Anselm von Canterbury: Monologion

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Monologion - SeIbstgespräch
Anselm von Canterbury, verfasst 1076

Quelle: Anselm Stolz: Anselm von Canterbury (Gestalten des christlichen Abendlandes, Band 1), übersetzt von P. Bernhard Barth OSB, Verlag Kösel-Pustet München 1937, S. 73-173 (335 Seiten, Imprimatur Monachii, die 29. Aprilis 1937, F. Buchwieser).

Das Monologion ist die erste größere theologische Schrift Anselms. Es ist der literarischen Form nach eine "Betrachtung". Darin entfaltet sich diese in stillem Nachdenken und Forschen. Anselm möchte den Glauben mit notwendigen Gründen (rationibus necessariis) beweisen. Als Schüler von Lanfranc nutzt er dazu vor allem die Dialektik. Das Werk beschäftigt sich mit der Beweisbarkeit des Daseins Gottes, die trinitarischen Probleme werden ausführlich entwickelt. Es befasst sich auch mit der Schöpfung, in erster Linie aber doch mit der Divinitatis essentia (göttlichen Wesenheit), der alles übrige untergeordnet wird.

Inhaltsverzeichnis

Vorrede

Einige Brüder baten mich oft und angelegentlich, ich möchte ihnen doch etwas von dem, was ich ihnen über die Betrachtung der Wesenheit Gottes und einiges andere mit dieser Betrachtung Zusammenhängende in zwangloser Unterhaltung vorgebracht hatte, als eine Art Musterbetrachtung niederschreiben. Mehr ihrem Willen folgend als auf die Schwierigkeit der Sache und mein Können achtend, stellten sie mir für die Abfassung dieser Betrachtung folgende Regel auf: es solle darin gar nichts durch das Ansehen der Schrift zur Überzeugung gebracht, sondern in fasslicher Sprache, mit gemeinverständlichen Beweismitteln und in schlichter Gedankenführung solle die Richtigkeit dessen, was der Schlusssatz einer jeden Untersuchung behauptet, durch die nötigende Kraft der Vernunft kurz und zwingend erwiesen und durch das klare Licht der Wahrheit offen gezeigt werden. Des weiteren wünschten sie, ich solle auch auf die einfachen und nahezu albernen Einwände, die mir begegneten, einzugehen nicht verschmähen.

Lange sträubte ich mich, den Versuch zu machen, und indem ich hinwies auf das Missverhältnis zwischen mir und diesem Gegenstande, suchte ich mich mit vielen Gründen zu entschuldigen. Denn je leichter sie für ihren Gebrauch das Erbetene sich wünschten, um so schwerer war das, was zu schaffen sie mir auferlegten. Endlich jedoch besiegt durch das bescheidene Drängen der Bitten sowie durch die nicht zu verachtende Vortrefflichkeit ihres Eifers, begann ich das erbetene Werk, widerstrebend zwar wegen der Schwierigkeit der Sache und der Schwäche meiner geistigen Kraft; aber ihnen zuliebe habe ich es dann nach ihrer Bestellung, so gut ich konnte, gern vollendet.

Dabei leitete mich die Hoffnung, das von mir Gefertigte werde den Bestellern allein bekannt bleiben und gewiss von denen, die sich an dem elenden Ding nur langweilten, binnen kurzem beiseite gelegt werden. Ich weiß ja, dass ich damit nicht so sehr die Erwartungen der Bittsteller erfüllen konnte, als vielmehr den mich bedrängenden Bitten ein Ende gemacht habe. Da geschah, ich weiß nicht wie, etwas Unerwartetes: nicht nur die genannten Brüder, sondern noch viele andere bemühten sich, durch eigenhändiges Abschreiben diese Schrift einem Nachleben auf lange Zeit hinaus zu überantworten.

Ich selbst kann freilich trotz öfteren Durchlesens nicht finden, dass ich darin irgend etwas gesagt hätte, was sich nicht eng an die Schriften der katholischen Väter und besonders des heiligen Augustinus anschlösse. Sollte es darum einem Leser scheinen, als stelle ich in diesem Werkchen etwas auf, was gar zu neu ist oder von der Wahrheit abweicht, so bitte ich, er möge mich nicht sofort als einen verwegenen Neuerer oder Künder des Irrtums verschreien, sondern erst einmal des genannten Kirchenlehrers Augustinus Bücher über die Dreifaltigkeit sich genau ansehen und dann ihnen gemäß mein Werkchen beurteilen (Anselms Briefe I, 68, PL 158, II38f). Wenn ich nämlich behaupte (im Kapitel 79), bei der höchsten Dreifaltigkeit könne man von drei Substanzen sprechen, so bin ich hierin den Griechen gefolgt, welche drei Substanzen in einer Person bekennen in demselben Glauben, in dem wir drei Personen in einer Substanz bekennen (Anselms De fide trinitatis, PL 158, 284; Briefe I, 68, ibo 1139; Briefe I, 74, ibo 1144; Briefe IV, 104, PL 159, 252 ff.); denn bei ihnen bedeutet in Gott Substanz dasselbe, was bei uns Person. Und was immer ich darin gesagt habe, wurde dargeboten als vom Standpunkt dessen gesehen, der mit sich allein in Gedanken nachsinnt und das auszuforschen sucht, was er vorher noch nicht beachtet hatte; so wie ich wusste, dass jene es wollten, deren Bitte ich zu willfahren mich bemühte.

Denjenigen aber, der dieses Werkchen abschreiben will, bitte und beschwöre ich eindringlich, dass er diese Vorrede an den Anfang des Büchleins setze noch vor die eigentlichen Kapitelüberschriften. Denn ich glaube, der Leser wird bedeutend gefördert im Verständnis dessen, was er darin findet, wenn er von vornherein Absicht und Weg der Untersuchung kennt. Auch wird er wohl, wenn er zuerst die Vorrede gelesen hat, nicht vorschnell aburteilen, sollte er etwas finden, was gegen seine eigene Auffassung gesagt ist.

1. Kapitel: Es gibt ein Bestes, Größtes und Höchstes unter allem Seienden

Wenn einer die eine Natur nicht kennt, die höchste über all dem, was ist, die allein in ihrer ewigen Seligkeit sich selbst genügt, die durch ihre allmächtige Güte allen Dingen gibt und erwirkt, dass sie etwas sind und irgendwie gut sind; wenn einer, weil unbelehrt oder ungläubig, diese Natur nicht kennt und sehr vieles andere nicht, was wir von Gott und dessen Schöpfung unbedingt glauben: so kann er, wie mir dünkt, auch schon bei mittelmäßiger Begabung von dem eben Angeführten zum großen Teil sich selbst schon allein durch die Vernunft überzeugen. Dies kann er nun auf mancherlei Weise tun. Ich aber will nur einen Weg zeigen, den ich für den ihm nächstliegenden halte. Da nämlich alle Menschen nur jene Dinge zu genießen streben, die sie für gut halten, so liegt es nahe, einmal das innere Auge auf die Frage hinzuwenden, von woher alle die Dinge gut sind, die einer nur deshalb erstrebt, weil er sie für gut erachtet; so mag er dann, von der Vernunft geführt und ihr sich anschließend, vernünftigerweise zu dem voranschreiten, was er unvernünftigerweise noch nicht kennt. Wenn ich dabei etwas behaupten werde, was nicht durch höhere Autorität erwiesen wird, dann will ich, dass man es so annehmen möge: mag ein Satz auch noch so sehr aus den mir gut scheinenden Vernunftgründen sich als notwendige Folgerung ergeben, so soll er deswegen dennoch nicht als durchaus notwendig gelten, sondern nur als etwas, das man einstweilen dafür ansehen kann.

Es ist somit leicht möglich, dass einer schweigend also bei sich spricht: Wenn es so unzählige gute Dinge gibt, die wir in ihrer vielfachen Unterschiedenheit mit den körperlichen Sinnen erfahren und mit dem denkenden Geiste unterscheiden, muss man dann nicht glauben, dass es ein einziges Etwas ist, durch welches Eine alles, was gut ist, sein Gutsein hat, oder sind die einen Dinge gut durch dieses Gut und andere wieder durch ein anderes? Es ist nun ganz gewiss und allen, die aufmerken wollen, einleuchtend, dass alle Dinge, von denen ein bestimmtes Etwas ausgesagt wird, und zwar jeweils in höherem, niederem oder gleichem Maße, dass sie so benannt werden auf Grund (per) einer Wirklichkeit, die in den verschiedenen Dingen nicht jedesmal als eine andere, sondern durchgehend als ein und dieselbe erkannt wird, mag sie sich in ihnen auch in gleichem oder in ungleichem Maße zeigen. Wenn z. B. von mehreren Verhältnisweisen das Gerechtsein ausgesagt wird, von der einen in höherem, von der anderen in geringerem Maße, so gilt diese Aussage nur auf Grund (per) der Gerechtigkeit, die in den verschiedenen Fällen nicht jedesmal etwas anderes ist. Folglich, weil doch sicherlich alle guten Dinge, wenn sie untereinander verglichen werden, entweder gleich oder ungleich gut sind, ist es notwendig, dass sie alle gut sind auf Grund von etwas, das als ein und dasselbe erkannt wird in den verschiedenen guten Dingen - mag es auch zuweilen scheinen, dass Verschiedenes auf Grund von Verschiedenem gut genannt wird.

So wird, wie es scheint, das Pferd auf Grund von verschiedenen Eigenschaften gut genannt, einmal weil es stark ist, und dann weil es schnell ist. Wenn es nun gut genannt wird auf Grund der Stärke und gut auf Grund der Schnelligkeit, so scheint die Schnelligkeit und die Stärke nicht dasselbe zu sein. Wenn aber das Pferd deshalb gut ist, weil es stark und schnell ist, wieso ist dann der starke und schnelle Räuber schlecht? Es gilt also vielmehr dies: Wie der starke und schnelle Räuber schlecht ist, weil schädlich, so ist das starke und schnelle Pferd gut, weil es nützlich ist. Und wirklich wird gewöhnlich etwas für gut gehalten nur entweder wegen einer Nützlichkeit - so heißt die Gesundheit gut und das, was die Gesundheit fördert - oder wegen irgendwelcher Vortrefflichkeit - wie die Schönheit als gut erachtet wird und das, was der Schönheit dient.

Da aber der nunmehr klar durchschaute Vernunftgrund auf keine Weise widerlegt werden kann, so ist notwendig auch alles Nützliche und Vortreffliche, wenn es in Wahrheit Güter sind, durch dasselbe gut, wodurch notwendig alle Güter gut sind, was immer jenes Selbe auch sein mag. Wer möchte aber zweifeln, dass jenes Selbe, wodurch alle Güter gut sind, ein großes Gut ist? Dieses ist also gut durch sich selbst, da ja alles Gute durch es gut ist. Also folgt, dass alle anderen Güter durch etwas anderes gut sind, als was sie selbst sind, und dieses allein durch sich selbst. Aber kein Gut, das durch ein anderes (gut) ist, ist gleich oder größer als das Gut, das durch sich selbst gut ist. Jenes also ist allein im höchsten Maße gut, welches allein durch sich gut ist. Dies ist nämlich das Höchste, welches alles andere überragt und darum weder Seinesgleichen noch ein Höheres hat. Was aber im höchsten Maße gut ist, ist auch im höchsten Maße groß. Es ist also ein einziges höchst Gutes und höchst Großes, und dies ist das Höchste unter allem Seienden.

2. Kapitel: Derselbe Gegenstand

Wie sich bisher ergab, dass da ein höchst Gutes ist, weil alle Güter gut sind durch ein bestimmtes Etwas, das durch sich selbst gut ist, so lässt sich mit Notwendigkeit erschließen, dass da etwas höchst Großes ist, weil alles, was irgendwie groß ist, durch ein bestimmtes Etwas groß ist, das durch sich selbst groß ist. Ich spreche aber nicht von einem Großen dem Raume nach, wie ein Körper es ist; sondern von dem, das um so größer ist, je besser und edler es ist, wie die Weisheit. Und weil in höchstem Maße groß nur das sein kann, was in höchstem Maße gut ist, so muss es ein Größtes und Bestes geben, und dies ist das Höchste unter allem Seienden.

3. Kapitel: Es gibt eine Natur, durch die alles Seiende ist, und die durch sich selbst ist; sie ist das Höchste unter allem Seienden

Endlich ist nicht nur alles Gute gut durch dasselbe Etwas und alles Große groß durch dasselbe Etwas, sondern was überhaupt ist, scheint durch ein einziges Etwas zu sein. Denn alles, was ist, ist entweder durch etwas oder durch nichts. Aber nichts ist durch nichts. Es lässt sich nämlich nicht einmal denken, dass etwas nicht durch irgend etwas sei. Alles, was ist, ist also nur durch irgend etwas. - Da es sich nun so verhält, ist das, wodurch alles Seiende ist, entweder eins oder es sind deren viele. Wenn aber viele, dann gehen sie entweder auf ein einziges Etwas zurück, durch welches sie sind, oder jene Vielen sind einzeln durch sich oder sie sind gegenseitig durch sich. Sind nun jene Vielen durch ein Einziges, dann ist schon nicht mehr alles durch Vieles, sondern vielmehr durch jenes Eine, wodurch die Vielen sind. - Sind aber jene Vielen einzeln durch sich, dann gibt es jedenfalls eine bestimmte Kraft oder Natur des Durchsichseins, die sie befähigt, durch sich zu sein. Es ist aber kein Zweifel, dass sie durch eben dieses Eine sind, durch welches sie befähigt sind, durch sich zu sein. Es ist also richtiger, dass alles durch jenes Eine ist als durch die Vielen, die ohne jenes Eine nicht sein können. - Dass aber viele gegenseitig durch sich seien, das kann keine Vernunft zugeben, da es ein sinnloser Gedanke ist, dass ein Ding durch eben jenes sei, dem es das Sein gibt. Denn nicht einmal die aufeinander bezogenen Dinge sind in dieser Weise gegenseitig durch sich. Wenn z. B. Herr und Knecht aufeinander bezogen werden, sind die aufeinander bezogenen Menschen durchaus nicht gegenseitig durch sich, und ebenso sind die Beziehungen, durch die sie bezogen werden, durchaus nicht gegenseitig durch sich; denn sie sind durch ihre Träger. - Da also die Wahrheit in jeder Weise ausschließt, dass es eine Vielheit ist, wodurch alles ist, so ist notwendig das, wodurch alles Seiende ist, ein Einziges.

Weil nun alles Seiende durch dieses Eine ist, so ist ohne Zweifel auch dieses Eine durch sich selbst. Alle anderen Dinge sind somit durch ein Anderes, und dieses allein ist durch sich selbst. Was aber durch ein Anderes ist, hat weniger Sein als das, wodurch alles andere ist, und welches allein durch sich ist. Deshalb hat das, was durch sich ist, in höchstem Maße das Sein. Es gibt also ein einziges Etwas, dem allein in größtem und höchstem Maße Sein zukommt. Was aber von allem Seienden in größtem Maße ist, und durch welches ist, was auch immer gut oder groß und überhaupt, was immer etwas ist, das ist notwendig höchst gut und höchst groß und selbst das Höchste über all dem, was ist. Es gibt also etwas, mag es nun Wesenheit, Substanz oder Natur genannt werden, welches das Beste und Größte ist und das Höchste unter allem Seienden.

4. Kapitel: Derselbe Gegenstand

Weiterhin: Wenn einer die Naturen der Dinge beachtet, der - mag er wollen oder nicht - nimmt wahr, dass sie nicht alle in einer einzigen Ranggleichheit enthalten sind, sondern dass einige von ihnen sich durch Ungleichheit der Stufen unterscheiden. Wer nämlich daran zweifelt, dass das Pferd seiner Natur nach besser ist als der Baum, und der Mensch wertvoller als das Pferd, der sollte wahrhaftig nicht Mensch genannt werden. Wenn nun auch unleugbar von den Naturen die einen besser sind als die anderen, so überzeugt uns doch die Vernunft davon, dass eine bestimmte unter ihnen derart hervorragt, dass sie keine höhere über sich hat. Ist nämlich diese Stufenleiter in dem Sinne unendlich, dass es darin nach oben hin keine Stufe gibt, zu der sich nicht noch eine höhere fände, dann wird die Vernunft zu der Annahme geführt, dass die Vielheit dieser Naturen durch kein Ende abgeschlossen wird. Dies hält aber jedermann für widersinnig, er müsste denn selbst höchst widersinnig sein. Es ist also mit Notwendigkeit eine bestimmte Natur, die derart jeder anderen und allen anderen überlegen ist, dass es keine gibt, der gegenüber sie untergeordnet wäre.

Diese Natur aber, die so beschaffen ist, ist entweder allein oder es gibt deren mehrere, und zwar von gleicher Art. Gibt es nun mehrere und gleichartige, dann können sie nicht durch verschiedene Dinge gleich sein, sondern durch dasselbe Etwas; dann ist aber dieses Eine, wodurch sie in gleicher Weise so groß sind, entweder genau das, was sie selbst sind, d. h. ihre eigentliche Wesenheit (essentia), oder etwas anderes als das, was sie selbst sind. - Ist es nun nichts anderes als ihre Wesenheit, dann sind jene Naturen, deren Wesenheiten ja nicht mehrere sind, sondern nur eine, auch selbst nicht mehrere, sondern nur eine. Ich verstehe hier nämlich unter Natur dasselbe wie unter Wesenheit. - Ist aber das, wodurch diese mehreren Naturen so groß sind, ein anderes als das, was sie selbst sind, dann sind sie gewiss geringer als das, wodurch sie groß sind. Denn was immer durch ein anderes groß ist, ist geringer als das, wodurch es groß ist. Also sind sie nicht so groß, dass nichts anderes größer wäre als sie. - Wenn also mehrere solcher Naturen, denen gegenüber nichts vorzüglicher ist, weder durch das, was sie sind, noch durch etwas anderes ein Sein haben können, dann können in keiner Weise mehrere solcher Naturen sein. Es bleibt also nur übrig, dass es eine einzige Natur gibt, die derart höher ist als die anderen, dass sie keiner gegenüber geringer ist. Was aber von solcher Art ist, ist das Größte und Beste von allem, was ist. Es gibt also eine Natur, die das Höchste von allem Seienden ist. Das kann sie aber nicht sein, wenn sie nicht durch sich das ist, was sie ist, und alles Seiende durch sie das ist, was es ist. Da nämlich vorhin die Vernunft gelehrt hat, dass das, was durch sich ist, und wodurch alles andere ist, das Höchste ist von allem, was wirklich ist, so ist umgekehrt entweder das Höchste durch sich, und alles andere durch es, oder es sind mehrere Höchste. Dass es aber nicht mehrere Höchste gibt, ist offenkundig. Also gibt es eine gewisse Natur, Substanz oder Wesenheit, die durch sich gut und groß ist und durch sich ist, was sie ist, und durch welche ist, was immer wahrhaft gut oder groß oder irgend etwas ist, und die das höchste Gute, das höchste Große, das höchste Seiende oder Bestehende ist, also das Höchste unter allem Seienden.

5. Kapitel: Wie diese Natur durch sich und das andere durch sie ist, so ist sie auch aus sich und das andere aus ihr

Weil mir nun das Gefundene gefällt, ist es gut, zu untersuchen, ob diese Natur selbst und alles, was etwas ist, nur aus ihr ist, gleichwie beides nur durch sie ist. Es ist aber klar, dass man sagen kann, das, was aus etwas ist, sei auch durch dasselbe, und was durch etwas ist, sei auch aus demselben. Was z. B. aus dem Stoff und durch den Künstler ist, davon kann man auch sagen, es sei durch den Stoff und aus dem Künstler; denn durch beide und aus beiden, d. h. von beiden, hat es das Sein, obwohl es auf andere Weise durch den Stoff und aus dem Stoffe ist als durch den Künstler und aus dem Künstler. Es folgt also: Gleichwie alles Seiende durch die höchste Natur ist, was es ist - und darum ist diese Natur durch sich selbst, das andere aber durch ein anderes -, so ist alles Seiende aus dieser höchsten Natur; und deshalb ist sie aus sich selbst, das andere aber aus ihr.

6. Kapitel: Sie ist nicht mit Hilfe von irgendeiner Ursache zum Sein gebracht, und doch ist sie nicht durch nichts oder aus nichts; und wie man sich ihr Durch-sich- und Aus-sich-sein denken kann

Weil somit die Ausdrücke "durch etwas sein" und "aus etwas sein" nicht immer denselben Sinn haben, muss man genauer fragen, auf welche Weise denn alles, was ist, durch die höchste Natur und aus ihr ist. Weil das, was durch sich selbst ist, und das, was durch ein anderes ist, nicht dieselbe Art des Seins annehmen, möge zuerst die höchste Natur, die durch sich ist, für sich betrachtet werden; darnach erst (im 7. Kapitel) das, was durch ein anderes ist.

Da es nun feststeht, dass jene Natur all das, was sie ist, durch sich ist, und dass alle anderen Dinge das, was sie sind, durch sie sind, auf welche Weise ist sie selbst durch sich? Das, wovon gesagt wird, es sei durch etwas, scheint doch zu sein entweder durch ein Bewirkendes oder durch einen Stoff oder durch irgendein sonstiges Hilfsmittel, etwa durch ein Werkzeug. Nun ist aber alles, was immer auf eine dieser drei Arten ist, durch ein anderes und ist später und irgendwie geringer als das, wodurch es das Sein hat. Aber die höchste Natur ist keineswegs durch ein anderes und ist auch nicht später oder geringer als sie selbst oder irgendein anderes Ding. Also konnte die höchste Natur weder von sich noch von etwas anderem gemacht werden; sie war auch weder sich selbst, noch war etwas anderes ihr der Stoff, woraus sie gemacht worden wäre; sie half weder sich selbst irgendwie, noch half ihr irgendein Ding dazu, dass sie sei, was sie nicht war.

Wie ist es nun? Was nämlich nicht durch ein Bewirkendes aus einem Stoff oder mit irgendeinem Beistand zum Sein gekommen ist, das scheint entweder nichts zu sein oder, wenn es etwas ist, durch nichts oder aus nichts zu sein. Wiewohl ich nun, gestützt auf das, was ich im Lichte der Vernunft von der höchsten Substanz schon erkannt habe, glaube, dass das eben Gesagte in keiner Weise auf sie zutreffen kann, will ich doch nicht versäumen, den Beweis dafür zusammenzufügen. Weil mich nämlich meine gegenwärtige Betrachtung plötzlich zu etwas Großem und Erfreulichem hingeführt hat, will ich keinen auch noch so einfältigen und nahezu törichten Einwand, der mir bei meinem Hin- und Herüberlegen begegnet, außer acht lassen und übergehen, so dass, wenn ich im Vorausgehenden nichts unentschieden zurücklasse, sowohl ich selbst mit größerer Sicherheit zum Folgenden fortzuschreiten vermag, als auch, wenn ich etwa einen anderen von dem, was ich da schaue, überzeugen will, nach Beseitigung jedes auch noch so unbedeutenden Hindernisses, selbst der langsamste Verstand leicht an das Gehörte herankommen kann.

Dass aber jene Natur, ohne die keine Natur ist, nichts sei, ist ebenso falsch, wie es widersinnig wäre, zu sagen, alles, was ist, sei nichts. Sie ist aber auch nicht durch nichts, da in keiner Weise gedacht werden kann, dass das, was etwas ist, durch nichts sei. Wenn sie aber irgendwie aus nichts ist, dann ist sie aus nichts entweder durch sich selbst oder durch ein anderes oder durch nichts. Nun steht aber fest, dass in keiner Weise etwas durch nichts ist. Ist sie also irgendwie aus nichts, dann ist sie aus nichts entweder durch sich oder durch ein anderes. Durch sich aber kann nichts aus nichts sein. Wenn nämlich etwas aus nichts durch etwas ist, dann muss das, wodurch es ist, früher sein. Da nun diese Wesenheit nicht früher ist als sie selbst, ist sie auf keine Weise aus nichts durch sich selbst. Wird aber behauptet, sie sei durch eine andere Natur aus dem Nichts zum Sein gekommen, dann ist sie nicht die höchste von allen, sondern tieferstehend als eine bestimmte andere, und ist das, was sie ist, nicht durch sich, sondern durch ein anderes. Ferner: wenn sie durch etwas aus nichts ist, dann war das, wodurch sie ist, ein großes Gut, als es Ursache eines so großen Gutes war. Nun kann aber kein Gut gedacht werden vor jenem Gut, ohne welches nichts gut ist. Dass aber dieses Gut, ohne welches es kein Gut gibt, diese höchste Natur ist, um die es sich handelt, ist hinreichend klar. Also ist kein Ding, auch nicht dem Gedanken nach, vorausgegangen, durch welches sie aus dem Nichts das Sein hätte. - Endlich: wenn diese Natur selbst entweder durch nichts oder aus nichts etwas ist, dann ist sie ohne Zweifel entweder nicht durch sich und aus sich all das, was sie ist, oder man behauptet, dass sie selber nichts ist. Es ist aber überflüssig, auseinanderzusetzen, wie falsch beides ist. - Obwohl also die höchste Substanz nicht durch ein Bewirkendes noch aus einem Stoff ist noch auch mit Hilfe von irgend welchen Ursachen zum Sein gebracht wurde, so ist sie dennoch keineswegs durch nichts oder aus nichts, weil sie durch sich selbst und aus sich selbst all das ist, was sie ist.

Wie soll man also endlich ihr Durch- und Aussichsein denken, wenn sie weder sich selbst gemacht hat, noch sich selbst Stoff war, noch irgendwie sich selbst dazu half, dass sie sei, was sie nicht war? Man dürfte es etwa in der Weise verstehen, wie man sagt: das Licht leuchtet oder ist leuchtend durch sich selbst und aus sich selbst. Wie sich nämlich Licht, Leuchten und Leuchtendes zueinander verhalten, so sind auch Wesenheit, Sein und Seiendes, d. h. Wirkliches oder Bestehendes einander zugeordnet. Also werden auch die höchste Wesenheit, das höchste Sein und das höchst Seiende, d. h. das höchst Wirkliche oder höchst Bestehende, ganz ähnlich zusammengehören wie Licht, Leuchten und Leuchtendes.

