Ambrosius von Mailand: Ueber die Jungfraeulichkeit: Unterschied zwischen den Versionen

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(Überschrift korr; "Über die Junghfräulichkeit des Kirchenlehreres Ambosius" ist missverständlich.)
 
(kein Unterschied)

Aktuelle Version vom 19. August 2024, 15:55 Uhr

De virginitae (Über die Jungfräulichkeit)
Ambrosius von Mailand

Quelle: Ausgewählte Schriften des heiligen Ambrosius, Bischofs von Mailand. Übersetzt von Dr. Franz Xaver Schulte. (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 13), Kempten 1871, S. 144-195. Unter der Mitarbeit von: Uwe Holtmann und Rudolf Heumann.

Kapitel I

S. 144 Hochberühmt war bei den Alten jenes Urtheil, welches Salomo einst fällte, als er von zwei streitenden Weibern angegangen wurde. Die Eine von diesen hatte Nachts im Schlafe ihr Kind erstickt und forderte nun das Kind der Anderen; diese aber, geleitet von dem Gefühle wahrer Mutterliebe und frei vom Schuldbewußtsein, vertheidigte für sich mit vollem Rechte ihren eigenen Sohn. Da beide auf ihren Behauptungen hartnäckig beharrten, wurde der Richter unsicher und bedenklich; Salomo konnte ja nicht über die Geheimnisse der Seele aburtheilen und verhüllter war nichts, als die eigentliche Ueberzeugung der beiden Mütter. Mit Rücksicht auf die immerhin sehr zweifelhafte Entscheidung ließ Salomo ein Schwert bringen und befahl den Dienern, welche scheinbar der traurigen Pflicht ihres Dienstes sich unterzogen, den Knaben zu zertheilen, damit jede der klagenden Weiber ihren Theil erhielte. Kaum war der Befehl erlassen, da beruhigte sich Jene, die das fremde Kind verlangt hatte, nicht bloß dabei, sondern heischte dringend ohne eine Regung mütterlichen Gefühles die Ausführung des Befehles. Die Andere aber, die ihr eigen Kind gar wohl kannte, fürchtete jetzt nicht, in diesem Streite zu unterliegen, — sie S. 145 fürchtete nur, ihr Kind zu verlieren. Daran denkend, sich selbst vergessend, fing sie zu flehen an: man möge lieber das Kind unversehrt der Fremden geben, als daß es zertheilt der eigenen Mutter zufiele. Salomo aber fällte, nicht in göttlicher Erleuchtung, sondern auf Grund der menschlichen Wahrnehmung hinsichtlich der inneren Regung, das Urtheil: jener sei der Knabe unversehrt zu übergeben, welche der tiefe Schmerz als die wahre Mutter kundgegeben; die Andere aber, welche kein Mitleid mit dem, dem Tode geweihten Kinde gehabt, sei mit demselben durch kein Band der Natur verbunden, weil sie baar sei jeglichen Gefühles der Liebe.

Die Wahrheit bleibt also nicht verborgen, sie bricht hervor durch die Verstellung. So war es hier, wenn auch der Mutter vor dem zweifelhaften Ausgange bangte, so lange das Urtheil in seiner Unsicherheit sie bedrohte. Das ist aber zum Vorbilde geschehen in längstvergangenen Zeiten und zu unserer Belehrung aufgezeichnet, damit wir erkennen, daß Alles, was Lug und Trug, doch aufgedeckt wird.

Jene beiden Frauen bedeuten nun den Glauben einerseits, und andrerseits den Zweifel einer wankenden Seele. In dem thörichten Zweifel liegt der Ursprung jeglichen Irrthums: in seiner fleischlichen Befangenheit verliert er, geistig schlafend, die ganze Frucht der Zukunft, um dann die geistigen Kinder einer ganz anderen Mutter sich anzueignen. Während nun so der Zweifel streitet, strömt der Glaube über, bis das Schwert Christi die innersten Gesinnungen offenbar macht. Welches ist nun dieses Schwert Christi? Jenes, von welchem geschrieben steht: „Ich bin gekommen, das Schwert in die Welt zu bringen.“ Und wiederum jenes, von dem das Wort gesprochen wurde: „Und auch deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Was aber dieses Schwert ist und gilt, das sagen uns die Worte des Apostels: „Lebendig ist das Wort Gottes und wirksam und schärfer, als jedes zweischneidige Schwert, und dringet durch, S. 146 bis daß es Seele und Geist, auch Mark und Bein scheidet und ist ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens.“

Wir wenden uns nunmehr zur Betrachtung einer Geschichte aus der Zeit der Richter in Israel. Wir wollen Acht haben auf die Erzählung von Jephte, der an seiner Tochter das Opfer vollzog.

Kapitel II

Jephte war ein Richter des Volkes Israel. Ungewiß über den Ausgang des Krieges und das Schwanken des Kriegsglückes fürchtend gelobte er dem Herrn ein Gelübde: „wenn er die Feinde besiege, so wolle er Gott, dem er dann seinen Triumph verdanke, zum Opfer darbringen, was ihm zuerst auf der Schwelle seines Hauses entgegenkomme.“ Er kehrte siegreich, nachdem er die Feinde zersprengt, in sein Haus zurück: die Erste aber, welche dort ihm entgegentrat, eingedenk ihrer kindlichen Pflicht, war seine Tochter, die von dem Gelübde ihres Vaters Nichts ahnte. Dieser gedachte sofort dessen, was er versprochen, und tiefbetrübt seufzte er im Gedanken an die Erfüllung. „Ach, meine Tochter!“ sprach er, „wie betrübest du mich; denn ich habe meinen Mund aufgethan zu dem Herrn über dich!“ Sie aber zögerte nicht, zu antworten: „Mein Vater, hast du deinen Mund aufgethan zu dem Herrn, so thue an mir, was du gelobet hast.“ Sie begehrte nur zwei Monate Ausstand, damit sie hingehe auf die Berge und ihre Jungfrauschaft beweine. Und als S. 147 zwei Monate verflossen waren, kehrte sie zurück zu ihrem Vater, und er that an ihr, wie er gelobt hatte. So muß man annehmen, obgleich die Schrift den Ausgang nicht berichtet, weil sie es vermeiden will, dieses Kindesopfers ausdrücklich zu erwähnen.

S. 148 Wie nun? Billigen wir das? — Ganz gewiß nicht! Während wir aber das Opfer des Kindes nicht billigen, bemerken wir doch die Furcht und den Schrecken, das Gelübde zu brechen. Aus gleichem Grunde hörte Abraham das anerkennende Wort: „Jetzt weiß ich, daß du den Herrn deinen Gott liebst, weil du deines eingebornen Sohnes nicht geschont hast.“ Da haben wir ein Beispiel, an welchem gezeigt wird, daß ein Gott gemachtes Versprechen nicht leichtfertig darf mißachtet werden. Daß übrigens Gott das Menschenopfer keineswegs wohlgefällig war, geht aus derselben Erzählung deutlich hervor, weil an Stelle des Sohnes ein Widder zum Opfertode bestimmt wurde.

Jephte hatte darnach ein Beispiel, dem er folgen konnte, da der Herr am Blute des Menschenopfers niemals Wohlgefallen hat. Denn in dem einen an Abraham gerichteten Worte lag die Lehre, daß das Wohl des Kindes den Pflichten gegen Gott nachstehe, daß jenes also Gott hingegeben S. 149 werden müsse, aber nicht dürfe zum Opfer getödtet werden. Da nun hier die Tochter so sehr besorgt war um des Vaters Versprechen, warum nahm er keinen Anstand, das einzige Kind zu opfern? wenn jene bei ihrem Vater um jeden Preis die Lüge verhindern wollte, warum dachte er nicht daran, ihren Tod zu hindern?

Es könnte hier Jemand einwenden: Wenn Gott dort die Opferung des Kindes nicht zuließ, warum duldet er sie hier? Gilt denn bei Gott ein Ansehen der Person? Wir antworten auf die letzte Frage: Gewiß nicht, vielmehr lediglich ein Ansehen der Verdienste und Tugenden. Während indessen der Rath unbestimmt war, mußte durch göttlichen Ausspruch festgestellt werden, was im Augenblick geschehen und was für die Zukunft als Beispiel bleiben sollte. Wo ein Beispiel bereits vorliegt, da ist das erklärende Wort ferner nicht nothwendig, weil die Art der vollbrachten Handlung offen darlegt, was geschehen muß.

Dagegen gibt es wohl um deßwillen nicht bloß eine Art der göttlichen Thaten, weil eben auch das Verdienst nicht ganz dasselbe ist. Hier ist der Vater von Schmerz bewegt, es weint die Tochter: beide hegen Zweifel an der göttlichen Erbarmung. Dagegen war Abraham nicht betrübt, er fragte nicht nach den Gefühlen seines Vaterherzens. Sobald er das göttliche Geheiß vernommen, zögerte er mit dem Opfer nicht ferner, sondern beeilte sich, seinen Gehorsam zu beweisen. Isaak zauderte nicht, seinem Vater, der mit rascherem Schritte voranging, zu folgen; er weinte nicht, als er gebunden wurde; er begehrte keinen Aufschub, als das Opfer gebracht werden sollte. Und gerade deßhalb erwies sich die Barmherzigkeit ergiebiger, weil das Vertrauen hingebender war. Isaak hatte Recht, daß er nicht weinte über das Beginnen des Vaters: er war ja der Gegenstand freudigen Lachens bei seiner Mutter gewesen. Sie hatte einst in heiligem Jubel sich gefreut bei der Geburt des Knaben, und darum wurde jetzt, wo er sich selbst nicht weigerte, das Opfer zu sein, ein Widder an seine Stelle gesetzt: er S. 150 zweifelte nicht an Gottes Erbarmen, er war unbesorgt wegen seiner demüthigen Unterwerfung. Hier war nun aber bei Jephte Niemand, der den traurigen blutigen Entschluß des Vaters hinderte, weil Jeder des Versprechens Erfüllung heischte.

Kapitel III

Das blutige Opfer wird also dargebracht, und Niemand widersetzt sich dem; das Opfer der Keuschheit soll gebracht werden, aber da findet sich wohl Jemand, der es hindert. Der Vater verspricht den Tod seiner Tochter und lös’t das Versprechen; hier gelobt ein Vater die Jungfräulichkeit der Tochter, aber die Ausführung einer so frommen Hingabe stößt auf Widerspruch. Dort gibt die trauernde Tochter ihr Blut hin wegen des Gelübdes ihres Vaters; hier aber wird das Versprechen nicht durch Entschluß der Erbin, nicht durch eigene Willensentschiedenheit gelöst.

Man richtet nun auch gegen mich Anklagen; weßhalb aber? Etwa weil ich unrechtmäßige Ehen hindere? Aber dann mag man auch Johannes den Täufer anklagen. Findet man sonst Nichts in mir, was Anerkennung verlangen könnte, so mag man immerhin das an mir verurtheilen, was an jenem Propheten ausdrücklich anerkannt ist. Oder berufe ich mich vielleicht auf einen Zeugen, dessen ich mich schämen müßte? Aber so erinnert euch doch nur, wo der Grund für sein Martyrium lag! Es sind die Worte: „Nicht erlaubt ist es dir, dieses Weib zu haben.“ Wenn das nun von dem Weibe eines anderen Mannes galt, um wie viel mehr gilt es von einer gottgeweihten Jungfrau! Wenn das dem Könige gesagt wurde, um wie viel mehr muß es einfachen Menschen gesagt werden! Dank sei aber Gott, daß hier kein Herodes ist! Wollte Gott, es gäbe auch keine Herodias! Ist es denn nicht mehr gestattet, zu Gunsten der Jungfräulichkeit ein Wort zu reden? Und warum ist denn geschrieben: „Schaffet Recht der Waise, beschirmet die Wittwe?“ Und an einer anderen Stelle: „Vater der Waisen und S. 151 Richter der Wittwen ist Gott?“ Und wir sollten die, welche jungfräulicher Reinigkeit sich ergeben, verlassen oder gar verurtheilen?

Selbst bei den Heiden erschien die Jungfräulichkeit zwischen Familie und Altar ehrwürdig. Während sonst bei ihnen keine Achtung vor Verdiensten, keine Reinheit des Herzens sich findet: so wird doch die äußerlich bewahrte Jungfräulichkeit gerühmt. Von dem Heiligthum bei den Heiden hält also Niemand die Jungfrauen zurück, und von der Kirche Gottes soll die Jungfräulichkeit fortgeschreckt werden? Dort werden die Jungfrauen gezwungen zu einem Leben, das mit ihrer Lehre nicht übereinstimmt; hier soll das untersagt sein, was wir doch nicht unterlassen dürfen zu predigen? Dort zieht man durch Belohnungen von der Vermählung ab: und hier will man mit Beleidigungen zur Hochzeit zwingen! Dort wird Gewalt gebraucht, um die Wahl zu ermöglichen; S. 152 soll denn nun hier Gewalt angewendet werden, um das heilige Gelübde zu verhindern? Und soll endlich die Geduld der Priester jetzt soweit gehen, daß sie trotz des dargebotenen Opfertodes das Opfer jungfräulicher Reinigkeit, wenn es sein muß, nicht vertheidigen dürften?!

