Litterae encyclicae (Wortlaut)

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Apostolischer Brief
Litterae encyclicae

von Papst
Johannes Paul II.
an alle gottgeweihten Personen in den Ordensgemeinschaften und Säkularinstituten
zum marianischen Jahr
22. Mai 1988

(Quelle: DBK: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 85; DAS 1988, S. 1121-1129)
Allgemeiner Hinweis: Was bei der Lektüre von Wortlautartikeln der Lehramtstexte zu beachten ist


»Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott« (Kol 3, 3)
Liebe Brüder und Schwestern im Herrn !

I. EINLEITUNG

1 DIE ENZYKLIKA Redemptoris Mater erläutert die Bedeutung des Marianischen Jahres, das wir zusammen mit der ganzen Kirche vom vergangenen Pfingstfest bis zum kommenden Fest Mariä Himmelfahrt begehen. In diesem Zeitraum wollen wir uns der Unterweisung des II. Vatikanischen Konzils anschließen, das uns in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche die Gottesmutter als diejenige vor Augen stellt, die dem gesamten Gottesvolk auf dem Pilgerweg des Glaubens, der Liebe und der vollkommenen Einheit mit Christus vorangeht.<ref>Vgl. Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 58; 63.</ref> Deshalb sieht die ganze Kirche in Maria ihr vollkommenes »Urbild«. Was das Konzil hier in Anlehnung an die Vätertradition über die Kirche als universale Gemeinschaft des Gottesvolkes aussagt, sollten alle, welche diese Gemeinschaft bilden, im Hinblick auf die eigene Berufung zum Gegenstand ihrer Meditation machen.

2 Gewiss suchen viele von Euch, liebe Brüder und Schwestern, in diesem Marianischen Jahr sich erneut das Band bewusst zu machen, das zwischen der Gottesmutter und ihrer besonderen Berufung in der Kirche besteht. Das vorliegende Schreiben, das ich zum Marianischen Jahr an Euch richte, möchte eine Hilfe bieten für Eure Betrachtungen zu diesem Thema; ich beziehe mich dabei auch auf die Überlegungen, welche die Kongregation für die Ordensleute und die Säkularinstitute bereits früher erarbeitet hat:<ref>Vgl. I religiosi sulle orme di Maria, Vatikan 1987.</ref> Durch diesen Text möchte ich zugleich der Liebe Ausdruck geben, die die Kirche für Euch, für Eure Berufung sowie für die Sendung hegt, die Ihr inmitten des Volkes Gottes an so zahlreichen Orten und in so vielfältiger Weise ausübt. All dies ist ein großes Geschenk für die Kirche. Und weil die Muttergottes wegen ihres Anteils am Geheimnis Christi auch im Leben der Kirche ständig gegenwärtig ist, sind Eure Berufung und Euer Dienst gleichsam ein Widerschein dieser Gegenwart. Man muss sich also fragen, welche Beziehung zwischen diesem »Urbild« und der Berufung der gottgeweihten Personen besteht, die in den verschiedenen Orden, Kongregationen und Instituten ihre Hingabe an Christus leben wollen.

II. ZUSAMMEN MIT MARIA BETRACHTEN WIR DAS GEHEIMNIS UNSERER BERUFUNG

3 Während ihrer Begegnung preist Elisabet, die Verwandte Marias, diese selig wegen ihres Glaubens: »Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ« (Lk 1, 45). In der Tat, jene Botschaft, die Maria bei der Verkündigung erhielt, war ungewöhnlich. Ein aufmerksames Lesen des Textes bei Lukas zeigt, dass darin bereits die Wahrheit von Gott enthalten ist, wie sie im übrigen Evangelium und im gesamten Neuen Testament enthalten ist. Die Jungfrau von Nazaret ist in das unergründliche Geheimnis einbezogen, das der lebendige Gott darstellt, der dreifaltige Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist. In diesem Rahmen ist der Jungfrau die Berufung offenbart worden, Mutter des Messias zu werden, eine Berufung, die sie mit ihrem »Fiat« beantwortet hat: »Mir geschehe, wie du es gesagt hast« (Lk 1, 38).Wenn wir das Verkündigungsgeschehen betrachten, denken wir auch an unsere eigene Berufung. Diese stellt ja stets einen Wendepunkt dar auf dem Weg unserer Beziehung zum lebendigen Gott. Damals eröffnete sich für jeden und für jede von Euch eine neue Perspektive und erhielt Eure christliche Existenz einen neuen Sinn und eine neue Dimension.

