Papstbrief 1995 an die Frauen

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Apostolischer Brief

von Papst
Johannes Paul II.
an die Frauen
29. Juni 1995
(Offizieller lateinischer Text: AAS 87 [1995] 803-812)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite).
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


Euch, Frauen der ganzen Welt,
gilt mein herzlicher Gruß!

1. An jede von euch richte ich als Zeichen der Teilnahme und Dankbarkeit diesen Brief, während die IV. Weltfrauenkonferenz näherrückt, die im September dieses Jahres in Peking abgehalten wird.

Ich möchte vor allem der Organisation der Vereinten Nationen gegenüber meine Hochachtung dafür zum Ausdruck bringen, dass sie eine Initiative von so großer Bedeutung angeregt hat. Auch die Kirche will ihren Beitrag zur Verteidigung der Würde, der Rolle und der Rechte der Frauen anbieten, und das nicht allein durch die besondere Mitwirkung der offiziellen Delegation des Heiligen Stuhls an den Arbeiten in Peking, sondern auch dadurch, dass sie Herz und Verstand aller Frauen direkt anspricht. Als mir die Generalsekretärin der Konferenz, Frau Gertrude Mongella, angesichts dieses wichtigen Treffens unlängst einen Besuch abstattete, habe ich ihr eine Botschaft überreicht, in der einige grundlegende Punkte der diesbezüglichen Lehre der Kirche zusammengestellt sind. Es ist eine Botschaft, die sich über den besonderen Anlass hinaus, der die Anregung dazu gab, einem allgemeineren Ausblick auf die tatsächliche Lage und die Probleme der Frauen in ihrer Gesamtheit öffnet und sich in den Dienst ihrer Sache in der Kirche und in der Welt von heute stellt. Ich habe daher veranlasst, dass sie allen Bischofskonferenzen zugeleitet werde, um ihre größtmögliche Verbreitung sicherzustellen.

Indem ich auf das zurückgreife, was ich in jenem Dokument schrieb, möchte ich mich nun direkt an jede Frau wenden, um mit ihr über die Probleme und Aussichten der Situation der Frau in unserer Zeit nachzudenken, wobei ich im besonderen bei dem wesentlichen Thema Würde und Rechte der Frauen im Lichte des Wortes Gottes verweilen will.

Ausgangspunkt für diesen gedanklichen Dialog muss der Dank sein. Die Kirche - so schrieb ich in dem Apostolischen Schreiben Mulieris dignitatem - »möchte der Heiligsten Dreifaltigkeit Dank sagen für das "Geheimnis der Frau" und für jede Frau, für das, was das ewige Maß ihrer weiblichen Würde ausmacht, für "Gottes große Taten", die im Verlauf der Generationen von Menschen in ihr und durch sie geschehen sind« (Nr. 31).

2. Der Dank an den Herrn für seinen Plan bezüglich der Berufung und Sendung der Frau in der Welt wird auch zu einem konkreten und unmittelbaren Dank an die Frauen, an jede Frau, für das, was sie im Leben der Menschheit darstellt.

Dank sei dir, Frau als Mutter, die du dich in der Freude und im Schmerz einer einzigartigen Erfahrung zum Mutterschoß des Menschen machst, die du für das Kind, das zur Welt kommt, zum Lächeln Gottes wirst, die du seine ersten Schritte lenkst, es bei seinem Heranwachsen betreust und zum Bezugspunkt auf seinem weiteren Lebensweg wirst.

Dank sei dir, Frau als Braut, die du dein Schicksal unwiderruflich an das eines Mannes bindest, in einer Beziehung gegenseitiger Hingabe im Dienst an der Gemeinsamkeit und am Leben.

Dank sei dir, Frau als Tochter und Frau als Schwester, die du in die engere Familie und dann in das gesamte Leben der Gesellschaft den Reichtum deiner Sensibilität, deiner intuitiven Wahrnehmung, deiner Selbstlosigkeit und deiner Beständigkeit einbringst.

