Pontifikat Johannes' XXIII.

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Papst Johannes XXIII.

(1958-1963)

Eine Dokumentation seines Pontifikates

(Quelle: Herder-Korrespondenz, Herder Verlag, Siebzehnter Jahrgang 1962/63; Zehntes Heft, Juli 1963, S. 449-476. Die Abkürzung "HK" bedeutet Herder-Korrespondenz)

"Meine Gelassenheit, die so großen Eindruck auf die Welt macht, liegt ganz und gar darin: . gehorsam zu sein, wie ich es immer gewesen bin, und weder zu wünschen noch darum zu beten, auch nur einen Tag länger zu leben, wenn der Engel des Todes kommt, mich ruft und ins Paradies mitnimmt, wie es mein Glaube will. Das entbindet mich nicht, dem Herrn zu danken, dass es ihm gefallen hat, in Brusico und Colombera den zu erwählen, der sich selbst den Nachfolger so vieler Päpste über zwanzig Jahrhunderte nennt und den Namen des Statthalters Jesu Christi auf Erden trägt.": Johannes XXIII.

Bei der Besitzergreifung der Lateran-Basilika, der Kathedrale von Rom, am 23. November 1958, sagte Papst Johannes XXIII.: "Wir haben nicht das Recht, einen langen Weg vor Uns zu sehen." Er zitierte die Worte aus dem Hymnus der Non des Breviers, die zur neunten Stunde altrömischer Tageszeit gebetet wird: "Largire lumen vespere: quo vita nusquam decidat." Schenke uns Licht für den Abend, und möge unser Leben ihm nirgends entgleiten! Dann fügte er hinzu: "Wer seinen Blick immer vertrauensvoll auf Gott richtet, für den gibt es keine Überraschungen, nicht einmal die Überraschungen des Todes. Der Tod ist heilig, weil er den Weg zur Herrlichkeit und zur ewigen Seligkeit auftut." Eine Woche später machte er bei einem Besuch im römischen Kolleg der Propaganda Fide die Bemerkung: "Es ist jetzt ein Monat seit Beginn des Pontifikates vergangen, das in der Fortsetzung des Hirtenamtes des heiligen Petrus, nachdem es Unsere Person nur eben berührt hat, seinen Weg nehmen wird bis zum Ende der Zeiten." Diese Bemerkungen zeigen, dass der Heilige Vater selbst nicht mit einer langen Dauer seines Pontifikates gerechnet hat. Er sollte darin recht behalten.

Gleichwohl wird die folgende Dokumentation erweisen, in welchem Ausmaß dieses kurze Pontifikat in die Geschichte der Kirche eingegangen ist. Freilich kann eine Darstellung, die sich in der Hauptsache auf schriftliche Dokumente stützt, nicht den Anspruch erheben, die einzigartige Wirkung gerade dieses Papstes auf seine Mitwelt gebührend aufzuweisen, geschweige denn zu würdigen. Sie vermag ja nicht jenes Fluidum der Persönlichkeit dieses Papstes wiederzugeben, das seiner Amtsführung ihr Gepräge und einen bedeutenden Teil ihrer Wirkung auf die vielen Menschen gab, als deren "pastor et nauta" er - nach der Weissagung des Malachias - bestellt war.

Der Lebenslauf von Angelo Giuseppe Roncalli

Angelo Giuseppe Roncalli wurde am 25. November 1881 in dem Dorf Sotto il Monte in der Provinz und Diözese Bergamo als drittes von dreizehn Kindern des Bauern Giovanni Roncalli und der Maria Anna geb. Mazzola geboren. Drei seiner Brüder und eine Schwester haben ihn überlebt.

