Gregor der Große: Regula pastoralis

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Wie der Seelsorger, der ein untadeliges Leben führt, die ihm anvertrauten Gläubigen belehren und anleiten soll
Gregor der Große (540-604)

Quelle: Gregor der Große: ""Regula pastoralis - Wie der Seelsorger, der ein untadeliges Leben führt, die ihm anvertrauten Gläubigen belehren und anleiten soll, St. Benno Verlag GmbH Leipzig 1986 (1. Auflage; 184 Seiten; ISBN 3-7462-0052-0; Kirchliche Druckerlaubnis Dresden, den 8. Februar 1986 H. J. Weisbender). Die Biographischen Daten und die Inhaltsübersicht wurden an den Beginn verlegt.

© Hinweis: Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des St. Benno Verlages vom 16. Mai 2008. Es darf der Text auf eine Hompage gestellt werden, sofern der Titel, das Copyright am Anfang und Ende des Textes mit Link auf die Verlagsseite (www.st-benno.de) und dieser Hinweis, angegeben werden. Jede kommerzielle Nutzung stellt eine Verletzung des Urheberrechtes dar und wird vom Verlag strafrechtlich verfolgt.

Der gute Hirte
Gregor der Große (Idealporträt von Antonello da Messina, um 1472/1473)

Inhaltsverzeichnis

BIOGRAPHISCHE DATEN

um 540 Gregor in Rom geboren. Er stammt aus dem Senatoren-Adel, aus derselben Familie wie die Päpste Felix Ill. und Agapet I.

554 Kaiser Justinian I. beendet die Herrschaft der Ostgoten und erneuert die oströmische Herrschaft über Italien.

572-573 Gregor ist Stadtpräfekt in Rom.

575 Nach dem Tod seines Vaters Gordian stiftet er 6 Klöster auf dem Familienbesitz in Sizilien und das Andreaskloster im elterlichen Palast am Clivus Scauri in Rom; er lebt in diesem Kloster; auch 3 seiner Tanten leben zeitweilig in Klöstern.

Gregor wird von Papst Benedikt I. (oder Pelagius ll.) zum Diakon geweiht.

579 Papst Pelagius ll. sendet ihn als seinen Gesandten (Apokrisiarios) an den Kaiserhof nach Byzanz; auch dort lebt er in klösterlicher Gemeinschaft.

585/86 Gregor kehrt nach Rom zurück und wirkt als Ratgeber von Papst Pelagius ll.

590 Gregor wird nach dem Tod von Pelagius ll. als Diakon und erster Mönch zum Papst gewählt; am 3. September erhält er die Bischofsweihe. „3“


Er verteidigt Rom gegen die Langobarden und erreicht mit ihnen zwei Friedensschlüsse (592 und 593).

Er reorganisiert die Bewirtschaftung des kirchlichen Grundbesitzes (Patrimonium Petri).

Durch Beziehungen zum fränkischen Königshaus sendet er den Prior des Andreasklosters Augustinus mit 40 Mönchen als Missionare zu den Angelsachsen.

Das westgotische Reich in Spanien bindet er enger an die römische Kirche.

Er kann das Mailänder Schisma (Drei-Kapitel-Streit) beilegen.

Gregor schützt die Bauern (Coloni) vor der Ausbeutung durch die Grundherren.

604 Gregor stirbt in Rom.

Er wird seit 800 zu den vier großen lateinischen Kirchenlehrern gezählt.

(Genaueres zur Biographie siehe: J. Richards, Gregor der Große. Seine Zeit, sein Leben. Union Verlag Berlin und Verlag Styria, Graz-Wien-Köln 1983) „4”

EINFÜHRUNG

Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. Dieser alte Spruch scheint die Wandelbarkeit alles Bestehenden zu bestätigen, wird er doch unverändert von jeder Generation für gültig empfunden. Von unserer Zeit wird gesagt, dass sie schnelllebig sei, das heißt, dass innerhalb einer Generation soviel Veränderung geschieht, dass fast jeder Tag Neues schafft und der Mensch Mühe hat, es in sich aufzunehmen und geistig zu verarbeiten. Es entsteht der Eindruck, dass nichts mehr beständig und alles machbar ist. Von den Möglichkeiten her eröffnen sich Zukunftsperspektiven, die den Menschen in babylonische Turmhöhen zu erheben versprechen. Und in der Tat, Großartiges geschah und geschieht. Die sklavische Last der Arbeit ist weitgehend von der Schulter des Menschen genommen. Stählerne Arme greifen nach gewaltigen Massen und bewegen sie mühelos dorthin, wohin sie der Mensch haben will. Computergesteuerte Fertigungsstraßen fügen mit größter Präzision Bauteile zusammen und bauen Geräte und Maschinen, die die Arbeit den Menschen abnehmen oder erleichtern. Autos und Flugzeuge erweitern den Bewegungsraum und ermöglichen Erlebnisse, von denen frühere Generationen nur träumten. Raketen erschließen den Weltenraum.

Doch das Staunen, die Freude und das Gefühl der Erhabenheit, die noch die Landung auf dem Mond begleiteten, sind einer Unruhe gewichen. Ängste und banges Fürchten verdrängen sie. Die Mächte, die der Mensch entzauberte, kehren sich gegen ihn. Die Biotechnik nun geht an die Substanz des Menschen. Vergreift sie sich an ihm? Trifft der Mensch eine luziferische Entscheidung? Das hängt ab von der Beantwortung der Frage, ob alles erlaubt und moralisch vertretbar ist, was machbar erscheint. Das gestörte Ökosystem verweist sichtbar und spürbar auf die Grenzen für den natürlichen Lebensbereich. Es wächst auch wieder das Bewusstsein, dass der Mensch mehr ist, als Biologen und auch Psychologen über ihn aussagen und aussagen können. Er ist eben mehr als das Produkt einer Entwicklung, mag diese ihn auch als denkendes Wesen weit über alle übrigen Gattungen des Lebendigen ausweisen.

Was also ist der Mensch? Die Antwort gibt die Bibel auf ihre Weise: Gott schuf den Menschen als sein Ebenbild. Sie sieht ihn in einem persönlichen Verhältnis zu seinem Schöpfer, dem Gott und Vater alles Geschaffenen. Dieses Verhältnis ist verbindlich und unverzichtbar. Augustinus erlebte es besonders eindringlich; er spricht in den "Bekenntnissen" zu Gott: "Geschaffen hast du uns zu dir, und ruhelos ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in dir." Der Mensch ist heute so damit beschäftigt, sich die Erde untertan zu machen, dass er darüber sich und seine Bestimmung vernachlässigt, seine Natur missdeutet und der Versuchung erliegt, seine Grenzen zu übersehen und zu überschreiten. Er muss immer wieder zurückgerufen werden, damit er sich nicht selbst entfremdet und sein inneres Wesen verfremdet. Eine Verfremdung wird auch in der Sprache erkennbar. Werthaltige Begriffe werden wertneutral umfunktioniert und verlieren an Aussagekraft und an Verbindlichkeit. Man spricht nicht mehr von Versagen und Schuld, von Gewissen und Sünde; es gibt stattdessen ein abweichendes oder alternatives Verhalten. Nicht die Wahrheit ist mehr ausschlaggebend, sondern die schöne Rede. Alles wird flach und eben. Ein Bischof unserer Tage wies darauf hin, dass der sittliche Verfall eine größere Bedrohung für die Menschheit darstellt als die Gefahren, die aus Ökologie und nuklearen Systemen erwachsen.

Das Buch, das hier vorgelegt wird, spricht eine klare und eindeutige Sprache. Jahrhunderte lang diente es Generationen als Richtschnur eines verantworteten Lebens. Sein Verfasser, Gregor, dem die Nachwelt den Beinamen "der Große" zuerkannte und den die Kirche als Heiligen und Kirchenlehrer ehrt, schrieb es kurz nachdem er zum Papst gewählt worden war; das war im Jahre 590. Ein Blick auf die Inhaltsübersicht zeigt, dass die Themen auch heute nichts an Aktualität verloren haben. Der äußere Anlass zum Schreiben war ein freundschaftlicher Dienst. Der Bischof von Ravenna ließ einen Tadel vernehmen, weil Gregor einen Versuch unternommen hatte, "der Last des Hirtenamtes zu entfliehen". Er antwortete, indem er seine Gedanken in einem Buch niederlegte, dem er den Titel "Regula Pastoralis" gab. Ausführlich geht er darin ein auf die hohen Anforderungen, die mit diesem Amt an die Person und an die sittliche Lebensführung gestellt sind und in dem die Verantwortung für das Heil aller übernommen wird. Das ist kurz zusammengefasst der Inhalt des ersten und zweiten Teiles. Der vierte Teil ist nur ein einziges, verhältnismäßig kurzes Kapitel mit Ratschlägen für das persönliche Heil des Seelsorgers. Wir geben hier nur den dritten Teil wieder, der dem Umfang nach Zweidrittel des Gesamtwerkes ausmacht und unbestritten der wichtigste ist. In diesem geht Gregor auf die Verhaltensweisen der verschiedensten Menschen ein und gibt seelsorgliche Anleitungen, wie sie auf den Weg des Heiles zu führen sind.

Gregor erweist sich als ein Mann, dem kein Weg des Denkens und des Verstehens fremd ist. Seine Menschenkenntnis ist weit und tief. Die innersten Vorgänge in der Seele, das Verhalten des Geistes und die Empfindungen des Herzens erfasst er mit intuitiver Sicherheit und weist auf mögliche Fehlhaltungen und Verirrungen hin. Er besitzt gleichsam eine Antenne für alle inneren Vorgänge, die er auch auf die Wellenlänge anderer Menschen auszurichten vermag, und lässt sich von einer Wertskala leiten, die geeicht ist auf gesunden Menschenverstand und auf das Wort der göttlichen Wahrheit. Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit entscheiden über den sittlichen Wert des Denkens und Handelns. Sie bestimmen, was gut und was böse ist. Der Beweggrund, sich dem Menschen zuzuwenden, ist die Liebe. Er schöpft sie aus dem unversiegbaren Quell dessen, der Liebe ist, der sich um unseres Heiles willen hingegeben hat (Kap. 12). Bei aller Entschiedenheit des christlichen Anspruchs mahnt er zur Güte und Nachsicht mit den Schwachen. Er will zur Einsicht führen, darum ist seine Sprache einfach. Es widerstrebt ihm, himmlische Wahrheiten in äußerlich glänzende und innerlich hohle Formeln zu kleiden, wie es die Irrlehrer tun, die mit ihrer Weisheit betören wollen. Er will Leben wecken; darum behagt ihm die Sprache der Gelehrten nicht. Sie ist abstrakt, lebensfern und steril. Gleichwohl weiß auch Gregor für die verschiedenartigen Bilder und Vergleiche den entsprechenden Ausdruck zu wählen; er achtet auf den Klang der Worte, so dass ein gewisser Rhythmus nicht zu verkennen ist. Er versteht es, die innersten Vorgänge der Seele und die Regungen des Herzens begrifflich zu fassen und klar zu beschreiben, eine Kunst, die den Römern stets nachgerühmt wird. So vielfältig die Themen sind, die er angeht, so mannigfach sind die Beispiele, die er aus dem Lebensbereich derer bringt, die er besonders ansprechen will. Er moralisiert nicht, weist aber auf Fehlhaltungen und Gefahren hin und zeigt Wege auf, wie man aus Schuld und Sünde sich lösen kann. Er verurteilt nicht, fordert aber auf, die eigene Haltung zu überdenken. Die Verantwortung vor Gott stellt er klar heraus und zeigt die Konsequenzen auf für das ewige Heil oder Unheil. Die Begründungen entwickelt er aus der Schrift heraus. Die zitierten Stellen erklärt er eingehend und geht dabei weit über den Literalsinn hinaus, „aber seine Anwendungen sind so überraschend zutreffend, dass man sich nur selten dem Gedanken verschließen kann, es sei diese Anwendung auch objektiv von demjenigen intendiert worden, der die Heilige Schrift eingab" (Kranzfelder).

