tröste der Gaben Gottes geduldig ertragen werden: dies ist eine große Aufgabe; erhaben ist auch wirklich die Art der (rhetorischen) Durchführung, wobei es auch am eigentlichen Redeschmuck nicht fehlt. „Siehe,“ sagt der Apostel, „nun ist die gnadenvolle Zeit da, jetzt ist der Tag des Heiles gekommen. In keinem Punkte geben wir Anstoß, damit unser Amt nicht getadelt werde. In allen Lebenslagen erweisen wir uns als Diener Gottes durch viele Geduld, in Qualen, in Nöten, in Ängsten, bei Schlägen, in Gefängnissen, bei Aufruhr, bei Mühen, bei Nachtwachen und bei Fasten, durch lauteren Lebenswandel, durch Erkenntnis, durch Langmut, durch Milde, durch den Heiligen Geist, durch ungeheuchelte S. 203Liebe, durch das Wort der Wahrheit, durch die Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit (gegen Feinde) von rechts und von links, durch Ehre und durch Schimpf, durch guten und schlechten Ruf; wir gelten als Verführer und sind doch wahrhaft, als unbekannte Menschen und sind doch wohlbekannt; wir gelten als Sterbende und siehe, wir leben; wir gelten als (vom Herrn) Gezüchtigte und sind doch noch nicht tot; wir sollen Grund zur Trauer haben und sind im Gegenteil immer frohen Mutes; wir gelten für arm und doch bereichern wir viele (mit geistlichen Gütern); man glaubt, wir hätten nichts und doch besitzen wir alles.“ Man beachte auch noch den glühenden Ausspruch: „Unser Mund ist aufgetan zu euch, ihr Korinther: mein Herz ist erweitert usw..“ Die ganze Stelle anzuführen würde zu weit führen.
43. Ebenso dringt Paulus (im Brief) an die Römer darauf, daß die Verfolgungen dieser Welt durch Liebe und durch die sichere Hoffnung auf Gottes Beistand überwunden werden. Dabei bedient er sich eines erhabenen, schmuckreichen Stiles: „Wir wissen, daß denen, die Gott lieben und nach seinem Ratschlüsse (zum Heile) berufen sind, alle Dinge zum Besten gereichen. Alle nämlich, die Gott von Ewigkeit her als die Seinigen erkannt hat, hat er auch dazu vorherbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu werden, auf daß er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die Gott aber so vorherbestimmt hat, diese hat er auch (zum Glauben) berufen, und die er berufen hat, die hat er auch gerechtfertigt, die er aber gerechtfertigt hat, die hat er auch verherrlicht. Welche Folgerung müssen wir nun daraus ziehen? Wenn Gott für uns ist, wer vermag dann etwas gegen uns? Wird er, der sogar seinen eigenen Sohn nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, uns mit ihm nicht auch alles schenken? Wer wird (vor Gericht) Anklage gegen die Auserwählten erheben? Etwa Gott, der uns rechtfertigt? Wer wird da sein, um uns zu verdammen? Etwa S. 204Christus Jesus, der (für uns) gestorben ist, ja der auch auferstanden ist, der nun sitzet zur Rechten des Vaters und der auch unser Fürsprecher ist? Wer wird uns trennen von der Liebe Christi? Etwa Trübsal oder Bedrängnis oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Ist ja doch (auch für uns) geschrieben: ‚Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag in Todesgefahr, dem Schlachtvieh sind wir gleichgeachtet.‘ Indes in all diesen Nöten siegen wir leicht durch den, der uns geliebt hat. Ich bin gewiß: weder Tod noch Leben, weder Engel noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Macht noch Höhe, noch Tiefe, noch irgend etwas anderes Geschaffenes wird mich trennen können von der Liebe Gottes, die da ist in Christus Jesus, unserm Herrn.“
44. Obgleich der Galaterbrief selbst ganz im niederen Stil geschrieben ist und nur in seinen letzten Teilen eine gemäßigte Sprache herrscht, so hat der Verfasser doch eine Stelle mit solcher Gemütsbewegung eingesetzt, daß man sie nur erhaben heißen kann, wenn sie auch keine von den Zierden wie die oben erwähnten Stellen aufweist. Es heißt da: „Bestimmte Tage und Monate und Jahre und Festzeiten beobachtet ihr ja bereits (wie die Juden). Da muß ich allerdings besorgen, mich vergeblich um euch bemüht zu haben. Seid wie ich bin, da ja auch ich bin wie ihr! Ich bitte euch darum, Brüder. Ihr habt mich bisher ja in keiner Weise gekränkt. Ihr wißt, wie ich trotz körperlicher Schwäche seiner Zeit das Evangelium gepredigt habe und wie ihr trotz meines (kranken) Fleisches die Versuchungen von euch gestoßen und mich nicht von euch gewiesen habt; ihr habt mich vielmehr wie einen Engel Gottes, ja wie Christus Jesus selbst aufgenommen. Wie fühltet ihr euch doch damals glücklich! Ich bezeuge, daß ihr euch womöglich die Augen ausgerissen hättet, um sie mir zu geben. Bin ich nun etwa darum euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit vorhalte? Euere Verführer S. 205bemühen sich eifrig um euch, aber nicht in guter Absicht. Sie wollen euch von uns trennen, damit ihr eifrige Anhänger ihrer Partei werdet. Eifer im Rechten ist etwas Schönes, wenn er beständig andauert und nicht bloß so lange, als ich bei euch bin. Meine Kindlein, die ich abermals gebäre, bis Christus in euch gestaltet worden ist! Wie sehr wünschte ich doch, jetzt persönlich bei euch zu sein und einen anderen Ton mit euch anschlagen zu können; denn jetzt bin ich in einer gewissen Verlegenheit vor euch.“ Werden vielleicht hier Gegensätze durch andere Gegensätze beantwortet oder in irgendeinem Steigerungsverhältnis verbunden oder hörte man da vielleicht Einschnitte, Glieder und Wendungen klingen? Und gleichwohl ist die erhabene Gemütsbewegung nicht abgeflaut, die, wie wir fühlen, der ganzen Sprache Wärme verleiht.
