Scrivo a voi (Wortlaut)

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Apostolisches Schreiben
Scrivo a voi

Seiner Heiligkeit
Papst Franziskus
21. November 2014
zum Jahr des geweihten Lebens

(Quelle: Deutsche Fassung auf der Vatikanseite)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Einleitend

Liebe Frauen und Männer geweihten Lebens,

ich schreibe an euch als Nachfolger des Apostels Petrus, dem Jesus, der Herr, die Aufgabe anvertraut hat, die Brüder im Glauben zu stärken (vgl. Lk 22,32), und ich schreibe an euch als euer Bruder, der wie ihr Gott geweiht ist.

Danken wir gemeinsam dem Vater, der uns berufen hat, Jesus in vollkommener Ausrichtung nach seinem Evangelium und im Dienst der Kirche nachzufolgen. Er hat in unsere Herzen den Heiligen Geist eingegossen, der uns Freude schenkt und uns vor der ganzen Welt seine Liebe und seine Barmherzigkeit bezeugen lässt.

Anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Dogmatischen Konstitution Lumen gentium, die im 6. Kapitel von den Ordensleuten handelt, wie auch des Dekretes Perfectae caritatis über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens habe ich mich entsprechend dem Wunsch vieler von euch wie auch der Kongregation für die Institute geweihten Lebens und für die Gesellschaften apostolischen Lebens entschlossen, ein Jahr des geweihten Lebens auszurufen. Es wird am kommenden 30. November, dem ersten Adventssonntag, beginnen und mit dem Fest der Darstellung Jesu im Tempel am 2. Februar 2016 enden.

Nach Anhörung der Kongregation für die Institute geweihten Lebens und für die Gesellschaften apostolischen Lebens habe ich als Ziele dieses Jahres dieselben bestimmt, die der heilige Johannes Paul II. der Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends vorgeschlagen hatte, und so in gewisser Weise das wieder aufgenommen, was er bereits in dem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Vita consecrata empfohlen hatte: » Ihr sollt euch nicht nur einer glanzvollen Geschichte erinnern und darüber erzählen, sondern ihr habt eine große Geschichte aufzubauen! Blickt in die Zukunft, in die der Geist euch versetzt, um durch euch noch große Dinge zu vollbringen « (Nr. 110).

I – Die Ziele für das Jahr des geweihten Lebens

1. Das erste Ziel ist, dankbar auf die Vergangenheit zu schauen. Jedes unserer Institute kommt aus einer reichen charismatischen Geschichte. An seinem Ursprung steht das Handeln Gottes, der in seinem Geist einige Menschen in die engere Nachfolge Christi ruft, um das Evangelium in eine besondere Lebensform zu übertragen, die Zeichen der Zeit mit den Augen des Glaubens zu lesen und mit Kreativität auf die Bedürfnisse der Kirche zu antworten. Die Anfangserfahrung ist dann gewachsen und hat sich durch die Einbeziehung weiterer Mitglieder in neuen geographischen und kulturellen Umfeldern entwickelt. So wurden neue Weisen, das Charisma zu verwirklichen, ins Leben gerufen und neue Initiativen und Ausdrucksformen apostolischer Liebe verwirklicht. Das ist wie der Same, der zum Baum wird und seine Zweige ausbreitet.

In diesem Jahr wird es zweckmäßig sein, wenn jede charismatische Familie sich ihrer Anfänge und ihrer geschichtlichen Entwicklung erinnert, um Gott zu danken, der der Kirche so viele Gaben geschenkt hat, die ihr Schönheit verleihen und sie für jede Art guter Werke ausrüsten (vgl. Lumen gentium, 12).

Die eigene Geschichte zu erzählen ist unerlässlich, um die Identität lebendig zu erhalten wie auch um die Einheit der Familie und das Zugehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder zu festigen. Es geht nicht darum, Archäologie zu betreiben oder nutzlose Nostalgien zu pflegen, sondern vielmehr darum, den Weg der vergangenen Generationen nachzugehen, um auf ihm den inspirierenden Funken, die hohen Bestrebungen, die Pläne und die Werte wahrzunehmen, die sie bewegt haben, angefangen von den Gründern, den Gründerinnen und den ersten Gemeinschaften. Es ist auch eine Weise, sich bewusst zu werden, wie das Charisma im Laufe der Geschichte gelebt wurde, welche Kreativität es freigesetzt hat, welchen Schwierigkeiten es sich stellen musste und wie diese überwunden wurden. Man wird Widersprüchlichkeiten entdecken können, Frucht der menschlichen Schwächen, manchmal vielleicht auch das Vergessen wesentlicher Aspekte des Charismas. Alles ist lehrreich und wird zugleich ein Aufruf zur Umkehr. Die eigene Geschichte zu erzählen bedeutet, Gott zu loben und ihm zu danken für all seine Gaben.