Als Papst wusste sich Gregor nicht nur dem Seelenheil der Menschen verpflichtet; er hatte auch ein waches Auge für die sozialen Nöte seiner Zeit. In zwei längeren Kapiteln (20 und 21) geht er auf den Besitz und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen ein. Klar spricht er sich für das Recht auf Besitz aus. Scharfe Worte findet er jedoch gegen Raffgier, Habsucht und Geiz. „Was wir den Armen und Bedürftigen schulden, ist nicht in erster Linie ein Werk der Barmherzigkeit, sondern der Gerechtigkeit." Ein Gräuel in den Augen Gottes ist es, etwas den Armen zu entziehen, um es Gott als Opfer darzubringen.

Ländereien, die Gregor geerbt hatte, gab er an klösterliche Einrichtungen, die wiederum für die Armen sorgten. Als Papst hatte er auch die Besitzungen der Kirche zu verwalten. Er erließ bis ins einzelne gehende Anweisungen und achtete streng darauf, dass die Verwalter den Arbeitern das Zustehende und den Bedürftigen das Nötige gaben. Nichtchristen und Juden behandelte er in gleicher Weise nach Recht und Gerechtigkeit. Gregor brachte keine Umwälzungen in den sozialen Strukturen der damaligen Zeit. Doch stellte er etwas Grundlegendes stark heraus: Als Gabe Gottes, des alleinigen Herrn, hat aller Besitz dem Unterhalt aller Menschen zu dienen, und: Alle Menschen sind ihrem Wesen nach von Natur und vor Gott gleich. Es versündigt sich derjenige, der andere, die er dem Stande nach als Untergebene hält, des gemeinsamen Wesens wegen nicht als gleichberechtigt anerkennt und achtet.

Was Gregor aus persönlicher Erfahrung und aus einer reichen Menschenkenntnis zu sagen weiß, ist so allgemeingültig, dass es auch nach vierzehn Jahrhunderten den Menschen von heute trifft. Die einzelnen Typen und Charaktere, die Reaktionen und Verhaltensweisen haben sich nicht verändert. Weil es sich um seelische Vorgänge handelt, will das Buch besinnlich gelesen werden. Eine Schwierigkeit könnte darin liegen, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Die Sprache ist Ausdruck einer volkstümlichen Kultur und einer bestimmten Epoche. Unsere Art zu denken und zu sprechen ist anders als die Gregors und seiner Zeit. Wir würden andere Vergleiche und andere Bilder benutzen, andere Ausdrücke wählen und die Sätze anders bauen, als sie sich bei einer Übersetzung anbieten. Wird der Akzent auf die eigene Sprache gesetzt, kann wohl der Inhalt des fremdsprachigen Werkes richtig wiedergegeben werden, sein Autor wird jedoch entstellt, und das Werk verliert an Originalität und Aussagekraft. Dieser Übersetzung liegt das Bestreben zugrunde, möglichst bild- und wortnah am Urtext zu bleiben, etwas von seinem Rhythmus einzubringen und dem Leser den Sinn zu erschließen. Es zeigt sich, dass unser Kulturkreis dem Gregors nicht fremd ist. Wo jedoch ein Wort unserer Sprache den Sinngehalt des lateinischen Ausdrucks nicht oder nur einseitig wiederzugeben vermochte, wurde ein deutendes Wort beigefügt. Bei dieser Übersetzung standen gewissermaßen Pate Theodor Kranzfelder mit einer Ausgabe vom Jahr 1873, dem die Übersetzung von Karl Haas aus dem Jahr 1868 vorlag, und Josef Funk mit der Ausgabe aus dem Jahr 1933, die sich eng an Kranzfelder anschließt. Sie waren willkommene Ratgeber und gaben Anlass, Gregors ständig wiederholte Mahnung bereits bei der Übertragung zu beherzigen, alles gründlich zu überdenken, in die Welt des Autors einzusteigen, seinen Gedankengang aufzunehmen und soweit möglich mit dem eigenen in Einklang zu bringen. Bei schwer einsichtigen Stellen, wo nur der Autor erklären könnte, was er sagen wollte, sollte er selbst Beistand leisten, schließlich ist er ein Heiliger. Die Schriftstellen sind nach der Einheitsübersetzung in der Fassung von 1980 wiedergegeben. Wo Gregor jedoch einem Schriftwort eine Sinndeutung gibt, die der neue Text nicht wiederspiegelt, wird eine entsprechende Übersetzung geboten. Die lateinische Originalausgabe besorgten die Gebrüder Granier, J.-P. Migne's Nachfolger, Paris 1896. Sie heben hervor, dass unter den zahlreichen Schriften Gregors keine hervorragender sei und keine mehr geistlichen Gewinn bringt als die Pastoralregel. Des weiteren führen sie die zahlreichen Wiegendrucke und die Übersetzungen an, angefangen von der griechischen noch zu Lebzeiten Gregors, die auf Wunsch des Kaisers Mauritius der Bischof von Antiochien, Anastasius, vornahm. Sie zählen Konzilien und Synoden auf, die den Bischöfen und allen Seelsorgern das Studium und die Betrachtung des Buches empfehlen beziehungsweise sie dazu verpflichten, so die Konzilien von Mainz 813, im gleichen Jahr Reims und Aachen 836. Nach Hinkmar, Erzbischof von Reims, sei es damals üblich gewesen, dem Weihekandidaten vor dem Altar die Heilige Schrift und die Regula Pastoralis in die Hand zu geben. Dieser musste vor der Weihe und Konsekration heilig versichern, dass er sich in seiner Lebensführung und in der Lehrtätigkeit daran halten werde, was diese Schriften beinhalten. Alle Herausgeber empfehlen es nicht nur den Vorstehern kirchlicher Gemeinschaften, sondern jedem einzelnen Gläubigen. Diese Empfehlung nimmt auch die vorliegende Ausgabe mit auf den Weg.

Limbach-Oberfrohna, Weihnachten 1984 G. K.

REGULA PASTORALlS - WIE DER SEELSORGER, DER EIN UNTADELIGES LEBEN FÜHRT, DIES DEM ANVERTRAUTEN GLÄUBIGEN BELEHREN UND ANLEITEN SOLL

EINLEITUNG

Nachdem wir die Charaktereigenschaften und die Lebensführung eines Seelsorgers aufgezeigt haben (Pastoralregel 1. und 2. Teil), wollen wir nun Form und Inhalt seiner Belehrungen veranschaulichen. Bereits lange vor uns hat Gregor von Nazianz, verehrungswürdigen Gedenkens, deutlich gemacht, dass nicht für alle die gleiche Art der erbaulichen Belehrung zuträglich ist, da nicht alle die gleichen sittlichen Werte binden. Was die einen verschlossen macht, löst oft die anderen. Auch bei Pflanzen ist es öfter so, dass einige bestimmten Tieren zur Nahrung dienen, während sie auf andere tödlich wirken; ein leichter Zischton beruhigt Pferde, reizt jedoch junge Hunde. Die gleiche Arznei mildert die Heftigkeit der einen Krankheit, bei einer anderen steigert sie deren Triebkräfte. Und das Brot, das den Starken Kraft gibt, wirkt tödlich bei ganz kleinen Kindern. So muss auch der Prediger seine Ansprache so formen und ausrichten, dass sie einerseits den Bedürfnissen der einzelnen entgegenkommt, dass ihr andererseits jedoch die Kunst, alle zu erbauen, nicht abgeht. Was sind denn die gespannt lauschenden Herzen der Zuhörer anderes als, wenn ich es so ausdrücken darf, die aufgespannten Saiten einer Zither? Um nicht Spiel und Melodie miteinander in Missklang zu bringen, schlägt sie der Künstler in verschiedener Weise an. Die Saiten geben deshalb einen harmonischen Ton wieder, weil sie zwar mit dem gleichen Plektron, nicht aber mit einem Impuls angeschlagen werden. So wird auch ein gewandter Redner der alle Zuhörer zur gleichen Tugend der Liebe anleiten will, zwar allen die gleiche Lehre vortragen, jedoch nicht mit der gleichen Art der Rede das Herz eines jeden bewegen wollen.

