Krise durch sexuellen Missbrauch

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Zu einer Krise für die katholische Kirche wurde der massenhafte sexuelle Missbrauch von Kindern und schutzbefohlenen Erwachsenen durch Priester, Bischöfe und kirchliche Mitarbeiter, der seit Anfang der 2000er-Jahre in zahlreichen Ländern bekannt wurde.

Der Problemkomplex erstreckt sich auf sexuelle Handlungen an Kindern vor der Pubertät ("Pädophilie", von griech. παῖς pais „Knabe, Kind“ und φιλία philia „Freundschaft, Neigung“), auf homosexuelle Handlungen an pubertären Jungen ("Ephebophilie", von griech έφηβος éphebos „Jüngling, junger Mann“ und -philie) wie auch an pubertären Mädchen ("Parthenophilie", von gr. παρθένος parthénos „Jungfrau“ und -philie), darüberhinaus aber auch an schutzbefohlenen Erwachsenen, wie behinderten, gebrechlichen oder kranken Personen.

Zunehmend als Skandal erweist es sich, dass offenbar in zahlreichen Ortskirchen und im Vatikan die Fälle sexuellen Missbrauchs von hohen Kirchenführern verharmlost oder sogar vertuscht wurden. Papst Franziskus verurteilte dies 2014 scharf und bezeichnete solches Verhalten als "Mittäterschaft"; Gegner werfen ihm vor, er habe selbst ähnlich gehandelt.<ref>Schock: Nuntius sagt, Franziskus hat bei Kardinal McCarrick vertuscht! Kath.net am 26 August 2018.</ref> Auch seine beiden Vorgänger waren möglicherweise in Vertuschungsprozesse verwickelt.

Reichweite des Missbrauchs

Bereits seit den 1980er-Jahren waren in verschiedenen Ländern Fälle sexuellen Missbrauchs im Bereich katholischer Diözesen und Orden bekannt geworden, in größerem Umfang in Irland und den USA. Die Rechtslage in den einzelnen Staaten und die Reaktionen der örtlichen Kirchenleitung waren uneinheitlich. In mehreren Fällen waren missbrauchte Kinder zu Schweigegelübden verpflichtet worden; Priester, die als Täter bekanntgeworden waren, wurden lediglich an einen anderen Ort versetzt oder mit einer seelsorglichen Aufgabe betraut, bei der sie keinen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen hatten. In zahlreichen Fällen wurden Täter von Bischöfen oder Ordensoberen gedeckt, wie der irische Prämonstratenser P. Brendan Smyth, der innerhalb von 40 Jahren rund 90 Kinder missbrauchte.

Maßgeblich ist seit 2001 das Motu proprio Sacramentorum sanctitatis tutela von Papst Johannes Paul II. vom 30. April 2001 als allgemeinkirchliche Regelung. Die Verantwortlichkeit für entsprechende Delikte von Priestern ging in der römischen Kirchenleitung von der Kleruskongregation auf die Glaubenskongregation über.

Der mexikanische Priester Marcial Maciel, Gründer der Legionäre Christi, legte nach einer kirchlichen Untersuchung wegen Vorwürfen des langjährigen sexuellen Missbrauchs im Mai 2006 auf Anweisung der Glaubenskongregation alle Ämter nieder und zog sich zu einem Leben des Gebetes und der Buße zurück. Er genoss die besondere Wertschätzung von Papst Johannes Paul II.. Das Treffen des Papstes mit Maciel im Jahr 2004 bezeichnete der frühere Privatsekretär von Johannes Paul II., Erzbischof Stanislaw Dziwisz, als einen Fehler und ein Beispiel für schwere Kommunikationsmängel in der römischen Kurie.

Während der Amtszeit von Papst Benedikt XVI. als Erzbischof von München und Freising wurde ein pädophiler Priester jahrelang im Erzbistum in der Seelsorge eingesetzt. Der damalige Generalvikar Kardinal Ratzingers, Gerhard Gruber, übernahm später dafür die volle Verantwortung; gegenüber Vertrauten erklärte er jedoch, er sei dazu vom Ordinariat eindringlich "gebeten" worden, um den inzwischen zum Papst gewählten Erzbischof "aus der Schusslinie zu nehmen".<ref>spiegel.de: Missbrauchssklandal in der Kirche: Papst sollte aqus der Schusslinie genommen werden, 17. April 2010.</ref>

