Tertio millennio adveniente

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Apostolisches Schreiben
Tertio millennio adveniente

von Papst
Johannes Paul II.
an die Bischöfe, den Klerus, die Ordensleute und an die Gläubigen
zur Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000
10. November 1994

(Offizieller lateinischer Text: AAS 87 [1995] 7-41)

(Quelle: Die deutsche Fassung auf der Vatikanseite; Die Anmerkungen sind aus den VAS 119 genommen)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


An die Bischöfe,

An die Priester und Diakone,
An die Ordensmänner und Ordensfrauen,

An die Laien

Einleitend

1. Während das dritte Jahrtausend neuer Zeitrechnung näherrückt, kommen uns unwillkürlich die Worte des Apostels Paulus in den Sinn: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau “ (Gal 4,4). Die Fülle der Zeiten ist identisch mit dem Geheimnis der Fleischwerdung des Wortes, des mit dem Vater wesensgleichen Sohnes, und mit dem Geheimnis der Erlösung der Welt. Der hl. Paulus unterstreicht an dieser Stelle, dass der Sohn von einer Frau geboren wurde, unter dem Gesetz geboren und in die Welt gekommen ist, um alle freizukaufen, die unter dem Gesetz standen, damit sie die Sohnschaft erlangten. Und er fügt hinzu: „Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater!“ Wirklich tröstlich ist sein Schlusssatz: „Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott“ (Gal 4 , 6-7).

Diese paulinische Darlegung des Inkarnationsgeheimnisses enthält die Offenbarung des Geheimnisses der Dreifaltigkeit und der Fortsetzung der Sendung des Sohnes in der Entsendung des Heiligen Geistes. Die Menschwerdung des Gottessohnes, seine Empfängnis, seine Geburt sind die Voraussetzung für die Aussendung des Heiligen Geistes. Der Text des hl. Paulus läßt so die Fülle des Geheimnisses der erlösenden Menschwerdung durch scheinen.

I. « JESUS CHRISTUS IST DERSELBE GESTERN, HEUTE ... » (Hebr 13, 8)

2. Lukas hat uns in seinem Evangelium eine anschauliche Beschreibung der Umstände rund um Jesu Geburt vermittelt: „In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen (. . .). Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war“ (2,1.3-7).

So erfüllte sich, was der Engel Gabriel in der Verkündigung vorausgesagt hatte. An die Jungf rau in Nazaret hatte er sich mit den Wo rten gewandt : „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“ (1,28). Diese Worte hatten Maria beunruhigt, und der göttliche Bote hatte sich deshalb hinzuzufügen beeilt: „Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden (. . .). Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden“ (1, 30-32.35). Marias Antwort auf die Botschaft des Engels war eindeutig: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (1,38). Niemals in der Geschichte des Menschen hing soviel von der Zustimmung der menschlichen Kreatur ab wie damals.<ref> Vgl. Bernhard von Clairvaux, In laudibus Virginis Matris, Homilia IV, 8, Opera omnia, Edit. Cisterc. (1966), 53.</ref>

3. Johannes fasst im Prolog seines Evangeliums die ganze Tiefe des Geheimnisses der Menschwerdung in einem einzigen Satz zusammen: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (1,14). Für Johannes ereignet sich in der Empfängnis und Geburt Jesu die Fleischwerdung des ewigen Wortes, das wesensgleich ist mit dem Vater.

Der Evangelist bezieht sich auf das Wort ,das im Anfang bei Gott war, durch das alles Seiende geworden ist; das Wort, in dem das Leben war, das Leben, das das Licht der Menschen war (vgl. 1, 1-5). Von dem eingeborenen Sohn, Gott von Gott, schreibt der Apostel Paulus, dass er „der Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ war (Kol 1, 15). Gott erschafft die Welt durch das Wort. Das Wort ist die ewige Weisheit; der Gedanke und das Wesensbild Gottes, „Abglanz seiner Herrlichkeit und Abbild seines Wesens“ (Hebr 1,3). Von Ewigkeit her vom Vater gezeugt und geliebt, als Gott von Gott und Licht vom Licht, ist er der Anfang aller von Gott geschaffenen zeitlichen Dinge.

Die Tatsache, dass, als die Zeit erfüllt war, das ewige Wortgeschöpfliche Gestalt angenommen hat, verleiht dem, was sich vor zweitausend Jahren in Betlehem ereignet hat, eine einzigartige kosmische Bedeutung. Dank des Wortes erscheint die kreatürliche Welt als Kosmos, das heißt als geordnetes Universum. Und es ist erneut das Wort, das durch seine Fleischwerdung die kosmische Ordnung der Schöpfung erneuert. Der Brief an die Epheser spricht von dem Plan, den Gott in Christus vorausbestimmt hat: „um die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist“ (1,1 0).

4. Christus, der Erlöser der Welt, ist der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen, und es gibt keinen anderen Namen unter dem Himmel, durch den wir gerettet werden können (vgl. Apg 4, 12). Im Brief an die Epheser lesen wir: „Durch sein Blut haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade. Durch sie hat er uns mit aller Weisheit und Einsicht reich beschenkt (. . .), wie er es gnädig im voraus bestimmt hat: Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen“ (1, 7-10). Christus, der mit dem Vater wesensgleiche Sohn, ist also derjenige, der Gottes Plan in bezug auf die ganze Schöpfung und besonders in bezug auf den Menschen offenbart. Wie das II. Vatikanische Konzil eindrucksvoll formuliert, „ macht er . . . dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine volle Berufung“.<ref>Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22.</ref> Er zeigt ihm diese Berufung durch die Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe. Als „Bild des unsichtbaren Gottes“ ist Christus der vollkommene Mensch, der den Söhnen Adams die Gottebenbildlichkeit wiedergab, die von der Sünde verunstaltet war. In seiner menschlichen Natur, die frei von jeder Sünde ist und in der göttlichen Person des Wortes angenommen wurde, wird die jedem Menschen gemeinsame Natur zu einer erhabenen Würde erhöht: „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit einem menschlichen Willen hat er gehandelt, mit einem menschlichen Herzen geliebt. Geboren aus Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in allem uns gleich außer der Sünde“.<ref>Ebd. </ref>

5. Dieses Ereignis, dass der Sohn Gottes „einer aus uns geworden ist“, hat sich in größter Demut vollzogen, so dass es nicht verwundert, dass die nichtchristliche Geschichtsschreibung, die sich von aufsehenerregenden Ereignissen und prominenteren Persönlichkeiten gefangennehmen ließ, dem Anfang (des Christentums) nur flüchtige, wenn auch bedeutsame Andeutungen gewidmet hat. Hinweise auf Christus finden sich zum Beispiel in der Jüdischen Altertumskunde, einem von dem Historiker Flavius Josephus in den Jahren 93 und 94 in Rom verfassten Werk ,<ref>Vgl. Ant. Iud. 20, 200, wie auch der bekannte und viel diskutierte Abschnitt 18, 63–64. </ref> und vor allem in den zwischen 115 und 120 verfassten Annalen des Tacitus; in ihnen weist der Geschichtsschreiber unter Bezugnahme auf den Brand von Rom im Jahr 64, den Nero fälschlicher weise den Christen angelastet hatte, ausdrücklich auf Christus hin, der „auf Anord nung des Statthalters Pontius Pilatus unter Kaiser Tiberius hingerichtet wurde“.<ref>Annales15, 44, 3. </ref> Auch Sueton informiert uns in der um das Jahr 121 geschriebenen Biographie des Kaisers Claudius über die Vertreibung der Juden aus Rom, weil „sie auf Anstiftung eines gewissen Chrestus hin häufig Unruhen auslösten“.<ref>Vita Claudii, 25, 4. </ref> Unter den Interpreten ist die Überzeugung verbreitet, dass sich dieser Abschnitt auf Jesus Christus bezieht, der zum Anlass für Streit innerhalb des römischen Judentums geworden war. Wichtig ist zum Beweis für die rasche Ausbreitung des Christentums auch das Zeugnis Plinius’ des Jüngeren, Provinzstatthalters von Bithynien, der zwischen 111 und 113 dem Kaiser Trajan berichtet, dass sich eine große Anzahl von Personen „an einem bestimmten Tag vor Tagesanbruch“ zu versammeln pflegte, „um im Wechselgesang einen Hymnus an Christus als einen Gott zu singen“.<ref>Epist. 10, 96. </ref>

Doch sein volles Licht gewinnt das große Ereignis, auf dessen Erwähnung sich die nichtchristlichen Historiker beschränken, in den Schriften des Neuen Testamentes, die zwar Glaubensdokumente sind, aber deshalb in ihren Bezugnahmen insgesamt auch als historische Zeugnisse nicht weniger zuverlässig sind. Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, Herr des Kosmos, ist auch Herr der Geschichte, deren „Alpha und Omega“ (Offb 1,8; 21,6), „Anfang und Ende“ (Offb 21, 6) er ist. In ihm hat der Vater das endgültige Wort über den Menschen und über seine Geschichte gesprochen. Wie es der Hebräerbrief eindrucksvoll zusammenfasst: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn“ (1, 1- 2).

6. Jesus wurde aus dem auserwählten Volk geboren, in Erfüllung der an Abraham ergangenen und von den Propheten immer wieder in Erinnerung gebrachten Verheißung. Diese sprachen jedoch im Namen und an Stelle Gottes. Denn der Heilsplan des Alten Testamentes ist im wesentlichen darauf ausgerichtet, das Kommen Christi, des Erlösers des Alls, und seines messianischen Reiches vorzubereiten und anzukündigen. Die Bücher des Alten Bundes sind somit bleibende Zeugen einer sorgfältigen göttlichen Pädagogik.<ref> Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 15. </ref> In Christus erreicht diese Pädagogik ihr Ziel: Denn er beschränkt sich nicht darauf, „im Namen Gottes“ zu reden wie die Propheten, sondern er ist Gott selbst, der in seinem ewigen Wort, das Fleisch geworden ist, spricht. Wir berühren hier den wesentlichen Punkt, durch den sich das Christentum von allen anderen Religionen unterscheidet, in welchen von Anfang an die Suche nach Gott von seiten des Menschen Ausdruck fand. Im Christentum geht der Anstoß von der Fleischwerdung des Wortes aus. Hier sucht nicht mehr nur der Mensch Gott, sondern Gott kommt in Person, um zum Menschen über sich zu sprechen und ihm den Weg zu zeigen, auf dem er ihn erreichen kann. Genauso wie es der Prolog des Johannesevangeliums verkündet: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (1, 18). Das fleischgewordene Wort ist also die Erfüllung der in allen Religionen der Menschheit vorhandenen Sehnsucht: diese Erfüllung ist Gottes Werk und übersteigt jede menschliche Erwartung. Sie ist Gnadengeheimnis.

In Christus ist die Religion nicht mehr ein „tastendes Suchen“ (vgl. Apg 17, 27), sondern Glaubensantwort an Gott, der sich offenbart: Antwort, in welcher der Mensch zu Gott als seinem Schöpfer und Vater spricht; Antwort, die von jenem einzigen Menschen ermöglicht wurde, der zugleich das Wort, eines Wesens mit dem Vater, ist, in dem Gott zu jedem Menschen spricht und jeder Mensch dazu befähigt wird, Gott zu antworten. Mehr noch, in diesem Menschen antwortet die ganze Schöpfung Gott. Jesus Christus ist der Neuanfang von allem: alles findet sich in ihm wieder, wird aufgenommen und dem Schöpfer zurückgegeben, von dem es seinen Ausgang genommen hat. Auf diese Weise ist Christus die Erfüllung der Sehnsucht aller Religionen der Welt und eben deshalb deren einziger und endgültiger Hafen. Wenn einerseits Gott in Christus über sich zur Menschheit spricht, so sprechen andererseits in demselben Christus die gesamte Menschheit und die ganze Schöpfung über sich zu Gott – ja, sie geben sich Gott hin. So kehrt alles zu seinem Anfang zurück. Jesus Christus ist die Wiederherstellung von allem (vgl. Eph 1,10) und zugleich die Vollendung aller Dinge in Gott: Vollendung, die Gottes Herrlichkeit ist. Die auf Jesus Christus gegründete Religion ist die Religion der Herrlichkeit, sie ist ein Sein in einem neuen Leben „zum Lob der Herrlichkeit“ (Eph 1, 12). Die ganze Schöpfung ist in Wirklichkeit eine Offenbarung seiner Herrlichkeit; besonders der Mensch (vivens homo) ist das Sichtbarwerden der Herrlichkeit Gottes, berufen, aus der Fülle des Lebens in Gott zu leben .

7. In Jesus Christus spricht Gott nicht nur zum Menschen, sondern er sucht ihn. Die Menschwerdung des Sohnes Gottes ist Zeugnis dafür, dass Gott den Menschen sucht. Dieses Suchen meint Jesus, wenn er von der Wiederauffindung des verlorenen Schafes spricht (vgl. Lk 15, 1-7). Es ist eine Suche, die dem Innersten Gottes entspringt und in der Inkarnation des Wortes ihren Höhepunkt erreicht. Wenn Gott auf die Suche nach dem Menschen geht, der nach seinem Bild und Gleichnis geshaffen ist, tut Er das, weil Er ihn von Ewigkeit her in dem Wort liebt und ihn in Christus zur Würde der Sohnschaft erhöhen will. Gott sucht also den Menschen, der in anderer Weise als jede andere Kreatur sein besonderes Eigentum ist. Er ist Eigentum Gottes aufgrund einer Erwählung aus Liebe: Gott sucht den Menschen, gedrängt von seinem väterlichen Herzen .