I. KAPITEL: Von der großen Vielfalt in der Kunst des Predigens

Anders sind Männer anzusprechen, anders Frauen;
anders junge Männer, anders Senioren;
anders Arme, anders Reiche;
anders Fröhliche, anders Betrübte;
anders Untergebene, anders Vorgesetzte;
anders Diener, anders Dienstherren;
anders die Klugen dieser Welt, anders Stumpfsinnige;
anders die Schamlos-Dreisten,
anders die Sittsam-Bescheidenen;
anders Hochmütige, anders Kleinmütige;
anders Ungeduldige, anders Geduldige;
anders Wohlwollende, anders Neidische;
anders Arglose, anders Arglistige;
anders Gesunde, anders Kranke;
anders diejenigen, die vor Heimsuchungen zurückschrecken und darum ein rechtschaffenes Leben führen,
anders, - die in der Bosheit so verhärtet sind, dass sie selbst durch Heimsuchungen nicht zu bessern sind;
anders Wortkarge, anders Redselige;
anders Faule, anders Übereifrige;
anders Sanftmütige, anders Jähzornige;
anders Demütige, anders Überhebliche;
anders Hartnäckige, anders Wankelmütige;
anders Essgierige; anders Mäßige;
anders, die das Ihrige barmherzig teilen,
anders, die darauf aus sind, fremdes Gut zu rauben;
anders, die weder fremdes Gut rauben noch vom ihrigen austeilen,
anders, die das ihrige hergeben, aber nicht ablassen, fremdes Gut zu rauben; anders Zwieträchtige, anders Friedfertige;
anders Streitsüchtige, anders Friedensstifter;
anders, die den Sinn der Worte des Heiligen Gesetzes nicht recht erfassen,
anders, die ihn zwar erfassen, aber nicht in Demut davon sprechen;
anders, die zwar in würdiger Form zu predigen imstande wären, sich jedoch aus übertriebener Bescheidenheit davon abschrecken lassen,
anders, die sittliche Unreife oder jugendliches Alter nicht als Prediger empfehlen, die aber überstürzter Eifer dazu treibt;
anders, die in dem, was sie zeitweilig anstreben, Erfolg haben,
anders, die auf irdischen Erfolg begierig sind, durch Missgeschick jedoch die Lust danach verlieren;
anders, die eheliche Verpflichtungen haben,
anders, die von ehelichen Bindungen frei sind;
anders, die mit dem ehelichen Verkehr vertraut sind,
anders, die darin unerfahren sind;
anders, die Begehungssünden, anders die Absichtssünden zu bereuen haben;
anders, die sich wegen begangener Sünden auf die Brust schlagen, sie jedoch nicht fliehen,
anders, die sie fliehen, aber nicht beklagen;
anders, die Unerlaubtes tun und sich dessen noch rühmen,
anders, die schlechte Taten beklagen, sie aber dennoch nicht meiden;
anders, die von einer plötzlichen Leidenschaft überwältigt werden, anders, die sich mit Überlegung in eine Schuld .verstricken lassen;
anders, die Unerlaubtes, wenn auch von sehr geringer Bedeutung, aber doch häufig tun, anders, die sich von schlechten Taten in acht nehmen, aber dann und wann solche von größerem Gewicht begehen und tief fallen;
anders, die das Gute nicht einmal im Ansatz tun, anders die das Begonnene nicht vollenden;
anders, die Böses heimlich tun, Gutes aber offen, anders die ihre guten Werke verbergen, durch einige ihrer Taten dennoch eine schlechte Meinung von sich in der Öffentlichkeit aufkommen lassen.

Doch, was soll's, wenn wir alles das in knapper Fassung zusammentragen und aufzählen, aber nicht auch bei jedem einzelnen Punkt, so gut es in Kürze geschehen kann, darlegen, in welcher Art und Weise eine Belehrung und Ermahnung erfolgen kann.

Anders also sind Männer, anders Frauen zu ermahnen; denn jenen ist Schwereres, diesen Leichteres aufzuerlegen jenen sollen Taten von Bedeutung Übung verschaffen diese sollen leichtere Übungen auf anziehende Art zur Umkehr bewegen.

Anders sind junge Männer, anders Betagte zu ermahnen, denn bei jenen führt häufig eine ernste Zurechtweisung zum Erfolg, diese jedoch macht eine freundliche Bitte zu guten Taten geneigt. Denn es steht geschrieben: „Einen älteren Mann sollst du nicht grob behandeln, sondern ihm zureden wie einem Vater" (1 Tim 5,1).

2. KAPITEL: Wie man Arme und wie man Reiche anspricht

Anders muss man Arme, anders Reiche ansprechen: Den Armen müssen wir Ermutigung zur Linderung ihrer Bedrängnis zusprechen, den Reichen jedoch Besorgnis über ihre Überheblichkeit einflößen. Einer Armen sagt ja der Herr durch den Propheten: "Fürchte dich nicht, denn du wirst nicht beschämt werden" (Jes 54,4). Kurz darauf ruft er ihr freundlich zu: "Du Ärmste, vom Herrn Gepeitschte" (Jes 54,11). Und er spricht ihr Trost zu mit den Worten: :r „Ich habe dich geläutert, nicht wie Silber, im Schmelzofen des Elends prüfte ich dich" (Jes 48,10). Über die Reichen dagegen sagt Paulus zu seinem Schüler: „Ermahne die, die in dieser Welt reich sind, nicht überheblich zu werden und ihre Hoffnung nicht auf den unsicheren Reichtum zu setzen" (1 Tim 6,17). Man beachte hier sehr wohl, dass der Lehrer der Demut, wenn er von den Reichen spricht, nicht sagt: „Bitte", sondern: „Ermahne"! Denn den Schwachen gegenüber ist Milde wohlangebracht, nicht aber Ehre den Überheblichen. Was solchen Menschen Rechtes zu sagen ist, wird ihnen zurecht gebietend gesagt, je mehr sie sich selbst in nichtigen Dingen erhaben dünken. Über sie sagt der Herr im Evangelium: „Weh euch, die ihr reich seid denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten" (Lk 6,24). Da sie nämlich die ewigen Freuden nicht kennen, suchen sie ihren Trost im Überfluss des gegenwärtigen Lebens. Jenen also, die im Schmelzofen des Elends geläutert werden, muss man Trost bringen; denen aber irdische Ruhm Befriedigung und Erhebung bietet, muss man beunruhigende Furcht einflößen. Die Armen sollen erfahren, dass sie einen Reichtum besitzen, den sie nicht sehen können. Die Reichen sollen einsehen, dass sie die Schätze, die sie vor Augen haben, keineswegs werden festhalten können. Es kommt aber auch vor, dass der sittliche Wert und der Stand der Person sich umkehren, so dass ein Reicher demütig, ein Armer dagegen hochmütig sei kann. In diesem Fall muss der Prediger alsbald seine Worte auf die gelebte Haltung des Hörers ausrichten und den Stolz des Armen um so schärfer treffen, wenn selbst bedrückende Armut ihn nicht zu unterdrücken vermag. Zudem kann er die demütige Haltung der Reichert um so freundlicher ansprechen, wo doch nicht einmal der Überfluss, der den Stolz fördert, sie hochmütig macht.

Bisweilen aber ist auch der stolze Reiche mit gefälligen Worten zu gewinnen. Denn meistens werden verhärtete Wunden durch linde Umschläge geschmeidig, und oft verhilft schmeichelndes Zureden des Arztes Tobsüchtigen zur Genesung. Indem man sich in gewinnender Zuneigung mit ihnen einlässt, übt man einen beruhigenden Einfluss auf die Geisteskrankheit aus. Man sollte auch nicht ohne Aufmerksamkeit übersehen, dass David zur Harfe griff, wenn Sau! vom bösen Geist befallen wurde, und durch sein Spiel dessen Tobsucht stillte (1 Sam 18,10). Saul und David, was stellen sie anders dar als den Hochmut der Mächtigen und die Demut im Leben der Heiligen?

So oft also Saul vom unreinen Geist befallen wurde, legte sich seine Wut bei Davids Gesang. Wie denn das Gemüt der Mächtigen infolge ihrer Überheblichkeit sich in wilde Wut kehrt, so wird entsprechend ihre Haltung durch unser beruhigendes Zureden wie durch süßen Harfenklang zur gesunden Einsicht gelenkt. Sollen Mächtige dieser Welt überführt werden, muss man etwa so vorgehen: Man trage zunächst einen ähnlich gelagerten Fall vor und erbitte wie in einer fremden Klagesache ihr Urteil. Haben sie erst mal ein ordentliches Urteil gegen den vermeintlichen anderen gesprochen, dann richte man in entsprechender Weise die Schuldklage gegen sie. Der Unmut der Mächtigen und Hochfahrenden wird sich nicht gegen den Zurechtweisenden richten, da das eigene Urteil ihren stolzen Nacken niedertritt. Durch das eigene Urteil gebunden, werden sie keinen Versuch zur eigenen Rechtfertigung machen. So kam der Prophet Natan, um dem König Vorstellungen zu machen, gab sich aber den Anschein, als verlange er ein Urteil in der Sache eines Armen gegen einen Reichen; der König sollte zuerst ein Urteil fällen, dann erst sein eigenes Vergehen anhören, damit er ja nicht mehr von dem gerechten Urteilsspruch, den er selbst gegen sich gefällt, abweichen könne (2 Sam 12,5f). Der heilige Mann bedachte wohl, dass es sich um einen Sünder und um einen König handelte; darum wollte er in bewundernswerter Reihenfolge zuerst den kühnen Frevler durch ein Geständnis festlegen und dann durch Zurechtweisung auf ihn einwirken. Er ließ es eine Weile nicht merken, wessen Fall er untersuchte; aber sobald er ihn festgelegt hatte, traf ihn unvermutet sein Schlag. Wahrscheinlich hätte er den König weniger empfindlich getroffen, wenn er gleich am Anfang seiner Rede die Schuld offen hätte treffen wollen. Durch das Vorausschicken des Gleichnisses gab er dem zunächst zurückgehaltenen Vorwurf die Schärfe. Der Arzt war zum Kranken gekommen, sah, dass die Wunde geschnitten werden müsse, zweifelte aber an der Leidensfähigkeit des Patienten. Da verbarg er das heilbringende Messer unter seinem Gewand. Plötzlich zog er es hervor und stieß es wie ein Schwert in die Wunde, so dass der Kranke, bevor er das Messer sah, den Schnitt fühlte; denn hätte er es zuvor gesehen, hätte er sich vielleicht geweigert, es zu spüren zu bekommen.

3. KAPITEL: Wie man Frohsinnige und wie man Betrübte ermahnen muss

Anders muss man die Frohsinnigen, anders die zur Trübnis Neigenden ermahnen. Den Frohsinnigen muss man den erbärmlichen Zustand vor Augen führen, der dem Strafgericht folgt; die Trübsinnigen möchte man die beseligenden Freuden schauen lassen, die für das Himmelreich verheißen sind. Die Fröhlichen sollen aus der Schärfe der Drohungen erkennen, was sie zu befürchten haben. Die Betrübten mögen die Freuden verkosten, die sie als himmlischen Lohn erwarten dürfen. Jenen wird gesagt: „Weh euch, die ihr jetzt lacht, denn ihr werdet klagen " und weinen" (Lk 6,25). Diese hören aus dem Munde des gleichen Lehrers: „Ihr seid jetzt bekümmert, aber werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch die Freude" Joh 16,22). Frohsinn und Niedergeschlagenheit sind bei manchen Menschen nicht durch äußere Umstände bedingt, sondern sind Gaben der Veranlagung. Man muss sie folglich damit vertraut machen, dass bestimmten Anlagen auch bestimmte Fehlhaltungen nahe liegen. Die Frohgestimmten neigen zu Ausgelassenheit und Ausschweifung, die Trübsinnigen zu Erbitterung und Wut. Darum ist es erforderlich, dass ein jeder nicht nur abwägt, was er aufgrund seiner Veranlagung zu tragen hat, sondern auch das, was ihn als Folgeerscheinung tiefer hart bedrängt, damit er nicht, während er nicht einmal gegen das ankämpft, was er zu ertragen hat, auch noch dem Laster erliegt, von dem er frei zu sein glaubt.