7. Kapitel: Inwiefern alles andere durch sie und aus ihr ist

Jetzt bleibt noch hinsichtlich der Gesamtheit jener Dinge, die durch ein anderes sind, zu untersuchen, inwiefern sie durch die höchste Substanz sind, nämlich ob sie selbst alles gemacht hat, oder ob sie der Stoff für alles war. Es ist nämlich nicht nötig, zu fragen, ob deshalb alles durch sie ist, weil sie, während ein anderes wirkte oder ein anderes Stoff war, nur irgendwie geholfen hätte, damit alle Dinge ein Sein hätten; denn es würde dem, was schon oben (im 3. und 4. Kapitel) klar geworden ist, widersprechen, wenn alles Seiende erst in zweiter und nicht in erster Linie durch sie wäre.

Zuerst muss ich also wohl fragen, ob die Gesamtheit der Dinge, die durch ein anderes sind, aus irgendwelchem Stoff ist. Ich zweifle nun nicht, dass dieser ganze Weltbau mit seinen Teilen, wie wir ihn gebildet sehen, aus Erde, Wasser, Luft und Feuer besteht. Diese vier Grundstoffe lassen sich einigermaßen ohne diese Formen denken, die wir an den geformten Dingen erblicken, so dass ihre ungeformte oder gar ineinanderfließende Natur als der Stoff aller durch ihre Formen unterschiedenen Körper angesehen werden kann. Wie gesagt, daran zweifle ich nicht. Ich frage aber, woher denn dieser erwähnte Stoff des Weltbaus ist. Denn wenn es für diesen Stoff wieder einen Stoff gibt, dann ist im wahreren Sinne dieser der Stoff der körperlichen Welt. Ist nun die Gesamtheit der sichtbaren und unsichtbaren Dinge aus irgendwelchem Stoff, dann kann sie sicherlich nicht nur nicht aus einem anderen Stoff sein, sondern es kann auch nicht gesagt werden, sie sei aus einem anderen Stoff als entweder aus der höchsten Natur oder aus sich selbst oder aus einer dritten Wesenheit, welche es freilich gar nicht gibt. Denn es kann nicht einmal gedacht werden, dass irgend etwas ist außer jenem Allerhöchsten, das durch sich selbst ist, und außer der Gesamtheit der Dinge, die nicht durch sich, sondern durch eben dieses Höchste sind. Was daher in keiner Weise etwas ist, ist auch nicht Stoff zu irgendeinem Ding. - Aus ihrer eigenen Natur aber kann die Gesamtheit der Dinge, die nicht durch sich ist, nicht sein; denn wäre dem so, dann wäre sie einigermaßen durch sich und somit durch ein anderes als durch das, wodurch alles ist; und das, wodurch alles ist, wäre nicht allein; all das ist falsch. - Ferner ist alles, was aus Stoff ist, aus einem anderen und ist später als dieses. Weil nun kein Ding ein anderes ist als es selbst, noch auch später als es selbst, so folgt, dass kein Ding dem Stoff nach aus sich selbst ist.

Wenn aber aus dem Stoff der höchsten Natur etwas sein kann, das geringer ist als sie selbst, dann kann das höchste Gut verändert und verdorben werden; was zu behaupten frevelhaft ist. Weil somit alles von ihr Verschiedene geringer ist als sie, so ist es unmöglich, dass irgend etwas anderes auf diese Weise aus ihr wäre. Des weiteren ist kein Zweifel, dass das, wodurch das höchste Gut verändert und verdorben wird, in keiner Weise ein Gut ist. Wenn aber eine geringere Natur aus dem Stoff des höchsten Gutes ihr Sein hat, dann wird - weil nichts woher auch immer ein Sein hat außer durch die höchste Wesenheit - das höchste Gut durch diese selbst verändert und verdorben. Dann ist aber die höchste Wesenheit, die das höchste Gut selbst ist, in keiner Weise ein Gut; was doch ungereimt ist. Also hat keine geringere Natur auf stoffliche Weise ihr Sein aus der höchsten Natur. Da somit feststeht, dass die Wesenheit der Dinge, die durch ein anderes sind, dem stofflichen Bestande nach weder aus der höchsten Wesenheit noch aus sich noch aus etwas anderem das Sein hat, so ist offenkundig, dass sie aus keinem Stoff das Sein hat.

Weil nun jedwedes Seiende durch die höchste Wesenheit ist, und weil etwas von ihr Verschiedenes durch sie nur sein kann, wenn sie es entweder macht oder ihm als Stoff dient, so folgt mit Notwendigkeit, dass es außer ihr nichts gibt, ohne dass sie es macht. Und weil nichts anderes ist oder war außer ihr und dem, was von ihr gemacht ist, konnte sie alles nur machen durch sich selbst, nicht durch ein anderes, sei es durch ein Werkzeug oder einen Beistand. Nun hat sie aber alles, was sie machte, ohne Zweifel entweder aus etwas als Stoff gemacht oder aus nichts. Weil es nun mit aller Gewissheit feststeht, dass die Wesenheit aller außer der höchsten Wesenheit seienden Dinge von dieser höchsten Wesenheit gemacht ist, und dass sie aus keinem Stoff das Sein hat, so ist ohne allen Zweifel nichts offenkundiger, als dass jene höchste Wesenheit eine so große Masse von Dingen, eine so zahlreiche Menge, die so schön gestaltet, so geordnet vermannigfacht, so angemessen verteilt ist, allein durch sich selbst aus nichts hervorgebracht hat.

8. Kapitel: Wie es zu verstehen ist, dass sie alles aus nichts gemacht habe

Es kommt mir indes ein Bedenken wegen des Nichts. Denn das, woraus immer etwas gemacht wird, ist Ursache dessen, was aus ihm gemacht wird; und jede Ursache gewährt notwendig irgendeine Beihilfe zum Sein (essentia) des Gemachten. Daran halten alle auf Grund der Erfahrung derart fest, dass es durch Bestreitung keinem entrissen und kaum einem durch Täuschung entwunden werden kann. Wenn also etwas aus nichts gemacht worden ist, dann war dieses Nichts Ursache dessen, was aus ihm gemacht wurde. Wie aber half das, was kein Sein hatte, einem Etwas, dass es zum Sein kam? Wenn jedoch vom Nichts her keine Beihilfe zum Etwas hinkam, wem und wie könnte man dann begreiflich machen, dass aus nichts etwas gemacht werden kann?

Ferner: "nichts" bezeichnet entweder etwas oder es bezeichnet nicht etwas. Wenn nichts etwas ist, dann ist alles, was aus nichts geworden ist, aus etwas geworden. Wenn jedoch nichts nicht etwas ist, dann - weil es nicht denkbar ist, dass aus dem, was gar nicht ist, etwas wird - dann wird aus nichts eben nichts; wie es denn auch in aller Mund ist: Von nichts kommt nichts. Daraus scheint zu folgen, dass alles, was wird, aus etwas wird. Denn entweder wird es aus etwas oder aus nichts. Mag also nichts etwas sein oder mag es nicht etwas sein, es scheint zu folgen, dass alles, was geworden ist, aus etwas geworden ist. - Wenn dies aber als wahr gesetzt wird, steht es all dem entgegen, was oben auseinandergesetzt wurde. Und weil dann das, was nichts war, doch etwas ist, muss das, was am meisten etwas war, nichts sein. Denn ich hatte gefunden, dass eine gewisse Substanz am meisten von allen wirklich ist, und davon ausgehend war ich folgernd zu dem Schluss gelangt, dass alles andere in der Weise von ihr gemacht worden ist, dass nichts wäre, woraus es gemacht wurde. Wenn also das, woraus es gemacht wurde, und von dem ich glaubte, es sei nichts, nun doch etwas ist, dann ist alles, was ich von der höchsten Wesenheit glaubte gefunden zu haben, nichts.

Was muss also unter dem Nichts verstanden werden? Ich habe nämlich beschlossen, bei dieser Betrachtung nichts außer acht zu lassen, was mir als möglicher, wenn auch beinahe törichter Einwurf erschiene. Auf dreierlei Weise nun glaube ich - und das genügt zur Ausräumung vorliegender Schwierigkeit - kann der Satz ausgelegt werden: eine Substanz sei aus nichts gemacht worden. Die erste Art ist die, wonach wir mit der Aussage, etwas sei aus nichts gemacht worden, ausdrücken wollen, es sei gar nicht gemacht worden. Es ist ähnlich, wie wenn einer schweigt, und ich auf die Frage, wovon er spreche, antworte: Von nichts, d. h. er spricht nicht. In diesem Sinne kann man von der höchsten Wesenheit und von dem, was gar nicht war noch ist, auf die Frage, woraus es gemacht worden sei, richtig antworten: Aus nichts, d. h. es wurde überhaupt nicht gemacht. In diesem Sinne aber kann der Satz von keinem der gewordenen Dinge verstanden werden. - Eine andere Auslegung kann zwar ausgesprochen werden, aber wahr kann sie nicht sein: dass nämlich damit gesagt würde, etwas sei so aus nichts gemacht, dass es aus dem Nichts selbst d. h. aus dem, was gar nicht ist, gemacht wurde, als ob dieses Nichts etwas Wirkliches wäre, woraus etwas gemacht werden könnte. Weil dies aber immer falsch ist so folgt daraus jedesmal, wenn es behauptet wird, eine unmögliche Unstimmigkeit. - Eine dritte Deutung des Satzes: etwas sei aus nichts gemacht, ist die, dass wir damit meinen, es sei zwar gemacht worden, aber es gebe kein Etwas, woraus es gemacht wurde. In der gleichen Bedeutung scheint wohl von einem Menschen, der ohne Ursache trauert, gesagt zu werden, er trauere um (de) nichts.

Wenn man nun die oben (im vorigen Kapitel) erschlossene Erkenntnis, dass alles außer der höchsten Wesenheit Seiende von ihr aus nichts gemacht worden ist, in diesem dritten Sinne versteht, nämlich nicht aus etwas, dann wird, wie dieser Schlusssatz aus dem Vorhergehenden zutreffend folgt, sich auch nichts Unzutreffendes aus derselben Folgerung ergeben. Gleichwohl kann man ganz zutreffend und ohne allen Widerspruch sagen, das, was von der schöpferischen Substanz gemacht wurde, sei aus nichts gemacht worden, wie man zu sagen pflegt, einer sei aus einem Armen ein Reicher geworden, und einer habe aus einer Krankheit die Gesundheit wiedererlangt, d. h. der früher arm war, ist jetzt reich, was er vorher nicht war, und der früher eine Krankheit hatte, hat jetzt die Gesundheit, die er vorher nicht hatte. In diesem Sinne kann also ganz zutreffend der Satz verstanden werden, die schöpferische Wesenheit habe alles aus nichts gemacht, oder alles sei durch sie aus nichts gemacht worden, d. h. was früher nichts war, ist jetzt etwas. Denn mit den Worten: Jene machte, und: Dieses wurde gemacht, ist gemeint: Als jene machte, machte sie etwas, und: Als dies gemacht wurde, da erst wurde es zu etwas gemacht. So sagen wir nämlich, wenn wir sehen, wie einer aus sehr geringem Stande durch einen anderen zu großem Reichtum und Ansehen erhoben wurde: Siehe, jener hat diesen aus nichts gemacht, oder: Dieser ist von jenem aus nichts gemacht worden, d. h. er, der vorher gleichsam als nichts galt, wird jetzt, da jener ihn dazu machte, in Wahrheit für etwas gehalten.

9. Kapitel: Die Dinge, die aus nichts gemacht sind, waren, bevor sie wurden, nicht nichts, soweit die Vernunft des Machenden in Betracht kommt

Ich meine aber etwas zu sehen, was mich zwingt, sehr sorgfältig zu unterscheiden, in welchem Sinne von den gewordenen Dingen gesagt werden kann, sie seien, bevor sie gemacht wurden, nichts gewesen. Denn keineswegs kann etwas vernünftig von jemand gemacht werden, wenn nicht in der Vernunft des Machenden eine Art Beispiel oder besser gesagt, eine Form, eine Ähnlichkeit oder Regel des Dinges, das gemacht werden soll, vorausgeht. Es ist somit offenkundig, dass, bevor alle Dinge wurden, es in der Vernunft der höchsten Natur (festgelegl) war, was, wie beschaffen und auf welche Weise sie sein würden.

Da es also klar ist, dass die Dinge, die gemacht wurden, bevor sie wurden, nichts waren in dem Sinne, dass sie nicht waren, was sie jetzt sind, und dass nichts da war, woraus sie gemacht wurden, so waren sie dennoch nicht nichts, soweit die Vernunft des Machenden in Betracht kommt, durch welche und gemäß welcher sie gemacht wurden.

10. Kapitel: Jene Vernunft ist eine Art Sprache, welche die Dinge spricht, wie der Handwerker das, was er machen will, im voraus bei sich (innerlich) spricht

Was ist aber jene Form der Dinge, die in seiner Vernunft den zu erschaffenden Dingen vorausging, anderes als ein in dieser Vernunft erfolgendes Dingesprechen, so etwa, wie der Handwerker, im Begriffe, ein Werk seines Gewerbes zu schaffen, dieses erst in seinem Inneren durch geistige Gestaltung spricht? Wenn ich von der Sprache des Geistes oder der Vernunft rede, so meine ich nicht, dass Worte als Zeichen der Dinge gedacht werden, sondern dass die Dinge selbst, künftige sowohl wie schon bestehende, mit der Schärfe des Gedankens im Geiste geschaut werden. Durch häufige Übung lässt sich nämlich erkennen, dass wir denselben Gegenstand auf dreifache Weise aussprechen können. Entweder sagen wir die Dinge, indem wir uns sinnlicher Zeichen, d. h. solcher, die mit den körperlichen Sinnen wahrgenommen werden können, sinnenfällig bedienen; oder indem wir diese Zeichen, die draußen sinnenfällig sind, in unserem Inneren auf nicht sinnenfällige Weise denken; oder indem wir, ohne diese Zeichen sinnenfällig oder nicht sinnenfällig zu gebrauchen, die Dinge selbst, durch Körpervorstellung oder Vernunfterkenntnis, je nach der Eigenart dieser Dinge inwendig in unserem Geiste sprechen. Anders nämlich spreche ich den Menschen, wenn ich ihn mit dem Namen "Mensch" bezeichne, anders, wenn ich diesen Namen schweigend denke, und anders, wenn der Geist den Menschen selbst entweder durch körperliche Vorstellung oder durch die Vernunft schaut. Durch körperliche Vorstellung, wenn er sich seine sinnenfällige Gestalt vorstellt; durch die Vernunft jedoch, wenn er seine allgemeine Wesenheit als vernunftbegabtes, sterbliches Lebewesen denkt.

Jede dieser drei Verschiedenheiten des Sprechens besteht nun aus Worten besonderer Art. Die Worte jenes Sprechens jedoch, das ich an dritter und letzter Stelle angeführt habe, sind, wenn sie wohlbekannte Dinge betreffen, natürliche und bei allen Völkern dieselben (Boethius). Und weil alle anderen Worte um dieser willen erfunden worden sind, so ist, wo diese vorhanden sind, kein anderes Wort nötig, damit die Sache erkannt werde; wo aber diese nicht vorhanden sein können, da ist kein Wort imstande, die Sache aufzuzeigen. Auch kann man ganz sinnvoll sagen, dass dieselben um so wahrer sind, je mehr sie den Dingen gleichen, deren Worte sie sind, und je ausgeprägter sie diese bezeichnen. Denn mit Ausnahme jener Dinge, die selbst als Namen zu ihrer Bezeichnung dienen, wie gewisse Laute, etwa der Vokal "a", wie gesagt, diese ausgenommen, sieht wohl kein anderes Wort jener Sache, deren Wort es ist, so ähnlich und prägt sie so gut aus wie jenes Gleichnisbild, das in der Schärfe des diese Sache denkenden Geistes ausgeprägt ist. Dieses darf daher mit Recht das der Sache am meisten eigentümliche und ihr am meisten ursprüngliche Wort genannt werden. Wenn also kein Sprechen über eine Sache so sehr der Sache nahekommt wie jenes, das aus solchen Worten besteht; und wenn nichts anderes, dem künftigen oder schon bestehenden Dinge ebenso Ähnliches in der Vernunft eines denkenden Wesens vorhanden sein kann, dann kann mit gutem Grunde angenommen werden, dass bei der höchsten Substanz ein solches Sprechen der Dinge schon stattfand, bevor sie waren, damit sie durch sie gemacht würden; und dass es auch stattfindet, wenn sie geworden sind, damit sie durch sie gewusst werden.

11. Kapitel: In diesem Vergleich mit dem Handwerker ist aber auch viel Ungleichheit

Obwohl nun feststeht, dass die höchste Substanz im voraus die gesamte Schöpfung in sich gleichsam aussprach, bevor sie dieselbe gemäß und in kraft dieses inneren Sprechens gründete, so wie der Handwerker erst im Geiste entwirft, was er dann dem geistigen Entwurf gemäß im Werke ausführt, so gewahre ich in diesem Vergleich doch viel Ungleichheit. Denn jene nahm gar nichts von anderswoher in sich auf, um davon die Form der Dinge, die sie zu machen vorhatte, zu entwerfen oder um dieselben zu dem zu machen, was sie sind. Der Handwerker dagegen kann weder im Geiste sich etwas Körperliches durch ein Vorstellungsbild entwerfen, ohne es entweder als Ganzes auf einmal oder Teil um Teil an vorhandenen Dingen schon irgendwie kennengelernt zu haben, noch kann er ein im Geist entworfenes Werk ausführen, wenn der Stoff oder sonst etwas fehlt, ohne welches das ausgedachte Werk nicht gemacht werden kann. Denn obwohl der Mensch ein bestimmt geartetes Lebewesen, wie es nirgends vorkommt, denkend und ausmalend erdichten kann, so vermag er dies doch nur, sofern er Teile in ihm zusammenfügt, die er aus anderweitig bekannten Dingen ins Gedächtnis aufgenommen hat. Darum unterscheidet sich das innere Sprechen der zu schaffenden Werke bei der schöpferischen Substanz von dem inneren Sprechen beim Handwerker dadurch, dass jenes nicht von anderswoher genommen oder unterstützt ist, vielmehr als erste und einzige Ursache seinem Künstler genügen konnte zur Vollrührung seines Werkes, und dass dieses andere weder ein erstes und einziges ist noch auch hinreicht, dass man das Werk beginne. Darum sind die durch jenes erstere Sprechen geschaffenen Dinge überhaupt nichts, was sie nicht durch es sind; die durch dieses andere gemachten Dinge wären überhaupt nicht, wenn sie nicht etwas wären, was sie nicht durch es sind.

12. Kapitel: Dieses Sprechen der höchsten Wesenheit ist die höchste Wesenheit selbst

Weil nun aber, wie die Vernunft lehrt, ebenfalls sicher ist, dass die höchste Substanz, was immer sie gemacht hat, durch nichts anderes als durch sich selbst gemacht hat, und was immer sie gemacht hat, durch ihr inneres Sprechen gemacht hat, indem sie entweder jedes Besondere durch ein besonderes Wort oder vielmehr in einem einzigen Wort alles zugleich aussprach, was kann da für zwingender angesehen werden, als dass dieses Sprechen der höchsten Wesenheit nichts anderes ist als die höchste Wesenheit selbst? Nicht glaube ich zwar, die Erforschung dieses Sprechens nachlässig übergehen zu dürfen; aber bevor von ihr sorgfältig gehandelt werden kann, halte ich es für gut, einige Eigenschaften der höchsten Substanz eifrig zu untersuchen.

13. Kapitel: Wie durch die höchste Wesenheit alles geworden ist, so gedeiht auch alles durch sie

Es steht also fest, dass durch die höchste Natur geworden ist, was immer nicht dasselbe ist wie sie. Und nur einem unvernünftigen Geist kann ein Zweifel darüber kommen, ob ebendieselbe Wirklichkeit, deren aus nichts schaffendem Wirken alle gewordenen Dinge verdanken, dass sie sind, was sie sind, diese durch ihre erhaltende Tätigkeit gedeihen und, so lange sie sind, im Sein verharren lässt. Denn aus dem in allweg gleichen Grunde, woraus es sich ergab, dass alles Seiende durch ein einziges Etwas ist, weshalb dieses allein durch sich selbst ist, die anderen Dinge aber durch ein anderes, aus dem gleichen Grunde, sage ich, kann bewiesen werden, dass, was immer gedeiht, durch ein einziges Etwas gedeiht, weshalb dieses allein durch sich selbst gedeiht, die anderen Dinge aber durch ein anderes. Weil dies aber nicht anders sein kann, als dass die gewordenen Dinge durch ein anderes gedeihen, und das, wodurch sie geworden sind, durch sich selbst gedeiht, darum ist es notwendig so: Wie nichts geworden ist außer durch die schaffende gegenwärtige Wesenheit, so gedeiht auch nichts außer durch dieser selben Wesenheit erhaltende Gegenwart.

14. Kapitel: Die höchste Wesenheit ist in allen und durch alle Dinge hin, und alle Dinge sind aus ihr, durch sie und in ihr

Wenn dem so ist, ja weil es notwendig so ist, dann folgt, dass da, wo diese Wesenheit nicht ist, nichts ist. Also ist sie überall, durch alle Dinge hin und in allen. Es ist aber sinnlos, anzunehmen, deshalb, weil in gar keiner Weise irgendein Geschöpf aus der Unermesslichkeit der erschaffenden und erhaltenden Wesenheit herausgehen kann, vermöge auch die erschaffende und erhaltende Wesenheit in gar keiner Weise über die Gesamtheit der gemachten Dinge hinauszuragen: So erhellt, dass die höchste Wesenheit es ist, die alles andere trägt und überragt, umschließt und durchdringt. Fügen wir dieses Ergebnis dem, was weiter oben gefunden wurde, hinzu, so ist es ebendieselbe Wesenheit, die in allen Dingen ist und durch alle Dinge hin, und alles andere ist aus ihr, durch sie und in ihr.

15. Kapitel: Was von der höchsten Wesenheit wesenhaft (substantialiter) ausgesagt werden kann, und was nicht

Es ist wohl begründet, wenn ich mich nunmehr stark gedrängt fühle, so eifrig ich kann, zu untersuchen, welche von all den Seinsbestimmungen, die von einem Etwas ausgesagt werden können, dieser so wunderbaren Natur wesenhaft (substantialiter) zukommen kann. Zwar sollte es mich wundern, wenn sich unter den Namen und Worten, die wir den aus nichts geschaffenen Dingen anpassen (beilegen), etwas finden lässt, was geziemend von der allschöpferischen Substanz ausgesagt werden könnte; aber es muss doch untersucht werden, zu welchem Ergebnis die Vernunft diese Erforschung hinzuführen vermag. In Bezug auf die Verhältnisnamen zweifelt nun freilich niemand, dass keiner derselben dem Dinge wesenhaft zukommt, von dem er verhältnisweise ausgesagt wird. Sagt man also von der höchsten Natur verhältnisweise etwas aus, so bezeichnet es nicht deren Wesen. Darum ist es klar, dass sogar Bezeichnungen wie "die Höchste von allem" oder "größer als alles von ihr Geschaffene" und andere gleichfalls ein Verhältnis ausdrückende Aussagen nicht deren natürliche Wesenheit bezeichnen. Wenn es nämlich niemals irgendeines jener Dinge gäbe, im Verhältnis zu denen sie Höchstes und größer heißt, so würde sie zwar nicht als Höchstes und als größer gedacht werden; sie wäre aber darum dennoch nicht weniger gut, noch würde ihre wesenhafte Größe in irgendeinem Stück Einbuße erleiden. Dies wird daraus deutlich erkannt, dass sie das, was immer sie Gutes und Großes ist, nicht durch ein anderes, sondern nur durch sich selbst ist. Wenn also die höchste Natur in der Weise als nichthöchste gedacht werden kann, dass sie dennoch keineswegs größer oder kleiner ist, als wenn sie als die Höchste von allem gedacht würde, dann ist es klar, dass das Wort "Höchstes" nicht schlechthin jene Wesenheit bezeichnet, die in jeder Weise größer und besser ist als alles, was nicht sie selbst ist. Und was die Vernunft von dem Worte "Höchstes" lehrt, trifft auch in ganz gleicher Weise zu bei den anderen Verhältnisnamen.

Daher lassen wir diese Verhältnisaussagen beiseite, da ja keine von ihnen schlechthin die Wesenheit eines Dinges aufweist, und wenden das Augenmerk der Erörterung der anderen Aussagen zu. Und wenn wir nun dieselben jede für sich genau betrachten, so scheiden sich außer den Verhältnisnamen alle übrigen in solche, deren Bezeichnetes (das "Es") in jeder Hinsicht besser ist als dessen Verneinung (das "Nicht-Es"), und in solche, bei denen die Verneinung des Bezeichneten (das "Nicht-Es") in irgendeiner Hinsicht besser ist als das Bezeichnete (das "Es"). Unter "Es" und "Nicht-Es" verstehe ich hier soviel wie "wahr", "nicht-wahr"; "Körper", "Nicht-Körper" und dergleichen mehr. So ist ein Etwas durchaus besser als seine Verneinung, wie etwa das Weise gegenüber dem Nichtweisen, d. h. das Weise ist besser als das Nichtweise. Denn obwohl der nicht weise Gerechte besser zu sein scheint als der nicht gerechte Weise, so ist dennoch das Nichtweise nicht schlechthin besser als das Weise. Denn alles Nichtweise ist schlechthin, sofern es nicht weise ist, geringer als das Weise, weil alles Nichtweise noch besser wäre, wenn es weise wäre. Ebenso ist das Wahre durchaus besser als sein "Nicht-Es", also das Nichtwahre; und das Gerechte besser als das Nichtgerechte, und dass etwas lebt, besser als, dass es nicht lebt. - Dagegen ist das "Nicht-Es" in irgendeinem Träger besser als das "Es" - etwa das Nichtgold gegenüber dem Gold. Denn besser ist es dem Menschen, nicht Gold zu sein, als Gold zu sein, obwohl vielleicht für etwas anderes Gold zu sein besser wäre als nicht Gold zu sein, etwa für das Blei. Da nun beide, Mensch und Blei, nicht Gold sind, so ist der Mensch etwas um soviel Besseres als Gold, von je geringerer Natur er wäre, wenn er Gold wäre; und das Blei ist um soviel gemeiner, je kostbarer es wäre, wenn es Gold wäre.