21. Kapitel: Stilproben aus den Kirchenlehrern
45. Die Worte des Apostels sind zwar klar, sie sind aber auch tief und so geschrieben und überliefert, daß sie nicht bloß einen Leser und Hörer, sondern auch einen Erklärer brauchen, wenn sich einer nicht mit der Oberfläche begnügt, sondern die Tiefe sucht. Daher wollen wir auch den Stil jener Männer kennen lernen, die durch die Lektüre jener Schriften zur Wissenschaft göttlicher und heilsamer Dinge gelangt sind und dieses Wissen wieder der Kirche übermittelt haben. Der heilige Cyprian bedient sich des niederen Stiles in jenem Buch, wo er über das Geheimnis des Kelches spricht. Darin wird nämlich die Frage gelöst, ob der Kelch des Herrn Wasser allein oder mit Wein vermischt enthalten müsse. Beispielshalber wollen wir daraus etwas anführen. Nach der Einleitung des Briefes beginnt er die gestellte Frage folgendermaßen zu lösen: „Wisse, daß wir zufolge der uns gewordenen Ermahnung bei Darbringung des Kelches die vom Herrn stammende S. 206Überlieferung beobachten sollen und daß von uns nichts geschehen darf, als was der Herr zuerst für uns getan hat, daß nämlich der Kelch, der zu seinem Andenken dargebracht wird, mit Wein gemischt und so dargebracht wird. Denn da Christus sagt: ‚Ich bin der wahre Weinstock‘, so ist sicherlich nicht das Wasser, sondern der Wein Christi Blut. Man kann auch nicht glauben, sein Blut, durch das wir erlöst und belebt worden sind, sei im Kelche, wenn in demselben nicht Wein ist, durch den Christi Blut angedeutet wird. Das wird aber durch den geheimnisvollen Sinn und das offene Zeugnis aller (heiligen) Schriften vorher verkündet. So finden wir im Buche Genesis bezüglich dieses Geheimnisses, daß Noe gerade darin vorausgegangen und gerade damit ein Vorbild des Leidens des Herrn gewesen ist, daß er Wein trank, sich berauschte, sich in seinem eigenen Hause entblößte und mit nackten und entblößten Schenkeln dalag. Diese Entblößung des Vaters wurde von seinem mittleren Sohn (mit Hohn) bemerkt, von den beiden anderen Söhnen, dem älteren und dem jüngeren, aber zugedeckt; was noch folgt, brauche ich nicht weiter zu verfolgen. Denn es genügt, uns einzig an die Tatsache zu halten, daß Noe, der ein Vorbild der künftigen Wahrheit darstellt, nicht Wasser, sondern Wein getrunken und so ein Bild des Leidens des Herrn dargestellt hat. Geradeso sehen wir in dem Priester Melchisedech das Geheimnis des Herrn vorgebildet nach dem, was die göttliche Schrift bezeugt, wenn sie sagt: ‚Und Melchisedech, der König von Salem, brachte Brot und Wein dar. Er war aber Priester des allerhöchsten Gottes und segnete den Abraham.‘ Daß aber Melchisedech ein Vorbild Christi darstellt, das erklärt der Heilige Geist in den Psalmen, wenn er in der Person des Vaters zum Sohne spricht: ‚Vor dem Morgenstern habe ich dich gezeugt; du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung des Melchisedech‘.“ Diese und S. 207die anderen noch folgenden Stellen des Briefes sind im niederen Redestil gehalten, wie die Leser leicht erkennen können.
46. Auch der heilige Ambrosius bedient sich bei der Behandlung einer bedeutenden Sache, nämlich bei dem Nachweis der Gleichheit des Heiligen Geistes mit dem Vater und dem Sohne, des niederen Stiles, weil dieser Gegenstand kein Wortgepränge oder eine mächtige innere Bewegung zur Rührung des Gemütes, sondern bloß sachgemäße Beweisgründe verlangt. Er sagt also am Anfang dieses Werkes unter anderem: „Durch diese Weissagung wurde Gedeon erschüttert. Da er gehört hatte, der Herr werde trotz des Abfalles Tausender aus den Völkern sein Volk durch einen einzigen Mann erretten, so brachte er einen Ziegenbock als Opfer dar. Nach der Weisung des Engels legte er dessen Fleisch und ungesäuerte Brote auf einen Felsen und goß Fleischbrühe darüber. Sobald nun der Engel mit der Spitze des Stabes, den er in der Hand trug, daran rührte, brach Feuer aus dem Felsen hervor und verzehrte das dargebrachte Opfer. Durch dieses Zeichen scheint erklärt worden zu sein, daß jener Fels das Vorbild des Leibes Christi darstellte, weil geschrieben steht: ‚Sie tranken aus dem folgenden Felsen; der Felsen aber war Christus.‘ Dies war aber sicherlich nicht mit Beziehung auf seine Gottheit, sondern in Hinsicht auf sein Fleisch gesagt; denn dies hat die Herzen der dürstenden Völker mit der nie versiegenden Quelle seines Blutes reichlich übergössen. Schon damals also wurde in geheimnisvoller Weise erklärt, daß der Herr Jesus, durch seine Kreuzigung im Fleische die Sünden der ganzen Welt, und zwar nicht bloß die sündhaften Taten, sondern selbst die bösen Begierden der Seele tilgte. Es bezieht sich nämlich das Fleisch des Ziegenbockes auf die Schuld der Tat, die Brühe aber auf die Lockungen der Begierlichkeit, wie geschrieben steht: ‚Und das Volk entbrannte in sehr böser Lust und sprach: Wer S. 208wird uns Fleisch zu essen geben?‘ Der Umstand aber, daß der Engel seinen Stab ausstreckte und den Weisen berührte, von dem dann Feuer ausging, zeigt an, daß das vom göttlichen Geist erfüllte Fleisch Christi alle Sünden der Menschheit verbrannte. Daher sagt der Herr: ‚Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu bringen‘.“ Was er an der Stelle noch weiter sagt, darin bemüht er sich vorzugsweise die Sache zu erklären und zu beweisen.