4. KAPITEL: Wie Untergebene und wie Vorgesetze zu ermahnen sind

Anders sind Untergebene, anders Vorgesetzte zu ermahnen. Jene darf die untergeordnete Stellung nicht mürbe machen, diese die Höherstellung nicht überheblich. Jene sollen gewissenhaft alle Verfügungen ausführen, diese sollen nicht mehr Aufträge erteilen als billig und recht ist. Jene sollen sich in Demut unterordnen, diese mit Maß und Feingefühl vorstehen. Jenen wird - was man bildhaft verstehen möge - gesagt: „Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem; denn so ist es gut und recht im Herrn" (Kol 3,20); diesen indessen wird anbefohlen: „Ihr Väter, schüchtert eure Kinder nicht ein, damit sie nicht mutlos werden" (Ko13,21). Jene mögen lernen, wie sie ihre innere Haltung mit dem Gewissen in Einklang bringen, diese, wie sie darüber hinaus, den ihnen Anvertrauten auch das Beispiel einer guten äußeren Lebensführung geben können.

Die Vorgesetzten sollen auch wissen, falls sie je Verderbliches tun, dass sie so oft des Todes würdig sind, wie sie Beispiele des Verderbens auf ihre Untergebenen übertragen. Sie müssen sich darum mit größter Behutsamkeit vor jeder Schuld zu bewahren suchen. Denn durch ein verderbliches Tun bringen sie sich nicht nur allein in Todesgefahr, sie werden auch schuldig an den Seelen, die sich durch ihr ruchloses Beispiel verdorben haben. Die Untergebenen sind zu warnen, dass ihr Strafmaß strenger bemessen wird, wenn sie, obwohl nur für sich allein verantwortlich, nicht einmal dafür schuldfrei befunden würden; die Vorgesetzten sind zu warnen, dass sie für die sündhaften Irrgänge ihrer Untergebenen bestraft werden, selbst wenn sie sich für ihr persönliches Leben unbesorgt finden. Jene sollen umso besorgter und umsichtiger für ihr Heil leben, da sie keine Verpflichtung für andere bindet. Diese sollen die Sorge für andere wahrnehmen, dabei aber nicht ablassen, für das eigene Heil zu wirken. Ihre Besorgnis und ihr persönlicher Eifer müssen so feurig sein, dass sie in der Obhut und Aufsicht der ihnen Anvertrauten weder nachlassen noch erlahmen. Wer selbst in eigener Sache müßig ist, dem gilt das Wort: "Geh zur Ameise, du Fauler, betrachte ihr Verhalten, und werde weise!“ (Spr 6,6). An diesen aber ist die beängstigende Mahnung gerichtet: „Mein Sohn, hast du deinem Nächsten Bürgschaft geleistet, hast du einem Fremden den Handschlag gegeben, hast du dich durch dein Wort gebunden, bist gefangen durch deine Worte" (Spr 6,1 t). Bürgschaft für den Nächsten leisten heißt: das Wagnis eingehen, für das Verhalten einer fremden Seele einstehen zu müssen. Einem Fremden den Handschlag geben will sagen: Der Wille wird durch die Übernahme einer Sorge, die zuvor nicht existierte, gebunden. Durch seine Worte gebunden und gefangen sein besagt: Wer die Verpflichtung übernommen hat, heilsame Weisungen seinem Anvertrauten zu geben, ist gefordert, diese zuvor selbst zu praktizieren. Er ist durch seine Worte gebunden, weil schon der gesunde Menschenverstand fordert und zwingt, dass er sich keine Erleichterung für sein Leben herausnimmt, die nicht mit seinen Forderungen vereinbar sind. Auch sein Gewissen wird ihn zwingen, durch Taten einzulösen, was er offensichtlich durch seine Worte verordnet hat. Darum folgt an jener Stelle gleich die Mahnung: „Dann tu doch dies, mein Sohn: Reiß dich los; denn du bist in die Hände deines Nächsten geraten. Geh eilends hin und bestürm deinen Nächsten! Gönne deinen Augen keinen Schlaf, keinen Schlummer deinen Wimpern" (Spr 6,3t). Wer anderen als Lebensvorbild vorgesetzt ist, ist gefordert, nicht nur dass er selbst wach sei, sondern dass er auch seinen Nächsten wachrüttelt. Es genügt also nicht die Wachsamkeit durch ein vorbildliches Leben, er muss auch denjenigen aus dem Sündenschlaf wachrütteln, dessen Vorgesetzter er ist. Mit Recht heißt es: „Gönne deinen Augen keinen Schlaf, keinen Schlummer deinen Wimpern." Den Augen Schlaf gönnen, will sagen: mit nachlassender Spannkraft und Aufmerksamkeit die Sorge für die Untergebenen ganz und gar vernachlässigen. Die Wimpern schlummern, wenn unsere Gedanken ein Verhalten der Untergebenen klar als falsch erweisen, dies jedoch aus träger Unlust ignorieren. Vollends schlafen besagt: vom Tun der Untergebenen weder Kenntnis haben, noch es berichtigen. Nicht eigentlich schlafen, aber schläfrig sein kann man es nennen, wenn man zwar erkennt, dass etwas tadelnswert ist, aus innerem Widerwillen aber unterlässt, es durch eine entsprechende scharfe Zurechtweisung zu bessern. Durch die untätige Schlafmützigkeit gerät das Auge in tiefen Schlaf, das heißt, wenn der Vorgesetzte die erkannten Übel gewohnheitsmäßig nicht unterbindet, führt ihn diese Vernachlässigung schließlich soweit, dass er die Vergehen seiner Untergebenen nicht einmal mehr wahrnimmt. Aus diesem Grunde sind die Vorgesetzten zu mahnen, dass sie sich durch Aufmerksamkeit einen umsichtigen Blick verschaffen, ein waches Auge für alle inneren und äußeren Vorgänge rings um sie, vergleichbar den himmlischen Lebewesen (Ez 1,18). Nach der Offenbarung sind die himmlischen Lebewesen voller Augen, vorn und hinten (Offb 4,6). Entsprechend sollten alle Vorgesetzten vorn und hinten Augen haben, das heißt, sie sollen bestrebt sein, in ihrem Innersten den Befehl ihres Gewissens zu finden, nach außen das Beispiel eines guten Lebenswandels zu geben und auch das zu erkennen, was bei den andern zurechtzurücken ist.

Die Untergebenen sind zu mahnen, über die Lebensführung ihrer Vorgesetzten nicht leichtfertig zu urteilen, wenn sie in ihrem Tun etwas finden, was vielleicht Missbilligung verdient. Sie könnten aus Anlass, ein Unrecht zurecht zurückzuweisen, von Überheblichkeit geleitet in noch tiefere Übel stürzen. Man fordere sie auf, sich nicht in Anbetracht ihrer Verfehlungen gegen die Vorgesetzten zu erdreisten. Mögen deren Vergehen auch schwerwiegend sein, sollen sie diese für sich selbst so beurteilen, dass sie sich dennoch nicht weigern, in der Kraft der Furcht Gottes das Joch der Ehrerbietung unter solcher Amtsführung zu tragen. Wir wollen das am Beispiel Davids besser darlegen (1 Sam 24,6). Der Verfolger Saul war in eine Höhle hineingegangen, um seine Notdurft zu verrichten. David und seine Männer saßen hinten in der Höhle. Er befand sich schon lange Zeit in der üblen Lage des Verfolgten. Als seine Männer aber ihn aufstachelten, Saul zu töten, fuhr er sie mit scharfen Worten an, dass es unrecht sei, Hand an den Gesalbten des Herrn zu legen. Er stand jedoch auf und schnitt heimlich einen Zipfel von Sauls Mantel ab. Wer sind nun Saul und David anderes als Gestalten für schlechte Vorsteher und gute Untergebene? Saul verrichtet seine Notdurft bezeichnet einen Zustand, wenn verderbliche Vorsteher die in ihrem Herzen gestaute Schlechtigkeit in elendig stinkenden Taten verbreiten und ihre verderblichen Gedanken im äußeren Tun offenkundig machen. David schreckt zurück, Saul zu erschlagen, bekundet eine Haltung: dass nämlich gottesfürchtiger Sinn die Untergebenen von der Pest jeglicher Niederträchtigkeit fernhält, wenn sie das Leben der Vorgesetzten nicht mit der Schärfe des Wortes tödlich schlagen, auch dann nicht, wenn sie ihre Unvollkommenheit innerlich missbilligen. Und wenn sie sich einmal als Tribut an ihre Schwachheit kaum noch halten können und über die förmlich ärgsten .und offenkundigsten Vergehen der Vorgesetzten - und dann nur mit großer Zurückhaltung - sprechen, schneiden sie gewissermaßen schweigend einen Zipfel von deren Mantel ab. Sie verunstalten offensichtlich das Gewand des über sie gesetzten Königs, weil sie das Ansehen der Vorgesetzten beeinträchtigen, wenn auch ohne Schaden und im Verborgenen. Jedoch gehen sie wieder in sich und machen sich über das leiseste Wort der Verunglimpfung die heftigsten Vorwürfe. Darum heißt es an der angeführten Stelle: „Hinterher aber schlug David das Gewissen, weil er einen Zipfel vom Mantel Sauls abgeschnitten hatte" (1 Sam 24,6). Die Taten der Vorgesetzten soll man nicht mit scharfen Worten anfechten, auch nicht wenn man sie der Missbilligung wert erachtet. Und geschieht es auch nur im Flüsterton, dass die Zunge sich gegen sie ergeht, soll das Herz in Reue und Zerknirschung Buße tun. Und insoweit ei sich gegen eine Amtsperson verfehlt, möge es alsbald in sich gehen und das Gericht dessen fürchten, der sie ihm vorgesetzt hat. Denn wenn wir uns gegen die Oberen verfehlen, widersetzen wir uns der Anordnung dessen, der sie uns als Vorgesetzte gegeben hat. Darum sprach auch Mose, als er von dem lauten Murren des Volkes gegen sich und Aaron Kunde bekam: „Was sind wir denn? Nicht uns galt euer Murren, sondern dem Herrn" (Ex 16,8).

5. KAPITEL: Wie Diener und wie Dienstherren zu ermahnen sind

Anders sind Diener, anders die Dienstherren zu ermahnen. Die Diener mögen jederzeit ihren niedrigen Stand im Auge behalten, die Dienstherren sollen ihre Natur nicht aus dem Gedächtnis verlieren, derzufolge sie gleichen Wesens sind mit den Dienern. Die Diener sind aufzufordern, die Herrschaft nicht zu missachten, dass nicht gegen Gott fehlen, wenn sie sich gegen seine Anordnungen auflehnen. Die Herrschaften belehre man, dass sie sich wider Gott in einer von ihm gegebenen Stellung anmaßend verhalten, wenn sie jene, die sie dem Stande nach als Untergebene halten, des gemeinsamen Wesens wegen nicht als Gleichgestellte anerkennen. Jenen gebe man zu verstehen, dass sie Knechte ihrer Herren sind, diese sollen sich als Mitknechte ihrer Knechte wissen. Für jene steht das Wort: „Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren!" (KoI3,22). Und ebenso: "Alle, die das Joch der Sklaverei zu tragen haben, sollen ihren Herren alle Ehre erweisen" (1 Tim 6,1). Diese werden aufgefordert: „Ihr Herren, handelt in gleicher Weise gegen eure Sklaven! Droht ihnen nicht! Denn ihr wisst, dass ihr im Himmel einen gemeinsamen Herrn habt!" (Eph 6,9).