Weil nun aber die höchste Natur so als nichthöchste gedacht werden kann, dass weder das Höchste durchaus besser ist als das Nichthöchste noch das Nichthöchste für irgend etwas besser ist als das Höchste, so erhellt daraus, dass es viele Verhältnisnamen gibt, die in dieser Einteilung gar nicht enthalten sind. Ob aber einige darin enthalten sind, unterlasse ich zu untersuchen, da meinem Zwecke genügt, was von ihnen bekannt ist, dass nämlich keiner derselben das einfache Wesen der höchsten Natur bezeichnet. Da nun bei allen übrigen Aussagen, wenn man jede einzelne genau besieht, entweder das "Es" besser ist als das "Nicht-Es" oder das "Nicht-Es" in irgendeinem Träger besser als das "Es", so wäre es einerseits frevelhaft zu meinen, das Wesen der höchsten Natur sei etwas, dem gegenüber sein "Nicht-Es" irgendwie besser wäre, und andrerseits muss sie notwendig das sein, was immer in allweg besser ist als sein "Nicht-Es". Denn sie allein ist es, der gegenüber es gar nichts Besseres gibt, und die besser ist als alle Dinge, die nicht sind, was sie ist. Sie ist demnach weder Körper noch etwas von den Dingen, die durch körperliche Sinne erkannt werden. Gibt es doch all diesen Dingen gegenüber etwas Besseres, das nicht ist, was sie sind, nämlich den vernünftigen Geist, dessen Wesen, Beschaffenheit und Größe von keinem körperlichen Sinn erfasst wird. Je geringer er wäre, würde er eines der Dinge sein, die den körperlichen Sinnen zugänglich sind, um so größer ist er als jedes derselben. Man muss es jedenfalls durchaus unterlassen, von der höchsten Wesenheit eines der Dinge auszusagen, denen gegenüber es ein höheres Etwas gibt, das nicht ist, was sie sind; und man muss, so lehrt die Vernunft, von ihr durchaus jedes der Dinge aussagen, denen gegenüber alles von ihnen Verschiedene niedriger ist. Darum ist es notwendig, dass sie lebend, weise, mächtig und allmächtig ist, wahr, gerecht, selig, ewig und was immer in gleicher Weise ohne Einschränkung besser ist als sein "Nicht-Es". Wozu also noch weiter fragen, was jene höchste Natur ist, wenn offenbar ist, was von allem sie ist und was sie nicht ist?

16. Kapitel: Für sie ist Gerechtsein und Gerechtigkeitsein dasselbe. Ebenso verhält es sich mit dem, was in gleicher Weise von ihr ausgesagt werden kann. Nichts von alldem zeigt an, wie beschaffen oder wie groß sie ist, sondern was sie ist

Aber vielleicht wird, wenn sie gerecht, groß und Ähnliches genannt wird, nicht angegeben, was sie ist, sondern eher, wie beschaffen oder wie groß sie ist. Denn es scheint, dass jede dieser Aussagen auf Grund von Beschaffenheit oder Größe gemacht wird. Alles Gerechte ist nämlich durch die Gerechtigkeit gerecht, und anderes dieser Art in gleicher Weise. Demnach ist auch die höchste Natur nur durch die Gerechtigkeit gerecht. Es scheint somit auf Grund einer Teilnahme an einer Beschaffenheit, nämlich der Gerechtigkeit, die höchst gute Substanz gerecht genannt zu werden. Wenn dem so ist, dann ist sie durch ein anderes gerecht und nicht durch sich.

Dies widerstreitet aber der erschauten Wahrheit, dass sie gut, groß oder seiend - all das ist sie - ganz und gar durch sich ist und nicht durch ein anderes. Wenn sie also nur durch die Gerechtigkeit gerecht ist und nicht gerecht sein kann außer durch sich, was ist dann einleuchtender, was notwendiger, als dass diese Natur die Gerechtigkeit selbst ist? Und dass, wenn gesagt wird, sie sei gerecht durch die Gerechtigkeit, es dasselbe ist wie: sie sei es durch sich, und wenn gesagt wird, sie sei durch sich gerecht, nichts anderes verstanden wird als: durch die Gerechtigkeit? Fragt man also, was denn diese höchste Natur ist, um die es sich handelt, was wird wohl wahrer geantwortet als: die Gerechtigkeit? Man muss also zusehen, wie es zu verstehen ist, wenn jene Natur gerecht genannt wird, die selbst die Gerechtigkeit ist. Weil nämlich der Mensch nicht Gerechtigkeit sein, wohl aber Gerechtigkeit haben kann, wird "der gerechte Mensch" nicht als ein Gerechtigkeitseiender gedacht, sondern als ein Gerechtigkeithabender. Weil also von der höchsten Natur nicht eigentlich gesagt wird: sie hat Gerechtigkeit, sondern: sie ist Gerechtigkeit, so wird sie, wenn sie gerecht genannt wird, eigentlich als ein Gerechtigkeitseiendes gedacht und nicht als ein Gerechtigkeithabendes. Daher wird, wenn sie ein Gerechtigkeitseiendes genannt wird, nicht gesagt, wie beschaffen sie ist, sondern, was sie ist. Weil ferner es bei dieser obersten Wesenheit dasselbe ist zu sagen: sie ist gerecht, und: sie ist ein Gerechtigkeitseiendes, und weil die Aussage, sie sei ein Gerechtigkeitseiendes, nichts anderes bedeutet als, sie ist Gerechtigkeit, darum ist bei ihr kein Unterschied, ob man sagt: sie ist gerecht, oder: sie ist Gerechtigkeit. Deshalb antwortet man auf die Frage, was sie ist, ebenso passend, sie ist gerecht, wie, sie ist Gerechtigkeit.

Was aber beim Beispiel von der Gerechtigkeit offenbar zurecht besteht, das wird der Verstand durch die Vernunft anzuerkennen genötigt hinsichtlich aller Aussagen, die in gleicher Weise über die höchste Natur gemacht werden. Welche von diesen Aussagen also Über sie auch immer gemacht werden mag, sie zeigt nicht an, wie beschaffen oder wie groß sie ist, sondern vielmehr, was sie ist. Es liegt aber auf der Hand, dass jedwedes Gut, das die höchste Natur ist, sie selbst im höchsten Maße ist. Also ist sie die höchste Wesenheit, das höchste Leben, die höchste Vernunft, das höchste Heil, die höchste Gerechtigkeit, die höchste Weisheit, die höchste Wahrheit, die höchste Güte, die höchste Größe, die höchste Schönheit, die höchste Unsterblichkeit, die höchste Unzerstörbarkeit, die höchste Unwandelbarkeit, die höchste Seligkeit, die höchste Ewigkeit, die höchste Macht, die höchste Einheit, was nichts anderes ist als das höchst Seiende, das höchst Lebende und so auch im Übrigen.

17. Kapitel: Sie ist so einfach, dass alles, was von ihrer Wesenheit ausgesagt werden kann, in ihr ein und dasselbe ist. Nichts kann von ihr als wesenhaft ausgesagt werden, außer im Sinne des Was-Seins

Wie ist es nun aber, wenn jene höchste Natur so viele Güter ist: ist sie etwa zusammengesetzt aus so vielen Gütern, oder sind es im Gegenteil nicht viele Güter, sondern ist es ein einziges Gut, das nur mit so vielen Namen bezeichnet ist? Jedes Zusammengesetzte bedarf nämlich, um bestehen zu können, der Dinge, aus denen es zusammengesetzt ist, und verdankt ihnen, was es ist; denn was immer es ist, das ist es durch sie, und was diese sind, sind sie nicht durch jenes; und deshalb ist es durchaus nicht das Höchste. Wenn also jene Natur aus vielen Gütern zusammengesetzt ist, dann trifft all das, was jedem Zusammengesetzten eignet, notwendig auf sie zu.

Diesen frevelhaften Irrtum aber zertrümmert und begräbt durch offenkundigen Vernunftgrund die ganze im Vorausgehenden ans Licht getretene zwingende Kraft der Wahrheit. Da also jene Natur in keiner Weise zusammengesetzt ist und dennoch durchaus jene so vielen Güter ist, so müssen notwendig alle jene Güter nicht viele, sondern ein einziges sein. Jedes derselben ist also dasselbe, was alle zusammen und alle einzelnen sind. Wird sie z. B. Gerechtigkeit genannt oder Wesenheit, so bezeichnet dies dasselbe, was die anderen Namen besagen, sei es alle zusammen, sei es jeder für sich. Gleichwie es also ein Einziges ist, was immer von der höchsten Substanz als wesentlich ausgesagt wird, so ist auch sie selbst auf eine einzige Weise und in einer einzigen Hinsicht, was immer sie wesenhaft ist. Wenn nämlich ein Mensch Körper, vernunftbegabt und Mensch genannt wird, so werden diese drei Begriffe nicht in einer einzigen Weise oder Hinsicht ausgesagt. Denn in einer anderen Hinsicht ist er Körper und in einer anderen Hinsicht vernunftbegabt, und keines von diesen beiden ist dieses Ganze, welches der Mensch ist. Jene höchste Wesenheit aber ist keineswegs in der Weise ein Etwas, dass sie nach einer anderen Weise oder in einer anderen Hinsicht dieses selbe Etwas nicht wäre. Denn was immer sie irgendwie wesentlich ist, das ist eben das Ganze, das sie selbst ist. Nichts also, was über ihre Wesenheit wahrhaft ausgesagt wird, ist zu verstehen im Sinne des Wiebeschaffen- oder des Wiegroßseins, sondern im Sinne des Was-Seins. Denn was auch immer Beschaffenheit oder Größe hat, ist auch in seinem Was-Sein ein anderes (d. h. verschieden von seiner Beschaffenheit und Größe) und ist darum nicht einfach, sondern zusammengesetzt.

18. Kapitel: Sie ist ohne Anfang und ohne Ende

Von wann ab war aber diese so einfache Natur, die Schöpferin und Erhalterin aller Dinge, und bis wann wird sie sein? Oder ist sie im Gegenteil weder seit einem Wann noch bis zu einem Wann, sondern ohne Anfang und ohne Ende? Wenn sie nämlich einen Anfang hat, muss sie ihn entweder aus sich und durch sich haben oder aus einem anderen und durch ein anderes oder aus nichts und durch nichts. Aber durch die schon (im 6. und 7. Kapitel) erschaute Wahrheit steht fest, dass sie in keiner Weise aus einem anderen oder aus nichts noch auch durch ein anderes oder durch nichts ihr Sein hat. Also hat sIe in keiner Weise durch ein anderes oder aus einem anderen noch auch durch nichts oder aus nichts einen Anfang genommen. - Aus sich selbst oder durch sich selbst aber kann sie keinen Anfang haben, obgleich sie aus sich selbst und durch sich selbst ihr Sein hat. Denn in der Weise hat sie ihr Sein aus sich und durch sich, dass es keineswegs eine andere Wesenheit ist, die durch sich und aus sich ist, und eine andere Wesenheit, durch die und aus der sie ist. Was immer jedoch aus etwas oder durch etwas zu sein anfängt, ist nicht ganz dasselbe wie das, woraus oder wodurch es zu sein anfängt. Also hat die höchste Natur auch nicht durch sich oder aus sich angefangen. Weil sie nun weder durch sich und aus sich noch durch ein anderes und aus einem anderen noch durch nichts und aus nichts einen Anfang hat, so hat sie überhaupt keinen Anfang.

Sie hat aber auch kein Ende. Wenn sie nämlich ein Ende haben wird, ist sie nicht höchst unsterblich und höchst unzerstörbar. Es steht aber (aus dem 15. und 16. Kapitel) fest, dass sie höchst unsterblich und höchst unzerstörbar ist. Sie wird also kein Ende haben .. - Ferner: wenn sie ein Ende haben wird, wird sie entweder wollend oder nichtwollend vergehen. Aber gewiss ist das nicht ein einfaches Gut, durch dessen Willen das höchste Gut zugrunde geht. Nun ist sie aber das wahre und einfache Gut. Deshalb wird sie nicht aus freiem Entschluss vergehen, so gewiss sie das höchste Gut ist. Wenn sie aber nichtwollend untergehen wird, dann ist sie nicht höchst mächtig und nicht allmächtig. Nun hat aber die Vernunft zwingend dargetan, dass sie höchst mächtig und allmächtig ist. Also wird sie auch nicht nichtwollend vergehen. Wenn somit die höchste Natur weder wollend noch auch nichtwollend ein Ende haben wird, wird sie überhaupt kein Ende haben. Ferner: wenn jene höchste Natur einen Anfang oder ein Ende hat, ist sie nicht die wahre Ewigkeit. Das ist sie aber, wie oben (im 16. Kapitel) endgültig festgestellt wurde. - Sodann denke man sich, wenn man kann, den Zeitpunkt, wo folgendes Wahre anfing, oder die Zeit, wo es nicht war, nämlich: Etwas war zukünftig; oder die Zeit, wo folgendes Wahre aufhören und nicht mehr sein wird, nämlich: Etwas wird vergangen sein. Weil nun weder das eine noch das andere gedacht werden kann, und weil beide Wahrheiten' ohne die Wahrheit nicht sein können, so ist es unmöglich, auch nur zu denken, die Wahrheit habe einen Anfang oder ein Ende genommen. - Und schließlich, wenn die Wahrheit einen Anfang hatte oder ein Ende haben wird, dann war es damals, bevor sie anfing, wahr, dass die Wahrheit nicht war; und nachdem sie ein Ende genommen haben wird, wird es wahr sein, dass die Wahrheit nicht sein wird. Nun kann aber ein Wahres nicht sein ohne die Wahrheit. Also war die Wahrheit, bevor die Wahrheit war, und wird die Wahrheit sein, nachdem die Wahrheit zu Ende sein wird. Dies ist aber krassester Unsinn. - Mag man also sagen, die Wahrheit habe Anfang und Ende, oder mag man denken, sie habe keines von beiden, jedenfalls kann die Wahrheit durch keinen Anfang und kein Ende umschlossen werden (Vgl. Anselms Schrift De veritate, cap. I u. X (PL r 58, 468s u. 479), wo er auf diese Stelle verweist). Daher gilt dasselbe auch von der höchsten Natur; denn sie ist die höchste Wahrheit.

19. Kapitel: Inwiefern nichts vor ihr war und nichts nach ihr sein wird

Doch siehe, da erhebt sich wiederum das Nichts und behauptet, was da bis jetzt die Vernunft dargelegt und die Wahrheit und Notwendigkeit einträchtig bestätigt haben, das sei alles nichts. Wenn nämlich wirklich die oben entwickelten Sätze mit dem Schutzwall zwingender Wahrheit gesichert sind, dann war nicht irgend etwas vor der höchsten Wesenheit noch wird irgend etwas nach ihr sein. Somit war nichts vor ihr und wird nichts nach ihr sein. Denn es ist notwendig, dass entweder etwas oder nichts vorausgegangen ist und nachfolgen wird. Wer nun sagt, dass nichts vor ihr war und nichts nach ihr sein wird, scheint zu behaupten, es habe vor ihr eine Zeit gegeben, wo nichts war, und es werde nach ihr eine Zeit sein, wo nichts sein wird. Damals also, wo nichts war, war sie nicht, und dann, wenn nichts sein wird, wird sie nicht sein. Hat sie also nicht doch einen Anfang genommen aus dem Nichts und wird sie nicht doch einmal im Nichts enden, da sie noch nicht war, als schon das Nichts war, und da sie nicht wahr sein wird, wenn das Nichts noch immer sein wird? Wozu wurde also eine so große Masse von Beweisen aufgeboten, wenn das Nichts deren Mühen so mühelos umwirft? Wenn man nämlich behauptet, das höchste Sein folge auf das vorausgehende Nichts und räume dem nachfolgenden Nichts den Platz, dann wird notwendig alles, was oben durch das notwendige Wahre aufgestellt worden ist, umgestoßen durch das leere Nichts. Oder soll man nicht lieber dem Nichts Widerstand leisten, damit diese vielen Bauten zwingender Vernunfteinsicht nicht erstürmt werden von dem Nichts; und damit das höchste Gut, das mit der Leuchte der Wahrheit gesucht und gefunden wurde, nicht verlorengehe wegen des Nichts?

Eher möge man also, wenn es geschehen kann, behaupten, das Nichts sei nicht gewesen vor der höchsten Wesenheit und es werde nicht nach ihr sein, als dass vor und nach ihr dem Nichts eine Stelle eingeräumt und so durch das Nichts jenes Sein zunichte gemacht werde, welches durch sich selbst das, was nicht war, zum Sein gebracht hat. Einen doppelten Sinn birgt nämlich die eine Aussage: nichts war vor der höchsten Wesenheit. Die eine Bedeutung ist diese: Bevor die höchste Wesenheit war, gab es eine Zeit, wo nichts war. Die andere Auffassung ist diese: Vor der höchsten Wesenheit war nicht irgend etwas. Wenn ich etwa sage: Nichts lehrte mich fliegen, kann ich das entweder so auslegen: Das Nichts, im Sinne von einem Nicht-etwas, lehrte mich (wirklich) fliegen - das wäre falsch; oder so: Nicht lehrte mich etwas fliegen - und das ist wahr. Die erste Bedeutung ist es also, woraus sich die oben (im Anfang dieses Kapitels) angeführte Sinnlosigkeit ergibt, die durch jedwede vernünftige Überlegung als falsch zurückgewiesen wird. Die zweite aber ist es, die sich den früheren Ergebnissen in vollkommener Übereinstimmung anschließt und durch das ganze Gewebe derselben zwingend als wahr erwiesen wird. Daher muss der Satz, dass nichts vor ihr war, der zweiten Auffassung gemäß verstanden werden. Man darf ihn nicht so auslegen, dass man denkt, es sei eine Zeit gewesen, wo sie nicht war, und wo nichts war; sondern man muss ihn so verstehen: Vor ihr war nicht irgend etwas. - Ebenso verhält es sich mit der doppelten Auffassung des Satzes, dass nichts nach ihr sein wird. Wenn man diese das Nichts betreffende Auslegung sorgsam im Auge behält, dann ergibt sich in wahrster Wahrheit, dass weder etwas noch auch nichts der höchsten Wesenheit vorausging oder ihr nachfolgen wird, und dass nichts vor ihr war oder nach ihr kommen wird, ohne dass die Festigkeit eines der schon aufgestellten Sätze durch die Leere des Nichts erschüttert würde.

20. Kapitel: Sie isi an jedem Ort und zu jeder Zeit

Wiewohl aber oben (im 14. Kapitel) erschlossen wurde, dass diese schöpferische Natur überall ist und in allen und durch alle Dinge hin, und wiewohl daraus, dass sie weder zu sein anfing noch zu sein aufhören wird (vgl. das 18. Kapitel), folgt, dass sie immer war, ist und sein wird, so fühle ich doch etwas wie einen leisen Widerspruch sich regen, was mich zwingt, sorgsamer zu untersuchen, wo und wann sie ist. Nun gut: Die höchste Wesenheit ist entweder überall und immer oder nur irgendwo und irgend wann oder nirgendwo und niemals. Ich kann auch sagen: Sie ist entweder an jedem Ort und in jedem Zeitpunkt oder ausschließlich in einem bestimmten oder in keinem.

Was scheint sich aber mehr zu widersprechen, als dass das, was im wahrsten und höchsten Sinne ist, nirgendwo und niemals ist? Also ist es falsch, dass sie nirgendwo und niemals ist. - Ferner: Da kein Gut und überhaupt kein Etwas ohne sie ist, so ist, wenn sie selbst nirgendwo und niemals ist, auch nirgendwo und niemals irgendein Gut und nirgendwo und niemals überhaupt etwas. Wie falsch das ist, braucht nicht erst gesagt zu werden. Also ist auch falsch, dass sie nirgendwo und niemals ist. - Sie ist also entweder ausschließlich irgendwo und irgendwann oder überall und immer. Wenn sie aber ausschließlich in einem bestimmten Ort und Zeitpunkt ist, dann kann nur dort und dann etwas sein, wo und wann sie selbst ist; wo und wann sie aber nicht ist, dort und dann ist überhaupt kein Wesen, weil ohne sie nichts ist. Daraus würde folgen, dass es einen Ort und eine Zeit gibt, wo und wann überhaupt nichts ist. Weil dies aber falsch ist - denn Ort und Zeit sind selbst ein Etwas -, so kann die höchste Natur nicht ausschließlich nur irgendwo oder irgend wann sein. -- Sagt man aber, sie sei durch sich zwar ausschließlich nur irgendwo und irgendwann, durch ihre Macht aber jeweils dort und dann, wo und wann immer etwas ist, so ist das nicht wahr. Weil nämlich ihre Macht offenbar nichts anderes ist als sie selbst, so ist ihre Macht in keiner Weise ohne sie. Da sie also nicht ausschließlich nur irgendwo und irgendwann ist, so ist es notwendig, dass sie überall und immer ist, d.h. an jedem Ort und zu jeder Zeit.

21. Kapitel: Sie ist an keinem Ort und zu keiner Zeit

Wenn nun dem so ist, dann ist sie entweder ganz an jedem Ort und zu jeder Zeit oder nur irgendein Teil von ihr, so dass der andere Teil außerhalb jedes Ortes und jeder Zeit ist. Ist sie aber mit einem Teil in allen Orten und Zeiten und mit dem anderen Teil nicht, dann hat sie Teile. Das ist aber falsch. Also ist sie nicht nur teilweise überall und immer. - Wie ist sie aber dann als Ganze überall und immer? Entweder muss man das so verstehen, dass sie auf einmal ganz in allen Orten und Zeiten und Teil um Teil in den einzelnen (Orten und Zeiten) ist, oder so, dass sie ganz auch in den einzelnen ist. Wenn sie aber nur Teil um Teil in den einzelnen ist, dann kommt sie nicht daran vorbei, nach Teilen zusammengesetzt und geschieden zu sein; dies ist aber als etwas der höchsten Natur sehr Fremdes erfunden worden. Also ist sie nicht Solcherweise ganz in allen Orten und Zeiten, dass sie Teil um Teil in den einzelnen wäre. - So bleibt die zweite Frage zu erörtern, nämlich auf welche Art die höchste Natur ganz in allen Orten und Zeiten und ganz in jedem einzelnen derselben ist. Dies kann sie freilich nur entweder gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten. Während aber die beiden Begriffe Ort und Zeit bis jetzt nebeneinander schritten und darum in gemeinsamer Verhandlung auf Grund gleicher Merkmale aufgespürt werden konnten, trennen sie sich hier voneinander und scheinen vor der Untersuchung nach verschiedenen Wegkrümmungen auseinander zu fliehen. Darum soll jeder für sich in einer eigenen Besprechung erforscht werden. Zuerst will ich also sehen, ob die höchste Natur entweder gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten ganz an den einzelnen Orten sein kann. Dann will ich dasselbe bei den Zeiten untersuchen.

Wenn sie gleichzeitig ganz an den einzelnen Orten ist, dann sind an den einzelnen Orten einzelne Ganze. Denn wie Ort von Ort geschieden ist, so dass es einzelne Orte sind, so ist auch das, was ganz an dem einen Orte ist, von dem geschieden, was zur selben Zeit ganz an einem anderen Orte ist, so dass es einzelne Ganze sind. Denn was ganz an einem bestimmten Orte ist, von dem gibt es nichts, was nicht an diesem Orte wäre. Wovon es aber nichts gibt, was an einem bestimmten Orte nicht wäre, von dem gibt es nichts, was zur selben Zeit außerhalb dieses Ortes wäre. Was also ganz an einem bestimmten Orte ist, von dem gibt es nichts, was zur selben Zeit außerhalb dieses Ortes wäre. Wovon aber nichts außerhalb eines beliebigen Ortes ist, von dem ist nichts zur selben Zeit an einem anderen Orte. Was daher ganz an einem beliebigen Orte ist, von dem ist nichts zugleich an einem anderen Orte. Wie sollte also das, was an einem bestimmten Orte ist, gleichzeitig auch ganz an einem anderen Orte sein, wenn nichts von ihm an einem anderen Orte sein kann? Weil also ein einziges Ganze nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten als Ganzes sein kann, so folgt, dass an den einzelnen Orten einzelne Ganze sind, wenn an den einzelnen Orten gleichzeitig etwas als Ganzes ist. Wenn daher die höchste Natur zur gleichen Zeit ganz an allen einzelnen Orten ist, dann gibt es ebenso viele einzelne höchste Naturen, als es einzelne Orte geben kann. Das anzunehmen, ist aber unvernünftig. Also ist sie nicht zur gleichen Zeit ganz an den einzelnen Orten. - Wenn sie jedoch zu verschiedenen Zeiten ganz an den einzelnen Orten ist, dann gibt es, solange sie an einem bestimmten Orte ist, nichts Gutes und nichts Seiendes an den anderen Orten, weil ohne sie überhaupt nichts ist. Dass dies aber widersinnig ist, beweisen schon die Orte selbst, welche nicht nichts, sondern etwas sind. Somit ist die höchste Natur auch nicht zu verschiedenen Zeiten ganz an den einzelnen Orten. - Wenn sie nun weder zur selben Zeit noch zu verschiedenen Zeiten ganz an den einzelnen Orten ist, dann ist klar, dass sie in keiner Weise ganz an allen einzelnen Orten ist.