47. Zur gemäßigten Stilgattung gehört bei Cyprian das berühmte Lob der Jungfräulichkeit: „Jetzt haben wir zu den Jungfrauen zu sprechen, für die wir um so größere Sorge hegen, je erhabener ihr Ruhm ist. Sie sind die Blüten am Stamme der Kirche, die Zierde und der Schmuck der geistlichen Gnade, die erfreuliche Anlage, das reine und unversehrte Werk des Ruhmes und der Ehre, das der Heiligkeit des Herrn entsprechende Ebenbild Gottes, der erlauchteste Teil der Herde Christi. Ihrer freut sich, in ihnen erblüht üppig der ruhmreiche Schoß der Mutter Kirche, um je mehr die Schar der Jungfrauen noch weiter an Zahl zunimmt, desto größer wird auch die Freude der Mutter.“ An einer anderen Stelle gegen Ende dieses Briefes sagt Cyprian: „Wie wir das Bild dessen getragen haben, der von Lehm ist, so lasset uns auch das Bild dessen tragen, der vom Himmel ist! Dieses Bild trägt die Jungfräulichkeit, trägt die Reinheit, trägt die Heiligkeit und die Wahrheit; dieses Bild tragen alle, die der Zucht des Herrn gedenken, die an der Gerechtigkeit und Frömmigkeit festhalten, die standhaft sind im Glauben, demütig in der Furcht und entschlossen, alles mutig zu erdulden, die voll Sanftmut das Unrecht ertragen, bereitwillig Barmherzigkeit üben und in einmütiger Eintracht S. 209in brüderlichem Frieden leben. Dies alles, ihr guten Jungfrauen, müßt ihr beobachten, lieben und erfüllen, die ihr, nur Gott und Christus ergeben, mit dem größeren und besseren Teil zu dem Herrn voranschreitet, dem ihr euch geweiht habt. Ihr Älteren, macht die Lehrerinnen der Jüngeren; ihr Jüngeren, macht die Dienerinnen der Älteren und dient den Gleichaltrigen zum Ansporn! Treibt euch an durch gegenseitige Ermunterungen; feuert einander an durch wetteifernde Beweise der Tugend, damit ihr zur Herrlichkeit gelangt! Harret mutig aus, fahret fort im Geiste, erreichet glücklich das Ziel! Nur gedenket dann auch unser, wenn die Jungfräulichkeit anfängt in euch verherrlicht zu werden!“
48. Auch Ambrosius hält im gemäßigten blühenden Stil denen, die Jungfräulichkeit gelobt haben, gleichsam ein Muster zur Nachahmung vor und sagt: „Maria war Jungfrau nicht bloß dem Leibe, sondern auch dem Geiste nach: kein verhohlenes Buhlen, mit dem sie die Reinheit der Gesinnung verletzte. Von Herzen demütig, in Worten bedächtig, klugen Sinnes, im Gespräch mehr karg, um so eifriger in der Lesung. Nicht auf das Unzuverlässige des Reichtums, sondern auf das Gebet der Armen setzte sie ihre Hoffnung. Sie war bedacht auf die Arbeit, sittsam in der Rede, gewohnt, nicht einen Menschen, sondern Gott als Zeugen ihres geistigen Sinnes beizuziehen. Niemand beleidigte sie, meinte es allen gut, erhob sich vor älteren Personen, war gegen ihresgleichen nicht gehässig, mied eitles Prahlen, folgte der Vernunft, liebte die Tugend. Wann hätte sie auch nur mit einer Miene den Eltern wehe getan? Wann sich mit den Verwandten entzweit? Wann niedere Leute verachtet? Wann die Bresthaften verlacht? Wann einen Dürftigen gemieden? Sie war gewohnt, nur solche Mannspersonen aufzusuchen, vor denen die Barmherzigkeit nicht zu erröten, an denen das Zartgefühl nicht vorüberzugehen brauchte. Nichts Scheeles lag in ihren Augen, nichts Freches in ihren Worten, nichts Schamloses in ihrem Benehmen. Die Haltung war nicht zu weichlich, S. 210der Gang nicht zu ausgelassen, die Rede nicht zu leichtfertig, so daß schon die äußere Erscheinung ein Abbild ihres Geistes, ein Sinnbild ihrer Tugendhaftigkeit war. Ein gutes Haus muß doch schon im Vorraum als solches sich erkennen, zum voraus beim ersten Betreten schon ersehen lassen, daß sich im Innern keine Finsternis birgt: so soll auch unser Geist wie ein Licht, das im Innern auf den Leuchter gestellt ist, seinen Schein nach außen werfen. Was soll ich des weiteren auf das karge Maß ihrer Speisen, auf das überreiche ihrer (religiösen) Übungen hinweisen? Das eine überstieg die natürliche Kraft, das andere war fast nicht mehr natürlich. Hier gab es keinerlei Unterbrechung, dort verdoppelte Fasttage. Und wenn sich einmal das Verlangen nach Erquickung einstellte, dann diente meist die nächstbeste Speise mehr dazu, den Tod zu verhüten, denn Genusse zu gewähren usw..“ Diese Stelle habe ich deswegen als Beispiel eines gemäßigten Stiles angeführt, weil Ambrosius hier nicht solche, die noch nicht gelobt haben, zur Ablegung des Gelübdes der Jungfräulichkeit auffordert, sondern einfach schildert, wie diejenigen sein müssen, die sich dem Herrn schon durch ein Gelübde versprochen haben. Denn sollte der Geist einen Vorsatz von solcher Bedeutung erst fassen, dann muß er sicherlich dazu durch den erhabenen Stil angeregt und entzündet werden. — Der Märtyrer Cyprian hat allerdings bloß über die Haltung (de habitu) der Jungfrauen geschrieben und nicht über die Übernahme des Gelübdes der Jungfräulichkeit, und dennoch hat jener Bischof die Jungfrauen zu diesem Zweck mit einer erhabenen Sprache angefeuert.
49. Aus einem von beiden Männern behandelten Stoff will ich nun zwei Proben des erhabenen Stiles anführen: beide zogen nämlich einmal gegen jene Frauen los, die sich mit Schminke färben oder, besser gesagt, S. 211mißfärben. Der erste von ihnen sagt bei Behandlung dieses Stoffes unter anderem: „Wenn ein Meister der Malerei das Gesicht, die Gestalt und die körperliche Beschaffenheit eines Menschen ganz täuschend in Farben dargestellt hätte und ein anderer wollte an das schon fertige und vollendete Bild Hand anlegen und das schon Gestaltete, das schon Gemalte umarbeiten, als verstünde er es besser, so würde das als eine schwere Beleidigung für den ersten Künstler gelten und seine Entrüstung darüber würde berechtigt erscheinen. Und du glaubst, die Vermessenheit deines so gottlosen Treibens, die Verletzung des göttlichen Meisters werde dir ungestraft hingehen? Gesetzt auch, du seiest trotz der buhlerischen Schminken den Menschen gegenüber nicht unzüchtig und unkeusch, so bist du doch eines schlimmeren Vergehens schuldig als eine Ehebrecherin, nachdem du das, was Gottes ist, verdorben und verletzt hast. Was du für Schmuck, was du für Putz hältst, das ist ein Angriff auf das göttliche Werk, ist eine Fälschung der Wahrheit. Ein Wort des mahnenden Apostels lautet: ‚Schaffet hinaus den alten Sauerteig, damit ihr ein neuer Teig seid, gleichwie ihr ungesäuert seid! Denn auch unser Osterlamm, Christus, ist geopfert. Darum lasset uns Feste feiern nicht im alten Sauerteig und nicht im Sauerteig der Bosheit und Nichtswürdigkeit, sondern im ungesäuerten Teig der Lauterkeit und Wahrheit!‘ Hat etwa Lauterkeit und Wahrheit Bestand, wenn das, was lauter ist, durch unechte Farben befleckt, wenn das Wahre durch künstliche Mittel in Lüge verkehrt wird? Dein Herr sagt: ‚Du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen.‘ Und du willst die Macht haben, das Wort deines Herrn zu widerlegen, färbst in frechem Unterfangen und in gotteslästerlicher Mißachtung deine Haare, legst dir in schlimmer Vorahnung der Zukunft schon im voraus flammenfarbige Haare bei. ….“ Doch es würde zu weit führen, hier alles einzufügen, was noch folgt.