Warum sucht Er ihn? Weil sich der Mensch von ihm abgewandt hat, indem er sich wie Adam unter den Bäumen des irdischen Paradieses versteckte (vgl. Gen 3, 8-10). Der Mensch hat sich vom Feind Gottes verführen lassen (vgl. Gen 3,13). Satan hat ihn irregeführt, als er ihn überzeugte, er sei selbst Gott und könne wie Gott Gut und Böse erkennen, wenn er die Welt nach seinem eigenen Gutdünken beherrsche, ohne auf den göttlichen Willen Rücksicht nehmen zu müssen (vgl. Gen 3,5). Wenn Gott den Menschen durch den Sohn sucht, will er ihn dazu veranlassen, die Wege des Bösen, in die er immer tiefer hineingerät, aufzugeben. Ihn von jenen Wegen „abbringen“ will heißen, ihm begreiflich zu machen, dass er sich auf Irrwegen befindet; das heißt, das in der menschlichen Geschichte verbreitete Böse überwinden. Überwindung des Bösen: also die Erlösung. Sie verwirklicht sich im Opfer Christi, durch das der Mensch die Schuld der Sünde ablöst und mit Gott versöhnt wird. Der Sohn Gottes ist eben deshalb Mensch geworden, indem er im Schoß der Jungfrau einen Leib und eine Seele annahm: um sich zum vollkommenen Erlösungsopfer zu machen. Die Religion der Menschwerdung ist die Religion der Erlösung der Welt durch das Opfer Christi, das den Sieg über das Böse, über die Sünde und selbst über den Tod einschließt. Als Christus den Tod am Kreuz auf sich nimmt, offenbart und schenkt er gleich zeitig das Leben, da er aufersteht und der Tod keine Macht mehr über ihn hat .

8. Die Religion, die im Geheimnis der erlösenden Menschwerdung ihren Ursprung hat, ist die Religion des „Verweilens in den Tiefen Gottes“, der Teilhabe an seinem inneren Leben. Davon spricht der hl. Paulus in dem eingangs zitierten Abschnitt: „Gott sandte den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater“ (Gal 4, 6). Der Mensch erhebt seine Stimme wie Christus, der sich besonders in Getsemani und am Kreuz „mit lauten Schreien und unter Tränen“ (Hebr 5, 7) an Gott wandte: der Mensch ruft zu Gott, wie Christus gerufen hat, und gibt so Zeugnis davon, dass er an seiner Sohnschaft durch das Wirken des Heiligen Geistes teilhat. Der Heilige Geist, den der Vater im Namen des Sohnes gesandt hat, bewirkt, dass der Mensch am inneren Leben Gottes teilhat. Er bewirkt, dass der Mensch wie Christus auch Sohn ist und Erbe jener Güter, die den Anteil des Sohnes bilden (vgl. Gal 4, 7). Darin besteht die Religion des „Verweilens in der Tiefe des göttlichen Lebens“, die mit der Menschwerdung des Sohnes Gottes beginnt. Der Heilige Geist, der die Tiefen Gottes ergründet (vgl. 1 Kor 2, 10), führt uns, Menschen, kraft des Opfers Christi in diese Tiefen ein.

II. JUBILÄUM DES JAHRES 2000

9. Wenn der hl. Paulus von der Geburt des Gottessohnes spricht, so verlegt er sie in die „Fülle der Zeit“ (vgl. Gal 4, 4). Die Zeit hat sich in Wirklichkeit dadurch erfüllt, dass Gott sich mit der Inkarnation in der Geschichte des Menschen niedergelassen hat. Die Ewigkeit ist in die Zeit eingetreten: Was für eine größere „Erfüllung“ als diese könnte es geben? Was für eine andere „Erfüllung“ wäre möglich? Manche haben an gewisse geheimnisvolle kosmische Zyklen gedacht, in denen sich die Geschichte des Universums und im besonderen des Menschen ständig wiederholen würde. Der Mensch kommt von der Erde und kehrt zur Erde zurück (vgl. Gen 3, 19): das ist die unmittelbar augenfällige Tatsache. Aber im Menschen gibt es ein unbezwingbares Bestreben danach, für immer zu leben. Wie soll man sich sein Weiterleben über den Tod hinaus vorstellen? Einige haben sich verschiedene Formen von Reinkarnation vorgestellt: Je nachdem, wie der Mensch in seiner vorausgegangenen Existenz gelebt hat, würde er solange die Erfahrung einer neuen erhabeneren oder aber einer niedrigeren Existenz machen, bis er die volle Läuterung erlangt. Dieser Glaube, der in einigen orientalischen Religionen stark verwurzelt ist, weist unter anderem darauf hin, dass der Mensch nicht gewillt ist, sich mit der Unwiderruflichkeit des Todes abzufinden. Er ist überzeugt von seiner wesenhaft geistigen und unsterblichen Natur.

Die christliche Offenbarung schließt die Reinkarnation aus und spricht von einer Vollendung, die im Laufe eines einzigen Erdendaseins zu verwirklichen der Mensch berufen ist. Diese Vollendung seines Schicksals erreicht der Mensch in der aufrichtigen Selbsthingabe, einer Hingabe, die nur in der Begegnung mit Gott ermöglicht wird. In Gott findet der Mensch daher seine volle Selbstverwirklichung: Das ist die von Christus geoffenbarte Wahrheit. Der Mensch vollendet sich selbst in Gott, der ihm durch seinen ewigen Sohn entgegengekommen ist. Durch Gottes Kommen auf die Erde hat die mit der Schöpfung begonnene menschliche Zeit ihre Fülle erreicht. Denn „die Fülle der Zeit“ ist nur die Ewigkeit, ja – der Ewige, das heißt Gott. In die „Fülle der Zeit“ eintreten heißt, das Ende der Zeit erreichen und aus ihren Schranken heraustreten, um ihre Vollendung in der Ewigkeit Gottes zu finden.

10. Im Christentum kommt der Zeit eine fundamentale Bedeutung zu. Innerhalb ihrer Dimension wird die Welt erschaffen, in ihrem Umfeld entfaltet sich die Heilsgeschichte, die ihren Höhepunkt in der „Fülle der Zeit“ der Menschwerdung und ihr Ziel in der glorreichen Wiederkunft des Gottessohnes am Ende der Zeiten hat. In Jesus Christus, dem fleischgewordenen Wort, wird die Zeit zu einer Dimension Gottes, der in sich ewig ist. Mit dem Kommen Christi beginnt die „Endzeit“ (vgl. Hebr 1, 2), die „letzte Stunde“ (vgl. 1 Joh 2,18), beginnt die Zeit der Kirche, die bis zu seiner Wiederkunft dauern wird.

Aus diesem Verhältnis Gottes zur Zeit entsteht die Pflicht, sie zu heiligen. Das ist zum Beispiel dann gegeben, wenn einzelne Zeiten, Tage oder Wochen Gott geweiht werden, wie es schon in der Religion des Alten Bundes geschah und im Christentum, wenn auch in neuer Weise, noch immer geschieht. In der Liturgie der Osternacht verkündet der Priester, während er die Kerze, Symbol des auferstandenen Christus, segnet: „Christus gestern und heute, Anfang und Ende, Alpha und Omega. Sein ist die Zeit und die Ewigkeit. Sein ist die Macht und die Herrlichkeit in alle Ewigkeit“. Er spricht diese Worte, während er die Zahl des laufenden Jahres in die Kerze einritzt. Die Bedeutung des Ritus ist unverkennbar: Er macht offenkundig, dass Christus der Herr der Zeit ist; er ist ihr Anfang und ihre Erfüllung; jedes Jahr, jeder Tag und jeder Augenblick werden von seiner Menschwerdung und seiner Auferstehung umfangen und befinden sich auf diese Weise in der „Fülle der Zeit“. Deshalb lebt auch die Kirche und feiert den Gottesdienst innerhalb des Jahreskreises. So wird das Sonnenjahr durchdrungen vom liturgischen Jahr, das, beginnend am ersten Adventssonntag und endend am Hochfest Christi als König und Herr des Universums und der Geschichte, gewissermaßen das Mysterium der Menschwerdung und der Erlösung als Ganzes wiedergibt. Jeder Sonntag erinnert an den Tag der Auferstehung des Herrn .

11. Vor diesem Hintergrund wird der Brauch der Jubeljahre verständlich, der im Alten Testament beginnt und in der Geschichte der Kirche seine Fortsetzung findet. Als Jesus von Nazaret sich eines Tages in die Synagoge seiner Stadt begeben hatte, stand er auf, um aus der Schrift vorzulesen (vgl. Lk 4, 16-30). Man reichte ihm das Buch des Propheten Jesaja, aus dem er die folgende Stelle las: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (vgl. 61, 1-2).

Der Prophet sprach vom Messias. „Heute – fügte Jesus hinzu – hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4, 21), womit er zuverstehen gab, dass eben er der von dem Propheten angekündigte Messias war und dass in ihm die so sehr erwartete „Zeit“ anbrach, die Fülle der Zeit: Der Tag des Heils war gekommen. Alle Jubeljahre beziehen sich auf diese „Zeit“ und betreffen die messianische Sendung Christi, der gekommen ist als der „mit dem Heiligen Geist Gesalbte“, als der „vom Vater Gesandte“. Er soll den Armen die gute Nachricht verkünden. Er soll den Gefangenen die Freiheit bringen, die Unterdrückten befreien, den Blinden das Augenlicht zurückgeben (vgl. Mt 11, 4-5; Lk 7, 22). Auf diese Weise verwirklicht er „ein Gnadenjahr des Herrn“, das er nicht nur durch sein Wort, sondern vor allem durch seine Werke ankündigt. Jubeljahr, das heißt „ein Gnadenjahr des Herrn“, ist das Kennzeichen des Tuns Jesu und nicht nur die chronologische Definition einer bestimmten Wiederkehr.

12. Die Worte und Werke Jesu stellen somit die Erfüllung der gesamten Tradition der Jubeljahre des Alten Testamentes dar. Bekanntlich war das Jubeljahr eine Zeit, die in besonderer Weise Gott gewidmet war. Es fiel laut dem Gesetz des Mose auf jedes siebente Jahr: das war das „Sabbatjahr“, in welchem die Erde ruhen gelassen wurde und die Sklaven freigelassen wurden. Die Verpflichtung zur Freilassung der Sklaven wurde durch detaillierte Vorschriften geregelt, die in den Büchern Exodus (23, 10-11), Levitikus (25, 1-28), Deuteronomium (15, 1-6) enthalten sind, das heißt praktisch in der gesamten biblischen Gesetzgebung, die so diese besondere Dimension erlangt. Außer der Freilassung der Sklaven sah das Gesetz im Sabbatjahr den Nachlaß aller Schulden nach genauen Vorschriften vor. Und das alles sollte zur Ehre Gottes geschehen. Was für das Sabbatjahr zutraf, galt auch für das „ Jubeljahr“, das alle fünfzig Jahre begangen wurde. Im Jubeljahr wurden jedoch die Bräuche des Sabbatjahrs ausgeweitet und noch feierlicher begangen. Wir lesen im Buch Levitikus: „ Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder soll zu seiner Sippe heimkehren “ (25, 10). Eine der gewichtigsten Konsequenzen des Jubeljahres war die generelle „Gleichstellung“ aller freiheitsbedürftigen Bewohner. Aus diesem Anlaß gelangte jeder Israelit wieder in den Besitz des Landes seiner Väter, falls es nach seiner Versklavung verkauft worden oder verloren gegangen war. Er konnte nicht endgültig des Landes beraubt werden, da es Gott gehörte, noch konnten die Israeliten für immer in einem Zustand der Knechtschaft verbleiben, da Gott sie mit ihrer Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten für sich als Alleineigentum „losgekauft“ hatte.

13. Auch wenn die Vorschriften für das Jubeljahr großenteils eine ideale Perspektive blieben – mehr eine Hoffnung als eine konkrete Verwirklichung, die allerdings zu einer prophetia futuri, einer Zukunftsprophezeiung, wurde als Vorankündigung der wahren Befreiung, die vom kommenden Messias vollbracht werden würde –, begann sich auf der Grundlage der in ihnen enthaltenen Rechtsnormen eine bestimmte Soziallehre abzuzeichnen, die dann, beginnend im Neuen Testament, eine deutlichere Entwicklung genommen hat. Das Jubeljahr sollte die Gleichheit zwischen allen Söhnen und Töchtern Israels wiederherstellen, indem es den Sippen, die ihren Besitz und sogar die persönliche Freiheit verloren hatten, neue Möglichkeiten eröffnete. Die Reichen hingegen erinnerte das Jubeljahr daran, dass die Zeit gekommen war, wo die israelitischen Sklaven, die ihnen wieder gleich geworden sind, ihre Rechte würden einfordern können. Man sollte in der vom Gesetz vorgesehenen Zeit ein Jubeljahr ausrufen und so jedem Bedürftigen zu Hilfe kommen. Das erforderte eine gerechte Regierung. Nach dem Gesetz Israels bestand die Gerechtigkeit vor allem in der Beschützung der Schwachen, und ein König sollte sich darin auszeichnen, wie der Psalmist geltend macht: „Denn er rettet den Gebeugten, der um Hilfe schreit, den Armen und den, der keinen Helfer hat . Er erbarmt sich des Gebeugten und Schwachen, er rettet das Leben der Armen“ (Ps 72, 12-13). Die Voraussetzungen einer solchen Tradition waren streng theologisch und standen vor allem im Zusammenhang mit der Schöpfungstheologie und mit der Theologie von der göttlichen Vorsehung. Es war nämlich allgemeine Überzeugung, dass allein Gott als Schöpfer das „dominium altum“, das heißt die Herrschaft über die ganze Schöpfung und im besonderen über die Erde, zustehe (vgl. Lev 2 5, 23) . Wenn Gott in seiner Vorsehung die Erde den Menschen geschenkt hatte, so bedeutete das, dass er sie allen geschenkt hatte. Daher mussten die Reichtümer der Schöpfung als gemeinsames Gut der ganzen Menschheit betrachtet werden. Wer diese Güter als sein Eigentum besaß, war tatsächlich nur deren Verwalter, das heißt ein Diener, der verpflichtet war, im Namen Gottes, des einzigen wahren Eigentümers, zu handeln, denn es ist Gottes Wille, dass die Güter der Schöpfung allen in richtger Weise dienten. Das Jubeljahr sollte eben zur Wiederherstellung auch dieser sozialen Gerechtigkeit dienen. In der Tradition des Jubeljahres hat somit die Soziallehre der Kirche, die sich besonders im letzten Jahrhundert, vor allem seit der Enzyklika Rerum novarum entwickelt hat, eine ihrer Wurzeln .