Der Vatikan hat 2014 den polnischen Erzbischof und Nuntius Józef Wesolowski wegen Kindesmissbrauchs aus dem Klerikerstand entlassen. Im November 2015 wurde öffentlich bekannt, dass der frühere Bischof von Hildesheim, Heinrich Maria Janssen († 1988) zwischen 1958 und 1963 einen anfangs 10-jährigen Ministranten „regelmäßig“ und "unter Ausnutzung der bischöflichen Autorität und Stellung" sexuell missbraucht haben soll.<ref>Erstmals Missbrauchsvorwurf gegen katholischen deutschen Bischof. kath.net vom 6. November 2015</ref> Die Vorwürfe wurden jedoch später von einer Arbeitsgruppe untersucht und für unglaubwürdig befunden.<ref>Ein Schritt zurück ins rechte Licht, rp-online, 26. November 2016, abgerufen am 12. April 2017.</ref>

Im März 2018 entzog ein päpstliches Tribunal nach entsprechender Untersuchung in einem kanonischen Gerichtsverfahren dem Erzbischof von Agaña auf der US-amerikanischen Südseeinsel Guam, dem Kapuziner Anthony Sablan Apuron wegen Kindesmissbrauchs sein Amt und verbot ihm, auf dem Gebiet seines früheren Erzbistums zu leben.<ref>vaticannews.va:Vatikan/USA: Christine Seuss: Kirchengericht entlässt Erzbischof wegen Kindesmissbrauchs. 16. März 2018.</ref> Der australische Kurienkardinal George Pell muss sich seit 2017 in Melbourne wegen Missbrauchsvorwürfen vor Gericht verantworten; sein Amt als Vatikan-Finanzchef lässt er vorerst ruhen.

Besonders weitreichend war der Fall des emeritierten Erzbischofs von Washington (Vereinigte Staaten), Theodore Edgar McCarrick (* 1930). Nach dem Vorwurf, er habe ihm untergebene Seminaristen und Priesteranwärter sexuell ausgebeutet, untersagte ihm Papst Franziskus im Juni 2018, öffentlich priesterliche Aufgaben wahrzunehmen. McCarrick, der am 21. Februar 2001 von Papst Johannes Paul II. im selben Konsistorium wie Jorge Mario Bergoglio, dem späteren Papst Franziskus, zum Kardinal kreiert worden war, gab diese Würde am 27. Juli 2018 zurück; Papst Franziskus gab dem schon am nächsten Tag statt und entzog ihm das Kardinalat.

An zwei vom Benediktinerorden geführten Schulen in Großbritannien (Ampleforth, Grafschaft North Yorkshire und Downside, Somerset) wurden über 40 Jahre hinweg Kinder sexuell missbraucht, wie am 9. August 2018 bekannt wurde. Die jüngsten der Opfer waren sieben Jahre alt. An den Vorfällen waren auch Ordensmitglieder beteiligt. Nach Aussagen von Betroffenen habe es zudem eine „Kultur der Akzeptanz" und eine „eklatante Offenheit" von missbräuchlichem Verhalten bis hin zu sadistischen Praktiken gegeben; die Täter hätten ihre sexuellen Interessen nicht versteckt und ihre Opfer zum Teil vor den Augen ihrer Mitschüler missbraucht. Nach außern hin sei das Treiben systematisch vertuscht worden; der Ruf der Schule habe stets Vorrang vor dem Schutz der Kinder gehabt.<ref>vaticannews.va: Großbritannien: Missbrauch Ordensschulen Ampleforth Downside, 10. AQugust 2018.</ref>

Am 15. August 2018 wurde bekannt, dass im US-Staat Pennsylvania die Ermittlungsbehörden sexuellen Missbrauch an rund 1000 Kindern aufdeckten, der während eines Zeitraums von 70 Jahren von mehr als 300 namentlich genannten katholischen, zölibatär lebenden Priestern begangen wurde. Die Delikte seien durch ranghohe Kirchenobere in Pennsylvania und bis in den Vatikan hinein jahrzehntelang vertuscht worden, so dass für die Mehrzahl der Taten die Täter nicht mehr belangt werden können. Das Kölner domradio nannte Einzelheiten: "In der Diözese Pittsburgh habe sich eine Gruppe von vier Priestern gemeinsam an Jungen vergangen - einen sollen sie gezwungen haben, in einem Pfarrhaus nackt die Pose Jesu am Kreuz einzunehmen. Dem Bericht zufolge vergewaltigten und schwängerten Priester junge Mädchen. In einem Fall sei eine Abtreibung arrangiert worden. Der zuständige Bischof habe anschließend sein Mitgefühl ausgedrückt - nicht mit dem Opfer, sondern mit dem Priester."<ref>domradio.de: Erschütternde Missbrauchsvorwürfe katholischer US-Kirche, 15. August 2018.</ref>