Erwäget doch nur, daß Jungfrauen früher noch als die Apostel gewürdigt wurden, den Herrn nach seiner Auferstehung zu schauen. Denn als der Leichnam unseres Herrn Jesu Christi in einem neuen Grabmale beigesetzt war, oder als — wie Matthäus berichtet — Joseph in seinem Grabmale den Leib des Herrn beigesetzt hatte, da bemerkten die Jungfrauen die Auferstehung. Matthäus nennt das Grabmal ein neues, damit der Glaube nicht Platz greifen könnte, als sei aus einem alten Grabe ein Anderer auferstanden. Ebenso ist es bezeichnend, wenn gesagt wird, er habe im Grabe eines Gerechten gelegen, weil der Herr von den Todten in einer ungeahnten Schönheit des Gerechten erstand. Auch das ist zu beachten, daß das Grabmal dem Wortlaute nach ein fremdes war, da der Herr ja sein eigen Grab nicht aufsuchen konnte. Die mögen den Grabhügel behalten, welche noch unter dem Gesetze des Todes sind; der Sieger über den Tod hatte keinen ihm gehörenden Grabhügel: es konnte ja der nicht das Grab des Todes erwählen, welcher dem Tode die Siegestrophäen abnahm. Es sah also Maria den auferstandenen Heiland; sie sah ihn vor Allen zuerst und glaubte. Auch Maria Magdalena erblickte ihn, obgleich sie im Glauben noch schwankte.

Kapitel IV

Hier ist es am Platze, auf eine nicht unwichtige Frage aufmerksam zu machen, ob es wohl angeht, daß ihr Jungfrauen an der Auferstehung des Herrn zweifelt. Vergesset nicht, daß lediglich die Bewahrung der äußeren Reinigkeit noch kein Verdienst einschließt, daß vielmehr die innere Tugend hinzutreten muß. So sieht sich Maria Magdalena S. 153 gehindert, den Herrn zu berühren, weil sie im Glauben an die Auferstehung einen Augenblick geschwankt hatte. Die aber darf Christus berühren, die ihn im Glauben erfaßt hat.

„Maria Magdalena stand außerhalb bei dem Grabe weinend.“ Weil sie draußen war, weinte sie; wäre sie drinnen gewesen, sie hätte nicht geweint. Sie weinte, weil sie den Leib Christi nicht sah; sie glaubte, er sei fortgenommen, weil ihre Augen ihn nicht erblickten. Maria war draußen, nicht so Petrus und Johannes. Sie waren eilends herbeigekommen und in das Grab eingetreten; darum weinten sie nicht, kehrten vielmehr, sich in seliger Freude beglückwünschend, zurück. Jene aber war nicht hineingetreten; darum weinte sie und glaubte nicht, in der Meinung, ihr Herr sei hinterlistiger Weise fortgenommen: selbst als sie die Engel erblickte, hielt sie zum Glauben sich noch nicht verpflichtet. Darum sagen ihr diese: „Weib, was weinest du, wen suchest du?“ So die Engel, und der Herr wiederholt später dieselben Worte, um uns zu lehren, daß die Worte der Engel den Willen Gottes verkünden.

„Weib, was weinest du? wen suchest du?“ fragt auch der Herr. Sie, die nicht freudig geglaubt, ist in der That ein Weib; denn der, welcher glaubt, ist nach den Worten des Apostels erstanden „zur vollkommenen Mannheit, zum Maaße des vollen Alters Christi.“ „Weib“ sagt der Herr, und der Tadel, welcher in dem Worte liegt, trifft nicht das Geschlecht, sondern den schwankenden Glauben. „Was weinest du?“ das will sagen: in dir selbst liegt der Grund und die Ursache deines Weinens, weil du Christus nicht vollkommen glaubst. Du weinest, weil du Christus nicht siehest; glaube und alsbald wirst du ihn schauen. Er ist da und niemals ferne denjenigen, die ihn suchen. „Was weinest du?“ das heißt: es bedarf der Thränen nicht, S. 154 sondern eines bereitwilligen, deines Gottes würdigen Glaubens. Denke nicht an das Sterbliche, nicht an das, was vergänglich ist; und deine Thränen werden versiegen. Warum weinest du also, da Andere sich freudig beglückwünschen?

„Wen suchest du?“ lautet die fernere Frage. Das heißt: Siehst du nicht, daß Christus gegenwärtig ist? Weißt du nicht, daß er die Kraft, die Weisheit und Heiligkeit Gottes selbst ist? Weißt du nicht, daß er die unversehrte Reinheit ist, geboren aus der Jungfrau, daß er immerdar aus, bei und in dem Vater ist, geboren, nicht erschaffen, gleich dem Vater, ewig geliebt, wahrer Gott vom wahren Gotte?

„Sie haben den Herrn weggetragen“ sagt Magdalena, „und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben.“ Ach, du irrest, Weib, wenn du glaubst, Christus sei von Anderen aus dem Grabe genommen und nicht in eigener Kraft daraus erstanden. Wer vermöchte denn Solches über die Macht, die Weisheit, die Heiligkeit Gottes? Nein, Christus wird nicht aus dem Grabe des Gerechten genommen, aber auch nicht aus dem Herzen seiner reinen, ihm ergebenen Jungfrauen. Wollte man ihn auch hinwegnehmen, man würde Nichts vermögen.

Dann sprach der Herr: „Maria, blicke auf zu mir!“ Solange sie nicht glaubt, nennt er sie Weib; da sie aber beginnt, zu ihm sich zu wenden, nennt er sie Maria. Das ist ja auch der Name jener Jungfrau, die ihn geboren, wie auch der Name jeder Seele, welche den Herrn gläubig aufnimmt. „Blicke auf zu mir!“ Wer auf Christus blickt, dessen Leben wird gebessert; aber der bleibt im Irrthum, der Christum nicht sieht. Da wandte sie sich, sah ihn an und rief: „Rabboni!“ das heißt: Meister! Wer auf ihn blickt, der bekehrt sich; wer sich bekehrt, der schaut voller auf ihn; wer so ihn anschaut, der macht wahre Fortschritte. Darum nennt sie ihn Meister, den sie todt glaubte; sie redet den an, den sie verloren wähnte.

S. 155 Jesus sprach zu ihr: „Rühre mich nicht an!“ Der Sinn des Schwankenden im Glauben erfaßt Christus nicht. Magdalena soll nicht berühren die Kraft, die Weisheit, die unversehrte, himmlische Reinheit des Herrn.

„Gehe hin zu meinen Brüdern!“ Was ist das anders, als ihr befehlen: Weine nicht ferner; gehe vielmehr hin zu den auserwählten, treuesten Priestern! „Sage ihnen: Ich gehe zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott!“ Was liegt in diesen Worten? Offenbar dieses: Sinne hier nicht über dieses Geheimniß! Forsche bei den Fortgeschritteneren; sie werden dir sagen, welch ein Unterschied zwischen meinem und eurem Vater. Er, der nach der Gottheit mir Vater ist, er ist euer Vater durch die Annahme an Kindesstatt, die euch zu Theil geworden. „Mein Vater“ sagt Christus und scheidet so als Sohn sich von den Geschöpfen Gottes; „euer Vater“ aber deutet auf die Gnade der Kindschaft Gottes. Gleichzeitig aber liegt in den Worten „mein Gott“ ein Hinweis auf das Geheimniß seiner Menschwerdung: er nennt ja den, welcher gemäß der göttlichen Natur sein Vater ist, hier Gott mit Rücksicht auf das Geheimniß seines menschlichen Leibes. Sagt er aber „euer Gott“, so will er erinnern an den Erfolg seiner Wirksamkeit in unseren Seelen.

Kapitel V

In der That: Gott ist unser Gott geworden, seitdem Christus gelitten hat; seitdem sind auch die Jungfrauen bereit, für die Tugend zu sterben. Kein Wort will ich über diese Angelegenheit, kein Wort über Personen reden. Eins ist sicher: wo die Gnade, da ist auch der Friede des Herrn. Ich will auch Niemanden öffentlich beschuldigen; ich will mich nur vertheidigen. Ich bin ja angeklagt, und irre ich nicht, so sind viele von euch unter meinen Anklägern. Ich will aber lieber die Gesinnung derselben zurückweisen, als Personen namhaft machen. Der Grund für die Anklage liegt in dem Verbrechen, daß ich die Keuschheit empfehle. S. 156 Wer aber das nicht gerne ertragen will, der verräth sich selbst.

„Du lehrst“, sagt man, „die Jungfräulichkeit und überredest gar Manche.“ Wollte Gott, ich würde dessen überführt und es würden mir die Erfolge meines verbrecherischen Wirkens gezeigt. Ich würde wahrhaftig keine Anfechtung scheuen, wenn ich nur jene Erfolge erkännte. Ich würde mich freuen, wenn ich durch Beispiele überführt und nicht bloß mit Behauptungen todtgemacht würde. Ich fürchte indessen, es möge den Anschein gewinnen, als hätte ich mir unredliche Anwälte geworben, welche mit fremden Lobsprüchen für mich eintreten.

„Du verbietest“, lautet die Anklage weiter, „daß die zu den heiligen Geheimnissen zugelassenen und ewiger Keuschheit geweihten Jungfrauen sich vermählen.“ Ach wollte Gott, ich könnte auch die, welche dem Traualtare schon zueilen, noch zurückrufen und sie zwingen, den feuerfarbenen Hochzeitsschleier mit dem heiligen Schleier der Jungfräulichkeit zu vertauschen! Oder erscheint es denn in der That unwürdig, darauf zu bestehen, daß gottgeweihete Jungfrauen von den heiligen Altären nicht zum Traualtar geführt werden? Soll es denen, welche ihren Gatten frei wählen können, nicht auch erlaubt sein, Gott jedem Anderen vorzuziehen? So ändert sich denn für mich die ganze Sachlage, da mir nicht als Schmach erscheinen kann, was allezeit den Ruhm des Priesters erhöht: Saatkörner nämlich unversehrter Reinigkeit auszustreuen, das Streben nach Jungfräulichkeit zu fördern.

Kapitel VI

Ich frage nun, ob mein Verhalten als verwerflich, oder als neu, oder als unnütz unter Anklage gestellt wird? Ist das Erstere der Fall, so sind die heiligen Gelübde Aller, so ist auch das Leben der Engel verwerflich, während doch dereinst nach der Auferstehung alle glorreich Verklärten daran Theil nehmen. „Denn dann werden sie weder heirathen, noch verheirathet werden, sondern sie werden sein, wie die S. 157 Engel Gottes im Himmel.“ Wer nun das verwirft, der verurtheilt auch das Sehnen nach der Auferstehung. Das kann also nicht verwerflich sein, was den Menschen als Belohnung in Aussicht gestellt ist, und der Widerschein kann doch nicht mißfallen, wenn die Wirklichkeit als Lohn dargeboten wird und als Gegenstand der Sehnsucht in uns lebt.

„Es sei denn!“ — lautet die Gegenrede — „wenn es nicht verwerflich ist, so ist es jedenfalls eine Neuerung.“ Wir verurtheilen sicher mit vollem Rechte alles Neue, was Christus uns nicht gelehrt hat: denn Er allein ist der Weg für die Gläubigen. Hat nun Christus nicht das gelehrt, was wir jetzt lehren, so müßen wir selber dieses verabscheuungswürdig nennen. Aber sehen wir doch nur zu, ob der Herr die Jungfräulichkeit gelehrt, oder ob er geglaubt hat, man dürfe sie schmähen! „Es gibt Verschnittene,“ sagt er, „die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen.“ Das ist aber ein erhabener Dienst, der um das Himmelreich dient. Schon mit diesen Worten hat also Christus gelehrt, daß ungeschwächt andauern müsse das Streben nach Keuschheit.

Die Apostel aber erkannten ihrerseits, daß jenes Streben jedem andern voranstehe. „Wenn die Sache des Mannes mit seinem Weibe sich so verhält, so ist nicht gut heirathen.“ Es erschienen ihnen also einerseits die Lasten des ehelichen Lebens gar schwer, und andererseits erhoben sie den Glanz der Jungfräulichkeit. Da aber der Herr wußte, daß diese zwar allgemein dürfe angepriesen werden, daß aber nur Wenige dem Rufe folgen würden, so erklärte er: „Nicht Alle fassen dieses Wort, sondern nur diejenigen, denen es gegeben ist;“ das heißt: es handelt sich hier nicht um eine Tugend, die von der größeren Mehrzahl erstrebt wird; auch ist ihre Uebung keineswegs mit Rücksicht auf die menschliche Schwäche bloß gestattet, sondern lediglich mit Rücksicht auf hohe Tugend vorgehalten. Gerade deßhalb und um zu zeigen, daß es sich hier nicht um eine S. 158 gewöhnliche Tugend handle, fügt der Herr hinzu: „Wer es fassen kann, der fasse es.“

Deßhalb geschah es auch, daß nach jenen Worten Kindlein zu dem Herrn gebracht wurden, daß er sie segne, welche, noch unkundig der Verderbtheit, den Schmuck der Reinigkeit in ihrem unschuldigen Alter bewahrten. Denn Solcher ist das Himmelreich, die wieder keusch geworden sind, wie die Kinder, unkundig des Lasters. So ist denn die Jungfräulichkeit auch durch das göttliche Wort anerkannt und es entspricht den Geboten des Herrn, diese Tugend zu erstreben.

