Gott Vater
Im Vater unser wird nicht nur gesagt, daß Gott ein Vater ist - nein, es wird von ihm als unser Vater gesprochen. Gott hat sich in die Hände der Menschen gegeben, er ist für jeden Menschen persönlich zum Vater geworden. Er hat eine einmalige Verbindung mit den Menschen aufgenommen, die er in der Taufe auserwählt, beim Namen ruft: Dich brauche ich, Dich möchte ich als Kind, Dich rufe ich in meine Familie.
Der Vater jedes Einzelnen
Er hat jeden Menschen unverwechselbar geschaffen, denn er ist der Schöpfer. Und zu seinem Geschöpf hat er nicht nur gesagt: Du bist gut geworden, Du bist mir geglückt; so wie Du aussiehst, so wie Du sprichst, so wie Du fühlst, so wie du denkst. Er hat den Menschen aus dem Verhältnis eines Geschöpfes herausgerufen und zum Kind gemacht. Damit hat Gott sein Geschöpf zu einer Ehre erhoben, das keinen Vergleich in dieser Welt kennt: Aus dem Geschöpf wurde ein Familienmitglied; dem Schöpfer nicht mehr durch Abhängigkeit verbunden, sondern durch Liebe.
Im zweiten Hochgebet heißt es: Du hast uns dazu berufen, vor Dir zu stehen und dir zu dienen. Der gläubige Mensch darf seinem Gott stehend begegnen. Und wenn es heißt: «Dann werden wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen», so ist damit nicht nur eine Unmittelbarkeit gemeint, sondern auch eine Ebenbürtigkeit.
Der Vater aller Menschen
Diesen Ehrenrang hat Gott allen Christen zuerkannt. Alle Christen sind in der Taufe in den Kreis der Auserwählten berufen - alle gleich an Würde, Schönheit und Liebeswürdigkeit. Einen Vater zu haben, verbindet den Einzelnen mit Gott auf neue Weise; einen gemeinsamen Vater zu haben, verbindet den Einzelnen mit seinem Nächsten.
Während das Lukas-Evangelium des öfteren von der Feindesliebe spricht, enthält das Johannes-Evangelium nur den Auftrag zur Bruderliebe («Liebet einander, wie ich Euch geliebt habe»). Es mag als die größte Herausforderung des Christentums gelten, seine Feinde zu lieben. Der einzige wirkliche Grund, den Nächsten zu lieben, ist die Tatsache, daß auch Gott ihn liebt. Gott lieben heißt immer, auch den zu lieben, den Gott liebt. Alles andere wäre keine Gottesliebe.
Vater-Kind-Beziehung
Wer von seinem Vater spricht, sieht sich als Kind. Gott ist der Vater der Gläubigen, weil er sie liebt; die Gläubigen sind seine Kinder, weil sie ihm liebenswert sind. Diese Liebe muss nicht verdient werden - das Kind ist so, wie es ist ein Kind.
Kinder brauchen besonderen Schutz. Wer Gott als den Vater glaubt, gesteht sich seine Schutzbedürftigkeit ein. Wer diese leugnet, gaukelt sich Selbständigkeit vor, bekommt sie aber dadurch nicht. Wer sich aber im Schutz des Vater geborgen weiß, wird sicher und weiß sich gehalten. Es geht im Glauben nicht um Selbständigkeit: Der Kern des Glaubens ist das Bejahen der menschlichen Bedürftigkeit und das Wissen um deren Erfüllung durch die Liebe des Vaters.
Kinder sind wackelig auf den Beinen. Deshalb ist der Mensch gerade in den Dingen, die über die eigene Welt hinausreichen, auf die Führung Gottes angewiesen. Er führt wie ein Vater, der den Menschen an die Hand nimmt, ihn hält, aber ihn auch selber seine Schritte machen läßt; der ihn führt, aber auch seinen Richtungsänderungen folgt (und sie, behutsam, korrigiert - wenn auch manchmal nach Umwegen).
Kinder sind unerfahren. Deshalb gibt Gott den Menschen Gebote, um ihm böse Erfahrungen zu ersparen. Ein guter Vater warnt und ermutigt, gibt Verbote und Gebote - aber läßt seinem Kind die Freiheit. Die Strafe eines Gesetzesgebers gibt es nicht; wohl aber die Wiedergutmachung eines einsichtigen Kindes: Es wendet sich erneut den Eltern zu, sucht deren Nähe und Zärtlichkeit und gibt selber etwas von sich als Zeichen der erneuerten Liebe. Kirchliche Buße, Sühne oder Strafe ist immer genau das: Erneuerung der Liebe, Zärtlichkeit und Nähe.