Wir danken ihm in besonderer Weise für diese letzten 50 Jahre, die auf das Zweite Vatikanische Konzil folgten, das einen „Windstoß“ Heiligen Geistes für die ganze Kirche darstellte. Dank dem Konzil hat das geweihte Leben einen fruchtbaren Weg der Erneuerung zurückgelegt, der mit seinen Licht- und seinen Schattenseiten eine Zeit der Gnade war, gekennzeichnet von der Gegenwart des Geistes.

Möge dieses Jahr des geweihten Lebens auch eine Gelegenheit sein, in Demut und zugleich mit großem Vertrauen auf den Gott, der die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,8), die eigene Gebrechlichkeit zu gestehen und sie als Erfahrung der barmherzigem Liebe des Herrn zu leben; eine Gelegenheit, der Welt mit Nachdruck zuzurufen und voll Freude zu bezeugen, welche Heiligkeit und Lebendigkeit in einem großen Teil derer zugegen ist, die berufen wurden, Christus im geweihten Leben nachzufolgen.

2. Dieses Jahr fordert uns außerdem auf, die Gegenwart mit Leidenschaft zu leben. Die dankbare Erinnerung an die Vergangenheit drängt uns, im aufmerksamen Hinhören auf das, was der Geist heute der Kirche sagt, die grundlegenden Aspekte unseres geweihten Lebens immer tiefgreifender zu verwirklichen.

Vom Beginn des ersten Mönchtums an bis zu den heutigen „neuen Gemeinschaften“ ist jede Form geweihten Lebens aus dem Ruf des Geistes hervorgegangen, Christus so nachzufolgen, wie es im Evangelium gelehrt wird (vgl. Perfectae caritatis, 2). Für die Gründer und Gründerinnen war das Evangelium die Regel schlechthin, jede andere Regel wollte nur ein Ausdruck des Evangeliums sein und ein Hilfsmittel, es in Fülle zu leben. Ihr Ideal war Christus, sich ganz und gar ihm zu verbinden bis zu dem Punkt, mit Paulus sagen zu können: » Für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn « (Phil 1,21); die Gelübde hatten nur den Sinn, diese ihre leidenschaftliche Liebe zu verwirklichen.

Die Frage, die wir in diesem Jahr uns zu stellen berufen sind, ist, ob und wie auch wir uns vom Evangelium hinterfragen lassen; ob es wirklich das „Vademecum“ für das Alltagsleben und für die Entscheidungen ist, die wir treffen müssen. Es ist anspruchsvoll und erwartet, mit Radikalität und Aufrichtigkeit gelebt zu werden. Es reicht nicht, es zu lesen (auch wenn Lektüre und Studium äußerst wichtig bleiben), es reicht nicht, es zu meditieren (und das tun wir mit Freude jeden Tag). Jesus verlangt von uns, es zu verwirklichen, seine Worte zu leben.

Ist Jesus wirklich die erste und einzige Liebe – müssen wir uns weiter fragen –, wie wir es uns vorgenommen haben, als wir unsere Gelübde ablegten? Nur wenn er das ist, dürfen und müssen wir in der Wahrheit und in der Barmherzigkeit jeden Menschen lieben, der uns auf unserem Weg begegnet, denn wir haben dann von ihm gelernt, was Liebe ist und wie man liebt: Wir werden zu lieben verstehen, weil wir sein eigenes Herz haben.

Unsere Gründer und Gründerinnen haben in sich das Mitleid verspürt, von dem Jesus ergriffen wurde, als er die Menschenmenge wie zerstreute Schafe ohne Hirten sah. Wie Jesus, bewegt von diesem Mitleid, sein Wort geschenkt, die Kranken geheilt, Brot zu essen gegeben, sein eigenes Leben geopfert hat, so haben sich auch die Gründer in den Dienst der Menschheit begeben, zu der der Geist sie sandte, und zwar auf verschiedenste Weise: durch die Fürbitte, die Verkündigung des Evangeliums, die Katechese, das Unterrichten, den Dienst an den Armen, an den Kranken… Die Fantasie der Liebe kannte keine Grenzen und hat unzählige Wege zu öffnen verstanden, um den Atem des Evangeliums in die Kulturen und in die unterschiedlichsten sozialen Bereiche zu tragen.