S. 212 50. Ambrosius aber sagt in seiner Klage über solche Frauen folgendermaßen: „… Daher stammen auch jene Reizmittel zur Sünde. In der Besorgnis, den Männern zu mißfallen, schminkt man sich mit künstlichen Farben das Gesicht und schweift mit seinen Gedanken vom schamlos gefälschten Gesicht zu schamloser Verletzung der Keuschheit. Welch unsinnige Torheit liegt in dem Beginnen, sein natürliches Bild zu verändern, ein übermaltes zu schaffen und, während man ein mißbilligendes Urteil des Gatten scheut, zu verraten, daß man sich selbst mißfällt! Denn eine solche fällt zuvor ein Urteil über sich, wenn sie das Aussehen zu ändern sucht, das ihr von Geburt eignet. Während sie auf solche Weise anderen zu gefallen strebt, muß sie doch zuvor sich selbst mißfallen. Könnten wir, o Weib, einen unparteiischeren Richter deiner Häßlichkeit beiziehen als dich selbst, als deine Angst dich (mit dem wahren Gesicht) sehen zu lassen? Bist du schön, wozu das Verbergen? Bist du unschön, wozu eine erlogene Schönheit? Du wirst so weder das Wohlgefallen des eigenen Gewissens noch des irregeführten anderen Teiles gewinnen. Er liebt ja eine andere, du begehrst einem anderen zu gefallen. Und du willst aufgebracht sein, wenn er seine Liebe einer Dritten schenkt? An dir doch hat er das schamlose Treiben gelernt, du bist die schlimme Lehrerin des Unrechts, das dir widerfährt. Sogar eine solche, die sich dem Verführer in die Arme geworfen, verschmäht es, selbst die Verführerin zu spielen. Ist sie auch ein feiles Weib, macht sie sich doch nicht fremder, sondern nur eigener Sünde schuldig. Und fast erträglicher erscheint in diesem anderen Fall die Lasterhaftigkeit; denn da wird die Keuschheit, in unserem Fall die Natur geschändet.“ Aus diesen Mahnungen geht, wie ich meine, deutlich genug hervor, daß die Frauen ihr Gesicht nicht durch Schminke fälschen sollen und daß sie sich bei Anwendung einer solchen Beredsamkeit heftig zu Scham und Furcht angetrieben fühlen müssen. S. 213Darum können wir diesen Stil auch nicht für einen niedrigen oder gemäßigten, sondern durchaus nur für einen erhabenen erklären. Die zwei Kirchenväter, die ich allein von allen anführen wollte, und andere kirchlich gesinnte Männer haben das Gute wirklich gut, d. h. so wie es der Gegenstand verlangt, scharfsinnig und in blühendem, feurigem Stil besprochen. In ihren vielen Schriften und Reden lassen sich alle drei Stilgattungen auffinden und können durch eifriges Lesen oder Anhören in Verbindung mit eigener Übung von solchen, die einen Lerneifer hiezu haben, angeeignet werden.
22. und 23. Kapitel: Von der Abwechslung in den einzelnen Stilgattungen: 22. Kap.
(51.) Niemand soll es nun für einen Verstoß gegen die Rhetorik halten, wenn man diese drei Stilgattungen miteinander vermischt, im Gegenteil: die Rede soll darin, soweit es angängig erscheint, einen Wechsel aufweisen. Denn wenn sie einmal in einem Stil zu lange fortgesponnen wird, dann fesselt sie den Zuhörer nicht mehr so stark; geht man aber von einem Stil zum andern über, so schreitet die Rede selbst bei längerer Dauer geziemend fort. Allerdings haben ja im mündlichen Vortrag die einzelnen Stilgattungen wohl ihre Schattierungen, welche die Aufmerksamkeit und Teilnahme der Zuhörer nicht ermatten oder erkalten lassen; aber gleichwohl läßt sich z. B. der niedere Stil für sich allein doch noch leichter ertragen als wie der erhabene. Denn je mehr wir die Gemütsbewegung des Zuhörers erregen müssen, um seine Zustimmung zu erlangen, um so weniger können wir ihn für längere Zeit darin festhalten, wenn sie bis zum höchstmöglichen Grad angespannt werden mußte. Darum haben wir zu besorgen, es möchte das, was wir durch Gefühlserregung bis zu einer gewissen Höhe gebracht haben, bei noch weiterer Anspannung wieder von seinem Höhepunkt herabsinken. Gibt es aber rednerische Zwischenteile, die im niederen Stil zu sprechen sind, so kann man (nach einiger Zeit) recht gut wieder auf solche Abschnitte zurückgreifen, die im erhabenen Stil gesprochen werden S. 214müssen, so daß der Strom der Rede wie die Meeresbrandung steigt und fällt. Das ist der Grund, weshalb der erhabene Redestil, wenn er für längere Zeit verwendet werden soll, nicht immer ein und derselbe bleiben darf, sondern durch (gelegentliche) Einschaltung eines anderen Stiles Abwechslung bekommen soll. Der Stilgattung nun, die dabei den größten Raum einnimmt, der wird dann die ganze Rede zugeteilt.