Angelo ging den Weg eines Knaben vom Lande, der Priester werden will. 1892 trat er in das Gymnasialseminar seiner Diözese ein. Im Jahre 1900 durfte er in Rom seine theologischen Studien beginnen, die freilich im folgenden Jahr durch eine einjährige Militärdienstzeit unterbrochen wurden. Am 10. August 1904 empfing er in Rom die Priesterweihe. Seine Primiz feierte er im kleinsten Kreise; seine Angehörigen konnten wegen der Kosten für Fahrt und Aufenthalt nicht nach Rom kommen. Er vollendete seine theologischen Studien mit dem Doktorat und hatte danach soeben mit dem Studium des Kanonischen Rechtes begonnen, als sein Bischof Giacomo Radini-Tedeschi ihn zu seinem Sekretär ernannte. Zehn Jahre lang, von 1905 bis 1914, diente er in dieser Stellung seinem Bischof, mit dem ihn ein tiefes Vertrauensverhältnis verband. Zur gleichen Zeit lehrte er Fundamentaltheologie und Kirchengeschichte am Priesterseminar in Bergamo. In diesen Jahren begann er auch, und das ist nicht unwesentlich für seinen priesterlichen Charakter, sich mit der Persönlichkeit und Wirksamkeit des heiligen Karl Borromäus zu beschäftigen. In fünf Bänden, von denen der letzte erschien, nachdem er schon den Stuhl Petri bestiegen hatte, gab er die Visitationsakten des großen Exekutors der tridentinischen Reformen heraus.

Im Juni 1915 wurde er zum Militärdienst einberufen; er ging als Sanitätsunteroffizier einer Infanterieeinheit in den Krieg und wurde 1916 zum Lazarettpfarrer ernannt. Jahre später hat er einmal geschrieben, sein Dienst an den verwundeten Soldaten habe ihm tiefe Einsicht in das Leben und in das Wesen des priesterlichen Apostolates vermittelt. Nach Kriegsende kehrte er in sein Amt als Professor am Priesterseminar zurück.

Die Stunde seiner Berufung zu einem umfassenderen Dienst schlug, als Benedikt XV. ihn am 7. Mai 1921 zum Präsidenten des Päpstlichen Werkes für die Glaubensverbreitung in Italien berief. So kam er nach Rom. Nach vierjährigem Wirken in diesem Amt wurde er am 19. März 1925 zum Erzbischof erhoben und mit dem schwierigen Auftrag eines Apostolischen Visitators nach Bulgarien entsandt. Damit begann jene Zeit seines Lebens, die er später einmal die fruchtbarste genannt hat. Er hat sich den Ländern, Völkern und der Christenheit des Ostens mit seiner ganzen Seele geöffnet, und die Liebe zu ihnen wurde zu einem Merkmal seines Wesens. Am 16. Oktober 1931 erhob ihn Papst Pius XI. zum Apostolischen Delegaten in Bulgarien. Die Möglichkeit zur Errichtung eines solchen Amtes in Sofia, das zwar keinen diplomatischen Charakter hat, aber doch politische Kontakte voraussetzte und nach sich zog, war nicht zuletzt seinem vermittelnden und ausgleichenden Wesen zu danken. Am 21. November 1934 vertauschte er dieses Amt mit dem des Apostolischen Delegaten für die Türkei und Griechenland, das ihn in neue und noch bedeutendere Verbindung mit der Griechisch-Orthodoxen Kirche und dem ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel brachte.

Fast genau zehn Jahre später, am 22. Dezember 1944, rief Pius XII. ihn auf ein neues, ganz anders gelagertes und damals überaus schwieriges Wirkungsfeld. Er wurde Nuntius in Frankreich, dessen Volk damals zutiefst zerrissen und schwer heimgesucht war. An anderer Stelle wird zu berichten sein, was der Nuntius Roncalli über seine eigentliche Mission hinaus für Deutschland, besonders für die deutschen Kriegsgefangenen, getan hat. Was Frankreich selbst betrifft, bedurfte es zunächst sehr großen Taktes, um das Ressentiment weiter und vor allem politisch führender Kreise gegen den Episkopat und den Vatikan abzubauen, denen man vorwarf, das VichyRegime mindestens toleriert zu haben. Dem Nuntius gelang das. Er fand ein überaus freundliches Verhältnis zu dem Volk, bei dem er den Papst zu vertreten hatte. Bezeichnend dafür mag es sein, dass er 85 von den 87 französischen Diözesen persönlich besuchte. Auch innerkirchliche Krisen, vor allem die um die Arbeiterpriester, bereiteten ihm manche schwere Sorge, bestätigten aber auch seinen Ruf, vermittelnd und ausgleichend eingegriffen zu haben.

