Integralismus

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Unter Integralismus versteht man die eine kirchenpolitische Tendenz, die alle Lebensbereiche aus dem Katholizismus heraus gestalten will und damit eine relative Selbständigkeit der verschiedenen kulturellen Gebiete leugnet. Er ist in etwa der Gegensatz zum Reformkatholizismus.

Der Integralismus führte am Anfang des 20. Jahrhunderts im Kampf gegen den Modernismus vielfach zu einer unbegründeten Verdächtigung der kirchlichen Treue andersdenkender Katholiken. Schon Papst Benedikt XV. hat gegen die Machenschaften der (wenigen) militanten "Integralen" entschieden durchgegriffen.

In Deutschland kämpften die Integralisten vor allem für den religiös-katholischen Charakter der Zentrumspartei und in der Arbeiterfrage gegen die gemischten Gewerkschaften.

Begriff

Im Rückblick auf die Zeit zwischen 1864 (Päpstlicher Syllabus) und 1964 (Konzilskonstitution Lumen gentium) wurden im Umfeld des Katholizismus als "Integralisten" (von: catholicisme intégral, catholiques intégraux) vornehmlich solche besonders traditionsbewussten Anhänger des päpstlichen Jurisdiktionsprimats bezeichnet, die aus der antimodernen Grundhaltung des Papsttums im 19. Jahrhundert das Prinzip ableiteten, sämtliche Gesellschaftsbereiche müssten gemäß kirchlich amtlicher Vorgaben gestaltet werden. Zwar ist die Deutung sämtlicher Lebensbereiche im Lichte des Evangeliums nicht integralistisch, sondern Inbegriff der katholischen Religion überhaupt: Fides enim omnia novo lumine illustrat... ideoque ad solutiones plene humanas mentem dirigit (GS Nr. 11). Denn für diese ist das petrinische Prinzip unverzichtbar, wonach der Kirche ein Vorrang vor Politik und Gesellschaft zukommt. Aber es ist stets eine notwendige Intransigenz der kirchlichen Lehre (ihre "Kompromisslosigkeit") zu unterscheiden vom ideologisch motivierten Integralismus.

Historische Entwicklung

Bereits Papst Benedikt XV. hatte in seiner Antrittsenzyklika vom 1. November 1914, unter gleichzeitiger Bekräftigung der gegen den Modernismus gerichteten Verurteilungen Pius X., angesichts des Krieges, dringend darauf hingewirkt, dass die Einheit der Kirche den Vorrang vor internen Konflikten haben müsse. Eine kleine, extrem antimoderne Gruppe, das Sodalitium Pianum, innerhalb der römischen Kurie tätig und mit Sympathisanten in einigen europäischen Ländern ausgestattet, wollte nämlich den Kampf gegen den Modernismus zum Leitprinzip der katholischen Identität insgesamt erheben, obwohl dieser im Wesentlichen bereits um 1908 durch die Maßnahmen Pius X. entschieden war (Exkommunikation von Alfred Loisy). Seither hat die integralistische Haltung keine päpstliche Unterstützung. Nie hatten sich die integralistischen Tendenzen (innerhalb der römischen Kurie und insbesondere bei den Jesuiten) zu einem geschlossenen Weltbild verfestigt, schon weil die kirchenamtlich Verantwortlichen (auch in den folgenden Jahrzehnten) auf immer neue Herausforderungen der Zeit reagieren mussten.

Integralismus und Intransigenz

Jedoch muss bereits für die Zeit vor 1914 genauer zwischen der antimodernen Intransigenz der Päpste einerseits unterschieden werden und der zum Integralismus gesteigerten, exzessiven Übertreibung dieser Position andererseits. Während es zu allen Zeiten die Aufgabe der kirchlichen Führung ist, eine notwendige Abgrenzung gegenüber Irrtum in der Lehre oder Niedergang der öffentlichen Moral auszuüben, ist das päpstliche und bischöfliche Amt (!) aber auch befugt, die je erforderlichen Anpassungen an eine neue Weltsituation oder kulturelle Herausforderung anzuleiten. Dies bedeutet nicht, dass sich der Inhalt der kirchlichen Verkündigung im Wesentlichen ändert. Die Grenzlinie zwischen wesentlichem Inhalt und verzichtbaren oder abänderbaren Ausdrucksformen zu ziehen, das steht jedoch letztlich dem kirchlichen Lehramt zu, nicht einem einzelnen Bischof oder einzelnen Theologen.