Dank sei dir, berufstätige Frau, die du dich in allen Bereichen des sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, künstlerischen und politischen Lebens engagierst, für deinen unverzichtbaren Beitrag zum Aufbau einer Kultur, die Vernunft und Gefühl zu verbinden vermag, zu einem Verständnis vom Leben, das stets offen ist für den Sinn des »Geheimnisses«, zur Errichtung wirtschaftlicher und politischer Strukturen, die mehr Menschlichkeit aufweisen.

Dank sei dir, Frau im Ordensstand, die du dich nach dem Vorbild der größten aller Frauen, der Mutter Christi, des fleischgewordenen Wortes, in Fügsamkeit und Treue der Gottesliebe öffnest und so der Kirche und der ganzen Menschheit hilfst, Gott gegenüber eine »bräutliche« Antwort zu leben, die auf wunderbare Weise Ausdruck der Gemeinschaft ist, die er zu seinem Geschöpf herstellen will.

Dank sei dir, Frau, dafür, daß du Frau bist! Durch die deinem Wesen als Frau eigene Wahrnehmungsfähigkeit bereicherst du das Verständnis der Welt und trägst zur vollen Wahrheit der menschlichen Beziehungen bei.

3. Aber mit dem Dank ist es nicht getan, das weiß ich. Wir sind leider Erben einer Geschichte enormer Konditionierungen, die zu allen Zeiten und an jedem Ort den Weg der Frau erschwert haben, die in ihrer Würde verkannt, in ihren Vorzügen entstellt, oft ausgegrenzt und sogar versklavt wurde. Das hat sie daran gehindert, wirklich sie selbst zu sein, und hat die ganze Menschheit um echte geistige Reichtümer gebracht. Es wäre sicher nicht leicht, klare Schuldzuweisungen vorzunehmen, wenn man an die Macht der kulturellen Ablagerungen denkt, die im Laufe der Jahrhunderte Denkweisen und Institutionen geformt haben. Aber wenn es dabei, besonders im Rahmen bestimmter geschichtlicher Kontexte, auch bei zahlreichen Söhnen der Kirche zu Fällen objektiver Schuld gekommen ist, bedauere ich das aufrichtig. Dieses Bedauern übertrage sich auf die ganze Kirche in einem Bemühen um erneuerte Treue zu der Inspiration aus dem Evangelium, das gerade zu dem Thema von der Befreiung der Frauen von jeder Form von Missbrauch und Vorherrschaft eine Botschaft von unvergänglicher Aktualität bereithält, die der Haltung Christi selbst entspringt. Indem er sich über die in der Kultur seiner Zeit geltenden Vorschriften hinwegsetzte, nahm er den Frauen gegenüber eine Haltung der Öffnung, der Achtung, der Annahme und der Zuneigung an. Auf diese Weise ehrte er in der Frau die Würde, die sie seit jeher im Plan und in der Liebe Gottes besitzt. Wenn wir am Ende dieses zweiten Jahrtausends auf ihn blicken, stellt sich uns unwillkürlich die Frage: Wieviel von seiner Botschaft ist angenommen und verwirklicht worden?

Jawohl, es ist Zeit, mit dem Mut zur Erinnerung und mit dem offenen Eingeständnis der Verantwortung auf die lange Geschichte der Menschheit zu blicken, zu der die Frauen, und zumeist unter viel ungünstigeren Bedingungen, einen Beitrag geleistet haben, der dem der Männer nicht nachsteht. Ich denke im besonderen an die Frauen, die die Kultur und die Kunst geliebt und sich ihnen gewidmet haben, obwohl sie von der Ausgangslage her benachteiligt, oft von einer gleichwertigen Erziehung ausgeschlossen, der Unterbewertung, Verkennung und sogar Aberkennung ihres intellektuellen Beitrags ausgesetzt waren. Von dem vielfältigen Wirken der Frauen in der Geschichte hat sich leider mit den Mitteln der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung sehr wenig feststellen lassen. Zum Glück kann man allerdings, auch wenn die Zeit die belegbaren Spuren dieses Wirkens zugedeckt hat, seines heilsamen Einfließens in den Lebenssaft gewahr werden, der das Sein der einander ablösenden Generationen bis herauf zu uns ausmacht. Hinsichtlich dieser großen, ungeheuren »Überlieferung« durch die Frauen hat die Menschheit eine unermessliche Schuld. Wie viele Frauen wurden und werden noch immer mehr nach dem physischen Aussehen bewertet als nach ihrer Sachkenntnis, ihrer beruflichen Leistung, nach den Werken ihrer Intelligenz, nach dem Reichtum ihrer Sensibilität und schließlich nach der ihrem Sein und Wesen eigenen Würde!