4 Das geschieht im Hinblick auf das zukünftige Leben einer konkreten gottgeweihten Person, auf ihre Wahl und das Heranreifen ihrer Entscheidung. Der Akt der Berufung betrifft jeweils in direkter Weise eine menschliche Person; zugleich aber bedeutet er - wie bei der Verkündigung in Nazaret - ein gewisses Offenbarwerden des Geheimnisses Gottes. Die Berufung verweist - noch bevor sie sich im Herzen einer Person auswirkt und bevor sie die Form einer persönlichen Wahl und Entscheidung annimmt - auf eine andere Entscheidung, die von Gott her der menschlichen Wahl und Entscheidung vorausgeht. Hiervon sprach Christus vor den Aposteln bei seiner Abschiedsrede: »Nicht ihr habt mich gewählt, sondern ich habe euch erwählt« (Joh 15, 16).

5 Diese Erwählung drängt uns - wie es ja auch für Maria bei der Verkündigung gewesen ist -, dass wir uns in das ewige Geheimnis Gottes vertiefen, das die Liebe ist. Wenn Christus uns erwählt, wenn er uns sagt: »Folge mir«, dann ist es »der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus«, wie der Epheserbrief verkündet der durch ihn erwählt: »Denn in ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt ..., im voraus dazu bestimmt, seine Söhne zu werden ... zum Lob seiner herrlichen Gnade, die er uns in seinem geliebten Sohn geschenkt hat ... Er hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan, wie er es gnädig im voraus bestimmt hat« (Eph 1, 4.6.9).

6 Diese Worte gelten ganz allgemein; sie sprechen von der ewigen Erwählung aller und eines jeden in Christus, von der Berufung zur Heiligkeit, wie sie denen zu eigen ist, die Gott an Kindes Statt angenommen hat. Zugleich aber lassen sie uns das Geheimnis der einzelnen Arten von Berufung vertiefen, insbesondere jener, wie sie den gottgeweihten Personen zu eigen ist. Auf diese Weise kann jeder und jede von Euch, liebe Brüder und Schwestern, sich bewusstmachen, wie tief und gnadenhaft die Wirklichkeit ist, die man erlebt, wenn man der Aufforderung Christi »Folge mir« nachkommt. Dann wird uns die Wahrheit der Worte des Paulus: »Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott« (Kol 3, 3), vertraut und einsichtig. Unsere Berufung ist im ewigen Geheimnis Gottes verborgen, bevor sie in uns eine geistige Wirklichkeit wird: unser menschliches Ja, unsere Wahl und Entscheidung.

7 Zusammen mit der Jungfrau Maria bei der Verkündigung in Nazaret wollen wir das Geheimnis der Berufung bedenken, die unser »Anteil« an Christus und an der Kirche geworden ist.

III. ZUSAMMEN MIT MARIA BETRACHTEN WIR DAS GEHEIMNIS UNSERER WEIHE

8 Der Apostel schreibt: »Ihr seid ja gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott« (Kot 3, 3). Wenden wir uns von der Verkündigung hin zum Geheimnis der Auferstehung. Der Ausdruck des Paulus »Ihr seid gestorben« enthält denselben Inhalt, wie ihn der Apostel im Römerbrief zum Ausdruck bringt, wenn er von der Bedeutung jenes Sakramentes schreibt, das uns in das Leben Christi einfügt: »Wißt ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind?« (Röm 6, 3). Der zitierte Ausdruck aus dem Kolosserbrief »Ihr seid gestorben« hat so die folgende Bedeutung: »Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben« (Röm 6, 4).

