Das Alter: unsere Zukunft

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Schreiben

Päpstliche Akademie für das Leben
im Pontifikat von Papst
Franziskus
über das Alter: unsere Zukunft. Die Situation alter Menschen nach der Pandemie
2. Februar 2021

(Quelle: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 229, 29 S., - Arbeitsübersetzung des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Eine Lektion, die es zu lernen gilt

Nun ist es an der Zeit, „den Mut zu finden, Räume zu öffnen, in denen sich alle berufen fühlen, und neue Formen der Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität zuzulassen“<ref> PAPST FRANZISKUS, Besondere Andacht zur Zeit der Epidemie (27. März 2020).</ref>. Dies waren die Worte von Papst Franziskus im Gebet am 27. März 2020 auf dem leeren Petersplatz, nachdem er uns in Erinnerung gerufen hatte: „In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht ...“<ref>PAPST FRANZISKUS, ebd.</ref>

Im Einvernehmen mit dem Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen fühlte sich die Päpstliche Akademie für das Leben dazu aufgerufen, sich damit auseinanderzusetzen, welche Lehre aus der Tragödie der Pandemie und ihren Konsequenzen für das Heute und die nahe Zukunft unserer Gesellschaften zu ziehen sei. Aus dieser Perspektive lassen sich auch die bereits veröffentlichten Dokumente der Akademie einordnen: „Pandemie und universelle Geschwisterlichkeit“<ref>PÄPSTLICHE AKADEMIE FÜR DAS LEBEN, Pandemie und universelle Geschwisterlichkeit. Note zum Notfall von Covid 19 vom 30. März 2020, http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_academies/acdlife/docum ents/rc_pont-acd_life_doc_20200330_pandemia-fraternita-universale_it. html.</ref> und „‚Humana Communitasʻ in Zeiten der Pandemie. Unzeitgemäße Überlegungen über die Wiedergeburt des Lebens“<ref>PÄPSTLICHE AKADEMIE FÜR DAS LEBEN, „Humana Communitas“ in Zeiten der Pandemie. Unzeitgemäße Überlegungen über die Wiedergeburt des Lebens, Dokument vom 22. Juli 2020. Das Dokument nimmt Bezug auf: PAPST FRANZISKUS, Humana Communitas, Schreiben vom 6. Januar 2019 zum 25. Gründungstag der Päpstlichen Akademie für das Leben, http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_academies/acdlife/docume nts/rc_pont-acd_life_doc_20200722_humanacomunitas-erapandemia_it. html.</ref><ref> Siehe zu diesem Punkt auch das Dokument des DIKASTERIUMS FÜR DIE LAIEN, DIE FAMILIE UND DAS LEBEN vom 7. April 2020, Nella solitudine il coronavirus uccide di più (In der Einsamkeit tötet das Coronavirus am meisten), in: http://www.laityfamilylife.va/content/laityfamilylife/en/news /2020/nella-solitudine-il-coronavirus-uccide-di-piu.html.</ref>.

Die Pandemie hat uns zweierlei bewusst gemacht: zum einen, dass wir alle voneinander abhängig sind, und zum anderen, dass es starke Ungleichheiten gibt. Wir sind alle demselben Sturm ausgeliefert, können aber in gewissem Sinne auch sagen, dass wir in verschiedenen Booten rudern: Und die Schwächsten gehen Tag für Tag unter. Wir müssen das Modell für die Entwicklung unserer Erde unbedingt überdenken. Alle sind dazu aufgerufen – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft wie auch religiöse Organisationen –, ein neues gesellschaftliches Gefüge aufzubauen, in dessen Mittelpunkt das Gemeinwohl der Völker steht. Es gibt nichts „Privates“ mehr, das nicht auch die „öffentliche“ Form der gesamten Gemeinschaft aufs Spiel setzen würde. Die Liebe zum „Gemeinwohl“ ist keine rein christliche Fixierung: Ihre konkrete Ausgestaltung ist heute zu einer Frage von Leben und Tod für ein Miteinander geworden, das der Würde jedes Mitglieds der Gemeinschaft gerecht wird. Dennoch ist solidarische Geschwisterlichkeit für gläubige Menschen eine im Evangelium begründete Leidenschaft: Sie öffnet den Horizont für einen tieferen Ursprung und eine höhere Bestimmung.

Aus diesem schwierigen Kontext hebt sich die jüngste Enzyklika von Papst Franziskus, Fratelli tutti, einer Vorsehung gleich hervor und umreißt den Horizont, vor dem wir unseren Platz einnehmen müssen, um jene „Nähe“ zur Welt alter Menschen aufzuzeigen. Eine Welt, die bisher in der öffentlichen Wahrnehmung oft beiseitegeschoben wurde. Denn ältere Menschen sind mit am stärksten von der Pandemie betroffen. Die Zahl der Todesfälle bei Menschen über 65 Jahren ist erschütternd. Papst Franziskus versäumt es nicht, dies hervorzuheben: „Wir haben gesehen, was mit den älteren Menschen an einigen Orten der Welt aufgrund des Corona-Virus geschehen ist. Sie sollten nicht auf diese Weise sterben. Tatsächlich aber war etwas Ähnliches schon bei mancher Hitzewelle und unter anderen Umständen vorgefallen: Sie wurden brutal weggeworfen. Es wird uns bewusst, dass eine Isolierung der älteren Menschen und ihre Übergabe in die Obhut anderer ohne eine angemessene und gefühlvolle familiäre Begleitung die Familie selbst verstümmelt und ärmer macht. Im Übrigen führt es dazu, dass den jungen Menschen der nötige Kontakt mit ihren Wurzeln und mit einer Weisheit, welche die Jugend von sich aus nicht erreichen kann, vorenthalten wird.“<ref> PAPST FRANZISKUS, Enzyklika Fratelli tutti über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft (2020), 19: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 227 (Bonn 2020), S. 18.</ref>