Hier wollen wir das Beispiel unseres göttlichen Lehrers nachahmen. Nachdem er vorher daran erinnert hat, daß das Eheband nicht dürfe gelöset werden, „es sei denn um des Ehebruchs willen,“ enthüllt er die Schönheit des Gnadengeschenkes der Jungfräulichkeit. So lehrt er, daß die Ehe nicht zu verwerfen, sondern zu billigen ist; aber gleichzeitig, daß der Ehe das Streben nach jungfräulicher Keuschheit vorzuziehen. — Und wer hat sich denn so weit von der Wahrheit verirrt, daß er die Ehe verdamme? Aber wer ist denn auch so sehr allen vernünftigen Denkens baar, daß er die Lasten der Ehe nicht erkännte? „Denn ein unverheirathetes Weib und eine Jungfrau ist auf das bedacht, was des Herrn ist, damit sie an Leib und Geist heilig sei. Die Verheirathete aber ist auf das bedacht, was der Welt ist, wie sie dem Manne gefallen möge.“

Obgleich nun diejenige, welche sich vermählt, nicht fehlt, es sei denn durch die Uebernahme jener Beschwerden, so wird sie gleichwohl eben um der letzteren willen kaum ohne ein Reuegefühl bleiben. Sind ja doch gar schwer die Nöthen der Geburt, schwer auch die Sorgen für körperliche und geistige Erziehung der Kinder. Den Vermählten ist deßhalb auch vorher der Befehl geworden, daß sie durch solche Beschwerden sich nicht dürfen ihren Pflichten abwendig machen lassen. Manche Frau mag ja in den Wehen sich entschlossen S. 159 haben, der Ehe zu entsagen; andere, welche die Beschwerden des Ehestandes nicht selbst erfahren haben, lassen durch fremde Erfahrung sich abschrecken. Gerade deßhalb sagt der Apostel: „Bist du gebunden, so suche nicht frei zu werden.“ „Bist du gebunden“, sagt er; denn die Gatten sind durch das Band der Liebe gebunden, und die Erweise gegenseitiger Zuneigung umschlingen ihre Herzen immer fester.

Schön mögen also immerhin die Bande der Ehe sein, aber es sind immer Bande, die an das Joch der Welt fesseln, weil die Gattin mehr dem Manne als Gott zu gefallen wünscht und strebt. Süß mögen auch die Wunden sein, die die Liebe schlägt, und vorzuziehen jenen Küssen, von welchen die Schrift sagt: „Besser sind die Wunden des Liebenden, als die listigen Küsse des Hasses.“ So verwundete Petrus, während Judas den Kuß darbot; diesen verdammt sein falscher Kuß; jenen bessert die Wunde, die er geschlagen. Dem Kusse des Judas entströmt das Gift des Verrathes, die Schuld Petri wird durch Thränen getilgt. In Uebereinstimmung mit den Worten des Propheten singt deßhalb die Kirche: „Ich bin krank, verwundet vor Liebe.“

So soll Keiner von denen, welche den Ehestand erwählt haben, die Jungfräulichkeit schmähen: aber ebensowenig sollen die, welche jungfräulicher Keuschheit sich geweiht haben, die Ehe verurtheilen. Längst ja hat die Kirche Jene als falsche Lehrer verdammt, welche das eheliche Band zu lösen wagen. Unsere heilige Kirche bezieht jenes Wort auf sich: „Komme, mein Geliebter, lass’ uns hinausgehen aufs Feld, lass’ uns weilen in den Dörfern! Früh morgens wollen wir in die Weinberge gehen, daß wir sehen, ob der Weinstock blühe, ob die Fruchtblüthen sich aufgethan.“ Der Acker ist der schönste, der Früchte und Blüthen gleichzeitig in reichster Fülle trägt: das aber ist die Kirche in dem Reichthum ihrer Früchte. Hier erblickt man die duftende Blüthe der S. 160 Jungfräulichkeit, den reifen Ernst der Wittwen, die Frucht gesegneter christlicher Ehen: Alles, um die Ernte des Herrn zu einer glorreichen zu machen.

Kapitel VII

Weder verwerflich, noch neu erscheint also das Streben nach jungfräulicher Reinheit. Wir wollen sehen, ob es etwa mit Recht unnütz genannt werden darf. Wir wissen, daß Einige gemeint haben: die Welt, das menschliche Geschlecht ginge zu Grunde, die Ehen selbst würden auf die Dauer in Frage gestellt. Aber wer hat denn bis zur Stunde je eine Gattin gesucht, ohne eine zu finden? Wann hat man um Jungfrauen Kriege begonnen? Wo ist jemals um einer Jungfrau willen, auf die Mehrere Anspruch erhoben, Jemand getödtet worden? Die Ehen haben das wohl zur Folge, daß der Ehebrecher mit der Gattin getödtet, daß der Räuber der Gattin durch Krieg verfolgt wird. Das ist allezeit zum Nachtheile des Landes ausgeschlagen. Um einer gottgeweihten Jungfrau willen ist noch Niemand verurtheilt. Die Keuschheit wird ja nicht durch Androhung einer Strafe erhalten; nein, die Religion vermehrt, der Glaube beschützt sie.

S. 161 Sollte nun Jemand meinen, durch die heiligen Gelübde der Keuschheit würde das menschliche Geschlecht an Zahl geringer, so möge er bedenken, daß da, wo wenige Jungfrauen, auch weniger Menschen sind: daß aber, wo die Jungfräulichkeit in Blüthe steht, auch die Menschenzahl größer ist. Beachtet doch nur, wie viele Jungfrauen die Kirche zu Alexandrien, die morgenländische Kirche überhaupt und die afrikanische Kirche Gott alljährlich weihet. Hier werden weniger Menschen geboren, als dort Jungfrauen den Schleier nehmen. Der ganze Erdkreis kann also thatsächlich Zeugniß ablegen, daß die Jungfräulichkeit nicht unnütz ist; das gilt um so mehr, als ja durch eine Jungfrau der Welt das Heil gekommen ist, welches Schätze beseligender Früchte einschließt.

Will man gleichwohl Verbote erlassen, so möge man auch verbieten, daß die Gattin in standesmäßiger Enthaltsamkeit lebe; vielleicht könnte ja die Ehe dann zahlreicher mit Nachkommenschaft gesegnet werden. Man sollte unter jener Voraussetzung sogar verlangen, daß eine Frau während längerer Abwesenheit ihres Gatten diesem die Treue nicht bewahre, damit nicht diese Zeit vorübergehe, ohne daß sie einem Kinde das Leben gibt.

Den Jünglingen soll es nach der Meinung der Ankläger schwerer werden, zur Ehe zu gelangen! Und wenn es ihnen nun bequemer gemacht wird, wie dann? Es lohnt hier doch der Mühe, mit denjenigen ein Wort zu reden, welche für das Verbot der Jungfräulichkeit eintreten. Wir dürfen also untersuchen, wer diese sind: ob sie bereits vermählt sind oder nicht. Ist Ersteres der Fall, so haben sie keinen Grund für ihre Furcht. Sind sie nicht vermählt, so sollen sie sich doch nicht selbst die Schmach anthun, daß sie gerade die Vermählung mit Jener anstreben, die ihnen hierin nicht zu willfahren gedenkt. Vielleicht sind es auch Väter, welche um die Verbindung der eigenen Töchter sorgen, aber sich darüber grämen, daß Jungfrauen Gott geweihet werden? Diese haben aber erst recht keinen Grund, zu fürchten, wenn sie guten Rath annehmen wollen; unter einer geringen S. 162 Anzahl von Jungfrauen werden ja ihre eigenen Töchter um so leichter gewählt werden.

Gar Manche sagen auch, die Jungfrauen dürften erst in reiferem Alter den heiligen Schleier nehmen. Ich will nicht in Abrede stellen, daß es großer Vorsicht Seitens des Priesters bedarf, damit nicht leichtfertiger Weise eine Jungfrau zu den Gelübden zugelassen werde. Es soll also der Priester gar sehr auf das Alter sehen, aber auf Alter und Reife im Glauben und in der Tugend. Er soll prüfen die Reife der Schamhaftigkeit, die Gewohnheit heiligen Ernstes, die erprobte Treue der Sitten, die echte Gesinnung der Keuschheit: dann soll er endlich fragen, ob die Hut der Mutter treu, ob der Verkehr der Gespielen lauter gewesen. Ist all’ dieses in guter Ordnung, so fehlt der Jungfrau auch nicht die Reife des Alters; ist es mangelhaft, so möge die Aufnahme verzögert werden, da es sich hier um eine Unreifheit mehr in den Sitten als im Alter handelt.

Es wird also keineswegs das blühendere Alter einfach zurückgewiesen: es wird vielmehr das Innere geprüft. Die heilige Thekla hat sich wahrlich nicht durch Alter, wohl aber durch Tugend bewährt erwiesen. Was sollen wir hier noch weiter anführen, da jedes Alter Gott wohlgefällig und vollkommen vor Christus ist? Wir können doch wahrlich nicht die Tugend schlechthin eine Zugabe des Alters nennen: vielmehr ist umgekehrt das Alter ein Zuwachs der Tugend. Darf man sich ferner über die in früher Jugend abgelegten Gelübde wundern, wenn man von den Martern zarter Kinder lieset? Es ist ja geschrieben: „Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet.“ Zweifeln wir etwa, daß die Jugend dem in treuer Bewahrung der Keuschheit nachfolgt, den die Kindheit treu bis zum Tode in den Marterqualen bekennt? Und scheint es uns in der That unglaublich, daß zarte Jungfrauen Christo nachfolgen zur Herrlichkeit, da doch Knaben ihm in die Wüsten folgten? Oder lesen wir nicht, daß bei der wunderbaren Brodvermehrung viertausend Menschen von fünf Broden gespeiset wurden, „ungerechnet die Knaben und Frauen?“

S. 163 So verwehre denn Niemand den Kindern den Zutritt zu Christus, da sie selbst für seinen Namen den Martertod bestanden: „Solcher ist das Himmelreich.“ Der Herr ruft sie und du willst ihnen wehren? Gerade von ihnen gilt das Wort: „Lasset diese zu mir kommen!“ So verscheuchet denn auch nicht die Jungfrauen vom Heiligthume. Von ihnen steht geschrieben: „Darum lieben dich die Mägdlein,“ und sie haben dich geführt in das Haus ihrer Mutter. Scheidet doch nicht die Jugend von der Liebe Christi, den ja einst das Kindlein schon im Schooße seiner Mutter in prophetischer Begeisterung bekannte.

Kapitel VIII

Gleich bei der Gründung der Kirche suchten ganze Schaaren den Herrn auf. Warum? Weil er die Hand den Kranken auflegte und sie heilte. Da ward nicht erst eine bestimmte Zeit zur Heilung abgewartet, nicht erst ein bestimmter Platz aufgesucht. Denn an allen Orten und zu allen Zeiten fehlt es nicht an Heilmitteln. Im einsamen Hause wird Maria vom Engel gegrüßt, im Hause Davids zur Prophetin gesalbt. Ueberall aber heilt Jesus: auf der Wanderung, im Hause, in der Wüste. Auf der Wanderung ward jenes Weib geheilt, die den Saum seines Gewandes berührte; im Hause ward die Tochter des Synagogenvorstehers auferweckt; in der Wüste ward die ganze große Schaar erquickt. Wir lesen gleichfalls: „Als aber die Sonne untergegangen war, brachten Alle, welche Kranke von verschiedenen Gebrechen hatten, dieselben zu ihm: und er legte einem Jeden die Hände auf und machte sie gesund.“ Er machte also gesund in der Wüste und nach Untergang der Sonne und indem er die Hände auflegte, um sich so als Gott und Mensch zu offenbaren. Nicht mit Unrecht also suchten ihn die Schaaren nach Anbruch des Tages.