23. Kapitel
(52.) Von Bedeutung ist dabei, welcher Stil nun gerade zwischen einen anderen gesetzt oder an bestimmten Stellen notwendig verwendet werden soll. So muß z. B. auch beim erhabenen Stil wenigstens die Einleitung immer oder fast immer gemäßigt sein. Ebenso steht es dem Redner frei, manche Stellen, die er recht gut im erhabenen Stil sprechen könnte, aus dem Grund sogar im niederen Ton zu sprechen, damit so die erhabener vorgetragenen Abschnitte im Vergleich zu jenen schlichten Partien noch an Erhabenheit gewinnen und wie durch Schatten noch mehr ins Licht gestellt werden. Bei jeder Darstellungsart gibt es aber einmal besonders schwierige Fragen zu lösen, wo eine scharfsinnige Erörterung notwendig wird: solche Stellen sind das eigentliche Verwendungsgebiet für den niederen Stil. Deshalb hat man sich, wenn die Rede auf solche Dinge kommt, dieses Stiles zu bedienen, wenn auch ein anderer Stil gerade vorherrschend im Gebrauche ist. Wird dagegen etwas gelobt oder getadelt, ohne daß jemand verurteilt oder freigesprochen werden soll, oder ohne daß von jemandem eine Zustimmung zu einer Handlung gefordert wird, so ist auch innerhalb einer jeden anderen Darstellungsart der gemäßigte Stil anzuwenden, Daher finden in der erhabenen Stilgattung auch die beiden anderen ihren Platz, und ähnlich ist es bei der niedrigen. Der gemäßigte Stil dagegen bedarf nicht immer, sondern nur bisweilen des niederen: einmal wenn, wie gesagt, Fragen unterlaufen, wo Knoten zu lösen sind und dann, wenn einzelne Stellen, die ganz gut ausgeschmückt werden könnten, deshalb absichtlich nicht geziert, sondern in der niederen Redeart gesprochen werden, damit sie bestimmte andere Stellen, die den S. 215Wülsten (in der Architektur) vergleichbar sind, um so stärker hervortreten lassen. Den erhabenen Stil vollends braucht der gemäßigte gar nicht, da er ja bloß zur Ergötzung, nicht aber zur Rührung des Herzens Verwendung findet.
24. Kapitel: Die Wirkung des erhabenen Stiles
53. Damit, daß der Redner durch häufige und laute Beifallsrufe unterbrochen wird, ist die Annahme, er habe nun wirklich erhaben gesprochen, noch keineswegs gerechtfertigt; denn diesen Erfolg bewirken schließlich auch die Feinheiten eines niedrigen oder der Schmuck eines gemäßigten Stils. Was aber wirklich eine erhabene Rede ist, das drückt viel eher durch sein Gewicht solche Zurufe nieder und preßt Tränen aus, Zu Cäsarea in Mauretanien bestand einmal ein Bürgerkampf, diese Bezeichnung reicht eigentlich gar nicht mehr aus, weil, wie man sagt, ein Haufe gegen den anderen stand. Nicht mehr bloß die Bürger an sich, sondern selbst Verwandte, Brüder, ja sogar Väter und Söhne waren in zwei Parteien geteilt und bekämpften sich zu bestimmten Zeiten des Jahres einige Tage hindurch mit Steinen, wobei jeder den tötete, den er konnte. (Als ich nun dem Volke daselbst diese Streitigkeiten abriet,) da sprach ich, so gut ich es vermochte, im erhabenen Stil, um ein so grausames und tief eingewurzeltes Übel aus ihren Herzen und Gebräuchen zu reißen und durch meine Rede ganz zu verdrängen. Solange ich nun bloß ihre Beifallsrufe hörte, glaubte ich noch nichts ausgerichtet zu haben, wohl aber als ich ihre Tränen sah. Durch ihre Zurufe gaben sie nämlich bloß zu erkennen, daß sie unterrichtet und ergötzt würden, durch ihre Tränen aber, daß sie gerührt seien. Sobald ich diese Zähren sah, war ich überzeugt, daß eine so unmenschliche, von den Vätern, Großvätern, ja seit alters von den Vorfahren ererbte Gewohnheit, die ihr Herz in feindlicher Weise umlagerte, ja schon förmlich ganz innehatte, nun vollständig besiegt sei, bevor sie ihre Versöhnlichkeit noch tatsächlich bewiesen. Da schloß ich meine Rede S. 216gar bald und lenkte Herz und Mund zum Dank gegen Gott. Und nun sind es schon fast acht, ja vielleicht noch mehr Jahre, seitdem daselbst durch Christi Gnade nichts Derartiges mehr versucht wurde. Es stehen mir übrigens noch viele andere Erfahrungen darüber zur Verfügung, daß die Leute den Eindruck einer erhabenen Rede eines weisen Mannes nicht durch Geschrei, sondern durch Seufzen, manchmal selbst durch Tränen, endlich durch Änderung ihres Lebenswandels kund gaben.
54. Auch durch die niedere Redensart sind ja schon gar manche bekehrt worden: das geschah aber immer so, daß sie nun etwas wußten, was ihnen bisher unbekannt war oder glaubten, was ihnen vorher unglaublich schien, nicht aber so, daß sie nun etwas taten, was sie bis dahin zwar schon als ihre Pflicht erkannten, gleichwohl aber noch nicht tun wollten: um einen derartig verhärteten Sinn zu brechen, muß man erhaben sprechen. Es können ja wohl auch Lob und Tadel, die dem gemäßigten Stil angehören, wenn sie aus beredtem Munde gespendet werden, auf den einen oder anderen einen solchen Eindruck machen, daß er sich bei Lob und Tadel nicht bloß über die schöne Rede freut, sondern daß er auch darnach strebt, lobwürdig zu leben und ein tadelnswertes Verhalten zu meiden. Aber ändern sich etwa alle, die ergötzt werden, ebenso sicher, wie bei der erhabenen Darstellung alle handeln, die gerührt werden, oder wie beim niederen Stil alle, die belehrt werden, wissen oder glauben, daß das wahr sei, was sie nicht wissen?
