Veritatis splendor (Wortlaut): Unterschied zwischen den Versionen
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− | DER GLANZ DER WAHRHEIT erstrahlt in den Werken des | + | DER GLANZ DER WAHRHEIT erstrahlt in den Werken des [[Schöpfer]]s und in besonderer Weise in dem nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenen [[Mensch]]en (vgl. Gen 1, 26): die [[Wahrheit]] erleuchtet den Verstand und formt die [[Freiheit]] des Menschen, der auf diese Weise angeleitet wird, den [[Herr]]n zu erkennen und zu lieben. Darum betet der Psalmist: "Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!" (Ps 4, 7). |
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===Jesus Christus, das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet=== | ===Jesus Christus, das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet=== | ||
− | '''1''' Durch den Glauben an Jesus Christus, "das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1, 9), zum Heil berufen, werden die Menschen "Licht durch den Herrn" und "Kinder des Lichts" (Eph 5, 8) und heiligen sich durch den "Gehorsam gegenüber der Wahrheit" (1 Petr 1, 22). | + | '''1''' Durch den [[Glauben]] an [[Jesus Christus]], "das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1, 9), zum Heil berufen, werden die Menschen "Licht durch den Herrn" und "Kinder des Lichts" (Eph 5, 8) und heiligen sich durch den "Gehorsam gegenüber der Wahrheit" (1 Petr 1, 22). |
− | Dieser Gehorsam ist nicht immer leicht. In der Folge der geheimnisvollen Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der "ein Lügner und der Vater der Lüge ist" (Joh 8, 44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen und wahren Gott ab- und den | + | Dieser [[Gehorsam]] ist nicht immer leicht. In der Folge der geheimnisvollen Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der "ein Lügner und der Vater der Lüge ist" (Joh 8, 44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen und wahren [[Gott]] ab- und den [[Götze]]n zuzuwenden (vgl. 1 Thess 1, 9), während er "die Wahrheit Gottes mit der Lüge" vertauscht (Röm 1, 25); damit wird auch seine Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, beeinträchtigt und sein Wille, sich ihr zu unterwerfen, geschwächt. Und so geht er, während er sich dem [[Relativismus]] und [[Skeptizismus]] überlässt (vgl. Joh 18, 38), auf die Suche nach einer trügerischen Freiheit außerhalb dieser Wahrheit. |
− | Aber keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen. Davon gibt das unermüdliche menschliche Suchen und Forschen auf jedem Gebiet ein beredtes Zeugnis. Das beweist noch mehr die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist zwar ein großartiges Zeugnis der Fähigkeit des Verstandes und der Ausdauer der Menschen, befreit aber die Menschheit nicht davon, sich letzte religiöse Fragen zu stellen, sie spornt sie vielmehr dazu an, die schmerzlichsten und entscheidendsten Kämpfe, jene im Herzen und im Gewissen, auszutragen. | + | Aber keine Finsternis des Irrtums und der [[Sünde]] vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen. Davon gibt das unermüdliche menschliche Suchen und Forschen auf jedem Gebiet ein beredtes Zeugnis. Das beweist noch mehr die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Entwicklung von [[Wissenschaft]] und Technik ist zwar ein großartiges Zeugnis der Fähigkeit des Verstandes und der Ausdauer der Menschen, befreit aber die Menschheit nicht davon, sich letzte religiöse Fragen zu stellen, sie spornt sie vielmehr dazu an, die schmerzlichsten und entscheidendsten Kämpfe, jene im Herzen und im [[Gewissen]], auszutragen. |