Das vom Dikasterium für die Laien, die Familie und das Leben am 7. April 2020, also wenige Wochen nach Beginn des Lockdown, in einigen europäischen Ländern veröffentlichte Dokument geht auf die schwierige Situation älterer Menschen ein und sieht in der Einsamkeit und Isolation einen der Hauptgründe, warum das Virus diese Generation so hart trifft. In dem Text heißt es, dass „besondere Aufmerksamkeit diejenigen verdienen, die in Senioreneinrichtungen leben: Wir hören täglich schreckliche Nachrichten über ihre Lage, und Tausende von Menschen haben dort bereits ihr Leben verloren. Die Ansammlung so vieler gebrechlicher Menschen an einem Ort und die Schwierigkeit, Schutzvorrichtungen zu beschaffen, haben zu Situationen geführt, die trotz der Entsagungen und mancherorts gar der Aufopferung des Pflegepersonals äußerst schwer zu bewältigen sind“.<ref> DIKASTERIUM FÜR DIE LAIEN, DIE FAMILIE UND DAS LEBEN, Nella solitudine il coronavirus uccide di più, (In der Einsamkeit tötet das Coronavirus am meisten) (7. April 2020): a. a. O.</ref>

Covid-19 und alte Menschen

Während der ersten Welle der Pandemie ereignete sich ein beträchtlicher Anteil der Covid-19-Todesfälle in Senioreneinrichtungen, also an Orten, die den „besonders schwachen Teil der Gesellschaft“ eigentlich hätten schützen sollen, und wo stattdessen der Tod überproportional stärker zuschlug als im eigenen Zuhause und in der familiären Umgebung. Der Leiter des europäischen Büros der Weltgesundheitsorganisation erklärte dazu, dass im Frühjahr 2020 bis zur Hälfte aller Coronavirus-Todesfälle in Pflegeheimen zu verzeichnen gewesen seien – eine „unvorstellbare Tragödie“, so sein Kommentar<ref> ASSOCIATED PRESS (23. April 2020).</ref>. Daten aus Vergleichsrechnungen zeigen, dass die „Familie“ ältere Menschen unter denselben Bedingungen weitaus besser geschützt hat.

Die Betreuung älterer und vor allem besonders vulnerabler und einsamer Menschen in Einrichtungen, die als einzig mögliche Lösung für deren Pflege angeboten werden, offenbart in vielen sozialen Kontexten eine mangelhafte Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber den besonders Schwachen, für die es doch vielmehr notwendig wäre, Mittel und Finanzierungen einzusetzen, um in vertrauterer Umgebung die bestmögliche Pflege für jene zu gewährleisten, die sie besonders benötigen. Ein solcher Ansatz bringt deutlich das zum Ausdruck, was Papst Franziskus als Wegwerfkultur<ref> PAPST FRANZISKUS, Generalaudienz (5. Juni 2013).</ref> bezeichnet hat. Altersbedingte Risiken wie Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, Gedächtnis- und Identitätsverlust und kognitiver Abbau können viel leichter in einem solchen Umfeld auftreten, dort, wo die Berufung dieser Einrichtungen eigentlich darin bestehen sollte, ältere Menschen unter vollständiger Wahrung ihrer Würde auf einem oft von Leid gezeichneten Weg familiär, sozial und spirituell zu begleiten.

Bereits in den Jahren als Erzbischof von Buenos Aires hatte Papst Franziskus betont, dass „der Ausschluss älterer Menschen aus dem Leben von Familie und Gesellschaft der Ausdruck eines perversen Prozesses ist, in dem Selbstlosigkeit, Großzügigkeit und emotionaler Reichtum nicht mehr existieren, Dinge, die das Leben nicht nur zu einem Geben und Nehmen machen, also zu einem Markt ... Alte Menschen auszuschließen ist ein Fluch, den unsere heutige Gesellschaft sich oft selbst auferlegt“<ref>J. M. BERGOLGIO, Solo l’amore ci può salvare (Nur die Liebe kann uns retten), LEV (Città del Vaticano 2013), S. 83.</ref>.

Es ist daher mehr denn je geboten, sich nun gewissenhaft, weitsichtig und ehrlich damit auseinanderzusetzen, wie die heutige Gesellschaft der älteren Bevölkerung insbesondere dort „nahe“ sein kann, wo sie besonders schwach ist. Darüber hinaus machen die Ereignisse während der Coronakrise es unmöglich, die Frage der Altenpflege einfach mit der Suche nach Sündenböcken und einzelnen Schuldigen vom Tisch zu wischen und stattdessen einen Chor zur Verteidigung der hervorragenden Ergebnisse derer anzustimmen, die eine Ansteckung in Pflegeheimen verhindert haben. Wir brauchen eine neue Sichtweise, ein neues Paradigma, das es der Gesellschaft ermöglicht, für alte Menschen Sorge zu tragen.

Der Segen eines langen Lebens

Die Forderung nach einer neuen, ernsthaften Auseinandersetzung, in die die Gesellschaft auf allen Ebenen einbezogen werden kann, ist auch aufgrund der großen demografischen Veränderungen vonnöten, die wir alle erleben.

Aus statistisch-soziologischer Sicht haben Männer und Frauen heute generell eine höhere Lebenserwartung. Dieses Phänomen steht in Korrelation zu einem drastischen Rückgang der Kindersterblichkeit. In vielen Ländern der Welt hat dies dazu geführt, dass bis zu vier Generationen unter einem Dach leben. Eine unglaubliche Tatsache, die uns viel darüber zu sagen hätte, wie wichtig es ist zu lernen, generationenübergreifenden Beziehungen einen Wert beizumessen, und zweifelsohne das Ergebnis des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts, eines weiterentwickelten Gesundheitssystems, umfassenderer Behandlungen und eines solidarischeren gesellschaftlichen Lebens. Die Erde verändert ihr Gesicht, doch die Gesellschaften müssen – in all ihren Ausprägungen – ein besseres Bewusstsein dafür entwickeln.

Dieser große demographische Wandel stellt de facto eine kulturelle, anthropologische und wirtschaftliche Herausforderung dar. Daten sagen aus, dass die ältere Bevölkerung in städtischen Gebieten schneller wächst als in ländlichen und die Konzentration älterer Menschen dort höher ist. Dieses Phänomen weist unter anderem auf einen Faktor mit relevanten Folgen hin, nämlich das unterschiedlich hohe Sterberisiko, das im städtischen Raum tendenziell niedriger ist. Anders als es eine stereotype Sichtweise vermuten ließe, sind Städte überall auf der Welt Orte, an denen Menschen im Durchschnitt länger leben. Alte Menschen sind also zahlreich, weshalb die Städte unbedingt auch für sie lebenswert gestaltet werden müssen. Daten der Weltgesundheitsorganisation zufolge wird es 2050 weltweit zwei Milliarden über 60-Jährige geben. Damit ist jeder fünfte Mensch alt.<ref> WELTGESUNDHEITSORGANISATION (2011), Global Health and Aging, in: http://www.who.int/ageing/publications/global_health.pdf.</ref> Es ist also entscheidend, unsere Städte zu inklusiven und einladenden Orten für alte Menschen und generell für alle Formen von Gebrechlichkeit zu machen.