In einer von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen und im September 2018 veröffentlichten Studie "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" wurden 38.156 Personalakten aus den 27 deutschen Bistümern für die Zeit zwischen 1946 und 2014 ausgewertet. Demnach gab es bei 1.670 Klerikern (4,4, Prozent) Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. Darunter waren 1.429 Diözesanpriester (5,1 Prozent aller Diözesanpriester), 159 Ordenspriester (2,1 Prozent) und 24 hauptamtliche Diakone (1,0 Prozent). Bei 54 Prozent der Beschuldigten lagen Hinweise auf ein einziges Opfer vor, bei 42,3 Prozent Hinweise auf mehrere Betroffene zwischen 2 und 44, der Durchschnitt lag bei 2,5. 3.677 Kinder und Jugendliche sind als Opfer dieser Taten dokumentiert; 62,8 Prozent von ihnen waren männlich, 34,9 Prozent weiblich, bei 2,3 Prozent fehlten Angaben zum Geschlecht. Das deutliche Überwiegen männlicher Betroffener unterscheidet sich nach Angaben der Forscher vom sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in nicht-kirchlichen Zusammenhängen. Die in der Studie ermittelte Zahl von 3.677 Betroffenen spiegelt, so die Forscher, nur das sogenannte "Hellfeld" wider; aus der Dunkelfeldforschung des sexuellen Missbrauchs sei bekannt, dass die Zahl der tatsächlich betroffenen Personen deutlich höher liege.<ref>Deutschland: 3.677 Opfer von Geistlichen missbraucht Katholisch.de am 12. September 2018; domradio.de: Ergebnisse der Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche (nach kna, 25. September 2018); dbk.de: MGH-Studie gesamt, S. 252 und 255.</ref>

Vertuschung, Verharmlosung und Täterschutz

Über den zahlenmäßigen Anteil echter Pädophilie unter den Fällen, die seit 2001 in Rom bearbeitet wurden, sagte der vatikanische Strafverfolger Charles Scicluna auf Nachfrage, ob es 3.000 Fälle von pädophilen Priestern gebe:

"So kann man das korrekterweise nicht sagen. Wir können sagen, dass es sich grosso modo in sechzig Prozent dieser Fälle vor allem um Akte von Ephebophilie handelt, das heißt: Akte, die mit dem sexuellen Hingezogensein zu Heranwachsenden desselben Geschlechts zusammenhängen.

Weitere dreißig Prozent beziehen sich auf heterosexuelle Beziehungen; und zehn Prozent sind tatsächlich Akte der Pädophilie, also bestimmt durch das sexuelle Hingezogensein zu Kindern im vorpubertären Alter. Die Fälle von Priestern, die der Pädophilie im strengen Sinn des Wortes beschuldigt werden, sind also etwa dreihundert binnen neun Jahren."<ref>Scicluna (Link, dt.) auf der Vatikanseite</ref>

Damit wird suggeriert, dass von Priestern begangene Ephebophilie ein geringfügigeres Laster sei als Pädophilie; Ephebophilie bei Priestern wird somit verharmlost. Die Deutsche Bischofskonferenz weitete inzwischen den Kreis von vor Missbrauch zu schützender Personen auf "erwachsene Schutzbefohlene" aus: "behinderte, gebrechliche oder kranke Personen, gegenüber denen Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine besondere Sorgepflicht haben, weil sie ihrer Fürsorge oder Obhut anvertraut sind und bei denen aufgrund ihrer Schutz- und Hilfebedürftigkeit eine besondere Gefährdung besteht". (Leitlinien A.3., 16. September 2013)

Die Katholische Enzyklopädie kathpedia.com behandelte das Thema "Kindesmissbrauch" von 2010 bis 2014 unter dem irreführenden Titel "Medienkrise 2010" ("vulgo Missbrauchsskandal").<ref>[1]</ref>

