Integralismus

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Der Gebrauch des Begriffs Integralismus bezeichnet vor allem die historische Gegenposition zum Modernismus. Beide Begriffe sind jedoch unbestimmt und bedürfen im jeweiligen Kontext einer genaueren Prüfung. Zwischen 1864 (Syllabus) und 1964 (Liturgiereform) wurden als Integralisten (catholiques integraux) vornehmlich die besonders traditionsbewussten Anhänger des päpstlichen Jurisdiktionsprimats bezeichnet. Jedoch hatte bereits Papst Benedikt XV. in seiner Antrittsenzyklika 1914, unter gleichzeitiger Bekräftigung der gegen den Modernismus gerichteten Verurteilungen Pius X., dringend darauf hingewirkt, dass die Einheit der KIrche den Vorrang vor internen Konflikten haben müsse. Bereits seitdem hat eine eigentlich integralistische Haltung keine päpstliche Unterstützung. Jedoch muss auch für die Zeit vorher genau zwischen der antimodernen Intransigenz der Päpste unterschieden werden und der zum Integralismus gesteigerten, exzessiven Übertreibung dieser Position. Während es zu allen Zeiten die Aufgabe der kirchlichen Führung ist, eine notwendige Kompromisslosigkeit gegenüber Irrtum und Niedergang der öffentlichen Moral auszuüben, ist das päpstliche und bischöfliche Amt aber auch befugt, die je erforderlichen Anpassungen an eine neue Weltsituation oder kulturelle Herausforderung anzuleiten. Dies bedeutet nicht, dass sich der Inhalt der kirchlichen Verkündigung im Wesentlichen ändert. Die Grenzlinie zwischen wesentlichem Inhalt und verzichtbaren Ausdrucksformen steht jedoch dem kirchlichen Lehramt zu, nicht einem einzelnen Bischof oder Theologen.

Vor diesem Hintergrund wollen heutige Vertreter des Integralismus, der politischen Ideen der Extremen Rechten nahesteht, dem Papsttum aber eine Allzuständigkeit für Kirche, Gesellschaft und Politik aufdrängen, welche dieses in der Geschichte so nie in Anspruch genommen hat. Würde der Papst beispielsweise den von Marcel Lefebvre 1974 formulierten neuen, absolut falschen Traditionsbegriff akzeptieren, so würde zugleich jede wirkliche Relevanz der Religion in der Öffentlichkeit ausgeschaltet. Denn die katholische Variante eines politischen Totalitarismus funktioniert nur als virtuelles Konzept. In der Lebenswirklichkeit der modernen Zivilisation wäre ein im Namen des "Christkönig" errichtetes Regime weniger lebensfähig als sogar ideologisch motivierte Diktaturen. Überdies würde eine Machtergreifung eines integralistisch gefärbten Katholizismus in der Praxis die Religion den Bedingungen der politischen Herrschaft unterwerfen, unter Behauptung des Gegenteils.

Einzuräumen ist jedoch, dass integralistische Ideen von jener Epoche begünstigt wurden, in der die katholische Religion in die Defensive geraten war. Der Integralismus entstammt konzeptionell der "oppositionellen Phase" insbesondere des frz. Katholizismus zwischen 1830 und 1914. Die von Papst Leo XIII. seit 1878 betriebene Annäherung des Papsttums an die Republik wurde von Klerus und Adel des trtaditionell antirepublikanischen frz. Katholizismus nur sehr zögernd akzeptiert. Der Kampf Pius X. gegen die Trennungsgesetzgebung von 1905 fand hingegen lebhaften Beifall bei der Action francaise. Deren Führer, Charles Maurras, wurde von Pius X. zeitweilig mit Wohlwollen bedacht, anders als im Fall des Sillon. Dennoch musste sich der Papst davon überzeugen, dass wesentliche Anschauungen der integralistischen Bewegung mit der katholischen Tradition unvereinbar sind und fasste 1914 die Absicht, etliche Thesen der Integralisten zu verurteilen. Kriegsbedingt wurde die Publikation aufgeschoben, die dann Pius XI. um Weihnachten 1926 verfügte, bewusst anknüpfend an seinen mittelbaren Vorgänger. Die Bemühungen der Action francaise um die Errichtung eines aurtoritären Staatswesens mit einem König an der Spitze (der Epoche 1814 bis 1830 nachempfunden) waren mittlerweile fehlgeschlagen. Im Gedankengebäude des Charles Maurras, der selbst Agnostiker und Positivist war, verkörperte das Papsttum aber sowieso nur den architektonischen Schlußstein der auf Autorität gestützten Ordnung. Ein wirklicher Gehorsam gegenüber dem konkreten Amtsträger war mit seiner "Romanite" nicht gemeint. Der Papst fungiert aus integralistischer Sicht als symbolische Repräsentanz der gottgewollten Ordnung. Mittels einer verblüffenden Dialektik wird er zwar zum allzuständigen Gottkönig ausgerufen, muss diese Funktion aber zugleich in völliger Bindung an ideologische Vorgaben ausfüllen. Die wirklichen Päpste konnten diese "politische Papstidee" mithin nicht akzeptieren. Sie haben das auch nicht getan: Bereits Pius VIII. erkannte die frz. Julirevolution von 1830 an, die eine parlamentareische Regierungsform unter einem verfassungsgebundenen "Bürgerkönig" etablierte. Der Syllabus Pius IX. fordert keinen katholischen Absolutismus, sondern wehrt sich gegen den totalen Staat.

Der heutige Einfluss des Integralismus ist extrem gering. Da die monarchische Staatsidee seit dem 1. Weltkrieg völlig delegitimiert ist, wünschen selbst Adelsdynastien eine Regierungsform mittels politischer Partizipation der Bürger (Großbritannien, Spanien). Das politische Konzept einer an der Menschenrechtsidee orientierten Ordnung eint seit 1948 alle relevanten Kulturstaaten. Eine alternative Antwort auf die Krise des modernen Humanismus ist nicht vorstellbar. Seit 1963 (Enz. Pacem in terris) bekennt sich daher auch das Papsttum zu dieser Leitidee, die, anders als die Parolen der frz. Revolution von 1789, nicht den Anspruch erhebt, in Konkurrenz zur religiösen Wahrheit zu treten. Interessant wird die integralistische Variante des katholischen Lebensgefühl aber für solche, die streng subjektiv ein religiöses Bedürfnis befriedigen wollen, das von der traditionellen Ästhetik des Katholizismus ansprechender bedient wird als von anderen Anbietern. Diese Nutznießer des Integralismus haben aber, unter Behauptung des Gegenteils, den strikt individualistisch-subjektiven Charakter ihrer Ausübung der "Wahrheit" als Prämisse akzeptiert. Insoweit bereichert der Integralismus das bunte Sortiment postmoderner Esoterik um ein besonders anspruchsvolles Produkt. Er weicht aber dem eigentlich öffentlich wirksamen Geltungsanspruch, den der Katholizismus auszeichnet, rigoroser aus als es selbst bei evangelikalen Freikirchen und nur mittelbar mit dem Christentum verbundenen Sekten anzutreffen ist, die keinen eigentlich öffentlichen Anspruch erheben.