Papst Franziskus äußerte dazu bereits: „Außerdem entsprechen dem Alter heute unterschiedliche Lebensabschnitte: Für viele ist es die Zeit, in der die Leistungsfähigkeit nachlässt, die Kräfte zurückgehen und Anzeichen von Krankheit, Hilfsbedürftigkeit und sozialer Isolierung auftreten; für viele jedoch ist es der Beginn einer langen Zeit psychischen und physischen Wohlergehens und der Freiheit von beruflichen Verpflichtungen. Wie soll man – in beiden Situationen – diese Jahre leben? Welchen Sinn soll man dieser Lebensphase geben, die für viele lang sein kann?“<ref> PAPST FRANZISKUS, Ansprache an die Teilnehmer der ersten internationalen Tagung zur Altenseelsorge zum Thema „Der Reichtum der Jahre“ (31. Januar 2020).</ref> In unserer Gesellschaft herrscht oft die Vorstellung, das Alter sei eine unglückliche Lebenszeit; es wird immer nur als Zeit der Pflege, der Bedürftigkeit und der Kosten für medizinische Behandlungen verstanden. Bereits vor 2000 Jahren sprach Terentius Afer von „senectus ipsa est morbus“, vom Alter als Krankheit an sich. Und dennoch gilt die Langlebigkeit in der Bibel als Segen. „Sie konfrontiert uns mit unseren Schwächen, mit der gegenseitigen Abhängigkeit, mit unseren familiären und gemeinschaftlichen Bindungen und vor allem mit unserer göttlichen Kindschaft.“ „Das Alter ist“, wie Papst Franziskus treffend bemerkte, „keine Krankheit, sondern ein Privileg! Einsamkeit kann eine Krankheit sein, aber mit Nächstenliebe, Nähe und geistlichem Trost können wir sie heilen“.

In jedem Fall ist das Altsein ein Geschenk Gottes und eine enorme Quelle, eine Errungenschaft, die es sorgfältig zu bewahren gilt, auch wenn wir durch Krankheit hinfällig werden und ganzheitlicher, hochwertiger Unterstützungsbedarf entsteht. Und es ist unstrittig, dass die Pandemie in uns allen das Bewusstsein gestärkt hat, dass der „Reichtum der Jahre“ ein Schatz ist, den es besser zu nutzen und zu schützen gilt.<ref> COMECE-FAFCE, The elderly and the future of Europe. Intergenerational solidarity and cares in times of demographic change (3. Dezember 2020).</ref>

Ein neues Pflege- und Betreuungsmodell für besonders gebrechliche alte Menschen

Kulturell und im zivilgesellschaftlichen sowie christlichen Bewusstsein ist es nun wichtiger denn je, die Betreuungsmodelle für ältere Menschen grundlegend zu überdenken. Zu lernen, ältere Menschen zu „ehren“, ist ausschlaggebend für die Zukunft unserer Gesellschaften und in letzter Instanz für unsere eigene. „In den Gesetzestafeln gibt es ein sehr schönes Gebot, das deshalb schön ist, weil es der Wahrheit entspricht und uns befähigt, in der Tiefe über den Sinn unseres Lebens nachzudenken: ,Du sollst Vater und Mutter ehrenʻ. Ehre bedeutet im Hebräischen ,Gewichtʻ, Wert; ehren heißt, den Wert eines Daseins anzuerkennen: das Dasein derer, die uns Leben und Glauben geschenkt haben. [...] Ein erfülltes Leben zu leben und gerechtere Gesellschaften für die neuen Generationen zu schaffen hängt davon ab, dass man in jedem Kontext und an jedem geografischen Ort der Welt die Gegenwart und den Reichtum anerkennt, den Großeltern und alte Menschen für uns darstellen. Und diese Anerkennung findet ihren Gegenpart in der Achtung, die dann entsteht, wenn sie in der Annahme, im Beistand und in der Wertschätzung ihrer Qualitäten“<ref> DIKASTERIUM FÜR DIE LAIEN, DIE FAMILIE UND DAS LEBEN, Schlussfolgerungen zur ersten internationalen Tagung zur Altenseelsorge zum Thema „Der Reichtum der Jahre“ (30. Januar 2020), in: DIKASTERIUM FÜR DIE LAIEN, DIE FAMILIE UND DAS LEBEN, Der Reichtum der Jahre, LEV (2020), http://www.laityfamilylife.va/content/laityfamilylife/it/eventi/2020 /la-ricchezza-degli-anni/conclusioni.html.</ref> und ihrer Bedürfnisse Ausdruck findet.

Dazu gehört zweifelsohne die Pflicht, die besten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alte Menschen diese besondere Lebensphase möglichst in ihrer gewohnten Umgebung und mit vertrauten Freunden verbringen können. Wer würde nicht gerne weiter bei sich zu Hause leben wollen, umgeben von seinen Liebsten und nahestehenden Menschen, auch wenn man gebrechlich wird? Die Familie, das Zuhause und das eigene Umfeld sind für jeden das, wofür man sich ganz natürlich entscheiden würde.

Natürlich kann nicht immer alles unverändert so bleiben wie in jungen Jahren; manchmal sind Lösungen erforderlich, die wahrscheinlich eine häusliche Pflege erforderlich machen. In manchen Situationen ist die eigene Wohnung nicht mehr ausreichend oder passend. In diesen Fällen darf man sich nicht zu einer „Wegwerfkultur“ hinreißen lassen, die sich in Trägheit und mangelnder Kreativität bei der Suche nach effektiven Lösungen äußern kann, wenn mit dem Alter auch die Selbstständigkeit schwindet. Den Menschen mit seinen Bedürfnissen und Rechten in den Mittelpunkt zu stellen, ist Ausdruck von Fortschritt, Kultur und authentischem christlichen Bewusstsein.