Den Versuch kirchlicher Kreise, die Krise der Berichterstattung säkularer Nachrichtenorgane anzulasten mit der Behauptung, diese wollten durch Skandalisierung und einseitige Berichterstattung die Katholische Kirche und den Papst schädigen, verurteilte Papst Franziskus am 7. Juni 2014 scharf. Bei einer heiligen Messe mit Missbrauchsopfern im Vatikan sagte der Papst: "Ich bitte auch dafür um Vergebung, dass Kirchenverantwortliche es unterlassen haben, angemessen auf Berichte über Missbrauch zu reagieren." Dieses Verhalten habe zu noch mehr Leid geführt und das Risiko für andere Minderjährige vergrößert.<ref>Franziskus trifft Missbrauchsopfer Kath.net am 7. Juli 2014</ref> Die Verbrechen seien lange "verheimlicht und vertuscht worden, durch eine Mittäterschaft, die nicht zu erklären ist". Kurienkardinal Walter Kasper sprach von einem innerkirchlichen „Paradigmenwechsel“: „Es gab mal eine Zeit, in der Priester gedeckt wurden; jetzt sieht man die Dinge von der Perspektive der Opfer her. Das müssen wir so halten - das ist ein Wandel der Kirche.“<ref>Corriere della sera, 25. September 2014.</ref>

In Zusammenhang mit einem Missbrauchsskandal nahm Papst Franziskus den angegriffenen chilenischen Bischof Juan Barros in Schutz. Diesem wurde vorgeworfen, von dem sexuellen Missbrauch des Priesters Fernando Karadimas gewusst zu haben. Der Papst ernannte Barros Anfang 2015 vom Militärbischof zum Oberhirten derDiözese Osorno in Chiles. Es gebe "keinen einzigen Beweis" gegen den Bischof, sagte Franziskus am 22. Januar 2018 in Chile. "Alles ist Verleumdung. Ist das klar?", sagte der Papst.<ref>Papst nennt Vorwürfe gegen chilenischen Bischof "Verleumdung" Kath.net am 18. Januar 2018</ref> Kardinal Seán Patrick O’Malley, der Vorsitzende der päpstlichen Kinderschutzkommission, kritisierte den Papst dafür.<ref>katholisch.de: Die schlimmste Papstreise von allen Katholisch.de am 25. Januar 2018.</ref> Papst Franziskus hat in einem Brief an die Bischöfe von Chile vom 8. April 2018 eigene Fehler im Umgang mit den sexuellen Missbrauchsfällen bei chilenischen Klerikern eingeräumt.<ref>'Ernste Fehler' und 'Traurigkeit und Schande' Kath.net am 12. April 2018</ref> Nach Gesprächen mit dem Papst im Mai 2018 boten am 18. Mai 2018 alle chilenischen Bischöfe, Papst Franziskus ihren Amtsverzicht an.<ref>Alle Bischöfe von Chile reichen geschlossen ihren Rücktritt ein Kath.net am 18. Mai 2018</ref> Der Rücktritt von Juan Barroso wurde vom Papst angenommen.<ref>Vertuschung: Papst nimmt Rücktritt von acht Bischöfen Chiles an Kath.net am 11. Juni 2018,</ref>

Der Jesuit P. Hans Zollner, Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen, beklagte im Februar 2018, dass viele ost- und südeuropäische Ortskirchen dem Thema des sexuellen Missbrauchs durch Geistliche auswichen.<ref>Tag des Herrn. Katholische Wochenzeitung für das Erzbistum Berlin, 68. Jahrgang, Nr. 7, 18. Februar 2018, S. 8.</ref> Die Mitglieder der Chilenischen Bischofskonferenz boten im Mai 2018 Papst Franziskus ihren Rücktritt an, nachdem er ihnen wegen des Umgangs mit einem Missbrauchsskandal schwere Vorwürfe gemacht hatte.<ref>zeit.de: Sexueller Missbrauch Chile, 18. Mai 2018.</ref>

Erzbischof Carlo Maria Viganò, der von 2011 bis 2016 Nuntius in Washington D.C. gewesen war. schreibt In einem elfseitigen Statement, das er für den 25. August 2018 an mehrere Medien gegeben hatte, dass bereits Papst Benedikt XVI. Ende der ersten Dekade des neuen Jahrtausends „Kardinal McCarrick ähnliche Sanktionen auferlegt hatte, wie sie ihm jetzt durch Papst Franziskus auferlegt wurden“. Viganò berichtete, dass er Papst Franziskus über diese Sanktionen 2013 persönlich informiert („gesagt“] habe. Trotzdem habe Papst Franziskus die Sanktionen gegen den Kardinal wieder aufgehoben. Obendrein habe Franziskus McCarrick zu seinem Ratgeber erhoben, dem er vertraute [„trusted councelor“] und der ihm zu einer Reihe von Bischofsernennungen in den USA geraten habe.<ref>Schock: Nuntius sagt, Franziskus hat bei Kardinal McCarrick vertuscht! Kath.net am 26 August 2018; Übersetzung des Statements Kath.net am 2. September 2018.</ref>