25. Kapitel: Die Verwendung des gemäßigten Stiles
55. Für den also, der weise und beredt sprechen will, ist folgerichtig an den beiden zuletzt genannten Stilen vor allem der Umstand von notwendiger Bedeutung, daß ihre Absicht auf die Erreichung eines tatsächlichen Erfolges abzielt. Die Absicht des gemäßigten Stiles jedoch, durch die Rede bloß zu ergötzen, darf kein S. 217selbständiger Zweck des Redners werden; (sie ist nur gestattet,) damit nützliche und sittlich erlaubte Dinge infolge der in dar Rede liegenden Kraft der Ergötzung um so leichter und nachhaltiger Zustimmung finden; vorausgesetzt ist dabei, daß die Zuhörer der Belehrung oder der Rührung nicht mehr bedürfen, da sie die Dinge selbst schon kennen und ihnen nicht abgeneigt sind. Es ist überhaupt Pflicht der Beredsamkeit, in geeigneter Weise zum Zweck einer Überredung zu sprechen, ganz gleich, welcher von den drei genannten Stilgattungen sie sich nun bedient; das Ziel der Beredsamkeit ruht darin, durch das Reden zu der beabsichtigten Wirkung zu überreden; darum spricht der beredte Mann zwar an sich in jeder der drei Stilarten passend für diesen Zweck der Überredung: aber erst mit der Tatsache der Überredung hat er sein Ziel erreicht. Er überredet aber im niederen Stil, wenn er einen von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt; er überredet im erhabenen Stil, daß man das tut, was man als Pflicht erkennt und doch nicht vollführt; und er überredet im gemäßigten Stil, wenn er in schöner, zierlicher Rede darlegt, wozu uns etwas notwendig ist. Nach dem letzten Stil mögen jene streben, die sich einer blühenden Sprache rühmen dürfen und mit Festreden und ähnlichen Reden prunken, wo der Zuhörer weder belehrt noch zu einer bestimmten Tat veranlaßt, sondern bloß ergötzt werden soll. Wir aber wollen dieses Ziel anderswohin lenken und wollen die eigentlich dem erhabenen Stil vorbehaltene Absicht, nämlich Liebe zum Guten und Abscheu vor dem Bösen zu bewirken, auch durch den gemäßigten Stil erzielen. Dies wird uns dann gelingen, wenn die Menschen einer solchen Handlungsweise nicht so entfremdet sind, daß sie dazu durch den erhabenen Stil gedrängt werden müssen oder wenn sie das schon tun, was sie noch eifriger und unerschütterlicher tun sollten. Darum bedienen wir uns auch des gemäßigten Stiles nicht mit Prunksucht, sondern mit Klugheit; wir begnügen uns aber nicht mit seinem nächsten Ziel, der Ergötzung der Zuhörer, wir haben vielmehr die Absicht, dadurch dem Zuhörer zu dem Guten zu verhelfen, das wir ihm einreden wollen.
26. Kapitel: Man darf nicht mit einer bestimmten Stilgattung ausschließlich ein bestimmtes der drei rhetorischen Ziele erreichen wollen
S. 218 56. Die drei oben angeführten Punkte, daß der weise Redner, wenn er auch beredt sprechen will, darauf schauen müsse, mit verständigem, willigem und gehorsamem Herzen gehört zu werden, sind nicht so zu verstehen, daß sie sich genau auf die drei Redestile verteilen und daher zum niederen Stil nur ein verständiger, zum gemäßigten nur ein williger und zum erhabenen nur ein gehorsamer Sinn gehöre, sondern der weise Redner hat immer alle drei Punkte ins Auge zu fassen und nach Kräften anzustreben, auch wenn er nur in einem einzelnen Stil spricht. Wir wollen ja nicht, daß dasjenige Widerwillen errege, was wir im niedern Stil sagen, und daher wollen wir, daß die (durch den einfachen Stil vermittelte) Wahrheit nicht bloß mit verständigem, sondern auch mit willigem Herzen angehört werde. Was haben wir dann, wenn wir unsere Lehre durch göttliche Zeugnisse bekräftigen, für eine Absicht, als daß wir gehorsamen Herzens angehört werden, das heißt, daß man unter dem Gnadenbeistand dessen, von dem es heißt; „Deine Zeugnisse sind sehr glaubhaft gemacht worden“, unseren Worten Glauben schenke? Was anders als Glauben wünscht derjenige, der auch im niederen Stil den Lernbegierigen etwas erzählt? Wer aber wollte ihn hören, wenn er nicht auch durch einige Anmut die Zuhörer fesselte? Wenn er natürlich gar nicht verstanden wird, so kann er selbstverständlich weder willigen noch gehorsamen Herzens gehört werden. Wenn aber der niedere Stil sehr schwierige Fragen löst und mit unerwarteter Klarheit darlegt, wenn er die scharfsinnigsten Gedanken wider Erwartung aus kaum geahnten Winkeln herbeizieht und vorzeigt, wenn er den Irrtum des Gegners widerlegt und das als falsch nachweist, was jener ganz unwiderleglich gesagt zu haben schien, vor allem wenn er nicht gesuchte, sondern S. 219gleichsam natürliche Anmut und einigen nicht prahlerischen, sondern notwendigen und, um mich so auszudrücken, den Dingen selbst abgerungenen Rhythmus der Schlußglieder hat, so erntet selbst dieser Stil so große Beifallsbezeigungen, daß man kaum bemerkt, daß er bloß der niedere Stil ist. Denn obgleich dieser Stil nicht im Festschmuck einhergeht und obgleich er nicht bewaffnet, sondern gleichsam nur nackt kämpft, so erdrückt er doch den Gegner mit seinen nervigen Armen, wirft den Widerstrebenden über den Haufen und zerstört mit seinen riesenstarken Gliedern das Gebäude der Falschheit. Warum wird denn solchen Rednern häufig und laut Beifall geklatscht, wenn nicht darum, weil die auf solche Weise nachgewiesene, verteidigte und unbesiegte Wahrheit auch ergötzt? Darum soll unser Lehrer und Redner auch durch den niederen Stil zu bewirken suchen, daß er nicht bloß mit verständigem, sondern auch mit willigem und gehorsamem Herzen gehört werde.
57. Die Beredsamkeit des gemäßigten Stiles läßt der geistliche Redner weder ungeschmückt, noch ziert er sie in ungeziemendem Maße, Er hat nicht wie die andern einzig die Absicht zu ergötzen, sondern er will bei Lob und Tadel mit gehorsamem Herzen gehört werden, damit das Lobwürdige angestrebt oder kräftiger festgehalten und das Tadelnswerte gemieden oder verabscheut werde. Wird er aber nicht verständigen Sinnes gehört, so kann er auch nicht mit willigem Herzen gehört werden. Daher muß man auch bei diesem Stil, wo doch eigentlich die Ergötzung den ersten Rang einnimmt, nach dem dreifachen Zweck streben, daß die Zuhörer verstehen, sich ergötzen und gehorchen.