4. Und was soll man zu den Hindernissen sagen, die in vielen Teilen der Welt den Frauen noch immer die volle Einbeziehung in das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben verwehren? Man denke nur daran, wie das Geschenk der Mutterschaft, dem doch die Menschheit ihr eigenes Überleben verdankt, oft eher bestraft als belohnt wird. Es ist sicher noch viel zu tun, damit das Dasein als Frau und Mutter keine Diskriminierung beinhaltet. Es ist dringend geboten, überall die tatsächliche Gleichheit der Rechte der menschlichen Person zu erreichen, und das heißt gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Schutz der berufstätigen Mutter, gerechtes Vorankommen in der Berufslaufbahn, Gleichheit der Eheleute im Familienrecht und die Anerkennung von allem, was mit den Rechten und Pflichten des Staatsbürgers in einer Demokratie zusammenhängt.

Es handelt sich um einen Akt der Gerechtigkeit, aber auch um eine Notwendigkeit. Die anstehenden, sehr ernsten Probleme werden in der Politik der Zukunft in immer stärkerem Maß die Miteinbeziehung der Frau erleben: Freizeit, Lebensqualität, Wanderbewegungen, soziale Dienste, Euthanasie, Drogen, Gesundheitswesen und Fürsorge, Ökologie usw. Für alle diese Bereiche wird sich eine stärkere soziale Präsenz der Frau als wertvoll erweisen, denn sie wird dazu beitragen, die Widersprüche einer Gesellschaft herauszustellen, die auf bloßen Kriterien der Leistung und Produktivität aufgebaut ist, und sie wird auf eine Neufassung der Systeme dringen zum großen Vorteil der Humanisierungsprozesse, in denen sich der Rahmen für die »Zivilisation der Liebe« abzeichnet.

5. Wie könnten wir, wenn wir sodann auf einen der heikelsten Aspekte der Situation der Frau in der Welt blicken, die lange und erniedrigende - häufig freilich »untergründige« - Geschichte der im Bereich der Sexualität gegenüber Frauen verübten Gewalttätigkeiten unerwähnt lassen? An der Schwelle zum dritten Jahrtausend können wir diesem Phänomen gegenüber nicht gleichgültig bleiben und resignieren. Es ist an der Zeit, die Formen sexueller Gewalt, deren Objekt nicht selten die Frauen sind, nachdrücklich zu verurteilen und geeignete gesetzliche Mittel zur Verteidigung hervorzubringen. Im Namen der Achtung der menschlichen Person müssen wir außerdem Anklage erheben gegen die verbreitete, von Genußsucht und Geschäftsgeist bestimmte Kultur, die die systematische Ausbeutung der Sexualität fördert, indem sie auch Mädchen im jungen Alter dazu anhält, in die Fänge der Korruption zu geraten und sich für die Vermarktung ihres Körpers herzugeben.

Wie viel Hochachtung verdienen angesichts solcher Entartungen hingegen die Frauen, die mit heroischer Liebe zu ihrem Kind eine Schwangerschaft austragen, die durch das Unrecht ihnen gewaltsam aufgezwungener sexueller Beziehungen zustande gekommen ist; was nicht nur im Rahmen der Greueltaten vorkommt, die sich leider im Zusammenhang mit den auf der Welt noch immer so häufigen Kriegen ereignen, sondern auch in Situationen des Wohlstandes und des Friedens, die oft durch eine Kultur eines hedonistischen Permissivismus verdorben sind, in dem nur allzu leicht auch Tendenzen eines aggressiven Männertums gedeihen. Unter solchen Umständen ist die Entscheidung zur Abtreibung, die freilich immer eine schwere Sünde bleibt, eher ein Verbrechen, das dem Mann und der Mitwirkung des Umfeldes anzulasten ist, als eine den Frauen aufzuerlegende Schuld.