Nun ist zu untersuchen, ob diese höchste Natur ganz in den einzelnen Zeiten ist, und zwar entweder gleichzeitig oder unterschiedlich durch die einzelnen Zeiten hin. Aber wie kann etwas ganz zugleich in den einzelnen Zeiten sein, da die Zeiten selbst nicht zugleich sind? Wenn sie aber gesondert und unterschiedlich dann und dann ganz in den einzelnen Zeiten ist, gleichwie ein bestimmter Mensch ganz gestern, heute und morgen ist, dann wird von ihr im eigentlichen Sinne gesagt, dass sie war, ist und sein wird. Dann ist ihre Lebensdauer, die nichts anderes ist als ihre Ewigkeit, nicht ganz zugleich, sondern nach allen Teilen ausgedehnt durch die Teile der Zeiten hin. Nun ist aber ihre Ewigkeit nichts anderes als sie selbst. Somit wäre die höchste Wesenheit nach Teilen geschieden entsprechend den Unterschieden der Zeiten. Wenn nämlich ihre Lebensdauer sich durch den Ablauf der Zeiten erstreckt, dann hat sie mit diesen Zeiten Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges. Was ist aber ihre Lebensdauer oder ihr Beharren im Wirklichsein anderes als ihre Ewigkeit? Da also, wie die oben (im 17. Kapitel) vollzogene Überlegung unzweifelhaft beweist, ihre Ewigkeit nichts anderes ist als ihre Wesenheit, so hat, wenn ihre Ewigkeit Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges hat, folgerichtig auch ihre Wesenheit Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Was aber vergangen ist, ist nicht gegenwärtig noch zukünftig; was gegenwärtig ist, ist nicht zukünftig noch vergangen, und was zukünftig ist, ist nicht vergangen noch gegenwärtig. Wie wird dann aber bestehen, was oben (im 17. Kapitel) mit vernunftgemäßer und einleuchtender Notwendigkeit klar wurde, dass nämlich diese höchste Natur in keiner Weise zusammengesetzt, sondern höchst einfach und höchst unveränderlich ist, wenn sie zu den verschiedenen Zeiten immer wieder etwas anderes ist und Teile hat, die durch die Zeiten hin verteilt sind? Oder aber, wenn jene Sätze wahr sind, ja weil sie so leuchtend wahr sind - wie sind dann diese möglich? In keiner Weise nimmt also die schöpferische Wesenheit oder ihre Lebensdauer oder Ewigkeit Vergangenes oder Zukünftiges an. Das Gegenwärtige freilich, wie sollte sie dies nicht haben, wenn sie in Wahrheit "ist"? Dagegen bezeichnet "war" Vergangenes und "wird sein" Zukünftiges. Sie war also niemals noch wird sie sein; und darum ist sie auch nicht zeitunterschiedlich so wenig wie gleichzeitig - ganz in den verschiedenen einzelnen Zeiten.

Wenn sie also, wie erörtert wurde, weder in der Weise ganz in allen Orten und Zeiten ist, dass sie auf einmal ganz in allen und Teil um Teil in den einzelnen ist, noch in der Weise, dass sie auch ganz in den einzelnen ist, dann ist klar, dass sie in keiner Weise ganz in jedem Ort und in jeder Zeit ist. Und weil gleichfalls eingesehen wurde, dass sie auch nicht in der Weise in jedem Ort und in jeder Zeit ist, dass ein Teil in jedem Ort und in jeder Zeit, ein anderer Teil außerhalb jedes Ortes und jeder Zeit ist, so ist es unmöglich, dass sie überall und immer ist. Denn sie kann keineswegs als überall und immer seiend gedacht werden, es sei denn entweder als Ganzes oder als Teil. Wenn sie aber gar nicht überall und immer ist, dann muss sie entweder ausschließlich in einem bestimmten Ort und Zeitpunkt sein oder in keinem. Dass sie aber nicht ausschließlich in irgend etwas sein kann, ist schon erörtert worden (im vorausgehenden Kapitel). Also ist sie an keinem Ort und zu keiner Zeit, d. h. sie ist nirgendwo und niemals. Denn sein kann sie nur entweder in allen oder in einem bestimmten. Weil aber wiederum unumstößlich feststeht, nicht bloß, dass sie durch sich ist und dass sie ohne Anfang und ohne Ende ist (Vgl. das 18. Kapitel), sondern dass ohne sie weder irgendwo noch irgendwann etwas ist, so ist es notwendig, dass sie überall und immer ist.

22. Kapitel: Inwiefern sie an jedem und keinem Ort und zu jeder und keiner Zeit ist

Wie lassen sich nun diese beiden dem Wortlaut nach so entgegengesetzten und der Beweisführung nach so notwendigen Ergebnisse vereinbaren? Vielleicht ist die höchste Natur in Ort und Zeit auf eine Weise, die sie nicht hindert, derart gleichzeitig ganz in den einzelnen Orten und Zeiten zu sein, dass es deshalb doch nicht mehrere Ganze sind, sondern nur ein Ganzes; und dass auch ihre Lebensdauer, die nichts anderes ist als die wahre Ewigkeit, nicht verteilt ist in Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Denn an dieses Gesetz von Ort und Zeit scheinen nur jene Dinge gebunden zu sein, die derart in Ort und Zeit sind, dass sie über die Spannweite des Ortes und über die Dauer der Zeit nicht hinausragen. Während also in Bezug auf so geartete Dinge mit voller Wahrheit behauptet wird, dass ein und dasselbe Ganze nicht gleichzeitig ganz in verschiedenen Orten und Zeiten sein kann, ist es bei denen, die nicht so geartet sind, durchaus nicht notwendig, dasselbe zu folgern. Denn es scheint mit Recht gesagt zu werden, dass nur jenes Ding einen Ort hat, dessen Größe der Ort umschreibend zusammenhält und zusammenhaltend umschreibt; und dass nur jenes Ding eine Zeit hat, dessen Dauer die Zeit irgendwie messend begrenzt und begrenzend misst. Darum wird in Wahrheit behauptet, dass es weder Ort noch Zeit gibt für ein Wesen, gegen dessen Fülle und Dauer weder Ort noch Zeit eine Schranke errichten. Weil nämlich weder der Ort an ihm tut, was des Ortes, noch die Zeit, was der Zeit ist, ist es nicht unvernünftig, zu sagen, dass kein Ort sein Ort ist und keine Zeit seine Zeit ist. Wovon man aber deutlich sieht, dass es weder Ort noch Zeit hat, von dem ist ohne weiteres auch erwiesen, dass es durchaus nicht dem Gesetz von Ort und Zeit untersteht. Also übt kein Gesetz von Ort und Zeit irgendwie Zwang aus über eine Natur, die weder von Ort noch von Zeit durch irgendwelche Umfassung eingeschlossen wird.

Welche vernünftige Überlegung sollte aber nicht mit allseitiger Vernunftbegründung ausschließen, dass die schöpferische und allerhöchste Substanz, welche notwendigerweise fremd und frei ist gegenüber der Natur und dem Recht aller Dinge, die sie selbst aus nichts gemacht hat, dass also die höchste Substanz durch irgendeine Schranke von Ort und Zeit eingeschlossen werde, da vielmehr ihre Macht, die nichts anderes ist als ihre Wesenheit, alles von ihr Gemachte unter sich zusammenhält und einschließt? Und wie sollte es nicht unverschämter Unverstand sein, zu sagen, die Größe der höchsten Wahrheit werde vom Ort umschrieben oder ihre Dauer werde von der Zeit gemessen, da doch diese Wahrheit eine Größe oder Kleinheit örtlicher oder zeitlicher Ausdehnung gar nicht annimmt?

Weil also das Grundverhältnis von Ort und Zeit darin besteht, dass all das, was durch ihre Grenzmarken eingeschlossen wird, und nur dies, nicht daran vorbeikommt, aus Teilen zu bestehen - ob nun aus solchen, die ihr Ort im Sinne der Ausdehnung fordert, oder aus solchen, die ihre Zeit im Sinne der Dauer zulässt -, und dass es auf keine Weise von verschiedenen Orten und Zeiten zugleich als Ganzes umfasst werden kann; dass dagegen all das, was durch die Umspannung des Ortes und der Zeit gar nicht eingeschränkt ist, durch kein Gesetz der Orte und Zeiten zu einer Vielfalt von Teilen gezwungen wird, und dass es ihm nicht verwehrt ist, in vielen Orten und Zeiten gleichzeitig ganz zugegen zu sein - weil also darin, sage ich, das Grundverhältnis von Ort und Zeit besteht, so ist ohne Zweifel die höchste Substanz, weil durch keine Umspannung von Ort und Zeit umfasst, auch an keines ihrer Gesetze gebunden. - Weil daher einerseits unausweichliche Notwendigkeit fordert, dass die höchste Wesenheit als Ganzes keinem Ort und keiner Zeit ferne ist, und weil andrerseits keine Wesensbeziehung des Ortes oder der Zeit sie hindert, dass sie jedem Ort und jeder Zeit als Ganzes gegenwärtig ist, so muss sie in allen Orten und Zeiten und in jedem einzelnen derselben zugleich als Ganzes gegenwärtig sein. Denn ihr Gegenwärtigsein in diesem Ort und in dieser Zeit hindert sie nicht, zugleich und in gleicher Weise auch jenem Ort und jener Zeit gegenwärtig zu sein; und dass sie war oder sein wird, ist kein Grund dafür, dass etwas von ihrer Ewigkeit aus der Gegenwart geschwunden ist mit dem Vergangenen, das nicht mehr ist; oder vorübergeht mit dem Gegenwärtigen, das kaum ist; oder kommen wird mit dem Zukünftigen, das noch nicht ist. Denn ein Wesen, dessen Sein in keiner Weise eingeschlossen wird in Ort und Zeit, wird auch in keiner Weise vom Gesetz der Orte und Zeiten dazu gezwungen oder davon abgehalten, irgendwo oder irgendwann zu sein oder nicht zu sein. Wenn nämlich gesagt wird, die höchste Wesenheit sei in Ort und Zeit, so ist dies zwar infolge der Sprachgewohnheit ein und dieselbe Aussage über sie wie über die ort- und zeitbefangenen Naturen, aber die Bedeutung ist infolge der Ungleichheit der Dinge verschieden. Denn bei jenen bedeutet dieselbe Aussage zweierlei, nämlich: dass sie den Orten und Zeiten gegenwärtig sind, in denen es heißt, dass sie sind, und: dass sie von ihnen umfasst werden. Bei der höchsten Wesenheit dagegen ist nur das eine gemeint, dass sie gegenwärtig ist, nicht auch, dass sie umfasst wird.

Daher wäre es wohl, wenn der Sprachgebrauch es zuließe, zutreffender, zu sagen, sie sei mit Ort und Zeit, als zu sagen, sie sei in Ort und Zeit. Denn wenn man von einem Ding sagt, es sei in einem anderen, so bedeutet das eher, es werde von demselben umfasst, als wenn man von ihm sagt, es sei mit diesem anderen. Darum wird von ihr im eigentlichen Sinne gesagt, sie sei in keinem Ort und in keiner Zeit, weil sie überhaupt von keinem Wesen umfasst wird; und dennoch kann gesagt werden, sie sei auf eine ihr eigene Weise in jedem Ort und in jeder Zeit; denn was immer sonst noch Sein hat, wird von ihr, der Gegenwärtigen, gestützt, damit es nicht ins Nichts fällt. Sie ist in jedem Ort und in jeder Zeit, weil sie keinem ferne ist; sie ist in keinem, weil sie keinen Ort und keine Zeit hat. Sie nimmt keine Orts- oder Zeitunterschiede in sich auf - weder ein Hier oder Dort oder ein Irgendwo noch ein Jetzt oder Damals oder Irgendwann; sie ist auch nicht nach Art der zerrinnenden Gegenwart, die wir benützen, noch war oder wird sie sein nach Art der Vergangenheit und Zukunft; denn das alles sind Eigenschaften der begrenzten und veränderlichen Dinge, und zu denen gehört sie nicht. Und dennoch kann dies in gewissem Sinne von ihr ausgesagt werden, weil sie allen begrenzten und veränderlichen Dingen so gegenwärtig ist, als würde sie selbst durch diese Orte umgrenzt und durch diese Zeiten verändert. - Dies mag genügen, um den lautgewordenen Widerstreit (Vgl. die Überschriften der Kap. 20-22 und den Beginn dieses Kapitels) aufzulösen: es ist nun klar geworden, auf welche Weise die höchste aller Wesenheiten sowohl überall und immer als auch nirgendwo und niemals, d. h. an jedem und keinem Ort und zu jeder und keiner Zeit ist, gemäß der übereinstimmenden Wahrheit verschiedener Auffassungsweisen.

23. Kapitel: Besser kann von ihr gedacht werden, dass sie überall, als dass sie an jedem Orte ist

Weil nun aber feststeht, dass diese höchste Natur nicht in höherem Maße in allen Orten ist, als sie in allen seienden Dingen ist - nicht als würde sie umfasst, sondern als solche, die, alles durchdringend, alles umfasst -, warum sollte man nicht sagen, sie sei überall in dem Sinne, dass man darunter mehr dieses versteht, sie sei in allen seienden Dingen, als nur, sie sei in allen Orten, zumal diese Auffassung sowohl der Wahrheit der Sache entspricht, als auch dem eigentlichen Sinn des ortbezeichnenden Wortes keineswegs entgegenspricht ? Wir pflegen nämlich häufig, ohne Tadel zu verdienen, ortbezeichnende Worte solchen Dingen beizulegen, die weder Orte sind noch durch örtliche Begrenzung umfasst werden, - wenn ich etwa sage, der Verstand sei in der Seele dort, wo die Denkkraft ist. Dort und Wo sind aber ortsbestimmende Beiwörter, und doch umfasst weder die Seele etwas durch örtliche Begrenzung, noch wird der Verstand oder die Denkkraft durch eine solche umfasst. Daher wird die Aussage, die höchste Natur sei überall, der Wahrheit der Sache gemäß, passender in dem Sinne verstanden: Sie ist in allen seienden Dingen, als nur in dem Sinne: Sie ist an allen Orten. Und weil es, wie die oben dargelegten Gründe lehren, gar nicht anders sein kann, so ist sie notwendig derart in allen seienden Dingen, dass sie als ein und dasselbe vollkommene Ganze zu gleicher Zeit in allen einzelnen ist.

24. Kapitel: Besser kann von ihr gedacht werden, dass sie immer ist, als dass sie zu jeder Zeit ist

Es steht aber auch fest, dass diese höchste Substanz ohne Anfang und ohne Ende ist (vgl. das 18. Kapitel), dass sie weder Vergangenheit noch Zukunft hat noch auch die zeitliche, d. h. jene dahingIeitende Gegenwart, die wir benützen; denn ihre Lebensdauer oder Ewigkeit, die nichts anderes ist als sie selbst, ist unveränderlich und ohne Teile (vgl. das 22. Kapitel). Sollte also das Wort "immer", das wohl die ganze Zeit bedeutet, nicht in viel wahrerem Sinne, wenn es von jener Wesenheit ausgesagt wird, die sich selbst niemals ungleiche Ewigkeit bezeichnen als die Mannigfaltigkeit der Zeiten, die sich selbst immerfort in irgendeinem Stücke ungleich ist? Wenn daher gesagt wird, sie sei immer, so wird das - weil nämlich bei ihr Sein und Leben dasselbe ist - gar nicht besser verstanden werden als: dass sie ewig ist und ewig lebt, d. h. dass sie gleichzeitig und vollkommen das ganze unbegrenzbare Leben innehat. Es scheint nämlich ihre Ewigkeit das unbegrenzbare, gleichzeitig und vollkommen als Ganzes wirklichbestehende Leben zu sein. Denn da es schon oben (im 17. Kapitel) hinreichend klar geworden ist, dass diese Substanz nichts anderes ist als ihr Leben und ihre Ewigkeit, dass sie in keiner Weise begrenzbar und nur gleichzeitig und vollkommen als ein Ganzes das Sein hat, was sollte die wahre Ewigkeit, die doch ihr allein zukommt, anderes sein als das unbegrenzbare, gleichzeitig und vollkommen als Ganzes wirklich bestehende Leben (Vgl. Boethius, Trost der Philosophie, 5. Buch, Prosa 6: Die Ewigkeit ist der gleichzeitige, ganze und vollkommene Besitz des unbegrenzbaren Lebens)? Denn dass die wahre Ewigkeit nur jener Substanz innewohnt, die allein als nicht geschaffen, vielmehr als Schaffende erfunden wurde, dies wird schon allein daraus klar erkannt, dass die wahre Ewigkeit als der Grenzmarken des Anfangs und Endes entbehrend gedacht wird, - was schon deshalb keinem der geschaffenen Dinge zukommen kann, weil sie aus nichts gemacht worden sind.

25. Kapitel: Sie ist durch keine Zufälligkeiten veränderlich

Ist aber diese Wesenheit, von der es klar wurde, dass sie in allweg dem Wesen nach sich selbst gleich ist, nicht zuweilen wenigstens einer Zufälligkeit nach von sich selbst verschieden? Wie ist sie aber höchst unveränderlich, wenn sie, ich will nicht sagen, durch Zufälligkeiten veränderlich sein, sondern auch nur als veränderlich gedacht werden kann? Wie ist sie aber andrerseits nicht doch der Zufälligkeit teilhaft, da gerade dieses, dass sie größer ist als alle anderen Naturen und dass sie ihnen unähnlich ist, wie es scheint für sie etwas Zufälliges ist? Aber warum soll die Aufnahmefähigkeit für einiges, was Zufälligkeit genannt wird, unvereinbar sein mit der natürlichen Unwandelbarkeit, wenn aus der Aufnahme derselben in dem Wesen keine Veränderlichkeit erfolgt? Von allen Seinsbestimmungen nämlich, die Zufälligkeiten genannt werden, können offenbar die einen nur mit einer gewissen Veränderung des teilhabenden Dinges vorkommen und fehlen, wie alle Farben; von anderen aber ist bekannt, dass sie durch ihr Kommen und Gehen gar keine Veränderung an dem Ding bewirken, von dem sie ausgesagt werden, wie einige Beziehungen. Denn sicherlich bin ich einem Menschen gegenüber, der erst heute übers Jahr geboren wird, weder größer noch kleiner noch gleich groß noch ähnlich. All diese Beziehungen aber werde ich, freilich erst wenn er geboren ist, ohne dass ich mich selbst irgendwie ändere, ihm gegenüber haben und verlieren können, je nach dem er wachsen oder durch verschiedene Beschaffenheiten verändert werden wird. So wird es denn offenkundig, dass von den Seinsbestimmungen, die Zufälligkeiten heißen, die einen eine gewisse Veränderlichkeit mit sich bringen, die anderen jedoch die Unveränderlichkeit keineswegs wegnehmen.

Wie nun die höchste Natur jenen Zufälligkeiten, die eine Veränderung bewirken, niemals in ihre Einfachheit Einlass gewährt, so verschmäht sie es doch nicht, zuweilen nach jenen Zufälligkeiten, die der höchsten Unveränderlichkeit gar nicht widerstreiten, so und so benannt zu werden, ohne dass ihrer Wesenheit irgend etwas "zufällt", weshalb sie selbst als wandelbar gedacht werden könnte. Daraus lässt sich auch noch dieses folgern, dass sie für keine Zufälligkeit aufnahmefähig ist. Denn gleichwie jene Zufälligkeiten, die durch ihr Kommen und Gehen eine Veränderung bewirken, durch diese ihre Wirkung zeigen, dass sie dem Ding, das sie verändern, im wahren Sinne zufallen, so findet es sich, dass jene, denen eine gleiche Wirkung fehlt, nur im uneigentlichen Sinne Zufälligkeiten heißen. Wie also die höchste Natur immer in allweg dem Wesen nach sich selbst gleich ist, so ist sie niemals irgendwie von sich selbst verschieden, auch nicht einer Zufälligkeit nach. Doch wie immer es sich mit dem eigentlichen Sinn des Namens "Zufälligkeit" verhalten mag, dieses Eine ist ohne Zweifel wahr, dass man von der höchst unwandelbaren Natur nichts aussagen kann, weswegen sie als wandelbar gedacht werden könnte.

26. Kapitel: In welchem Sinne man von ihr sagen kann, sie sei Substanz. Sie ist außerhalb aller Substanzen und ist auf einzigartige Weise das, was immer sie ist

Wenn nun aber zurecht besteht, was uns in Bezug auf die Einfachheit dieser Natur klar geworden ist (vgl. Kap. 17), wie ist sie dann Substanz? Denn während alle Substanzen für die Beimischung der Unterschiede und den Wechsel der Zufälligkeiten aufnahmefähig sind, ist ihre unveränderliche Lauterkeit jedweder Beimischung oder Veränderung unzugänglich. Wie wird man also aufrechterhalten, dass sie immerhin eine Substanz ist, es sei denn, dass man Substanz für Wesenheit sagt und sie infolgedessen ebenso außerhalb wie über aller Substanz ist? Denn ebenso weit wie das Sein, das durch sich ist, was immer es ist, und das alles andere Sein aus nichts macht, verschieden ist von jenem Sein, das, was immer es ist, durch ein anderes aus nichts wird, gerade so weit ist der Abstand der höchsten Substanz von jenen Substanzen, die nicht dasselbe sind, was sie ist. Und weil sie allein unter allen Naturen es von sich aus hat, ohne Hilfe einer anderen Natur zu sein, was immer sie ist, wie sollte sie nicht in einzigartiger Weise ohne Gemeinschaft mit einem ihrer Geschöpfe sein, was immer sie ist? Deshalb muss da, wo sie zuweilen mit anderen einen Namen gemeinsam hat, dieser Name ohne Zweifel in einer sehr verschiedenen Bedeutung verstanden werden.

27. Kapitel: Sie ist nicht miteinbegriffen in der allgemeinen Lehre von den Substanzen und dennoch ist sie Substanz und unteilbar für sich bestehender Geist

Es steht also fest, dass diese Substanz in keiner allgemeinen Lehre von den Substanzen eingeschlossen wird, da von ihrer wesenhaften Gemeinschaft alle Natur ausgeschlossen ist. Da nämlich gelehrt wird, alle Substanz sei entweder eine allgemeine, die mehreren Substanzen wesenhaft gemeinsam ist, wie etwa das Menschsein den einzelnen Menschen gemeinsam ist, oder eine individuelle (unteilbar für sich bestehende), die eine allgemeine Wesenheit mit anderen gemeinsam hat, so wie die einzelnen Menschen miteinander gemeinsam haben, dass sie Menschen sind, wie kann einer denken, die höchste Natur sei in der Lehre von den anderen Substanzen miteinbegriffen, da sie sich doch weder in mehrere Substanzen teilt noch sich durch wesenhafte Gemeinschaft mit irgendeiner anderen zusammenfindet? Weil jedoch diese Wesenheit nicht nur ganz gewiss wirklich ist, sondern auch am meisten von allen Dingen wirklich ist, und weil man die Wesenheit jedweden Dinges gewöhnlich Substanz nennt, so ist es, wenn man sie überhaupt geziemend benennen kann, sicher nicht verwehrt, sie Substanz zu nennen. Und weil es bekanntlich keine wertvollere Wesenheit gibt als Geist oder Körper und von diesen der Geist wertvoller ist als der Körper, so muss man jedenfalls behaupten, dass die höchste Natur Geist ist und nicht Körper. Weil aber dieser Geist gar keine Teile hat, und es auch nicht mehrere solcher Geister geben kann, so ist er notwendig ein ganz individueller (unteilbar für sich bestehender) Geist. Weil er nämlich, wie oben (Kap. 17 und 25) gezeigt wurde, weder aus Teilen zusammengesetzt noch als durch irgendwelche Unterschiede oder Zufälligkeiten veränderlich gedacht werden kann, so ist es unmöglich, dass er durch irgendwelche Zerlegung teilbar wäre.

28. Kapitel: Dieser Geist ist schlechthin, während die geschaffenen Dinge mit ihm verglichen nicht sind

Es scheint also aus dem Vorhergehenden zu folgen, dass dieser Geist, der so in seiner geradezu wunderbar einzigen und einzig wunderbaren Weise ist, in gewissem Sinne allein ist, alle anderen Dinge aber, die sonst noch zu sein scheinen, mit ihm verglichen nicht sind (Augustinus, Enarr. in Ps 134 n. 4. [PL 37, 1741]: Mit ihr verglichen, sind sie nicht.). Wenn man nämlich genau darauf achtet, so wird man sehen, dass er allein schlechthin und in vollkommener und unbedingter Weise ist, dass aber alle anderen Dinge nahezu nicht sind und kaum sind. Denn weil von diesem Geiste wegen seiner unwandelbaren Ewigkeit in keiner Weise im Sinne irgendeiner Bewegung ausgesagt werden kann: er war oder er wird sein, sondern nur schlechthin: er ist; weil er weder auf wandelbare 'Weise etwas ist, was irgendeinmal nicht war oder nicht sein wird, noch auch nicht ist, was irgendeinmal war oder sein wird, sondern all das, was er ist, auf einmal, zugleich und unbegrenzbar ist; weil, wie gesagt, sein Sein von dieser Art ist, darum behauptet man mit Recht, dass er schlechthin und in unbedingter und vollkommener Weise ist.

Weil dagegen alle anderen Dinge auf wandelbare Weise in irgendeiner Hinsicht einmal waren oder sein werden, was sie nicht sind, oder sind, was sie einmal nicht waren oder nicht sein werden; und weil dies, dass sie waren, schon nicht mehr ist, und jenes, dass sie sein werden, noch nicht ist; und weil dieses, dass sie in dem hingleitenden, äußerst kurzen und kaum wirklichen Jetzt sind, kaum ist; kurzum, weil sie auf so wandelbare Weise sind, darum verneint man nicht mit Unrecht, dass sie schlechthin und in vollkommener und unbedingter Weise sind, und behauptet man, dass sie nahezu nicht sind und kaum sind. Wie kommt ferner, da alle Dinge, die von ihm verschieden sind, vom Nichtsein zum Sein kamen, nicht durch sich, sondern durch ein anderes; und da sie, soviel an ihnen liegt, vom Sein zum Nichtsein zurückkehren, wenn sie nicht durch ein anderes hochgehalten werden - wie kommt ihnen zu, schlechthin und in vollkommener und unbedingter Weise zu sein, und nicht vielmehr kaum zu sein oder nahezu nicht zu sein? Und da von dem Sein dieses unaussprechlichen Geistes in gar keiner Weise gedacht werden kann, dass es aus dem Nichtsein einen Anfang genommen habe oder aus dem, was es ist, ein Abnehmen ins Nichtsein erleiden könne, und da er, was immer er ist, nicht durch ein anderes ist, sondern durch sich, d. h. durch das, was er selbst ist, - wird nicht mit Recht einzig das Sein dieses Geistes als das vollkommene und unbedingte Sein erkannt? Was aber so schlechthin und einfachhin, in jeder Hinsicht allein vollkommen, einfach und unbedingt ist, von dem kann ohne Zweifel gewissermaßen mit Recht gesagt werden, dass es allein ist. Und umgekehrt, wovon auch immer durch die vorhin angestellte Überlegung erkannt wird, dass es weder schlechthin noch in vollkommener noch in unbedingter Weise ist, dass es vielmehr kaum ist und nahezu nicht ist, davon sagt man freilich einigermaßen mit Recht, dass es nicht ist. Diese Überlegung führt also zu dem Ergebnis, dass einzig jener Schöpfergeist ist und alle geschaffenen Dinge nicht sind; und dennoch sind sie nicht völlig nicht, weil sie durch den, der allein in unbedingter Weise ist, aus nichts etwas geworden sind.