Der Mensch muss daher das Herzstück dieses neuen Paradigmas für die Betreuung und Pflege besonders gebrechlicher alter Menschen sein. Jeder alte Mensch ist anders und die Einzigartigkeit jeder Geschichte – mit Biographie, Lebensumfeld, aktuellen und verflossenen Beziehungen – ist nicht zu vernachlässigen. Um neue Wohn- und Betreuungsperspektiven zu erarbeiten, muss der einzelne Mensch sorgfältig mit seiner Geschichte und seinen Bedürfnissen berücksichtigt werden. Die Umsetzung dieses Prinzips erfordert strukturierte Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen, die ein Kontinuum in der Pflege zwischen eigenem Zuhause und gewissen externen Diensten sicherstellen, ohne traumatische Einschnitte, die der Gebrechlichkeit des Alterns nicht gerecht würden.

In dieser Hinsicht richten wir ein besonderes Augenmerk auf seniorengerecht ausgestattete Wohnungen: Sind bauliche Barrieren und unpassende sanitäre Einrichtungen vorhanden, fehlt es an Heizung und Platz, müssen konkrete Lösungen gefunden werden. Wenn man erkrankt oder schwächer wird, kann alles und jedes zu einem unüberwindlichen Hindernis werden. Die häusliche Pflege muss integriert erfolgen, mit der Möglichkeit für medizinische Behandlungen zu Hause und einem angemessenen Dienstleistungsangebot vor Ort. Mit anderen Worten muss die Betreuung alter Menschen dringend und unbedingt dort aktiv gewährleistet werden, wo sich deren Leben abspielt. All dies erfordert einen Prozess der sozialen, zivilgesellschaftlichen, kulturellen und moralischen Umkehr. Denn nur so kann auf das Bedürfnis der Alten und insbesondere der besonders Schwachen und Exponierten nach Nähe angemessen eingegangen werden.

Wir müssen die Zahl der Pflegekräfte erhöhen, Berufe, die es in westlichen Gesellschaften schon seit Jahren gibt. Aber auch für andere Berufsbilder muss ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, damit Talente gefördert und Familien unterstützt werden. All dies kann es alten Menschen ermöglichen, diese Phase ihres Daseins als „familiär“ zu erleben.

Große Unterstützung können neue Technologien und Fortschritte in der Telemedizin und künstlichen Intelligenz leisten: Richtig eingesetzt und bereitgestellt, kann so rund um die Wohnsituation älterer Menschen ein integriertes Hilfs- und Pflegesystem geschaffen werden, das das Weiterleben im eigenen Haus oder dem der Familienangehörigen ermöglicht. Ein aufmerksames, kreatives Bündnis zwischen den Familien, dem Sozial- und Gesundheitssystem, Ehrenamtlichen und allen beteiligten Akteuren kann verhindern, dass ein alter Mensch aus seiner Wohnung ausziehen muss. Es geht also nicht nur darum, Einrichtungen mit ein paar Bettenplätzen zu eröffnen oder einen Garten oder eine Freizeitbegleitung bereitzustellen. Notwendig ist vielmehr eine individuelle Gestaltung der sozialen und gesundheitlichen Maßnahmen. Dies könnte eine konkrete Antwort auf die Aufforderung der Europäischen Union sein, neue Altenpflegemodelle zu fördern.<ref> Das Jahr 2012 wurde von den internationalen Institutionen zum Jahr für aktives Altern ausgerufen: Die Europäische Union hat es zum „Europäischen Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“ erklärt, wohingegen die Weltgesundheitsorganisation den Weltgesundheitstag 2012 unter das Motto „Altern und Gesundheit: Gesundheit erfüllt die Jahre mit Leben“ stellte.</ref> Vor diesem Hintergrund sollten selbstständiges und betreutes Wohnen, Wohngemeinschaften und all jene Erfahrungen, die vom Wertekonzept des gegenseitigen Helfens inspiriert sind und der/m Einzelnen dennoch ein eigenständiges Leben ermöglichen, kreativ und intelligent gefördert werden.

Diese Erfahrungen ermöglichen also ein Leben in einer Privatunterkunft mit den Vorzügen des Gemeinschaftslebens, in einem gut ausgestatteten Gebäude mit komplett gemeinsamer Alltagsorganisation und bestimmten garantierten Dienstleistungen wie z. B. Stadtteil-Krankenpflegekräften. In Anlehnung an die traditionelle Nachbarschaftshilfe helfen sie bei vielen Beschwernissen des modernen Stadtlebens wie Einsamkeit, finanziellen Problemen, fehlenden emotionalen Bindungen und ganz einfach dem Bedarf an Hilfe. Dies sind die wesentlichen Gründe, weshalb sie so erfolgreich und weltweit äußerst verbreitet sind. Heute sind verschiedene Modelle und Wohntypen möglich: generationenübergreifende, in denen Haushalte aus verschiedenen, zuvor festgelegten Altersgruppen zusammenleben; solche, die nur alte Menschen mit besonderen Voraussetzungen oder nur Frauen aufnehmen; die, in denen nur junge Familien mit Kindern und Singles zusammenleben; oder solche, die externe Anbieter für bestimmte Pflegedienstleistungen hinzuziehen, und viele andere.<ref> Einen Überblick bietet CHARLES DURRET, Senior Cohousing, A Community approach to Independent Living – The Handbook (Gabriola Island BC, Kanada 2019).</ref> In einigen Fällen ergab sich auch die Notwendigkeit, Wohnangebote für zuvor in Heimen untergebrachte alte Menschen zu machen, die ein „neues Leben“ beginnen und aus ihrem langjährigen Wohn- und Lebensumfeld wegziehen wollten.

Diese Wohn- und Betreuungsformen fordern, dass sich die Mentalität und Auffassung von Alten als gebrechlichen Menschen, die aber immer noch fähig sind zu geben und zu teilen, grundlegend ändern muss, und zwar zu einem Bündnis zwischen den Generationen, das in Zeiten der Schwäche Mut machen kann.