6. Mein Dank an die Frauen wird daher zum eindringlichen Appell, von seiten aller und besonders seitens der Staaten und der internationalen Institutionen alles Notwendige zu tun, um den Frauen die volle Achtung ihrer Würde und ihrer Rolle wiederzugeben. In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, meine Bewunderung für die Frauen guten Willens zu bekunden, die sich der Verteidigung der Würde des Standes der Frau durch die Erringung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Grundrechte gewidmet und diese mutige Initiative zu einer Zeit ergriffen haben, in der dieser ihr Einsatz als eine Übertretung, als Zeichen mangelnder Fraulichkeit, als großtuerisches Gehabe, ja als Sünde angesehen wurde!

Wie ich in der Botschaft zum Weltfriedenstag dieses Jahres mit Blick auf diesen großartigen Befreiungsprozess der Frau schrieb, kann man sagen, »es war ein schwieriger und komplizierter Weg, nicht immer frei von Irrtümern, aber im wesentlichen ein positiver Weg, auch wenn er noch unvollendet ist auf Grund der vielen Hindernisse, die in verschiedenen Teilen der Welt im Wege stehen, dass die Frau in ihrer besonderen Würde anerkannt, geachtet und aufgewertet wird« (Nr. 4).

Es gilt, auf diesem Weg weiterzugehen! Ich bin jedoch überzeugt, dass das Geheimnis, um rasch den Weg zur vollen Achtung der Identität der Frau zu Ende zu gehen, nicht nur über die, wenn auch notwendige, Anprangerung von Verbrechen und Ungerechtigkeiten führt, sondern auch und vor allem über einen ebenso wirksamen wie wohldurchdachten Förderungsplan, der alle Bereiche des Lebens der Frau betrifft, angefangen bei einer erneuerten und universalen Bewusstmachung der Würde der Frau. Auf die Anerkennung dieser Würde bringt uns trotz der vielfältigen historischen Konditionierungen die Vernunft selbst, die das jedem Menschen ins Herz geschriebene Gesetz Gottes erfasst. Aber vor allem das Wort Gottes erlaubt uns, mit aller Klarheit das grundlegende anthropologische Fundament der Würde der Frau zu erkennen, das wir in Gottes Plan für die Menschheit ausmachen können.

7. Lasst mich daher, liebe Schwestern, zusammen mit euch noch einmal über den wunderbaren Bibelabschnitt meditieren, der die Erschaffung des Menschen schildert und soviel über eure Würde und eure Sendung in der Welt aussagt.

Das Buch Genesis spricht von der Schöpfung in zusammenfassender Form und in poetischer und symbolischer, aber zutiefst wahrer Sprache: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1, 27). Der Schöpfungsakt Gottes erfolgt nach einem genauen Plan. Zunächst wird gesagt, dass der Mensch geschaffen wird »als Abbild Gottes, ihm ähnlich« (vgl. Gen 1, 26), eine Formulierung, die sogleich die Besonderheit des Menschen im gesamten Schöpfungswerk klarstellt.

Dann heißt es, dass er schon am Anfang als »Mann und Frau« (Gen 1, 27) geschaffen wurde. Die Heilige Schrift liefert selber die Auslegung dieser Angabe: der Mensch, wenngleich umgeben von den zahllosen Geschöpfen der sichtbaren Welt, wird sich bewusst, dass er allein ist (vgl. Gen 2, 20). Gott greift ein, um ihm aus dieser Lage der Einsamkeit herauszuhelfen: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht« (Gen 2, 18). Der Erschaffung der Frau ist also von Anfang an das Prinzip der Hilfe zugeordnet nicht - man beachte - einseitige Hilfe, sondern gegenseitige. Die Frau ist die Ergänzung des Mannes, wie der Mann die Ergänzung der Frau ist: Frau und Mann ergänzen sich gegenseitig. Die Weiblichkeit verwirklicht das »Menschliche« ebenso wie die Männlichkeit, aber mit einer andersgearteten und ergänzenden Ausgestaltung.