14. Hervorgehoben werden muss jedoch, was Jesaja mit den Worten „ein Gnadenjahr des Herrn ausrufen“ ausdrückt. Für die Kirche ist das Jubeljahr genau dieses „Gnadenjahr“, ein Jahr des Erlasses der Sünden und der Strafen für die Sünden, ein Jahr der Versöhnung zwischen den Gegnern, ein Jahr vielfältiger Bekehrungen und sakramentaler und außersakramentaler Buße. Die Tradition der Jubeljahre ist daran gebunden, in weit größerem Maße als in anderen Jahren Ablässe zu gewähren. Neben den Jubeljahren, die alle hundert, fünfzig und fünfundzwanzig Jahre an das Mysterium der Menschwerdung erinnern, gibt es jene, die des Ereignisses der Erlösung gedenken: des Kreuzes Christi, seines Todes auf Golgota und seiner Auferstehung. Bei diesen Gelegenheiten ruft die Kirche „ein Gnadenjahr des Herrn“ aus und bemüht sich darum, dass alle Gläubigen reichlicher in den Genuß dieser Gnade gelangen können. Darum werden die Jubeljahre nicht nur „in Urbe“ (in Rom), sondern auch „extra Urbem“ (außerhalb Roms) gefeiert: traditionsgemäß erfolgte das im darauffolgenden Jahr nach der Feier des Jubeljahres „in Urbe“.

15. Im Leben der einzelnen Personen sind die Jubiläen gewöhnlich an das Geburtsdatum gebunden, aber auch die Jahrestage von Taufe, Firmung, Erstkommunion, Priester- oder Bischofsweihe und des Empfangs des Ehesakramentes werden feierlich begangen. Manche dieser Jubiläen haben im weltlichen Milieu eine Entsprechung, aber die Christen schreiben ihnen stets einen religiösen Charakter zu. Denn nach christlicher Auffassung stellt jedes Jubiläum – das 25-jährige oder sogenannte „silberne “ Priester- oder Ehejubiläum ebenso wie das 50-jährige oder „goldene“ oder das 60-jährige oder „diamantene“ – ein besonderes Gnadenjahr für den einzelnen Menschen dar, der eines der genannten Sakramente empfangen hat. Was wir von den Jubiläen von Einzelpersonen gesagt haben, läßt sich auch auf die Gemeinden oder die Institutionen anwenden. So wird also das hundertjährige oder tausendjährige Gründungsjubiläum einer Stadt oder einer Ortsgemeinde begangen. Im kirchlichen Raum feiert man die Jubiläen der Pfarreien oder Diözesen. Allen diesen persönlichen oder Gemeindejubiläen kommt im Leben der einzelnen und der Gemeinden eine wichtige und bedeutsame Rolle zu.

Vor diesem Hintergrund stellt das Jahr zweitausend nach Christi Geburt ( wobei man von einer zeitlich exakten Berechnung absieht) nicht nur für die Christen, sondern in Anbetracht der vorrangigen Rolle, die das Christentum in diesen zwei Jahrtausenden ausgeübt hat, indirekt für die ganze Menschheit ein außerordentlich großes Jubiläum dar. Bezeichnenderweise erfolgt die Berech nung des Ablaufes der Jahre nahezu überall vom Zeitpunkt des Kommens Christi in die Welt an, das so zum Mittelpunkt auch des heute meist gebräuchlichen Kalenders wird. Ist nicht vielleicht auch das ein Zeichen für den unvergleichlichen Beitrag, den die Geburt Jesu von Nazaret zur Universalgeschichte geleistet hat?

16. Der Ausdruck „Jubiläum“ spricht von Freude; nicht nur von innerer Freude, sondern von einem Jubel, der sich auch nach außen hin kundtut, da das Kommen Gottes auch ein äußeres, ein sichtbares, hörbares und greifbares Ereignis ist, wie der hl. Johannes sagt (vgl. 1 Joh 1,1). Es ist daher nur recht und billig, dass jede Freudenbezeugung über dieses Kommen auch ihren äußeren Ausdruck findet. Er soll anzeigen, dass sich die Kirche über die Rettung freut. Sie lädt alle ein, sich zu freuen, und sie bemüht sich um die Herstellung der Voraussetzungen, damit die rettenden Heilskräfte jedem mitgeteilt werden können. Das Jahr zweitausend wird daher das Datum des Großen Jubiläums anzeigen.

Was den Inhalt angeht, wird dieses Große Jubeljahr in gewissem Sinne gleich wie jedes andere sein. Aber zugleich wird es anders artig und größer als jedes andere sein. Denn die Kirche respektiert die Zeitmaße: Stunden, Tage, Jahre, Jahrhunderte. In dieser Hinsicht geht sie mit jedem Menschen im Schritt und macht gleich zeitig einem jeden bewußt, dass jedes dieser Zeitmaße erfüllt ist von der Gegenwart Gottes und seinem Heilswirken. In diesem Geist freut sich die Kirche, dankt, bittet um Vergebung, wenn sie ihre Bitten vor den Herrn der Geschichte und der menschlichen Gewissen trägt.

Unter den dringendsten Bitten dieses außergewöhnlichen Augenblicks angesichts des herannahenden neuen Jahrtausends erfleht die Kirche vom Herrn, dass die Einheit zwischen allen Christen der verschiedenen Konfessionen bis hin zur Erlangung der vollen Gemeinschaft wachsen möge. Ich verleihe dem Wunsch Ausdruck, dass das Jubiläum die geeignete Gelegenheit für ein fruchtbares Zusammenwirken im gemeinsamen Tun all der vielen Dinge sei, die uns einen und die sehr viel mehr sind als diejenigen, die uns trennen. Wie sehr wäre es in dieser Hinsicht hilfreich, wenn in Anerkennung der Programme der einzelnen Kirchen und Gemeinschaften eine ökumenische Verständigung über die Vorbereitung und Verwirklichung des Jubiläums erreicht würde: Diese würde so vor der Welt noch mehr Kraft gewinnen in der Bezeugung des entschiedenen Willens aller Jünger Christi, baldmöglichst die volle Einheit zu erreichen in der Gewißheit, dass „bei Gott nichts unmöglich ist“.

III. DIE VORBEREITUNG DES GROSSEN JUBELJAHRES

17. Jedes Jubiläum in der Geschichte der Kirche ist von der göttlichen Vorsehung vorbereitet. Das gilt auch für das Große Jubiläum des Jahres 2000. In dieser Überzeugung blicken wir heute sowohl mit einem Gefühl der Dankbarkeit wie der Verantwortung auf das, was in der Geschichte der Menschheit seit der Geburt Christi geschehen ist, und vor allem auf die Ereignisse zwischen dem Jahr tausend und dem Jahr zweitausend. Aber ganz besonders wenden wir uns mit dem Blick des Glaubens unserem Jahrhundert zu und suchen darin das, was nicht nur von der Geschichte des Menschen Zeugnis gibt, sondern auch vom göttlichen Eingreifen in die menschlichen Geschicke.

18. Aus dieser Sicht kann man sagen, dass das II. Vatikanische Konzil ein Ereignis der Vorsehung darstellt, durch das die Kirche die unmittelbare re Vorbereitung auf das Jubiläum des Jahres zweitausend in Gang gesetzt hat. Denn es handelt sich um ein Konzil, das zwar den früheren Konzilien ähnlich und doch sehr andersartig ist; ein Konzil, das sich auf das Geheimnis Christi und seiner Kirche konzentriert und zugleich offen ist für die Welt. Diese Öffnung war die evangelische Antwort auf die moderne Evolution der Welt mit den umwälzenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, das von einem Ersten und einem Zweiten Weltkrieg, von der Erfahrung der Konzentrationslager und von entsetzlichen Gemetzeln gepeinigt worden ist. Das Geschehene zeigt mehr denn je, dass die Welt der Läuterung, der Umkehr bedarf.

Man begegnet oft der Meinung, das II. Vatikanische Konzil bezeichne eine neue Epoche im Leben der Kirche. Das ist wahr, aber zugleich ist kaum zu übersehen, dass die Konzilsversammlung viel aus den Erfahrungen und Überlegungen der vorhergehenden Periode geschöpft hat, besonders aus dem gedanklichen Erbe Pius’ XII. In der Geschichte der Kirche sind „das Alte“ und „das Neue“ stets tief miteinander verflochten. Das „Neue“ erwächst aus dem „Alten“, das „Alte“ findet im „Neuen“ einen vollkommeneren Ausdruck. Das traf auch für das II. Vatikanische Konzil und für das Wirken der mit der Konzilsversammlung verbundenen Päpste zu, angefangen von Johannes XXIII., über Paul VI. und Johannes Paul I., bis hin zum gegenwärtigen Papst.

Was von ihnen während und nach dem Konzil vollbracht wurde, das Lehramt ebenso wie das Handeln eines jeden von ihnen, hat sicher einen gewichtigen Beitrag zur Vorbereitung jenes neuen Frühlings christlichen Lebens geleistet, der von dem Großen Jubeljahr offenbar gemacht werden muss, wenn die Christen fügsam sein sollen gegenüber dem Wirken des Heiligen Geistes.

19. Das Konzil hat, auch wenn es nicht die strengen Töne Johannes des Täufers anschlug, als er am Jordanufer zu Buße und Umkehr aufrief (vgl. Lk 3,1-17), an sich etwas von dem alten Propheten zum Ausdruck gebracht, wenn es mit neuer Kraft die heutigen Menschen auf Christus, „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29), den Erlöser des Menschen, den Herrn der Geschichte, hinwies. In der Konzilsversammlung hat sich die Kirche, um ihrem Meister ganz treu zu bleiben, die Frage nach ihrer Identität gestellt und dabei die Tiefe ihres Geheimnisses als Leib und Braut Christi wiederentdeckt. Während sie gehorsam auf das Wort Gottes hörte, hat sie die allgemeine Berufung zur Heiligkeit neu festgestellt; hat sie die Reform der Liturgie, „Quelle und Höhepunkt“ ihres Lebens, vorbereitet; hat sie der Erneuerung vieler Aspekte ihres Lebens auf gesamtkirchlicher Ebene und in den Ortskirchen Auftrieb gegeben; hat sie sich für die Förderung der verschiedenen christlichen Berufe eingesetzt, von der Berufung der Laien bis zu jener der Ordensleute, vom Amt der Diakone bis zu jenem der Priester und Bischöfe; hat sie im besonderen die bischöfliche Kollegialität als bevorzugten Ausdruck des von den Bischöfen in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri ausgeführten pastoralen Dienstes wiederentdeckt. Auf Grund dieser tiefgreifenden Erneuerung hat sich das Konzil den Christen der anderen Konfessionen, den Anhängern anderer Religionen, ja allen Menschen unserer Zeit geöffnet. Bei keinem anderen Konzil hat man mit derartiger Klarheit von der Einheit der Christen, vom Dialog mit den nichtchristlichen Religionen, von der spezifischen Bedeutung des Alten Bundes und Israels, von der Würde des persönlichen Gewissens, vom Prinzip der religiösen Freiheit, von den verschiedenen kulturellen Traditionen, innerhalb welcher die Kirche ihrem Missionsauftrag nachkommt, und von den sozialen Kommunikationsmitteln gesprochen.

20. Eine enorme Fülle von Inhalten und ein neuer, bis dahin nicht gekannter Ton bei der Vorlage dieser Inhalte auf dem Konzil stellen gleichsam eine Ankündigung neuer Zeiten dar. Die Konzilsväter haben in der Sprache des Evangeliums, in der Sprache der Bergpredigt und der Seligpreisungen, gesprochen. In der Konzilsbotschaft wird Gott in seiner absoluten Herrschaft über alle Dinge, aber auch als Garant der authentischen Eigenständigkeit der irdischen Wirklichkeit dargestellt.

Die beste Vorbereitung auf die Jahreswende zweitausend wird nämlich nur in dem erneuerten Einsatz für eine möglichst getreue Anwendung der Lehre des II. Vatikanums auf das Leben jedes einzelnen und der ganzen Kirche Ausdruck finden können. Mit dem Konzil ist gleichsam die unmittelbare Vorbereitung auf das Große Jubeljahr 2000 im weitesten Sinne des Wortes eröffnet worden. Wenn wir nach einer Entsprechung in der Liturgie suchen, könnten wir sagen, die jährliche Liturgie des Advent ist die Zeit, die dem Geist des Konzils am nächsten kommt. Der Advent bereitet uns auf die Begegnung mit dem vor, der war, der ist und der ständig kommt (vgl. Offb 4, 8).

21. Zum Weg der Vorbereitung auf die Begegnung des Jahres 2000 gehört die Reihe von Synoden, die nach dem II. Vatikanischen Konzil ihren Anfang nahm: Generalsynoden und Kontinental-, Regional-, National- und Diözesansynoden. Das Grundthema ist die Evangelisierung, ja die Neuevangelisierung, für das von dem 1975 nach der Dritten Generalversammlung der Bischofssynode veröffentlichten Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi Pauls VI. die Grundlagen gelegt wurden. Diese Synoden gehören schon an und für sich zur Neuevangelisierung: sie entstehen aus der konziliaren Auffassung der Kirche, sie öffnen der Teilnahme der Laien, deren spezifische Verantwortung in der Kirche sie festlegen, einen breiten Raum, sie sind Ausdruck der Kraft, die Christus dem ganzen Volk Gottes geschenkt hat, als er es an seiner messianischen Sendung, also an seiner Sendung als Prophet, Priester und König, beteiligte. Sehr ausdrucksvoll sind diesbezüglich die Aussagen des zweiten Kapitels der dogmatischen Konstitution Lumen gentium. Die Vorbereitung auf das Jubiläumsjahr 2000 erfolgt auf universaler und lokaler Ebene, in der ganzen Kirche, die von einem neuen Bewußtsein des von Christus empfangenen Heilsauftrags beseelt wird. Besonders deutlich offenbart sich dieses Bewußtsein in den nachsynodalen Apostolischen Schreiben, die der Sendung der Laien, der Priesterausbildung, der Katechese, der Familie, der Bedeutung von Buße und Versöhnung im Leben der Kirche und der Menschheit und demnächst dem gottgeweihten Leben gewidmet sind.