Die Vorwürfe Viganòs seien nicht ohne Widersprüche, die noch aufzuklären seien. Für angeblich geheime Maßregelungen McCarricks durch Benedikt XVI. gibt es bislang weder eine offizielle Bestätigung noch ein offizielles Dementi, so das Internetportal der Deutschen Bischofskonferenz katholisch.de. Die Meldung, dass der emeritierte Papst die Sanktionen bestätigt habe, habe sich als "Fake News" erwiesen. Es erhärtet sich in der Einschätzung zahlreicher kirchennaher Medien der Verdacht, dass die Veröffentlichung des Memorandums eine konzertierte Aktion von ultrakonservativen Franziskus-Kritikern ist<ref>www.katholisch.de: Was ist an den Vorwürfen gegen Franziskus dran?, 31. August 2018</ref>, ein "Machtkampf zwischen den Fraktionen der römischen Kurie" im Kampf um die Macht in der Kirche, bei dem es gar nicht mehr um den Missbrauchsskandal gehe, sondern nun der Papst selber ins Visier genommen werden soll.<ref>Tag des Herrn. Katholische Wochenzeitung für das Erzbistum Berlin, 2. September 2018, S. 1.</ref> Der Journalist Aldo Valli, konservativer Kritiker von Papst Franziskus, hatte zuvor berichtet, dass die Veröffentlichung des "Memorandums" durch Erzbischof Viganò offenbar eine konzertierte Aktion katholischer Blogger in mehreren Ländern gewesen sei. Voraufgegangen waren der Veröffentlichung mehrere konspirative Treffen.<ref>domradio.de, 28. August 2018</ref>

Inzwischen stellten sich mehrere Bischofskonferenzen in Europa und Lateinamerika hinter den Papst. Die argentinische Bischofskonferenz sprach von einem "rücksichtslosen Angriff" auf den Papst und warf dem italienischen Vatikandiplomaten Viganò vor, sich in seinem Vorgehen von "engherzigen weltlichen Interessen" leiten zu lassen.<ref>domradio.de nach KNA/epd, 31. August 2018.</ref>

Der Vatikanist des italienischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Aldo Valli, interpretiert auf seinem Meinungs-Blog das gegenwärtige Verhalten von Papst Franziskus angesichts der Missbrauchs- und Vertuschungsskandale, die in den USA, Chile und weiteren Länder "maximal hochgekocht" seien, indem er behauptet: „Wer nicht linientreu ist, wer nicht dem Team Franziskus beitritt, ist automatisch derjenige, der nicht die Wahrheit sucht, sondern auf Skandal und Spaltung aus ist.“<ref>Journalist: Schweigen statt Antwort, die Taktik von Papst Franziskus Kath.net am 6. September 2018</ref> Die Wochenzeitung für das Erzbistum Berlin hingegen zitiert den deutschen katholischen Journalisten und Vatikankenner Jürgen Erbacher mit seiner Aussage, der Papst zeige "mit seiner gelassenen Reaktion, dass er sich durch derartige Äußerungen nicht provozieren lässt".<ref>Tag des Herrn. Katholische Wochenzeitung für das Erzbistum Berlin, 2. September 2018, S. 1.</ref>

Papst Franziskus lud am 12. September 2018 die Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen der Welt zu einem Krisengipfel vom 21. bis 24. Februar 2019 nach Rom ein. Damit erfüllte er einen Wunsch von nicht wenigen US-Bischöfen.<ref>Franziskus lädt zum Krisengipfel nach Rom Kath-net am 12. September 2018</ref>

Laut der Nachrichtenagentur AP (und des ZDF ca. im September 2018) habe Papst Franziskus im Jahr 2010 als damaliger Erzbischof Bergoglio eine 2000-Seite-umfassende forensische Untersuchung finanzieren lassen, um den pädophilen Priester Julio Grassi vor dem Gefängnis zu bewahren. In der Studie wird behauptet, der Priester sei unschuldig und die Opfer würden lügen. Grassi wurde später zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, 2017 wurde das Urteil vom Obersten Gerichtshof des Landes noch einmal bestätigt. Die Agentur selbst habe beim Vatikan eine Anfrage um einen Kommentar zu der Causa gestellt, aber keine Antworten bekommen.<ref>Missbrauchsopfer von Grassi: "Ich habe gelitten und leide noch immer!" ]Kath.net am 19. September 2018; ZDF: Das Schweigen der Hirten </ref>