Wenn die Genesis von »Hilfe« spricht, bezieht sie sich nicht nur auf den Bereich des Tuns, sondern auch auf den des Seins. Weiblichkeit und Männlichkeit ergänzen einander nicht nur unter physischem und psychischem, sondern unter ontologischem Gesichtspunkt. Nur dank der Dualität von »männlich« und »weiblich« verwirklicht sich das »Menschliche« voll.

8. Nachdem er den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat, sagt Gott zu beiden: »Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch« (Gen 1, 28). Er verleiht ihnen nicht nur die Fähigkeit zur Fortpflanzung, damit das Menschengeschlecht in der Zeit fortbesteht, sondern er vertraut ihnen auch die Erde als Aufgabe an, indem er sie verpflichtet, deren Ressourcen verantwortungsvoll zu verwalten. Der Mensch ist als vernunftbegabtes und freies Wesen aufgerufen, das Gesicht der Erde zu verändern. Für diese Aufgabe, die im wesentlichen Kulturarbeit ist, tragen von Anfang an sowohl der Mann wie die Frau gleiche Verantwortung. In ihrer bräutlichen und fruchtbaren Gegenseitigkeit, in ihrer gemeinsamen Aufgabe, die Erde zu beherrschen und zu unterwerfen, spiegeln die Frau und der Mann nicht eine statische und nivellierende Gleichheit, aber auch nicht einen abgrundtiefen Unterschied und unerbittlichen Konflikt wider: ihre natürlichste, dem Plan Gottes entsprechende Beziehung ist die »Einheit der zwei, das heißt eine auf Beziehung angelegte »Einheit in der Zweiheit«, die einen jeden die wechselseitige Beziehung zwischen den Personen als ein bereicherndes und sie mit Verantwortung ausstattendes Geschenk empfinden lässt.

Dieser »Einheit der zwei« wurde von Gott nicht nur das Werk der Fortpflanzung und das Leben der Familie anvertraut, sondern der eigentliche Aufbau der Geschichte. Wenn während des internationalen Jahres der Familie, das 1994 abgehalten wurde, die Aufmerksamkeit der Frau als Mutter galt, so lässt es der Anlass der Pekinger Konferenz angebracht erscheinen, erneut den vielfältigen Beitrag bewusst zu machen, den die Frau für das Leben ganzer Gesellschaften und Nationen leistet. Es ist ein Beitrag vor allem geistig-kultureller, aber auch gesellschaftlich-politischer und ökonomischer Natur. Wirklich viel zu verdanken haben dem Beitrag der Frau die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft, die Staaten, die nationalen Kulturen und, alles in allem, der Fortschritt der ganzen Menschheit!

9. Normalerweise wird der Fortschritt nach wissenschaftlichen und technischen Kategorien bewertet, und auch unter diesem Gesichtspunkt fehlt der Beitrag der Frau nicht. Doch das ist nicht die einzige, ja nicht einmal die wichtigste Dimension des Fortschritts. Wichtiger erscheint die ethisch-soziale Dimension, die die menschlichen Beziehungen und die Werte des Geistes betrifft: was diese Dimension betrifft, die sich, angefangen von den Alltagsbeziehungen zwischen den Personen, besonders innerhalb der Familie, oft ohne alles Aufsehen, entfaltet, ist die Gesellschaft dem »Genius der Frau« gegenüber in weiten Teilen Schuldnerin.