22. Besondere Aufgaben und Verantwortlichkeiten im Hinblick auf das Große Jubeljahr 2000 obliegen dem Amt des Bischofs von Rom. Alle Päpste des nunmehr zu Ende gehenden Jahrhunderts haben ihr Tun in irgendeiner Weise unter diese Perspektive gestellt. Mit seinem Programm, alles in Christus zu erneuern, versuchte der hl. Pius X. den tragischen Entwicklungen zuvorzukommen, wie sie die internationale Situation am Beginn des Jahrhunderts zustande kommen ließ. Die Kirche war sich bewußt, dass sie angesichts der Tatsache, dass sich in der heutigen Welt Tendenzen durchsetzen, die gegen den Frieden und die Gerechtigkeit gerichtet sind, entschlossen handeln musste, um derart fundamentale Güter zu fördern und zu verteidigen. Die Päpste der dem Konzil vorausgehenden Jahrzehnte engagierten sich mit großem Einsatz in diesem Sinne, ein jeder aus seinem je besonderen Blickwinkel: Benedikt XV. sah sich der Tragödie des Ersten Weltkriegs gegenüber, Pius XI. musste es mit den Bedrohungen durch die totalitären bzw. die menschliche Freiheit mißachtenden Systemen in Deutschland, Rußland, Italien, Spanien und noch vorher in Mexiko aufnehmen. Pius XII. trat gegen das schwerwiegendste, von der totalen Verachtung der menschlichen Würde verkörperte Unrecht auf, wie es sich während des Zweiten Weltkriegs ereignete. Er bot auch hervorragende Orientierungen für das Entstehen einer neuen Weltordnung nach dem Zusammenbruch der vorhergehenden politischen Systeme.

Außerdem haben die Päpste im Verlauf dieses Jahrhunderts nach dem Beispiel Leos XIII. systematisch die Themen der katholischen Soziallehre wiederaufgenommen und dabei die Eigenarten und Merkmale eines gerechten Systems im Bereich der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital behandelt. Man denke nur an die Enzyklika Quadragesimo anno Pius’ XI., an die zahlreichen Interventionen Pius’ XII., an die Enzykliken Mater et Magistra und Pacem in terris Johannes’ XXIII., an Populorum progressio und das Apostolische Schreiben Octogesima adveniens Pauls VI. Ich selbst bin wiederholt auf dieses Thema zurück gekommen: So habe ich die Enzyklika Laborem exercens insbesondere der Bedeutung der menschlichen Arbeit gewidmet, während ich mit Centesimus annus die Gültigkeit der Lehre von Rerum novarum, auch noch nach hundert Jahren, bestätigen wollte. Vorher hatte ich mit der Enzyklika Sollicitudo rei socialis die kirchliche Soziallehre insgesamt vor dem Hintergrund der Konfrontation zwischen den beiden Ost-West-Blöcken und der Gefahr eines Atomkrieges in systematischer Weise wieder zur Sprache gebracht. Die beiden Elemente der Soziallehre der Kirche – der Schutz der Rechte der Person im Bereich eines gerechten Verhältnisses von Arbeit und Kapital und der Förderung des Friedens – sind sich in diesem Text begegnet und miteinander verschmolzen. Dem Anliegen des Friedens wollen außerdem die jährlichen Botschaften des Papstes zum 1. Januar dienen, die seit 1968, unter Papst Paul VI., veröffentlicht werden.

23. Der derzeitige Pontifex spricht bereits in seinem ersten Dokument ausdrücklich von dem Großen Jubiläum, wenn er dazu auffordert, die Zeit der Erwartung als „einen neuen Advent“ zu leben.<ref>Enzyklika Redemptor hominis (4. März1979), 1: AAS 71 (1979), 258. </ref> Auf dieses Thema ist er dann noch mehrmals zurückgekommen, wobei er in der Enzyklika Dominum et vivificantem<ref> Vgl. Enzyklika Dominum et vivificantem (18. Mai 1986), 49ff.: AAS 78 (1986), 868ff. </ref> ausführlich darauf einging. In der Tat wird die Vorbereitung auf das Jahr 2000 gleichsam zu einem hermeneutischen Schlüssel dieses Pontifkats. Man will gewiß nicht einem neuen Chiliasmus frönen, wie es am Ende des ersten Jahrtausends mitunter geschah; man will jedoch eine besondere Sensibilität für alles wecken, was der Geist der Kirche und den Kirchen (vgl. Offb 2 ,7 ff.) wie auch den einzelnen Menschen durch die Gnadengaben zum Dienst an der ganzen Gemeinschaft sagt. Man will das hervorheben, was der Geist den verschiedenen Gemeinschaften rät, von den kleinsten, wie der Familie, bis hin zu den großen, wie den Nationen und den internationalen Organisationen, wobei die Kulturen und Zivilisationen nicht übergangen werden sollen. Trotz des äußeren Anscheins wartet die Menschheit weiter auf die Offenbarung der Kinder Gottes und lebt von dieser Hoffnung wie eine Mutter, die in Geburtswehen liegt – nach dem kraftvollen Bild, das der hl. Paulus im Brief an die Römer gebraucht (vgl. 8,19-22).

24. Die Pilgerreisen des Papstes sind zu einem wichtigen Element im Einsatz für die Verwirklichung des II. Vatikanischen Konzils geworden. Von Johannes XXIII. am Vorabend der Eröffnung des Konzils mit einer Zeichen setzenden Wallfahrt nach Loreto und Assisi begonnen (1962), haben sie mit Paul VI. eine beachtliche Steigerung erfahren, der sich zunächst ins Heilige Land begab (1964) und dann weitere neun große apostolische Reisen unternahm, die ihn in direkten Kontakt mit der Bevölkerung der verschiedenen Kontinente brachten.

Der derzeitige Pontifex hat dieses Programm noch stark erweitert: am Beginn stand Mexiko aus Anlaß der 1979 in Puebla abgehaltenen III. Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe. Darauf folgte im selben Jahr die Pilgerreise nach Polen während der Jubiläumsfeiern zum 900. Todestag des hl. Bischofs und Märtyrers Stanislaus.

Die weiteren Etappen dieses Pilgerweges sind bekannt. Die Pilgerreisen haben dadurch systematischen Charakter angenommen, dass sie die Teilkirchen in allen Kontinenten erreichen, wobei sorgfältig auf die Entwicklung der ökumenischen Beziehungen zu den Christen der verschiedenen Konfessionen geachtet wird. Unter diesem letztgenannten Gesichtspunkt kommt den Besuchen in der Türkei (1979), in Deutschland (1980), in England, Wales und Schottland (1982), in der Schweiz (1984), in den skandinavischen Ländern (1989) und zuletzt in den baltischen Ländern (1993) eine besondere Bedeutung zu.

Augenblicklich gehört zu den innig ersehnten Reisezielen, außer Sarajewo in Bosnien-Herzegowina, der Nahe Osten: der Libanon, Jerusalem und das Heilige Land. Es wäre von großer Bedeutung, wenn es anläßlich des Jahres 2000 möglich wäre, alle jene Orte zu besuchen, die sich auf dem Weg des Gottesvolkes des Alten Bundes befinden, angefangen von den Stätten Abrahams und Moses, über Ägypten und den Berg Sinai bis nach Damaskus, der Stadt, die Zeugin der Bekehrung des hl. Paulus war.

25. Bei der Vorbereitung auf das Jahr 2000 kommt den einzelnen Kirchen, die mit ihren Jubiläen bedeutsame Abschnitte in der Heilsgeschichte der verschiedenen Völker feiern, eine eigene Rolle zu. Ereignisse von höchster Bedeutsamkeit waren unter diesen lokalen oder regionalen Jubiläen die Tausendjahrfeier der Taufe der Rus’ im Jahr 1988<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Euntes in mundum (25. Januar1988): AAS 80 (1988), 935–956. </ref> sowie die Erinnerung an den Beginn der Evangelisierung des amerikanischen Kontinents vor fünfhundert Jahren: 1492. Neben Ereignissen von so weitreichender Ausstrahlung, wenn auch nicht weltweiter Bedeutung, muss an andere, nicht weniger bedeutsame erinnert werden: zum Beispiel das tausendjährige Jubiläum der Christianisierung Polens 1966 und der Christianisierung Ungarns 1968; das 600-jährige Jubiläum der Christianisierung Litauens 1987; es jähren sich darüber hinaus bald der 1500. Jahrestag der Taufe des Frankenkönigs Chlodwig (496) und der 1400. Ja hrestag der Ankunft des hl. Augustinus in Canterbury (597), mit der die Evangelisierung der angelsächsischen Welt ihren Anfang nahm.

Was Asien betrifft, so wird das Jubeljahr die Gedanken wieder auf den Apostel Thomas lenken, der der Überlieferung nach schon zu Beginn des christlichen Zeitalters die evangelische Botschaft nach Indien gebracht hat, wo dann erst um das Jahr 1500 die Missionare aus Portugal eintreffen sollten. In dieses Jahr fällt das siebenhundertjährige Jubiläum der Evangelisierung Chinas (1294), und wir bereiten uns darauf vor, der Ausbreitung der Missionsarbeit auf den Philippinen mit der Errichtung des Metropolitansitzes Manila (1595) sowie der ersten Märtyrer in Japan vor vierhundert Jahren (1597) zu gedenken.

In Afrika, wo die erste Verkündigung gleich falls in die apostolische Zeit zurückreicht, begehen zusammen mit dem 1650-Jahr-Jubiläum der Bischofsweihe des ersten Bischofs der Äthiopier, des hl. Frumentius (397), und mit dem 500-jährigen Jubiläum des Beginns der Evangelisierung Angolas im alten Königreich Kongo (1591) Nationen wie Kamerun, die Elfenbeinküste, die Zentralafrikanische Republik, Burundi, Burkina-Faso die jeweiligen Jahrhundertfeiern der Ankunft der ersten Missionare in ihren Gebieten. Andere afrikanische Nationen haben das vor kurzem gefeiert.

Wie könnte man sodann die Ostkirchen verschweigen, deren alte Patriarchate sich aus nächster Nähe auf das apostolische Erbe berufen und deren ehrwürdige theologische, liturgische und spirituelle Traditionen einen enormen Reichtum darstellen, der das gemeinsame Gut der gesamten Christenheit ist? Die vielfältigen Jubiläen dieser Kirchen und der Gemeinschaften, die in ihnen den Ursprung ihrer Apostolizität erkennen, rufen die Erinnerung an den Weg Christi durch die Jahrhunderte wach und münden ebenfalls ein in das Große Jubeljahr am Ende des zweiten Jahrtausends.

In diesem Licht besehen, erscheint uns die ganze christliche Geschichte wie ein einziger Strom, dem viele Nebenflüsse ihre Wasser zuführen. Das Jahr 2000 lädt uns ein, mit aufgefrischter Treue und in vertiefter Gemeinsamkeit an den Ufern dieses großen Stromes zusammenzukommen: des großen Stromes der Offenbarung, des Christentums und der Kirche, der seit dem Ereignis, das sich vor zweitausend Jahren in Nazaret und dann in Betlehem zugetragen hat, durch die Geschichte der Menschheit fließt. Es ist wirklich der „Strom“, der, wie es der Psalm ausdrückt, mit seinen „ Wassern die Gottesstadt erquickt“ (46,5).

26. In der Perspektive der Vorbereitung auf das Jahr 2000 liegen auch die Heiligen Jahre, die im letzten Viertel dieses Jahrhunderts gefeiert wurden. Noch frisch in Erinnerung ist das Heilige Jahr, das Papst Paul VI. 1975 ausrief; auf derselben Linie wurde dann 1983 als Jahr der Erlösung begangen. Ein vielleicht noch größeres Echo hat das Marianische Jahr 1987/88 gefunden, das in den einzelnen Ortskirchen, besonders in den Marienheiligtümern der ganzen Welt, höchst erwünscht war und mit tiefer Anteilnahme gefeiert wurde. Die Enzyklika Redemptoris Mater, die damals veröffentlicht wurde, hat die Konzilslehre über die Gegenwart der Gottesmutter im Geheimnis Christi und der Kirche hervorgehoben: Gottes Sohn ist vor zweitausend Jahren durch den Heiligen Geist Mensch geworden und von der unbefleckten Jungfrau Maria geboren worden. Das Marianische Jahr war gleichsam eine Vorwegnahme des Jubeljahres, enthielt es doch vieles von dem, was seinen vollen Ausdruck im Jahr 2000 wird finden müssen.

27. Es fiele einem schwer, nicht hervorzuheben, dass das Marianische Jahr den Ereignissen des Jahres 1989 unmittelbar vorausgegangen ist. Es sind Geschehnisse, die uns wegen ihres Umfanges und besonders wegen ihres raschen Ablaufes in Erstaunen versetzen müssen. Die achtziger Jahre hatten sich in Nachahmung des „kalten Krieges“ mit einer wachsenden Gefahr beladen; das Jahr 1989 hat eine friedliche Lösung mit sich gebracht, die gleichsam die Gestalt einer „organischen“ Entwicklung hatte. In ihrem Licht fühlt man sich veranlaßt, der Enzyklika Rerum novarum eine geradezu prophetische Bedeutung zuzuerkennen: Was Papst Leo XIII. dort über den Kommunismus schreibt, findet in diesen Ereignissen einen genauen Beweis, wie ich in der Enzyklika Centesimus annus<ref> Vgl. Enzyklika Centesimus annus (1. Mai1991), 12: AAS 83 (1991), 807–809. </ref> betont habe. Im übrigen konnte man feststellen, dass in dem Strom der Ereignisse die unsichtbare Hand der Vorsehung mit mütterlicher Sorge am Werke war: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen . . .?“ (Jes 49, 15).

Nach 1989 sind jedoch neue Gefahren und neue Bedrohungen aufgetaucht. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die ernsthafte Gefahr der Nationalismen zutage getreten, wie leider die Vorgänge auf dem Balkan und in anderen, benachbarten Gebieten zeigen. Das zwingt die europäischen Nationen zu einer ernsthaften Gewissensprüfung, in Anerkennung von Schuld und Irrtümern, die im Laufe der Geschichte auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet gegenüber Nationen begangen worden sind, deren Rechte von den imperialistischen Systemen des vorigen wie des jetzigen Jahrhunderts systematisch verletzt worden sind.