− | '''2''' Jeder Mensch muss sich den grundlegenden Fragen stellen: Was soll ich tun? Wie ist das Gute vom Bösen zu unterscheiden? Die Antwort ist, wie der Psalmist bezeugt, nur möglich dank des Glanzes der Wahrheit, die im Innersten des menschlichen Geistes erstrahlt: "Viele sagen: 'Wer macht uns das Gute sehen?' Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!" (Ps 4, 7). Gott lässt sein Angesicht in seiner ganzen Schönheit leuchten über dem Angesicht Jesu Christi, "Ebenbild des unsichtbaren Gottes" (Kol 1, 15), "Abglanz seiner Herrlichkeit" (Hebr 1, 3), "voll Gnade und Wahrheit" (Joh 1, 14): Er ist "der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14, 6). Darum wird die entscheidende Antwort auf jede Frage des Menschen, insbesondere auf seine religiösen und moralischen Fragen, von Jesus Christus gegeben, ja ist Jesus Christus selbst die Antwort, wie das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung bringt: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf: Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung".<ref> Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute [[Gaudium et spes]], 22. </ref> | + | '''2''' Jeder Mensch muss sich den grundlegenden Fragen stellen: Was soll ich tun? Wie ist das Gute vom Bösen zu unterscheiden? Die Antwort ist, wie der Psalmist bezeugt, nur möglich dank des Glanzes der Wahrheit, die im Innersten des menschlichen Geistes erstrahlt: "Viele sagen: 'Wer macht uns das Gute sehen?' Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!" (Ps 4, 7). Gott lässt sein Angesicht in seiner ganzen Schönheit leuchten über dem [[Antlitz Christ|Angesicht Jesu Christi]], "Ebenbild des unsichtbaren Gottes" (Kol 1, 15), "Abglanz seiner Herrlichkeit" (Hebr 1, 3), "voll Gnade und Wahrheit" (Joh 1, 14): Er ist "der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14, 6). Darum wird die entscheidende Antwort auf jede Frage des Menschen, insbesondere auf seine religiösen und moralischen Fragen, von Jesus Christus gegeben, ja ist Jesus Christus selbst die Antwort, wie das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung bringt: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf: Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung".<ref> Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute [[Gaudium et spes]], 22. </ref> |
− | Jesus Christus, "das Licht der Völker", erleuchtet das Angesicht seiner Kirche, die er in die ganze Welt aussendet, allen Geschöpfen das Evangelium zu verkünden (vgl. Mk 12, 15). <ref>Vgl. [[II. Vatikanisches Konzil]], Dogmatische Konstitution über die Kirche [[Lumen gentium]], 1. </ref> So bietet die Kirche, Volk Gottes inmitten der Nationen,<ref>Vgl. ebd., 9. </ref> während sie die neuen Herausforderungen der Geschichte und die Bemühungen berücksichtigt, die die Menschen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens unternehmen, allen die Antwort an, die aus der Wahrheit Jesu Christi und seines Evangeliums herrührt. In der Kirche ist immer das Bewußtsein lebendig, dass ihr "allzeit die Pflicht (obliegt), nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben".<ref>[[II. Vatikanisches Konzil]], Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute [[Gaudium et spes]], 4. </ref> | + | [[Jesus Christus]], "das Licht der Völker", erleuchtet das Angesicht seiner Kirche, die er in die ganze Welt aussendet, allen Geschöpfen das Evangelium zu verkünden (vgl. Mk 12, 15). <ref>Vgl. [[II. Vatikanisches Konzil]], Dogmatische Konstitution über die Kirche [[Lumen gentium]], 1. </ref> So bietet die Kirche, Volk Gottes inmitten der Nationen,<ref>Vgl. ebd., 9. </ref> während sie die neuen Herausforderungen der Geschichte und die Bemühungen berücksichtigt, die die Menschen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens unternehmen, allen die Antwort an, die aus der Wahrheit Jesu Christi und seines Evangeliums herrührt. In der Kirche ist immer das Bewußtsein lebendig, dass ihr "allzeit die Pflicht (obliegt), nach den [[Zeichen der Zeit]] zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben".<ref>[[II. Vatikanisches Konzil]], Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute [[Gaudium et spes]], 4. </ref> |