Das Seniorenheim zu einem gesellschaftlich-gesundheitlichen „Kontinuum“ qualifizieren

Unter dieser Prämisse sollten Seniorenheime zu einem gesellschaftlich-gesundheitlichen Kontinuum qualifiziert werden. Sie sollten also bestimmte Leistungen direkt bei den älteren Menschen zu Hause anbieten wie häusliche Krankenpflege und die Betreuung der/s Einzelnen über ein niedrig- oder hochintensives, bedarfsgerechtes, individuelles Unterstützungsangebot dort, wo integrierte Sozial- und Gesundheitsversorgung und häusliche Pflege weiterhin der Dreh- und Angelpunkt eines neuen, modernen Paradigmas sind. Anlässlich des Welttages gegen die Misshandlung älterer Menschen im Jahr 2020 betonte Papst Franziskus: „Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass unsere Gesellschaft nicht ausreichend organisiert ist, um den älteren Menschen ihren Platz zu geben und sie in ihrer Würde und Schwachheit zu achten. Wo für die Alten nicht gesorgt wird, gibt es keine Zukunft für die Jungen.“<ref> PAPST FRANZISKUS, Tweet vom 15. Juni 2020.</ref> Die alljährlich im Rahmen dieses Tages von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichten Daten sind ein trauriges Echo der Worte des Papstes zu den Missbrauchsfällen, die im Kontext der Heimunterbringung häufiger auftreten.<ref> Vgl. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/elder-abuse.</ref>

All dies macht umso deutlicher, wie notwendig die Unterstützung von Familien ist, besonders wenn sie aus wenigen Kindern und Enkeln bestehen, welche die manchmal anstrengende Verantwortung der geld- und zeitaufwendigen Betreuung pflegeintensiver Krankheiten nicht alleine in der Wohnung schultern können. Hier muss ein umfassenderes, solidarisches Netzwerk neu erdacht werden, das nicht unbedingt ausschließlich auf Blutsbanden beruht, sondern auf Zugehörigkeiten, Freundschaften, Gemeinsamkeitsgefühl und gegenseitiger Großzügigkeit aufbaut, wenn auf die Bedürfnisse anderer reagiert werden muss. Der Niedergang sozialer Beziehungen trifft in der Tat vor allem alte Menschen: So werden mit fortschreitendem Alter und dem Auftreten von körperlichem und geistigem Abbau oft auch die Bezugspersonen weniger, Menschen, auf die man sich bei der Bewältigung von Lebensproblemen verlassen kann. Einige groß angelegte, historisch wichtige Untersuchungen z. B. in den Vereinigten Staaten zeigen auf, dass zwischen 1985 und 2004 das Netzwerk aus Freunden und Unterstützern drastisch geschrumpft ist: Konnten Menschen 1985 noch auf etwa drei Vertrauenspersonen zählen, war es 2004 nur noch eine. Der Verlust betrifft eher die Freunde als die Verwandten. Dieses Phänomen ist ein wesentlicher Beschleuniger für die explodierende Nachfrage im Gesundheitswesen, auf die heute nicht gesellschaftlich adäquat reagiert wird. Auch darf man sie nicht als unangemessen bezeichnen, denn der Schwund des eigenen sozialen Beziehungsnetzwerks kann für sich genommen bereits den physischen und psychischen Gesundheitszustand verschlechtern.

Deshalb ist es wichtig, den Trend unter anderem durch umsichtige Pläne umzukehren, die sowohl im zivilgesellschaftlichen als auch im kirchlichen Bereich mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge fördern, um älter werdende Menschen nicht allein zu lassen.

In verschiedenen Ländern waren Seniorenheime in den letzten Jahrzehnten die Antwort auf eine steigende Nachfrage in einer Welt, die sich wandelt, obwohl viele ältere Menschen weiter zu Hause leben und in dieser grundlegenden Entscheidung ge- und unterstützt werden möchten. In vielen Städten existierten vor Jahren „Orte“ und Einrichtungen, die in der kollektiven Wahrnehmung sehr wohl bekannt waren und in die ältere Menschen in den letzten Lebensjahren aus freien Stücken, oder weil sie durch ihre persönlichen Umstände dazu gezwungen waren, einzogen. Im Laufe der Jahre ist die Anzahl der Seniorenheime stark angestiegen und es gibt mehr Wohntypen und -kapazitäten. Auch die katholische Kirche hat über die Bistümer und einige klösterliche Einrichtungen mit der Führung vieler Häuser, die alte Menschen aufnehmen und unterstützen, einen Beitrag geleistet und tut dies auch weiterhin. Die Mitarbeit von Ordensleuten ist ein Faktor von unzweifelhaftem Wert für alte, angesehene Einrichtungen, die seit langer Zeit eine konkrete Lösung für ein so komplexes gesellschaftliches Problem wie das Älterwerden darstellen. Es gibt sehr schöne Beispiele dafür, wie man die Hilfe für besonders gebrechliche alte Menschen menschlich gestalten kann: Beispiele christlicher Nächstenliebe, fromme Werke und alteingesessene Einrichtungen, die weder Kraft noch Mühen scheuen, auch wenn sie in einer wirtschaftlich schwierigen, kaum zu bewältigenden Situation stecken.

Die Familien wiederum greifen oft aus der Not heraus auf eine Unterbringung in öffentlichen und privaten Einrichtungen als Lösung zurück, in der Hoffnung, ihren Liebsten eine hochwertige Betreuung bieten zu können. Und unbestreitbar ist auch, dass Großfamilien früher die Pflege ihrer älteren Angehörigen noch durchaus im eigenen Haushalt organisieren konnten, während heute eine veränderte Struktur mit kleineren Haushalten, durchschnittlich weniger Personen und mehreren Generationen unter einem Dach und komplexe berufliche Anforderungen, die Erwachsene weit weg von zu Hause führen, die Versorgung der älteren Familienmitglieder zu einer völlig neuen Herausforderung macht. In einigen armen Gesellschaftsschichten kann die Lösung einer Heimunterbringung dann eine konkrete Antwort sein, wenn man keine eigene Wohnung besitzt. Manche älteren Menschen entscheiden sich, wenn sie irgendwann alleinstehend sind, selbstständig für den Umzug in ein Seniorenheim, um dort Gesellschaft zu finden, während andere dies tun, weil die vorherrschende Kultur ihnen vermittelt, sie würden ihren Kindern und Familienangehörigen zur Last fallen und sie stören.

In den meisten dieser Einrichtungen waren Würde und Respekt gegenüber alten Menschen schon immer Eckpfeiler in der Pflegearbeit, sodass Vorfälle von Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen, wenn sie dann ans Tageslicht kommen, vergleichsweise besonders stark auffallen. In diesem Sinne haben sowohl öffentliche als auch private sozial-medizinische und Betreuungssysteme erhebliche finanzielle Mittel in die Pflege älterer und hochbetagter Menschen investiert und selbst Seniorenheime eingerichtet.