Maßnahmen

Zahlreiche Bischofskonferenzen haben seit Bekanntwerden der Übergriffe Massnahmen zu einer schonungslosen Aufklärung und einer kritischen Überarbeitung geltender Vorschriften ergriffen. Die Deutsche Bischofskonferenz bestimmte am 25. Februar 2010 den Trierer Bischof Stephan Ackermann zum "Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger". Die seit 2002 bestehende Leitlinie "Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" wurde im August 2010 und noch einmal im September 2013 geändert und verschärft.<ref>Pressemitteilung zu den "Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz", 16. September 2013</ref>

In den Diözesen wurden Missbrauchsbeauftragte ernannt, an die sich Opfer wenden können. Außerdem gibt es Schulungen zur Prävention gegen Kindesmissbrauch sowie zum Erkennen von Missbrauchsfällen für Seelsorger sowie haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter in kirchlichen Kindergärten, Schulen und in der Jugendarbeit.

Die Deutsche Bischofskonferenz schaltete zwischen 2010 und 2012 eine Telefonhotline. In diesem Zeitraum wurden rund 8.500 Gespräche geführt. Die Einstellung des Angebots erfolgte, da es kaum noch Anrufe gab. Eine erneute Hotline für Betroffene von sexuellem Missbrauch wird ab dem 25. September bis zum 28. September 2018 freigeschaltet sein, mit Blick auf die Präsentation der von den Bischöfen in Auftrag gegebenen Studie "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz".<ref>Bischöfe schalten Hotline für Missbrauchsopfer frei Katholisch.de am 21. September 2018</ref> Zusätzlich zu der Telefonberatung ist im gleichen Zeitraum auch eine Internetberatung unter www.hilfe-nach-missbrauch.de.<ref>Bischöfe schalten Hotline für Missbrauchsopfer frei Katholisch.de am 21. September 2018</ref>

Anlässlich der Vorstellung der Studie im Rahmen der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 25. September 2018 wiesen die Forscher, die die Studie erstellt hatten, darauf hin, dass es naheliegend sei, "dass Merkmale und Strukturen der katholischen Kirche sexuellen Missbrauch durch Geistliche zumindest begünstigen können". "Dazu gehören der Missbrauch klerikaler Macht, aber auch der Zölibat und der Umgang mit Sexualität, insbesondere mit Homosexualität, aber auch das Sakrament der Beichte", sagte der Koordinator des Forschungskonsortiums. Die Forscher rieten dazu, den Klerikalismus - "das Bestreben, einer Religion über die religiös-geistige Einflusssphäre hinaus weltliche Macht zu verleihen und religiösen Dogmen politische Geltung und politisches Gewicht zu verschaffen" - zu überdenken. Auch solle über den Zölibat sowie die Einstellung der Kirche zur Homosexualität nachgedacht werden.<ref>domradio.de: Wie die Forscher die Zahlen der Missbrauchsstudie interpretieren, 25. September 2018.</ref> Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln, Manfred Lütz, hält die Studie jedoch für "spektakulär misslungen". Offensichtlich sei "man der Versuchung erlegen, eine Studie mit schwacher Datenbasis dadurch öffentlich zu platzieren, dass man – ohne Datenbasis – die üblichen kirchenkritischen Themen raunend oder dezidiert anspricht, was sofort für öffentliche Aufmerksamkeit sorgt." Und bilanzierend: "Wer die ganze Studie liest, ist befremdet vom unwissenschaftlichen Stil weiter Passagen, von feuilletonistischen und anekdotischen Bemerkungen und vom fast vollständigen Mangel an wissenschaftlich-kritischer Diskussion der Ergebnisse." Diese "mangelhafte Studie ist für die weitere Entwicklung deswegen kontraproduktiv, weil man befürchten muss, dass damit die Hilfe der Wissenschaft diskreditiert " werde.<ref>Leider spektakulär misslungen! Kath.net am 25. September 2018</ref>