S. 164 Wir beachten die innegehaltene Ordnung. Beim Untergange der Sonne werden Kranke zu Christus gebracht; nach Anbruch des Tages suchen ihn die Schaaren auf. Wann wird denn auch Christus gesucht, wenn nicht bei Tage? Denn wer im Lichte wandelt, der scheidet nicht von Christus. Deßbalb ist auch die Nacht noch erfüllt mit dem Jammer der Kranken; der Tag aber sieht alsbald den Glauben des Volkes, den Jubel der Geheilten, damit erfüllet werde, was geschrieben steht: „Am Abend kehret Weinen ein, und am Morgen Freude.“ Und wo gibt es eine größere Gnadenerweisung an die Schaaren des Volkes, als diese, daß sie auch in die Wüste dem Herrn folgen dürfen?

Gleichzeitig lehrt er uns, daß dem Vollkommenen Ueberhebung nicht nahen dürfe; nicht der Menge der Kranken, die er heilen soll, weicht er aus, sondern nur dem Stolze auf die vollbrachten Werke. Wollen wir demnach selig werden, wollen wir der vollen Genesung unseres Geistes würdig werden, so muß alle Ueppigkeit, alle Leichtfertigkeit ferne bleiben von uns. Auf dem dürren, rauhen Wege dieses Lebens müssen wir bereitwillig Christus folgen, der alle Freuden der Sinnlichkeit flieht.

Folgen wir ihm durch den Glanz des Tages! Es ist der Tag, der in seiner Kirche hell leuchtet, jener Tag, den Abraham sah mit hoher Freude. Folgen wir Christo durch den Glanz des Tages; im Dunkel der Nacht findet man ihn nicht. „Auf meinem Bettlein in den Nächten suchte ich ihn, den meine Seele liebet: ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief ihn, aber er hörte mich nicht.“

Auch in der Unruhe des Lebens, auf den Wegen des öffentlichen Treibens wird Christus nicht gefunden. Daher die Klage: „Ich will aufstehen und herumgehen in der Stadt, in den Gassen und Straßen suchen ihn, den meine Seele liebt; ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht.“ Wir dürfen also den Herrn da nicht suchen, wo wir ihn nicht S. 165 finden können. Was hat denn Christus mit dem Treiben des Forums gemein? Er ist der Friede und auf dem Forum herrscht der Streit; er ist die Gerechtigkeit, hier ist Ungerechtigkeit; er ist allezeit thätig, hier herrscht eitler Müssiggang; er ist lauter Liebe, und wie viel Schmähsucht verletzt auf dem Forum die Gesetze der Liebe! Hier stehen Götzen, denen die Menschen ihr Opfer bringen; Christus aber wohnt in seiner heiligen Kirche. An einem anderen Orte wendeten wir uns bereits an eine Wittwe mit tadelnden Worten, aber sie mußte erkennen, daß es uns nicht darum zu thun war, sie zu schmähen, sondern bloß zu mahnen. So möge sie auch jetzt mich nicht als einen harten Menschen beurtheilen, sondern nur als sehr besorgt um sie; ich begehre Zulassung, um ihr die volle Aussöhnung zu bieten: denn in der Kirche wird die Wittwe zur Gerechtigkeit geführt, im Gewirre des öffentlichen Lebens wird sie betrogen. So meiden wir denn das Treiben des Forums und der Straße!

Dann aber sage zu der Weisheit: „Du bist meine Schwester,“ und nenne die Klugheit „deine Freundin, damit sie dich bewahre vor dem fremden und buhlerischen Weibe. . . Sie schaut aus dem Fenster ihres Hauses nieder auf die Straßen.“ Fliehen wir also die öffentlichen Straßen. Es schließt nicht bloß eine Kränkung ein, den nicht gefunden zu haben, welchen man suchte; nein es bleibt auch nicht ohne eigentlichen Nachtheil, da wo man es nicht durfte, mehr aus Vorwitz als in rechter Gesinnung gesucht zu haben: in den Häusern von Männern nämlich, die sich zu Unrecht den Namen von Lehrern beilegen.

Hüten wir uns, daß nicht die Kirche jene Worte auf sich um unseretwillen beziehen müsse: „Da fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen; die schlugen mich und verwundeten mich; die Wächter der Mauern nahmen mir meinen Mantel.“ Wir wiederholen es: nicht in sich S. 166 selbst, nein in uns ist die Kirche verwundet. So hüten wir uns denn, daß wir nicht durch unseren Fall die Kirche verwunden; hüten wir uns, daß Jemand „uns den Mantel nehme“, das heißt den Schmuck der Weisheit und Geduld, welcher die weichlichere Umhüllung ausschließt. Denn „die mit weichen Kleidern angethan sind, die weilen in den Häusern der Könige.“ Uns aber hat Christus den Mantel verliehen, in den er auch seine Apostel und seinen eigenen heiligen Leib hüllte. Befiehlt er nun, demjenigen, welcher den Rock erbitte, auch noch den Mantel zu geben, so heißt das nichts anderes, als: wir sollen das Gewand unserer Weisheit ihm geben und den, welcher vorher nackt und bloß war, damit bekleiden.

Kapitel IX

So suchen wir denn Christus dort, wo ihn die Kirche sucht, auf jenen Höhen, um deren Gipfel der himmlische Duft erhabenster Tugendwerke sich webt. Er meidet die Straßen, er entzieht sich dem geräuschvollen Treiben des Marktes, nach jenen Worten: „Flieh’, mein Geliebter, und werde gleich einem Rehe, gleich jungen Hirschen auf den Gewürzbergen!“ Verhaßt all’ denen, welche, wie niedriges Gewürm, immerdar am Boden haften, wohnt der Herr nur bei erhabener Tugend; er weilt nur bei solchen Töchtern der Kirche, welche von sich sagen können: „Wir sind Gott ein Wohlgeruch Christi unter denen, die gerettet werden, und unter denen, die zu Grunde gehen: den Einen nämlich ein Geruch des Todes zum Tode, den Andern ein Geruch des Lebens zum Leben,“ solchen nämlich, welche mit lebendigem Glauben den Auferstandenen umfassen.

S. 167 Diejenigen also haben die Höhe des Glaubens in muthigem Tugendlaufe erstiegen, welche glauben, daß Jesus gestorben und begraben ist, die im Geiste seinen heiligen Leib zu dem Felsengrabe geleitet und mit Spezereien gesalbt haben; die aber auch wissen, daß der Herr glorreich auferstanden ist. Wo aber ist Christus hiernach sicherer zu finden, als in dem Geiste weiser Priester?!

Der Herr selbst deutet uns an, wo er zu finden ist. „Ich bin eine Blume des Feldes und eine Lilie in den Thälern, ja wie eine Lilie mitten unter den Dörnern.“ Siehe da, wo er weilt: „Eine Blume des Feldes“ nennt er sich, weil er die offene Einfalt reiner Herzen liebt und aufsucht; „eine Lilie in den Thälern“, weil er die höchste Blüthe heiliger Demuth ist. „Wie eine Lilie unter den Dörnern“ erscheint er: oder erwächst er nicht unter den geistigen Beschwerden dieses Lebens, unter den Reueschmerzen der Seele als göttliche Blume voll himmlischen Duftes? Darum ruht auch das Auge Gottes versöhnt auf solchen Herzen, die in Reue vor ihm sich beugen.

Das ist die Wüste, meine Töchter! welche zum Himmelreiche führt; das ist auch jene Wüste, welche im Lilienblüthenschmuck erglänzt nach den Worten des Propheten: „Da freuet sich die öde, ungebahnte Wüste, da frohlocket die Einöde und blühet wie eine Lilie.“ In dieser Wüste erhebt sich der gute Baum, welcher gute Früchte trägt: er beginnt seine Zweige weithin auszudehnen, seine Wipfel aber reichen zum Himmel, zum Schooße der Gottheit hinauf. Möchte doch auch den Baum unseres Lebens ein befruchtender Strahl der Gottheit treffen, so daß das Wort paßte: „Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter unter den Söhnen.“ Dann würde die Kirche sich freuen und jubelnd ausrufen: „Unter seinem Schatten, wonach ich verlangt habe, sitze ich, und seine Früchte sind süß meinem Gaumen.“

S. 168 Ja, die Kirche würde in unserem Anblicke und erfreut über die Frucht unseres Glaubens, die schon gezeitigt ist, ausrufen: „Er führet mich in die Keller, gefüllt mit Wein, und ordnet in mir die Liebe.“ Die Liebe kann ja nicht ohne den Glauben bestehen; die Kirche aber hat als dreifache Bürgschaft für ihre göttliche Stiftung: Glauben, Hoffnung, Liebe. Ist die Hoffnung lebendig geworden, ist der Glaube fest gegründet, dann wird auch die Liebe eingesenkt, und ihr Band umschlingt dann die Kirche.

Kapitel X

So habt ihr denn erkannt, wo Christus gesucht wird; suchet nun auch zu erkennen, wie man verdient, daß Christus uns sucht. Rufe den heiligen Geist an mit jenen Worten des hohen Liedes: „Hebe dich, Nordwind, und komme, Südwind! Durchwehe meinen Garten, so werden feine Gewürze fließen. Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse die Früchte seiner Aepfel.“ Der Garten des ewigen Wortes ist die in frommer Gesinnung erblühende Seele; die Werke ihrer Tugend sind die Früchte.

Er kommt also, und du magst essen oder trinken, wenn du Christus rufest, so ist er da und spricht zu dir: „Kommet, esset mein Brod und trinket den Wein, den ich euch gemischt habe.“ Auch wenn du schläfst, steht er pochend an deiner Thüre. Ja er kommt oft, aber nicht immer, auch nicht zu Allen, sondern nur zu jener Seele, welche sagen kann: „Abgelegt zur Nachtzeit habe ich mein Gewand.“ Hinsinken muß erst in der Nacht dieses Lebens die Hülle des sterblichen Leibes, wie auch der Herr seines irdischen Fleisches sich entäußerte, um für dich über die Mächte und Gewalten dieser Welt zu triumphiren.

„Wie soll ich aber das Gewand wieder anziehen?“ spricht die Gott geweihete Seele ferner. So vollständig entwöhnt S. 169 sie sich der fleischlichen Handlungen, so vollständig entäußert sie sich irdischer Gesinnung, daß sie gar nicht weiß, wie sie jene — auch wenn sie wollte — von Neuem annehmen könnte. Die Gewöhnung im Guten hebt die alt und lieb gewordene böse Gewohnheit auf.

„Ich habe meine Füße gewaschen, wie soll ich sie wieder besudeln?“ Das Evangelium belehrt uns, daß das Waschen der Füße das Geheimniß des Glaubens bedeutet und das Zeichen wahrer Demuth ist, nach jenen Worten des Herrn: „Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße wasche, um wie viel mehr müsset dann ihr der Eine des Andern Füße waschen.“ Dieses Wort mahnt zur Demuth. Hinsichtlich des Geheimnisses aber muß daran erinnert werden, was der Herr zu Petrus sagt: „Wenn ich dir die Füße nicht wasche, so wirst du keinen Theil an mir haben.“ Ward das dem Petrus gesagt, was wird dann uns gelten?

Wer aber die Füße gewaschen hat, der bedarf nach dem Ausspruche des Herrn nichts weiter; aber darum soll er sich auch hüten, sie wieder zu besudeln. Die Kirche sagt mit Recht: „Ich habe meine Füße gewaschen,“ aber sie setzt nicht hinzu: Wie werde ich sie nochmals waschen? sondern: „Wie soll ich sie wieder besudeln?“ So ganz hat sie vergessen der alten Makel und Schmach. So zeigt uns der Herr durch äußere Handlung, wie wir die geistigen Spuren unserer Handlungen abwaschen sollen. Hast du einmal deine Füße mit dem lebendigen Quellwasser aus Himmels Höhen gewaschen und im Geheimniß des Sakramentes dich gereinigt: ach! dann hüte dich aber auch, daß nicht von Neuem der Schmutz fleischlicher Begierden und sündhafter Handlungen dich besudle.

Das sind aber jene Füße, die David im Geiste gewaschen, wenn er uns lehrt, wie wir vermeiden, sie wieder zu beflecken: „Es stehen unsere Füße in deinen Vorhöfen, S. 170 Jerusalem!“ Da denkt er nicht an leibliche, sondern an geistige Füße. Denn wie könnte ein sterblicher, irdischer Mensch seine leiblichen Füße setzen in die Räume des Himmels? Jerusalem ist aber nach dem Zeugnisse des Apostels der Himmel; er sagt ja nicht minder: „Unser Wandel ist im Himmel!“ der Wandel in gläubiger frommer Sitte.

Kapitel XI

Wer nun so lebt, der darf sagen: „Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Oeffnung, und ich erzitterte, da ich sie berührte. Ich stand auf, meinem Geliebten zu öffnen.“ Es ist recht, daß wir bei der Ankunft des Herrn in tiefster Seele erschüttert werden. Wenn schon Maria bei der Ankunft des Engels erschrack, um wie viel mehr müssen wir bewegt werden bei der Ankunft Christi! Wenn göttliches Leben einströmt in unsere Seele, dann weicht die irdische Gesinnung, und die alten Gewohnheiten des äußerlichen Menschen schwinden. Darum eile mit tiefer Bewegung ihm entgegen. Siehe, Christus weilt an der Pforte, er klopft an der Thüre deines Hauses: wenn du ihm öffnest, so tritt er ein, er mit seinem himmlischen Vater.