Zur vollen Ausprägung einer selbstständigen Ideologie gelangte der Integralismus, als scheinbar "katholisch" inspirierte Weltanschauung, erst durch die Kritik des Traditionalismus gegenüber wesentlichen Aussagen des II. Vatikanum. Vor diesem Hintergrund wollen heutige Vertreter des Integralismus, die fast immer politischen Ideen der extremen Rechten nahestehen, dem Papsttum eine (nur nominelle, da an die Vorgaben der kirchlichen Tradition gebundene) Zuständigkeit für Kirche, Gesellschaft und Politik zubilligen, welche dieses in der Geschichte aber angeblich so nie in Anspruch genommen habe.

Die katholische Variante eines politischen Totalitarismus funktioniert nur als virtuelles Konzept, ebenso virtuell wie der volle Konsens der Kirche mit der jeweiligen "Gegenwart", auf die der Modernismus zielte. Nur die sorgsame Unterscheidung der Bereiche (wie Schöpfer und Schöpfung, Gnade und Natur, Ewigkeit und Zeit, Kirche und Staat) ist christlich akzeptabel. Man kann nicht versöhnen, ohne zu unterscheiden.

Auch in der schwierigen Zeit zwischen den Weltkriegen, als noch keine hinreichend überzeugenden Erfahrungen mit der demokratischen Staatsidee (außer in Großbritanien und USA) vorlagen, hat das päpstliche Lehramt von Pius XI. sich explizit antitotalitär verhalten und sich integralistische Tendenzen nicht angeeignet. Insbesondere in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien wäre in der Lebenswirklichkeit der modernen Zivilisation ein im Namen des "Christkönig" errichtetes Regime sogar weniger lebensfähig gewesen als jede ideologisch motivierte Diktatur. Überdies würde eine (unvorstellbare) Machtergreifung eines integralistisch gefärbten Katholizismus in der Praxis die Religion den Bedingungen der politischen Herrschaft unterwerfen, nur unter Behauptung des Gegenteils.

Somit hat das II. Vatikanum eine Abgrenzung unternommen, die bereits in der Soziallehre der Kirche seit Pius IX. vorgezeichnet war, aber noch einer profunden Klärung bedurfte:

Plus encore que les thèses, c'est l'atmosphère qui est pernicieuse. (Pius XI.)

Integralismus und Traditionskritik

Integralistische Ideen und Utopien wurden von jener Epoche begünstigt, in der die katholische Religion in die Defensive geraten war. Der Integralismus entstammt konzeptionell dieser "oppositionellen Phase" insbesondere des frz. Katholizismus zwischen 1830 und 1914. Die von Papst Leo XIII. seit 1878 betriebene Annäherung des Papsttums an die Republik wurde von Klerus und Adel des traditionell (historisch begründet) antirepublikanischen frz. Katholizismus nur sehr zögernd akzeptiert. Der Kampf Pius X. gegen die Trennungsgesetzgebung von 1905 fand hingegen lebhaften Beifall bei der antidemokratischen Action française. Deren Führer, Charles Maurras, wurde von Pius X. zeitweilig mit Wohlwollen bedacht, anders als Marc Sangnier im Fall des republiknahen Sillon (der sich, anders als Maurras 1926-39, aber dem Papst unterwarf). Dennoch musste sich der Papst davon überzeugen, dass wesentliche Anschauungen der integralistisch motivierten Bewegung mit der katholischen Tradition unvereinbar sind und fasste 1914 die Absicht, etliche Thesen der Action française zu verurteilen. Mit deren Weltanschauung sympathisieren auch Strömungen des heutigen Integralismus noch, teilweise ist ihnen aber sogar Maurras noch zu "modern". Kriegsbedingt wurde die Publikation aufgeschoben, die dann Pius XI. um Weihnachten 1926 verfügte, bewusst anknüpfend an seinen mittelbaren Vorgänger.

Die Bemühungen der Action française um die Errichtung eines autoritären Staatswesens mit einem König an der Spitze (der restaurativen Epoche 1814 bis 1830 nachempfunden) waren mittlerweile fehlgeschlagen. Im Gedankengebäude des Charles Maurras, der selbst Agnostiker und Positivist war, sich gegen Ende seines Lebens aber katholischen Positionen näherte, verkörperte das Papsttum sowieso nur den architektonischen Schlußstein der auf Autorität gestützten Ordnungsmacht. Ein wirklicher Gehorsam gegenüber dem konkreten Amtsträger war mit seiner Romanité nicht gemeint.