28. Gegenwärtig erleben wir gleichsam in ähnlicher Sichtweise wie das Marianische Jahr das Jahr der Familie, dessen Inhalt sich eng mit dem Geheimnis der Inkarnation und mit der eigentlichen Geschichte des Menschen verbindet. Man darf daher die Hoffnung hegen, dass das in Nazaret eingeleitete Jahr der Familie, analog dem Marianischen Jahr, zu einem weiteren, bedeutsamen Abschnitt der Vorbereitung auf das Große Jubeljahr wird.

Unter diesem Gesichtspunkt habe ich ein Schreiben an die Familien gerichtet, in dem ich das Wesen der kirchlichen Lehre über die Familie neu vorlegen wollte, indem ich es sozusagen in jedes Haus und jede Fam ilie hineintrage. Auf dem II. Vatikanischen Konzil hat die Kirche die Aufwertung der Würde der Ehe und der Familie als eine ihrer Aufgaben erkannt.<ref> Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 47–52. </ref> Zur Verwirklichung des Konzils in dieser Hinsicht soll das Jahr der Familie beitragen. Es ist daher notwendig, dass die Vorbereitung auf das Große Jubeljahr in gewisser Weise über jede Familie läuft. Trifft es etwa nicht zu, dass der Sohn Gottes durch eine Familie, die Familie von Nazaret, in die Geschichte des Menschen eintreten wollte?

IV. DIE UNMITTELBARE VORBEREITUNG

29. Vor dem Hintergrund dieses weiten Panoramas erhebt sich die Frage: Kann man für die unmittelbare Vorbereitung des Großen Jubeljahres hypothetisch ein spezifisches Programm von Initiativen annehmen? Tatsächlich weist das oben Gesagte bereits einige Elemente eines solchen Programmes auf.

Eine eingehendere Voraussicht von „ad-hoc“-Initiativen muss, um nicht künstlich und in den einzelnen Kirchen mit ihren so unterschiedlichen Lebensbedingungen schwer anwendbar zu sein, aus einer breit angelegten Konsultation erwachsen. Im Bewußtsein dieser Tatsache habe ich im Hinblick darauf die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen und insbesondere die Kardinäle zu Rate gezogen.

Dankbar bin ich den verehrten Mitgliedern des Kardinalskollegiums, die anläßlich ihrer Versammlung zum Außerordentlichen Konsistorium am 13. und 14. Juni 1994 diesbezüglich zahlreiche Vorschläge ausgearbeitet und nützliche Orientierungen empfohlen haben. Desgleichen danke ich den Brüdern im Bischofsamt, die es verschiedentlich nicht versäumt haben, mir wertvolle Ratschläge zukommen zu lassen, die ich bei der Abfassung dieses Apostolischen Schreibens sehr wohl vor Augen hatte.

30. Ein erster Hinweis, der sich aus der Konsultation klar ergeben hat, bezieht sich auf die Zeiten der Vorbereitung. Bis zum Jahr 2000 fehlen nur mehr wenige Jahre: Es schien angebracht, diese Periode in zwei Phasen zu gliedern, wobei man die eigentliche Vorbereitungsphase den letzten drei Jahren vorbehält. Man ist nämlich der Meinung, dass eine längere Periode schließlich zu einer Anhäufung extremer Inhalte führen und damit die geistliche Spannung dämpfen würde.

Man hat es daher für zweckmäßig gehalten, sich dem historischen Datum mit einer ersten Phase der Sensibilisierung der Gläubigen über allgemeinere Themenbereiche zu nähern, um dann die direkte und unmittelbare Vorbereitung auf eine zweite, eben jene dreijährige Phase zu konzentrieren, die ganz auf die Feier des Geheimnisses Christi, des Erlösers, ausgerichtet sein soll.

a) Erste Phase

31. Die erste Phase wird also vor-vorbereitenden Charakter haben: Sie soll dazu dienen, im christlichen Volk das Bewußtsein für den Wert und die Bedeutung wiederzubeleben, die das Jubeljahr 2000 in der menschlichen Geschichte hat. Während es mit der Erinnerung an die Geburt Christi einhergeht, ist es innerlich von einer christologischen Prägung gekennzeichnet.

Entsprechend der Gliederung des christlichen Glaubens in Wort und Sakrament scheint es wichtig, auch bei diesem einzigartigen Jubiläum die Struktur der Erinnerung mit jener der Feier dadurch zu verbinden, dass man sich nicht darauf beschränkt, des Ereignisses nur begriffsmäßig zu gedenken, sondern durch die sakramentale Aktualisierung auf seinen Heilswert hinweist. Das Jubiläumsgedenken soll in den heutigen Christen den Glauben an Gott, der sich in Christus geoffenbart hat, festigen, ihre auf die Erwartung des ewigen Lebens ausgerichtete Hoffnung stärken, ihre im Dienst an den Brüdern tätig engagierte Liebe wiederbeleben.

Im Laufe der ersten Phase (von 1994 bis 1996) wird es der Heilige Stuhl, auch dank der Schaffung eines eigenen Komitees, nicht versäumen, einige Denk- und Handlungslinien auf universaler Ebene zu empfehlen, während von ähnlichen Kommissionen in den Ortskirchen ein entsprechendes Engagement der Sensibilisierung, wenn auch engmaschiger, entfaltet werden soll. Es geht gewissermaßen darum, das weiterzuführen, was in der zurückliegenden Vorbereitung verwirklicht worden ist, und gleichzeitig die kennzeichnendsten Aspekte des Jubiläumsereignisses zu vertiefen.

32. Das Jubeljahr ist immer eine Zeit besonderer Gnade, „ein vom Herrn gesegneter Tag“: als solcher ist – wie schon hervorgehoben – sein Charakter von Freude geprägt. Das Jubeljahr 2000 soll ein großes Lob- und Dankgebet vor allem für das Geschenk der Menschwerdung des Gottessohnes und der von ihm vollbrachten Erlösung sein. Im Jubeljahr sollen die Christen mit neuem gläubigem Erstaunen auftreten angesichts der Liebe des Vaters, der seinen Sohn hingegeben hat, „damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3, 16). Außerdem sollen sie mit tiefer innerer Beteiligung ihren Dank für das Geschenk der Kirche darbringen, die von Christus als „das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“,<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 1. </ref> gegründet worden ist. Ihr Dank soll sich schließlich auf die Früchte der Heiligkeit ausweiten, welche im Leben der vielen Männer und Frauen herangereift sind, die in jeder Generation und in jeder Geschichtsepoche das Geschenk der Erlösung vorbehaltlos anzunehmen vermochten.

Doch die Freude jedes Jubeljahres ist in besonderer Weise eine Freude über den Nachlaß der Schuld, die Freude der Umkehr. Es erscheint daher angebracht, abermals das Thema der Bischofssynode von 1984, nämlich Buße und Versöhnung,<ref> Vgl. Apostolisches Schreiben Reconciliatio et paenitentia (2. Dezember 1984): AAS 77 (1985), 185–275. </ref> in den Vordergrund zu stellen. Jene Synode war ein äußerst bedeutsames Ereignis in der Geschichte der nachkonziliaren Kirche. Sie griff die stets aktuelle Frage der Umkehr („metanoia“) wieder auf, die die Vorbedingung für die Versöhnung sowohl der einzelnen wie der Gemeinschaft mit Gott ist.

33. Zu Recht nimmt sich daher die Kirche, während sich das zweite christliche Jahrtausend seinem Ende zuneigt, mit stärkerer Bewußtheit der Schuld ihrer Söhne und Töchter an, eingedenk aller jener Vorkommnisse im Laufe der Geschichte, wo diese sich vom Geist Christi und seines Evangeliums dadurch entfernt haben, dass sie der Welt statt eines an den Werten des Glaubens inspirierten Lebenszeugnisses den Anblick von Denk- und Handlungsweisen boten, die geradezu Formen eines Gegenzeugnisses und Skandals darstellten.

Obwohl die Kirche durch ihr Einverleibtsein in Christus heilig ist, wird sie nicht müde, Buße zu tun: sie anerkennt immer, vor Gott und vor den Menschen, die Sünder als ihre Söhne. In diesem Zusammenhang heißt es in Lumen gentium: „Die Kirche umfasst die Sünde in ihrem eigenen Schoße. Sie ist zugleich heilig und der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 8. </ref>

Die Heilige Pforte des Jubeljahres 2000 wird in symbolischer Hinsicht größer sein müssen als die vorhergehenden, weil die Menschheit, wenn sie an jenem Ziel angekommen ist, nicht nur ein Jahrhundert, sondern ein Jahrtausend hinter sich gelassen hat. Es ist gut, dass die Kirche diesen Weg im klaren Bewußtsein dessen einschlägt, was sie im Lauf der letzten zehn Jahrhunderte erlebt hat. Sie kann nicht die Schwelle des neuen Jahrtausends überschreiten, ohne ihre Kinder dazu anzuhalten, sich durch Reue von Irrungen, Treulosigkeiten, Inkonsequenzen und Verspätungen zu reinigen. Das Eingestehen des Versagens von gestern ist ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes, der uns dadurch unseren Glauben zu stärken hilft, dass er uns aufmerksam und bereit macht, uns mit den Versuchungen und Schwierigkeiten von heute auseinanderzusetzen.

34. Zu den Sünden, die einen größeren Einsatz an Buße und Umkehr verlangen, müssen sicher jene gezählt werden, die die von Gott für sein Volk gewollte Einheit beeinträchtigt haben. Mehr noch als im ersten Jahrtausend hat die kirchliche Gemeinschaft im Verlauf des nun zu Ende gehenden Jahrtausends „oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten“<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, 3. </ref> schmerzliche Trennungen erlebt, die offenkundig dem Willen Christi widersprechen und der Welt ein Ärgernis sind.<ref>Vgl. edb., 1. </ref> Diese Sünden der Vergangenheit lassen ihre Last leider noch immer spüren und bestehen als dieselben Versuchungen auch in der Gegenwart weiter. Dafür gilt es, Wiedergutmachung zu leisten, indem Christus inständig um Vergebung angerufen wird.

In diesem letzten Abschnitt des Jahrtausends muss sich die Kirche tiefbetrübt und mit inständiger Bitte an den Heiligen Geist wenden und von ihm die Gnade der Einheit der Christen erflehen. Das ist ein entscheidendes Problem für das evangelische Zeugnis in der Welt. Vor allem nach dem II. Vatikanischen Konzil sind großzügig und engagiert viele ökumenische Initiativen ergriffen worden: die gesamte Aktivität der Ortskirchen und des Apostolischen Stuhls hat in diesen Jahren sozusagen einen ökumenischen Atem angenommen. Der Päpstliche Rat für die Förderung der Einheit der Christen ist zu einem der wichtigsten Zentren geworden, die den Prozess vorantreiben, der die volle Einheit zum Ziel hat .

Wir sind uns freilich alle bewußt, dass die Erreichung dieses Zieles nicht allein Frucht menschlicher Anstrengungen sein kann, auch wenn diese unerläßlich sind. Die Einheit ist schließlich Gabe des Heiligen Geistes. Von uns wird verlangt, dieser Gabe dadurch zu entsprechen, dass wir Leichtfertigkeiten und Unterlassungen im Zeugnis für die Wahrheit nicht nachsichtig übergehen, sondern die vom Konzil und von den nachfolgenden Dokumenten des Heiligen Stuhls vorgezeichneten Richtlinien und Weisungen, die auch von vielen Christen, die nicht in der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, geschätzt werden, großzügig in die Tat umsetzen.

Hier liegt also eine der Aufgaben der Christen auf dem Weg zum Jahr 2000. Das Herannahen des Endes des zweiten Jahrtausends spornt alle zu einer Gewissensprüfung und zu passenden ökumenischen Initiativen an, so dass man im Großen Jubeljahr, wenn schon nicht in völliger Einheit, so wenigstens in der Zuversicht auftreten kann, der Überwindung der Spaltungen des zweiten Jahrtausends sehr nahe zu sein. Dazu bedarf es – das sieht jeder – einer enormen Anstrengung. Man muss den Dialog über die Lehre fortsetzen, sich aber vor allem stärker dem ökumenischen Gebet widmen. Dieses wurde nach dem Konzil sehr verstärkt, muss aber noch weiter anwachsen und immer mehr die Christen mit einbeziehen, in Übereinstimmung mit der großen Fürbitte Christi vor seiner Passion: „Alle sollen eins sein, . . . Vater“ (Joh 17, 21).

35. Ein anderes schmerzliches Kapitel, auf das die Kinder der Kirche mit reuebereitem Herzen zurückkommen müssen, stellt die besonders in manchen Jahrhunderten an den Tag gelegte Nachgiebigkeit angesichts von Methoden der Intoleranz oder sogar Gewalt im Dienst an der Wahrheitdar.

Zwar kann ein korrektes historisches Urteil nicht von einer sorgfältigen Berücksichtigung der kulturellen Bedingungen der jeweiligen Epoche absehen, unter deren Einfluß viele in gutem Glauben angenommen haben mögen, dass ein glaubwürdiges Zeugnis für die Wahrheit mit dem Ersticken der Meinung des anderen oder zumindest mit seiner Ausgrenzung einhergehen müsste. Oft trafen vielfältige Gründe zusammen, die die Voraussetzungen für Intoleranz schufen, indem sie ein Klima des leidenschaftlichen Fanatismus schürten, dem sich nur große, wahrhaft freie und von Gott erfüllte Geister irgendwie zu entziehen vermochten. Doch die Berücksichtigung der mildernden Umstände entbindet die Kirche nicht von der Pflicht, zutiefst die Schwachheit so vieler ihrer Söhne zu bedauern, die das Antlitz der Kirche dadurch entstellten, dass sie sie hinderten, das Abbild ihres gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen geduldiger Liebe und demütiger Sanftmut widerzuspiegeln. Aus jenen schmerzlichen Zügen der Vergangenheit ergibt sich eine Lektion für die Zukunft, die jeden Christen veranlassen muss, sich ganz fest an das vom Konzil geltend gemachte goldene Prinzip zu halten: „Die Wahrheit erhebt nicht anders Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt“.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, Nr. 1. </ref>

36. Eine ernsthafte Gewissensprüfung wurde von zahlreichen Kardinälen und Bischöfen vor allem für die Kirche der Gegenwart gewünscht. An der Schwelle des neuen Jahrtausends müssen die Christen demütig vor den Herrn treten, um sich nach den Verantwortlichkeiten zu fragen, die auch sie angesichts der Übel unserer Zeit haben. Denn die gegenwärtige Epoche weist neben vielen Licht- auch nicht wenige Schattenseiten auf.