29. Kapitel: Sein Sprechen ist dasselbe, was er selbst ist, und dennoch sind es nicht zwei, sondern nur ein Geist

Nachdem das klar erkannt ist, was mir, der ich der Vernunft als Führerin folgte, bis jetzt über die Eigenschaften dieser höchsten Natur aufging, halte ich es nunmehr für angebracht, ihr Sprechen, durch welches alle Dinge geschaffen wurden, so gut ich es vermag, zu betrachten. Wiewohl nämlich alles, was ich oben (in Kap. 10-12) von diesem Sprechen gewahr werden konnte, die unbeugsame Stärke der Vernunfteinsicht in sich trägt, so drängt es mich doch gar sehr, diesen einen Punkt dabei genauer zu untersuchen, dass nämlich von diesem Sprechen bewiesen wird, es sei dasselbe, was der höchste Geist ist. Wenn nämlich dieser Geist nichts geschaffen hat außer durch sich selbst, und wenn alles von ihm Geschaffene durch jenes Sprechen geschaffen wurde, wie ist es dann etwas anderes als das, was er selbst ist? - Ferner ist in dem schon Gefundenen jedenfalls unwiderleglich ausgesprochen, dass es niemals überhaupt etwas geben konnte oder geben kann außer dem erschaffenden Geist und dessen Schöpfung. Nun kann aber das Sprechen dieses Geistes unmöglich unter den geschaffenen Dingen enthalten sein; denn was immer als Geschöpf da ist, ist durch jenes Sprechen geworden; dieses selbst aber konnte nicht durch sich selbst werden. Denn nichts kann durch sich selbst werden, weil alles, was wird, später ist als das, wodurch es wird, und weil nichts später ist als es selbst. Da also dieses Sprechen des höchsten Geistes nicht Geschöpf sein kann, bleibt nur übrig, dass es nichts anderes ist als der höchste Geist. - Endlich kann man sich nichts anderes denken, was dieses Sprechen sein könnte, als die Erkenntnis dieses Geistes, wodurch er alles erkennt. Denn was ist für ihn das Sprechen eines Dinges nach dieser Art des Sprechens anderes als ein Erkennen? Er macht es nämlich nicht wie der Mensch, der nicht immer spricht, was er erkennt. Wenn also die höchst einfache Natur nichts anderes ist als das, was ihr Erkennen ist, wie sie auch dasselbe ist wie ihre Weisheit, dann ist sie ebenso notwendig auch nichts anderes als ihr Sprechen. - Weil es aber schon klar geworden ist, dass der höchste Geist nur einer ist und in allweg für sich besteht, so ist notwendig dieses Sprechen mit ihm derart wesenseins, dass es nicht zwei sind, sondern nur ein Geist.

30. Kapitel: Dieses Sprechen besteht nicht aus mehreren Worten, sondern ist nur ein Wort

Warum sollte ich also noch darüber zweifeln, was ich oben (in Kap. 12) in Zweifel gelassen habe, ob nämlich dieses Sprechen aus mehreren Worten oder aus einem Worte besteht? Wenn nämlich es mit der höchsten Natur derart wesenseins ist, dass es nicht zwei sind, sondern nur ein Geist, dann ist wie jene gewiss auch dieses in höchstem Maße einfach. Es besteht also nicht aus mehreren Worten, sondern ist das eine Wort, durch welches alle Dinge gemacht worden sind.

31. Kapitel: Dieses Wort ist nicht eine Ähnlichkeit der geschaffenen Dinge, sondern die Wahrheit des Wesens; die geschaffenen Dinge aber sind eine Art Nachahmung der Wahrheit. Die einen Naturen haben das Sein in höherem Maße und sind vornehmer als die anderen

Doch halt, da sehe ich eine Frage auftauchen, die weder leicht ist noch irgendwie unentschieden bleiben darf. Alle derartigen Worte nämlich, wodurch wir im Geiste beliebige Dinge aussprechen, d. h. denken, sind Ähnlichkeiten und Bilder der Dinge, deren Worte sie sind; und jede Ähnlichkeit und jedes Bild ist um so wahrer und um so weniger wahr, je mehr oder je weniger es das Ding nachbildet, dessen Ähnlichkeit es ist. Was ist also zu halten von dem Wort, in welchem alles gesprochen wird und durch welches alles geschaffen worden ist (vgl. Joh 1, 3)? Wird es eine Ähnlichkeit der durch es geschaffenen Dinge sein oder nicht? Wenn es nämlich eine wahrheitsgetreue Ähnlichkeit der wandelbaren Dinge ist, dann ist es nicht eines Wesens mit der höchsten Unwandelbarkeit; das ist aber falsch. Wenn es dagegen nicht eine in allweg wahre, sondern nur eine gewisse Ähnlichkeit der wandelbaren Dinge ist, dann ist das Wort der höchsten Wahrheit nicht in allweg wahr; das ist aber sinnlos. Wenn jedoch das Wort keine Ähnlichkeit mit den wandelbaren Dingen hat, wie sind sie dann nach seinem Vorbilde geschaffen?

Aber vielleicht wird nichts übrig bleiben von dieser Unklarheit, wenn man ebenso, wie man sagt, im lebendigen Menschen sei die Wahrheit des Menschen, im gemalten dagegen nur eine Ähnlichkeit und ein Bild dieser Wahrheit, so auch die Wahrheit des Wirklichseins in dem Wort erkennt, dessen Sein so sehr in höchstem Maße ist, dass gewissermaßen nur es ist, und wenn man in den Dingen, die im Vergleich mit ihm gewissermaßen nicht sind und dennoch durch es und ihm gemäß etwas geworden sind, eine gewisse Nachbildung dieser höchsten Wesenheit erblickt. Auf diese Weise erleidet das Wort der höchsten Wahrheit, das auch selbst höchste Wahrheit ist, keine Zu- oder Abnahme, sofern es den Geschöpfen ähnlicher oder weniger ähnlich wäre, sondern alles Geschaffene wird vielmehr notwendig in um so höherem Maße das Sein haben und um so vornehmer sein, je ähnlicher es dem ist, was im höchsten Maße ist und im höchsten Maße groß ist.

Dies ist ja auch vielleicht, nein, nicht vielleicht, sondern sicher der Grund, weshalb jeder Verstand urteilt, dass die irgendwie lebenden Naturen den Vorrang haben vor den nicht lebenden, die fühlenden vor den nicht fühlenden und die vernunftbegabten vor den vernunftlosen. Weil nämlich die höchste Natur auf eine ihr eigene, einzigartige Weise nicht nur ist, sondern auch lebt, fühlt und vernunftbegabt ist, so ist es klar, dass von allem Seienden das irgendwie Lebende der höchsten Natur ähnlicher ist als das, was gar nicht lebt, und das, was irgendwie, wenn auch nur mit körperlichem Fühlen, etwas erkennt, ihr ähnlicher ist als das, was überhaupt nichts fühlt, und das Vernunftbegabte ähnlicher als das, was des Denkens nicht fähig ist. Dass aber aus dem gleichen Grunde die einen Naturen in größerem oder geringerem Maße das Sein haben, ist klar ersichtlich. Denn wie jenes der Natur nach vornehmer ist, das auf Grund der natürlichen Wesenheit dem Vornehmsten nähersteht, so hat gewiss jene Natur in größerem Maße das Sein, deren Wesenheit der höchsten Wesenheit ähnlicher ist.

Dies lässt sich, wie ich glaube, auch auf folgende Weise leicht klarmachen. Wenn man von irgendeiner Substanz, die lebt und die gefühls- und vernunftbegabt ist, in Gedanken wegnimmt, dass sie vernunftbegabt ist, dann, dass sie gefühlsbegabt ist, dann, dass sie lebt, und endlich das nackte Sein selbst, das übrig bleibt, wer sieht da nicht ein, dass diese Substanz, die solchermaßen allmählich zerstört wird, stufenweise zu einem Sein von immer geringerem Maße und endlich zum Nichtsein geführt wird? Was man aber eins nach dem anderen wegnehmen kann, um eine beliebige Wesenheit zu einem Sein von immer geringerem Maße herab zu bringen, braucht man nur ordnungsgemäß wieder aufzunehmen, um diese Wesenheit wieder zu einem Sein von immer größerem Maße hinzuführen. Es ist somit klar, dass eine lebende Substanz in höherem Maße das Sein hat als eine nicht lebende, eine fühlende in höherem Maße als eine nicht fühlende, und eine vernunftbegabte in höherem Maße als eine nicht vernunftbegabte. Daher ist kein Zweifel, dass jede Wesenheit in einem um so höheren Maße das Sein hat und um so hervorragender ist, je ähnlicher sie jener Wesenheit ist, die im höchsten Maße das Sein hat und im höchsten Maße hervorragt. So ist es denn hinreichend klar, dass im Wort, durch welches alle Dinge geschaffen sind, nicht deren Ähnlichkeit ist, sondern die wahre und einfache Wesenheit; in den geschaffenen Dingen dagegen nicht die einfache und unbedingte Wesenheit, sondern kaum eine gewisse Nachbildung dieser wahren Wesenheit. Daraus ergibt sich notwendig, dass nicht etwa dieses Wort je nach der Ähnlichkeit mit den geschaffenen Dingen wahrer oder weniger wahr ist, sondern dass umgekehrt jede geschaffene Natur auf einer um so höheren Stufe der Wesenheit und Würde steht, je mehr sie jenem Worte näher zu kommen scheint.

32. Kapitel: Der höchste Geist spricht sich selbst durch das gleichewige Wort

Wie kann aber, wenn dem so ist, jenes Wort, das die einfache Wahrheit ist, Wort der Dinge sein, deren Ähnlichkeit es nicht ist, da jedes Wort, wodurch irgendein Ding auf diese Weise im Geiste gesprochen wird, eine Ähnlichkeit dieses Dinges ist? Und wenn es nicht Wort der Dinge ist, die durch es geschaffen sind, wie wird dann zurecht bestehen, dass es ein Wort ist? Denn jedes Wort muss Wort irgendeines Dinges sein. Schließlich gäbe es, wenn es niemals ein Geschöpf gäbe, auch kein Wort eines solchen. Was nun? Muss man etwa den Schluss ziehen, im Falle es gar kein Geschöpf gäbe, würde jenes Wort überhaupt nicht sein, das doch die höchste und keines anderen bedürftige Wesenheit ist? Oder würde vielleicht diese höchste Wesenheit, die das Wort ist, wohl ewige Wesenheit sein, nicht aber Wort, falls niemals durch sie etwas geschaffen würde? Denn von dem, was weder war, noch ist, noch sein wird, kann es kein Wort geben.

Aber nach diesem Gedankengange würde überhaupt kein Wort im höchsten Geiste sein, wenn es niemals eine Wesenheit außer dem höchsten Geiste gäbe. Wenn in ihm kein Wort wäre, würde er nichts bei sich sprechen. Wenn er nichts bei sich spräche, würde er nichts erkennen, da für ihn diese Art des Sprechens dasselbe ist wie Erkennen. Wenn er nichts erkännte, würde also die höchste Weisheit, die nichts anderes ist als dieser Geist, nichts erkennen; was aber ganz sinnlos ist. Was folgt also? Wenn er nichts erkännte, wie wäre er die höchste Weisheit? Und wiederum, wenn gar nichts außer ihr da wäre, was sollte sie dann erkennen? Aber würde sie nicht sich selbst erkennen?

Doch freilich, wie kann man auch nur denken, dass die höchste Weisheit sich jemals nicht erkennt, da schon der vernünftige Menschengeist nicht nur imstande ist, sich seiner selbst, sondern auch jener höchsten Weisheit bewusst zu werden und sowohl jene als auch sich selbst zu erkennen? Wenn nämlich der menschliche Geist weder von ihr noch von sich Bewusstsein und Erkenntnis haben könnte, würde er sich keineswegs von den vernunftlosen Geschöpfen unterscheiden und er würde auch nicht die höchste Natur von allem Geschaffenen unterscheiden, indem er bei sich allein still hin- und herüberlegt, wie es jetzt mein Geist tut. Folglich ist dieser höchste Geist, wie er ewig ist, so auch ewig seiner selbst bewusst und erkennt sich selbst nach Ähnlichkeit mit dem vernünftigen Geist; doch nein, nicht nach Ähnlichkeit mit irgend etwas anderem, sondern er ursprünglich, und der vernünftige Geist nach Ähnlichkeit mit ihm. Wenn er sich aber ewig selbst erkennt, dann spricht er sich ewig. Wenn er sich ewig spricht, dann ist sein Wort ewig bei ihm. - Mag man ihn also denken ohne das Dasein irgendeiner anderen Wesenheit oder mit dem Dasein anderer Wesenheiten, es ergibt sich notwendig, dass sein Wort gleich ewig wie er bei ihm ist.

33. Kapitel: Durch das eine Wort spricht er sich selbst und das, was er schuf

Doch siehe da, während ich über das Wort nachforschte, wodurch der Schöpfer alle Dinge spricht, die er schuf, bot sich mir das Wort dar, wodurch er sich selbst spricht, der alle Dinge schuf! Spricht er nun etwa sich selbst durch ein Wort und das, was er schuf, durch ein anderes Wort; oder spricht er vielmehr durch dasselbe Wort, wodurch er sich selber spricht, alles, was immer er schuf? Denn auch dieses Wort, wodurch er sich selber spricht, ist notwendig dasselbe, was er selber ist, wie das von jenem Worte gilt, wodurch er die von ihm geschaffenen Dinge spricht. Denn weil die Vernunft, wenn auch niemals etwas anderes da wäre außer diesem höchsten Geist, dennoch anzunehmen zwingt, dass dieses Wort, wodurch er sich selber spricht, notwendig da ist, was könnte wahrer sein als dies, dass dieses sein Wort nichts anderes ist als das, was er selber ist? Wenn er demnach sowohl sich selbst als auch das, was er schuf, durch das ihm wesensgleiche Wort spricht, dann ist offenbar die Substanz des Wortes, wodurch er sich selber spricht, und des Wortes, wodurch er das Geschaffene spricht, nur eine Substanz. Wenn es daher nur eine Substanz ist, wie sind es dann zwei Worte?

Aber vielleicht zwingt die Nichtverschiedenheit der Substanz nicht dazu, die Einheit des Wortes zuzugeben. Denn er selbst, der in diesen Worten spricht, hat mit ihnen dieselbe Substanz und ist doch nicht Wort. Aber freilich kann man das Wort, wodurch sich die höchste Weisheit spricht, höchst zutreffend deren Wort nennen aus dem oben angeführten Grunde, weil es die vollkommene Ähnlichkeit mit ihr besitzt. Denn es lässt sich auf keine Weise leugnen, dass, wenn der vernünftige Geist denkend sich selber erkennt, in seinem Denken sein eigenes Bild geboren wird; ja dieses Sichselbstdenken ist selber sein Bild, nach seiner Ähnlichkeit gleichsam durch Einprägung seiner selbst gebildet. Denn wenn immer der Geist, sei es durch körperliche Vorstellung, sei es durch die Vernunft, irgendein Ding wahrhaft zu denken begehrt, bemüht er sich, eine Ähnlichkeit von ihm, soviel er nur kann, in seinem Denken auszuprägen. Je wahrer er dies tut, um so wahrer denkt er das Ding. Dies lässt sich dann besonders deutlich ersehen, wenn der Geist etwas anderes denkt, was er selbst nicht ist, und am meisten, wenn er irgendeinen Körper denkt. Wenn ich etwa an einen abwesenden, mir bekannten Menschen denke, wird die Schärfe meines Denkens zu einem solchen Bilde von ihm gestaltet, wie ich es durch die Sehkraft der Augen in das Gedächtnis aufgenommen habe. Dieses Denkbild ist das Wort von jenem Menschen, den ich denkend spreche. Der vernünftige Geist hat also, wenn er sich denkend erkennt, sein aus ihm selbst geborenes Bild bei sich, d. h. sein Sichselbstdenken, zur Ähnlichkeit mit ihm gleichsam durch Einprägung gestaltet, obwohl er nur gedanklich sich selbst von seinem Bilde trennen kann. Und dieses Bild ist sein Wort.

Wer wollte daher leugnen, dass auf diese Weise die höchste Weisheit, wenn sie sich selber sprechend erkennt, eine ihr wesensgleiche Ähnlichkeit erzeugt, nämlich ihr Wort? Und obgleich von einer so einzigartig erhabenen Sache, wie dieses Wort es ist, etwas im eigentlichen Sinne nicht ausgesagt werden kann, was genügsam zutreffend wäre, so kann man es doch nicht ganz unzutreffend sowohl Ähnlichkeit als auch Bild, Gestalt und Ausprägung (1 Kol 1, 15: Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes. Hebr 1,3: Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Gepräge seines 'Wesens [figura - charakter]) derselben nennen. Das Wort aber, wodurch sie das Geschaffene spricht, ist durchaus nicht in gleicher "Weise das Wort des Geschaffenen, da es nicht dessen Ähnlichkeit, sondern die ursprüngliche Wesenheit ist. Daraus folgt, dass sie das Geschaffene nicht durch das Wort des Geschaffenen spricht. Durch wessen Wort spricht sie es also, wenn sie es nicht durch dessen Wort spricht? Denn was sie spricht, spricht sie durch ein Wort, und jedes Wort ist Wort, d. h. Ähnlichkeit von etwas. Wenn sie aber nichts anderes spricht als sich selbst und das Geschaffene, kann sie nichts sprechen außer durch ihr eigenes Wort oder durch das des Geschaffenen. Wenn sie also nichts spricht durch das Wort des Geschaffenen, so spricht sie, was immer sie spricht, durch ihr eigenes Wort. Also spricht sie durch ein und dasselbe Wort sich selbst und das, was immer sie schuf.

34. Kapitel: Wie es möglich erscheint, dass er durch sein Wort das Geschaffene spricht

Aber wie können so verschiedene Dinge wie die schaffende und die erschaffene Wesenheit durch ein einziges Wort gesprochen werden; zumal dieses Wort dem Sprechenden gleich ewig ist, das Geschaffene aber ihm nicht gleichewig ist? Vielleicht deshalb, weil dieser Sprechende die höchste Weisheit und die höchste Vernunft ist, in welcher alles, was geschaffen wurde, das Sein hat, so wie das Werk, das nach den Regeln einer Kunst geschaffen wird, nicht erst dann, wenn es geschaffen wird, sondern auch bevor es geschaffen wird und nachdem es aufgelöst wird, immerfort in dieser Kunst ein von dieser Kunst nicht verschiedenes Sein hat; indem also dieser höchste Geist sich selber spricht, spricht er alle Dinge, die geschaffen wurden. Denn sowohl bevor sie geschaffen wurden, wie auch dann, wenn sie schon geschaffen sind, und dann, wenn sie zerstört oder irgendwie verwandelt werden, sind sie immerfort in ihm, zwar nicht, was sie in sich selber sind, sondern, was er selber ist. Denn in sich selber sind sie eine wandelbare Wesenheit, geschaffen nach den Regeln der unwandelbaren Vernunft; in ihm aber sind sie die erste Wesenheit selbst und die erste Wahrheit des Seins, und je nachdem sie dieser irgendwie ähnlicher sind, haben sie ein wahreres und vornehmeres Sein. Auf diese Weise kann also nicht Unvernünftigerweise behauptet werden, dass dieser höchste Geist, indem er sich selber spricht, auch das spricht, was immer geschaffen ist, durch ein und dasselbe Wort.

35. Kapitel: 'Was immer geschaffen ist, ist in seinem Wort und Wissen Leben und Wahrheit

Da nun feststeht, dass sein Wort ihm wesensgleich und vollkommen ähnlich ist, folgt notwendig, dass alle Dinge, die in ihm sind, ebenfalls und in derselben Weise in seinem Worte sind. Was immer also geschaffen ist, ob es lebt oder nicht lebt, oder wie immer es in sich selbst sein mag, in ihm ist es das Leben und die Wahrheit selbst (Anselm liest wie Augustin [z. B. Tract in Joh I n. 16; PL 35, 1387] die Stelle Joh I, 3 f: Was geschaffen wurde, ist in ihm Leben). Weil aber für den höchsten Geist Wissen dasselbe ist wie Erkennen oder Sprechen, so weiß er alles, was er weiß, notwendig in derselben Weise, wie er es spricht oder erkennt. Wie demnach in seinem Worte alle Dinge Leben und Wahrheit sind, so sind sie es auch in seinem Wissen.

36. Kapitel: Auf welch unbegreifliche Weise er die von ihm geschaffenen Dinge spricht und weiß

Von dieser Tatsache aus kann aufs deutlichste begriffen werden, dass die Art, wie dieser Geist das Geschaffene spricht und wie er es weiß, von menschlichem Wissen nicht begriffen werden kann. Denn niemand zweifelt, dass die geschaffenen Substanzen in sich selbst bei weitem anders sind als in unserem Wissen. In sich selbst sind sie nämlich durch ihre eigene Wesenheit, in unserem Wissen dagegen sind nicht ihre Wesenheiten, sondern nur ihre Ähnlichkeiten. Es ergibt sich also, dass sie in sich selbst um so wahrer sind als in unserem Wissen, je wahrer sie irgendwo durch ihre Wesenheit sind als durch ihre Ähnlichkeit. Weil aber auch dies feststeht, dass alle geschaffene Substanz im Wort, d. h. in der Erkenntnis des Schöpfers, um so wahrer ist als in sich selbst, je wahrer die schaffende Wesenheit ist als die geschaffene, wie könnte der menschliche Geist begreifen, welcher Art jenes Sprechen und Wissen ist, das weit höher und wahrer ist als die geschaffenen Substanzen, wenn unser Wissen ebenso weit von diesen übertroffen wird, als ihre Ähnlichkeit von ihrer Wesenheit entfernt ist!

37. Kapitel: Was immer er selbst im Verhältnis zum Geschaffenen ist, das ist auch sein Wort; und doch stehen beide zusammen nicht in der Mehrzahl

Da aber die oben angeführten Gründe offenbar lehren, dass der höchste Geist durch sein Wort alles gemacht hat, sollte nicht auch das Wort selbst dieses alles gemacht haben? Weil nämlich das Wort dem wesensgleich ist, dessen Wort es ist, so ist es notwendig selber höchste Wesenheit. Die höchste Wesenheit ist aber nur eine, und sie ist die alleinige Schöpferin und der alleinige Ursprung aller Dinge, die geschaffen sind. Denn sie allein hat durch nichts anderes als durch sich alles aus nichts geschaffen. Was immer daher der höchste Geist schafft, das schafft auch sein Wort, und zwar auf die gleiche Weise (Vgl. Joh 5, 19: Denn was immer jener [der Vater] tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn). Was immer also der höchste Geist im Verhältnis zum Geschaffenen ist, das ist auch sein Wort, und zwar auf die gleiche Weise; und doch stehen beide zusammen nicht in der Mehrzahl, weil es nicht mehrere schöpferische höchste Wesenheiten gibt. Wie somit jener Schöpfer und Ursprung der Dinge ist, so auch sein Wort; doch sind es nicht zwei, sondern nur ein Schöpfer und ein Ursprung.

38. Kapitel: Man kann nicht sagen, was für zwei sie sind, obwohl es notwendig ist, dass sie zwei sind

Daher muss man etwas eifrig beachten, was bei anderen Dingen sehr ungewöhnlich, aber beim höchsten Geist und dessen Wort doch zuzutreffen scheint. Denn es ist gewiss, dass jedem der beiden und beiden zusammen das, was immer sie in der Wesenheit sind und was immer sie im Verhältnis zum Geschaffenen sind, derart innewohnt, dass es vollkommen in jedem der beiden ist und dennoch keine Mehrheit in den zweien aufkommen lässt. Obwohl nämlich jener Geist für sich allein in vollkommener Weise höchste Wahrheit und Schöpfer ist, und auch sein Wort für sich allein höchste Wahrheit und Schöpfer ist, so sind beide zusammen doch nicht zwei Wahrheiten oder zwei Schöpfer.

Obgleich es sich aber so verhält, ist es doch erstaunlicherweise ganz offenkundig, dass weder der, dessen das Wort ist, sein eigenes Wort sein kann, noch auch das Wort der sein kann, dessen Wort es ist. So bewahren sie in den Bezeichnungen dessen, was sie dem Wesen nach sind, und dessen, was sie im Verhältnis zum Geschaffenen sind, immerdar ungeteilte Einheit; darin aber, dass jener nicht aus diesem, dieses jedoch aus jenem ist, lassen sie eine unbenennbare Mehrheit zu. Eine unbenennbare fürwahr. Denn obgleich die Notwendigkeit zu folgern zwingt, dass es zwei sind, kann doch in keiner Weise ausgedrückt werden, was die zwei sind. Denn obwohl man sie vielleicht zwei Gleiche oder sonst etwas ebenso gegenseitig Geltendes nennen kann, so kann, wenn gefragt wird, was denn das ist, wovon ebendiese Verhältnisnamen gelten, es doch nicht in der Mehrzahl ausgesagt werden, wie man etwa spricht von zwei gleichen Linien oder zwei ähnlichen Menschen. Denn es sind ja weder zwei gleiche Geister noch zwei gleiche Schöpfer noch irgend etwas in der Zweizahl, was entweder ihre Wesenheit oder ihr Verhältnis zum Geschaffenen bezeichnet. Sie sind aber auch nicht etwas in der Zweizahl, was das besondere Verhältnis des einen zum anderen ausdrückt; denn sie sind weder zwei Worte noch zwei Bilder. Das Wort ist nämlich gerade, sofern es Wort oder Bild ist, auf einen anderen hingeordnet, weil es nur irgend wessen Wort oder Bild ist; und diese Namen sind dem einen derart eigentümlich, dass sie in keiner Weise auch dem anderen beigelegt werden können. Denn der, dessen das Wort und das Bild ist, ist selbst weder Wort noch Bild. Es steht also fest, dass nicht ausgedrückt werden kann, was für zwei der höchste Geist und sein Wort sind, obwohl gewisse Eigentümlichkeiten jedes einzelnen es notwendig machen, dass sie zwei sind. Dem einen ist es nämlich eigentümlich, aus dem anderen zu sein, und dem anderen ist es eigentümlich, dass jenes aus ihm ist.