9 Von Ewigkeit her hat Gott uns in seinem geliebten Sohn, dem Erlöser der Welt, erwählt. Unsere Berufung zur Gnade der Annahme an Sohnes Statt durch Gott entspricht der ewigen Wahrheit dieses mit Christus in Gott Verborgenseins. Diese allen Christen gemeinsame Berufung verwirklicht sich in der Zeit durch die Taufe, die uns in den Tod Christi hinein »begräbt«. In diesem Sakrament beginnt auch unser mit Christus in Gott Verborgensein, und ein solches Geschehen wird dann zu einem Teil der Geschichte einer konkreten getauften Person. Indem wir im Zeichen des Sakramentes am Erlösertod Christi teilhaben, werden wir mit ihm auch in der Auferstehung verbunden (vgl. Röm, 6, 5); wir haben dann auch Anteil an jenem vollkommen »neuen Leben« (vgl. Röm 6, 4), das Christus - eben durch seine Auferstehung - in der Geschichte des Menschen begonnen hat. Dieses »neue Leben« bedeutet in erster Linie die Befreiung vom Erbe der Sünde und ihrer Knechtschaft (vgl. Röm 6, 1-11).

10 Zugleich aber bedeutet es die »Heiligung in der Wahrheit« (vgl. Joh 17, 17), durch die sich die ganze Breite der Einheit mit Gott offenbart, des Lebens in Gott. So ist unser menschliches Leben auf sakramentale und zugleich reale Weise »mit Christus in Gott verborgen«. Dem Sakrament entspricht dabei die lebendige Wirklichkeit der heiligmachenden Gnade, die unser Menschenleben mit der Teilhabe am dreifaltigen Leben Gottes durchdringt.

11 Die Worte des Paulus, besonders jene des Römerbriefes, zeigen, dass dieses ganze »neue Leben«, an dem wir an erster Stelle durch die Taufe Anteil erhalten, den Anfang aller Berufungen in sich schließt, die im Lauf des Lebens eines Christen oder einer Christin diese zu einer Wahl und zu einer bewussten Entscheidung in der Kirche veranlassen. In jeder Berufung eines getauften Menschen spiegelt sich nämlich ein Aspekt jener »Heiligung in der Wahrheit« wieder, die Christus in seinem Tod und seiner Auferstehung vollzogen und in sein Ostergeheimnis einbezogen hat: »Ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind« (Joh 17, 19).

12 Die Berufung einer Person zur Weihe ihres ganzen Lebens steht in einer besonderen Beziehung mit der Weihe Christi für die Menschen. Sie geht aus der sakramentalen Wurzel der Taufe hervor, welche die erste und grundlegende Weihe der menschlichen Person an Gott enthält. Die Weihe durch die Profeß der evangelischen Räte - das heißt durch Gelübde oder durch Versprechen - ist eine organische Entfaltung jenes Anfangs, den die Taufe darstellt. In der Weihe ist die reife Entscheidung für Gott enthalten, die bräutliche Antwort auf die Liebe Christi. Wenn wir uns selbst ihm ganz und ungeteilt schenken, dann wollen wir »ihm folgen« mit dem Entschluß, im Geist der evangelischen Räte die Keuschheit, die Armut und den Gehorsam zu beobachten. Wir möchten Christus möglichst ähnlich werden, indem wir unser eigenes Leben im Geist der Seligpreisungen der Bergpredigt gestalten. Vor allem aber möchten wir die Liebe besitzen, die alle Bereiche des geweihten Lebens durchdringt und sie wie ein wirkliches »Band der Vollkommenheit« untereinander verbindet.<ref> Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 44; Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis, 1; 6; CIC can. 573 § 1; 607 § 1; 710. </ref>

13 Dies alles ist in der Bedeutung jenes paulinischen »Sterbens« enthalten, das sakramental in der Taufe beginnt. Ein Sterben mit Christus, das uns an den Früchten seiner Auferstehung teilnehmen läßt, ähnlich dem Weizenkorn, das in die Erde fällt und für ein neues Leben »stirbt« (vgl. Joh 12, 24). Die Weihe einer Person mit ihren religiösen Bindungen entscheidet über eine solche »Neuheit des Lebens«, die nur dadurch Wirklichkeit werden kann, dass wir alles, was unser menschliches Leben ausmacht, in Christus »verbergen«: Unser Leben ist mit Christus verborgen in Gott.