6. KAPITEL: Wie Weise und wie Einfältige zu ermahnen sind

Anders sind die Weisen dieser Welt, anders die geistig Uninteressierten zu ermahnen. Die Weisen sind aufzufordern, dass sie ihre jetzige Weisheit aufgeben, die geistig Trägen dagegen, dass sie das erstreben, wofür sie bisher keinen Sinn haben. Jenen ist zunächst der Dünkel zu nehmen, dass sie sich für klug und weise halten. Bei diesen ist ein Grundstock von himmlischer Weisheit aufzubauen, soweit sie sich erschließen lässt. Da sie nicht stolzen Herzens sind, bringen sie die Voraussetzung dafür mit. Beiden Klugen dieser Welt muss man dahin wirken, dass sie zu höherer Einsicht gelangen und Toren werden, die törichte Weisheit aufgeben und die weise Torheit Gottes erlernen. Den Einfältigen muss man erklären, dass sie von der vermeintlichen Einfalt zur wahren Weisheit wechseln. Für jene gilt das Schriftwort: „Wenn einer unter euch meint er sei weise In dieser Welt, dann werde er tüncht, um weise zu werden" (1 Kor 3,18). Für diese: „Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn" (1 Kor 1,26), und ferner: „Das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen" (1 Kor 1,27). Jene bringen meistens Vernunftbeweise zur Umkehr, diese lebendige Vorbilder. Bei jenen ist es sehr wirksam, wenn man sie mit ihren eigenen Argumenten schlägt und zum Erliegen bringt. Bei diesen genügt es zuweilen, wenn sie von lobeswürdigen Taten anderer hören, um zur Einsicht zu kommen. Als darum der hervorragende Lehrer, der sich Gebildeten und Ungebildeten gleichermaßen verpflichtet wusste (Röm 1,14), bei den Hebräern sowohl an Gebildete wie an Menschen von langsamer Auffassungsgabe seine Ermahnungen richtete, überwand er deren Weisheit, indem er jene auf die Erfüllung des Alten Testamentes verwies mit der Begründung: „Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe" (Hebr 8,13). Aus der Einsicht, dass sich einige schon allein durch Vorbilder bewegen lassen, fügte er in demselben Brief hinzu: „Aufgrund des Glaubens haben andere Spott und Schläge erduldet, ja sogar Ketten und Kerker. Gesteinigt wurden sie, verbrannt, zersägt, mit dem Schwert umgebracht" (Hebr 11, 36f). Und ferner schrieb er: „Denkt an eure Vorsteher, die euch das Wort Gottes verkündet haben; schaut auf das Ende ihres Lebens, und ahmt ihren Glauben nach" (Hebr 13,7). So sollte jene ein überzeugender Vernunftgrund zum Nachgeben bringen, diese hingegen das einladende Vorbild zu höherem Streben ermuntern.

7. KAPITEL: Wie Schamlos-Dreiste und wie Sittsam-Bescheidene zu ermahnen sind

Anders sind Dreiste, anders Bescheidene zu ermahnen. Bei den Dreisten vermögen nur harte Worte der Zurechtweisung das unverschämte Gebaren in die Schranken zu verweisen. Bei den Bescheidenen genügen meistens schon verhaltene Worte der Aufmunterung, um sie auf den Weg der Besserung zu lenken. Jene werden sich ihrer Schwäche nicht bewusst, wenn sie nicht von vielen Seiten zurechtgewiesen würden. Bei diesen reicht es vielfach zur Umkehr, wenn der Belehrende sie mit ruhigen Worten auf ihr Fehlverhalten aufmerksam macht. Jene muss man eher hart angehen, um sie auf die rechte Bahn zu führen. Bei diesen ist der Erfolg größer, wenn man den Tadel gleichsam nur so nebenhin erwähnt. So schilt der Herr geradeheraus das Volk der Juden wegen seines schamlosen Treibens mit den Worten: „Du hattest die freche Stirn einer Dirne und wolltest dich nicht schämen" (Jer 3,3). Er richtet es hingegen ermutigend auf, wenn es schamvoll ihm naht, wo er ihm sagen lässt: „Die Schande in deiner Jugend wirst du vergessen, an die Schmach deiner Witwenschaft wirst du nicht mehr denken. Denn dein Schöpfer ist dein Gemahl" (Jes 54,4f). Unverhohlen verweist Paulus auf die sittenlosen Vergehen der Galater und ruft ihnen zu: „Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet?" (Gal3,1), ferner: „Seid ihr so unvernünftig? Am Anfang habt ihr auf den Geist vertraut, und jetzt erwartet ihr vom Fleisch die Vollendung" (Gal 3,3). Aber nahezu teilnahmsvoll drückt er sich aus, wenn er die Schuld der schamvoll Zurückhaltenden anspricht: „Ich habe mich im Herrn besonders gefreut, dass ihr eure Sorge für mich wieder einmal entfalten konntet. Ihr hattet schon daran gedacht, aber es fehlte euch die Gelegenheit dazu" (Phil) 4,10). So legte er im schonungslosen Tadel die Fehler der einen bloß, während er mit schonenden Worten die Vernachlässigung der anderen mit einem Schleier umhüllte.

8. KAPITEL: Wie man Hochmütige und wie man Kleinmütige ermahnen muss

Anders muss man Hochmütige, anders Kleinmütige ermahnen. Da jene sich selbst sehr viel zutrauen, verunglimpfen und beschimpfen sie andere; diese aber nehmen sich ihre Schwachheit viel zu sehr zu Herzen und geraten leicht in Verzweiflung. Jene schätzen all ihr Tun möglichst hoch ein; diese dagegen glauben, ihr ganzes Tun und Lassen habe keinen Wert, und wollen darüber ganz verzweifeln. Darum muss man, wenn man Hochmütige zurechtweisen will, eingehend ihre Werke prüfen um ihnen zu zeigen, dass sie gerade darin Gott missfallen worin sie sich selbst gefallen.

Dann nämlich weisen wir die Hochmütigen am besten zurecht, wenn wir ihnen zeigen, dass ihre vermeintlich guten Handlungen eigentlich Sünden sind, damit ihnen heilsame Beschämung zuteil werde, wo sie Ehre verdient zu haben glauben. Wenn sie es aber nicht einsehen, dass das Laster des Hochmutes in ihnen steckt, kommen sie bisweilen auf einem Umweg schneller zur Einsicht, indem man ihnen ein anderes ganz offensichtliches Verschulden vorhält und sie so durch einen Flankenhieb auf indirektem Weg zum Erröten bringt. Aus dem Vergehen, das sie nicht verteidigen können, kommen sie zur Einsicht, dass sie an etwas festhalten, was sie zu Unrecht rechtfertigen. Als darum Paulus sah, dass die Korinther sich erdreisteten und sich gegenseitig brüsteten, „ich halte zu Paulus - ich zu Apollos - ich zu Kephas - ich zu Christus" (1 Kor 1,12), führte er das Laster der Blutschande, das bei ihnen begangen worden war und unbestraft blieb, mitten ins Feld der Auseinandersetzung und sagte: „Übrigens hört man von Unzucht unter euch, und zwar von Unzucht, wie sie nicht einmal unter den Heiden vorkommt, dass nämlich einer mit der Frau seines Vaters lebt. Und da macht ihr euch noch wichtig, statt traurig zu werden und den aus eurer Mitte zu stoßen, der so etwas getan hat" (1 Kor 5,1f). Er wollte doch damit sagen: Warum brüstet ihr euch, dass ihr zu diesem oder jenem haltet, beweist ihr doch, dass ihr durch die Vernachlässigung der Abschaffung dieses Zustandes zu keinem haltet?

Das Gegenteil ist bei den Kleinmütigen der Fall. Man führt sie am geeignetsten auf den rechten Weg zurück, wenn man nebenbei ihre guten Seiten streift und so einiges anerkennt und lobt, während man anderes an ihnen rügen muss; auf diese Weise soll ihr schwaches Selbstwertgefühl wieder gehoben werden, das durch die Rüge niedergedrückt wurde. Sehr dienlich ist es zumeist, wenn wir im Gespräch mit ihnen zunächst an ihre guten Werke erinnern. Und haben sie etwas unordentlich gemacht, tadeln wir es nicht als etwas bereits Geschehenes, sondern sprechen so, als wollten wir es für die Zukunft verhindern. Durch die ausgesprochene Anerkennung der guten Taten soll auf der einen Seite der Eifer der Kleinmütigen für das Gute gesteigert werden, auf der anderen soll die Scheu vor dem Unrecht, das wir zurechtweisen, durch die Aufmunterung besser zu Kräften kommen. Als Paulus erfuhr, dass die Thessalonicher, die an seiner Verkündigung treu festhielten, wegen des angeblich nahen WeItendes verwirrt, in Bedrängnis geraten waren, bedachte er fürsorglich ihre innere Festigkeit mit Lob. Danach erst tadelte er verhalten ihre Verzagtheit und machte ihnen Mut. Er schreibt: „Wir müssen Gott euretwegen immer danken, Brüder, wie es recht ist, denn euer Glaube wächst, und die gegenseitige Liebe nimmt bei euch allen zu. Wir können in den Gemeinden Gottes mit Stolz auf euch hinweisen, weil ihr im Glauben standhaft bleibt bei aller Verfolgung und Bedrängnis, die ihr zu ertragen habt" (2 Thess 1, 3f).

Nach dieser gewinnenden Lobrede auf ihr Glaubensleben, führt er im Brief weiter aus: „Brüder, wir schreiben euch über die Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, und unsere Vereinigung mit ihm und bitten euch: Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen, wenn in einem prophetischen Wort oder einer Rede oder in einem Brief, der angeblich von uns stammt, behauptet wird, der Tag des Herrn sei schon da" (2 Thess 2,1t). Der wahrhafte Lehrer ging so vor, auf dass sie zuvor das Lob dafür vernahmen, worin sie sich bestätigt finden sollten, und danach die Aufforderung dazu, was sie befolgen sollten. Das vorausgehende Lob sollte ihr Herz stärken, damit es sich nicht durch die anschließende Mahnung ängstige. Obwohl er also wusste, dass sie der argwöhnische Gedanke an das nahe Weltenende in Erregung hielt, wies er nicht die Verwirrten zurecht, sondern sprach ohne Bezugnahme auf diesen Tatbestand wie ein Ahnungsloser, so als wollte er verhindern, dass sie sich erst noch außer Fassung bringen lassen könnten. Er ließ sie im Glauben, dass ihr Prediger nichts von der Leichtfertigkeit erfahren habe, mit der sie sich haben beunruhigen lassen, damit sie aus Furcht, von ihm durchschaut zu werden, umso widerstandswilliger würden.