− | '''3''' In diesem Bemühen sind die Bischöfe der Kirche in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri den Gläubigen nahe, sie begleiten und lenken sie mit ihrem Lehramt, wobei sie immer neue Akzente für Liebe und Barmherzigkeit finden, um sich nicht nur an die Gläubigen, sondern an alle Menschen guten Willens zu wenden. Das II. Vatikanische Konzil bleibt ein hervorragendes Zeugnis für diese Haltung der Kirche, die sich, "erfahren in den Fragen, die den Menschen betreffen",<ref>[[Paul VI.]], Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, (4. Oktober 1965): [[AAS]] 57 (1965), 878; [[Enzyklika]] [[Populorum progressio]] (26. März 1967), 13: [[AAS]] 59 (1967), 263-264. </ref> in den Dienst jedes Menschen und des ganzen Menschen stellt.<ref>Vgl. [[II. Vatikanisches Konzil]], Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute [[Gaudium et spes]], 33. </ref> | + | '''3''' In diesem Bemühen sind die [[Bischöfe]] der [[Kirche]] in Gemeinschaft mit dem [[Papst|Nachfolger Petri]] den Gläubigen nahe, sie begleiten und lenken sie mit ihrem [[Lehramt]], wobei sie immer neue Akzente für [[Liebe]] und [[Barmherzigkeit]] finden, um sich nicht nur an die Gläubigen, sondern an alle Menschen guten Willens zu wenden. Das II. Vatikanische Konzil bleibt ein hervorragendes Zeugnis für diese Haltung der Kirche, die sich, "erfahren in den Fragen, die den Menschen betreffen",<ref>[[Paul VI.]], Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, (4. Oktober 1965): [[AAS]] 57 (1965), 878; [[Enzyklika]] [[Populorum progressio]] (26. März 1967), 13: [[AAS]] 59 (1967), 263-264. </ref> in den Dienst jedes Menschen und des ganzen Menschen stellt.<ref>Vgl. [[II. Vatikanisches Konzil]], Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute [[Gaudium et spes]], 33. </ref> |
− | Die Kirche weiß, dass der moralische Anspruch jeden Menschen im Innersten erreicht, dass er alle miteinbezieht, auch jene, die Christus und sein Evangelium nicht kennen und nicht einmal etwas von Gott wissen. Sie weiß, dass eben auf dem Weg des sittlichen Lebens allen der Weg zum Heil offen steht, woran das II. Vatikanische Konzil mit aller Klarheit erinnert, wenn es schreibt: "Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen". Und es fügt hinzu: "Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe".<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche [[Lumen gentium]], 16. </ref> | + | Die Kirche weiß, dass der moralische Anspruch jeden Menschen im Innersten erreicht, dass er alle miteinbezieht, auch jene, die Christus und sein Evangelium nicht kennen und nicht einmal etwas von Gott wissen. Sie weiß, dass eben auf dem Weg des sittlichen Lebens allen der Weg zum Heil offen steht, woran das II. Vatikanische Konzil mit aller Klarheit erinnert, wenn es schreibt: "Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne [[Schuld]] nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen". Und es fügt hinzu: "Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe".<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche [[Lumen gentium]], 16. </ref> |
===Gegenstand der vorliegenden Enzyklika=== | ===Gegenstand der vorliegenden Enzyklika=== | ||
− | '''4''' Seit jeher, aber vor allem im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte haben die Päpste sowohl persönlich wie gemeinsam mit dem Bischofskollegium eine Sittenlehre entwickelt und vorgelegt, die die vielfältigen und verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens berücksichtigt. Im Namen und mit der Autorität Jesu Christi haben sie ermahnt, verkündet, erklärt; in Treue zu ihrer Sendung, im Ringen für den Menschen haben sie bestärkt, aufgerichtet und getröstet; mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit haben sie zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beigetragen. Ihre Lehre stellt sowohl innerhalb der Überlieferung der Kirche wie der Menschheitsgeschichte eine ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis dar.<ref>[[Pius XII.]] hatte bereits diese theoretische Lehrentwicklung erkennen lassen. Vgl. Radiobotschaft zum 50. Jahrestag von [[Rerum novarum]] (1. Juni 1941): [[AAS]] 33 (1941), 194f. Ebenso [[Johannes XXIII.]], [[Enzyklika]] [[Mater et magistra]] (15. Mai 1961): [[AAS]] 53 (1961), 410-413. </ref> | + | '''4''' Seit jeher, aber vor allem im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte haben die [[Päpste]] sowohl persönlich wie gemeinsam mit dem Bischofskollegium eine Sittenlehre entwickelt und vorgelegt, die die vielfältigen und verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens berücksichtigt. Im Namen und mit der Autorität Jesu Christi haben sie ermahnt, verkündet, erklärt; in Treue zu ihrer Sendung, im Ringen für den Menschen haben sie bestärkt, aufgerichtet und getröstet; mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit haben sie zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen [[Sexualität]], der [[Familie]], des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beigetragen. Ihre Lehre stellt sowohl innerhalb der [[Überlieferung]] der Kirche wie der Menschheitsgeschichte eine ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis dar.