14 Wenn die Weihe einer Person, menschlich gesehen, mit einem »Verlieren des Lebens« verglichen werden kann, so ist dies doch zugleich der direkteste Weg, um es zu »gewinnen«. Christus sagt ja: »Wer das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen« (Mt 10, 39). Diese Worte drücken gewiss die Radikalität des Evangeliums aus. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr sie sich auf den Menschen beziehen, wie einzigartig ihre anthropologische Dimension ist. Was ist für ein menschliches Wesen - Mann oder Frau - grundlegender als das: sich selbst zu finden; sich selbst in Christus wiederzufinden, weil Christus die »ganze Fülle« ist (vgl. Kol 1, 19; 2, 9)?

15 Diese Überlegungen über das Thema der Weihe der Person durch die Profeß der evangelischen Räte lassen uns ständig im Bereich des Ostergeheimnisses verweilen. Zusammen mit Maria suchen wir an diesem Tod teilzuhaben, der in der Auferstehung Früchte eines »neuen Lebens« hervorgebracht hat: Dieser Tod am Kreuz war schändlich und war der Tod ihres eigenen Sohnes! Aber hat Maria nicht vielleicht gerade dort, unter dem Kreuz, »wo sie nicht ohne göttliche Absicht stand«,<ref> II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 58.</ref> alles, was sie schon am Tag der Verkündigung gehört hatte, auf eine neue Weise verstanden? Hat Maria nicht gerade dort durch das »Schwert, das ihre Seele durchdrang« (vgl. Lk 2, 35), durch die unvergleichliche »kenosis (Entäußerung) des Glaubens«<ref>Enzyklika Redemptoris mater (25-3-1987), 18: AAS 79 (1987) 383.</ref> die volle Wahrheit über ihre Mutterschaft bis in die Tiefe erkannt? Hat sie sich nicht gerade dort auf endgültige Weise mit dieser Wahrheit identifiziert, indem sie das Leben »wiedergefunden« hat, das sie im Erlebnis von Golgota auf die schmerzlichste Weise für Christus und für das Evangelium »verlieren« musste?

16 Genau in dieses volle »Finden« der Wahrheit über die göttliche Mutterschaft, die Maria vom Augenblick der Verkündigung an zuteil geworden war, fügen sich die Worte Christi ein, die er vom Kreuz herab gesprochen hat und die auf den Apostel Johannes, auf einen Menschen, hinweisen: »Siehe, dein Sohn!« (vgl. Joh 19,26).

17 Liebe Brüder und Schwestern! Kehren wir ständig mit unserer Berufung, mit unserer Weihe in die Tiefe des Ostergeheimnisses zurück. Stellen wir uns zum Kreuz Christi neben seine Mutter. Lerner wir von ihr unsere Berufung. Hat nicht Christus selber gesagt: Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter« (Mt 12, 50)?

IV. MIT MARIA BETRACHTEN WIR EUER BESONDERES APOSTOLAT

18 Die österlichen Geschehnisse verweisen uns auf Pfingsten, auf den Tag, an dem »der Geist der Wahrheit kommen wird«, um die Apostel und die ganze Kirche, die auf ihnen als ihrem Fundament erbaut ist,<ref> VgI.II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 19.</ref> »in die ganze Wahrheit« im Verlauf der Menschheitsgeschichte einzuführen (vgl. Joh 16, 13).

19 Maria bringt in den Abendmahlssaal des Pfingstfestes die »neue Mutterschaft«, die ihr unter dem Kreuz zuteil geworden ist. Diese Mutterschaft muss in ihr bleiben, und gleichzeitig muss sie von ihr als dem »Urbild« auf die ganze Kirche übergehen, welche sich am Tag der Herabkunft des Tröstergeistes der Welt offenbaren wird. Die im Abendmahlssaal Versammelten sind dankbar, dass vom Augenblick der Rückkehr Christi zum Vater ihr Leben mit ihm verborgen in Gott ist. Maria lebt mehr als jeder andere in diesem Bewußtsein.