58. Wo es aber gilt, den Sinn des Zuhörers durch einen erhabenen Stil zu rühren und zu beugen, was dann der Fall ist, wenn er zwar die Wahrheit und Anmut der Rede zugesteht, gleichwohl aber das Gesagte nicht tun will, da muß ohne Zweifel auch wirklich erhaben gesprochen werden. Wer läßt sich aber rühren, wenn er nicht weiß, was gesagt wird? Oder wer kann überhaupt bloß S. 220zum Anhören der Rede vermocht werden, wenn er dabei keine Ergötzung findet? Daher kann selbst bei diesem Stil, wo das harte Herz durch die Erhabenheit des Ausdruckes zum Gehorsam gebeugt werden muß, das Anhören nur dann mit gehorsamem Herzen erfolgen, wenn der Redner auch mit verständigem und willigem Sinne gehört wird.
27. Kapitel: Das praktische Leben des Redners muß seinen theoretischen Forderungen entsprechen
59. Um aber gehorsamen Herzens angehört zu werden, hat das praktische Leben des Redners größeres Gewicht als jegliche Erhabenheit des Ausdrucks. Denn wer zwar beredt und weise redet, dabei aber ein schlechtes Leben führt, der unterrichtet zwar viele Lernbegierige, aber er schafft damit seiner eigenen Seele keinen Nutzen, wie geschrieben steht. Darum sprach auch der Apostel: „Wenn nur, es sei aus Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündet wird.“ Christus ist aber die Wahrheit, und doch kann auch die Wahrheit mit Unwahrheit verkündet, das heißt mit einem verkehrten und falschen Herzen das Rechte und Wahre verkündet werden. So wird aber Jesus Christus von denen verkündet, die das Ihrige suchen, aber nicht was Jesu Christi ist. Weil jedoch die guten Gläubigen nicht jeden beliebigen Menschen gläubigen Herzens anhören wollen, sondern den Herrn selbst, der gesprochen hat: „Was sie sagen, das tuet; was sie aber tun, das tut nicht! Denn sie sagen es zwar wohl, tun es aber nicht“, so werden selbst solche Leute mit Nutzen angehört, die nicht zu ihrem Nutzen handeln. Sie suchen zwar das Ihrige zu erjagen, aber sie wagen es nicht, das Ihrige zu lehren, wenigstens nicht von dem erhöhten Ort des kirchlichen Stuhles aus, den die gesunde Lehre aufgestellt hat. Bevor also der Herr von solchen Leuten die erwähnten S. 221Worte sprach, schickte er die Worte voraus: „Auf dem Lehrstuhl des Moses sitzen …“ Jener Lehrstuhl, der nicht ihnen, sondern dem Moses gehörte, zwang auch Übeltäter Gutes zu reden. In ihrem Leben führten sie wohl ihren schlechten Wandel; dieses (schlechte) Leben aber auch zu lehren, daran hinderte sie der ihnen nicht gehörige Lehrstuhl.
60. Solche Leute nützen also dadurch, daß sie das lehren, was sie selbst nicht tun; sie würden aber noch weit mehr Menschen nützen, wenn sie selber das auch täten, was sie sagen. Denn es gibt tatsächlich sehr viele Leute, die ihr eigenes schlechtes Leben mit dem Beispiel ihrer Vorgesetzten und Lehrer zu verteidigen suchen. Im Herzen, oder wenn sie herausplatzen, auch mit dem Munde, antworten sie und sagen: „Warum tust du selber das nicht, was du mir vorschreibst?“ Daher kommt es dann, daß sie den, der sich selbst nicht hört, auch nicht mit gehorsamem Herzen hören und zugleich mit dem Prediger auch das verkündete Wort Gottes verachten. Als darum der Apostel in seinem Brief an Timotheus gesagt hatte: „Niemand soll deine Jugend verachten!“, da fügte er auch den Weg bei, um der Verachtung zu entgehen mit den Worten: „Aber du selbst sei das Vorbild der Gläubigen in deiner Rede, deinem Wandel, deiner Liebe, deinem Glauben und in deiner Keuschheit!“
28. Kapitel: Man muß viel mehr nach Wahrheit ah nach schönen Worten streben
'61. Ein solcher Lehrer spricht, um nicht mit unverschämter Anmaßung, sondern mit gehorsamem Herzen gehört zu werden, nicht bloß niedrig oder gemäßigt, sondern auch erhaben, weil er nicht verächtlich lebt. Denn daß er ein gutes Leben sich erwählt, heißt, daß er auch den guten Ruf nicht gering schätzt und sich des Guten vor Gott und den Menschen befleißt, indem er S. 222 jenen nach Kräften fürchtet und für diese sorgt. Auch in der Rede selbst soll er lieber durch den Inhalt als durch die Form gefallen, den richtigsten Ausdruck der Wahrheit für die beste Sprache halten und als Lehrer nicht den Worten dienen; vielmehr lasse er die Worte dem Lehrer dienen. Das meint nämlich der Apostel mit den Worten: „… nicht in der Weisheit des Wortes, damit nicht das Kreuz Christi seinen Inhalt verliere.“ Darauf bezieht sich auch, was er an Timotheus schreibt: „Streite nicht mit Worten! Denn das bringt keinen Nutzen, sondern nur den Untergang der Zuhörer.“ Denn das ist nicht zu dem Zweck gesagt worden, daß wir zu Gunsten der Wahrheit nichts sagen sollen, wenn die Gegner sie bekämpfen. Wozu sollten denn sonst seine Worte dienen, wenn er beim Hinweis auf die notwendigen Eigenschaften eines Bischofs unter anderem sagt: „… damit er imstande ist, in der gesunden Lehre auch widersprechende Gegner zu widerlegen.“ Mit Worten streiten heißt nicht dafür Sorge tragen, daß der Irrtum von der Wahrheit besiegt werde, sondern darnach trachten, daß deine Ausdrucksweise der eines anderen vorgezogen werde. Wer darum nicht mit Worten streitet, der sucht, ob er nun im niederen, gemäßigten oder erhabenen Stil spricht, mit seinen Worten nur das Ziel zu erreichen, daß die Wahrheit klar gelegt werde, daß die Wahrheit gefalle, daß die Wahrheit Einfluß gewinne. Denn nicht einmal die Liebe, die doch das Ziel des Gebotes und die Fülle des Gesetzes ist, kann irgendwie recht sein, wenn der Gegenstand der Liebe nicht wahr, sondern falsch ist. Geradeso, wie einer, der zwar einen schönen Leib, aber eine häßliche Seele besitzt, deshalb mehr zu bedauern ist, als wenn er auch einen häßlichen Leib hätte, so sind auch jene, die etwas Falsches in beredter Form behandeln, deshalb mehr zu bedauern, als wenn sie es in unschönem Stil vorbrächten. Was heißt also nicht bloß beredt, sondern auch weise sprechen anders, als im niederen Stil S. 223zufriedenstellende, im gemäßigten glänzende und im erhabenen Stil gewaltige Worte für wahre Dinge gebrauchen, die man einzig und allein anhören sollte? Wer nicht beides zugleich kann, der sage lieber weise, was er nicht beredt sagen kann, als beredt, was er töricht sagt. Wer aber nicht einmal das kann, der lebe so, daß er nicht bloß sich selbst einen Lohn dafür erwerbe, sondern auch anderen ein gutes Beispiel gebe und daß die Norm seines Lebens seine Rednergabe sei.