Im Juni 1951 wurde der Nuntius zugleich zum ersten ständigen Beobachter des Heiligen Stuhles bei der UNESCO ernannt.

Am 12. Januar 1953 wurde Roncalli zur Würde des Kardinalates erhoben. An demselben Tage, als Präsident Auriol ihm das Kardinalsbirett überreichte, erhielt er auch die am 15. Januar vollzogene Ernennung zum Patriarchen von Venedig, wo er am 15. März seinen Einzug hielt. Schon in Venedig hielt er, wie später in Rom, nach kurzer Amtszeit eine Diözesansynode ab. Ein Monument seines Wirkens ist auch die Restauration des Markusdomes. Zweimal noch vertrat er den Papst als Legatus a latere: im Oktober 1954 beim Marianischen Kongress in Beirut und am 25. März 1958 bei der Hundertjahrfeier der Erscheinungen von Lourdes zur Konsekration der unterirdischen Basilika des hl. Pius X. Es war sein letztes Wiedersehen mit Frankreich.

Am 25. Oktober 1958 trat er ins Konklave ein, und am 28. Oktober ging er als Papst Johannes XXIII. daraus hervor. Er wählte diesen Namen im Andenken an seinen Vater und seine Pfarrkirche, unter anderm aber auch deshalb, weil fast alle Johannes-Päpste nur kurze Zeit regiert haben. Zum Wahlspruch nahm er die Worte: Oboedientia et Pax. Am 4. November, dem Tag des hl. Karl Borromäus, wurde er gekrönt. Sein Pontifikat dauerte 4 Jahre, 7 Monate und 7 Tage. Am Pfingstmontag, dem 3. Juni 1963, um 19.49 Uhr, ging er heim zu Gott.

Pastor et nauta

1. "Jedes Pontifikat erhält seine Züge und sein Gesicht von dem, der es verkörpert und ihm seine Eigenart aufprägt" (Krönungshomilie). Dieser Ausspruch des verstorbenen Papstes gilt für sein Pontifikat insofern in besonderer Weise, als das Wirken dieses Papstes weitgehend Ausfluss seines Charismas war. Dessen natürlichen Wurzelgrund bildete die bäuerliche Welt, der er entstammte: ihre Einfachheit und Armut, ihre Abhängigkeit von dienenden Menschen und von dem, der Sonne und Regen schickt. Johannes wußte darum, was diese Welt für sein Leben bedeutete. In seinen nachgelassenen Tagebüchern heißt es: "Ich bin aus der Armut und den kleinen Verhältnissen von Sotto il Monte hervorgegangen; ich habe immer versucht, mich niemals davon zu entfernen." Seine Vorliebe für die einfachen Leute, aber auch für die unscheinbaren Großen der Kirche, den hl. Josef, den hl. Markus und den Pfarrer von Ars, erklärt sich aus dieser Bescheidenheit. Dazu trat die Erfahrung späterer Jahre, besonders während der beiden Weltkriege. Auch davon berichten die Tagebücher: "Ich habe wieder einmal mein Buch gelesen, das ich auf der Höhe des ersten Weltkrieges geschrieben habe: die letzten Tage Bischof Radinis, sein letzter Ausruf: Friede, Friede ... ich möchte, dass dies auch meine letzte Bitte als Papst sei."