<ref>[[Pius XII.]] hatte bereits diese theoretische Lehrentwicklung erkennen lassen. Vgl. Radiobotschaft zum 50. Jahrestag von [[Rerum novarum]] (1. Juni 1941): [[AAS]] 33 (1941), 194f. Ebenso [[Johannes XXIII.]], [[Enzyklika]] [[Mater et magistra]] (15. Mai 1961): [[AAS]] 53 (1961), 410-413. </ref> |
Doch heute erscheint es notwendig, über die Morallehre der Kirche insgesamt nachzudenken, mit der klaren Zielsetzung, einige fundamentale Wahrheiten der katholischen Lehre in Erinnerung zu rufen, die im heutigen Kontext Gefahr laufen, verfälscht oder verneint zu werden. Es ist nämlich eine neue Situation gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft entstanden, die hinsichtlich der sittlichen Lehren der Kirche die Verbreitung vielfältiger Zweifel und Einwände menschlicher und psychologischer, sozialer und kultureller, religiöser und auch im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die "Gewissen zu ermahnen" und "Werte vorzulegen", nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird. | Doch heute erscheint es notwendig, über die Morallehre der Kirche insgesamt nachzudenken, mit der klaren Zielsetzung, einige fundamentale Wahrheiten der katholischen Lehre in Erinnerung zu rufen, die im heutigen Kontext Gefahr laufen, verfälscht oder verneint zu werden. Es ist nämlich eine neue Situation gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft entstanden, die hinsichtlich der sittlichen Lehren der Kirche die Verbreitung vielfältiger Zweifel und Einwände menschlicher und psychologischer, sozialer und kultureller, religiöser und auch im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die "Gewissen zu ermahnen" und "Werte vorzulegen", nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird. | ||
− | Hervorgehoben werden muss im besonderen die Diskrepanz zwischen der herkömmlichen Antwort der Kirche und einigen, auch in den | + | Hervorgehoben werden muss im besonderen die Diskrepanz zwischen der herkömmlichen Antwort der Kirche und einigen, auch in den [[Priesterseminar]]en und an den theologischen Fakultäten verbreiteten theologischen Einstellungen zu Fragen, die für die Kirche und für das Glaubensleben der Christen, ja für das menschliche Zusammenleben überhaupt, von allergrößter Bedeutung sind. Hier wird insbesondere gefragt: Besitzen die Gebote Gottes, die dem Menschen ins Herz geschrieben sind und Bestandteil des Bundes Gottes mit ihm sind, tatsächlich die Fähigkeit, die täglichen Entscheidungen der einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft zu erleuchten? Ist es möglich, Gott zu gehorchen und damit Gott und den Nächsten zu lieben, ohne diese Gebote unter allen Umständen zu respektieren? Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen. |
− | '''5''' In einem derartigen noch immer aktuellen Kontext ist in mir der Entschluß gereift, eine Enzyklika zu schreiben, die - wie ich in dem am 1. August 1987 aus Anlaß des 200. Todestages des hl. Alfonso Maria von Liguori veröffentlichten Apostolischen Schreiben Spiritus Domini angekündigt habe - "umfassender und gründlicher die Fragen, die die eigentlichen Grundlagen der Moraltheologie betreffen",<ref>[[Apostolisches Schreiben]] [[Spiritus Domini super]] (1. August 1987): [[AAS]] 79 (1987), 1374. </ref> behandeln soll, Grundlagen, die durch einige Richtungen der heutigen Moraltheologie angegriffen werden. | + | '''5''' In einem derartigen noch immer aktuellen Kontext ist in mir der Entschluß gereift, eine Enzyklika zu schreiben, die - wie ich in dem am 1. August 1987 aus Anlaß des 200. Todestages des hl. [[Alfons Maria von Liguori|Alfonso Maria von Liguori]] veröffentlichten Apostolischen Schreiben Spiritus Domini angekündigt habe - "umfassender und gründlicher die Fragen, die die eigentlichen Grundlagen der Moraltheologie betreffen",<ref>[[Apostolisches Schreiben]] [[Spiritus Domini super]] (1. August 1987): [[AAS]] 79 (1987), 1374. </ref> behandeln soll, Grundlagen, die durch einige Richtungen der heutigen Moraltheologie angegriffen werden. |