9. KAPITEL: Wie Ungeduldige und wie Geduldige zu ermahnen sind

Anders muss man Ungeduldige, anders Geduldige ermahnen. Den Ungeduldigen muss man nämlich sagen, dass sie wegen Vernachlässigung ihrer Selbstbeherrschung zu vielen ungerechten Dingen fortgerissen werden, die sie eigentlich nicht beabsichtigen. Denn der Zorn treibt die Seele dahin, wonach in Wirklichkeit ihr Verlangen nicht steht; und in der Aufregung tut sie unbewusst manches, was sie hernach reut, wenn die Besinnung zurückgekehrt ist. Auch das muss man den Ungeduldigen sagen, dass sie nach vollbrachter Tat kaum einsehen, wie viel Böses sie durch ihr zorniges, hastiges und beinahe unsinniges Wesen angerichtet haben. Weil sie ihren Unmut nicht bekämpfen, verderben sie dabei auch das, was sie in ruhiger Stimmung Gutes getan hatten, und reißen in jäher Aufregung alles nieder, woran sie vielleicht lange mit Mühe und Sorgfalt gearbeitet haben. Denn gerade die Liebe, die Mutter und Hüterin aller Tugenden, geht durch Ungeduld verloren. Denn es steht geschrieben: „Die Liebe ist langmütig" (1 Kor 13,4). Wo also kein Fünklein Geduld ist, da ist auch die Liebe nicht. Auch die Pflegemutter aller Tugenden, die Klugheit, geht durch die Ungeduld verloren. Denn es steht geschrieben: „Einsicht macht den Menschen langmütig" (Spr 19,11). Je weniger geduldig also sich jemand erweist, desto weniger bekundet er an Weisheit. Und er kann in Wahrheit nicht das Gute durch belehrende Worte beibringen, wenn er durch seinen Lebenswandel zeigt, dass er fremde Fehler nicht in gleichmütiger Weise zu ertragen weiß.

Zu diesem Fehler der Ungeduld kommt sehr oft noch die Sünde der Anmaßung hinzu; denn da ein solcher Mensch es nicht ertragen kann, wenn er in der Welt gering geschätzt wird, sucht er seine etwaigen verborgenen Vorzüge hervorzukehren, und so führt ihn die Ungeduld zur Anmaßung. Verachtung kann er nicht ertragen, also treibt ihn sein ehrgeiziges Geltungsbedürfnis zu Prahlerei und Eigenlob. Darum steht geschrieben: „Besser ist ein Geduldiger als ein Anmaßender" (Koh 7,8). Ein Geduldiger erträgt lieber jegliches Übel, als dass er durch Prahlerei seine verborgenen guten Taten aufdecken würde. Der Anmaßende dagegen liebt es, sein Gutes, sogar erdichtetes, zur Schau zu tragen, um nicht auch nur geringfügige Nachteile auf sich nehmen zu müssen. Mit der Preisgabe der Geduld und Ausdauer werden auch alle übrigen getanen guten Werke zunichte. Darum wird mit Bedacht bei Ezechiel angeordnet, dass im Altar Gottes eine Vertiefung angelegt wird, damit alle darauf gelegten Opfergaben aufgefangen werden können (Ez 43,13). Denn wenn diese Vertiefung im Altar nicht vorhanden wäre, würde ein Windhauch jedes darauf befindliche Opfer fortwehen. Was verstehen wir aber unter dem Altar Gottes anderes als die Seele des Gerechten, welche in sich selbst so viele Opfergaben vor Gottes Augen niederlegt, als sie gute Werke verrichtet? Was aber bedeutet die Grube im Altar, wenn nicht die Geduld der Guten, welche die Seele erniedrigt, so dass sie Widerwärtigkeiten zu ertragen vermag und sie auf diese Weise gleichsam in einer Grube, das heißt in Erniedrigung, darstellt? Eine Grube also sei am Altar angebracht, damit der Wind das Opfer nicht verwehe, das heißt, dass die Seele der Auserwählten die Geduld bewahre, damit sie nicht vom Wind der Ungeduld erfasst werde und alle ihre guten Werke verliere. Auch wird nicht ohne Grund angegeben, dass diese Grube gerade eine Elle tief sein müsse; denn nur wenn die Geduld bewahrt wird, wird das Einheitsmaß eingehalten. Darum sagt Paulus: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen" (Ga! 6,2). Das Gesetz Christi ist die Einheit in der Liebe. Dieses erfüllen nur diejenigen, die sich nicht absondern, auch wenn es eine Last bedeutet. Die Ungeduldigen mögen hören, was die Schrift sagt: „Besser ist ein Langmütiger als ein Kriegsheld, besser, wer sich selbst beherrscht, als wer Städte erobert" (Spr 16,32). Unbedeutend ist ein Sieg über Städte und Festungen. Denn was da unterjocht wird, ist etwas Äußeres. Weit bedeutender ist hingegen der Sieg, der durch Standhaftigkeit errungen. wird: Denn hier siegt das Herz über sich selbst,. Es unterwirft sich sich selbst und es erhebt sich über sich selbst, indem die Standhaftigkeit das Herz zur Selbstbeherrschung zwingt. Die Unbeständigen sollen hören, was die ewige Wahrheit ihren Auserwählten sagt: „Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen" (Lk 21,19). Wir sind so wunderbar beschaffen, dass nämlich die Vernunft die Seele beherrscht, die Seele aber den Leib. Jedoch das Vorrecht der Seele zur Herrschaft über den Leib wird verwirkt, wenn sich die Seele nicht jederzeit von der Vernunft leiten lässt. Wenn also der Herr lehrte, dass wir uns selbst bewahren, wenn ,wir standhaft bleiben, hat er die Standhaftigkeit als Hüterin unserer natürlichen Beschaffenheit bezeichnet. Welch schuldhafter Schaden aus der Unbeständigkeit erwachsen kann, ersehen wir daraus, dass wir mit der Selbstbeherrschung auch unser eigentliches Wesen aufgeben. Die Unbeherrschten sollen hören, was wiederum Salomo sagt: „Ein Tor lässt seiner ganzen Erregung freien Lauf, aber ein Weiser hält sie zurück" (Spr 29/11). Die Unbeherrschtheit erzeugt einen Druck, der den ganzen Unmut nach draußen entlädt. Die Erregtheit treibt ihn umso schneller heraus, weil ihn keine weise Lebenshaltung mit einer inneren Ringmauer einschließt. Der Weise dagegen hält die Erregung zurück. Wird er gekränkt, sinnt er nicht gleich auf Rache. Selbst nachsichtig wünscht er Nachsicht auch für sich. Überdies ist er sich bewusst, dass beim Jüngsten Gericht alles nach Recht und Gerechtigkeit vergolten wird.

Die Geduldigen sind zu ermahnen, dass sie das, was sie äußerlich mit Gleichmut ertragen, innerlich nicht mit Unmut tragen, damit sie nicht das Opfer solcher Tugendhaftigkeit, das sie vor der Außenwelt untadelig bringen, durch innere Schlechtigkeit verpesten. Und wenn auch der Unwille von den Menschen nicht wahrgenommen wird, geschieht doch vor dem richtenden Auge Gottes Sünde, deren Schuld umso erschrecklicher sein mag, weil sie sich vor den Menschen den Anschein der Tugend gibt. Man muss den Geduldigen auch sagen, sie sollen besorgt sein, denen auch Liebe entgegenzubringen, die zu ertragen sie nicht umhin können. Denn wo geduldiges Ertragen nicht von der Liebe geleitet wird, besteht Gefahr, dass die äußerlich bezeigte Tugend in das schlimmere Übel Hasswidriger Abneigung umschlägt. Als deshalb Paulus sagte: „Die Liebe ist langmütig", fügte er sogleich bei: „Sie ist gütig" (1 Kor 13,4), und wollte damit sagen, dass die Liebe nicht aufhört, diejenigen in Güte zu lieben, die sie in Geduld erträgt. Wenn daher der ausgezeichnete Lehrer seine Jünger zur Geduld ermahnt, indem er sagt: „Jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung verbannt aus eurer Mitte" (Eph 4,31), wendet er sich, so als sei alles Äußere schon wohlbestellt, dem Inneren zu, indem er beifügt: „samt aller Bosheit". Denn natürlicherweise werden Zorn, Geschrei und Lästerung vergebens im äußeren Verhalten beseitigt, wenn im Herzen die Bosheit Herr ist, die Mutter alles Bösen. Und völlig erfolglos bleibt es, wenn man nach draußen das Böse in seinen Zweigen beschneidet, drinnen aber seine Wurzel belässt, wo es vielfältig Urständ feiert. Darum sagt die ewige Wahrheit mit eigenem Mund: „Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen, segnet die, die euch verfluchen, betet für die, die euch misshandeln" (Lk 6,27f). Tugend vor den Menschen nämlich ist es, die Feinde zu ertragen; Tugend aber vor Gott ist es, sie zu lieben; denn nur dann ist ein Opfer Gottes würdig, wenn es vor seinen Augen auf dem Altar der guten Werke von der Flamme der Liebe in Brand gesetzt wird. Darum sagt der Herr auch denjenigen, die zwar Geduld, aber die Liebe nicht haben: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?" (Mt 7,3; Lk 6,41). Die Erregung aus Ungeduld ist der Splitter, die Schlechtigkeit im Herzen aber der Balken im Auge. Jene wird jeweils vom flüchtigen Zugwind der Versuchung gezeugt, diese hält sich als vollendete Schlechtigkeit beinahe als Dauerzustand. Zu Recht heißt es darum dort weiter: „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen" (Mt 7,5). Es ist, als ob dem unbilligen Herzen, das innerlich krankt, während es sich nach außen langmütig und heilig gibt, gesagt würde: Lass doch erst mal die massige Wucht an Schlechtigkeit abrücken, danach magst du andere wegen eines leichtgewichtigen Vergehens an Ungehaltenheit zurechtrücken. Denn wenn du nicht bestrebt bist, den Schein zu überwinden, wird es dir übler bekommen, als fremde Verschrobenheiten zu ertragen.