39. Kapitel: Dieses Wort hat das Sein vom höchsten Geiste durch Geborenwerden

Dasselbe kann, wie es scheint, mit keinem anderen Ausdruck vertrauter wiedergegeben werden, als wenn man sagt, das Eigentümliche des einen sei, aus dem anderen geboren zu werden, und das Eigentümliche des anderen, dass jenes aus ihm geboren wird. Es ist nämlich schon sichergestellt, dass das Wort des höchsten Geistes nicht in der Weise aus ihm das Sein hat wie die von ihm geschaffenen Dinge, sondern so wie der Schöpfer vom Schöpfer, wie das Höchste vom Höchsten; und um in gedrängter Kürze die allseitige Ähnlichkeit herauszustellen: Völlig Ebendasselbe hat das Sein von Ebendemselben, und zwar so, dass es in keiner Weise ist, es sei denn aus ihm. Da nun offenbar das Wort des höchsten Geistes so ausschließlich aus ihm allein ist, dass es als dessen Sprössling die vollkommene Ähnlichkeit mit dem Gebärenden hat und nicht so aus ihm ist, dass es von ihm geschaffen würde, so kann in der Tat sein Aus-ihm-Sein gar nicht passender gedacht werden denn als ein Geborenwerden. Wenn man nämlich von unzähligen Dingen unbedenklich sagt, sie würden aus dem geboren, woraus sie das Sein haben, obwohl sie mit dem, woraus sie angeblich geboren werden, keine Ähnlichkeit haben wie der Sprössling mit dem Gebärenden - so sagen wir, die Haare würden vom Haupte geboren und die Äpfel vom Baum, obgleich weder jene dem Haupt noch diese dem Baum ähnlich sind -; wenn man also von vielen solcher Dinge sinnvoll sagen kann, sie würden geboren, dann kann vom Wort des höchsten Geistes um so angemessener ausgesagt werden, es sei aus ihm durch ein Geborenwerden, je vollkommener es als Sprössling des Gebärenden dessen Ähnlichkeit mitbringt, indem es aus ihm ist.

40. Kapitel: Im wahrsten Sinne ist dieser höchste Geist Gebärender und jenes Wort Sprössling

Wenn nun höchst zutreffend vom Wort das Geborenwerden ausgesagt wird, und wenn es dem, woraus es geboren wird, so ähnlich ist, warum sollte es nur für ähnlich erachtet werden wie der Sprössling dem Gebärenden und sollte nicht vielmehr behauptet werden, dass jener um so wahrer ein Gebärender und dieses ein Sprössling ist, je mehr jener zur Vollkommenheit dieser Geburt allein genügt und je mehr das Geborene die Ähnlichkeit des anderen ausprägt? Denn von den anderen Dingen, bei denen das Verhältnis von Gebärendem und Sprössling sicher vorliegt, zeugt keines in der Weise, dass es gar keines anderen bedarf und allein durch sich zur Zeugung des Sprösslings genügt; und keines wird in der Weise gezeugt, dass es ohne jede Beimischung einer Unähnlichkeit die allseitige Ähnlichkeit mit dem Gebärenden darstellt. Wenn also das Wort des höchsten Geistes so ganz nur aus dessen Wesenheit ist und so einzigartig ihm ähnlich ist, dass kein anderer Sprössling ebenso ganz nur aus der Wesenheit des Gebärenden ist und dem Gebärenden ebenso ähnlich ist, dann scheint allerdings bei keinem Ding das Verhältnis des Gebärenden und Sprösslings so gut zu passen wie auf den höchsten Geist und dessen Wort. Deswegen ist es jenem eigentümlich, im wahrsten Sinne Gebärender, diesem aber, im wahrsten Sinne Sprössling zu sein.

41. Kapitel: Im wahrsten Sinne zeugt jener und wird dieses gezeugt

Dies kann aber nur dann zu Recht bestehen, wenn jener auch im wahrsten Sinne zeugt und dieses im wahrsten Sinne gezeugt wird. Wie also jenes klar ersichtlich ist, so ist auch dieses notwendig höchst gewiss. Daher kommt es dem höchsten Geiste zu, im wahrsten Sinne zu zeugen, und seinem Wort, im wahrsten Sinne gezeugt zu werden.

42. Kapitel: Dem einen kommt es zu, im wahrsten Sinne Erzeuger und Vater, dem anderen, Gezeugter und Sohn zu sein

Ich möchte zwar und könnte vielleicht auch schon jetzt folgern, jener sei im wahrsten Sinne Vater und dieses im wahrsten Sinne Sohn; aber ich meine auch dies nicht außer acht lassen zu dürfen, ob für sie die Benennung Vater und Sohn oder die Benennung Mutter und Tochter angemessener sei, da es bei ihnen keinen Geschlechtsunterschied gibt. Wenn nämlich jenem deshalb zukommt, Vater, und seinem Sprössling, Sohn zu sein, weil beide Geist sind, warum sollte nicht mit gleichem Recht dem einen zukommen, Mutter, und dem anderen, Tochter zu sein, da beide Wahrheit und Weisheit sind? Etwa deshalb nicht, weil es bei Naturen, die Geschlechtsunterschied haben, das bessere Geschlecht ist, Vater oder Sohn zu sein, das geringere aber, Mutter oder Tochter zu sein? Dies ist zwar so von Natur in den meisten Fällen; in einigen aber ist es umgekehrt wie bei gewissen Vogelarten, bei denen das weibliche Geschlecht stets größer und stärker ist, das männliche aber kleiner und schwächer.

Aber gewiss ist es deshalb passender, den höchsten Geist eher Vater als Mutter zu nennen, weil die erste und ursprüngliche Ursache des Sprösslings immer im Vater ist. Da nämlich die väterliche Ursächlichkeit stets irgendwie der mütterlichen vorausgeht, wäre es äußerst ungereimt, den Mutternamen jenem Gebärenden beizulegen, dem zum Hervorbringen des Sprösslings keine andere Ursache beigesellt ist oder vorausgeht. Es ist also vollkommen wahr, dass der höchste Geist Vater seines Sprösslings ist. Weil nun der Sohn immer dem Vater ähnlicher ist als die Tochter, und weil es nichts gibt, was einem anderen so ähnlich wäre wie dem höchsten Vater dessen Sprössling, so ist es vollkommen wahr, dass dieser Sprössling nicht Tochter, sondern Sohn ist. Wie es also jenem eigentümlich ist, im wahrsten Sinne zu zeugen, und diesem, gezeugt zu werden, so ist es jenem eigentümlich, im wahrsten Sinne Erzeuger, und diesem, im wahrsten Sinne Erzeugter zu sein. Und wie der eine im wahrsten Sinne Gebärender und der andere im wahrsten Sinne Sprössling ist, so ist der eine im wahrsten Sinne Vater und der andere im wahrsten Sinne Sohn.

43. Kapitel: Rückblick auf das, was beiden gemeinsam und was den einzelnen eigentümlich ist

Nachdem ich bei jedem der beiden so viele und wichtige Eigentümlichkeiten gefunden habe, durch die in der höchsten Einheit das Vorhandensein einer wunderbaren, ebenso unaussprechlichen wie unausweichlichen Mehrheit erwiesen wird, erscheint es mir sehr wonnesam, ein so undurchdringliches Geheimnis öfter zu überdenken. Denn siehe, obwohl es derart unmöglich ist, dass der Zeugende derselbe sei wie der Gezeugte und der Sprössling derselbe wie der Gebärende, dass notwendig der Erzeuger ein anderer ist als der Gezeugte und der Vater ein anderer als der Sohn, so ist es dennoch derart notwendig, dass der Zeugende dasselbe ist wie der Gezeugte und ebenso der Gebärende und der Sprössling, dass unmöglich der Erzeuger etwas anderes ist als das, was der Gezeugte ist, und der Vater etwas anderes als das, was der Sohn ist.

Und obgleich dieser ein anderer ist als jener, und es deshalb ganz klar ist, dass es zwei sind, so ist doch wieder das, was dieser und jener ist, derart ein und dasselbe, dass es durchaus verborgen ist, was die zwei sind. Denn derart ist ein anderer der Vater und ein anderer der Sohn, dass, wenn ich die beiden nannte, ich mir bewusst bin, zwei genannt zu haben; und derart ist das, was sowohl der Vater als auch der Sohn ist, ein und dasselbe, dass ich nicht erkenne, was für zwei ich genannt habe. Obwohl nämlich der Vater für sich allein in vollkommener Weise höchster Geist und der Sohn für sich allein in vollkommener Weise höchster Geist ist, so sind doch der Vater-Geist und der Sohn-Geist dermaßen ein und dasselbe, dass Vater und Sohn nicht zwei Geister sind, sondern nur ein Geist. Wie demnach die einzelnen Eigentümlichkeiten der einzelnen keine Mehrzahl annehmen, weil sie nicht zweien zukommen, so bewahrt das, was beiden gemeinsam ist, die ungeteilte Einheit, obwohl es als Ganzes jedem einzelnen angehört. Denn wie sie nicht zwei Väter oder zwei Söhne sind, sondern ein Vater und ein Sohn, da die einzelnen Eigentümlichkeiten nur den einzelnen zukommen, so sind sie auch nicht zwei Geister, sondern ein Geist, obwohl es dem Vater für sich allein und dem Sohn für sich allein zukommt, vollkommener Geist zu sein. Derart sind sie durch die Beziehungen entgegengesetzt, dass der eine niemals das Eigentümliche des anderen aufnimmt; derart sind sie durch die Natur einträchtig, dass der eine immerdar die Wesenheit des anderen innehat. Derart sind sie dadurch verschieden, dass der eine Vater und der andere Sohn ist, dass der Vater niemals Sohn oder der Sohn Vater heißt; und derart sind sie so dasselbe durch die Substanz, dass immerdar die Wesenheit des Sohnes im Vater und die Wesenheit des Vaters im Sohne ist. Denn es ist nicht eine verschiedene, sondern dieselbe, nicht mehrere, sondern eine einzige Wesenheit bei der.

44. Kapitel: Inwiefern der eine die Wesenheit des anderen ist

Darum irrt man auch nicht von der Wahrheit ab, wenn man sagt, der eine sei die Wesenheit des anderen, sondern man hebt dadurch die höchste Einheit und Einfachheit der gemeinsamen Natur hervor. Wenn nämlich der Vater die Wesenheit des Sohnes und der Sohn die Wesenheit des Vaters genannt wird, kann das nicht so verstanden werden, wie man unter "Weisheit des Menschen" das versteht, wodurch der Mensch weise ist, der nicht durch sich weise sein kann, als habe der Sohn durch den Vater und der Vater durch den Sohn in der Weise das Sein, dass der eine nicht wirklich sein könnte außer durch den anderen, wie der Mensch nicht weise sein kann außer durch die Weisheit. Denn wie die höchste Weisheit immerdar durch sich weise ist, so hat die höchste Wesenheit ihr Sein immerdar durch sich. Nun ist aber der Vater in vollkommener Weise höchste Wesenheit und der Sohn in vollkommener Weise höchste Wesenheit. Also ist der Vater vollkommen durch sich und in gleicher Weise der Sohn vollkommen durch sich, wie jeder der beiden durch sich weise ist. Denn die Sohn-Wesenheit und Sohn-Weisheit ist nicht deshalb weniger vollkommen, weil sie die aus der Wesenheit und Weisheit des Vaters geborene Wesenheit und Weisheit ist; nur dann wäre sie eine weniger vollkommene 'Wesenheit oder Weisheit, wenn sie nicht durch sich bestünde oder nicht durch sich weise wäre. Es ist nämlich durchaus nicht unvereinbar, dass der Sohn durch sich besteht und zugleich vom Vater das Sein hat. Denn wie der Vater Wesenheit, Weisheit und Leben in sich selbst hat, so dass er nicht durch eine fremde, sondern durch seine eigene Wesenheit ist, durch seine eigene Weisheit weise ist und durch sein eigenes Leben lebt, so gibt er durch Zeugung dem Sohne, Wesenheit, Weisheit und Leben in sich selbst zu haben (Vgl. Joh 5, 26: Wie der Vater das Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben in sich selbst zu haben), so dass er nicht durch eine von außen kommende, sondern durch seine eigene Wesenheit, Weisheit und Lebensfülle besteht, weise ist und lebt. Sonst hätten Vater und Sohn nicht dasselbe Sein, und der Sohn wäre dem Vater nicht gleich. Wie falsch dies aber ist, wurde oben aufs klarste erschaut.

Darum widerstreitet es nicht, dass der Sohn sowohl durch sich besteht, als auch vom Vater ist, weil er dieses, dass er durch sich selbst bestehen kann, notwendigerweise aus dem Vater hat. Wenn mich nämlich ein Weiser seine Weisheit lehrte, deren ich vorher nicht kundig war, dürfte es doch nicht ungereimt sein, zu sagen, dies tue eben seine Weisheit. Obgleich aber meine Weisheit dann von seiner Weisheit das Sein und das Weisesein hätte, würde sie doch, wenn sie einmal da ist, nur durch ihre eigene Wesenheit sein und nur durch sich selbst weise sein. In weit höherem Maße hat also der dem ewigen Vater gleichewige Sohn, der solchermaßen vom Vater das Sein hat, dass es nicht zwei verschiedene Wesenheiten sind, das Sein, das Weisesein und das Leben durch sich selbst. Nicht darf also der Satz, der Vater sei die Wesenheit des Sohnes oder der Sohn die Wesenheit des Vaters, so verstanden werden, als könne der eine nicht durch sich selbst, sondern nur durch den anderen bestehen; sondern um ihren gemeinsamen Besitz der höchsten, einfachen und höchst einzigen Wesenheit zu bezeichnen, kann zutreffend so gesagt und verstanden werden: der eine sei derart dasselbe, was der andere ist, dass der eine die Wesenheit des anderen innehat. Aus diesem Grunde also, weil für jeden der beiden "Wesenheit-haben" nichts anderes ist als "Wesenheit-sein", ergibt sich: Wie der eine die Wesenheit des anderen hat, so ist auch der eine die Wesenheit des anderen, d. h. dasselbe Sein, das dem einen gehört, gehört auch dem anderen.

45. Kapitel: Es ist passender, den Sohn die Wesenheit des Vaters zu nennen, als den Vater die Wesenheit des Sohnes; ebenso ist der Sohn auch des Vaters Kraft und Weisheit und Ähnliches

Wiewohl gemäß dem erschauten Grunde das vorhin Gesagte wahr ist, so ist es doch viel zutreffender, den Sohn die Wesenheit des Vaters zu nennen als den Vater die Wesenheit des Sohnes. Weil nämlich der Vater die Wesenheit von niemand anderem hat als von sich selbst, wäre es nicht recht passend, zu sagen, er habe eine andere Wesenheit als die seine. Weil aber der Sohn seine Wesenheit vom Vater hat, und zwar dieselbe, die der Vater hat, kann höchst passend gesagt werden, er habe die Wesenheit des Vaters. Da nun keiner der beiden die Wesenheit anders hat als dadurch, dass er die Wesenheit ist, so kann, wie es weit passender gedacht wird, der Sohn habe die Wesenheit des Vaters, als der Vater habe die des Sohnes, auch angemessener gesagt werden, der Sohn sei die Wesenheit des Vaters, als der Vater sei die des Sohnes. Denn diese eine Aussage hebt schon allein in recht scharfer Kürze hervor, dass der Sohn nicht nur dieselbe Wesenheit hat wie der Vater, sondern dass er dieselbe vom Vater hat. So bedeutet der Satz: Der Sohn ist die Wesenheit des Vaters, so viel wie: Der Sohn ist die von der Wesenheit des Vaters, ja die von dem Vater als Wesenheit kommende, von ihr nicht verschiedene Wesenheit. In gleicher Weise ist nun der Sohn auch des Vaters Stärke, Weisheit oder Wahrheit, Gerechtigkeit und was immer der Wesenheit des höchsten Geistes zukommt.

46. Kapitel: Einige Aussagen nach Art der eben genannten können auch anders verstanden werden

Es scheint jedoch, dass einige Sätze, die auf solche Weise ausgesprochen und verstanden werden können, unter Beibehaltung derselben Ausdrücke noch eine andere nicht unzutreffende Deutung vertragen. Offenbar ist der Sohn das wahre Wort, d. h. die vollkommene Einsicht oder die vollkommene Erkenntnis, Wissenschaft und Weisheit der ganzen väterlichen Substanz, d. h. eine solche, die die Wesenheit des Vaters (geistig) sieht, erkennt, weiß und versteht. Wenn man also den Sohn in diesem Sinne die Einsicht, die Weisheit, die Wissenschaft, die Erkenntnis und die Kunde des Vaters nennt, sofern er den Vater geistig erfasst, versteht, weiß und kennt, so weicht man keineswegs von der Wahrheit ab. Der Sohn kann auch sehr passend die Wahrheit des Vaters genannt werden, nicht bloß sofern die Wahrheit des Sohnes dieselbe ist wie die des Vaters, wie schon erschaut wurde, sondern auch sofern er nicht etwa als eine gewisse unvollkommene Nachbildung, sondern als die unversehrte Wahrheit der väterlichen Substanz gedacht wird, weil er nichts anderes ist als das, was der Vater ist.

47. Kapitel: Der Sohn ist die Erkenntnis der Erkenntnis, die Wahrheit der Wahrheit und dergleichen mehr

Wenn aber die Substanz des Vaters selbst Erkenntnis, Wissenschaft, Weisheit und Wahrheit ist, dann wird folgerichtig geschlossen, dass der Sohn, weil er die Erkenntnis, die Wissenschaft, die Weisheit und Wahrheit der väterlichen Substanz ist, auch die Erkenntnis der Erkenntnis, die Wissenschaft der Wissenschaft, die Weisheit der Weisheit und die Wahrheit der Wahrheit ist.

48. Kapitel: Unter dem Bewusstsein wird der Vater verstanden wie unter der Erkenntnis der Sohn; inwiefern der Sohn die Erkenntnis oder die Weisheit des Bewusstseins und inwiefern er das Bewusstsein des Vaters und das Bewusstsein des Bewusstseins ist

Was soll aber vom Bewusstsein gedacht werden? Soll der Sohn als die Erkenntnis des Bewusstseins gelten oder als das Bewusstsein des Vaters oder als das Bewusstsein des Bewusstseins? Da nicht geleugnet werden kann, dass die höchste Weisheit ihrer selbst bewusst ist, ist freilich nichts zutreffender, als unter dem Bewusstsein den Vater zu verstehen wie unter dem Wort den Sohn, weil vom Bewusstsein das Wort geboren zu werden scheint. Dies lässt sich noch deutlicher in unserem Geiste wahrnehmen. Da nämlich der menschliche Geist nicht immer sich selbst denkt, wie er immer seiner selbst bewusst ist, so ist klar, dass, sooft er sich denkt, sein Wort vom Bewusstsein geboren wird. Daraus erhellt: wenn er sich immer denken würde, würde sein Wort auch immer vom Bewusstsein geboren. Denn ein Ding denken, dessen wir uns bewusst sind, heißt: es im Geiste aussprechen; das Wort eines Dinges aber ist eben der aus dem Bewusstsein nach Ähnlichkeit mit dem Ding gestaltete Gedanke. Daraus lässt sich nun in Bezug auf die höchste Weisheit, die sich immerdar spricht, wie sie immerdar ihrer selbst bewusst ist, klar entnehmen, dass von ihrem ewigen Bewusstsein das gleichewige Wort geboren wird. Wie somit das Wort zutreffend als Sprössling verstanden wird, so erhält das Bewusstsein höchst passend den Namen: Gebärender. Wenn also der Sprössling, der ganz allein vom höchsten Geiste geboren ist, Sprössling seines Bewusstseins ist, dann ist nichts folgerichtiger, als dass der Geist sein Bewusstsein selber ist. Denn dadurch, dass er seiner selbst bewusst ist, ist er nicht so in seinem Bewusstsein wie ein Ding in einem anderen so sind etwa die Dinge derart im Bewusstsein des menschlichen Geistes, dass sie nicht selbst unser Bewusstsein sind -, sondern so ist er sich seiner selbst bewusst, dass er selbst sein Bewusstsein ist.

Es ergibt sich daher, dass der Sohn, wie die Einsicht oder die Weisheit des Vaters, so auch die Einsicht und Weisheit des väterlichen Bewusstseins ist. Was immer nun aber der Sohn weiß oder versteht, dessen ist er sich gleichermaßen auch bewusst. Also ist der Sohn das Bewusstsein des Vaters und das Bewusstsein des Bewusstseins, d. h. er ist das Bewusstsein, das sich des Vaters bewusst ist, der Bewusstsein ist, wie er die Weisheit des Vaters und die Weisheit der Weisheit ist, d. h. die Weisheit, die um den Vater weiß, der die Weisheit ist. Der Sohn freilich ist das vom Bewusstsein geborene Bewusstsein wie auch die von der Weisheit geborene Weisheit; der Vater dagegen ist das von niemandem geborene Bewusstsein und die von niemandem geborene Weisheit.

49. Kapitel: Der höchste Geist liebt sich selbst

Doch siehe, während ich mit Wonne die Eigentümlichkeiten dieses Vaters und Sohnes und ihr Gemeinsames betrachte, finde ich in ihnen nichts Wonnigeres zum Beschauen als ihre gegenseitige Liebesneigung. Wie unverständig wäre es nämlich, zu leugnen, dass der höchste Geist sich liebt, wie er sich seiner bewusst ist und sich erkennt, da schon der vernünftige Geist sowohl sich selbst wie auch ihn lieben kann, und zwar erwiesenermaßen deshalb, weil er sich seiner selbst und jenes Geistes bewusst werden und sich und ihn erkennen kann! Denn müßig und durchaus nutzlos ist das Bewusstsein und Erkanntsein jedweden Dinges, wenn es nicht je nach der Forderung der Vernunft auch geliebt oder verworfen würde. Also liebt der höchste Geist sich selbst, wie er seiner bewusst ist und sich erkennt.

50. Kapitel: Diese Liebe geht gleichermaßen aus dem Vater und dem Sohn hervor

Gewiss leuchtet es dem, der Vernunft hat, ein, dass der höchste Geist sieh nicht deshalb seiner bewusst ist oder sich erkennt, weil er sich liebt, sondern deshalb sich liebt, weil er sich seiner bewusst ist und sich erkennt; und dass er sich nicht lieben könnte, wenn er sich seiner nicht bewusst wäre oder sich nicht erkännte. Denn kein Ding wird geliebt ohne sein Bewusstsein oder Erkanntsein, und viele Dinge werden im Bewusstsein bewahrt und erkannt, die nicht geliebt werden. Es ist also klar, dass die Liebe des höchsten Geistes aus seinem Selbstbewusstsein und seiner Selbstliebe hervorgeht. Wenn nun unter dem Bewusstsein des höchsten Geistes der Vater und unter der Erkenntnis der Sohn verstanden wird, dann ist es offenbar, dass gleichermaßen aus dem Vater und dem Sohne die Liebe des höchsten Geistes hervorgeht.

51. Kapitel: Jeder der beiden liebt mit gleicher Liebe sich selbst und den anderen

Wenn sich aber der höchste Geist liebt, dann ist kein Zweifel, dass der Vater sich liebt, der Sohn sich liebt und einer den anderen liebt, weil der Vater für sich höchster Geist ist, der Sohn für sich höchster Geist und beide zusammen ein einziger Geist sind; und weil jeder der beiden gleichermaßen seiner selbst und des anderen bewusst ist und sich selbst und den anderen erkennt. Da nun das, was im Vater liebt und geliebt wird, völlig dasselbe ist wie das, was im Sohn liebt und geliebt wird, so ist es notwendig, dass jeder der beiden mit gleicher Liebe sich selbst und den anderen liebt.

52. Kapitel: Diese Liebe ist so groß wie der höchste Geist

Wie groß ist also diese Liebe des höchsten Geistes, die dem Vater und dem Sohn so gemeinsam ist? Wenn freilich der höchste Geist sich ebensosehr liebt, wie er sich seiner bewusst ist und sich erkennt, und wenn er ebensosehr sich seiner bewusst ist und sich erkennt, als seine Wesenheit groß ist - was auch nicht anders sein kann -, dann ist in der Tat seine Liebe ebenso groß wie er selbst.

53. Kapitel: Diese Liebe ist dasselbe, was der höchste Geist ist, und doch ist sie mit dem Vater und dem Sohn nur ein Geist

Was kann aber dem höchsten Geiste gleich sein, es sei denn der höchste Geist? Somit ist diese Liebe höchster Geist. Und wenn es schließlich niemals irgendein Geschöpf gäbe, d. h. wenn es niemals irgend etwas anderes gäbe als den höchsten Geist, den Vater und den Sohn, würden nichtsdestoweniger Vater und Sohn jeder sich selbst und einer den anderen lieben. Daraus folgt, dass diese Liebe nichts anderes ist als das, was Vater und Sohn ist, d. h. die höchste Wesenheit. Nun können aber nicht mehrere höchste Wesenheiten sein; was ist da wohl notwendiger, als dass der Vater, der Sohn und die Liebe beider die eine höchste Wesenheit sind? Also ist diese Liebe die höchste Weisheit, die höchste Wahrheit, das höchste Gut, und was immer von der Substanz des höchsten Geistes ausgesagt werden kann.

54. Kapitel: Sie geht ganz vom Vater und ganz vom Sohne aus und ist doch nur eine Liebe

Wir müssen sorgfältig zusehen, ob es etwa eine doppelte Liebe gibt, eine, die vom Vater ausgeht, eine andere, die vom Sohne ausgeht; oder nur eine, die nicht ganz von einem ausgeht, sondern zum Teil vom Vater und zum Teil vom Sohn; oder weder eine mehrfache noch eine nur teilweise von den einzelnen ausgehende, sondern eine einzige Liebe, ganz von den einzelnen und ebenso ganz von beiden zugleich. Die sichere Antwort auf diesen Zweifel wird aber unzweifelhaft daraus gewonnen, dass die Liebe nicht aus dem hervorgeht, worin Vater und Sohn mehrere sind, sondern aus dem, worin sie eins sind. Denn nicht aus ihren Beziehungen, deren es mehrere gibt - so ist die Beziehung des Vaters eine andere als die des Sohnes -, sondern aus ihrer Wesenheit selbst, die eine Mehrheit nicht zulässt, entsenden Vater und Sohn in gleicher Weise dieses große Gut. Wie also der Vater für sich höchster Geist ist, der Sohn für sich höchster Geist ist und Vater und Sohn zusammen nicht zwei Geister, sondern ein Geist sind, so strömt aus dem Vater für sich die ganze Liebe des höchsten Geistes und aus dem Sohn für sich die ganze Liebe und zusammen aus Vater und Sohn nicht zwei ganze Liebesbewegungen, sondern nur eine und dieselbe ganze Liebe.