Ich wende mich an euch, ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, die ihr mit mir die Verantwortung teilt, die "gesunde Lehre" (2 Tim 4, 3) zu bewahren, mit der Absicht, einige Aspekte der Lehre zu präzisieren, die entscheidend sind, um dem zu begegnen, was man wohl ohne Zweifel eine echte Krise nennen muss, so ernst sind die Schwierigkeiten, die daraus für das moralische Leben der Gläubigen und für die Gemeinschaft in der Kirche wie auch für ein gerechtes und solidarisches soziales Leben folgen. | Ich wende mich an euch, ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, die ihr mit mir die Verantwortung teilt, die "gesunde Lehre" (2 Tim 4, 3) zu bewahren, mit der Absicht, einige Aspekte der Lehre zu präzisieren, die entscheidend sind, um dem zu begegnen, was man wohl ohne Zweifel eine echte Krise nennen muss, so ernst sind die Schwierigkeiten, die daraus für das moralische Leben der Gläubigen und für die Gemeinschaft in der Kirche wie auch für ein gerechtes und solidarisches soziales Leben folgen. | ||
− | Wenn diese seit langem erwartete Enzyklika erst jetzt veröffentlicht wird, dann auch deshalb, weil es angebracht erschien, ihr den Katechismus der katholischen Kirche vorausgehen zu lassen, der eine vollständige und systematische Darlegung der christlichen Morallehre enthält. Der Katechismus stellt das sittliche Leben der Gläubigen in seinen Grundlagen und in seinen vielfältigen Inhalten als Leben der "Kinder Gottes" vor: "Im Glauben ihrer neuen Würde bewußt, sollen die Christen fortan so leben, 'wie es dem Evangelium Christi entspricht' (Phil 1, 27). Sie werden dazu befähigt durch die Gnade Christi und die Gabe seines Geistes, die sie durch die | + | Wenn diese seit langem erwartete [[Enzyklika]] erst jetzt veröffentlicht wird, dann auch deshalb, weil es angebracht erschien, ihr den [[Katechismus der katholischen Kirche]] vorausgehen zu lassen, der eine vollständige und systematische Darlegung der christlichen Morallehre enthält. Der Katechismus stellt das sittliche Leben der Gläubigen in seinen Grundlagen und in seinen vielfältigen Inhalten als Leben der "[[Gotteskindschaft|Kinder Gottes]]" vor: "Im Glauben ihrer neuen Würde bewußt, sollen die Christen fortan so leben, 'wie es dem Evangelium Christi entspricht' (Phil 1, 27). Sie werden dazu befähigt durch die [[Gnade]] Christi und die Gabe seines Geistes, die sie durch die [[Sakrament]]e und das Gebet erhalten".<ref>[[Katechismus der katholischen Kirche]], Nr. 1692. </ref> Indem sie auf den Katechismus "als sicheren und maßgebenden Text für die Unterweisung in der katholischen Lehre"<ref>[[Apostolische Konstitution]] [[Fidei depositum]] (11. Oktober 1992), 4. </ref> verweist, wird sich die Enzyklika darauf beschränken, sich mit einigen grundlegenden Fragen der Morallehre der Kirche auseinanderzusetzen, und dies in Form einer notwendigen Klärung von Problemen, die unter den Ethikern und Moraltheologen umstritten sind. Das ist das spezifische Thema der vorliegenden Enzyklika, der es darum geht, hinsichtlich der erläuterten Probleme die Erfordernisse einer auf die [[Heilige Schrif]]t und die lebendige apostolische [[Überlieferung]] gegründeten Morallehre darzulegen<ref>Vgl. [[II. Vatikanisches Konzil]], Dogmatische Konstitution über die Göttliche Offenbarung [[Dei verbum]], 10. </ref> und zugleich die Voraussetzungen und Folgen der Entgegnungen aufzuzeigen, die sich gegen diese Lehre richteten. |
[Fortsetzung folgt] | [Fortsetzung folgt] |
Version vom 3. November 2014, 10:55 Uhr
Veritatis splendor |
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unseres Heiligen Vaters
Johannes Paul II.
an alle Bischöfe der Katholischen Kirche
über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre
6. August 1993
(Offizieller lateinischer Text AAS 85 [1993] 1133-1228)
Gruß und Apostolischen Segen!