Den Langmütigen pflegt oftmals auch Folgendes zu widerfahren. Zu Zeiten, wo sie ein Missgeschick trifft oder wo sie Schmähreden zu hören bekommen, bringt sie kein Unwille in Erregung. Sie üben die Langmut in einer Weise, dass sie es nicht versäumen, den Frieden des Herzens zu wahren. Kurze Zeit darauf jedoch, wenn sie sich ins Gedächtnis zurückrufen, was sie eben erst durchzustehen hatten, erglühen sie feurig im Zorn, und in der Erregung suchen sie nach Mitteln und Wegen der Vergeltung. Die Gelassenheit, die sie beim geduldigen Hinnehmen an den Tag gelegt hatten, lassen sie fahren und verkehren sie in Bösartigkeit. Hier kann ihnen der Seelsorger am schnellsten Hilfe bringen, wenn er ihnen des weiteren darlegt, was die Ursache solcher Wandlung ist. Der hinterlistige Feind eröffnet einen Zweikampf. Den einen reizt er, als erster mit schmähenden Händeln zu beginnen, den anderen fordert er heraus, die erlittenen Schmähungen zu erwidern. Sehr oft kommt es jedoch vor, dass er bereits Sieger ist über den, der sich irreführen ließ und die Kränkung vollzieht, während er gegen den unterliegt, der die zugefügte Beleidigung mit Gleichmut erträgt. Als Sieger also über den einen, den er aufgestachelt hatte und in sein Joch spannte, richtet er sich mit allen Kräften gegen den Zweiten, voll Unmut über dessen zähen Widerstand und dessen Sieg. Da er ihn nicht mit den entgegengeschleuderten Schmähungen erreichen konnte, lässt er einstweilen den offenen Kampf ruhen und sucht, ihn durch heimliche Vorspiegelungen zu einer anderen Gesinnung zu bringen, um ihn zu gegebener Zeit zu überlisten. Weil er den offenen Kampf verloren hat, ist er ergrimmt und betreibt aus dem Hinterhalt seine Verführungskünste. Er kehrt bereits in der Kampfpause in die Gedankenwelt des Siegers zurück und bringt ihm entweder den Sachschaden oder die kränkenden Stiche ins Bewusstsein. Alles, was ihm angetan wurde, übertreibt er aufs ärgste und stellt es als unerträglich hin. Das Gemüt bringt er durcheinander und erfüllt es mit solcher Betrübnis und Niedergeschlagenheit, dass der geduldige Mensch sich der Gelassenheit schämt, mit der er das alles hingenommen hat, und so geschieht es öfter, dass der ursprüngliche Sieger in Gefangenschaft gerät. Im Arger darüber, die erlittenen Schmähungen nicht erwidert zu haben, geht er nun darauf aus, sie bei Gelegenheit mit schlimmeren heimzuzahlen. Gleichen solche Menschen nicht denjenigen, die durch Tapferkeit im offenen Feld siegen, darauf jedoch durch Fahrlässigkeit innerhalb der Stadtmauern gefangengenommen werden? Gleichen sie nicht denen, deren Leben eine Krankheit, die schwer über sie hereinbricht, nicht zum Erliegen bringt, die aber, wenn die Krankheit im leichteren Grade rückfällig wird, einem schleichenden Fieber tödlich erliegen? Man muss daher den Geduldigen dringend raten, dass sie nach einem Sieg ihr Herz absichern und darauf bedacht sind, dass der im offenen Kampf geschlagene Feind den Schutzring des Herzens belauert. Sie sollen sich auch mehr vor dem schleichenden Rückfall in die Krankheit fürchten, damit der hinterhältige Feind nicht die nachträglich gelungene, unbemerkte Täuschung mit größerer Lust genießt, je unbeugsamer die Nacken der Sieger lange Zeit waren, auf die er nunmehr seinen Fuß setzen kann.

10. KAPITEL: Wie Wohlwollende und wie Neidische zu ermahnen sind

Anders muss man Wohlwollende und anders Neidische ermahnen. Bei den Gutwilligen muss man darauf hinwirken, dass sie durch die teilnehmende Freude an guten Eigenschaften anderer solche auch selbst erstreben. Sie sollen mit Wertschätzung den Taten der Mitmenschen Beifall zollen, indem sie diese nachvollziehen und auf diese Weise vervielfältigen. Denn wenn sie in der Rennbahn des Lebens dem Ringen anderer zwar ergeben Beifall spenden, dabei aber bloß müßige Zuschauer bleiben, erhalten sie auch nach dem Wettkampf keinen Preis, weil sie sich am Ringen nicht beteiligt haben; und traurig müssen sie auf die Siegespalmen der anderen schauen, bei deren Mühen sie untätig blieben. Groß ist schon unsere Sünde, wenn wir an den Werken anderer keine Freude haben; wir haben aber auch keinerlei Verdienst, wenn wir nicht nach Kräften nachvollziehen, woran wir unsere Freude haben. Wenn die Wohlwollenden keinen Eifer an den Tag legen, die guten Werke nachzuahmen, die sie mit Anerkennung und Lob bedenken, ist ihnen zu erklären, dass sie kein anderes Wohlgefallen an der Tugend der Heiligkeit aufweisen, wie törichte Zuschauer an eitlen Spielerkünsten. Diese spenden nämlich den Künsten der Rosselenker und Schauspieler ihren Beifall, ohne dass sie denen ähnlich sein möchten, die sie loben. Sie bewundern deren gefälliges Auftreten, hüten sich aber, auf ähnliche Weise gefallen zu wollen. Man, muss also den Wohlwollenden sagen, sie sollen beim Anblick der Werke der Mitmenschen bei sich Einkehr halten und nicht die Taten anderer im voraus genießen. Sie sollen nicht das Gute loben, das zu tun sie verweigern. Denn ein strenges Gericht werden einst diejenigen erfahren, die an etwas Gefallen fanden, es aber nicht nachahmen wollten.

Die Neidischen mögen erwägen, wie groß die Blindheit derer ist, die in Unmut verfallen, weil andere Fortschritte machen, die sich grämen, weil andere sich freuen. Wie tief unglücklich müssen diejenigen sein, die schlechter werden, weil andere sich bessern. Sie werden von innerer Angst befallen, wenn sie sehen, wie das Wohlergehen anderer wächst. Sie sterben an der Verdorbenheit ihres Herzens. Kann es etwas Unglücklicheres geben als diejenigen, die beim Anblick fremden Glückes sich betrüben und in dieser Qual noch schlechter werden? Wenn sie die Vorzüge anderer, die sie nicht ihr eigen nennen können, achteten, könnten sie sie sich zu eigenen machen. Denn wie die vielen Glieder zu einem Leibe, so sind alle als Einheit auferbaut im Glauben. Den verschiedenen Diensten nach sind sie verschieden, aber dadurch, dass sie aufeinander abgestimmt sind, bilden sie eine Einheit. So geschieht es, dass der Fuß durch das Auge sieht, das Auge durch die Füße geht; das Gehör dem Munde dient, die Zunge dem Ohr zu Diensten ist, der Leib den Händen hilft, die Hände für den Leib arbeiten. Aus der Beschaffenheit des Körpers entnehmen wir, wie wir es in unserem Tun halten sollen. Es ist gar schmählich, wenn wir nicht nachvollziehen, was wir sind. So ist es ganz natürlich, dass auch unser ist, was wir an anderen lieben, auch wenn wir es nicht selbst in gleicher Weise machen können. Den Liebenden gehört das, was sie bei uns liebenswert finden. Daraus mögen die Neidischen ersehen, welche Kraft der Liebe innewohnt, da sie Werke fremder Mühe mühelos zu den unsrigen macht. Darum muss man den Neidern sagen, dass sie in die Tiefe der alten Bosheit des listigen Widersachers stürzen, wenn sie sich keineswegs vor dem Neid hüten. Über ihn heißt es in der Schrift: „Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt" (Weish 2,24). Weil er selbst den Himmel verloren hatte, mißgönnte er ihn dem Menschen, der für den Himmel geschaffen war. Er trieb seine Verdammung zur Gipfelhöhe, indem er, selbst zu Fall gekommen, andere zu Fall brachte. Man muss die Neidischen zu der Erkenntnis führen, dass der Abgrund, in den sie fallen, mit der Häufung der Sünde immer tiefer wird, und dass sie in unverhohlene Taten des Verderbens verwickelt werden, wenn sie nicht den Neid aus ihrem Herzen verbannen. Wie auch Kain keinesfalls so weit gekommen wäre, den Bruder umzubringen, wäre er nicht der Mißgunst verfallen, weil dessen Opfer angenommen wurde. Es heißt in der Schrift: „Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich" (Gen 4,4f). Die Mißgunst des Opfers also zeugte den Brudermord. Da Kain es nicht leiden wollte, dass sein Bruder den Vorzug hätte, und es auf keinen Fall so sei, schlug er ihn tot. Man muss dies den Neidischen sagen, dass sie auch alles das zunichte machen, was sie im übrigen etwa an Gutem in sich haben mögen, solange sie ihr Inneres durch diese Pest auszehren lassen. Denn es steht geschrieben: „Ein gelassenes Herz bedeutet Leben für den Leib, doch Knochenfraß ist die Leidenschaft" (Spr 14,30). Wofür anderes soll der Leib Zeichen sein als für das Schwache und Zarte, und die Knochen für kraftvolle Taten? Es kommt fürwahr nicht selten vor, dass manche Menschen redlichen Herzens in manchen ihrer Taten für schwach befunden werden, und manch andere in den Augen der Menschen kerngesunde Taten vollbringen, die jedoch innerlich faul sind, infolge des alles verderbenden Neides über das Gute anderer. Darum heißt es zu Recht: „Ein gelassenes Herz bedeutet Leben für den Leib." Denn wo die Unschuld des Herzens gewahrt wird, wird auch das, was möglicherweise schwach ist, irgendwann gefestigt. Gleichfalls zu Recht wird beigefügt: „Knochenfraß ist die Leidenschaft", denn infolge des verderbenden Neides ist in den Augen Gottes verdorben, auch was in den Augen der Menschen kerngesund erscheint. Der Neid zerfrisst die Knochen will sagen, auch das, was dauerhaft ist wie Eichenholz, geht zugrunde.