29. Kapitel: Von der Benützung fremder Predigten
62. Es gibt Leute, die zwar einen guten Vortrag haben, die aber nicht imstande sind, den Stoff ihres Vortrages selber auszuarbeiten. Wenn nun solche etwas hernehmen, was von anderen weise und beredt geschrieben worden ist, dieses dann auswendig lernen und dem Volke vortragen, so handeln sie nicht ruchlos, wenn sie diese Rolle spielen. Denn wenn alle nach der Ansicht eines einzigen Lehrers sprechen und keine Spaltung unter ihnen herrscht, so erstehen der Wahrheit zum unbestreitbaren Nutzen zwar nicht viele Lehrer, aber viele Verkünder. Man braucht sich dabei auch nicht durch einen Ausspruch des Jeremias abschrecken lassen; durch diesen Propheten tadelt Gott nämlich jene, „welche die Worte stehlen voneinander“. Wer nämlich stiehlt, der nimmt fremdes Eigentum; das Wort Gottes ist aber für diejenigen, die es befolgen, kein fremdes Eigentum; eher spricht noch derjenige etwas, was nicht ihm gehört, der böse lebt, obwohl er gut spricht. Denn was er Gutes sagt, das scheint wohl von seinem Verstand erdacht zu sein, ist aber seinen Sitten fremd. Daher nannte Gott jene Leute Diebe seiner Worte, die dadurch, daß sie Gottes Sache reden, gut scheinen wollen, während sie doch dadurch, daß sie nur das Ihrige tun, böse sind. Wenn man nämlich der Sache auf den Grund sieht, so sind nicht sie selbst es, die da Gutes reden: wie könnten sie denn sonst in ihren S. 224 Werken das verleugnen, was sie mit ihren Worten behaupten? Darum hat der Apostel von solchen Leuten nicht umsonst gesagt: „Sie sagen zwar, sie kennen Gott, verleugnen ihn aber mit ihren Werken.“ Im gewissen Sinn sind sie es ja wohl selbst, die da reden, im gewissen Sinn sind sie es wieder nicht: über beides äußert sich die Wahrheit. Denn einerseits sagt sie von solchen Menschen: „Was sie sagen, das tut; was sie aber tun, das tut nicht!“ Das will sagen: Was ihr aus ihrem Munde hört, das tut; was ihr aber in ihren Werken sehet, das tut nicht! „Denn“, setzt sie bei, „sie sagen es zwar, tun es aber nicht.“ Wenn sie es also auch nicht tun, so sagen sie es doch. Andererseits aber beschuldigt die Wahrheit diese Leute an einer anderen Stelle, indem sie sagt: „Heuchler, wie könnt ihr Gutes reden, da ihr doch böse seid?“ Auch wenn sie also Gutes sprechen, so reden sie das nicht in eigener Person, da sie ja durch ihre Gesinnung und ihre Werke ihre Worte verleugnen. Wenn infolgedessen ein beredter, aber böser Mensch eine Predigt in Wahrheit zum Vortragen für einen zwar nicht beredten, aber guten Mann, auch persönlich verfaßt, so gibt er damit doch etwas her, was nicht sein Eigentum ist, während der Gute die Predigt (gleichsam) von einem Fremden empfängt, als wäre sie sein persönliches Eigentum. Wenn aber gute Gläubige diesen Dienst wieder anderen guten Gläubigen erweisen, so sprechen beide etwas, was ihnen zu eigen ist: denn Gott ist ja ihr Eigentum, dem ihre Worte gehören, und jene, die diese Worte zwar nicht selbst verfassen konnten, machen sie doch dadurch zu ihrem Eigentum, daß sie in aller Form darnach leben.
30. Kapitel: Der Redner muß ein Mann des Gebetes sein
63. Wer im Begriffe steht, vor dem Volk oder vor sonst irgend jemandem zu sprechen oder etwas zu diktieren, was vor dem Volk vorgetragen oder von einigen S. 225nach eigener Neigung oder Können gelesen werden soll, der bitte Gott, daß er ihm eine gute Rede in den Mund lege. Denn wenn schon die Königin Esther, als sie vor dem König für die zeitliche Wohlfahrt ihres Volkes sprechen wollte, betete, Gott möge ihr doch eine passende Rede in den Mund geben, um wieviel mehr muß dann der um Gewährung eines solchen Gnadengeschenkes beten, der für das ewige Heil der Menschen in Wort und Lehre arbeitet! Wer dagegen von anderen empfangene Reden vortragen will, der muß schon vor dem Empfange für die Verfasser beten, damit diesen das verliehen werde, was sie von ihnen empfangen wollen; nach dem Empfang aber sollen sie beten, daß sie selbst sie gut vortragen und daß die Zuhörer sie gut aufnehmen. Auch für den glücklichen Ausgang der Rede sollen sie dem Dank sagen, von dem sie ohne Zweifel diese Gnade empfangen haben, damit wer sich rühme, in demjenigen sich rühme, in dessen Hand wir und unsere Reden sind.
31. Kapitel: Schluß
64. Dies Buch ist nun aber länger geworden, als ich gewollt und geglaubt hatte. Für einen Leser oder Hörer, dem es willkommen ist, wird es aber doch nicht zu lang sein; wem es aber zu lang ist, der kann es ja abschnittweise lesen, falls er es kennen lernen will; will es einer aber gar nicht kennen lernen, dann braucht er auch über seine Länge nicht zu jammern. Ich aber sage unserm Gott Dank dafür, daß ich in diesen vier Büchern nach meinem geringen Vermögen auseinandersetzen durfte, nicht wie ich selbst bin — denn mir fehlt es an gar vielem —, sondern wie der sein soll, der in der gesunden, d. h. in der christlichen Lehre nicht bloß für sich, sondern auch für andere arbeiten will.