DER GLANZ DER WAHRHEIT erstrahlt in den Werken des Schöpfers und in besonderer Weise in dem nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenen Menschen (vgl. Gen 1, 26): die Wahrheit erleuchtet den Verstand und formt die Freiheit des Menschen, der auf diese Weise angeleitet wird, den Herrn zu erkennen und zu lieben. Darum betet der Psalmist: "Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!" (Ps 4, 7).
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG
Jesus Christus, das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet
1 Durch den Glauben an Jesus Christus, "das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1, 9), zum Heil berufen, werden die Menschen "Licht durch den Herrn" und "Kinder des Lichts" (Eph 5, 8) und heiligen sich durch den "Gehorsam gegenüber der Wahrheit" (1 Petr 1, 22).
Dieser Gehorsam ist nicht immer leicht. In der Folge der geheimnisvollen Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der "ein Lügner und der Vater der Lüge ist" (Joh 8, 44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen und wahren Gott ab- und den Götzen zuzuwenden (vgl. 1 Thess 1, 9), während er "die Wahrheit Gottes mit der Lüge" vertauscht (Röm 1, 25); damit wird auch seine Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, beeinträchtigt und sein Wille, sich ihr zu unterwerfen, geschwächt. Und so geht er, während er sich dem Relativismus und Skeptizismus überlässt (vgl. Joh 18, 38), auf die Suche nach einer trügerischen Freiheit außerhalb dieser Wahrheit.
Aber keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen. Davon gibt das unermüdliche menschliche Suchen und Forschen auf jedem Gebiet ein beredtes Zeugnis. Das beweist noch mehr die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist zwar ein großartiges Zeugnis der Fähigkeit des Verstandes und der Ausdauer der Menschen, befreit aber die Menschheit nicht davon, sich letzte religiöse Fragen zu stellen, sie spornt sie vielmehr dazu an, die schmerzlichsten und entscheidendsten Kämpfe, jene im Herzen und im Gewissen, auszutragen.
2 Jeder Mensch muss sich den grundlegenden Fragen stellen: Was soll ich tun? Wie ist das Gute vom Bösen zu unterscheiden? Die Antwort ist, wie der Psalmist bezeugt, nur möglich dank des Glanzes der Wahrheit, die im Innersten des menschlichen Geistes erstrahlt: "Viele sagen: 'Wer macht uns das Gute sehen?' Herr, laß dein Angesicht über uns leuchten!" (Ps 4, 7). Gott lässt sein Angesicht in seiner ganzen Schönheit leuchten über dem Angesicht Jesu Christi, "Ebenbild des unsichtbaren Gottes" (Kol 1, 15), "Abglanz seiner Herrlichkeit" (Hebr 1, 3), "voll Gnade und Wahrheit" (Joh 1, 14): Er ist "der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14, 6). Darum wird die entscheidende Antwort auf jede Frage des Menschen, insbesondere auf seine religiösen und moralischen Fragen, von Jesus Christus gegeben, ja ist Jesus Christus selbst die Antwort, wie das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung bringt: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf: Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung".<ref> Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22. </ref>
Jesus Christus, "das Licht der Völker", erleuchtet das Angesicht seiner Kirche, die er in die ganze Welt aussendet, allen Geschöpfen das Evangelium zu verkünden (vgl. Mk 12, 15). <ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 1. </ref> So bietet die Kirche, Volk Gottes inmitten der Nationen,<ref>Vgl. ebd., 9. </ref> während sie die neuen Herausforderungen der Geschichte und die Bemühungen berücksichtigt, die die Menschen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens unternehmen, allen die Antwort an, die aus der Wahrheit Jesu Christi und seines Evangeliums herrührt. In der Kirche ist immer das Bewußtsein lebendig, dass ihr "allzeit die Pflicht (obliegt), nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben".<ref>II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 4. </ref>