Der Papst fungiert, aus integralistischer Sicht, als (nur) symbolische Höchst-Repräsentanz der gottgewollten Ordnung. Mittels einer verblüffenden Dialektik wird er zwar zum allzuständigen "Gottkönig" (unter eigentlich "naturalistischer" Umdeutung seiner Funktion, vicarius Christi zu sein) ausgerufen, müsste diese Funktion aber zugleich in völliger Bindung an ideologische Vorgaben (die nur so gen. "Tradition") ausfüllen. Das ist mit der sakramentalen Auffassung vom Amt in der Kirche unvereinbar. Die wirklichen Päpste konnten diese "politische Papstidee", die in Frankreich von einer lautstarken Minderheit (prägnanter als andernorts) vorgetragen wurde, mithin nicht akzeptieren. Sie haben das auch nicht getan: Bereits Pius VIII. erkannte die frz. Julirevolution von 1830 an, die eine Art parlamentarischer Regierungsform unter einem verfassungsgebundenen "Bürgerkönig" etablierte. Auch der Syllabus Pius IX. fordert 1864 keine Errichtung eines katholischen Absolutismus. Im Gegenteil: Er wehrt sich bereits gegen den totalen Staat, der (in Gestalt des damals rigoros kirchenfeindlichen Liberalismus) der Freiheit der Kirche entgegentrat. Dies geschah mit besonderer Heftigkeit im zwischen 1860 und 1870 geeinten Königreich Italien, dessen parlamentarisch-liberale Regierungsform nicht mit heutigen demokratischen Verfassungen vergleichbar war (nur eine kleine Minderheit der Bürger war im Parlament vertreten).

Die präzisere Ausrichtung der Kirche auf die politischen Strukturen der Moderne machte mithin eine Traditionskritik erforderlich. Dass diese insbesondere in Frankreich heftigste Gegenreaktionen hervorrief, wird aus der Geschichte des frz. Katholizismus plausibel.

Integralismus heute

Der heutige Einfluss des Integralismus auf die Kirche ist durchwegs von großer Bedeutung. Diese artikulieren ihre Themen bisweilen vehement, und (z.B. Sedisvakantismus) in kleinen Splittergruppen. Der Vatikan rechnet mit etwa 600.000 bekennenden Anhängern weltweit. Unter Ausnutzung der Kritik an der Liturgiereform (die "alte Messe" dient dem Integralismus als Banner) artikulieren sich diese jedoch sehr lautstark und gewinnen mitunter Zuspruch bei frommen Katholiken, die sich, konservativ empfindend, von einer allzu leichtfertigen Identifikation führender Vertreter eines "neoliberalen" (oder sogar politisch links) artikulierten Engagements inmitten der Kirche angewidert fühlen.

Das politische Konzept einer an der Menschenrechtsidee orientierten Ordnung eint, seit der Deklaration der Vereinten Nationen von 1948, alle relevanten Kulturstaaten. Vorbereitet seit 1914, explizit seit 1963 (mit der Enzyklika Pacem in terris) bekennt sich auch das Papsttum zu dieser Leitidee, die, anders als die Parolen der französischen Revolution von 1789, angeblich nicht mehr den Anspruch erhebt, in Konkurrenz zur religiösen Wahrheit zu treten.

Die Päpste haben seit dem II. Vatikanum um eine Integration der Vertreter integralistischer Tendenzen geworben, die doch nur Traditionalisten (teilweise in der Priesterbruderschaft St. Pius) sind, also sich den Rückweg in die Mitte der Kirche noch nicht versperrt haben. Die vielzitierte Kritik, die Hans Urs von Balthasar an integralistischen Tendenzen übte (1988), zielte im Ergebnis auch auf sich progressiv gebärdende Vertreter, denen der theologische Schriftsteller vorwarf, sich gleichfalls nicht vom Hegel'schen Denkweg zu distanzieren.

Literatur

  • Pius XII., Ansprache vom 2. Oktober 1945, bei Utz-Groner, S. 2713.
  • Gustave Martelet S.J., Ni progressisme, ni intégrisme, in: Rev. de l'Action populaire 135 (Paris 1960), 133-46.
  • Émile Poulat, Intégrisme et catholicisme intégral. Un resau secret international antimoderniste: La "Sapinière" (1909-1921), Paris 1969.
  • Yves Congar, Der Fall Lefebvre, Freiburg u.a. 1977.
  • Hans Urs von Balthasar, Integralismus heute, in: Diakonia 19 (1988), 221-29. Neubearbeitung der Beiträge, die in Wort und Wahrheit 18 (1963), 737-44 veröffentlicht wurden.

siehe auch: Traditionalismus, Sedisvakantismus, Mysterium fidei (Zeitschrift)