Christus, unser Heiland, spendet aber seine Segnungen nicht bloß, nachdem er in die Seele eingetreten ist; nein, schon vorher lenkt er seine Gnadenströmungen in die Seele, die ihm entgegenkommen will. Noch erzittert die Seele unter der Berührung seiner göttlichen Hand; kaum hat sie das Thor ihres Herzens für Christus geöffnet, da sinken schon die Bande, die Fleisch und Blut aus Sinnlichkeit geflochten: „Ich stand auf,“ kann sie sagen mit der Braut des hohen liedes, „meinem Geliebten aufzumachen: meine Hände triefen von Myrrhen, und meine Finger waren voll der köstlichsten Myrrhen.“ So trug Nikodemus, jener Lehrer in Israel, der zuerst von dem Geheimnisse der Taufe hören durfte, S. 171 Myrrhe und Aloe zum Grabe des Herrn, um seinen heiligen Leichnam damit zu salben. Ist nun beides nicht Sinnbild des himmlischen Geruches vollkommenen Glaubens?

So steigt der Duft der Seele empor, welche Christo zu öffnen beginnt; die treu und fest glaubt, daß sein heiliger Leib die Verwesung nicht geschaut hat, daß er vielmehr als eine duftende, ewig grünende Himmelsblüthe glorreich die Hülle des Grabes durchbrochen hat. Wie kann es anders sein? Ist doch sein Name wie ausgegossen Oel! Daß es für uns dufte, darum hat er sich bis zur Menschwerdung vernichtet.

So lange das ewige Wort beim Vater weilte, erfreute es in Himmelsduft nur die Engel und Erzengel. Der Vater aber öffnete seinen Mund und sprach: „Siehe, ich mache dich zum Lichte der Heiden, daß du mein Heil bis an der Erde Gränzen bringest.“ Da stieg der Sohn hernieder, und Alles strömte über von dem nie geahnten Wohlgeruche des Wortes. Es entquoll dem Herzen des Vaters das Wort, das herabkam, und der heilige Geist hauchte in alle Herzen die Liebe. „Denn ausgegossen,“ sagt der Apostel, „ist die Liebe Gottes in unseren Herzen durch den heiligen Geist.“

Er verschloß seine Himmelslehre, wie der Duft eingeschlossen bleibt im Gefäße, bis seine Stunde gekommen nach den Worten des Propheten: „Der Herr gab mir eine beredte Zunge, daß ich zu reden wüßte, wann die Zeit gekommen.“ Es kam die Stunde, er that auf seinen Mund, und wie kostbares Oel waren seine Worte.

Ausgegossen ward das Oel über die Juden, aber aufgesammelt von den Völkern; ausgegossen in Judäa streut es seinen Wohlgeruch durch alle Lande. Es hat die Wasser der Gnade berührt und geheiligt: es strömt fort seit jener Zeit und nie wird es versiegen. Kommet ihr heiligen Jungfrauen, tretet hinzu, nehmet von diesem Oele, bewahret es sicher, daß es nicht verrinnet. Hüte den Schatz in keuschem, treuem, S. 172 demüthigem Sinne! So könnet ihr Christus aufnehmen und sagen: „Ich machte auf meinem Geliebten den Riegel meiner Thür;“ nun tritt er ein und dringt bis in die Tiefen der Seele.

Kapitel XII

Wohlan denn, Seele, auch du bist aus dem erwählten Volke: denn bei Gott gilt kein Unterschied nach irdischem Range, nichts gilt ihm goldverbrämtes Gewand, nichts kostbarer Halsschmuck; auch du bist eine jener Jungfrauen, die des Körpers Schönheit durch den Glanz der Seele vergeistigen! So vergiß denn auch nicht auf deinem Lager während der Nacht allezeit Christi zu gedenken und auf seine Ankunft zu harren.

Scheint er dir aber zu zögern, so erhebe dich von deinem Lager! Gibst du weichlicher Ruhe dich hin, lässest du ab vom Gebete, erhebst du deine Stimme nicht in heiligen Psalmengesängen: dann scheint er zu zögern. Weihe ihm die Erstlinge des erwachenden Tages, bringe ihm dar die Erstlinge deiner Werke. Hast du nicht gehört, daß er dich gerufen mit den Worten: „Komme vom Libanon, meine Braut! komme vom Libanon! Du wirst herniedersteigen und hindurchgehen vom Beginne des Glaubens an.“ Ja, du wirst herniedersteigen, um in der Welt zu kämpfen; aber du wirst hindurchschreiten durch die Welt bis zu Christus, um bei ihm deine Triumphe zu feiern. — Er hat dir gesagt, daß er dich befreit von den Angriffen der Löwen und Leoparden, das heißt der gewaltigen Feinde unserer Seelen; und hast du nicht gehört, daß ihm die Schönheit deiner Tugend gar sehr gefällt? daß der Geruch deiner Kleider, das heißt deiner jungfräulichen Reinigkeit, ihm ist wie des Weihrauchs Geruch? Hast du nicht gehört, daß du bist wie ein verschlossener Garten, wie ein Paradies, gefüllt mit herrlichen Früchten? Ach flehe, daß der Hauch des göttlichen Geistes hinwehe über dein Lager und mit heiligem, reinem Sinne dich erfülle. Dann zögert er nicht; dann wird er dir antworten: „Ich schlafe, aber mein Herz wachet.“

S. 173 Du hast das Pochen seiner göttlichen Hand an die Thüre deines Herzens, du hast seine Stimme gehört: „Thue mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Unbefleckte; denn mein Haupt ist voll des Thaues, meine Locken sind voll nächtlicher Tropfen!“ Wie der Thau des Himmels die Dürre der Nacht verscheucht, so hat der Herr Jesus Christus mit dem Thaue des ewigen Lebens die Finsterniß irdischen Daseins erquickt. So hört das gequälte Haupt auf unter der Hitze zu leiden. Das Haupt des Herrn strömt über von Thau, Anderen aber zum höchsten Gewinne. Ist ja Christus auch dein Haupt, er, dessen Freigebigkeit niemals erschöpft wird trotz der täglichen Spende.

Weißt du nun, wie jener Thau nicht irdischen Ursprunges ist? Siehe, seine Locken sind voll nächtlicher Tropfen. Und sind das Locken irdischen Schmuckes, Waffen der Eitelkeit, Lockmittel der Sinnlichkeit? Nein, der Nasiräer, dessen Haupthaar kein Scheermesser berührt, läßt sein Haupt umwallen von Strahlen göttlicher Tugendwerke. Bewahre dir solche Locken! Vergiß es nicht: so lange Samson sie in ganzer Fülle bewahrte, konnte er nicht überwunden werden. Er gab sie preis, und seine Kraft wich von ihm.

Siehe, so wünscht dich Christus, so hat er dich erwählt. Oeffnest du ihm dein Herz, so tritt er ein: er hat es versprochen, und er täuscht niemals. Umfasse ihn, den du so lange gesucht hast; tritt nahe hin zu ihm, und der Strahl seiner Gnade wird dich erleuchten. Halte ihn fest umschlossen; bitte ihn, daß er nicht von dir weiche. Aber er geht von dir, wenn er Gleichgültigkeit bemerkt; er bleibt nicht, wenn du ihn vernachlässigst.

Was sagt aber die Braut des hohen Liedes? „Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief ihn, aber er antwortete mir nicht.“ Glaube jedoch nicht, daß du ihm mißfallest, weil du gerufen, geöffnet, gefleht hast und er doch von dir gewichen ist: er läßt ja nicht selten zu, daß wir geprüft werden. Was antwortete er einst, da die Schaaren ihn baten, daß er nicht von ihnen gehen möge? „Auch anderen Städten muß ich das Wort des Herrn verkünden denn S. 174 dafür bin ich gesandt.“ Will es dich denn bedünken, daß er von dir fortgegangen, so gehe hin, von Neuem ihn zu suchen.

Fürchte also jene Wächter nicht, von denen es im hohen Liede heißt: „Sie gehen sichtbar in der Stadt umher.“ Fürchte nicht die Wunden, die sie schlagen können; denen, die Christo folgen, schaden sie nimmer. Und könnten sie selbst dein Leibesleben dir nehmen, so bleibt doch Christus, der das Leben selbst ist, dir nahe. Hast du ihn gefunden, so denke nur auf Eins, wo du mit ihm weilen mußt, daß er dich nicht verlasse. Gar schnell scheidet er von denen, die ihn vernachlässigen.

Kapitel XIII

Wer anders aber kann dich lehren, wie du Christus zurückhältst, als unsere heilige Kirche? Ja, sie hat es dich schon gelehrt, wenn du nur jene Worte des hohen Liedes erkennen willst: „Kaum war ich an ihnen vorübergegangen, da fand ich ihn, den meine Seele liebt; ich hielt ihn und will ihn nimmer lassen.“ Und wodurch wird er gehalten? Ach nur durch die Bande der Liebe, nur durch die hingebende Gesinnung eines treuen Gemüthes. Wenn du willst, so kannst auch du ihn halten; suche nur eifrig, fürchte keine Mühe, keine Pein! Oft genug wird er gerade mitten in den Qualen des Körpers, ja unter den Händen der Verfolger gefunden. „Kaum war ich an ihnen vorübergegangen“ hieß es ja. Ja, du bist nur um einen Schritt, du bist soeben aus den Händen der Verfolger entronnen, du bist noch nicht unterlegen den Mächten der Welt, siehe, da eilt Christus bereits dir entgegen und gestattet nicht, daß deine Prüfung länger währe.

Dann kannst du, wenn du so den Herrn gesucht und gefunden hast, sagen: „Ich hielt ihn und will ihn nimmer lassen, bis ich ihn bringe ins Haus meiner Mutter, in das Gemach meiner Gebärerin.“ Was ist dieses Haus und Gemach deiner Mutter, wenn nicht die innerste Tiefe deines Wesens? S. 175 Dieses Haus bewahre rein und unbefleckt von der Schmach sinnlichen Begehrens: dann wird wie auf heiligem Fundamente zum erhabenen Priesterthum hier dein geistig Haus sich erbauen, und der Geist Gottes wird in ihm wohnen. Wer so Christus sucht und bittet, der wird von ihm nicht verlassen, nein, der wird um so öfter das Glück seiner Heimsuchung erfahren. Ist er ja mit uns bis zu der Welt Ende!

Sagt das hohe Lied: „Er streckte seine Hand durch die Fenster“, so deutet das auf das Auge unserer Seele, mit welchem wir die Werke Christi erkennen. Dann blickt unser Geist auf zu ihm, um die Liebe des göttlichen Wortes zu empfangen. Halte also offen dein Auge und frei von dem Raube, mit welchem die Sünde es verdunkeln kann. Nicht nach weltlicher Lust soll es schauen, sondern nur auf ihn mit reinem, jungfräulichem Blicke. In gleicher Weise sei auch dein Ohr geschlossen: sein einziger Schmuck sei — mit Verachtung allen Gehänges — der treue Entschluß, zu hören, was zu ewigem Nutzen gereicht.

Das Thor aber, das du zur Nachtzeit sollst geschlossen halten, daß Niemand eintreten könne, ist unser Mund, welcher sich kaum jemals öffnen soll, wenn nicht Christus gerufen. Darum heißt es ja auch: „Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine Braut! ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle.“ Soll nun dein Mund sich öffnen zu thörichtem, eitlen Gerede, da du über himmlische Dinge nicht einmal reden darfst, wenn du nicht dem Rufe des ewigen Wortes entgegnest? Was kümmern dich alle Anderen? Nur mit Christus sollst du reden! Wenn einst niedergeschrieben wurde, daß die Frauen in der Kirche schweigen sollten, um wie viel weniger ziemt es dann Jungfrauen und Wittwen, bei jeder Gelegenheit ihren Mund zu öffnen? Wie leicht kann da ein Wort wider die Tugend dir entschlüpfen, das du vergebens dann zurückrufen möchtest?

Hätte Eva diese Vorschrift der Schweigsamkeit beachtet, so wäre Adam nicht verführt worden, und sie selbst hätte auf die listige Frage der Schlange nicht geantwortet. Eva aber schaute hin auf die Frucht, und so trat der Tod durch S. 176 die Augen ein in ihre Seele, als sie der Schlange antwortete. Nicht anders ergeht es dir, wenn du Thörichtes, Sündhaftes oder Vermessenes, ja wenn du auch nur dann redest, wo du es nicht solltest. Geschlossen sollen deine Lippen bleiben, bis die Stimme des Herrn zum Reden dich auffordert.