Der Wille Johannes' XXIII., zu dienen, Einheit und Frieden zu stiften, ließe sich leicht aus den Erfahrungen seiner Kindheit und seiner Mannesjahre begründen, doch erschlösse ein solcher Versuch seine Persönlichkeit niemals vollständig. Was das Charisma dieses Papstes ausmachte, das war die in seltener Weise geglückte Einheit von natürlichen und übernatürlichen Gaben, die bruchlose Einverleibung menschlich-geschichtlicher Erfahrung in eine tiefgläubige Existenz, die ganz aus der Heiligen Schrift lebte. Seine Reden und Ansprachen bezeugen das fortgesetzt. Bereits in seiner ersten Radiobotschaft vom 30. Oktober 1958 heißt es: "Wir umarmen die gesamte Kirche des Ostens genauso wie die des Westens mit warmer väterlicher Liebe; und auch jenen, die von diesem Apostolischen Stuhl getrennt sind ... , auch jenen öffnen Wir voll Liebe Unser Herz und Unsere Arme. Wir wünschen glühend ihre Heimkehr in das Haus des gemeinsamen Vaters, und Wir wiederholen die Worte des Erlösers: ,Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, die du mir gegeben hast; lass sie eins seien, wie wir eins sind' (Joh. 17, 11)." Und wenige Sätze später wendet er sich in der gleichen Botschaft an die "Anführer aller Nationen": "Warum legt man nicht endlich die Streitigkeiten und Spannungen in gerechter Weise bei? .. Was verlangen, was erflehen die Menschen von euch? Nicht neue Monsterwaffen, die unsere Zeit ängstigen und die Ursache von Brudermord und allgemeiner Vernichtung werden können, sondern Frieden, Frieden ... Doch muss man ernstlich bedenken, was die Engel über der Wiege des göttlichen Kindes sangen: ,Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen, die guten Willens sind' (Luk. 2, 14). Denn es gibt keinen wahren Frieden für die Bürger, die Völker, die Rassen, wenn er nicht zuerst ihren Seelen geschenkt wird ... In dieser ernsten Stunde wiederholen Wir die Worte Christi: ,Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch' (Joh. 14,17)." In der Krönungshomilie am 4. November 1958 stellte Johannes XXIII. die Frage nach dem Ideal des Papstes, wie er es sah. Und er antwortete: "Der neue Papst gleicht auf Grund seines ganzen Lebens Joseph, dem Sohne Jakobs, der seine von schwerem Unglück betroffenen Brüder vor sich kommen lässt und sich ihnen voll Liebe und Mitleid offenbart: ,Ich bin Joseph, euer Bruder' (Gen. 45,4)." Im gleichen Atemzug stellte er neben die Gestalt des alttestamentlichen Joseph ihre Erfüllung im Neuen Testament: den Guten Hirten (Joh. 10, 1-21). Bruder und Hirt in einem, das war sein Papstideal. Er hat es in seinen Reden immer wieder entwickelt und ausgeführt, in mancherlei Variationen, seine Josephsnachfolge am ergreifendsten beim Empfang von 53 amerikanischen Rabbinern: "Ich bin Joseph, euer Bruder." Zitate vom Guten Hirten finden sich in fast allen seinen Reden. Brudersein und Hirtendienst drängten ihn unablässig dazu, Einheit zu suchen und Frieden zu stiften, wie er es in seiner ersten Weihnachtsbotschaft 1958 ausgeführt hat. Alle seine Weihnachtsbotschaften behandeln das gleiche Thema in seinen verschiedenen Entfaltungen; fast hymnisch pries er Frieden und Einheit in seiner letzten Weihnachtsbotschaft 1962.

Er entzog sich nicht seinem Auftrag: "verbum et exemplum" (Ansprache zum Jahrestag seiner Krönung 1959). Er ging zu den ihm anvertrauten Schafen und suchte ihr Vertrauen zu gewinnen. Dabei kamen ihm seine Einfachheit, seine natürliche Herzlichkeit und sein gesunder Humor sehr zustatten. Insbesondere seine kräftige, fast derbe Sprache, die frei war von jeder Stilisierung und jedem Pathos, gewann ihm die Herzen. Die Anekdoten aus der ersten Zeit seines Pontifikates sind zahllos. Er besuchte die Waisen und Kranken, verbrachte Stunden mit den Gefangenen von Regina Coeli und erzählte ihnen die trostreiche Geschichte von seinem Onkel, der wegen Wilddieberei ebenfalls hatte sitzen müssen; er verlangte auch, zu den Schwerverbrechern geführt zu werden; einer von ihnen erklärte nach dem Besuch: Die Stunde war mehr wert als eine ganze Enzyklika. Die ungewöhnliche Form seiner Seelsorge sicherte ihm das Herz des einfachen Mannes und gewann ihm nach und nach auch die Sympathie der kritisch Abwartenden. Die folgende Stelle aus seinem Tagebuch mag daher ein wenig befremden: "In den ersten Tagen meines Pontifikats gab ich mir nicht volle Rechenschaft über das, was es heißen will, Bischof von Rom zu sein und damit Hirt der universalen Kirche. Dann, eine Woche nach der anderen, wurde es mir ganz klar, und ich fühlte mich wie zu Hause, so als ob ich nichts anderes während meines Lebens getan hätte." Man kann diese Selbstkritik nur dahin verstehen, dass ihm trotz aller Kontakte, die er mit der Bevölkerung aufnahm und die er in den folgenden Jahren immer beibehielt, indem er bei seinen Fahrten durch Rom seine Begleitung stehenliess und sich in den Nebenstraßen unter das Volk mischte ("applaudiert nicht soviel, dann können wir uns länger unterhalten", mahnte er häufig), noch nicht ganz klar war, wie er der Hirte der Seelen werden könne. Aber nach Ausweis des Tagebuches wußte er das bald.