55. Kapitel: Sie ist nicht ihr Sohn

Wie ist es nun? Wenn diese Liebe gleichermaßen von Vater und Sohn das Sein hat und beiden derart ähnlich ist, dass sie ihnen nicht im geringsten unähnlich, sondern ganz dasselbe ist wie jene, muss sie dann nicht als ihr Sohn und Sprössling gelten? Aber während beim Wort schon auf den ersten Blick aufs einleuchtendste deutlich wird, dass es Sprössling dessen ist, von dem es ist, und während es sich als sprechendstes Abbild des Gebärenden darbietet, verneint die Liebe offen heraus, Sprössling zu sein. Denn wenn sie als ausgehend von Vater und Sohn gedacht wird, bietet sie sich nicht sogleich dem Beschauer als eine klar ersichtliche Ähnlichkeit dessen dar, woraus sie ist, obwohl der erwogene Vernunftgrund lehrt, dass sie ganz dasselbe ist, was Vater und Sohn ist. Wenn sie übrigens deren Sprössling wäre, müsste entweder der eine der beiden ihr Vater und der andere ihre Mutter sein, oder beide müssten Vater oder Mutter sein, was doch alles der Wahrheit zu widerstreiten scheint. Da sie nämlich vom Vater durchaus nicht anders ausgeht als vom Sohn, duldet keine Wahrheit, dass Vater und Sohn durch ungleiche Namen zu ihr in Beziehung gebracht werden. Es ist also nicht der eine ihr Vater und der andere ihre Mutter. Dass es aber zwei Wesen geben könne, deren jedes zu einem dritten gleichermaßen ein vollkommenes und in keiner Hinsicht unterschiedenes Vater- oder Mutterverhältnis hätte, das erlaubt keine Natur durch irgendein Beispiel zu belegen. Also sind auch nicht Vater und Sohn beide zusammen Vater oder Mutter der ihnen entströmenden Liebe. Keineswegs scheint es daher mit der Wahrheit übereinzustimmen, dass diese Liebe ihr Sohn oder Sprössling sei.

56. Kapitel: Der Vater allein ist Erzeuger und ungezeugt, der Sohn allein ist gezeugt, die Liebe allein ist weder gezeugt noch ungezeugt

Es scheint jedoch, dass diese Liebe weder in allweg gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch ungezeugt genannt werden kann noch auch in jenem eigentlichen Sinne gezeugt wie das Wort. Wir pflegen nämlich oft zu sagen, etwas werde von dem Ding gezeugt, von dem es das Sein hat, so wenn wir sagen, die Wärme oder die Helligkeit werde vom Feuer gezeugt oder irgendein Bewirktes von seiner Ursache. In diesem Sinne kann also die vom höchsten Geiste ausgehende Liebe nicht in allweg ungezeugt genannt werden. Man kann sie aber auch nicht in demselben eigentlichen Sinne wie das Wort gezeugt nennen. Dass nämlich das Wort im wahrsten Sinne Sprössling und im wahrsten Sinne Sohn ist, die Liebe dagegen keineswegs Sohn oder Sprössling ist, liegt klar zutage. Daher kann, ja darf nur jener allein, dessen das Wort ist, Erzeuger und ungezeugt genannt werden, weil er allein Vater und Gebärender ist und in keiner Weise von einem anderen das Sein hat. Das Wort allein aber wird gezeugt genannt, weil es allein Sohn und Sprössling ist. Und einzig die Liebe der beiden heißt weder gezeugt noch ungezeugt, weil sie weder Sohn noch Sprössling ist und auch in allweg nicht von einem anderen das Sein hat.

57. Kapitel: Diese Liebe ist ebenso ungeschaffen und Schöpfer wie der Vater und der Sohn, und doch ist sie mit jenen nicht drei, sondern ein Ungeschaffener und ein Schöpfer; sie kann Geisthauch des Vaters und des Sohnes genannt werden

Weil aber diese Liebe für sich die höchste Wesenheit ist wie der Vater und der Sohn und dennoch alle zusammen, der Vater und der Sohn und die Liebe der beiden, nicht mehrere, sondern nur eine höchste Wesenheit sind, die allein von niemandem gemacht ist und die ganz allein durch sich selbst alle Dinge gemacht hat, so ist es notwendig, dass ebenso wie Vater und Sohn jeder für sich ungeschaffen und Schöpfer ist, so auch die Liebe für sich ungeschaffen und Schöpfer ist, und dass dennoch alle drei zusammen nicht mehrere, sondern ein Ungeschaffener und nur ein Schöpfer sind. Den Vater macht, schafft oder zeugt also niemand. Den Sohn aber macht nicht, sondern zeugt der Vater allein. Und in gleicher Weise gilt von Vater und Sohn, dass sie ihre Liebe weder machen noch zeugen, sondern gewissermaßen, wenn man so sagen darf, hauchen. Obwohl nämlich die höchst unwandelbare Wesenheit nicht nach unserer Weise haucht, so kann, wie es scheint, jene Tätigkeit, in der sie ihre Liebe aus sich entsendet, und diese auf so unaussprechliche Weise aus ihr hervorgeht - nicht indem sie von ihr sich scheidet, sondern indem sie von ihr ist -, vielleicht nicht anders passender ausgedrückt werden als mit dem Worte "hauchen".

Wenn aber dieser Ausdruck gebraucht werden kann, dann kann, wie das Wort der höchsten Wesenheit deren Sohn ist, so ihre Liebe ganz zutreffend deren Geisthauch genannt werden. Obwohl nun diese Liebe wesentlich Geist ist wie der Vater und der Sohn, werden diese nicht als Geisthauch eines anderen angesehen, weil weder der Vater von einem anderen das Sein hat, noch der Sohn vom Vater wie durch Hauchung geboren wird; sie aber (die Liebe) wird als Geisthauch der beiden erachtet, weil sie aus beiden durch eine unbeschreibliche, ihnen eigene Art der Hauchung hervorgeht. Auch deshalb, weil sie die Vereinigung des Vaters und des Sohnes ist, scheint sie nicht ohne Grund einen Namen, der dem Vater und dem Sohne gemeinsam ist, gleichsam als Eigennamen annehmen zu können, wenn das Fehlen eines solchen dieses fordert. Wenn nun dies geschieht, dass nämlich der Name Geist, der die Substanz des Vaters und des Sohnes bezeichnet, zum Eigennamen der Liebe wird, dann kann dadurch nützlicherweise deutlich werden, dass die Liebe genau dasselbe ist, was Vater und Sohn ist, obgleich sie von ihnen ihr Sein hat.

58. Kapitel: Wie der Sohn die Wesenheit und Weisheit des Vaters ist, sofern er dieselbe Wesenheit und Weisheit hat wie der Vater, so ist auch dieser Geist die Wesenheit und Weisheit des Vaters und des Sohnes und Ähnliches mehr

Gleichwie der Sohn die Substanz, Weisheit und Kraft des Vaters ist, sofern er dieselbe Wesenheit, Weisheit und Kraft hat wie der Vater, kann auch der Geist der beiden als Wesenheit, Weisheit und Kraft des Vaters und des Sohnes gedacht werden, weil er ganz dieselbe hat, die jene haben.

59. Kapitel: Vater, Sohn und ihr Geist sind gleichermaßen ineinander

Es bereitet Freude, im Vater und im Sohn und im Geiste der beiden zu schauen, wie sie in so vollendeter Gleichheit ineinander sind, dass keiner aus dem anderen herausgeht. Denn abgesehen davon, dass jeder einzelne von ihnen so vollkommen die höchste Wesenheit ist, dass dennoch alle drei zusammen nur eine höchste Wesenheit sind, die weder ohne sich noch außer sich noch größer oder kleiner sein kann als sie selbst, lässt sich dies nicht weniger auch bei jedem einzelnen nachweisen. Denn der ganze Vater ist im Sohn und im gemeinsamen Geist, der Sohn im Vater und im Geist und der Geist selbst im Vater und im Sohn, weil das Bewusstsein der höchsten Wesenheit ganz in ihrer Erkenntnis und Liebe ist, die Erkenntnis im Bewusstsein und in der Liebe und die Liebe im Bewusstsein und in der Erkenntnis. Der höchste Geist erkennt und liebt ja sein ganzes Bewusstsein, ist sich der ganzen Erkenntnis bewusst und liebt sie ganz, ist sich der ganzen Liebe bewusst und erkennt sie ganz. Unter dem Bewusstsein wird aber der Vater verstanden, unter der Erkenntnis der Sohn und unter der Liebe der Geist der beiden. So groß ist also die Gleichheit, womit sich Vater und Sohn und beider Geist umschlungen halten und ineinander sind, dass erwiesenermaßen keiner von ihnen aus dem anderen herausgeht oder ohne ihn ist.

60. Kapitel: Keiner von ihnen bedarf des anderen zum Bewusstwerden, Erkennen oder Lieben, weil jeder einzelne Bewusstsein, Erkenntnis und Liebe und alles ist, was notwendig in der höchsten Wesenheit enthalten ist

Doch bei diesen (dreien) muss ich, wie ich glaube, das, was meinem Blick begegnet, mit großem Eifer dem Gedächtnis anvertrauen. In solcher Weise nämlich ist es notwendig, den Vater als das Bewusstsein, den Sohn als die Erkenntnis und den Geist als die Liebe zu denken, dass weder der Vater des Sohnes oder des gemeinsamen Geistes bedarf noch der Sohn des Vaters oder des Geistes noch der Geist des Vaters oder des Sohnes, als könnte der Vater aus sich nur bewusst werden, aber nicht erkennen außer durch den Sohn, und nicht lieben außer durch seinen und des Sohnes Geist; als könnte der Sohn aus sich nur erkennen, aber durch den Vater wäre er bewusst und durch seinen Geist liebte er; und als vermöchte der Geist aus sich nichts anderes als zu lieben, der Vater aber wäre für ihn bewusst, und der Sohn erkännte für ihn. Denn weil bei diesen dreien jeder einzelne die höchste Wesenheit und höchste Weisheit ist, diese aber so vollkommen ist, dass sie durch sich selbst Bewusstsein hat, erkennt und liebt, so ist es notwendig, dass von diesen dreien keiner des anderen bedarf weder zum Bewusstwerden noch zum Erkennen noch zum Lieben. Ist doch jeder einzelne wesentlich Bewusstsein, Erkenntnis und Liebe und alles, was notwendig in der höchsten Wesenheit enthalten ist.

61. Kapitel: Gleichwohl sind sie nicht drei, sondern nur einer ist Vater oder Sohn oder Geist beider

Hier sehe ich eine Frage auftauchen. Wenn der Vater ebenso Erkenntnis und Liebe ist wie Bewusstsein, der Sohn ebenso Bewusstsein und Liebe wie Erkenntnis und beider Geist nicht weniger Bewusstsein und Erkenntnis als Liebe, wieso ist dann der Vater nicht auch Sohn und Geist eines anderen, warum ist dann der Sohn nicht auch Vater und Geist eines anderen, und weshalb ist jener Geist nicht auch eines anderen Vater und eines anderen Sohn? Denn so wurde es verstanden, dass der Vater Bewusstsein, der Sohn Erkenntnis und beider Geist Liebe sei. Aber diese Frage ist nicht schwer zu lösen, wenn das, was schon durch die Vernunft gefunden ist, im Auge behalten wird. Deshalb ist nämlich der Vater nicht Sohn oder Geist eines anderen, obwohl er Erkenntnis und Liebe ist, weil er nicht gezeugte Erkenntnis und nicht von einem anderen ausgehende Liebe ist; sondern was immer er ist, das ist er nur als Zeugender und als einer, von dem ein anderer ausgeht. Ferner ist der Sohn deshalb nicht Vater oder Geist eines anderen - mag er auch selbst seiner bewusst sein und lieben -, weil er nicht zeugendes Bewusstsein ist noch auch eine solche Liebe, die von einem anderen nach Ähnlichkeit mit seinem Geiste ausgeht; sondern was immer er ist, das ist er nur als Gezeugter und als einer, aus dem der Geist hervorgeht. Auch muss der Geist nicht deshalb Vater oder Sohn sein, weil er zufrieden ist mit seinem Bewusstsein und Erkennen; denn er ist weder zeugendes Bewusstsein noch gezeugtes Erkennen, sondern was immer er ist, ist er als ein Hervorgehender. Was hindert also den Schluss zu ziehen, dass in der höchsten Wesenheit nur ein Vater, ein Sohn und ein Geist ist und nicht drei Väter oder Söhne oder Geister?

62. Kapitel: Inwiefern es scheint, als würden aus diesen dreien mehrere Söhne geboren

Möge aber mit dieser Behauptung nicht etwa das in Widerspruch kommen, was ich nun schaue! Es kann nämlich nicht zweifelhaft sein, dass jeder einzelne, der Vater, der Sohn und ihr Geist, sich selbst und die beiden anderen spricht, wie er sich selbst und die anderen erkennt. Wenn dem so ist, muss es dann nicht in der höchsten Wesenheit ebenso viele Worte geben, als es Sprechende und Gesprochene gibt? Wenn nämlich mehrere Menschen ein und dasselbe in Gedanken sprechen, dann scheinen es ebenso viele Worte (des Gedachten) zu sein, als es Denkende sind; denn in den Gedanken der einzelnen ist das Wort des Gedachten. Desgleichen sind, wenn ein einziger Mensch mehrere Dinge denkt, im Geiste des Denkenden so viele Worte, als Dinge gedacht sind.

Nun wird aber im Denken des Menschen, wenn er etwas denkt, was außerhalb seines Geistes ist, das Wort des gedachten Dinges nicht aus dem Ding selbst geboren, weil dieses bei der Innenschau des Denkens abwesend ist, sondern aus einer gewissen Ähnlichkeit oder Abbildung des Dinges, die im Bewusstsein des Denkenden ist oder etwa gerade dann, wenn er denkt, durch den körperlichen Sinn vom gegenwärtigen Ding her in den Geist hereingezogen wird. In der höchsten Wesenheit jedoch sind sich immerdar der Vater, der Sohn und ihr Geist so gegenwärtig - denn, wie schon klar erschaut, ist jeder einzelne nicht weniger in den anderen wie in sich selbst (Vgl. Kap. 59) -, dass, wenn sie einander sprechen, auch jeder, der gesprochen wird, sein Wort zu zeugen scheint, so gut wie er sich selbst spricht. Wie sollte also der Sohn und sein und des Vaters Geist nicht zeugen, da jeder von ihnen sein Wort zeugt, wenn er von sich selbst oder von einem anderen gesprochen wird? Wenn aber bewiesen werden kann, dass von der höchsten Wesenheit sound so viele Worte geboren werden, dann ist es der früheren Erwägung zufolge auch notwendig, dass sie ebenso viele Söhne zeugt und ebenso viele Geister entsendet. Aus diesem Grunde scheint es also in ihr nicht bloß viele Väter, Söhne und Hervorgehende zu geben, sondern auch noch andere Verwandtschaftsbeziehungen (necessitudines).

63. Kapitel: Inwiefern unter ihnen nur einer des einen (Sohn) ist

Oder aber es sind Vater, Sohn und ihr Geist, von denen es schon vollkommen sicher ist, dass sie wirklich da sind, nicht drei Sprechende, obwohl jeder einzelne ein Sprechender ist, noch sind es mehrere, die gesprochen werden, obwohl jeder sich selbst und die zwei anderen spricht. Wie nämlich der höchsten Weisheit Wissen und Erkennen innewohnt, so ist es dem ewigen und unwandelbaren Wissen und Erkennen gewiss natürlich, immerdar das gegenwärtig zu schauen, was es weiß und erkennt. Für den höchsten Geist ist jedoch ein solches Sprechen nichts anderes als ein denkendes Schauen, wie das Sprechen unseres Geistes nichts anderes ist als das Schauen des Denkenden. Nun brachten aber die schon erwogenen Gründe volle Gewissheit darüber, dass, was immer der höchsten Natur wesentlich innewohnt, jedem einzelnen, dem Vater, dem Sohn und deren Geiste, in vollkommener Weise zukommt, und dass es dennoch nicht in der Mehrzahl steht, wenn es von den dreien zusammen ausgesagt wird.

Da also feststeht, dass Wissen und Erkenntnis zu ihrer Wesenheit gehört, und ebenso, dass ihr Wissen und Erkennen nichts anderes ist als ein Sprechen, d. h. ein immerwährendes Gegenwärtigschauen dessen, was sie weiß und erkennt, so ist es notwendig, dass, wie der Vater für sich, der Sohn für sich und ihr Geist für sich, jeder ein Wissender und Erkennender ist und dennoch diese drei zusammen nicht mehrere Wissende und Erkennende sind, sondern ein Wissender und ein Erkennender, so auch jeder einzelne ein Sprechender ist und dennoch alle zusammen nicht drei Sprechende sind, sondern ein Sprechender. Von hier aus kann auch jenes andere klar erkannt werden: dass es nicht mehrere sind, die gesprochen werden, wenn jene drei gesprochen werden, sei es von sich selbst oder voneinander. Was wird denn dort gesprochen, wenn nicht ihre Wesenheit? Wenn also diese nur eine ist, ist auch nur eins, was gesprochen wird. Daraus folgt: Wenn bei jenen nur eins ist, was spricht, und nur eins, was gesprochen wird - die eine Weisheit ist es ja, die in ihnen spricht, und die eine Substanz, die gesprochen wird -, ergibt sich, dass es dort nicht mehrere Worte gibt, sondern nur eines. Obgleich also jeder sich selbst und alle einander sprechen, ist es dennoch unmöglich, dass es in der höchsten Wesenheit ein anderes Wort gibt außer jenem, von dem schon feststeht: es ist derart aus dem geboren, dessen Wort es ist, dass es sowohl sein wahres Bild genannt werden kann als auch wahrhaft sein Sohn ist.

Hierin sehe ich nun etwas Wunderbares und Unerklärliches. Denn siehe, obwohl es handgreiflich ist, dass jeder einzelne, der Vater, der Sohn und der Geist des Vaters und des Sohnes, gleichermaßen sich und die beiden anderen spricht, und dass es dort nur ein Wort gibt, so scheint dieses Wort dennoch keineswegs das Wort aller drei genannt werden zu können, sondern nur Wort eines einzigen aus ihnen. Es steht nämlich fest, dass es Bild und Sohn dessen ist, dessen Wort es ist; und es versteht sich von selbst, dass es schicklich weder Bild noch Sohn seiner selbst noch des von ihm ausgehenden Geistes genannt werden kann. Denn weder aus sich selbst noch aus dem von ihm Hervorgehenden wird es geboren, noch bildet es in seinem Sein sich selbst noch den ab, der aus ihm hervorgeht. Denn sich selbst bildet es nicht ab noch empfängt es von sich selbst Seinsähnlichkeit, weil Abbilden und Ähnlichsein nicht in einem allein, sondern in mehreren sind. Aber auch jenen bildet es nicht ab, noch hat es ein Sein nach dessen Ähnlichkeit, weil es nicht von jenem, sondern jener von ihm das Sein hat. Es bleibt somit nur übrig, dass dieses Wort allein Wort jenes einen allein ist, von dem es durch Geburt das Sein hat und nach dessen vollkommener Ähnlichkeit es da ist. In der höchsten Wesenheit ist also nur ein Vater, nicht mehrere Väter, nur ein Sohn, nicht mehrere Söhne, nur ein hervorgehender Geist, nicht mehrere hervorgehende Geister. Obgleich sie nun dermaßen drei sind, dass der Vater niemals Sohn oder hervorgehender Geist ist noch der Sohn jemals Vater oder hervorgehender Geist noch der Geist des Vaters und des Sohnes jemals Vater oder Sohn ist, und obgleich jeder einzelne so vollkommen ist, dass er keines anderen bedarf, ist dennoch das, was sie sind, dermaßen eins, dass es ebensowenig von den einzelnen wie von den dreien zusammen in der Mehrzahl ausgesagt werden kann. Und obwohl in gleicher Weise jeder einzelne sich selbst und alle einander sprechen, sind dennoch nicht mehrere Worte da, sondern nur eines, und zwar ist es nicht das Wort der einzelnen noch auch aller zugleich, sondern nur eines einzigen.

64. Kapitel: Obwohl man dies nicht erklären kann, muss es dennoch geglaubt werden

Mir scheint das Geheimnis einer so erhabenen Sache allen Scharfsinn des menschlichen Verstandes zu Übersteigen, und deshalb meine ich, muss der Versuch, zu erklären, wie dies eigentlich sei, unterdrückt werden. Denn ich glaube, es muss dem Erforscher einer unbegreiflichen Sache genügen, wenn er schlussfolgernd dahin gelangt, mit voller Gewissheit zu erkennen, dass sie ist, wenn er auch nicht mit dem Verstande zu durchdringen vermag, warum sie so ist; auch soll man jenen Dingen, die auf zwingende Beweise hin und ohne Einspruch irgendeines anderen Vernunftgrundes behauptet werden, nicht darum mit geringerer Glaubensgewissheit begegnen, weil das Unbegreifliche ihrer natürlichen Erhabenheit es nicht zulässt, dass man sie erkläre. Was wäre aber so unbegreiflich, so unaussprechlich wie das, was über alle Dinge ist? Wenn daher das, was über die höchste Wesenheit bis jetzt erörtert worden ist, auf zwingende Gründe hin behauptet wurde, so mag es immerhin nicht so weit mit dem Verstande durchdrungen werden können, dass es auch mit Worten erklärt zu werden vermag - die Vollkraft seiner Gewissheit wankt dennoch keineswegs. Denn wenn die Vernunft bei der früheren Erwägung (Vgl. Kap. 34) begriffen hat, dass es unbegreiflich ist, wie diese höchste Weisheit die von ihr geschaffenen Dinge weiß, über die wir so vieles notwendig wissen, wer mag da erklären, wie sie sich selbst weiß oder spricht, über die entweder nichts oder kaum etwas vom Menschen gewusst werden kann? Wenn also dadurch, dass sie sich selbst spricht, der Vater zeugt und der Sohn gezeugt wird, "wer wird seine Zeugung erzählen können" (Is 53, 8)?

65. Kapitel: Inwiefern über die unaussprechliche Sache Wahres erörtert wurde

Doch hinwiederum, wenn es sich mit ihrer Unaussprechlichkeit so verhält, ja weil es so ist, wie besteht dann zurecht, was immer über sie hinsichtlich des Verhältnisses von Vater und Sohn und hervorgehendem Geist erörtert worden ist? Denn wenn jenes wahrhaft vernunftgemäß erklärt worden ist, wieso ist sie dann unaussprechlich? Oder wenn sie unaussprechlich ist, wie kann es dann so sein, wie erörtert worden ist? Oder konnte an ihr doch etwas irgendwie erklärt werden, so dass nichts hindert, dass wahr ist, was erörtert wurde, und nur weil sie nicht bis zum letzten ergründet werden konnte, darum ist sie unaussprechlich? Aber was wird man auf folgendes antworten können, was schon oben (Kap. 26) in eben dieser Erörterung festgestellt wurde: Die höchste Wesenheit steht so hoch über allen anderen Naturen und so sehr außerhalb ihrer, dass, wenn zuweilen über sie etwas durch Worte ausgesagt wird, die ihr mit anderen Naturen gemeinsam sind, der Sinn keineswegs gemeinsam ist? Denn welchen Sinn habe ich mit all den Worten, die ich gedacht habe, verbunden, wenn nicht den allgemeinen und gebräuchlichen? Wenn also der gebräuchliche Sinn der Worte ihr fremd bleibt, dann hat das, was immer ich erschlossen habe, nichts mit ihr zu tun. Wie ist es also wahr, dass über die höchste Wesenheit etwas gefunden worden ist, wenn das Gefundene weit verschieden ist von ihr?

Was nun? Ist etwa in gewissem Maße über die unbegreifliche Wirklichkeit etwas gefunden worden und in gewissem Maße doch nichts über sie erschaut worden? Oft sprechen wir nämlich Dinge, die wir so eigentlich, wie sie sind, nicht zum Ausdruck bringen, sondern wir bezeichnen das, was wir im eigentlichen Sinne nicht herausbringen können, durch etwas anderes, so, wenn wir durch Gleichnisse reden. Und oft sehen wir etwas nicht eigentlich so, wie das Ding selbst ist, sondern durch eine gewisse Ähnlichkeit oder ein Bild, so, wenn wir das Antlitz eines anderen im Spiegel erblicken. So nun können wir eine und dieselbe Sache sprechen und doch nicht sprechen, sehen und doch nicht sehen. Wir sprechen und sehen sie durch etwas anderes; wir sprechen und sehen sie nicht durch ihre Eigentümlichkeit. So betrachtet steht daher nichts im Wege, dass einerseits wahr ist, was bis jetzt über die höchste Natur erörtert worden ist, und dass sie andrerseits nichtsdestoweniger unaussprechlich bleibt; man muss sich eben darüber klar sein, dass sie keineswegs durch die Eigentümlichkeit ihres Wesens ausgedrückt, sondern, wie es eben ging, durch etwas anderes deutlich gemacht worden ist. Denn all die Namen, die von dieser Natur allenfalls ausgesagt werden können, zeigen sie mir nicht so sehr durch ihre Eigentümlichkeit, sie deuten sie vielmehr an durch eine gewisse Ähnlichkeit. Sobald ich nämlich an die Bedeutungen solcher Ausdrücke denke, kommt mir leichter das in den Sinn, was ich in den geschaffenen Dingen erblicke, als das, wovon ich erkenne, dass es jeden menschlichen Verstand übersteigt. Denn etwas viel Geringeres, ja etwas bei weitem anderes lassen diese Ausdrücke durch ihre Bedeutung in meinem Geiste aufsteigen, als das ist, was mein Geist durch diese dünne Bedeutung zu erkennen bemüht ist. Denn weder der Name Weisheit genügt, um mir das zu zeigen, wodurch alles aus dem Nichts gemacht wurde und vor dem (Rückfall ins) Nichts bewahrt wird, noch kann mir der Name Wesenheit das ausdrücken, was durch einzigartige Erhabenheit weit über allen Dingen und durch natürliche Eigentümlichkeit ganz außerhalb aller Dinge steht. So ist denn diese Natur einerseits unaussprechlich, weil sie durch Worte, so wie sie ist, keineswegs enthüllt zu werden (intimari) vermag, andrerseits ist es nicht falsch, wenn etwas über sie unter Anleitung der Vernunft durch etwas anderes wie im Rätselbild erraten werden (aestimari) kann.