Der Bischof von Passau, Stefan Oster, sagte am 26. September 2018 im ZDF-Morgenmagazin, der Zölibat sei in der Missbrauchsfrage "nicht das eigentliche Problem"; das Problem liege vielmehr darin, dass die Lebensform und das System der katholischen Kirche immer wieder Menschen angezogen habe, die "womöglich sexuell unreif sind und ein Problem haben und hoffen, es in der Kirche in einer solchen Struktur verdrängen zu können, sich dem nicht stellen zu müssen". Diese "unreife Disposition" in Kombination mit dem Zölibat habe womöglich Übergriffe begünstigt. Allerdings, so betonte Oster, müsse es einen "Systemwandel innerhalb der Kirche" geben. In der Vergangenheit sei es zu oft darum gegangen, die Institution Kirche zu schützen, die zum Teil als "geschlossene Männergesellschaft" agiere, und dies habe Missbrauchstaten begünstigt. Er betonte: "Wir haben nicht oder viel zu wenig auf die Betroffenen geschaut." Jetzt müsse es einen "Kulturwandel" geben und die von Missbrauch Betroffenen müssten in den Mittelpunkt gestellt werden. Bei der weiteren Aufarbeitung des Skandals setze die Deutsche Bischofskonferenz weiterhin auf unabhängige Unterstützung.<ref>domradio.de: Bischof Oster zu Missbrauchsgründen in der katholischen Kirche, 26. September 2018.</ref>

Entwicklung der Missbrauchskrise

Die Krise wurde in Deutschland dadurch öffentlich, dass der Jesuit P. Klaus Mertes (damals Direktor des Canisius-Kollegs in Berlin) sexuelle Übergriffe von Jesuiten an deren Internat "Aloisiuskolleg" in Bonn-Bad Godesberg bekannt machte - eine Tatsache, die im Orden selbst bereits bekannt war, aber zu keinen Konsequenzen geführt hatte.

Im Januar 2010 richtete P. Mertes einen Brief an rund 600 ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs, von denen mehrere in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Gewalt oder sexuell belästigt oder missbraucht worden waren. Die vom Jesuitenorden mit der Untersuchung beauftragte Anwältin Ursula Raue sprach Anfang Februar 2010 von etwa 30 Opfern. Über die Motive und Kriterien seiner Entscheidung gab Mertes in mehreren Interviews Auskunft, unter anderem im Berliner Tagesspiegel vom 3. Februar 2010. Auf den Einwand, sein Vorgehen könne gegen die Unschuldsvermutung (zugunsten der Beschuldigten) verstoßen, antwortete er, man müsse erst einmal die Missbrauchsopfer ermutigen, überhaupt zu sprechen.

Bischof Stephan Ackermann dankte als Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im kirchlichen Bereich P. Mertes am 30. März 2010 für sein Vorgehen; er habe „eine Tür geöffnet und eine bisher vorherrschende Sprachlosigkeit überwunden“.<ref>Daniel Deckers: Katholische Beratungsstelle für Missbrauchsopfer. In: FAZ vom 31. März 2010, S. 4.</ref> P. Mertes erfuhr allerdings auch Kritik und Missbilligung innerhalb der Kirche.

Neubewertung des Kindesmissbrauchs in der Gesellschaft

Empirische Untersuchungen belegen, dass katholische Priester nicht häufiger Täter sexualisierter Gewalt sind als andere Gesellschaftsgruppen. <ref> Godehard Brüntrup SJ, Eine kopernikanische Wende?, in der Tagespost vom 2. März [2] </ref>

Durch das Presseecho auf die Veröffentlichungen von Pater Mertes und die Diskussion in der Gesellschaft meldeten sich auch Schüler, die Schulen anderer Träger besucht und dort sexuellen Missbrauch erlebt hatten. Mehrere Fälle waren bereits bekannt und sogar in Pressemeldungen dargestellt worden, waren aber nicht weiterverfolgt worden.

Es war in Deutschland bald nicht mehr in erster Linie die katholische Kirche, die im Brennpunkt der öffentlichen Missbrauchsdebatte stand. Besonderes Aufsehen erregte die private, nicht kirchliche Odenwald-Schule in Heppenheim an der Bergstraße; dort wurden Übergriffe seitens des Schulleiters und mehrerer Lehrer bekannt, die sich von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre ereignet hatten.