Als erstes führte er in Rom für die Sonntage der Fastenzeit die Stationsgottesdienste wieder ein; sie wurden seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr gefeiert: Johannes als Bischof inmitten der Gemeinde, zu Fuß in der Prozession singend und betend, jeweils in verschiedenen Kirchen der Stadt. Das römische Volk war tief bewegt. Der Eindruck steigerte sich, als Johannes zum ersten Mal seit Pius IX. am Gründonnerstag öffentlich die Feier der Fußwaschung vollzog, am Karfreitag in Santa Croce di Gerusalemme an der Kreuzverehrung teilnahm (bei dieser Gelegenheit wurde das "perfidis Judaeis" durch "Judaeis" ersetzt) und in der Osternacht in der Lateran-Basilika persönlich die Prophetien rezitierte und das Taufwasser weihte. In ähnlicher Weise und mit ähnlichem Erfolg führte Johannes auch die öffentliche Fronleichnamsprozession wieder für sein Bistum ein. Er dekretierte nicht nur, er ging zu seiner Herde. Seit 1724 war keine Prozession mehr durch die Straßen der Stadt gezogen. Ein Jahr später überschritt der Bischof die Grenzen der Innenstadt. Er feierte die heiligen Geheimnisse während der Fastenzeit mit den Arbeitern der Quartiere von Centocelle, Tiburtina und Garbatella. Die Notwendigkeit, die Seelsorge den veränderten Verhältnissen des modernen Rom anzupassen, veranlasste ihn, die Römische Diözesansynode, die erste in der Geschichte der Stadt, einzuberufen und durchzuführen. Über sie wird noch in anderem Zusammenhang zu berichten sein. Das alles war neu für Rom und kam unerwartet. Doch waren die Umstände günstig, und die Zeit hatte vorgearbeitet. Die lastenden Spannungen zwischen dem italienischen Staat und dem Vatikan gehörten der Vergangenheit an, die Erbschaft des Faschismus, des Krieges und der ersten Nachkriegsnot, die die Pontifikate Pius' XI. und Pius' XII. überschattet hatte, war weithin getilgt. Der Bischof von Rom erfasste die Gunst der Stunde und wurde nicht enttäuscht. Sichtbarsten Ausdruck fand das neue Verhältnis zwischen Kirche und Staat in der Fahrt des Papstes am 4. Oktober 1962 durch das Gebiet des ehemaligen Kirchenstaates, nach Assisi und Loreto.

Il pàrroco del mondo

2. Was Rom und die Welt im ersten Jahre seines Pontifikates erlebten, entsprach in vielem dem, was sich der Papst als Bruder und Hirte zum Ziele gesetzt hatte: Heilung durch dienendes Beispiel und Bescheidenheit. So wünschte er von dem Hauptschriftleiter des "Osservatore Romano", dass alles Herausstellen seiner Person in der Zeitung in Zukunft unterbleiben solle; aus einer seiner Biographien, die für die Übersetzung ins Deutsche vorgesehen war, strich er eigenhändig alle Beiwörter heraus, die seine Person und sein Pontifikat schmückten. Aber es wurde vielfach noch nicht in diesem Sinne von der Welt verstanden. Man jubelte über den "neuen Stil", die "frische Luft" im Vatikan, das Beiseiteschieben des Protokolls, der zeitlich gebundenen Tradition, des Zopfes und rümpfte anderseits allzu leicht die Nase - zumal in den transalpinen Ländern - über manche der Regierungsmaßnahmen des Papstes, mit anderen Worten: man erfreute sich an dem Hirten und ließ ihn gern gelten, nicht aber immer den Steuermann des Schiffes Petri.