Im Laufe der Jahre wurden die großen Seniorenresidenzen aufgrund von Vorschriften jedoch verkleinert und sind durch kleinere, funktionalere Einheiten ersetzt worden, die den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner besser gerecht werden. Richtig ist auch, dass Seniorenheime vom Ambiente her scheinbar mehr wie Krankenhäuser als wie Wohnungen aufgebaut sind, allerdings ohne den entscheidenden Unterschied, dass man ins Krankenhaus mit der Hoffnung geht, wieder herauszukommen, sobald man geheilt ist. Dieser Faktor ruft nun im kollektiven Bewusstsein sowohl medizinisch als auch kulturell ein diffuses Unbehagen hervor. Deshalb ist es wichtig, ein menschliches, einladendes Pflegeambiente zu bewahren, in dem Pflege, Dienst und Begegnung für alle möglich sind. Auch Papst Franziskus weist darauf hin: „Der alte Mensch ist kein Fremder. Der alte Mensch sind wir: über kurz oder lang, auf jeden Fall unabwendbar, auch wenn wir nicht daran denken. Und wenn wir nicht lernen, die alten Menschen gut zu behandeln, dann wird man uns ebenso behandeln.“<ref> PAPST FRANZISKUS, Generalaudienz (4. März 2015).</ref>

Alte Menschen und die Kraft der Gebrechlichkeit

In diesem Zusammenhang sind auch die Diözesen, Pfarreien und kirchlichen Gemeinschaften zu einer eingehenderen Auseinandersetzung mit der Welt alter Menschen eingeladen. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Päpste mehrmals zu Wort gemeldet, um Verantwortungsbewusstsein und Seelsorge für alte Menschen anzumahnen.

Alte Menschen sind eine große Bereicherung. Man denke nur an die entscheidende Rolle, die sie bei der Bewahrung und Weitergabe des Glaubens an junge Menschen in Ländern mit atheistischen und autoritären Regimen gespielt haben. „In den säkularisierten Gesellschaften vieler Länder hat die jetzige Elterngeneration heutzutage meist nicht jene christliche Bildung und jenen lebendigen Glauben, den die Großeltern dagegen an ihre Enkel weitergeben können. Sie sind das unverzichtbare Glied in der Kette, um die Kinder und Jugendlichen zum Glauben zu erziehen. Wir müssen uns daran gewöhnen, sie in unsere pastoralen Horizonte einzubeziehen, und sie nicht nur sporadisch als lebenswichtigen Bestandteil unserer Gemeinden zu betrachten. Sie sind nicht nur Menschen, denen wir beistehen und die wir schützen müssen, um ihr Leben zu bewahren, sondern sie können Handlungsträger einer Evangelisierungspastoral, bevorzugte Zeugen der treuen Liebe Gottes sein.“<ref> PAPST FRANZISKUS, Ansprache an die Teilnehmer der ersten internationalen Tagung zur Altenseelsorge „Der Reichtum der Jahre“ (31. Januar 2020).</ref>

Natürlich müssen alte Menschen auch selbst versuchen, im Alter weise zu leben. „Er ruft uns in jedem Lebensalter zur Nachfolge, und auch das Alter birgt eine Gnade und eine Sendung in sich, eine wahre Berufung des Herrn.“<ref> PAPST FRANZISKUS, Generalaudienz (11. März 2015).</ref> Daher „muss die Altenseelsorge so wie jede Seelsorge in das von Papst Franziskus mit Evangelii gaudium eröffnete neue missionarische Zeitalter eingebettet werden. Dies bedeutet, Christi Gegenwart [auch] alten Menschen zu verkünden. Die Evangelisierung muss auf das spirituelle Wachstum in jedem Alter abzielen, da der Ruf zur Heiligkeit für alle, auch für die Großeltern, gilt. Nicht alle alten Menschen sind Christus bereits begegnet, und selbst wenn eine Begegnung stattgefunden hat, muss man ihnen unbedingt helfen, die Bedeutung ihrer Taufe in diesem besonderen Lebensabschnitt wiederzuentdecken, [...]: um das Staunen vor dem Mysterium der Liebe Gottes und der Ewigkeit wiederzufinden; [...] um ihre Beziehung zu dem barmherzigen Gott der Liebe zu entdecken; um ältere Menschen, die Teil unserer Gesellschaften sind, zu bitten, aktiv an der Neuevangelisierung mitzuwirken, damit sie selbst das Evangelium weitertragen. Sie sind wie jedes andere Lebensalter dazu aufgerufen, Missionare zu sein“.<ref> DIKASTERIUM FÜR DIE LAIEN, DIE FAMILIE UND DAS LEBEN, Schlussfolgerungen zur ersten internationalen Tagung zur Altenseelsorge zum Thema „Der Reichtum der Jahre“ (30. Januar 2020): a. a. O.</ref>

In diesem Sinne „[wird] die Kirche zum Ort, an dem die Generationen aufgerufen sind, den Liebesplan Gottes miteinander zu teilen, in einer Beziehung des gegenseitigen Austauschs der Gaben des Heiligen Geistes. Dieser generationenübergreifende Austausch verpflichtet uns, die alten Menschen mit anderen Augen zu betrachten, um zu lernen, gemeinsam mit ihnen in die Zukunft zu blicken. [...] Der Herr kann und will mit ihnen auch neue Seiten schreiben – Seiten der Heiligkeit, des Dienstes, des Gebets“.<ref> PAPST FRANZISKUS, Ansprache an die Teilnehmer der ersten internationalen Tagung zur Altenseelsorge „Der Reichtum der Jahre“ (31. Januar 2020).</ref>

Indem sie sich begegnen, können Alt und Jung daher dem gesellschaftlichen Gefüge jene neue Lebenskraft einflößen, die die Gesellschaft solidarischer machen würde. Mehrfach hat Papst Franziskus die Jungen dazu ermahnt, den Großeltern zur Seite zu stehen. Am 26. Juli 2020, mitten in der Pandemie, wandte er sich mit den Worten an die Jungen: „... möchte ich die jungen Menschen einladen, eine Geste der Zärtlichkeit gegenüber den älteren Menschen zu tun, insbesondere gegenüber den Einsamsten, in den Wohnungen und in den Heimen, jenen gegenüber, die ihre Lieben seit vielen Monaten nicht mehr gesehen haben. Liebe junge Leute, jeder dieser älteren Menschen ist euer Großvater! Lasst sie nicht allein! Bedient euch der Phantasie der Liebe, ruft sie an, führt Videoanrufe, sendet ihnen Nachrichten, hört sie an [...]. Schickt ihnen eine Umarmung“ (Angelusgebet). Und 2012 sagte Benedikt XVI. bei einem Anlass: „Es kann kein echtes menschliches Wachstum und Bildung ohne den fruchtbaren Kontakt zu älteren Menschen geben, denn allein schon ihr Leben ist wie ein offenes Buch, in dem junge Generationen kostbare Hinweise für ihren Lebensweg finden können.“