Ist dann das Wasser der Taufe niedergerieselt über dein Haupt, dann wirst du mit Christus der Welt absterben, um mit ihm wieder zu erstehen. „Wenn ihr“, sagt der Apostel, „mit Christo den Kindheitslehren dieser Welt abgestorben seid, warum urtheilet ihr noch, als lebtet ihr in der Welt? Rühret nicht an, kostet nicht, tastet nicht an Das, was zum Verderben gereicht, wenn man es gebraucht.“ Fern von dem Keuschen muß jede Verderbtheit sein: begrabet also für immer, was Welt und Fleisch euch an Sorge bereitet! „Wenn ihr nun mit Christo auferstanden seid, so suchet, was droben ist, wo Christus ist, der zur Rechten Gottes sitzet.“ Wenn ihr ihn suchet, so werdet ihr auch den Vater sehen, zu dessen Rechten er sitzet.

Willst du aber Christus suchen, so darfst du nicht in Aeußerlichkeit dich verlieren, nicht im freien Weltverkehr dich zerstreuen. Was soll diese geschwätzige Zunge, dieser gezierte Gang, dieses neugierige Aufhorchen, dieser üppige Blick? Der Apostel versagt dir irdischen Verkehr, und er heißt dich über die Grenzen der Natur hinaus mit Geistesflügeln zum Himmel dich zu erheben. „Was droben ist, habet im Sinne, nicht was auf der Erde.“ Weil das aber unmöglich ist, so lange wir von den Banden des Leibes gehalten sind, und weil die Seele erst, wenn sie gelöst ist von diesen Banden, sich zum Himmel erschwingen kann, darum fügt er hinzu: „denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott.“ Ist dem so, so hat die Welt keinen Theil mehr an uns; denn Christus ist der Welt gestorben und lebet nun Gott.

S. 177 So habe denn wohl Acht, wie Christus gesucht sein will, wie er aber thörichtes Geschwätz nicht liebt. Es öffnet die Jungfrau die Thore ihres Herzens dem ewigen Worte Gottes; „er aber“, muß sie mit der Braut sagen, „war weggegangen und entwichen; meine Seele verlor sich selbst, da er redete.“ Sie verlor sich aus der Welt und ihrem Treiben und blieb in Christo. „Ich habe ihn gesucht,“ sagt sie, „aber ich fand ihn nicht.“ So ist es: lange und andauernd will er gesucht werden.

Kapitel XIV

„Da fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen.“ Welches ist diese Stadt, wer sind die Wächter? Das ist jene Stadt, von der geschrieben steht: „Ihre Thore werden am Tage nicht geschlossen werden, denn Nacht wird nicht daselbst sein.“ Es ist das himmlische Jerusalem, in welches du nur mit voller, unbefleckter Reinheit treten kannst: nichts Gemeines kann dort eingehen.

Finden wir nun die Stadt, so wollen wir in sie eintreten und anstaunen ihr Licht, ihre Mauern, ihre Bewohner, ihre Fundamente, und auch die Wächter der Mauern. Wie aber werden wir dort Zugang finden? Dort ist Leben, aber es ist nur ein Weg, der zum Leben führt, und dieser Weg ist Christus: ihm also müssen wir folgen. Im Himmel selbst ist die Stadt gegründet. Wie wir dort hingelangen, lehrt uns Johannes, wenn er sagt: „Und er führte mich im Geiste auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, welche von Gott aus dem Himmel herabstieg.“ Im Geiste also müssen wir uns dorthin aufschwingen; das Fleisch kann nimmer hin gelangen.

„Es hatte aber die Stadt eine hohe, große Mauer mit zwölf Thoren, auf den Thoren zwölf Engel, und Namen waren darauf geschrieben, welches die Namen der zwölf S. 178 Stämme Israels sind.“ Auf den Thoren standen die Namen der Patriarchen, auf den zwölf Grundsteinen der Mauer aber die Namen der Apostel; der Eckstein ist Christus, auf dem der ganze Bau ruhet. Gott aber ist außer- und innerhalb, er ist überall; „denn die Stadt hat die Klarheit Gottes.“ Darum also seid ihr, heilige Jungfrauen und ihr Alle, die ihr gerecht seid und unbefleckt die Reinheit euerer Seele bewahret, darum seid ihr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. Dort werdet ihr Theil haben an der Herrlichkeit des himmlischen Vaterlandes, wenn ihr Christus dort gesucht habt, wenn ihr eingetreten seid durch den Glauben und kostbare Tugendwerke; dort werdet ihr verklärt sein in dem Lichte, das die Patriarchen umstrahlt, gegründet auf die Apostel, in stetem Verkehr mit den Engeln.

Wer nun Christus allezeit gesucht hat, der kann, wenn er treu aushält, den Engeln Gottes begegnen, welche die Stadt bewachen. Nur müßte er den Herrn suchen auch auf dem Lager nach den Worten des Psalmisten: „So habe ich dein gedacht auf meinem Lager;“ bei Nacht, in Erinnerung an jene Worte: „In der Nacht erhebet eure Hände zu meinem Heiligthume.“ Er müßte ihn suchen auch in der Stadt, aber in der Stadt unseres Gottes; auf dem Markte, aber auf jenem, wo der Richter des göttlichen Gesetzes sitzet, und auf den Gassen, wo Jene versammelt sind, welche eingeladen werden zu dem himmlischen Gastmahle.

Wenn aber Jemand geschmückt mit solch’ hehren Verdiensten zu den Engeln kommt, wie kann er verwundet werden? Es gibt ein gutes Schwert, das heilsame Wunden schlägt. Oder trifft das Wort des Herrn nicht so, ohne zu schaden? Das sind die Wunden der Liebe; und „besser sind die Wunden des Liebenden, als die listigen Küsse des Hassers.“ Das Wort des Herrn läutert und reinigt. „Selig aber sind, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott anschauen.“

Kapitel XV

S. 179 So suche ihn denn, jungfräuliche Seele! Doch nein, suchen wir ihn vielmehr Alle! Mit Gebet und heissem Flehen müssen wir Gott einladen, daß er mit dem milden Hauche seiner Gnade uns berühre, daß er das überströmende milde Erbarmen des Wortes uns zuwende. So sagt die Braut des hohen Liedes: „Er setzte mich auf die Wagen Aminadabs.“ So lange nämlich unsere Seele im Körper weilt, gleicht sie einem Wagen mit unbändigen Rossen, und sie bedarf deßhalb eines kundigen Lenkers. Aminadab war der Vater Naasons, eines Fürsten in Juda; er ist ein Vorbild Christi, der als der wahre König seines Volkes auch unsere Seele mit dem Zügel seines Wortes lenkt, damit sie nicht in den Abgrund versinkt, gleich den Wagen, von wildgewordenen, unbändigen Rossen gezogen.

Vier Rossen gleich sind die Leidenschaften unserer Seele: Zorn, Habgier, Wollust, Furcht. Unter ihrer Herrschaft kennt die Seele sich selbst nicht: der irdische Leib beschwert die Seele und reißt sie wider ihren Willen mit der Gewalt unsinniger Thiere fort. Dann folgt sie unaufhaltsam dem Anstoß der Leidenschaft, bis diese unter dem mächtigen Drucke des göttlichen Wortes sich beruhigt. So handelt der Hirt unserer Seele, einem weisen Wagenlenker vergleichbar; er hindert, daß der sterbliche Leib der unsterblichen Seele die Freiheit der Bewegung raube.

Vor Allem soll man deßhalb die leidenschaftlichen Regungen der sinnlichen Natur beherrschen und mittels der S. 180 Vernunft zügeln. Aber auch darauf soll man sehen, daß Gleichmäßigkeit in dem Gebrauche der Fähigkeiten waltet, damit es nicht so ergeht, als wenn ein langsames, träges Roß hindert, oder als wenn ein stürmisches stete Unruhe bereitet: leicht bäumt sich das wilde, boshafte Roß, belästigt das Nebengespann und bringt, sich überschlagend, das Gefährt zum Sturze. Hier soll nun der gute Lenker besänftigen, wie Christus es thut, der auf das Feld der Wahrheit uns führt und den zerschmetternden Fall in die Tiefen des Irrthums verhindert. Zum Himmel droben führt sicherer Weg, aber abwärts birgt der Weg viele Gefahren. Wer dann treu das Joch des Wortes getragen, der kommt zum Hause des Herrn, wo seiner als Nahrung harret das Brod, das vom Himmel herabgekommen ist.

Kapitel XVI

Damit wir aber nicht ferner gefährlichem Falle ausgesetzt seien, so wird das ewige Wort eingeladen, herniederzusteigen in jenen Nußgarten, in dem die gnadenreichen Früchte priesterlichen Lebens reifen, das so harte Prüfungen auflegt, das so voll von anstrengender Arbeit, aber auch so fruchtbar an heiliger Tugend ist. So ergrünte ja auch der Stab Aarons nicht in natürlicher Weise, sondern lediglich durch göttliche Kraft. Ja, der Herr möge herniedersteigen in seinen Garten, um die Früchte des Glaubens dort zu ernten und an dem Dufte der Blüthen sich zu laben, nach den Worten: „Ich habe gepflückt meine Myrrhe mit meinen Gewürzen, gegessen mein Brod mit meinem Honig.“ Aus den Blüthen verschiedener Tugend sammelt die Kirche, S. 181 der Biene vergleichlich, um geistigen Honig, gleichsam zur Speise für den Herrn, zu bereiten.

Alles also haben wir in Christo. Jede Seele soll zu ihm hingehen, gleichviel ob sie an Fleischessünden todtkrank ist, wie mit Nägeln festgeheftet an sündhafte Begierden, oder ob sie, trotz ihrer Bemühungen in Gebet und Betrachtung, noch in Unvollkommenheit wanket, oder ob sie endlich in einzelnen Tugenden bereits die Höhe der Vollkommenheit erstiegen hat: jede Seele ist in der mächtigen Hand des Herrn, und Christus ist für uns Alles. Willst du, daß deine Wunde heile: er ist der Arzt; glühst du vor Fieberhitze: er ist erfrischende Quelle; sinkst du zusammen unter der Ungerechtigkeit deiner Werke: er ist die ewige Gerechtigkeit; bedarfst du der Hilfe: er ist die Allmacht; fürchtest du den Tod: er ist das Leben; verlangst du zum Himmel: er ist der Weg; willst du die Finsterniß fliehen: er ist das Licht; suchst du Speise: er ist das Brod des Lebens. „Kostet also und sehet, wie süß der Herr ist; selig der Mann, der auf ihn hoffet.“

Auf ihn hoffte jenes Weib, das am Blutflusse litt und alsbald geheilt wurde, weil sie vertrauend zu ihm hintrat. So tritt auch du hin, meine Tochter, berühre vom Glauben beseelt den Saum seines Gewandes. Alsbald wird der überwallende Strom deiner sinnlichen Begierden erstarren, wenn du nur gläubig voll Verehrung das leiseste Wort aus seinem göttlichen Munde annimmst, wenn du zitternd niedersinkest zu den Füßen des Herrn. O Glaube, kostbarer als alle Schätze! stärker als alle Macht der Welt! heilbringender, als alle Wissenschaft des Arztes! Kaum trat das Weib zu ihm hin, so fühlte sie schon die Kraft und erlangte Heilung. So trifft der Strahl, wenn du dein Auge dem Lichte zuwendest, dich erleuchtend, noch ehe du dessen inne wirst, und die Wirkung ist da, ehe du sie fühlst. Altes, unheilbares Leiden, das aller Kunst der Aerzte spottet, das nicht weicht trotz des aufgewendeten ganzen Vermögens, wird geheilt bei S. 182 der bloßen Berührung des Gewandes. Sowie jenes Weib, sollst du, o Jungfrau, in Ehrfurcht dem Herrn dich nahen, in festem Glauben ihn verehren.