66. Kapitel: Durch den vernünftigen Geist kommt man am meisten an die Erkenntnis der höchsten Wesenheit heran

Da nun von dieser Natur offenbar nichts durch ihre Eigentümlichkeit erkannt werden kann, sondern nur durch etwas anderes, so kommt man gewiss durch jenes mehr an ihre Erkenntnis heran, was ihr an Ähnlichkeit nähersteht. Denn von welchem Geschöpfe auch immer es feststeht, dass es ihr ähnlicher ist, von dem ist es auch notwendig, dass es der Natur nach hervorragender ist.

Ein solches hilft darum durch größere Ähnlichkeit dem forschenden Geiste mehr, der höchsten Wahrheit nahezukommen, und belehrt durch die ausgezeichnetere geschaffene Wesenheit den Geist darüber mehr, was er von der erschaffenden Wesenheit selbst zu halten hat. Ohne Zweifel wird daher die schöpferische Wesenheit um so tiefer erkannt, je näher ihr das Geschöpf steht, mittels dessen sie erforscht wird. Denn dass jede Wesenheit insoweit der höchsten Wesenheit ähnlich ist, als sie selbst das Sein hat, daran erlaubt der schon oben erwogene Vernunftgrund (im 31. Kapitel) keinen Zweifel. Wie daher unter allen Geschöpfen der vernünftige Menschengeist allein es ist, der sich dazu zu erheben vermag, sie zu erforschen, so ist es offenbar wiederum er allein, wodurch er selbst am meisten vorankommen kann, sie zu finden. Denn wir haben schon erkannt (im 31. Kapitel), dass er ihr durch die Ähnlichkeit seiner natürlichen Wesenheit am nächsten kommt. Was wäre also offenkundiger, als dass der vernünftige Geist um so wirksamer zu ihrer Erkenntnis emporsteigt, je eifriger er sich bemüht, sich selbst kennenzulernen, und dass er um so tiefer von ihrer Betrachtung herabsinkt, je mehr er versäumt, sich selbst anzuschauen?

67. Kapitel: Der menschliche Geist ist selbst ihr Spiegel und ihr Ebenbild

Höchst passend kann also gesagt werden, der menschliche Geist diene sich selbst gleichsam als Spiegel, worin er das Bild jener Wesenheit sozusagen im Spiegel erblickt, die er nicht von Angesicht zu Angesicht (1 Kor 13, 12) schauen kann. Wenn nämlich dieser Geist unter allen geschaffenen Dingen allein es vermag, sich seiner bewusst zu sein, sich zu erkennen und zu lieben, so sehe ich nicht, warum verneint werden sollte, dass in ihm ein wahres Bild jener Wesenheit ist, die durch das Bewusstsein, Erkennen und Lieben ihrer selbst in unaussprechlicher Dreifaltigkeit besteht. Aber gewiss erweist er sich dadurch als ein ihr noch getreueres Abbild, dass er imstande ist, ihrer bewusst zu werden und sie zu erkennen und zu lieben. Denn worin er größer und ihr ähnlicher ist, darin wird er auch als ihr getreueres Abbild erkannt. Nun kann aber gar nicht gedacht werden, dass dem vernunftbegabten Geschöpf von Natur aus etwas Vorzüglicheres und der höchsten Weisheit Ähnlicheres gegeben wurde wie dieses, dass es dessen bewusst werden und das erkennen und lieben kann, was das Beste und Größte von allem ist. Nichts anderes ist also in irgend ein Geschöpf hineingelegt worden, was so sehr das Bild des Schöpfers an sich trägt.

68. Kapitel: Das vernunftbegabte Geschöpf ist geschaffen, damit es sie liebe

Es scheint also zu folgen, dass das vernunftbegabte Geschöpf nichts so sehr anzustreben verpflichtet ist, als dieses ihm durch das natürliche Vermögen eingeprägte Bild durch willentliches Werk auszuprägen. Denn abgesehen davon, dass es ihr, die es schuf, das, was es ist, schuldet, ist auch der Gedanke, dass es nichts Vorzüglicheres vermag, als des höchsten Gutes bewusst zu werden, es zu erkennen und zu lieben, ein schlagender Beweis dafür, dass es auch nichts vorzüglicher wollen darf. Denn wer wollte leugnen, dass all das, was im Können das Bessere ist, auch im Wollen eine größere Rolle spielen muss? Schließlich besteht das Vernünftigsein der vernunftbegabten Natur in nichts anderem als in der Fähigkeit, das Gerechte vom Nichtgerechten zu unterscheiden, das Wahre vom Nichtwahren, das Gute vom Nichtguten, das Bessere vom Wenigerguten. Diese Fähigkeit wäre aber für sie völlig nutzlos und überflüssig, wenn sie nicht das, was sie unterscheidet, auch liebte oder verwürfe je nach dem Urteil wahrer Unterscheidung. Daraus ersieht man also ganz klar, dass alles Vernunftbegabte dazu da ist, um sowohl durch die unterscheidende Vernunft etwas als besser, als weniger gut oder als nicht gut zu beurteilen, wie auch um es stärker oder weniger stark zu lieben oder zu verabscheuen. Nichts ist also offenkundiger, als dass das vernunftbegabte Geschöpf dazu geschaffen ist, dass es die höchste Wesenheit liebe über alle Güter, weil sie selbst das höchste Gut ist; ja dass es nichts liebe als sie oder ihretwegen, weil sie durch sich gut ist und nichts anderes gut ist außer durch sie. Es kann sie aber nicht lieben, wenn es sich nicht bemüht, ihrer bewusst zu werden und sie zu erkennen. Es ist also klar, dass das vernunftbegabte Geschöpf sein ganzes Können und Wollen aufwenden muss, um des höchsten Gutes bewusst zu werden, es zu erkennen und zu lieben, und es erkennt, dass es zu diesem Zweck sein Sein hat.

69. Kapitel: Die jene Wesenheit immer liebende Seele wird einmal wahrhaft selig leben

Es ist aber kein Zweifel, dass die menschliche Seele ein vernunftbegabtes Geschöpf ist. Also folgt notwendig, dass sie dazu geschaffen ist, die höchste Wesenheit zu lieben. Es ist somit notwendig, dass sie entweder dazu geschaffen ist, ohne Ende zu lieben, oder dazu, diese Liebe einmal freiwillig oder gezwungen zu verlieren. Aber es ist frevelhaft, anzunehmen, die höchste Weisheit habe die Seele dazu geschaffen, dass sie einmal ein so großes Gut entweder verachte oder, trotzdem sie es festhalten will, durch irgendeinen Zwang verliere. Es bleibt also nur übrig, dass sie dazu geschaffen ist, die höchste Wesenheit ohne Ende zu lieben.

Dies kann sie aber nicht tun, wenn sie nicht immer lebt. Folglich ist sie so geschaffen, dass sie immer lebe, wenn sie immer tun will, wozu sie geschaffen ist. Sodann ist es allzu unvereinbar mit dem höchst guten, höchst weisen und allmächtigen Schöpfer, dass er ein Wesen, dem er das Sein gab, damit es ihn liebe, in das Nichtsein versetzt, solange es ihn wahrhaft liebt; und dass er das, was er aus freien Stücken einem nicht liebenden Wesen gab, damit es immer liebe, dem liebenden wegnimmt oder zulässt, dass es ihm genommen werde, so dass es aus Notwendigkeit nicht liebte; zumal keineswegs gezweifelt werden darf, dass er jede Natur liebt, die ihn wahrhaft liebt. Daher ist es klar, dass der menschlichen Seele niemals das Leben genommen wird, wenn sie immer bestrebt ist, das höchste Leben zu lieben.

In welcher Weise wird sie also leben? Was ist es denn Großes um ein langes Leben, wenn es nicht wahrhaft sicher ist vor dem Überfall der Widerwärtigkeiten? Denn wer sein Leben lang Widerwärtigkeiten, die er fürchtet oder erleidet, unterworfen ist, oder wer von falscher Sicherheit getäuscht wird, führt der nicht ein unglückliches Leben? Wessen Leben aber von diesen Dingen frei ist, der lebt glücklich. Es wäre aber äußerst sinnlos, wenn eine Natur, die den höchst Guten und Allmächtigen immer liebt, immer unglücklich lebte. Also ist die menschliche Seele offenbar von solcher Art, dass sie, wenn sie das bewahrt, wozu sie da ist, einmal, wahrhaft gesichert gegen den Tod und jede andere Widerwärtigkeit, glückselig leben wird.

70. Kapitel: Sie gibt sich selbst der sie liebenden Seele zum Lohn

Schließlich kann es keineswegs als wahr angesehen werden, dass der Gerechteste und Mächtigste der ihn beharrlich liebenden Seele nichts zum Lohne gäbe, da er doch der nicht liebenden eine Wesenheit gab, damit sie eine liebende sein könne. Wenn er nämlich der liebenden nichts zum Lohne gibt, dann macht der Gerechteste zwischen dem, der das höchst Liebenswerte liebt, und dem, der es verachtet, keinen Unterschied; noch liebt er den ihn Liebenden; oder es hat doch keinen Vorteil, von ihm geliebt zu werden. Dies alles aber steht zu ihm in Widerspruch. Er belohnt also jeden, der ihn beharrlich liebt.

Aber womit belohnt er ihn? Wenn er einem Nichts die vernunftbegabte Wesenheit gab, damit es ein Liebendes sei, was wird er wohl dem Liebenden geben, wenn es nicht aufhört zu lieben? Wenn etwas so Großes ist, was der Liebe dient, wie groß ist dann das, was der Liebe vergolten wird? Und wenn solcherart der Aufwand der Liebe ist, welcher Art ist dann der Liebe Gewinn ? Wenn nämlich das vernunftbegabte Geschöpf, das sich selber unnütz ist ohne diese Liebe, alle Geschöpfe solchermaßen überragt, dann kann freilich der Lohn für diese Liebe nur etwas sein, was alle Naturen hoch überragt. Und fürwahr, eben dieses Gut, weIches verlangt, dass es also geliebt werde, fordert nicht minder, dass es von dem Liebenden ersehnt werde. Denn wer möchte die Gerechtigkeit, Wahrheit, Seligkeit und Unverweslichkeit derart lieben, dass er sie nicht auch zu genießen begehrte? Was wird also die höchste Güte dem sie Liebenden und Ersehnenden zum Lohne geben, wenn nicht sich selbst? Denn was immer sie anderes geben mag, gibt sie nicht als Lohn, weil es weder der Liebe entspricht noch den Liebenden tröstet noch den Sehnenden sättigt. Oder sie will, dass sie geliebt werde und ersehnt werde, damit sie etwas anderes zum Lohne gebe, - dann will sie aber auch nicht, dass sie um ihrer selbst willen geliebt und ersehnt werde, sondern um des anderen willen, und dann will sie eben nicht, dass sie geliebt werde, sondern das andere; dies zu denken, wäre frevelhaft. Nichts ist also wahrer, als dass jede vernünftige Seele, die so, wie sie soll, bestrebt ist, die höchste Seligkeit liebend zu ersehnen, sie auch einmal erlangen wird, um sie zu genießen. Dann wird sie das, was sie jetzt wie im Spiegel und im Rätselbild erblickt, schauen von Angesicht zu Angesicht (1 Kor 13, 12). Äußerst töricht wäre es aber zu zweifeln, ob sie diese Seligkeit auch ohne Ende genieße, weil die sie genießende Seele weder von Furcht gepeinigt noch von trügender Sicherheit getäuscht werden kann noch imstande sein wird, jene Wesenheit nicht zu lieben, da sie schon erfahren hat, was es heißt, sie zu entbehren; auch wird diese selbst die sie liebende nicht verlassen, noch wird es etwas Mächtigeres geben, was sie gegen ihren Willen trennen könnte. Darum wird jedwede Seele, sobald sie einmal begonnen hat, die höchste Seligkeit zu genießen, auf ewig glückselig sein.

71. Kapitel: Die jene Wesenheit verachtende Seele ist ewig unglücklich

Hieraus wird nun folgerichtig abgeleitet, dass jene Seele, die die Liebe zum höchsten Gut verachtet, der ewigen Unseligkeit verfällt. Wenn man nämlich sagt, sie würde für solche Verachtung gerechter dadurch bestraft, dass sie das Sein selbst oder das Leben verliert, weil sie es nicht dazu gebraucht, wozu sie geschaffen ist: so gibt die Vernunft keineswegs zu, dass sie nach so großer Schuld zur Strafe ein Sein empfangen sollte, wie es vor aller Schuld war (Nämlich das Nichtsein). Denn bevor sie war, konnte sie ja weder eine Schuld haben noch eine Strafe fühlen. Wenn also die Seele, die das verachtet, wozu sie geschaffen ist, so stirbt, dass sie nichts fühlen könnte oder völlig zunichte würde, dann würde sie es gleich gut haben, ob sie in der größten Schuld oder ohne jede Schuld ist; dann würde die höchst weise Gerechtigkeit keinen Unterschied machen zwischen dem, was nichts Gutes vermag und nichts Böses will, und dem, was das größte Gut vermag und das größte Böse will.

Doch es ist zur Genüge klar, wie ungereimt das ist. Nichts kann also als folgerichtiger gelten und nichts verdient unbedingteren Glauben, als dass die Seele des Menschen so geschaffen wurde, dass sie ewige Unseligkeit erleidet, wenn sie es verachtet, die höchste Wesenheit zu lieben, so dass, wie die liebende Seele durch ewigen Lohn froh wird, die verachtende durch ewige Strafe Schmerz erduldet, und wie jene ein unvergängliches Genügen empfinden wird, diese ein Entbehren, das nicht getröstet werden kann.

72. Kapitel: Jede menschliche Seele ist unsterblich

Aber es wäre weder notwendig, dass die liebende Seele ewig selig sei, noch dass die verachtende Seele ewig unglücklich sei, wenn sie sterblich wäre. Mag sie also das lieben oder es verachten, was zu lieben sie geschaffen ist, es ist notwendig, dass sie unsterblich ist. Wenn es aber einige vernunftbegabte Seelen gibt, die weder als liebende noch als verachtende geIten können, wie es die Seelen der Unmündigen zu sein scheinen, was ist von diesen zu halten? Sind sie sterblich oder unsterblich? Ohne Zweifel sind alle menschlichen Seelen von derselben Natur. Da nun feststeht, dass einige unsterblich sind, ist es notwendig, dass jede menschliche Seele unsterblich ist.

73. Kapitel: Entweder ist sie immer unglücklich, oder sie ist einmal wahrhaft glückselig

Weil jedoch alles, was lebt, entweder nie oder irgendeinmal wahrhaft vor aller Widerwärtigkeit sicher ist, so ist es um nichts weniger notwendig, dass jede menschliche Seele entweder immer unglücklich oder irgendeinmal wahrhaft glückselig ist.

74. Kapitel: Keine Seele wird Ungerechterweise des höchsten Gutes beraubt; nach diesem Gut muss mit aller Kraft gestrebt werden

Welche Seelen aber unbedenklich zu denen zu rechnen sind, die das, was zu lieben sie geschaffen sind, so lieben, dass sie es einmal genießen; und welche zu denen, die es so verachten, dass sie es immer zu entbehren verdienen; oder wie und nach welchem Verdienst jene, die, wie es scheint, weder liebende noch verachtende genannt werden können, der ewigen Seligkeit oder dem ewigen Unheil zugeteilt werden, - dass ein Sterblicher dies durch Hin- und Herüberlegen herausbringen könne, das halte ich zweifellos für äußerst schwer oder unmöglich. dass jedoch der höchst gerechte und höchst gute Schöpfer der Dinge keine Seele ungerechterweise jenes Gutes beraubt, wozu sie geschaffen ist, dies muss aufs bestimmteste festgehalten werden; und nach eben diesem Gute muss jeder Mensch mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Geiste liebend und verlangend hinstreben.

75. Kapitel: Die höchste Weisheit muss erhofft werden

In diesem Hinstreben könnte sich aber die menschliche Seele keineswegs üben, wenn sie daran verzweifelte, hingelangen zu können, wohin sie strebt. So nützlich darum der Eifer im Hinstreben ist, ebenso notwendig ist ihr auch die Hoffnung auf das Erreichen.

76. Kapitel: Es muss an sie geglaubt werden

Lieben aber oder hoffen kann niemand, wenn er nicht glaubt. Also frommt es der menschlichen Seele, an die höchste Wesenheit zu glauben und auch an die Dinge zu glauben, ohne die sie nicht geliebt werden kann, um dann im Glauben an diese in jene hineinzustreben. Dasselbe kann wohl passend und kürzer ausgedrückt werden, wenn statt der Wendung: glaubend in die höchste Wesenheit hineinstreben, gesagt wird: in die höchste Wesenheit hineinglauben (= an sie glauben). Denn wer sagt, er glaube in sie hinein, scheint genugsam anzuzeigen, sowohl dass er durch den Glauben, den er bekennt, zur höchsten Wesenheit hinstrebt, als auch dass er das glaubt, was zu diesem Hinstreben gehört. Denn es scheint nicht in sie hineinzuglauben, wer entweder glaubt, was mit dem In-sie-Hineinstreben nichts zu tun hat, oder durch das, was er glaubt, nicht zu ihr hinstrebt. Und wie die Ausdrücke "glaubend in sie hineinstreben" und "zu ihr hinstreben" als gleichbedeutend genommen werden können, so lässt sich vielleicht auch unterschiedslos sagen "in sie hineinglauben" und "zu ihr hinglauben"; es gilt jedoch: wer immer strebend zu ihr hingelangt ist, bleibt nicht außerhalb ihrer zurück, sondern bleibt in ihr drinnen; das kommt deutlicher und vertrauter zum Ausdruck, wenn man sagt, man müsse in sie hineinstreben, als wenn man nur sagt, man müsse zu ihr hinstreben. Aus diesem Grunde kann man also, meine ich, zutreffender sagen, man müsse in sie hineinglauben, als man müsse zu ihr hinglauben.

77. Kapitel: Man muss an den Vater, den Sohn und ihren Geist glauben, sowohl an die einzelnen wie an die drei zusammen

Es muss also gleichermaßen an den Vater, den Sohn und ihren Geist geglaubt werden, sowohl an die einzelnen wie an die drei zusammen, weil sowohl Vater, Sohn und ihr Geist, jeder für sich, die höchste Wesenheit ist, als auch Vater und Sohn mit ihrem Geist zusammen eine und dieselbe höchste Wesenheit sind, an die allein jeder Mensch glauben muss, weil sie das einzige Ziel ist, das er in jedem seiner Gedanken und Werke durch die Liebe erstreben soll. Wie also keiner in sie hineinstreben kann, wenn er nicht an sie glaubt, so ist es auch offenbar, dass es keinem nützt, an sie zu glauben, wenn er nicht in sie hineinstrebt.

78. Kapitel: Welcher Glaube lebendig und welcher tot ist

So groß darum auch die Gewissheit sein mag, womit eine so erhabene Sache geglaubt wird, unnütz wird der Glaube sein und wie etwas Totes, wenn er nicht durch die Liebe stark ist und lebt. Denn dass jener Glaube, den die entsprechende Liebe begleitet, keineswegs müßig bleibt, wenn sich Gelegenheit zum Wirken bietet, sondern sich in einer großen Häufigkeit von Werken auswirkt, was er ohne die Liebe nicht tun könnte, - das lässt sich schon dadurch beweisen, dass einer, der die höchste Gerechtigkeit liebt, nichts Gerechtes verachten und nichts Ungerechtes zulassen kann. Weil also das, was eine Wirkung hervorbringt, zeigt, dass Leben in ihm ist, ohne das es nicht wirken könnte, ist es nicht ungereimt zu sagen, der wirkende Glaube lebe, weil er das Leben der Liebe hat, ohne das er nicht wirken würde, und der müßige Glaube lebe nicht, weil ihm das Leben der Liebe abgeht, bei dessen Vorhandensein er nicht müßig wäre. Wenn daher nicht nur jener blind heißt, der den Gesichtssinn verloren hat, sondern auch der, der ihn nicht gebraucht, wenn er ihn gebrauchen soll (Boethius, In Categ. Aristot. Pl 64, 270 A), warum dürfte man nicht ebenso den Glauben ohne Liebe einen toten Glauben (Vgl. Jak 2, 26: Der Glaube ohne Werke ist tot; auch 2, 17 und 20) nennen, nicht weil er sein Leben, nämlich die Liebe, verloren hätte, sondern weil er sie nicht gebraucht, die er doch immer gebrauchen soll? Wie also jener Glaube, der durch Liebe wirkt (Vgl. Gal 5, 6: Der Glaube, der durch Liebe wirkt), als lebend erkannt wird, so wird jener, der durch Verachtung müßig bleibt, als tot erwiesen. Daher kann recht zutreffend gesagt werden, der lebendige Glaube glaube an das (in das hinein), woran geglaubt werden soll, während der tote Glaube nur glaubt, was geglaubt werden soll.

79. Kapitel: Was von der höchsten Wesenheit gewissermaßen als Dreiheit ausgesagt werden kann

Siehe, es liegt zutage, dass es jedem Menschen frommt, an eine unaussprechliche dreifaltige Einheit und einige Dreifaltigkeit zu glauben. Einig und Einheit wegen der einen Wesenheit, dreifaltig und Dreifaltigkeit wegen der drei "ich weiß nicht was". Denn wenn ich auch von Dreifaltigkeit sprechen kann wegen des Vaters, des Sohnes und des Geistes beider, welche drei sind, so kann ich es doch nicht mit einem einzigen Namen aussprechen, weswegen es drei sind, wie wenn ich sagen würde, wegen der drei Personen, wie ich von der Einheit spreche wegen der einen Substanz. Man darf sie nämlich nicht für drei Personen halten; denn wo immer es mehrere Personen gibt, bestehen sie so voneinander abgesondert, dass es notwendig so viele Substanzen als Personen sind, wie dies bei mehreren Menschen erkannt wird: So viele Personen, so viele einzelne Substanzen sind es auch. Wie es daher in der höchsten Wesenheit nicht mehrere Substanzen gibt, so auch nicht mehrere Personen.

Wenn daher jemand darüber mit einem anderen sprechen wollte, als was für drei wird er wohl den Vater, den Sohn und den Geist beider benennen, wenn er nicht vielleicht, durch das Fehlen eines eigentlich zukommenden Namens gezwungen, einen aus jenen Namen wählt, die bei der höchsten Wesenheit nicht in der Mehrzahl gebraucht werden können, um das zu bezeichnen, was mit einem geziemenden Namen nicht benannt werden kann; wenn er etwa sagt, jene bewundernswerte Dreifaltigkeit sei eine einzige Wesenheit oder Natur und drei Personen oder Substanzen (Vgl. die Vorrede)? Denn diese beiden Namen werden besonders passend gewählt, um die Mehrheit in der höchsten Wesenheit zu bezeichnen, weil der Name "Person" nur von der einzelnen vernunftbegabten Natur ausgesagt wird und der Name "Substanz" (= das Unterstehende) vorwiegend von den Einzelwesen, die ja meistens in einer Mehrheit bestehen. Denn die Einzelwesen sind am meisten den Zufälligkeiten unterstehend, d. h. ihnen zugrundeliegend, weshalb sie auch im eigentlicheren Sinne den Namen "Substanz" erhalten. Daher ist schon oben (im 26. Kapitel) klargelegt worden, dass die höchste Wesenheit, die keinen Zufälligkeiten unterliegt, nicht im eigentlichen Sinne Substanz genannt werden kann, es sei denn, Substanz werde für Wesenheit gesetzt. Auf Grund dieser Notwendigkeit kann man also, ohne Tadel zu verdienen, jene höchste und einige Dreifaltigkeit oder dreifaltige Einheit benennen als eine Wesenheit und drei Personen oder drei Substanzen.

80. Kapitel: Sie herrscht über alle Dinge und leitet sie alle und ist der alleinige Gott

Es ist also ersichtlich, ja es wird ohne Schwanken bejaht, dass es kein Nichts ist, was Gott genannt wird, und dass dieser höchsten Wesenheit allein im eigentlichen Sinne der Name Gott beigelegt wird. Denn jeder, der sagt, dass Gott ist, sei es einer oder mehrere, versteht darunter nichts anderes als eine Substanz, die er über alle Natur erhaben denkt, welche nicht Gott ist, eine Substanz, die wegen ihrer überragenden Würde von den Menschen verehrt werden und gegen jedwede sie bedrohende Bedrängnis angerufen werden muss. Was ist aber wegen seiner Würde so sehr zu verehren und in jeglicher Sache so sehr anzuflehen wie der höchst gute und höchst mächtige Geist, der über alle Dinge herrscht und sie alle leitet? Wie es nämlich feststeht, dass seine höchst gute und höchst weise Allmacht alle Dinge geschaffen hat, so wäre es überaus unangebracht, anzunehmen, er würde über die von ihm geschaffenen Dinge nicht auch selbst herrschen, sei es, dass die von ihm geschaffenen Dinge von einem anderen weniger mächtigen und weniger guten und weisen Wesen oder überhaupt von keiner ordnenden Vernunft, sondern lediglich von dem regellosen Wellenspiel der Zufälle gelenkt würden - während doch er allein es ist, durch den es jedem Wesen wohlergeht und ohne den keinem, und aus dem, durch den und in dem alle Dinge sind (Vgl. Rom 11, 36: Denn aus ihm und durch ihn und in ihm sind alle Dinge). Weil also er allein nicht nur der gute Schöpfer, sondern auch der mächtigste Herr und weiseste Lenker aller Dinge ist, so ist es sonnenklar, dass er allein es ist, den jede andere Natur gemäß ihrem ganzen Können liebend zu verehren und verehrend zu lieben verpflichtet ist; dass man von ihm allein Glück erhoffen, zu ihm allein vor dem Unglück fliehen und ihn allein in jeglicher Sache demütig bitten soll. Dieser ist also wahrhaftig nicht allein Gott, sondern der alleinige Gott, der unaussprechlich dreifaltige und eine.

Weblinks

  • Das Monologion, lateinischer und deutscher Text nach der Edition von F.S. Schmitt, S.Anselmi Opera omnia vol.I, pp 7-87 (Seckau 1938, Edinburgh 1942) in Teilsatzgliederung und mittellateinisch restituierter Orthographie ins Netz gestellt von Hans Zimmermann (Görlitz 2005)