In diesem Zusammenhang möchte ich den Frauen einen besonderen Dank aussprechen, die über die Familie hinaus in den verschiedenen Bereichen der Erziehungsarbeit tätig sind: in Kindergärten, Schulen, Universitäten, Fürsorgeeinrichtungen, Pfarreien, Vereinen und Bewegungen. Überall, wo das Erfordernis einer Bildungs- und Erziehungsarbeit besteht, kann man die enorme Bereitschaft der Frauen feststellen, sich in den menschlichen Beziehungen zu verausgaben, besonders für die Schwächsten und Schutzlosesten. Bei dieser Arbeit verwirklichen sie so etwas wie eine gefühlsmäßige, kulturelle und geistige Mutterschaft, die wegen ihrer Wirkung auf die Entwicklung der Person und die Zukunft der Gesellschaft von wahrhaft unschätzbarem Wert ist. Und wie könnte man hier das Zeugnis so vieler katholischer Frauen und so vieler weiblicher Ordensgemeinschaften unerwähnt lassen, die in den verschiedenen Kontinenten insbesondere die Erziehung der Kinder, Mädchen und Jungen, zu ihrem hauptsächlichen Dienst gemacht haben? Muss man nicht mit dankbarem Herzen auf all die Frauen blicken, die an der Front des Gesundheitsdienstes gearbeitet haben und weiter arbeiten, und das nicht nur im Rahmen oft gut organisierter Gesundheitseinrichtungen, sondern oft unter sehr misslichen Umständen, in den ärmsten Ländern der Welt, und damit ein Zeugnis von Verfügbarkeit geben, das nicht selten an das Martyrium grenzt?

10. Daher, liebe Schwestern, ist es mein Wunsch, dass mit besonderer Aufmerksamkeit über das Thema »Genius der Frau« nachgedacht werde, nicht nur um darin die Züge eines genauen Planes Gottes zu erkennen, der angenommen und eingehalten werden muss, sondern auch, um ihm im gesamten Leben der Gesellschaft, auch dem kirchlichen, mehr Raum zu geben. Auf dieses Thema, das ich allerdings schon anlässlich des Marianischen Jahres aufgegriffen hatte, konnte ich in dem schon erwähnten, 1988 veröffentlichten Apostolischen Schreiben Mulieris dignitatem ausführlich eingehen. In diesem Jahr wollte ich dann in dem Brief, den ich gewohnterweise zum Gründonnerstag an die Priester sende, eine gedankliche Verbindung zu Mulieris dignitatem herstellen, als ich sie einlud, über die wichtige Rolle nachzudenken, die in ihrem Leben die Frau als Mutter, als Schwester und als Mitarbeiterin in der Apostolatsarbeit spielt. Das ist eine andere Dimension - verschieden von der ehelichen, aber gleichfalls wichtig - jener »Hilfe«, die nach der Genesis die Frau dem Mann leisten soll.

Die Kirche sieht in Maria den erhabensten Ausdruck des »Genius der Frau« und findet in ihr eine Quelle nicht versiegender Inspiration. Maria hat sich als »Magd des Herrn« bezeichnet (Lk 1, 38). Aus Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes hat sie ihre bevorzugte, aber alles andere als leichte Berufung einer Braut und Mutter der Familie von Nazaret angenommen. Dadurch, dass sie sich in den Dienst Gottes stellte, stellte sie sich auch in den Dienst der Menschen: ein Liebesdienst. Dieser Dienst hat es ihr ermöglicht, in ihrem Leben die Erfahrung einer geheimnisvollen, aber echten »Herrschaft« zu verwirklichen. Nicht zufällig wird sie als »Königin des Himmels und der Erde« angerufen. So ruft sie die ganze Gemeinschaft der Gläubigen an , viele Nationen und Völker rufen sie als »Königin« an. Ihre »Herrschaft« ist Dienst! Ihr Dienst ist »Herrschaft«!