Das Alter spricht auch das Gefühl für die letzte Bestimmung des menschlichen Lebens an. Papst Johannes Paul II. schrieb 1999 an die alten Menschen: „Man muss dringend die richtige Perspektive wiedergewinnen, aus der das Leben in seiner Ganzheit gesehen wird. Und diese richtige Perspektive ist die Ewigkeit, deren maßgebende Vorbereitung das Leben in jeder seiner Phasen ist. Auch dem Alter kommt in diesem fortschreitenden Reifungsprozess des Menschen auf dem Weg zur Ewigkeit seine Rolle zu. [...] Wenn das Leben eine Pilgerschaft zur himmlischen Heimat ist, so ist das Alter die Zeit, wo man selbstverständlicher auf die Schwelle der Ewigkeit schaut.“<ref> PAPST JOHANNES PAUL II., Brief an die alten Menschen (1. Oktober 1999), 10 und 14: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 142 (Bonn 1999), S. 14 und 19.</ref> Der alternde Mensch geht nicht auf das Ende zu, sondern auf das Mysterium der Ewigkeit; um es zu verstehen, muss er auf Gott zugehen und in Beziehung zu ihm leben. Für die Spiritualität alter Menschen zu sorgen, für ihr Bedürfnis nach Innigkeit mit Christus und gemeinsam gelebtem Glauben, ist eine Aufgabe der Nächstenliebe in der Kirche.

Wertvoll ist auch das Zeugnis, das alte Menschen durch ihre Gebrechlichkeit ablegen können. Es lässt sich wie ein „Lehramt“ deuten, wie eine Lehre für das Leben. Dies drückt auch die Begegnung des auferstandenen Jesus mit Petrus am Ufer des Sees Genezareth aus. Er wendet sich dem Apostel zu und sagt: „Als du jünger warst, hast du dich selbst gegürtet und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst“ (Joh 21,18). In diesen Worten scheint die gesamte Lehre über den im Alter schwächer werdenden Menschen zusammengefasst: „die Hände ausstrecken“, um sich helfen zu lassen. Alte Menschen erinnern uns an die radikale Schwäche eines jeden Menschen, auch wenn man bei Gesundheit ist, sie erinnern uns an das Bedürfnis, geliebt und gestützt zu werden. Im Alter, wenn jegliche Selbstständigkeit dahinschwindet, bettelt man um Hilfe. „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10), schreibt der Apostel Paulus. In der Schwäche ist Gott selbst, der dem Menschen als Erster die Hand ausstreckt.

Auch vor diesem spirituellen Horizont ist das Alter zu verstehen: als günstiger Lebensabschnitt, sich Gott preiszugeben. Während man körperlich schwächer wird und psychische Lebenskraft, Gedächtnis und Geist abnehmen, tritt die Abhängigkeit des Menschen von Gott immer deutlicher hervor. Sicherlich kann mancher das Alter als Verdammnis empfinden, doch man kann es auch als Anlass sehen, die Beziehung zu Gott neu zu gestalten. Wenn menschliche Stützpfeiler fallen, wird die grundlegende Tugend der Glaube, der nicht nur als Festhalten an offenbarten Wahrheiten gelebt wird, sondern als Gewissheit der Liebe Gottes, der uns nicht verlässt.

Die Schwäche alter Menschen ist auch provozierend: Sie lädt die Jüngeren ein, die Abhängigkeit von anderen als Art und Weise zu akzeptieren, mit dem Leben umzugehen. Nur in einer Kultur des Jugendwahns wird der Begriff „alter Mensch“ als abwertend empfunden. Eine Gesellschaft, die die Schwäche alter Menschen anzunehmen weiß, ist fähig, allen Menschen Hoffnung auf Zukunft zu spenden. Den Schwachen das Recht auf Leben zu nehmen bedeutet, vor allem den Jungen die Hoffnung zu stehlen. Deshalb ist es – auch sprachlich – für alle ein schwerwiegendes Problem, wenn alte Menschen aussortiert werden. Das impliziert eine klare Botschaft der Ausgrenzung, die die Grundlage für so viel mangelnde Akzeptanz ist: von der gezeugten Person bis zur behinderten Person, vom Auswanderer bis zur Person, die auf der Straße lebt. Das Leben wird nicht angenommen, wenn es zu schwach und pflegebedürftig ist, nicht geliebt in seiner Veränderung, nicht akzeptiert in seinem Gebrechlich werden. Und leider ist dies keine fernliegende Eventualität, sondern etwas, das häufig geschieht, dort wo das Alleinlassen, wie der Papst wiederholt, zu einer Form der versteckten Euthanasie wird und eine Botschaft vermittelt, welche die gesamte Gesellschaft gefährdet. Dies ist eine gefährliche Einstellung, die klar aufzeigt, dass das Gegenteil von Schwäche nicht die Kraft, sondern die Hybris ist, wie die alten Griechen sie nannten: eine Vermessenheit, die keine Grenzen kennt. Weit verbreitet in unseren Gesellschaften, gebiert sie Kolosse auf tönernen Füßen. Vermessenheit, Hochmut, Überheblichkeit und Geringschätzung von Schwachen machen jene aus, die glauben, stark zu sein. Eine in der Heiligen Schrift stigmatisierte Einstellung: „Das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“ (1 Kor 1,25). Und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen (vgl. 1 Kor 1,27). Das Christentum lehnt die Schwäche des Menschen nicht nur nicht ab und versteckt sie – von der Empfängnis bis zum Augenblick des Todes –, sondern es misst ihr Ehre, Sinn und sogar Kraft zu. Natürlich lässt sich nicht einfach oberflächlich sagen, dass man mit dem Alter automatisch besser würde: Ecken und Kanten, die man bereits als Erwachsener hatte, können sich verschärfen, und der Umgang mit dem eigenen Alter und seinen Schwächen kann eine Zeit sein, in der man sich innerlich unbehaglich fühlt, sich vor anderen verschließt oder seine Gebrechlichkeit ablehnt.