Das lag zum Teil daran, dass man, gewohnt an eine straffe Führung durch die zentralen Behörden der Kirche, die sichtbaren Früchte einer solchen Führung nicht missen wollte, sosehr man zuweilen unter ihr auch seufzte. Es lag aber anderseits auch an der Persönlichkeit des Papstes selbst. Einer seiner Freunde hat ihn einmal einen Mann von Entschlussfreudigkeit genannt, der zugleich auch sehr lange warten und zusehen konnte: ein Mann, entschieden und zugreifend in den entscheidenden Fragen, anderseits langmütig und gelassen in allen Fragen zweiter Ordnung. Dafür gibt es viele Belege aus seinem Leben, auch aus seinem Umgang mit den kurialen Kongregationen. Er nahm die Dinge nicht wichtiger, als sie sind, und am wenigsten nahm er sich selbst wichtig. Einem Bischof erzählte er: wenn er nachts vor Sorgen um die Kirche nicht schlafen könne, dann ließe er "den Papst" sagen: Angelo, nimm dich nicht zu wichtig. So konnte leicht der Eindruck entstehen, dem Papst entglitte zuweilen die Führung. Der Verlauf des Pontifikates hat erwiesen, dass diese Annahme irrig war. Johannes hat schon sehr früh in der für seinen Regierungsstil außerordentlich aufschlussreichen Ansprache an die lateinamerikanischen Bischöfe vom 15. November 1958 über "die besonderen Mittel für die besondere Situation" gehandelt. Auf die kürzeste Formel gebracht, lauten sie: Sehen, Urteilen, Handeln, die gleichen Mittel also, die er zwei Jahre später in seiner Enzyklika Mater et magistra empfahl, und der zweite Hauptsatz der Ansprache ist noch bezeichnender für seine Regierung. Er sagte: "Man muss sich klar und fest ein doppeltes Programm vornehmen: eines, das Wir das ,auf weite Sicht' nennen könnten, und ein anderes unmittelbarer Verwirklichung."