Das Jahr des geweihten Lebens befragt uns nach der Treue zu der Sendung, die uns anvertraut worden ist. Entsprechen unsere Dienste, unsere Werke, unser Zugegensein dem, was der Geist von unseren Gründern verlangt hat; sind sie geeignet, dessen Ziele in der Gesellschaft und der Kirche von heute zu verfolgen? Gibt es etwas, das wir ändern müssen? Haben wir die gleiche Leidenschaft für unsere Leute, sind wir ihnen so nahe, dass wir ihre Freuden und ihre Leiden teilen, sodass wir wirklich ihre Bedürfnisse verstehen und unseren Beitrag leisten können, um darauf einzugehen? » Die gleiche Großherzigkeit und Opferbereitschaft, von denen die Gründer getrieben waren «, verlangte bereits Johannes Paul II., » sollen auch euch, ihre geistigen Söhne und Töchter, bewegen, die Charismen lebendig zu erhalten. Mit der Kraft des Geistes selbst, der sie erweckt hat, nehmen sie an Reichtum zu und passen sich an, ohne ihren ursprünglichen Charakter zu verlieren, um sich in den Dienst der Kirche zu stellen und die Errichtung des Gottesreiches zur Vollendung zu führen. «<ref> Apostolisches Schreiben Los caminos del Evangelio, an die Ordensleute Lateinamerikas anlässlich des 500. Jubiläums der Evangelisierung der Neuen Welt (29. Juni 1990), 26.</ref>

Beim Gedenken an die Ursprünge kommt eine weitere Komponente des Projekts des geweihten Lebens ans Licht. Gründer und Gründerinnen waren fasziniert von der Einheit der Zwölf, die Jesus umgaben, von der Communio, welche die Urgemeinde von Jerusalem auszeichnete. Als sie ihre eigene Gemeinschaft ins Leben riefen, wollte jeder und jede von ihnen jene Modelle des Evangeliums nachbilden: ein Herz und eine Seele zu sein und sich der Gegenwart des Herrn zu erfreuen (vgl. Perfectae caritatis, 15).

Die Gegenwart mit Leidenschaft zu leben bedeutet, » Experten des gemeinschaftlichen Lebens « zu werden, » Zeugen und Baumeister im Sinne jenes göttlichen Planes für Gemeinschaft […], der die Geschichte der Menschen krönen soll «.<ref>Kongregation für die Ordensleute und Säkularinstitute, Das Ordensleben und die Förderung des Menschen (12. August 1980), 24 (ital. Text: L’Osservatore Romano, Suppl. 12. Nov. 1980, S. I-VIII).</ref> In einer Gesellschaft der Auseinandersetzung, des schwierigen Zusammenlebens zwischen verschiedenen Kulturen, der Übergriffe auf die Schwächsten und der Ungleichheiten sind wir berufen, ein konkretes Vorbild von Gemeinschaft zu bieten, in der es möglich ist, durch die Anerkennung der Würde jedes Menschen und der Gemeinsamkeit der Gabe, die jeder mitbringt, in brüderlichen Beziehungen zu leben.

Seid also Frauen und Männer der Communio, seid mutig zugegen, wo es Uneinigkeiten und Spannungen gibt, und seid ein glaubwürdiges Zeichen der Gegenwart des Geistes, der den Herzen die Leidenschaft einflößt, damit alle eins seien (vgl. Joh 17,21). Lebt die Mystik der Begegnung: » die Fähigkeit zu hören, anderen Menschen zuzuhören. Die Fähigkeit, gemeinsam den Weg, die Methode […] zu suchen «.<ref>Papst Franziskus, Ansprache an die Rektoren und Alumnen der päpstlichen Kollegien und Konvikte in Rom (12. Mai 2014).</ref> Und lasst euch dabei erleuchten von der Beziehung der Liebe zwischen den drei göttlichen Personen (vgl. 1 Joh 4,8), als Vorbild für alle zwischenmenschlichen Beziehungen. 

[Fortsetzung folgt]

Anmerkungen

<references />