Doch Christen – und insbesondere sie – müssen sich mit der Klugheit der Liebe Fragen stellen, um Perspektiven und neue Wege aufzuzeigen, wie nicht nur auf die Herausforderung des Älterwerdens, sondern mehr noch auf die Schwäche im Alter eingegangen werden kann. Denn es lässt sich nicht leugnen, dass Probleme entstehen, wenn man eventuell krank wird und seine Eigenständigkeit verliert, und es legitim ist, um Hilfe zu bitten.

Eine Erzählung aus dem Evangelium beleuchtet vor allem den Wert und das überraschende Potenzial des hohen Alters. Es geht um eine Geschichte aus der Darstellung des Herrn im Tempel, ein Anlass, der in der christlichen Überlieferung der Ostkirche „Fest der Begegnung“ genannt wird. Bei dieser Gelegenheit begegnen zwei betagte Menschen, Simeon und Hanna, dem Jesuskind: Gebrechliche Alte offenbaren das Jesuskind der Welt als Licht der Völker und sprechen über es zu allen, die auf die Erfüllung der göttlichen Verheißungen warten (vgl. Lk 2,32–38). Simeon nimmt Jesus in die Arme: Das Kind und der Greis symbolisieren sozusagen Anfang und Ende des irdischen Lebens und stützen sich gegenseitig, so wie es einige liturgische Loblieder besingen: „Der Greis trug das Kind, aber das Kind hielt den Greis“. Die Hoffnung entspringt hier also aus der Begegnung zwischen zwei schwachen Menschen, einem Kind und einem Greis, und erinnert uns in unserer heutigen Zeit mit ihrer Leistung und Kraft verherrlichenden Kultur daran, dass der Herr die Größe in der Kleinheit und die Stärke in der Zartheit zu offenbaren liebt. Die Geschichte steht, wie der Heilige Vater mehrfach unterstrichen hat, auch für die Begegnung zwischen den Jungen, dargestellt durch Maria und Josef, die das Kind zum Tempel bringen, und den Alten Simeon und Hanna, die sie empfangen und unterweisen. In der Begegnung verkehren sich jedoch die Rollen: Der biblische Text wiederholt mehrmals und hebt so hervor, dass die Jungen sich treu der Überlieferung anschließen wollen, indem sie sich an die Vorschrift des „Gesetzes des Herrn“ (vgl. ebd. 22–24,27) halten, während die Alten die Neuigkeit des Heiligen Geistes offenbaren (vgl. ebd. 25–27), indem sie die Zukunft prophezeien.

Dies geschieht in dem fruchtbaren Rahmen der offenen und einladenden Begegnung zwischen Jung und Alt, die es ermöglicht, ein uraltes Versprechen zu erfüllen: „Diese Begebenheit erfüllt so die Prophezeiung des Joël: ‚Eure Alten werden Träume haben und eure jungen Männer haben Visionen‘ (Joël 3,1). In dieser Begegnung sehen die jungen Menschen ihre Sendung und die Alten verwirklichen ihre Träume.“<ref> Vgl. PAPST FRANZISKUS, Begegnung mit alten Menschen (Petersplatz, 28. September 2014).</ref> Die Zukunft – scheint diese Prophezeiung uns zu sagen – eröffnet nur überraschende Möglichkeiten, wenn man sie gemeinsam gestaltet. Nur durch alte Menschen können die Jungen ihre eigenen Wurzeln wiederfinden, und nur durch junge Menschen können die Alten ihre Fähigkeit zu träumen zurückerlangen. Papst Franziskus hat mehrmals betont, wie nötig dies für die Kirche wie auch für die Gesellschaft ist, und dazu aufgerufen, die Großeltern kühn zum Träumen zu ermutigen: nicht nur, um in ihnen wieder Hoffnung zu entfachen, sondern auch, um allen jungen Generationen wieder jene Lebenskraft einzuflößen, die aus den Träumen der Alten entspringt, die als Vehikel der Erinnerung unersetzlich sind, um weise der Zukunft entgegenzugehen. Deshalb wäre es eine unberechenbare Verarmung, ein unverzeihlicher Verlust an Weisheit und Menschlichkeit, wenn man den Alten ihre „prophetische Rolle“ absprechen und sie aus rein produktiven Gründen beiseiteschieben würde. Stellt man die Alten aufs Abstellgleis, kappt man die Wurzeln, die es der Gesellschaft ermöglichen, nach oben zu wachsen und nicht von den momentanen Bedürfnissen der Gegenwart verflacht zu werden.

Das Paradigma, das wir vorbringen möchten, ist keine abstrakte Utopie oder ein naiver Anspruch, sondern kann indes sogar neue und klügere staatliche gesundheitspolitische Maßnahmen sowie unkonventionelle Vorschläge für ein altersgerechteres Betreuungssystem anstoßen und diese fördern. Wirksamere, aber auch menschlichere. Die Ethik des Gemeinwohls und das Prinzip, die Würde jeder/s Einzelnen unterschiedslos und unabhängig vom Alter zu achten, fordern dies. Die gesamte Zivilgesellschaft, die Kirche und die verschiedenen religiösen Traditionen, die Welt der Kultur, der Schule, der Freiwilligenarbeit, der darstellenden Künste, der Wirtschaft und der sozialen Kommunikation müssen sich dafür verantwortlich fühlen, im Rahmen dieser kopernikanischen Revolution neue, einschneidende Maßnahmen vorzuschlagen und zu unterstützen, die es ermöglichen, dass alte Menschen im familiären Umfeld, in ihrem eigenen Zuhause und auf jeden Fall in einer häuslichen Umgebung, die eher einem Zuhause als einem Krankenhaus ähnelt, begleitet und betreut werden können. Diesen kulturellen Wandel gilt es umzusetzen. Die Päpstliche Akademie für das Leben wird diese Richtung gewissenhaft als jenen Weg weisen, der am authentischsten ist, um die tiefe Wahrheit des Menschen als Bild Gottes, dem Bettler und Meister der Liebe, zu bezeugen.

Vatikanstadt, 2. Februar 2021

+ Vincenzo Paglia
Vorsitzender
Msgr. Renzo Pegoraro

Kanzler

Anmerkungen

<references />