3 In diesem Bemühen sind die Bischöfe der Kirche in Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri den Gläubigen nahe, sie begleiten und lenken sie mit ihrem Lehramt, wobei sie immer neue Akzente für Liebe und Barmherzigkeit finden, um sich nicht nur an die Gläubigen, sondern an alle Menschen guten Willens zu wenden. Das II. Vatikanische Konzil bleibt ein hervorragendes Zeugnis für diese Haltung der Kirche, die sich, "erfahren in den Fragen, die den Menschen betreffen",<ref>Paul VI., Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, (4. Oktober 1965): AAS 57 (1965), 878; Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967), 13: AAS 59 (1967), 263-264. </ref> in den Dienst jedes Menschen und des ganzen Menschen stellt.<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 33. </ref>
Die Kirche weiß, dass der moralische Anspruch jeden Menschen im Innersten erreicht, dass er alle miteinbezieht, auch jene, die Christus und sein Evangelium nicht kennen und nicht einmal etwas von Gott wissen. Sie weiß, dass eben auf dem Weg des sittlichen Lebens allen der Weg zum Heil offen steht, woran das II. Vatikanische Konzil mit aller Klarheit erinnert, wenn es schreibt: "Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen". Und es fügt hinzu: "Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe".<ref>Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 16. </ref>
Gegenstand der vorliegenden Enzyklika
4 Seit jeher, aber vor allem im Lauf der beiden letzten Jahrhunderte haben die Päpste sowohl persönlich wie gemeinsam mit dem Bischofskollegium eine Sittenlehre entwickelt und vorgelegt, die die vielfältigen und verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens berücksichtigt. Im Namen und mit der Autorität Jesu Christi haben sie ermahnt, verkündet, erklärt; in Treue zu ihrer Sendung, im Ringen für den Menschen haben sie bestärkt, aufgerichtet und getröstet; mit der Garantie des Beistands des Geistes der Wahrheit haben sie zu einem besseren Verständnis der sittlichen Ansprüche im Bereich der menschlichen Sexualität, der Familie, des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beigetragen. Ihre Lehre stellt sowohl innerhalb der Überlieferung der Kirche wie der Menschheitsgeschichte eine ständige Vertiefung der sittlichen Erkenntnis dar.<ref>Pius XII. hatte bereits diese theoretische Lehrentwicklung erkennen lassen. Vgl. Radiobotschaft zum 50. Jahrestag von Rerum novarum (1. Juni 1941): AAS 33 (1941), 194f. Ebenso Johannes XXIII., Enzyklika Mater et magistra (15. Mai 1961): AAS 53 (1961), 410-413. </ref>
Doch heute erscheint es notwendig, über die Morallehre der Kirche insgesamt nachzudenken, mit der klaren Zielsetzung, einige fundamentale Wahrheiten der katholischen Lehre in Erinnerung zu rufen, die im heutigen Kontext Gefahr laufen, verfälscht oder verneint zu werden. Es ist nämlich eine neue Situation gerade innerhalb der christlichen Gemeinschaft entstanden, die hinsichtlich der sittlichen Lehren der Kirche die Verbreitung vielfältiger Zweifel und Einwände menschlicher und psychologischer, sozialer und kultureller, religiöser und auch im eigentlichen Sinne theologischer Art erfahren hat. Es handelt sich nicht mehr um begrenzte und gelegentliche Einwände, sondern um eine globale und systematische Infragestellung der sittlichen Lehrüberlieferung aufgrund bestimmter anthropologischer und ethischer Auffassungen. Diese haben ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen, die schließlich die menschliche Freiheit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt. So wird die herkömmliche Lehre über das Naturgesetz, über die Universalität und bleibende Gültigkeit seiner Gebote abgelehnt; Teile der kirchlichen Moralverkündigung werden für schlechthin unannehmbar gehalten; man ist der Meinung, das Lehramt dürfe sich in Moralfragen nur einmischen, um die "Gewissen zu ermahnen" und "Werte vorzulegen", nach denen dann ein jeder autonom die Entscheidungen und Entschlüsse seines Lebens inspirieren wird.