20 Gott kam in die Welt, von ihr geboren als der »Menschensohn«, um den ewigen Ratschluß des Vaters zu erfüllen, der »die Welt so sehr geliebt hat« (vgl. Joh 3, 16). Indem das ewige Wort zum Immanuel (Gott mit uns) wurde, haben der Vater, der Sohn und der Heilige Geist andererseits noch tiefer offenbart, dass die Welt »in Gott ist« (vgl. 1 Joh 3, 24). »Denn In Ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (Apg 17, 28). Gott umfängt alles Geschaffene mit seiner Schöpfermacht, die sich durch Christus vor allem als Macht der Liebe offenbart hat. Die Menschwerdung des Wortes, das unaussprechliche und unauslöschliche Zeichen für die »Immanenz« Gottes in der Welt, hat auf neue Weise seine »Transzendenz« enthüllt. Alles das hat sich schon im Rahmen des Ostergeheimnisses erfüllt und ist darin enthalten. Der Abschied des Sohnes, »des Erstgeborenen der ganzen Schöpfung« (Kol 1, 15), hat eine neue Erwartung dessen hervorgerufen, der alles erfüllt: Denn »der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis« (Weish 1, 7).

21 Die zusammen mit Maria im Abendmahlssaal von Jerusalem den Pfingsttag erwarteten, haben jene »neuen Zeiten« schon konkret erfahren. Unter dem Antrieb des Geistes der Wahrheit müssen sie aus dem Abendmahlssaal hinausgehen, um in Einheit mit diesem Geist Zeugnis für den gekreuzigten und auferstandenen Christus zu geben (vgl. Joh 15, 26-27). Dadurch müssen sie Gott offenbaren, der als Liebe die Welt umfängt und durchdringt; sie müssen alle davon überzeugen, dass sie zusammen mit Christus berufen sind, in der Kraft seines Todes zu »sterben«, um zum Leben aufzuerstehen, das mit Christus verborgen ist in Gott.

22 Genau das ist der Kern der apostolischen Sendung der Kirche. Die Apostel, die am Pfingsttag aus dem Abendmahlssaal heraustraten, wurden der Ausgangspunkt für die Kirche, die ganz und gar apostolisch ist und ständig missionarisch bleibt (in statu missionis). In dieser Kirche empfängt jeder schon im Taufsakrament und dann in der Firmung die Berufung, die - wie das Konzil in Erinnerung gerufen hat - von ihrem Wesen her eine Berufung zum Apostolat ist.<ref>Vgl. Dekret über das Apostolat der Laien Apostolicam actuositatem, 2.</ref>

23 Das Marianische Jahr hat am Pfingstfest begonnen, damit sich alle zusammen mit Maria zum Abendmahlssaal eingeladen fühlen, wo der gesamte apostolische Weg der Kirche von Generation zu Generation seinen Anfang nimmt. Unter den Eingeladenen seid natürlich Ihr, liebe Brüder und Schwestern, die Ihr unter dem Wirken des Heiligen Geistes Euer Leben und Eure Berufung auf der Grundlage einer besonderen Weihe, einer Ganzhingabe an Gott, gestaltet habt. Diese Einladung zum pfingstlichen Abendmahlssaal besagt, dass Ihr das Bewusstsein von Eurer Berufung in zwei Richtungen erneuern und vertiefen sollt. Die erste besteht in der Stärkung jener Sendung, die in der Weihe selber enthalten ist, die zweite in der Verlebendigung der vielfältigen apostolischen Aufgaben, die sich im Rahmen der Spiritualität und Zielsetzung Eurer Gemeinschaften und Institute oder auch Eurer jeweiligen Person von dieser Weihe herleiten.