So sollte die Autorität sowohl in der Familie wie in der Gesellschaft und in der Kirche verstanden werden. Das »Herrschen« offenbart die wesentliche Berufung des Menschen, der geschaffen ist nach dem »Bild« dessen, der Herr des Himmels und der Erde ist, und dazu berufen, in Christus Gottes Adoptivkind zu sein. Der Mensch ist auf Erden die einzige »von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur«, wie das II. Vatikanische Konzil lehrt, das bezeichnenderweise hinzufügt, dass der Mensch »sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann« (Gaudium et spes, 24).

Darin besteht die mütterliche »Herrschaft« Mariens. Da sie mit ihrem ganzen Sein Hingabe für den Sohn gewesen war, wird sie auch zur Hingabe für die Söhne und Töchter des ganzen Menschengeschlechts, indem sie das tiefe Vertrauen dessen weckt, der sich an sie wendet, um sich auf den schwierigen Pfaden des Lebens zu seiner endgültigen, transzendenten Bestimmung geleiten zu lassen. Dieses Endziel erreicht ein jeder über die Etappen seiner Berufung, ein Ziel, das dem zeitlich-irdischen Einsatz sowohl des Mannes wie der Frau die Richtung weist.

11. Vor diesem Horizont des »Dienstes« - der, wenn er in Freiheit, Gegenseitigkeit und Liebe erbracht wird, das wahre »Königtum« des Menschen zum Ausdruck bringt - ist es möglich, ohne nachteilige Folgen für die Frau auch einen gewissen Rollenunterschied anzunehmen, insofern dieser Unterschied nicht das Ergebnis willkürlicher Auflagen ist, sondern sich aus der besonderen Eigenart des Mann- und Frauseins ergibt. Es handelt sich hier um eine Thematik mit einer spezifischen Anwendung auch auf den innerkirchlichen Bereich. Wenn Christus - in freier und souveräner Entscheidung, die im Evangelium und in der ständigen kirchlichen Überlieferung gut bezeugt ist - nur den Männern die Aufgabe übertragen hat, durch die Ausübung des Amtspriestertums »Ikone« seines Wesens als »Hirt« und als »Bräutigam« der Kirche zu sein, so tut das der Rolle der Frauen keinen Abbruch, wie übrigens auch nicht jener der anderen Mitglieder der Kirche, die nicht das Priesteramt innehaben, sind doch alle in gleicher Weise mit der Würde des »gemeinsamen Priestertums« ausgestattet, das in der Taufe seine Wurzeln hat. Diese Rollenunterscheidungen dürfen nämlich nicht im Lichte der funktionellen Regelungen der menschlichen Gesellschaften ausgelegt werden, sondern mit den spezifischen Kriterien der sakramentalen Ordnung, das heißt jener Ordnung von »Zeichen«, die von Gott frei gewählt wurden, um sein Gegenwärtigsein unter den Menschen sichtbar zu machen.

Im übrigen kommt gerade im Rahmen dieser Ordnung von Zeichen, wenn auch außerhalb des sakramentalen Bereiches, dem nach dem erhabenen Vorbild Mariens gelebten »Frausein« keine geringe Bedeutung zu. Denn im »Frausein« der gläubigen und ganz besonders der »gottgeweihten« Frau gibt es eine Art immanentes »Prophetentum« (vgl. Mulieris dignitatem, 29), einen sehr beschwörenden Symbolismus, man könnte sagen, eine bedeutungsträchtige »Abbildhaftigkeit«, die sich in Maria voll verwirklicht und mit der Absolutheit eines »jungfräulichen« Herzens, um »Braut« Christi und »Mutter« der Gläubigen zu sein, das Wesen der Kirche als heilige Gemeinschaft treffend zum Ausdruck bringt. In dieser Sicht »abbildhafter« gegenseitiger Ergänzung der Rollen des Mannes und der Frau werden zwei unumgängliche Dimensionen der Kirche besser herausgestellt: das »marianische« und das »apostolisch-petrinische« Prinzip (vgl. ebd., 27).