In der deutschen Gesellschaft setzte eine breite Diskussion ein, die zu einer Neubewertung des Deliktes führte. Bagatellisierungen wurden verurteilt, und der Schutz der Opfer - einschließlich einer eventuellen Entschädigung - bekam einen hohen Stellenwert. Die Partei Bündnis 90/Die Grünen beauftragte 2013 die Universität Göttingen mit der Erforschung von Positionen zur Straffreiheit pädophiler Handlungen, wie sie auch von Teilen der Partei in ihrer Frühphase in den 1960er- und 1970er-Jahren vertreten worden waren. Nach Vorlage des Forschungsberichts erklärte die Partei auf ihrem Parteitag am 23. November 2014: "Einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern kann es nicht geben" und bat "alle Opfer sexuellen Missbrauchs um Entschuldigung, die sich durch unsere Positionen und Debatten in den 1980er-Jahren in ihrem Schmerz und ihrem Leid verhöhnt fühlen".<ref>stern.de, 22. November 2014, abgerufen am 25. November 2014</ref>

Papstworte und päpstliche Schreiben

Geschichtliches zum Sexuellen Missbrauch

Papst Johannes Paul II.

Papst Benedikt XVI.

Papst Benedikt XVI. formulierte in der Predigt zum Abschluss des Anno sacerdotale am 11. Juni 2010:

"Daher ergab sich, dass eigens in diesem Jahr der Freude über das Sakrament des Priestertums die Sünden von Priestern ans Licht gekommen sind; vor allem der Abusus gegenüber den Kleinen, wodurch das Priestertum, als Auftrag der Sorge Gottes zugunsten des Menschen, in sein Gegenteil verkehrt wird. Auch Wir erflehen dringend die Vergebung von Gott und von den betroffenen Personen, überdies beabsichtigen Wir zu versprechen, dass Wir alles nur Mögliche tun, dass so ein Abusus nie wieder vorkommen kann; zu versprechen, dass Wir im Zugang zum priesterlichen Dienst und in der Bildung auf dem Vorbereitungsweg dahin alles, was Wir können, auch tun, um die Echthheit der Berufung zu beobachten und dass Wir überdies die Priester auf ihrem Weg noch mehr begleiten, auf dass Der Herr sie schütze und geleite in bedrängenden Situationen und den Gefahren des Lebens."

Papst Franziskus

Der Papst hatte bereits im März 2014 die Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen ein gerichtet. Aufgabe der Diözesanbischöfe und Ordensoberen ist es, "zu überprüfen, dass die Sicherheit der Minderjährigen und der abhängigen Erwachsenen in ihren Pfarreien und den anderen Einrichtungen der Kirche garantiert wird". Er forderte von den Bischöfen und Leitern der geistlichen Gemeinschaften die Bereitschaft "zur Begegnung mit den Opfern und ihren Angehörigen: Es geht hier um wertvolle Gelegenheiten zum Zuhören, und um die, die viel gelitten haben, um Vergebung zu bitten".

  • 7. Juli 2014, Predigt von Papst Franziskus während einer Messe mit Missbrauchsopfern im Vatikan: In der Ansprache an Missbrauchsopfer sprach Papst Franziskus von seiner Bestürzung und seinem Schmerz "über die Tatsache, dass einige Priester und Bischöfe die Unschuld von Minderjährigen und ihre eigene priesterliche Berufung geschändet haben, indem sie sich an ihnen sexuell vergingen. Es handelt sich um mehr als niederträchtige Taten. Es ist wie ein gotteslästerlicher Kult; denn diese Knaben und Mädchen waren dem priesterlichen Charisma anvertraut, damit sie zu Gott geführt würden, und jene haben sie dem Götzen ihrer Lüsternheit geopfert. Sie haben das Bild Gottes selbst beschmutzt, nach dessen Ähnlichkeit wir geschaffen worden sind."
  • 2. Februar 2015: In einem Brief an Bischofskonferenzen, Orden und kirchliche Gemeinschaften schrieb er: „Im (Weihe-) Amt ist absolut kein Platz für diejenigen, die Minderjährige missbrauchen.“ Es müsse "alles nur Mögliche getan werden, um in der Kirche die Plage sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen auszurotten und einen Weg der Versöhnung und Heilung zugunsten derer, die missbraucht worden sind, zu öffnen." Sie übe eine verheerende Wirkung auf den Glauben und auf die Hoffnung auf Gott aus. Die Verschleierung solcher Taten in der Kirche über lange Zeit kritisierte er scharf als Komplizenschaft, für die es keine Erklärung gibt.<ref>Brief an Bischofskonferenzen, Orden und kirchliche Gemeinschaften (englisch)</ref>

Literatur

  • Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.): Aufklärung und Vorbeugung – Dokumente zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (2., völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage). Bonn 2014. (Arbeitshilfen, Nr. 246)

Weblinks

Anmerkungen

<references />