Kann man zum Beispiel die religiöse Gleichgültigkeit verschweigen, die viele Menschen heute dahin bringt, zu leben, als ob es Gott nicht gäbe, oder sich mit einer vagen Religiosität zufriedenzugeben, die außerstande ist, es mit dem Problem der Wahrheit und mit der Pflicht zur Kohärenz aufzunehmen? Damit in Verbindung gebracht werden müssen auch der verbreitete Verlust des transzendenten Sinnes der menschlichen Existenz und die Verwirrung im ethischen Bereich sogar bei den Grundwerten der Achtung des Lebens und der Familie. Eine Prüfung scheint auch für die Söhne und Töchter der Kirche geboten: Inwieweit sind auch sie von der Atmosphäre des Säkularismus und ethischen Relativismus betroffen? Und wieviel Verantwortung an dem überhandnehmenden areligiösen Verhalten müssen auch sie zugeben, weil sie „durch die Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens“<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 19. </ref> nicht das wahre Antlitz Gottes offenbar gemacht haben?

In der Tat kann man nicht leugnen, dass das spirituelle Leben bei vielen Christen eine Zeit der Unsicherheit durchmacht, von der nicht nur das sittliche Leben, sondern auch das Gebet und selbst die theologische Zuverlässigkeit des Glaubens betroffen sind. In Verwirrung gerät der Glaube, der bereits von der Auseinandersetzung mit der heutigen Zeit auf die Probe gestellt worden ist, bisweilen durch irrige theologische Richtungen, die sich auch wegen der Gehorsamskrise gegenüber dem Lehramt der Kirche verbreiten.

Und muss man, was das Zeugnis der Kirche in unserer Zeit betrifft, nicht Schmerz empfinden über das mitunter sogar zu Willfährigkeit gewordene mangelnde Unterscheidungsvermögen vieler Christen angesichts der Vergewaltigung menschlicher Grundrechte durch totalitäre Regime? Und muss man unter den Schatten der Gegenwart etwa nicht die Mitverantwortung vieler Christen an schwerwiegenden Formen von Ungerechtigkeit und sozialer Ausgrenzung beklagen? Man muss sich fragen, wie viele von ihnen die Weisungen der kirchlichen Soziallehre gründlich kennen und konsequent praktizieren.

Die Gewissensprüfung darf auch die Annahme des Konzils, dieses großartigen Geschenks des Geistes an die Kirche gegen Ende des zweiten Jahrtausends, nicht unberücksichtigt lassen. Ist das Wort Gottes in vollem Ausmaß zur Seele der Theologie und Inspiration des ganzen christlichen Daseins geworden, wie es Dei Verbum forderte? Wird die Liturgie, gemäß der Lehre von Sacrosanctum Concilium, als „Quelle und Höhepunkt“ des kirchlichen Lebens gelebt? Wird in der Universalkirche und in den Teilkirchen die Communio-Ekklesiologie von Lumen gentium dadurch gefestigt, dass man den Charismen, den Diensten und den verschiedenen Formen der Teilnahme des Gottesvolkes Raum gibt, ohne deshalb einem Demokratizismus oder einem Soziologismus zu frönen, der nicht die katholische Sichtweise der Kirche und den wahren Geist des II. Vatikanums widerspiegelt? Eine Lebensfrage muss auch dem Stil der Beziehungen zwischen Kirche und Welt gelten. Die – in Gaudium et spes und in anderen Dokumenten gebotenen – Konzilsanweisungen bezüglich eines offenen, achtungsvollen und herzlichen Dialogs, der jedoch von einer sorgfältigen Unterscheidung und von dem mutigen Zeugnis der Wahrheit begleitet sein soll, bleiben gültig und rufen uns zu weiterem Engagement auf.

37. Die Kirche des ersten Jahrtausends ist aus dem Blut der Märtyrer entstanden: „Sanguis martyrum – semen christianorum“.<ref>Tertullian, Apologeticum, 50, 13: CCL I, 171. </ref> Die geschichtlichen Ereignisse im Zusammenhang mit der Gestalt Konstantins des Großen hätten niemals eine Entwicklung der Kirche, wie sie im ersten Jahrtausend eintrat, gewährleisten können, wenn es nicht jene Märtyrersaat und jenes Erbe an Heiligkeit gegeben hätte, die die ersten Christengenerationen kennzeichnen. Am Ende des zweiten Jahrtausends ist die Kirche erneut zur Märtyrerkirche geworden. Die Verfolgung von Gläubigen – Priestern, Ordensleuten und Laien – hat in verschiedenen Teilen der Welt eine reiche Saat von Märtyrern bewirkt. Das Zeugnis für Christus bis hin zum Blutvergießen ist zum gemeinsamen Erbe von Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten geworden, wie schon Paul VI. in der Homilie bei der Heiligsprechung der Märtyrer von Uganda betonte.<ref>AAS 56 (1964), 906. </ref>

Das ist ein Zeugnis, das nicht vergessen werden darf. Die Kirche der ersten Jahrhunderte war, obwohl sie auf beträchtliche organisatorische Schwierigkeiten stieß, darum bemüht, das Zeugnis der Märtyrer in eigenen Martyrologien festzuhalten. Diese Martyrologien wurden die Jahrhunderte hindurch ständig auf den letzten Stand gebracht, und in das Verzeichnis der Heiligen und Seligen der Kirche haben nicht nur diejenigen Eingang gefunden, die für Christus ihr Blut vergossen haben, sondern auch Glaubenslehrer, Missionare, Bekenner, Bischöfe, Priester, Jungfrauen, Eheleute, Witwen, Kinder.

In unserem Jahrhundert sind die Märtyrer zurückgekehrt, häufig unbekannt, gleichsam „unbekannte Soldaten“ der großen Sache Gottes. Soweit als möglich dürfen ihre Zeugnisse in der Kirche nicht verlorengehen. Wie beim Konsistorium empfohlen wurde, muss von den Ortskirchen alles unternommen werden, um durch das Anlegen der notwendigen Dokumentation nicht die Erinnerung zu verlieren an diejenigen, die das Martyrium erlitten haben. Dies sollte auch einen ökumenisch beredten Zug haben. Der Ökumenismus der Heiligen, der Märtyrer, ist vielleicht am überzeugendsten. Die communio sanctorum, Gemeinschaft der Heiligen, spricht mit lauterer Stimme als die Urheber von Spaltungen. Das Martyrologium der ersten Jahrhunderte stellte die Grundlage für die Heiligenverehrung dar. Durch die Verkündigung und Verehrung der Heiligkeit ihrer Söhne und Töchter erwies die Kirche Gott selbst die höchste Ehre; in den Märtyrern verehrte sie Christus, den Ursprung ihres Martyriums und ihrer Heiligkeit. In der Folge hat sich die Praxis der Heiligsprechung herausgebildet, die in der katholischen Kirche und in den orthodoxen Kirchen noch immer besteht. In diesen Jahren haben sich die Heilig- und Seligsprechungen vermehrt. Sie offenbaren die Lebendigkeit der Ortskirchen, die heute viel zahlreicher sind als in den ersten Jahrhunderten und im ersten Jahrtausend. Die größte Verehrung, die alle Kirchen an der Schwelle des dritten Jahrtausends Christus darbringen werden, wird der Beweis der allmächtigen Gegenwart des Erlösers durch die Früchte von Glaube, Hoffnung und Liebe in Männern und Frauen vieler Sprachen und Rassen sein, die Christus in den verschiedenen Formen der christlichen Berufung nachgefolgt sind.

Aufgabe des Apostolischen Stuhls im Hinblick auf das Jahr 2000 wird es sein, die Martyrologien für die Universalkirche auf den letzten Stand zu bringen und dabei die große Aufmerksamkeit auf die Heiligkeit derer zu richten, die auch in unserer Zeit die volle Wahrheit Christi gelebt haben. In besonderer Weise wird man sich hier um die Anerkennung der heroischen Tugenden von Männern und Frauen bemühen, die ihre Berufung in der Ehe verwirklicht haben: Da wir überzeugt sind, dass es in diesem Stand nicht an Früchten der Heiligkeit mangelt, empfinden wir das Bedürfnis, die geeigneten Wege dafür zu finden, dass diese Heiligkeit festgestellt und der Kirche als Vorbild für die anderen christlichen Eheleute vorgestellt werden kann.

38. Eine weitere, von den Kardinälen und Bischöfen hervorgehobene Forderung ist die nach anderen Synoden mit kontinentalem Charakter auf der Linie der bereits für Europa und Afrika gefeierten. Die letzte Generalkonferenz der lateinamerikanischen Bischöfe hat im Einklang mit den nordamerikanischen Bischöfen den Vorschlag zu einer Synode für Amerika angenommen: über die Problematik der Neuevangelisierung in zwei nach Ursprung und Geschichte voneinander so verschiedenen Teilen ein und desselben Kontinents und über die Themenbereiche Gerechtigkeit und internationale Wirtschaftsbeziehungen unter Berücksichtigung des enormen Unterschiedes zwischen dem Norden und dem Süden.

Ein weiterer Plan für eine Kontinentalsynode wird Asien betreffen, wo die Frage der Begegnung des Christentums mit den ältesten Kulturen und Lokalreligionen am ausgeprägtesten ist. Das ist eine große Herausforderung für die Evangelisierung, dass religiöse Systeme wie der Buddhismus oder der Hinduismus mit einem klaren Erlösungscharakter auftreten. Es besteht also das dringende Bedürfnis nach einer Synode anläßlich des Großen Jubeljahres, die die Wahrheit über Christus als einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen und einzigen Erlöser der Welt erläutern und vertiefen soll, indem sie ihn klar von den Stiftern anderer großer Religionen unterscheidet, in denen auch Wahrheitselemente zu finden sind, welche die Kirche mit aufrichtiger Achtung betrachtet und darin einen Strahl jener Wahrheit erkennt, die alle Menschen erleuchtet.<ref> Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 2. </ref> Im Jahr 2000 wird mit neuer Kraft die Verkündigung der Wahrheit wieder erschallen müssen: Ecce natus est nobis Salvator mundi.

Auch für Ozeanien könnte eine Regionalsynode nützlich sein. Auf diesem Kontinent findet sich unter anderem eine Bevölkerung von Ureinwohnern, die auf einzigartige Weise einige Aspekte der Vorgeschichte des Menschengeschlechts beschwört, weil ihre Anfänge bis einige zehntausend Jahre vor Christus zurückreichen. Bei dieser Synode wäre also neben anderen Problemen des Kontinentes ein nicht zu übergehendes Thema die Begegnung des Christentums mit jenen ältesten Formen der Religiösität, die bezeichnenderweise von einer Ausrichtung auf den Monotheismus gekennzeichnet sind.

b) Zweite Phase

39. Auf der Grundlage dieser umfassenden Sensibilisierungsaktion wird es dann möglich sein, an die zweite, also die eigentliche Vorbereitungsphase heranzugehen. Sie wird sich in einem Zeitbogen von drei Jahren, von 1997 bis 1999, entfalten. Die ideale Struktur für diese drei Jahre, die ganz auf Christus, den Mensch gewordenen Sohn Gottes, eingestellt sind, kann nur theologisch, das heißt trinitarisch sein.

1. Jahr: Jesus Christus

40. Das erste Jahr, 1997, wird daher der Reflexion über Christus gewidmet sein: Wort des Vaters, Mensch geworden durch das Wirken des Heiligen Geistes. Denn herausgestellt werden muss der unverkennbar christologische Charakter des Jubeljahres, das die Menschwerdung des Gottessohnes und sein Kommen in die Welt als Heilsmysterium für das ganze Menschengeschlecht feiern wird. Das Generalthema, von vielen Kardinälen und Bischöfen vorgeschlagen, lautet: „Jesus Christus, alleiniger Retter der Welt, gestern, heute und in Ewigkeit“ (vgl. Hebr 13, 8).

Unter den im Konsistorium dargelegten christologischen Inhalten ragen die folgenden heraus: Wiederentdeckung Christi als Retter und Verkünder des Evangeliums mit besonderer Bezugnahme auf das vierte Kapitel des Lukasevangeliums, wo das Thema von dem zu Verkündigung und Bekehrung entsandten Christus und das Thema Jubeljahr miteinander verknüpft werden; Vertiefung seiner Menschwerdung und seiner Geburt aus dem jungfräulichen Schoß Mariens; Notwendigkeit des Glaubens an Ihn für die Rettung. Um die wahre Identität Christi zu erkennen, sollten die Christen, insbesondere im Verlauf dieses Jahres, mit erneutem Interesse zur Bibel zurückkehren, „einmal in der mit göttlichen Worten gesättigten heiligen Liturgie, dann in frommer Lesung oder auch durch geeignete Institutionen und andere Hilfsmittel“.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 25. </ref> Denn in dem geoffenbarten Text ist es der himmlische Vater selbst, der uns liebevoll begegnet und mit uns redet, indem er uns das Wesen des eingeborenen Sohnes und seinen Heilsplan für die Menschheit kundtut.<ref> Vgl. ebd., 2. </ref>

41. Das oben angedeutete Bemühen um sakramentale Aktualisierung im Laufe dieses ersten Jahres wird sich auf die Wiederentdeckung der Taufe als Grundlage der christlichen Existenz stützen können, entsprechend dem Wort des Apostels: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angelegt“ (Gal 3, 27). Der Katechismus der Katholischen Kirche erinnert seinerseits daran, dass die Taufe „die Grundlage der Gemeinschaft aller Christen (bildet), auch mit jenen, die noch nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen stehen“.<ref> Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1271. </ref> Gerade unter der ökumenischen Ausrichtung wird das ein sehr wichtiges Jahr dafür sein, gemeinsam den Blick auf Christus, den einzigen Herrn, zu richten in dem eifrigen Bemühen, in Ihm eins zu werden gemäß seinem Gebet zum Vater. Die Hervorhebung der zentralen Stellung Christi, des Wortes Gottes und des Glaubens sollte es nicht verabsäumen, in den Christen anderer Konfessionen Interesse und günstige Aufnahme zu wecken.