24 Sucht Euch im Abendmahlssaal von Pfingsten mit Maria zu treffen. Niemand wird Euch mehr als sie an diese Heilssicht der Wahrheit über Gott und über den Menschen, über Gott und die Welt heranführen, die in den Worten des Paulus enthalten ist: »Ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott«. Es sind Worte, die das Paradox und zugleich den Kern der Botschaft des Evangeliums beinhalten. Ihr, liebe Brüder und Schwestern, habt als gottgeweihte Personen eine besondere Eignung, um dieses Paradox und diese Botschaft des Evangeliums den Menschen nahezubringen. Ihr habt auch die besondere Aufgabe, zu allen - im Geheimnis des Kreuzes und der Auferstehung - davon zu sprechen, wie sehr die Welt und alles Geschaffene »in Gott« sind und wie sehr »wir in ihm leben, uns bewegen und sind«, wie sehr dieser Gott, der die Liebe ist, alle und alles umfängt, wie sehr »die Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5, 5).

25 Christus hat Euch »aus der Welt erwählt«, und die Welt braucht Eure Erwählung, auch wenn sie bisweilen den Eindruck erweckt, als sei sie ihr gegenüber gleichgültig und messe ihr keine Bedeutung bei. Die Welt braucht Euer »Verborgensein mit Christus in Gott«, auch wenn sie bisweilen die Formen klösterlicher Klausur in Frage stellt. Ja, kraft dieses »Verborgenseins« könnt Ihr zusammen mit den Aposteln und mit der ganzen Kirche das Besondere der Botschaft des Hohenpriesterlichen Gebetes unseres Erlösers zu eigen machen: »Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt« (Joh 17, 18). Ihr nehmt an dieser Sendung, an der apostolischen Sendung der Kirche, teil.<ref> VgI. CIC can. 574 § 2.</ref> Ihr nehmt auf Eure besondere, ausschließliche Weise und gemäß Eurer »eigenen Gnadengabe« daran teil (vgl. 1 Kor 7, 7). Jeder und jede von Euch nimmt daran teil, und dies umso mehr, je mehr Euer Leben »mit Christus in Gott verborgen ist«. Hier ist die Quelle Eures apostolischen Lebens.

26 Diese grundlegende Struktur Eures Apostolates darf nicht überstürzt verändert werden, indem man sich der Haltung der Welt angleicht (vgl. Röm 12, 2). Es ist wohl wahr: Oft erfahrt Ihr, dass die Welt »das Ihrige liebt«: »Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben« (Joh 15, 19). Ja, Christus hat Euch »aus der Welt erwählt«, er hat Euch erwählt, damit »die Welt durch ihn gerettet wird« (vgl. Joh 3, 17). Gerade darum aber dürft Ihr Euer Verborgensein mit Christus in Gott« nicht aufgeben, weil es unersetzliche Bedingung dafür ist, dass die Welt an die heilschaffende Kraft Christi glaubt. Dieses »Verborgensein«, das sich von Eurer Weihe ableitet, macht aus jedem und aus jeder von Euch eine glaubwürdige und reine Persönlichkeit. Und dies verschließt nicht etwa, sondern öffnet im Gegenteil »die Welt« vor Euch. Die evangelischen Räte dienen ja - wie ich Euch im Apostolischen Schreiben Redemptionis Donum sagte - in ihrer wesentlichen Zielsetzung der Erneuerung der Schöpfung: »Die Welt« soll durch sie dem Menschen unterworfen und ihm in der Weise anheimgegeben werden, dass der Mensch sich selbst vollkommen an Gott übergeben kann«.<ref>Apostolisches Schreiben Redemptionis donum (25.3.1984), 9: AAS 76 (1984) 530.</ref>

27 Die Teilhabe am Werk des marianischen Wachsens der ganzen Kirche als Erstlingsfrucht des Marianischen Jahres wird gemäß der besonderen Berufung eines jeden Instituts verschiedene Weisen und Ausdrucksformen haben und um so fruchtbarer sein, je mehr die Institute in Treue zu ihrer besonderen Gnadengabe wirken. Im einzelnen bedeutet dies:

28 a) Die gänzlich auf die Kontemplation hingeordneten Institute, deren Mitglieder in Einsamkeit und Schweigen, in stetigem Gebet und starker Entsagung für Gott allein da sind, nehmen, mag die Notwendigkeit zum tätigen Apostolat auch noch so sehr drängen, - daran erinnert sie das II. Vatikanische Konzil - im Mystischen Leib Christi immer eine hervorragende Stelle ein.<ref>Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens Perfectae caritatis, 7.</ref>

29 Ja, indem die Kirche in diesem außerordentlichen Gnadenjahr auf Maria schaut, weiß sie sich mit besonderer Aufmerksamkeit und in Hochachtung der reichen Tradition kontemplativen Lebens verbunden, welches Männer und Frauen in Treue zu diesem Charisma zum Nutzen der kirchlichen Gemeinschaft und zum Wohl der ganzen menschlichen Gesellschaft einzurichten und zu pflegen verstanden. Die heilige Jungfrau Maria war in so intensiver Weise geistlich fruchtbar, dass sie zur Mutter der Kirche und des Menschengeschlechtes wurde. Im Schweigen, im beständigen Hören des Gotteswortes und in der innigen Einheit mit dem Herrn wurde Maria an der Seite ihres göttlichen Sohnes Jesu Christi zum Werkzeug des Heiles. Darum sollen alle dem kontemplativen Leben Geweihten Mut fassen; denn die Kirche und die Welt, der sie die Frohe Botschaft bringen soll, empfangen durch ihr verborgenes Leben im Gebet viel Licht und Kraft vom Herrn. Indem sie der Magd des Herrn in ihrem Beispiel der Demut, des Verborgenseins und der ständigen Einheit mit Gott folgen, mögen sie wachsen in der Liebe zu ihrer Berufung als Ordensleute, die sich der Kontemplation hingeben.

30 b) Alle Ordensmänner und Ordensfrauen, die sich dem apostolischen Leben} der Evangelisierung oder den Werken der Caritas und der Barmherzigkeit widmen, haben in Maria ihr Vorbild der Liebe zu Gott und zu den Menschen. Indem sie diesem Vorbild mit hochherziger Treue folgen, verstehen sie den Nöten der Menschheit, die am Mangel an Gewissheit, Wahrheit und Offenheit zu Gott leidet, eine Antwort zu geben; eine Antwort auch für die Menschheit, die von Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Unterdrückung, Krieg und Hunger bedrängt ist. Mit Maria wissen sie das Schicksal ihrer Brüder zu teilen und der Kirche in ihrer Verfügbarkeit zum Dienst am Heil des Menschen, dem sie auf ihrem Weg begegnet, zu helfen.

31 c) Die Mitglieder der Säkularinstitute, die ihr tägliches Leben inmitten der verschiedenen sozialen Gruppen verbringen, haben in Maria das Beispiel und die Hilfe, um den Menschen, mit denen sie die Lebensbedingungen in der Welt teilen, den Sinn für Harmonie und Schönheit menschlicher Existenz anzubieten, die umso wertvoller und herrlicher ist, je mehr sie sich zu Gott hin öffnet, sie haben ein Lebenszeugnis zu bieten, um Gemeinschaften, die des Menschen möglichst würdig sind, im Guten zu fördern; sie erbringen den Beweis, dass die zeitlichen Wirklichkeiten, wenn sie aus der Kraft des Evangeliums gelebt werden, die Gesellschaft verlebendigen können, indem sie sie zum Wohl aller Kinder Gottes, des Herrn der Schöpfung und Geber alles Guten, freier und gerechter machen. Diesen Lobpreis kann der Mensch zusammen mit Maria auf Gott anstimmen, wenn er ihn als allmächtig und barmherzig anerkennt.

32 Die vermehrte Entschlossenheit, Eure Weihe voll und ganz zu leben und dabei auf das hohe Vorbild jener vollkommen gottgeweihten Frau zu blicken, wie die Mutter Jesu und der Kirche sie darstellt, wird die Wirksamkeit Eures evangelischen Zeugnisses verstärken, so dass auch die Pastoral der Berufungen daraus gewinnt.