Wie groß ist nun die Begnadigung, wenn diejenige, welche sich scheut, vor die Menschen hinzutreten, sich nicht schämt, ihren Fehler zu bekennen! Verheimliche deine Fehltritte nicht, bekenne nur muthig, was der Herr doch schon weiß; schäme dich nicht, dessen auch die Propheten sich nicht schämten. „Heile mich, o Herr! und ich werde geheilt werden!“ spricht Jeremias. So sprach auch jenes Weib, das den Saum des Gewandes Christi berührte: „Heile mich, Herr! und ich werde geheilt werden; rette mich, und ich werde gerettet sein; denn du, o Herr, bist mein Ruhm und mein Preis, und genesen wird nur, den du heilest.“

Will nun Jemand dir einwenden, weil auch die Gläubigen gar manche Versuchung erdulden müssen: „Wo ist des Herrn Wort? Es komme doch!“ — so vergiß nicht, daß auch zu dem Herrn einst gesagt wurde: „Er möge herabsteigen vom Kreuze, so wollen wir ihm glauben; er hat auf den Herrn vertraut, der rette ihn jetzt, wenn er ein Wohlgefallen an ihm hat.“ Wenn man in solcher Weise höhnend zu dir spricht, als ruhe dein Vertrauen auf thörichter Fabel, so antworte nimmer. Wollte doch auch Christus die Spötter nicht eines einzigen Wortes würdigen! Ihn allein sollst du fragen, nur ihm antworten. Redest du zu jenen, sie glauben dir nicht; fragst du sie, so lassen sie dich ohne Antwort. So sprich denn mit dem Propheten zu deinem Heilande: „Ich war ohne Beschwerden, da ich dir folgte, und Menschentage habe ich nicht begehrt.“

S. 183 So sprach auch jenes Weib, und sofort war sie geheilt. Obgleich matt und krank, da sie so lange den Herrn gesucht hatte, sprach sie doch: „Ich hatte keine Beschwerden, da ich dir folgte.“ So ist es in der That: wer Christus folgt, der fühlt keine Beschwerden, weil er die Mühseligen gerade zu sich ruft, um sie zu erquicken. So folgen wir ihm denn, von dem mit Recht der Prophet sagt: „Die auf den Herrn hoffen, erneuern ihre Kraft, befiedern sich wie Adler, laufen und werden nicht müde, gehen und werden nicht matt.“

So scheuen wir denn nicht das Bekenntniß. Mit Jeremias können wir sagen: „Du weißt es, o Herr! was herausging aus meinen Lippen, lag stets offen vor dir.“ Darum scheue ich mich nicht, die eigenen Sünden zu bekennen, und zu bitten: „Laß zu Schanden werden, die mich verfolgen, aber mich laß nicht zu Schanden werden!“

Petrus scheute sich nicht zu rufen: „Weiche von mir, Herr! denn ich bin ein sündiger Mensch.“ Der weise, hehre Mann, in dem die Kraft der Kirche ruht und das höchste Amt der Leitung: er erkennt, daß es für ihn nichts Nützlicheres gebe, als sich über den Erfolg des unternommenen Werkes nicht zu überheben. Darum sagt er: „Weiche von mir, Herr!“ Er bittet nicht in der Absicht, verlassen zu werden, sondern lediglich, um sich vor Hochmuth zu bewahren.

Auch Paulus redet von dem Stachel des Fleisches, der bewirke, daß er selbst sich nicht überhebe. Gefährlich, einschmeichelnd muß dieser Stolz sein, da selbst Paulus ihn fürchtet. Und doch ist der nicht leicht zum Falle zu bringen, der fürchtet, sich um der empfangenen Offenbarungen willen überheben zu können. Aber einem tapferen Kämpfer gleich S. 184 freut er sich, unter den Gefahren, welche die Leiblichkeit ihm bereitet, die Seele zu bewahren und zu retten.

Kapitel XVII

So sollst auch du, wenn du erkennst, wie die göttlichen Gnadengeschenke überreichlich dir zuströmen, deine eigene Tugend wohl abmessen. Gott dem Herrn zolle Dank, betrachte die Armseligkeit deines Leibes, wie man den Ballast eines Schiffes ansiehet. Laß dich nie in den mächtigen Wogen dieser Welt von dem gefahrdrohenden Winde des Hochmuthes dahintreiben. So verläßt die Biene, wenn sie heftigere Luftströmungen bemerkt, ihr Versteck unter kleinen Steinchen erst dann, wenn sie durch ruhige, stille Luft hinfliegen kann, damit die Windstöße das schwache Ruder ihrer kleinen Flügel nicht zerbrechen. — So glaubten Paulus und Barnabas schon durch den bloßen Anblick des heidnischen Opfers ihr Gewissen zu beschweren. So hüte auch du dich, jungfräuliche Seele, daß die Strömungen dieser Welt dich nicht zu unbesonnenem Fluge veranlassen.

Auch die Seele hat ja ihre Flügel, wie der Prophet sagt: „Wer sind die, welche wie Wolken daher fliegen und wie Tauben mit ihren Jungen?“ So durchfliegt die Seele in einem Augenblicke den Erdkreis. Ungehindert sind die Gedanken der Weisen; aber zu je höherem Fluge bis zum Himmel selbst sie sich erheben, desto weniger werden sie durch irdische Hindernisse zurückgehalten. Derjenige, welcher Gott anhängt und das göttliche Abbild seiner Seele treu in sich bewahrt, der schwingt sich, getragen von dem Hauche der Gnade, empor bis zu jenem erhabenen Orte, wo Gott selber thront: dann aber verachtet er Alles, was in der Welt ist. Das Auge unverwandt auf die ewigen Tugenden gerichtet, steigt er über die Welt hoch hinaus. Ueber ihr Können geht ja die Gerechtigkeit, die Keuschheit, die Güte, S. 185 die Liebe, die Weisheit: finden sich diese Tugenden in der Welt, so sind sie doch nicht in ihr erwachsen, sondern von oben in sie verpflanzt.

Das gestand selbst Satan, da er alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit bot. Darum konnte der Herr sagen: „Es kommt der Fürst dieser Welt, aber an mir hat er Nichts.“ Lernet denn auch ihr, in der Welt und doch ihr entrückt sein. Ist der Leib an die Erde gebunden, so schwinget desto freier die Flügel eurer Seele. Ein überirdisch Leben führt Jener, der Gott in seiner Seele trägt. „Aber wir können doch Gott nicht nachahmen?!“ So ahmen wir die Apostel nach, welche die Welt gehaßt hat, weil sie nicht von der Welt waren. Sie ahmet nach, ihnen folget! Wenn du nun meinst, daß es menschlicher Kraft schwer falle, über die Welt hinaus sich zu erheben, so hast du Recht; aber vergiß doch nicht, daß auch die Apostel erst als Schüler Christi in seiner treuen Nachfolge gelernt und verdient haben, mitten in der Welt ein himmlisches Leben zu führen. So sei auch du, jungfräuliche Seele, Christi lernbegierige Schülerin: dann bittet er auch für dich, wie er für seine Apostel gebeten hat. „Nicht für sie allein bitte ich,“ hat er zu seinem Vater gesagt, „sondern für Alle, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit Alle Eins sind.“ Der Herr will, daß wir Alle Eins seien, damit wir Alle ein überirdisch Leben führen.

So seien wir denn nicht träge; erheben wir uns von der Erde und ihrem Treiben. Wird ja die Kraft der Flügel durch Uebung vermehrt. Folgt die Seele Gott, strebt sie in erhabenem Fluge dem Hause des Herrn zu, dort zu wohnen: so erquickt sie sich an dessen Herrlichkeit und nährt Muth und Kraft durch das erhabene Beispiel göttlicher Tugenden. Dann streift sich mehr und mehr ab alles irdische Begehren, alle niedrige Gesinnung, welche den Tempel des Herrn nicht beflecken dürfen. Sind wir nun in Wahrheit Tempel Gottes, so entsagen wir denn für immer aller fleischlichen Sorge.

Kapitel XVIII

S. 186 Man soll übrigens nicht glauben, daß wir alten Dichtern und Philosophen folgen, wenn wir eben von Flügeln der Seele sprachen, wenn wir das Bild eines Wagens mit seinen Rossen auf sie anwenden. Wir haben vielmehr lediglich an die heiligen Schriftsteller uns gehalten. So schreibt der Prophet Ezechiel: „Die Hand des Herrn kam über mich; und ich schaute, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Mitternacht her, eine große Wolke, Feuer darin, Glanz um sie her und mitten in dem Feuer war es wie lichthelle. Und darin war die Gestalt von vier lebenden Wesen. — Ihre Gesichter aber waren so gestaltet: ein Menschengesicht, dann ein Löwengesicht zur Rechten bei allen Vieren, dann ein Rindgesicht zur Linken bei allen Vieren und überdieß ein Adlergesicht bei allen Vieren — ihre Flügel aber waren ausgespannt.“

Hier haben wir jene Darstellung der Seele kennen gelernt. Die vier lebenden Wesen deuten auf die vier Seelenthätigkeiten: in dem Menschengesichte wird das Vernünftige, in dem Löwen das Muthige, in dem Rinde das Begehrliche, in dem Adler das Erkennende ausgedrückt. So sprechen auch die griechischen Philosophen bei der Seele von einem: λογιστικόν, θυμηθικόν, ἐπιθυμητικόν, διορατικόν [logistikon, thymēthikon, epithymētikon, dioratikon], die lateinischen aber von: prudentia, fortitudo, temperantia, iustitia. Die Klugheit eignet der S. 187 menschlichen Vernunft; der Starkmuth ruht auf einer gewissen Kraft, die gewaltigen Muth und Verachtung des Todes lehrt; die Mäßigkeit bindet durch heilige Liebe und durch Betrachtung der himmlischen Geheimnisse die Gelüste des Fleisches; die Gerechtigkeit aber, mehr für Andere, als für sich selbst besorgt, — mehr bedacht auf das öffentliche Wohl, als auf eigenen Nutzen, übersieht und durchforscht Alles von erhabenem Standpunkte aus. Deßhalb wird auch die Seele, sofern sie die Tugend der Gerechtigkeit anstrebt, mit einem Adler verglichen, weil sie dann alles rein Irdische unbeachtet läßt und nur in Erforschung der himmlischen Geheimnisse versenkt die Glorie der Auferstehung für sich gewinnt. Deßhalb ist auch zu ihr gerade gesagt: „Dem Adler gleich wird deine Jugend erneuert.“

Es ist darnach auch dem königlichen Sänger ganz entsprechend, von Flügeln der Seele zu reden. An einem anderen Orte sagt er: „Unsere Seele ist entronnen, wie ein Vogel dem Stricke der Jäger,“ und wiederum: „Ich vertraue auf den Herrn; wie saget ihr zu meiner Seele: Fliehe, wie ein Sperling auf den Berg?“ Die Seele hat S. 188 also ihre Flügel, mit denen sie sich frei erheben kann von der Erde, deren Kräftigung in der fortgesetzten Uebung guter Werke besteht. So soll denn die Seele auch die Gnade des Herrn in sich anregen und dessen, was hinter uns liegt, vergessend dem zustreben, was vor uns liegt, was in der Ewigkeit uns bestimmt ist. Sie soll ferne sich halten von den Ehren des öffentlichen Lebens, ferne von der sengenden Gluth weltlicher Leidenschaft; es möchte ihr sonst gehen, wie jenem mythischen Ikarus, dessen künstliche Flügel unter den Strahlen der Sonne sich lösten, so daß er elend niederfiel. Es mag gestattet sein, in ernster Rede dieser Fabel zu gedenken; in ihrer Tiefe liegt ja ohnehin die Lehre verborgen, daß der Seelenflug durch die Welt nur für die gereifte Tugend ohne Gefahr ist, daß aber die unerfahrene, leichtsinnige Jugend gar bald den Gelüsten der Welt anheimfällt, und dann, wenn das Band der Wahrheit, das die Seele mit Gott verknüpft, gelockert ist, in unsäglichem Elende zur Erde niedersinkt.

Nicht leicht ist dieser Aufschwung für Alle; gar schwierig ist der Lebenslauf, wenn die Seelenfähigkeiten mit einander im Kampfe liegen. Herrscht aber hier volle Übereinstimmung, so wird der Prophet auch in uns jenes Rad erblicken, das er in seinem Gesichte schaute „auf dem Boden neben den Wesen, und das Rad war wie vierfach.“ Das Rad sinnbildet unser Leibesleben, wenn dieses getragen ist von dem Tugendleben der Seele und den Vorschriften des Evangeliums gemäß verläuft. So wie im Gesichte Ezechiels das „Rad im Rade“ erschien, so ist unser Leben im Leben. Steht ja das Leben der Heiligen für Vergangenheit und Zukunft nicht im Widerspruch, und außerdem wird im Leibesleben das ewige Leben begonnen.

Ist diese Übereinstimmung vorhanden, dann wird auch zu uns die Stimme Gottes erschallen und in unserem Herzen wird wie auf einer Throngestalt sich niederlassen eine S. 189 Gestalt, anzusehen wie ein Mensch; das ist das Wort, das „Fleisch geworden“. Dieser Gottmensch ist der Beherrscher unserer Seelenthätigkeiten, der Lenker unserer Sitten. Je nach dem Maaße unserer Verdienste besteigt er für uns den Berg oder das Schiff. Das ist aber jenes Schiff, das die Apostel führt, in dem Petrus seinen Fischfang hält. Kein gemeines Schiff ist das, welches auf’s hohe Meer geführt, das heißt: von den Ungläubigen getrennt wird. Warum aber ist es gerade ein Schiff, das der Herr besteigt, von dem aus die Volksschaaren belehrt werden? Weil die Kirche jenes Schiff ist, das unter wehender Kreuzesflagge von dem Hauche des göttlichen Geistes getrieben hinsegelt durch die stürmende Welt.