42. Alles wird das vorrangige Ziel des Jubeljahres anstreben müssen, nämlich die Stärkung des Glaubens und des Zeugnisses der Christen. Damit dieses Zeugnis wirksam ist, muss in jedem Gläubigen eine echte Sehnsucht nach Heiligkeit geweckt werden, ein starkes Verlangen nach Umkehr und persönlicher Erneuerung in einem Klima immer intensiveren Betens und solidarischer Annahme des Nächsten, besonders des am meisten Bedürftigen.

Das erste Jahr wird daher der günstige Augenblick sein für die Wiederentdeckung der Katechese in ihrem ursprünglichen Bedeutungswert als „Lehre der Apostel“ (Apg 2, 42) über die Person Jesu Christi und sein Heilsgeheimnis. Als sehr nützlich zu diesem Zweck wird sich die Vertiefung des Katechismus der Katholischen Kirche erweisen, der „getreu und organisch die Lehre der Heiligen Schrift, der lebendigen Überlieferung in der Kirche und des authentischen Lehramtes, ebenso wie das geistliche Erbe der Väter, der heiligen Männer und Frauen der Kirche, (darstellt), um das christliche Geheimnis besser erkennen zu lassen und den Glauben des Volkes Gottes neu zu verlebendigen“.<ref> Apostolische Konstitution Fidei depositum (11. Oktober1992). </ref> Um realistisch zu sein, wird man es nicht unterlassen dürfen, die Gläubigen über die Irrtümer bezüglich der Person Christi dadurch aufzuklären, dass man die Widerstände gegen Ihn und gegen die Kirche ins rechte Licht rückt.

43. Die selige Jungfrau Maria, die während der ganzen Vorbereitungsphase sozusagen „transversal“ gegenwärtig sein wird, soll in diesem ersten Jahr vor allem im Geheimnis der göttlichen Mutterschaft betrachtet werden. In ihrem Leib hat das Wort Fleisch angenommen! Die Aussage über die zentrale Stellung Christi kann also nicht getrennt werden von der Anerkennung der Rolle, die seine heilige Mutter gespielt hat. Recht besehen, kann ihre Verehrung auf keinerlei Weise der „Würde und Wirksamkeit Christi, des einzigen Mittlers“, zum Schaden gereichen.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 62. </ref> Maria weist fortwährend auf ihren göttlichen Sohn hin und stellt ihn allen Gläubigen als Vorbild gelebten Glaubens vor Augen. „Indem die Kirche über Maria in frommer Erwägung nachdenkt und sie im Licht des menschgewordenen Wortes betrachtet, dringt sie verehrend in das erhabene Geheimnis der Menschwerdung tiefer ein und wird ihrem Bräutigam mehr und mehr gleichgestaltet“.<ref> Ebd., 65. </ref>

II. Jahr: Heiliger Geist

44. 1998, das zweite Jahr der Vorbereitungsphase, wird in besonderer Weise dem Heiligen Geist und seiner heiligmachenden Anwesenheit in der Gemeinschaft der Jünger Christi gewidmet sein. „Das große Jubiläum am Ende des zweiten Jahrtausends – so schrieb ich in der Enzyklika Dominum et vivificantem – (...) hat eine pneumatologische Ausrichtung; denn das Geheimnis der Menschwerdung vollzog sich ,durch das Wirken des Heiligen Geistes‘. Es wurde ,gewirkt‘ durch jenen Geist, der – eines Wesens mit dem Vater und dem Sohn – im absoluten Geheimnis des dreieinigen Gottes die ,Liebe in Person‘ ist, das ungeschaffene Geschenk, das die ewige Quelle allen Schenkens Gottes in der Schöpfungsordnung ist sowie unmittelbarer Ursprung und gewissermaßen Subjekt der Selbstmitteilung Gottes in der Gnadenordnung. Das Geheimnis der Menschwerdung ist der Höhepunkt dieses Schenkens und dieser Selbstmitteilung“.<ref> Enzyklika Dominum et vivificantem (18. Mai 1986), 50: AAS 78 (1986), 869–870. </ref>

Die Kirche kann sich auf das zweitausendjährige Jubiläum „in keiner anderen Weise als im Heiligen Geist vorbereiten. Was ,in der Fülle der Zeit‘ durch das Wirken des Heiligen Geistes geschah, kann heute nur durch sein Wirken im Gedächtnis der Kirche neu erwachen“.<ref> Ebd., 51:AAS 78 (1986), 871. </ref>

Es ist in der Tat der Geist, der die von Christus den Menschen gebrachte einzige Offenbarung in der Kirche aller Zeiten und aller Orte aktualisiert, indem er sie im Herzen eines jeden lebendig und wirksam werden läßt: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 1 4 , 26).

45. Zu den wichtigsten Aufgaben der Vorbereitung auf das Jubeljahr gehört daher die Wiederentdeckung der Anwesenheit und Wirksamkeit des Geistes, der in der Kirche wirkt, sei es in sakramentaler Gestalt, vor allem durch die Firmung, sei es vermittels vielfältiger Gnadengaben, Aufgaben und Dienste, die von Ihm zu ihrem Wohl geweckt worden sind: „Der eine Geist ist es, der seine vielfältigen Gaben gemäß seinem Reichtum und den Erfordernissen der Dienste zum Nutzen der Kirche austeilt (vgl. 1 Ko r 12,1-11). Unter diesen Gaben ragt die Gnade der Apostel heraus, deren Autorität der Geist selbst auch die Charismatiker unterstellt (vgl. 1 Kor 14). Derselbe Geist eint durch sich und durch seine Kraft wie durch die innere Verbindung der Glieder den Leib; er bringt die Liebe der Gläubigen untereinander hervor und treibt sie an“.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 7. </ref>

Der Geist ist auch für unsere Zeit die Hauptkraft der Neuevangelisierung. Es wird also darauf ankommen, den Geist als den wiederzuentdecken, der im Laufe der Geschichte das Reich Gottes aufbaut und seine volle Offenbarwerdung in Jesus Christus dadurch vorbereitet, dass er die Menschen innerlich anregt und im menschlichen Erleben die Keime der endgültigen Rettung, die am Ende der Zeiten eintreten wird, aufgehen läßt.

46. In diesem eschatologischen Ausblick sollen die Gläubigen dazu aufgerufen werden, die theologische Tugend der Hoffnung wiederzuentdecken, von der sie „schon früher gehört haben durch das wahre Wort des Evangeliums“ (Kol 1,5). Die Grundhaltung der Hoffnung spornt einerseits den Christen dazu an, das Endziel, das seinem ganzen Dasein Sinn und Wert gibt, nicht aus dem Auge zu verlieren, und andererseits bietet sie ihm solide und tiefgehende Beweggründe für den täglichen Einsatz bei der Umgestaltung der Wirklichkeit, die dem Plan Gottes entsprechen soll.

Wie der Apostel Paulus schreibt: „Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung“ (Röm 8, 22-24). Die Christen sind aufgerufen, sich auf das Große Jubiläum zu Beginn des dritten Jahrtausends vorzubereiten durch Erneuerung ihrer Hoffnung auf die endgültige Ankunft des Reiches Gottes, die sie Tag für Tag in ihrem Herzen, in der christlichen Gemeinschaft, der sie angehören, in dem sozialen Umfeld, in das sie hineingestellt sind, und so auch in der Weltgeschichte vorbereiten.

Außerdem müssen die Anzeichen von Hoffnung hervorgehoben und vertieft werden, die trotz der Schatten, die sie oft vor unseren Augen verbergen, in diesem letzten Abschnitt des Jahrhunderts vorhanden sind: auf weltlichem Gebiet die von der Wissenschaft, der Technik und vor allem von der Medizin im Dienst am menschlichen Leben erzielten Fortschritte, das lebhaftere Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt, die Anstrengungen zur Wiederherstellung des Friedens und der Gerechtigkeit überall, wo sie verletzt wurden, der Wille zu Versöhnung und Solidarität zwischen den verschiedenen Völkern, besonders in den umfassenden Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden der Erde usw.; auf kirchlichem Gebiet das aufmerksamere Hören auf die Stimme des Geistes durch die Annahme der Charismen und die Förderung der Laien, die intensive Hingabe an das Anliegen der Einheit aller Christen, der dem Dialog mit den Religionen und mit der modernen Kultur gewährte Raum usw.

47. Das Nachdenken der Gläubigen im zweiten Vorbereitungsjahr wird sich mit besonderem Eifer auf den Wert der Einheit innerhalb der Kirche richten müssen, nach der die wahren Gaben und Charismen streben, die der Geist in ihr geweckt hat. In diesem Zusammenhang wird man die vor allem in der dogmatischen Konstitution Lumen gentium enthaltene Lehre des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche in passender Weise vertiefen können. Dieses wichtige Dokument hat ausdrücklich unterstrichen, dass die Einheit des Leibes Christi auf der Wirkung des Geistes beruht, vom apostolischen Dienst gewährleistet und von der gegenseitigen Liebe beseelt wird (vgl. 1 Kor 13, 1-8). Auf jeden Fall sollen durch diese katechetische Vertiefung des Glaubens die Glieder des Volkes Gottes zu einem reiferen Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeiten wie auch zu einem lebendigeren Sinn für den Wert des kirchlichen Gehorsams geführt werden können.<ref> Vgl. ebd., 37. </ref>

48. Maria, die das durch das Wirken des Heiligen Geistes fleischgewordene Wort empfing und sich dann in ihrem ganzen Leben von seiner inneren Wirkung leiten ließ, wird während dieses Jahres betrachtet und nachgeahmt insbesondere als Frau, die der Stimme des Geistes gehorsam ist, als Frau der Stille und des Zuhörens, als Frau der Hoffnung, die wie Abraham den Willen Gottes anzunehmen wußte „voll Hoffnung gegen alle Hoffnung“ (Röm 4, 18). Sie bringt die Sehnsucht der Armen Jahwes voll zum Ausdruck und leuchtet als Vorbild für alle, die sich mit ganzem Herzen den Verheißungen Gottes anvertrauen.

III. Jahr: Gottvater

49. 1999, das dritte und letzte Vorbereitungsjahr, wird die Aufgabe haben, den Horizont des Gläubigen gemäß der Sichtweise Christi selbst zu erweitern: der Sichtweite des „Vaters im Himmel“ (vgl. Mt 5, 45), von dem er gesandt worden und zu dem er zurückgekehrt ist (vgl. Joh 16, 28).

„Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (Joh 17, 3). Das ganze christliche Leben ist wie eine große Pilgerschaft zum Haus des Vaters, dessen unbedingte Liebe zu jedem menschlichen Geschöpf und besonders zum „verlorenen Sohn“ (vgl. Lk 15,11-32) man jeden Tag wiederentdeckt. Diese Pilgerschaft involviert das Innerste der Person, erweitert sich dann auf die gläubige Gemeinschaft, um schließlich die ganze Menschheit zu erreichen.

Das Jubeljahr, in dessen Mittelpunkt die Gestalt Christi steht, wird so zu einer großen Lobpreisung an den Vater: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns mit allem Segen seines Geistes gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel“ (Eph 1, 3-4).

50. In diesem dritten Jahr wird der Sinn des „Weges zum Vater“ alle dazu antreiben, in Anhänglichkeit an Christus, den Erlöser der Menschen, einen Weg echter Umkehr zu beschreiten, der sowohl einen „negativen“ Aspekt der Befreiung vom Bösen beinhaltet, als auch einen „positiven“, den Aspekt der Wahl des Guten, die in der Zustimmung zu den sittlichen Werten, wie sie von dem dem Menschen ins Herz geschriebenen und vom Evangelium bestätigten Naturgesetz zum Ausdruck gebracht wird. Das ist der geeignete Rahmen für die Wiederentdeckung und intensive Feier des Bußsakramentes in seiner tiefsten Bedeutung. Der Verkündigung der Umkehr als unumgängliches Erfordernis der christlichen Liebe kommt besondere Bedeutung in der heutigen Gesellschaft zu, wo selbst die Grundlagen einer sittlichen Auffassung von der menschlichen Existenz oft abhandengekommen zu sein scheinen.

Man wird daher, eingedenk der zusammenfassenden Feststellung des ersten Johannesbriefes: „Gott ist die Liebe“ (4, 8.16), die theologische Tugend der Liebe hervorheben müssen. Die Liebe mit ihrem doppelten Gesicht als Liebe zu Gott und zu den Schwestern und Brüdern ist die Synthese des sittlichen Lebens des Glaubenden. Sie hat in Gott ihren Ursprung und ihre Vollendung.

51. Muß man aus dieser Sicht und eingedenk dessen, dass Jesus gekommen ist, um „den Armen das Evangelium zu verkünden“ (Mt 11, 5; Lk 7, 22), die Vorzugsoption der Kirche für die Armen und die Randgruppen nicht entschiedener betonen? Ja, man muss sagen, dass in einer Welt wie der unseren, die von so vielen Konflikten und unerträglichen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten gezeichnet ist, der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden ein tauglicher Gesichtspunkt der Vorbereitung und Feier des Jubeljahres ist. So werden sich, im Geist des Buches Levitikus (25, 8-28), die Christen zur Stimme aller Armen der Welt machen müssen, indem sie das Jubeljahr als eine passende Zeit hinstellen, um unter anderem an eine Überprüfung, wenn nicht überhaupt an einen erheblichen Erlaß der internationalen Schulden zu denken, die auf dem Geschick vieler Nationen lasten. Das Jubeljahr wird auch Gelegenheit dazu bieten können, über andere moderne Herausforderungen nachzudenken, wie z.B. die Schwierigkeiten des Dialogs zwischen verschiedenen Kulturen und die Probleme im Zusammenhang mit der Achtung der Rechte der Frau und mit der Förderung von Familie und Ehe.