Andererseits ist - daran erinnerte ich die Priester in dem erwähnten Gründonnerstagsbrief dieses Jahres - das Amtspriestertum im Plan Christi »nicht Ausdruck von Herrschaft, sondern von Dienst« (Nr. 7). Es ist die dringende Aufgabe der Kirche bei ihrer täglichen Erneuerung im Lichte des Wortes Gottes, dies immer klarer zu machen, sei es bei der Entwicklung des Gemeinschaftsgeistes und bei der sorgfältigen Förderung aller typisch kirchlichen Mittel der Teilnahme, sei es durch die Achtung und Aufwertung der unzähligen persönlichen und gemeinschaftlichen Charismen, die der Geist Gottes zum Aufbau der christlichen Gemeinschaft und zum Dienst an den Menschen weckt.

In diesem weiten Raum des Dienstes hat die Geschichte der Kirche in diesen zweitausend Jahren trotz vieler Konditionierungen wahrhaftig den »Genius der Frau« kennengelernt, wenn sie aus ihrer Mitte Frauen von erstrangiger Größe hervorgehen sah, die in der Zeit ihre tiefe und heilsame Prägung hinterlassen haben. Ich denke an die lange Reihe von Märtyrerinnen, von Heiligen, von außergewöhnlichen Mystikerinnnen. Ich denke in besonderer Weise an die heilige Katharina von Siena und die heilige Theresia von Avila, der Papst Paul VI. seligen Angedenkens den Titel einer Kirchenlehrerin zugesprochen hat. Und wie wäre hier sodann nicht an zahlreiche Frauen zu erinnern, die auf Antrieb ihres Glaubens Initiativen ins Werk gesetzt haben von außerordentlicher sozialer Bedeutung im Dienst vor allem der Ärmsten? Die Zukunft der Kirche im dritten Jahrtausend wird es gewiss nicht versäumen, neue und wunderbare Äußerungen des »Genius der Frau« festzustellen.

12. Ihr seht also, liebe Schwestern, wie viele Beweggründe die Kirche für ihren Wunsch hat, daß auf der bevorstehenden, von den Vereinten Nationen in Peking ausgerichteten Konferenz die volle Wahrheit über die Frau zutage treten möge. Man möge wirklich den »Genius der Frau« gebührend hervorheben, indem nicht nur die großen und berühmten Frauen der Vergangenheit oder unserer Zeit berücksichtigt werden, sondern auch jene einfachen Frauen, die ihr Talent als Frau in der Normalität des Alltags im Dienst an den anderen zum Ausdruck bringen. Denn besonders in ihrer Hingabe an die anderen im tagtäglichen Leben begreift die Frau die tiefe Berufung ihres Lebens, sie, die vielleicht noch mehr als der Mann den Menschen sieht, weil sie ihn mit dem Herzen sieht. Sie sieht ihn unabhängig von den verschiedenen ideologischen oder politischen Systemen. Sie sieht ihn in seiner Größe und in seinen Grenzen und versucht, ihm entgegenzukommen und ihm eine Hilfe zu sein. Auf diese Weise verwirklicht sich in der Geschichte der Menschheit der grundlegende Plan des Schöpfers und tritt in der Vielfalt der Berufe und Berufungen unaufhörlich die - nicht nur physische, sondern vor allem geistige - Schönheit zutage, mit der Gott von Anfang an die menschliche Kreatur und im besonderen die Frau beschenkt hat.

Während ich dem Herrn im Gebet den guten Ausgang der wichtigen Tagung von Peking anvertraue, lade ich die Gemeinschaft der Kirche ein, das laufende Jahr zum Anlass zu nehmen für eine aufrichtige Danksagung an den Schöpfer und Erlöser der Welt für das Geschenk eines so großen Gutes, wie es das Frausein ist: es gehört in seinen vielfältigen Ausdrucksformen zum grundlegenden Erbe der Menschheit und der Kirche.

Maria, Königin der Liebe, wache über die Frauen und über ihre Sendung im Dienst an der Menschheit, am Frieden und an der Ausbreitung des Reiches Gottes!

Mit meinem Segen.

Aus dem Vatikan, am 29. Juni 1995, .
dem Hochfest der Apostel Petrus und Paulus..

Johannes Paul II.

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