Es gibt ausreichend Hinweise dafür, dass diese beiden Methodensätze die Frucht der langen historischen Studien des Papstes waren. Er pflegte häufig seine Reden und Ansprachen mit geschichtlichen und persönlichen Reminiszenzen einzuleiten. Zwei seiner acht Enzykliken knüpfen an die Lebensbilder großer Heiliger an. Fast plaudernd legte er dar, wie sich Geschichte in der konkreten Situation vollzieht und wie der einzelne sie sinnvoll, zum Wohle der Kirche und der Menschen, beeinflussen kann. Von daher erklärt sich der ganz eigene, immer von der Geschichte und der persönlichen Erfahrung mitgeprägte Ton seiner Lehrschreiben. Der Papst wußte: es ist nicht alles Erstrebenswerte zu jeder Zeit und in jeder Situation zu erreichen. Man muss sich bescheiden können. Das Mögliche ist immer das beste (vgl. Princeps pastorum). Was aber das Mögliche jeweils ist, muss durch Versuche erkundet werden. Das hat er gewagt, als Bischof von Rom und als Hirte der Welt, und der Erfolg bahnte sich an. Weder die Vorbereitung noch die begonnene Durchführung des Konzils noch seine letzten Versuche, den 65 Millionen Katholiken hinter dem Eisernen Vorhang zu Hilfe zu kommen, sind ohne seinen Mut zum Wagnis denkbar. Ihn empfing er aus einem tiefen Gottvertrauen und aus seinem durch die Erfahrung bestätigten Glauben an den guten Kern im Menschen. Sein Optimismus wuchs, als er feststellte, auf welch fruchtbaren Boden seine Bemühungen fielen. So sagte er anlässlich der Eröffnung der Zweiten Session der Zentralkommission für die Konzilsvorbereitung am 7. November 1961: "Aus der Tatsache, dass das Wirken der Kirche und ihre Dokumente auf der ganzen Erde nicht nur Katholiken, sondern auch die Außenstehenden stark bewegen, die sich weniger darum kümmern könnten, darf man den Schluss ziehen, dass dieser Eifer nicht erlahmt, sondern steigt, je mehr die Angst und die Skepsis wachsen ... " In der Apostolischen Konstitution Humanae salutis vom 25. Dezember 1961 schrieb er: "Ja, Wir möchten Uns die Forderung Christi zu eigen machen, die ,Zeichen der Zeit' (Matth. 16, 4) zu unterscheiden, und glauben deshalb, in all der großen Finsternis nicht wenige Anzeichen zu sehen, die eine bessere Zukunft der Kirche und der menschlichen Gesellschaft erhoffen lassen." Er nannte als Ursachen dafür die beiden Kriege, die Schäden der falschen Ideologien und den wissenschaftlichen Fortschritt mit seinen furchtbaren Waffen. "Er hat den Menschen in der gegenwärtigen sorgenvollen Lage zum Nachdenken veranlasst ... All das erleichtert ohne Zweifel die apostolische Arbeit der Kirche. Denn viele, die bisher von ihrer hohen Sendung vielleicht keine Kenntnis hatten, sind heute, durch die Erfahrung eines Besseren belehrt, eher bereit, ihre Mahnung zu hören." Am eindeutigsten kommt der Optimismus des Papstes zum Ausdruck in seiner Eröffnungsansprache an das Konzil am 11. Oktober 1962: "In der täglichen Ausübung Unseres apostolischen Hirtenamtes geschieht es oft, dass bisweilen Stimmen solcher Personen Unser Ohr betrüben, die zwar von religiösem Eifer brennen, aber nicht genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge noch ein kluges Urteil walten lassen. Sie meinen nämlich, in den heutigen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft nur Untergang und Unheil zu erkennen. Sie reden unablässig davon, dass unsere Zeit im Vergleich zur Vergangenheit dauernd zum Schlechteren abgeglitten sei. Sie benehmen sich so, als hätten sie nichts aus der Geschichte gelernt, die eine Lehrmeisterin des Lebens ist, und als sei in den Zeiten früherer Konzilien, was die christliche Lehre, die Sitten und die Freiheit der Kirche betrifft, alles sauber und recht zugegangen ... Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten ... In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen. Dieser verfolgt mit dem Ablauf der Zeiten, durch die Werke der Menschen und meistens über ihre Erwartungen hinaus sein eigenes Ziel, und alles, auch die entgegengesetzten menschlichen Interessen, lenkt er weise zum Heile der Kirche."

Diese Sätze lassen klar erkennen, in welchem Sinne Papst Johannes die Geschichte als Lehrmeisterin verstand. Ihm ging es bei ihrem Studium vor allem um die Erkenntnis dessen, wie sich die Vorsehung in der Zeit durchsetzt. Und er gab sich keiner Täuschung hin, dass nicht jedermann ihn bei seinem Wagnis, dem Willen Gottes die Wege zu ebnen, sofort verstünde. In sein Tagebuch schrieb er nach Erscheinen von Pacem in terris: "Die Welt ist aufgewacht. Allmählich wird die reine Lehre der Enzyklika den Zugang zu den Gewissen finden. Nein, es bekümmert mich nicht, was über mich geschrieben und gesagt worden ist. Es ist viel zuwenig im Vergleich zu den Ängsten Jesu, des Gottessohnes, während seines Lebens und seines Kreuzes." Der Papst nahm die Verkennung seiner Absichten auf sich, er wußte, dass das Erforschen der Pläne Gottes, ihr Sichtbarmachen und Durchsetzen, die Veränderung des Status quo ante immer zunächst Spannungen erzeugen wird. Er war bereit, dafür das Opfer seines Lebens zu bringen. Während seiner letzten Krankheit schrieb er in sein Tagebuch: "Dieses Bett ist ein Altar, der Altar verlangt ein Opfer. Hier bin ich, bereit. Ich habe vor mir ein klares Bild von meiner Seele, von meinem Priestertum, vom Konzil und der universalen Kirche."

[Fortsetzung folgt]