33 Gewiss erleben zahlreiche Institute einen schweren Mangel an Berufungen, und vielerorts verspürt die Kirche die Notwendigkeit, mehr Ordensleute zu haben. In dieser Lage kann das Marianische Jahr ein Erwachen im Bereich der Berufungen bewirken, indem wir uns mit stärkerem Vertrauen an Maria wenden wie an eine Mutter, die für die notwendigen Belange ihrer Familie sorgt, und alle kirchlichen Bereiche sich in erhöhtem Maße verantwortlich wissen für die Förderung des Ordenslebens in der Kirche.

SCHLUSS

34 Im Marianischen Jahr sind alle Christen aufgerufen, im Einklang mit dem Denken der Kirche, die Gegenwart der Gottesmutter und Jungfrau im Geheimnis Christi und der Kirche<ref>Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Kap. VIII, Nr. 52-69.</ref> zu meditieren. Das vorliegende Schreiben will hierfür eine Ermutigung sein, damit Ihr diese Gegenwart in Eurem Herzen meditiert, in der Geschichte Eurer Seele, Eurer persönlichen Berufung, und zugleich in Euren religiösen Gemeinschaften, Orden, Kongregationen und Säkularinstituten.

35 Das Marianische Jahr ist, so können wir wohl sagen, die Zeit einer einzigartigen »Pilgerschaft« auf den Spuren jener geworden, die dem ganzen Gottesvolk auf der Pilgerschaft des Glaubens vorangeht: Sie geht allen zusammen und zugleich jedem einzelnen voran. Diese Pilgerschaft hat viele Dimensionen und Bereiche: Ganze Nationen und sogar Kontinente vereinen sich bei den marianischen Heiligtümern, ohne zu vergessen, dass die einzelnen Christen ihre »inneren« Heiligtümer haben, in denen Maria ihnen Leitstern auf dem Weg des Glaubens, der Hoffnung und der liebevollen Einheit mit Christus ist.<ref> Vgl. ebd., 63; 68.</ref>

36 Oftmals haben Orden, Kongregationen und Institute mit ihren Erfahrungen, die sich bisweilen über Jahrhunderte erstrecken, auch ihre eigenen Heiligtümer, »Orte« der Gegenwart Marias, mit denen ihre Spiritualität und sogar die Geschichte ihres Lebens und ihrer Mission in der Kirche verbunden sind. Diese »Orte« erinnern an die einzelnen Geheimnisse der jungfräulichen Mutter, an die Werte und Ereignisse ihres Lebens, an die Zeugnisse der geistlichen Erfahrungen der Gründer oder an die Offenbarungen ihres Charismas, das dann auf die ganze Gemeinschaft überging.

37 Trachtet in diesem Jahr danach, solche »Orte«, solche »Heiligtümer«, vermehrt zu besuchen. Sucht in ihnen neue Kraft und Wege einer authentischen Erneuerung Eures geweihten Lebens sowie die rechte Ausrichtung und Methode für das Apostolat. Sucht in ihnen Eure Identität, wie jener Hausvater, jener weise Mann, der »aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt« (vgl. Mt 13, 52). Ja, sucht durch Maria geistliche Vitalität, verjüngt Euch mit ihr! Betet um Berufungen! Schließlich »tut das, was er euch sagt«, wie die Jungfrau zu Kana in Galiläa geraten hat (vgl. Joh 2, 5). Das wünscht Maria von euch, und das wünscht Maria für euch, sie, die mystische Braut des Heiligen Geistes und unsere Mutter. Ja, ich fordere Euch auf, diesem Wunsch Marias mit einem gemeinschaftlichen Akt der Übereignung zu entsprechen, der die beste »Antwort auf die Liebe der Mutter« wäre.<ref>Enzyklika Redemptoris mater (25.3.1987), 45: AAS 79 (1987) 423.</ref>

38 Auch ich vertraue in diesem Marianischen Jahr jeden einzelnen von Euch wie auch alle Eurer Gemeinschaften von ganzen Herzen ihr an und segne Euch im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Gegeben zu Rom bei St. Peter am Pfingstfest,

dem 22. Mai 1988, im zehnten Jahr meines Pontifikats

Joannes Paulus PP II.

Anmerkungen

<references />

Weblinks