Hervorgehoben werden muss im besonderen die Diskrepanz zwischen der herkömmlichen Antwort der Kirche und einigen, auch in den Priesterseminaren und an den theologischen Fakultäten verbreiteten theologischen Einstellungen zu Fragen, die für die Kirche und für das Glaubensleben der Christen, ja für das menschliche Zusammenleben überhaupt, von allergrößter Bedeutung sind. Hier wird insbesondere gefragt: Besitzen die Gebote Gottes, die dem Menschen ins Herz geschrieben sind und Bestandteil des Bundes Gottes mit ihm sind, tatsächlich die Fähigkeit, die täglichen Entscheidungen der einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft zu erleuchten? Ist es möglich, Gott zu gehorchen und damit Gott und den Nächsten zu lieben, ohne diese Gebote unter allen Umständen zu respektieren? Verbreitet ist auch der Zweifel am engen und untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral, so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen subjektiven Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen.
5 In einem derartigen noch immer aktuellen Kontext ist in mir der Entschluß gereift, eine Enzyklika zu schreiben, die - wie ich in dem am 1. August 1987 aus Anlaß des 200. Todestages des hl. Alfonso Maria von Liguori veröffentlichten Apostolischen Schreiben Spiritus Domini angekündigt habe - "umfassender und gründlicher die Fragen, die die eigentlichen Grundlagen der Moraltheologie betreffen",<ref>Apostolisches Schreiben Spiritus Domini super (1. August 1987): AAS 79 (1987), 1374. </ref> behandeln soll, Grundlagen, die durch einige Richtungen der heutigen Moraltheologie angegriffen werden.
Ich wende mich an euch, ehrwürdige Brüder im Bischofsamt, die ihr mit mir die Verantwortung teilt, die "gesunde Lehre" (2 Tim 4, 3) zu bewahren, mit der Absicht, einige Aspekte der Lehre zu präzisieren, die entscheidend sind, um dem zu begegnen, was man wohl ohne Zweifel eine echte Krise nennen muss, so ernst sind die Schwierigkeiten, die daraus für das moralische Leben der Gläubigen und für die Gemeinschaft in der Kirche wie auch für ein gerechtes und solidarisches soziales Leben folgen.
Wenn diese seit langem erwartete Enzyklika erst jetzt veröffentlicht wird, dann auch deshalb, weil es angebracht erschien, ihr den Katechismus der katholischen Kirche vorausgehen zu lassen, der eine vollständige und systematische Darlegung der christlichen Morallehre enthält. Der Katechismus stellt das sittliche Leben der Gläubigen in seinen Grundlagen und in seinen vielfältigen Inhalten als Leben der "Kinder Gottes" vor: "Im Glauben ihrer neuen Würde bewußt, sollen die Christen fortan so leben, 'wie es dem Evangelium Christi entspricht' (Phil 1, 27). Sie werden dazu befähigt durch die Gnade Christi und die Gabe seines Geistes, die sie durch die Sakramente und das Gebet erhalten".<ref>Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 1692. </ref> Indem sie auf den Katechismus "als sicheren und maßgebenden Text für die Unterweisung in der katholischen Lehre"<ref>Apostolische Konstitution Fidei depositum (11. Oktober 1992), 4. </ref> verweist, wird sich die Enzyklika darauf beschränken, sich mit einigen grundlegenden Fragen der Morallehre der Kirche auseinanderzusetzen, und dies in Form einer notwendigen Klärung von Problemen, die unter den Ethikern und Moraltheologen umstritten sind. Das ist das spezifische Thema der vorliegenden Enzyklika, der es darum geht, hinsichtlich der erläuterten Probleme die Erfordernisse einer auf die Heilige Schrift und die lebendige apostolische Überlieferung gegründeten Morallehre darzulegen<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Göttliche Offenbarung Dei verbum, 10. </ref> und zugleich die Voraussetzungen und Folgen der Entgegnungen aufzuzeigen, die sich gegen diese Lehre richteten.
[Fortsetzung folgt]
Anmerkungen
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