Von hier aus hält Petrus seinen Fischzug. Bald heißt ihn der Herr das Netz, dann wieder die Angel auswerfen. Ausgeworfen wird die Angel in die Welt, um vor Allen aus ihr, wie aus des Meeres Tiefe, den ersten Märtyrer Stephanus zu heben, der in sich den Schatz birgt, der Christus muß gezollt werden: der Märtyrer Christi ist ja der Schatz der Kirche. Jener nun, der von der Erde zuerst zum Himmel heranstieg, war als Diacon von Petrus gewonnen, wie einst der Fisch, den er an der Angel aus dem Meere hob: so ward auch Stephanus unter Strömen Blutes zum Himmel emporgetragen. In seinem Munde ruhete der Schatz, da er Christus in feierlicher Rede bekannte. — Welcher Schatz ruht in uns, wenn nicht das „Wort Gottes?“ Gottes Netz und Angel werden ausgeworfen. Das Netz holt Schaaren des Volkes aus der Tiefe; die Angel bringt einzelne Auserwählte. Ach, daß es mir vergönnt wäre, jene heilige Angel in meinem Munde zu fühlen, die zu voller Gluth mein Herz entzündete, und mit seliger Wunde mir ewiges Heil gewänne!

Kapitel XIX

Tretet denn ein, jungfräuliche Seelen, in die Netze der Apostel, welche nicht auf Menschen, sondern auf Gottes Geheiß ausgeworfen werden. Es ist das Netz himmlischer Weisheit und Lehre, es ist das Himmelreich nach jenem S. 190 Worte des Herrn: „Das Himmelreich ist gleich einem Netze, das ins Meer geworfen ward.“

Ihr habt gehört, daß der Herr zu Simon gesprochen: „Fahre hinaus in die Tiefe, und werfet eure Netze zum Fange aus.“ Vorher hatte Petrus an dem Ufer in seichtem Wasser den Fang versucht. Ein Geheimniß liegt hier verborgen. „Tiefe Wasser“, sagt der weise Mann, „sind die Worte aus des erfahrenen Mannes Herzen.“ Ja, tief ist des Mannes Herz ohne Seichtigkeit. Hier senke ein die siegesgewissen Worte deines gläubigen Mundes. So ruft der Herr den Petrus mit dem einfachen Worte: „Komme, ich will dich zum Menschenfischer machen.“

Ein anderes Geheimniß birgt sich hier noch: „Fahre hinaus in die Tiefe!“ sagt der Herr zu Petrus, der gewissermaßen auf ödem Sandgefilde sich befand, so lange er der Synagoge angehörte: da gab es keine Tiefe des Wassers. Wird dem Petrus nun der Befehl: „Fahre hinaus in die Tiefe oder auf die Höhe des Meeres,“ so heißt das nichts anderes, als: „Fahre hin zu Christus!“ Er ist ja der Höchste, wie Zacharias dem Sohne bekennt: „Du wirst, mein Sohn, Prophet des Allerhöchsten genannt werden!“ In ihm ruht auch die Tiefe der Reichthümer der Weisheit und der Allwissenheit des ewigen Gottes.

Dort also ist die Tiefe der Wasser, d. h. des Glaubens, wo Christus ist. Jene Gewässer sind das, von denen der Psalmist singt: „Es sahen dich die Wasser, o Gott! es sahen dich die Wasser und fürchteten sich, es bebten die Tiefen.“ Bei den Juden fehlte die Tiefe des Herzens; darum sagte der Herr: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit von mir entfernt.“ Christus liebt es im Herzen zu weilen nach seinem eigenen Worte: „Gleichwie Jonas drei Tage und drei Nächte in dem Bauche des Fisches gewesen, also wird auch der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein.“

S. 191 Petrus selbst gibt aber deutlich genug kund, daß die Worte des Herrn: „Fahre hinaus in die Tiefe!“ vom Glauben zu verstehen seien. „Meister,“ sagt er, „wir haben die ganze Nacht gearbeitet und Nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen.“ Die Nacht umgab den Petrus, ehe er Christus erblickte. Der Tag war ihm noch nicht angebrochen, weil ihm das wahre Licht noch verborgen war. Die Synagoge ist Nacht, die Kirche erst ist Tag. Deßhalb sagt auch Paulus: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber hat sich genahet.“ Gebenedeit sei das Licht, welches die Finsternis der alten Treulosigkeit vertreibt und den Tag echten Glaubens anbrechen läßt. Tag ward es für Petrus, Tag auch für Paulus. Deßhalb gelten heute, an ihrem Feste, die Worte des heiligen Geistes: „Ein Tag bringt dem anderen das Wort herfür.“ Beide verkünden aus der Fülle ihres Herzens den Glauben an Jesus Christus, und selig der doppelt heilige Tag, der uns das wahre Licht gebracht hat!

Was wir im Evangelium lesen, das wiederholt sich vielleicht im Himmel. Dort reden Christus, der Herr, und Petrus vielleicht wie einst. „Fahre hinaus in die Tiefe!“ spricht der Herr noch immer, und es ist mir, als hörte ich Petrus sagen: „Meister! wir haben die ganze Nacht gearbeitet und Nichts gefangen.“ Die Vigilfeier fand statt: aber gar Wenige haben dazu sich eingefunden. Wenn unsere Frömmigkeit und unsere andächtige Geistesstimmung schwindet, so mühen sich Petrus und Paulus um uns. Oder hat nicht Paulus gesagt: „Wer wird schwach, ohne daß ich zugleich schwach werde?“ Lasset doch, meine Geliebten! die Apostel für euch sich abmühen! Es ist ein traurig Wort, wenn sie sagen müssen: „Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und Nichts gefangen.“ Keiner von den Reicheren hat wohl heute gefastet. Ihnen sagt deßhalb Petrus mit Recht: „Wandelt in Furcht, so lange ihr hier pilgert, da S. 192 ihr wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Golde oder Silber erlöset seid von dem eitlen Wandel, der sich von den Vätern auf euch vererbt hat, sondern mit dem kostbaren Blute Christi, als eines unbefleckten und tadellosen Lammes.“ Gold und Silber hat euch also nicht befreiet, sondern die Bewährung des Glaubens rettet euch, die kostbarer ist als vorzügliches Gold.

Ein treuer Knecht bemüht sich, dem Herrn den Preis wieder zu erwerben, der für ihn gezahlt ist. Ihr, jungfräuliche Seelen! sollet dabei nicht denken an Erwerben von Gold und Silber; oder hat Christus euch um diesen Preis erkauft? Haltet den Preis bereit; er wird nicht immer eingefordert aber du schuldest ihm immer. Dein Heiland hat sein Blut für dich hingegeben: so schuldest auch du ihm dein Blut. Gab er es für dich, so gib auch du es für ihn. Wir waren einem gar bösen Gläubiger verpfändet durch unsere Sünden, wir hatten den Schuldschein vollzogen, den wir nur mit unserem Blute einlösen konnten, da kam der Herr Jesus, um sein Blut für uns hinzugeben. Du kannst dein Blut freilich nicht hingeben.

Wenn nun ein treuer Knecht den Preis, um den er erworben ward, nicht ganz erstatten kann, so muß er doch wenigstens so sich halten, daß er des Preises nicht unwürdig erscheint. So zeiget auch Ihr euch würdig des so hohen Preises; es möchte sonst Christus, der uns gereinigt, der uns wieder erworben hat, klagend ausrufen, wenn er in Sünden euch findet: „Welcher Nutzen ist nun in meinem Blute, wenn ich zur Verwesung hinabsteige?“

Wundert euch nicht, wie der zur Verwesung herabsteigen könnte, dessen Fleisch, wie es an einer anderen Stelle heißt, die Verwesung nicht geschaut hat. Er stieg ja auch hinab zu dem Orte der Verwesung, da er in die Vorhölle eintrat: aber unverweslich seiner Natur nach, gestattete er der Verwesung keine Gewalt über sich.

Kapitel XX

S. 193 Um aber auf Früheres zurückzugreifen, so bittet den Herrn, daß auch an mich das Wort ergehe: „Fahre hinaus auf die Tiefe des Meeres und wirf dort die Netze aus.“ Wer kann ohne Gottes Geheiß und Schutz diesen Fischzug unternehmen, zumal wenn solches Wogen und Stürmen der Welt entgegensteht? Wenn aber der Herr es will, so befiehlt er, die Netze einzusenken, und es wird eine Menge Fische gefangen, so daß nicht allein das Schiff des Petrus, sondern auch das andere gefüllt wird, zum Zeichen, daß alle die verschiedenen Kirchen makellose Gemeinden erhalten werden. Gepriesen sei aber der Herr, daß er im Hinblicke auf unser Mühen uns Genossen im heiligen Dienste gegeben. So können wir denn auch in dieser unserer Kirche zu Mailand bitten, da der apostolische Fischer nicht fehlt: „Zeige uns, Herr, Seelen; die Arbeiter, sie dir zu gewinnen, fehlen nicht!“

Es sind aber nicht bloß die eigenen, nein! es sind auch die Netze der Apostel, die wir auswerfen. In ihnen und in sicheren Stätten apostolischer Anordnung möge eure Schaar, jungfräuliche Seelen, Zugang finden! Auch euch möge Petrus zum Leben rufen! Wenn er schon den Wittwen zu Hülfe kam, um wie viel mehr tritt er für Jungfrauen auf! Er konnte die Thränen der Wittwen nicht ertragen, und von Mitleid bewegt erweckte er die Ernährerin. — Paulus möge euch erwecken, der verlangt hat, daß ihr geehrt würdet, wenn er sagt: „Es ist aber gut, wenn sie bleiben, wie auch ich bin.“ So ruft er durch den Hinweis auf die Ehre, wie er mit Wort und Beispiel selbst die Jungfräulichkeit lehrt. Jene, welche Alles verließen und dem Herrn folgten: Petrus und Johannes, mögen eurer sich annehmen.

Beachtet aber auch, was jener große Fischer gewonnen hat. Während er vorher auf dem Meere seinen Gewinn suchte, fand er darnach das Leben Aller. Den armen Fischerkahn verließ er, das Ruderholz legte er nieder, und er fand Gott den Herrn, er S. 194 gewann das ewige Wort. Er senkte das Garn und befestigte seinen Glauben; er legte das Netz zusammen und hob Tausende von Menschen. Er verachtete das Meer dieses Lebens: da gewann er den Himmel. Während er also auf dem erregten Meere sich abmühete, da gründete er Jene, welche in ihrem wankenden Geiste eines festen Stützpunktes entbehrten, auf den Felsen.

Weisen wir denn öfters hin auf die himmlische Kunst des Fischers, damit wir desto tiefer von seiner inneren Kraft überzeugt werden. War jener Diener Gottes niedrig, um so erhabener wird der Evangelist; war er arm, wie nur Jemand sein kann, so ist er an Tugend desto reicher; erschien er aller äußeren Ehre baar, doppelt strahlt der Schmuck des Glaubens. Je weniger dem armen Fischer die Welt anvertraut, um so viel mehr vertrauen wir ihm: es sind ja nicht seine, es sind himmlische Worte, die er redet. Das arme Herkommen, der geringe Stand gestattet nicht, daß wir menschliches Wissen hier erwarten, mehrt aber die Gewißheit, daß göttliche Weisheit waltet. Wer das Gesetz nicht erlernt hat, und doch versteht, was des Gesetzes ist, der ist sich selbst Gesetz; wer das Gesetz nicht erlernt hat und doch Erhabeneres noch als das Gesetz redet, der hat von Jenem es empfangen, von dem das Gesetz selbst seinen Ursprung hat.

Woher denn so plötzlich die erhabene Würde? Jene beiden Fischer werden auf dem Berge der Verklärung einmal dem Gesetzgeber, zum Anderen dem Vollzieher des Gesetzes beigesellt. Und wie erhaben ist der arme Fischer! Moses überschreitet mit der wunderbaren Schärfe seines Geistes zwar alles Irdische und steigt über die Höhen menschlichen Wissens hinaus bis zu des Himmels Gestirnen und bis zum Himmel selbst: aber der Geist des Fischers wird auch durch die Wolken nicht gehemmt; keine Zeit setzt ihm Schranken, nicht einmal die Geheimnisse des göttlichen Wesens können sich ihm verschließen. Er erblickt das Wort selbst bei Gott und schauet, wie das Wort Gott war. Ja selbst im Hinblick auf die Menschengestalt zögert Petrus nicht, den Sohn Gottes in sterblicher Hülle zu erkennen. S. 195 So ging dann auf den Namen des Schöpfers selbst über die Annahme sterblichen Fleisches, welche dem ewigen Rechtsanspruche auf die Gottheit beigefügt ward.

Wenn Moses sagt: „Gott sprach“ und „Gott schuf“, so bezeichnet er den Vater und den Sohn; er erkannte ihn wohl, ich kannte ihn noch immer nicht. Inzwischen hat das Volk auch nach dem Gesetze noch geirrt, aber seitdem das Evangelium verkündet ward, hat es geglaubt. Groß und wunderbar ist die Gnade des Herrn in den verschiedenen Wirkungen. In Moses war sie groß, da er die Welt beschrieb; in Petrus, da er die Welt verachtete.

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