52. Während darüber hinaus daran zu erinnern ist, dass „Christus ... eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund (macht) und (...) ihm seine höchste Berufung“ erschließt,<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22. </ref> werden insbesondere im Laufe des dritten Vorbereitungsjahres zwei Aufgaben unumgänglich sein: die Auseinandersetzung mit dem Säkularismus und der Dialog mit den großen Religionen.

Was erstere betrifft, wird es angebracht sein, sich mit der ausgedehnten Thematik der Zivilisationskrise auseinanderzusetzen, wie sie sich vor allem in dem technologisch hochentwickelten, aber durch das Vergessen oder An-den-Rand-Drängen Gottes innerlich verarmten Westen abzeichnet. Auf die Krise der Zivilisation gilt es mit der Zivilisation der Liebe zu antworten, die sich auf die universalen Werte des Friedens, der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Freiheit gründet, die in Christus ihre volle Verwirklichung finden.

53. Was dagegen den Horizont des religiösen Bewußtseins betrifft, so wird die Zeit unmittelbar vor dem Jahr 2000 auch im Licht der Ereignisse dieser letzten Jahrzehnte eine großartige Gelegenheit sein für den interreligiösen Dialog nach den klaren, vom II. Vatikanischen Konzil in der Erklärung über die Beziehungen der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate gegebenen Anweisungen.

In diesem Dialog sollen die Juden und die Muslime einen hervorragenden Platz einnehmen. Gebe Gott, dass man zur Besiegelung dieser Absichten auch gemeinsame Begegnungen an Orten zustandebringen kann, die für die großen monotheistischen Religionen Bedeutung haben.

In diesem Zusammenhang wird überlegt, wie man zur Intensivierung des Dialogs mit den Juden und den Gläubigen des Islam historische Begegnungen in Betlehem, Jerusalem und auf dem Sinai, Orten von großem symbolischem Wert, sowie Begegnungen mit Vertretern der großen Weltreligionen in anderen Städten vorbereiten kann. Immer jedoch wird man achtgeben müssen, keine gefährlichen Mißverständnisse zu erzeugen, und gut auf der Hut sein vor der Gefahr des Synkretismus und eines leichtsinnigen und trügerischen Irenismus.

54. In diesem ganzen weitgespannten Horizont wird die selige Jungfrau Maria, erwählte Tochter des Vaters, den Gläubigen vor Augen stehen als vollkommenes Beispiel der Liebe sowohl gegenüber Gott wie gegenüber dem Nächsten. Wie sie selbst im Gesang des Magnifikat sagt, hat der Allmächtige, dessen Name heilig ist, Großes an ihr getan (vgl. Lk 1,49). Der Vater hat Maria für eine einzige Sendung in der Heilsgeschichte erwählt: Mutter des erwarteten Erlösers zu sein. Die Jungfrau hat auf den Ruf Gottes mit voller Bereitschaft geantwortet: „Ich bin die Magd des Herrn“ (Lk 1, 38). Ihre Mutterschaft, die in Nazaret begonnen hat und in höchstem Maße in Jerusalem unter dem Kreuz erlebt wurde, wird in diesem Jahr vernehmbar sein als innige und dringende Einladung, die an alle Kinder Gottes gerichtet ist, zum Haus des Vaters zurückzukehren und auf ihre mütterliche Stimme zu hören: „Was Christus euch sagt, das tut“ (vgl. Joh 2, 5).

c) Im Blick auf die feierliche Durchführung

55. Ein Kapitel für sich stellt die eigentliche Feier des Großen Jubeljahres dar, die gleichzeitig im Heiligen Land, in Rom und in den Ortskirchen der ganzen Welt erfolgen soll. Vor allem in dieser Phase, der Phase der feierlichen Durchführung, wird das Ziel die Verherrlichung der Dreifaltigkeit sein, von der alles kommt und der sich alles zuwendet in Welt und Geschichte. Diesem Geheimnis gelten die drei Jahre der unmittelbaren Vorbereitung: von Christus und durch Christus im Heiligen Geist zum Vater. In diesem Sinne aktualisiert die Feier des Jubiläums das Ziel und die Erfüllung des Lebens des Christen und der Kirche im dreieinigen Gott und nimmt sie zugleich vorweg.

Da jedoch Christus der einzige Zugangsweg zum Vater ist, wird zur Hervorhebung seiner lebendigen und heilbringenden Gegenwart in Kirche und Welt anläßlich des Großen Jubeljahres in Rom der internationale eucharistische Kongreß abgehalten werden. Das Jahr 2000 soll ein intensiv eucharistisches Jahr sein: Im Sakrament der Eucharistie bietet sich der Erlöser, der vor zweitausend Jahren im Schoß Mariens Mensch geworden ist, weiterhin der Menschheit als Quelle göttlichen Lebens dar.

Die ökumenische und universale Dimension des Jubeljahres wird von einem denkwürdigen panchristlichen Treffen in geeigneter Weise herausgestellt werden können. Es handelt sich um eine Geste von hohem Wert und muss deshalb, um Mißverständnisse zu vermeiden, korrekt vorgeschlagen und sorgfältig vorbereitet werden, aus einer Haltung brüderlicher Zusammenarbeit mit den Christen anderer Konfessionen und Traditionen sowie in willkommener Öffnung den Religionen gegenüber, deren Repräsentanten ihre Aufmerksamkeit auf die allen Jüngern Christi gemeinsame Freude lenken.

Eines ist gewiß: Ein jeder ist eingeladen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit die große Herausforderung des Jahres 2000, mit der sicherlich eine besondere Gnade des Herrn für die Kirche und für die ganze Menschheit verbunden ist, nicht vernachlässigt wird.

V. « JESUS CHRISTUS IST DERSELBE (...) IN EWIGKEIT » (Hebr 13, 8)

56. Die Kirche besteht seit zweitausend Jahren. Wie das Senfkorn im Evangelium wächst sie zu einem großen Baum heran, der mit seinen Zweigen ein Dach für die ganze Menschheit zu bilden vermag (vgl. Mt 13, 31-32). Das II. Vatikanische Konzil formuliert das in der dogmatischen Konstitution über die Kirche bei der Behandlung der Frage der Zugehörigkeit zur Kirche und des Auftrags an das Volk Gottes so: „Zu dieser katholischen Einheit des Gottesvolkes ... sind alle Menschen berufen. Auf verschiedene Weise gehören ihr zu oder sind ihr zugeordnet die katholischen Gläubigen, die anderen an Christus Glaubenden und schließlich alle Menschen überhaupt, die durch die Gnade Gottes zum Heile berufen sind“.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 13. </ref> Paul VI. erläutert seinerseits in der Enzyklika Ecclesiam suam die universale Einbeziehung der Menschen in den Plan Gottes und hebt dabei die verschiedenen Runden des Heilsdialogs hervor.<ref> Vgl. Paul VI. Enzyklika Ecclesiam suam (6. August1964), III: AAS 56 (1964), 650–657. </ref>

Im Lichte dieses Ansatzes kann man den Sinn des Gleichnisses vom Senfkorn noch besser verstehen (vgl. Mt 13, 33). Christus dringt als göttlicher Sauerteig immer tiefer in die Gegenwart des Lebens der Menschheit ein und verbreitet dabei das im Ostergeheimnis vollbrachte Heilswerk, das ausschließlich sein Werk ist. Er nimmt überdies auch die gesamte Vergangenheit des Menschengeschlechts, von Adam angefangen, in seine heilbringende Herrschaft hinein.<ref> Vgl. ebd., 2. </ref> Ihm gehört die Zukunft: „ Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebr 13, 8). Die Kirche ihrerseits „bestimmt nur dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“.<ref> Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 3. </ref>

57. Und darum geht seit den Zeiten der Apostel die Mission der Kirche in der gesamten Menschheitsfamilie ohne Unterbrechung weiter. Die erste Evangelisierung war vor allem auf den Mittelmeerraum ausgerichtet. Im ersten Jahrtausend brachten die von Rom und Konstantinopel ausgehenden Missionen das Christentum auf den gesamten europäischen Kontinent. Gleichzeitig wandten sie sich dem Herzen Asiens zu und gelangten bis Indien und China. Das Ende des 15. Jahrhunderts, mit der Entdeckung Amerikas, bezeichnete den Anfang der Evangelisierung im Süden und Norden jenes riesigen Kontinents. Während in Afrika die Küsten im Süden der Sahara das Licht Christi annahmen, gelangte zur selben Zeit der hl. Franz Xaver, Patron der Missionen, bis Japan, und um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert brachte ein Laie, Andreas Kim, das Christentum nach Korea; in jener Zeit erreichte die Verkündigung des Evangeliums die indochinesische Halbinsel sowie Australien und die Pazifik-Inseln.

Das 19. Jahrhundert hatte eine große Missionstätigkeit unter den Völkern Afrikas zu verzeichnen. Alle diese Werke haben Früchte getragen, die bis heute fortdauern. Das II. Vatikanische Konzil trägt dem in dem Dekret über die Missionstätigkeit Ad Gentes Rechnung. Nach dem Konzil wurde die Missionsfrage in der Enzyklika Redemptoris missio unter Bezugnahme auf die Probleme der Missionen in diesem letzten Abschnitt unseres Jahrhunderts behandelt. Die Kirche wird auch in Zukunft weiterhin missionarisch sein: denn der missionarische Charakter gehört zu ihrem Wesen. Mit dem Zusammenbruch großer antichristlicher Systeme auf dem europäischen Kontinent, zunächst des Nationalsozialismus und dann des Kommunismus, erscheint die Aufgabe dringend nötig, den Männern und Frauen Europas erneut die befreiende Botschaft des Evangeliums anzubieten.<ref> Vgl. Erklärung der Sonderversammlung für Europa der Bischofssynode, 3. </ref> Außerdem wiederholt sich, wie die Enzyklika Redemptoris missio ausführt, in der Welt die Situation des Areopags von Athen, wo der hl. Paulus gesprochen hat.<ref> Vgl. Enzyklika Redemptoris missio, 37, C: AAS 83 (1991), 284–286. </ref> Heute gibt es viele und sehr verschiedene „Areopage“: es sind die weiten Bereiche der modernen Zivilisation und Kultur, der Politik und der Wirtschaft. Je mehr sich der Westen von seinen christlichen Wurzeln lossagt, um so mehr wird er zum Missionsgebiet in der Gestalt unterschiedlichster „Areopage“.

58. Die Zukunft der Welt und der Kirche gehört den jungen Generationen, die, noch in diesem Jahrhundert geboren, erst im nächsten, dem ersten Jahrhundert des neuen Jahrtausends, reife Menschen sein werden. Christus nimmt sich der jungen Menschen an, wie er sich des jungen Mannes annahm, der ihm die Frage stellte: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ (Mt 19, 16). Auf die wunderbare Antwort, die Jesus ihm gab, bin ich in der jüngsten Enzyklika Veritatis splendor ebenso eingegangen wie zuvor in dem Schreiben an die Jugend der ganzen Welt von 1985. Die jungen Menschen, und zwar in jeder Situation, in jeder Gegend auf der Erde, hören nicht auf, Fragen an Christus zu richten: Sie begegnen Ihm und suchen Ihn, um Ihn weiter zu fragen. Wenn sie dem Weg zu folgen vermögen, den Er angibt, werden sie zu ihrer Freude ihren Beitrag zu seiner Gegenwart im nächsten und in den darauffolgenden Jahrhunderten, bis zum Ende der Zeiten, leisten können. „Jesus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“.

59. Als Abschluss passen die Worte der Pastoralkonstitution Gaudium et spes: „Die Kirche glaubt, dass Christus, der für alle starb und auferstand, dem Menschen durch seinen Geist Licht und Kraft schenkt, damit er seiner höchsten Berufung nach kommen kann; es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem sie gerettet werden sollen. Sie glaubt ferner, dass in ihrem Herrn und Meister der Schlüssel, der Mittelpunkt und das Ziel der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben ist. Die Kirche bekennt überdies, dass allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund in Christus hat, der derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit. Im Licht Christi also, des Bildes des unsichtbaren Gottes, des Erstgeborenen vor aller Schöpfung, will das Konzil alle Menschen ansprechen, um das Geheimnis des Menschen zu erhellen und mitzuwirken dabei, dass für die dringlichsten Fragen unserer Zeit eine Lösung gefunden wird“.<ref>Nr. 10. </ref>

Während ich die Gläubigen einlade, inständig zum Herrn zu beten, um die bei der Vorbereitung und Feier des nunmehr bevorstehenden Jubeljahres nötige Erleuchtung und Hilfe zu empfangen, fordere ich die verehrten Brüder im Bischofsamt und die ihnen anvertrauten Kirchengemeinden auf, ihr Herz den Eingebungen des Geistes zu öffnen. Er wird es nicht unterlassen, die Herzen zu rühren, damit sie sich anschicken, das große Jubiläumsereignis mit erneuertem Glauben und offenherziger Beteiligung zu feiern.

Dieses Anliegen der ganzen Kirche vertraue ich der mütterlichen Fürsprache Mariens, der Mutter des Erlösers, an. Sie, die Mutter der schönen Liebe, werde für die Christen auf dem Weg dem Großen Jubiläum des dritten Jahrtausends entgegen der Stern, der mit Sicherheit ihre Schritte auf den Herrn zu lenkt. Das einfache Mädchen aus Nazaret, das vor zweitausend Jahren der ganzen Welt das fleischgewordene Wort dargebracht hat, möge die Menschheit des neuen Jahrtausends zu dem hinlenken, der „das wahre Licht (ist), das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1, 9).

Mit diesen Wünschen an alle erteile ich meinen Segen.

Aus dem Vatikan, am 10. November des Jahres 1994,

im 17. Jahr meines Pontifikates.

Johannes Paul II.

Anmerkungen

<references />

Weblinks

Literatur dazu

jeweils herausgegeben von der Theologisch-Historischen Kommission für das Heilige Jahr 2000, Mit einem Vorwort von Roger Kardinal Etchegaray, Schnell & Steiner Verlag.