11. KAPITEL: Wie Arglose und wie Arglistige zu ermahnen sind

Anders muss man Arglose, anders Arglistige ermahnen. Arglose sind zu loben, weil sie bestrebt sind, nie etwas Betrügerisches zu sagen. Man muss sie jedoch auch belehren, dass sie sich dahin wandeln sollten, manchmal über einen wahren Sachverhalt zu schweigen. Wie es nämlich zutrifft, dass die Lüge immer die Lüge schlägt, so ist es auch wahr, dass es manchmal für manche unzuträglich war, wenn sie die ganze Wahrheit zu hören bekamen. So hielt sich der Herr in seiner Rede an die Jünger zurück, indem er über einiges schwieg: "Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen" (Joh 16,12). Man muss also die Arglosen belehren, dass sie die Wahrheit stets in dienlicher Weise vortragen, wie sie auch den Betrug in heilsamer Weise meiden. Man muss sie auffordern, die Tugend der Ehrlichkeit mit der Klugheit zu verbinden, auf dass sie zwar die Aufrichtigkeit mit Sicherheit wahren, aber die Umsicht der Klugheit nicht außer acht lassen. In diesem Sinne schreibt der Lehrer der Völker: „Ich wünsche mir, dass ihr verständig bleibt, offen für das Gute, unzugänglich für das Böse" (Röm 16,19). Daher fordert die ewige Wahrheit ihre Auserwählten auf mit den Worten: „Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben" (Mt 10,16). Einerseits nämlich soll die Klugheit der Schlangen die Arglosigkeit der Tauben scharfsinniger im Denken machen, andererseits muss die Arglosigkeit der Tauben die Klugheit der Schlangen im rechten Maß halten, auf dass die Auserwählten sich nicht von der Klugheit zur Schläue verleiten lassen, noch aus Einfalt im Gebrauch der Vernunft stumpfsinnig werden.

Die Arglistigen muss man darauf hinweisen, wie beschwerlich die Mühe ist, die sie zur Schuld der Zwielichtigkeit ihres Redens auf sich nehmen. In der Befürchtung, in die Enge getrieben zu werden, suchen sie stets nach unredlichen Ausflüchten und werden unablässig zwischen Argwohn und Beklemmung hin und her gerissen. Nichts aber kann man mit mehr Gelassenheit verteidigen als die Redlichkeit, nichts unbeschwerter aussprechen als die Wahrheit. Wer dagegen genötigt ist, seinen Betrug mühsam zu decken, dessen Herz ist ständig harter Bedrängnis ausgesetzt. Denn so steht geschrieben: „Die Bosheit ihrer Lippen treffe sie selbst" (Ps 140,10). Die Bedrängnis nämlich, die sie gegenwärtig stark in Anspruch nimmt, wird sie einstens vollends erdrücken. Denn wessen beunruhigtes Herz sie gegenwärtig umschmeichelt und beschwichtigt, den wird sie einmal belasten und einer harten Bestrafung überlassen. Bei Jeremia heißt es: „Sie haben ihre Zunge eingeübt zur Lügenrederei, sie sind gründlich verdorben, sie können nicht mehr umkehren" (Jer 9,5). Das soll offenbar heißen: Sie hätten ohne Beschwernis freundschaftlich mit der Wahrheit umgehen können. Nun leiden sie Drangsal, um sich sündhaft gegen sie zu vergehen. Sie verweigern ein Leben ohne Arg und Trug und fordern ihren Tod ein, indem sie das Gegenteil tun. Werden sie bei einem Fehltritt ertappt, was öfter der Fall ist, verstecken sie sich, um nicht zu erkennen zu geben, dass sie sind und wie sie sind, unter einem Schleier von Lug und Trug. Und selbst wenn ihre Schuld als erwiesen gilt, führen sie Rechtfertigungsgründe an, um sie abzuwälzen. So kommt es oft so weit, dass derjenige, der sie ihrer Vergehen wegen zurechtweisen will, vom Nebeldunst der verbreiteten falschen Behauptungen irregeführt wird und seinerseits alles entschwinden sieht, was er gegen sie für sicher erwiesen hielt. Es gilt darum zu Recht für eine Seele, die sündigt und Ausflüchte sucht, was der Prophet im Blick auf Judäa sagt: „Der Igel hat dort seine Grube" (Jes 34,15). Im Bild des Igels wird hier ein Mensch mit zwei Gesichtern gezeichnet, der verschlagen seine Lasterhaftigkeit rechtfertigt. Bevor man nämlich nach dem Igel greift, sieht man seinen Kopf, erkennt seine Füße, ja man kann den ganzen Körper beschauen, aber kaum dass man ihn angefasst hat, rollt er sich zur Kugel zusammen, zieht die Füße ein, versteckt den Kopf, und in der Hand gehalten, ist mit einem Mal alles entschwunden, was zuvor in Gänze sichtbar war. So, genau so verhält sich die Seele lasterhafter Menschen, wenn sie auf ihren Abwegen überrascht werden. Man sieht den Kopf des Igels, das heißt, es ist ersichtlich, welchen Anfang die Schuld des Sünders genommen hat. Man erkennt die Füße, das heißt, man stellt fest, welche Schritte der Sünder bei der Begehung des Unrechts unternommen hat. Doch da zieht die gemeine Seele plötzlich die Füße ein, das heißt, der Mensch erfindet neue Rechtfertigungsgründe und verwischt jede Spur des begangenen Unrechts. Er zieht den Kopf ein, das heißt, er führt mit erstaunlicher Verteidigungskunst den Beweis, dass er nicht einmal den ersten Schritt zu einem Unrecht gemacht habe. Und schließlich hält man in der Hand nur ein Kugelgebilde, denn dem, der zurechtweisen wollte, entschwindet also gleich alles, was er für erwiesen hielt, und es steht ein Sünder vor ihm, der innerlich das Schuldbewusstsein wie in einem Mantel verhüllt hält. Alles, was er bei seiner Untersuchung im ganzen bereits ermittelt hatte, muss er, durch eine krumme Rechtfertigung hintergangen, gleichfalls im ganzen als nicht erwiesen ansehen. So hat denn der Igel beiden Unredlichen eine Grube, denn die zweigesichtige Seele schließt alle Schlechtigkeit in sich ein, verteidigt sie und verbirgt sie in undurchdringlichem Dunkel.

Die Unaufrichtigen sollen das Wort der Schrift hören: „Wer aufrichtig seinen Weg geht, geht sicher" (Spr 10,9). Denn das Unterpfand für Ruhe und Sicherheit ist die Aufrichtigkeit im Handeln. Und aus dem Mund der Weisheit sollen sie vernehmen: „Der Heilige Geist, der Lehrmeister, flieht vor der Falschheit" (Weish 1,5). Weiter bezeugt die Schrift: „Die Redlichen sind Freunde des Herrn" (Spr 3,32). Gott redet, das heißt, er offenbart seine Geheimnisse menschlichen Seelen durch das Licht seiner Gegenwart. Die Redlichen sind Freunde des Herrn bedeutet: Der Herr durchdringt mit dem Strahl seines Lichtes die Sinne der Redlichen und lässt sie die Geheimnisse des Himmels schauen. Besonders unheilvoll aber ist es für die Unaufrichtigen, dass sie damit großtuerisch angeben, den anderen überlegen und besonders helle zu sein, dass sie die anderen mit ihrem verderblichen und zwielichtigen Treiben hinters Licht führen, und weil sie das Ausmaß der Strafe nicht bedenken, ergehen sich diese Elenden und dem Strafurteil Verfallenen in ausgelassener Freude. Sie sollen aber zu hören bekommen, was für ein gewaltiges Strafgericht Gottes ihnen der Prophet Zefanja androht, wenn er spricht: „Der Tag des Herrn ist nahe, der gewaltige und furchtbare Tag. Ein Tag des Zornes ist jener Tag, ein Tag des Dunkels und der Finsternis, ein Tag der Wolken und der schwarzen Nacht, ein Tag des Widderhorns und des Kriegsgeschreis in den befestigten Städten und auf den hohen (Zinnen) Ecktürmen" (Zef 1,14ff). Was sollen wohl die befestigten Städte anderes veranschaulichen als die argwöhnischen Seelen, die ständig damit beschäftigt sind, sich zur Verteidigung ihres betrügerischen Verhaltens einzuschanzen, und die alle Wahrheitsbeweise wie Pfeile von sich abwehren, sooft sie eines Vergehens wegen angegriffen werden? Und sind nicht die hohen Ecktürme Sinnbilder für gemeine Herzen (Ecken bilden doch immer zwei Mauerwände)? Sie scheuen die einfache Wahrheit und bilden gleichsam mit der alles verkehrenden Doppelzüngigkeit eine Eckfalte in sich selbst. Und was noch schlimmer ist, in ihrer Überheblichkeit schätzen sie die Schuld der Doppelzüngigkeit als hohe Lebensweisheit ein. Der Tag des Herrn, der Tag der Rache und der vollen Vergeltung, kommt über die befestigten Städte und über die hohen Zinnen. Denn im Zorngericht des Jüngsten Tages werden die Herzen der Menschen offenbar, ihre Ringfesten zur Abwehr der Wahrheit werden niedergerissen und ihre Schutzmauern zur Vernebelung der Doppelzüngigkeit freigelegt. Dann werden die befestigten Städte fallen. Denn die Herzen, die undurchdringlich gegen Gott verschlossen waren, werden verworfen. Dann werden die hohen Ecktürme zusammenstürzen. Denn die Herzen, die die Gemeinheit zur stolzen Lebensweisheit erheben, werden dem Urteil der Gerechtigkeit verfallen.

12. Kapitel: Wie Gesunde und wie Kranke zu ermahnen sind

Anders sind Gesunde, anders Kranke zu behandeln. Die Gesunden muss man belehren, die Gesundheit des Leibes zum Wohl des Geistes zu pflegen, damit sie nicht durch die Gabe der leiblichen Unversehrtheit Schaden nehmen, wenn sie mit diesem unverdienten Geschenk leichtfertig umgehen und es ins Wanken bringen. Sie könnten später verdientermaßen umso größere Leiden zu tragen bekommen, je weniger Bedenken sie hatten, die überreichen Gaben, die sie von der freigiebigen Güte Gottes empfingen, in übler Weise zu genießen. Man muss die Gesunden überdies auffordern, dass sie die gute Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, Verdienste für das ewige Heil zu erwerben. Denn es steht geschrieben: „Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung" (2 Kor 6,2). Man muss sie darauf hinweisen, dass es einmal zu spät sein könnte, Gottes Wohlgefallen zu finden, selbst wenn sie es wollten, wenn sie es jetzt nicht wollen, wo sie es können. Von daher ist zu verstehen, wenn es heißt, die Weisheit wird zuletzt diejenigen im Stich lassen, die sich verweigerten, als sie früher lange Zeit hindurch sie rief. Denn so steht geschrieben: „Als ich rief, habt ihr euch geweigert, meine drohende Hand hat keiner beachtet; jeden Rat, den ich gab, habt ihr ausgeschlagen, meine Mahnung gefiel euch nicht. Darum werde auch ich lachen, wenn euch Unglück trifft, werde spotten, wenn Schrecken über euch kommt" (Spr 1,24) und einige Zeilen weiter: „Dann werden sie nach mir rufen, doch ich höre nicht; sie werden mich suchen, aber nicht finden" (ebd. 1,28). Wie groß und wertvoll die Aufgabe ist, zu der die Gabe leiblicher Gesundheit verpflichtet, empfindet man zu seinem Schaden erst, wenn man sie verloren und als Zeit der Gnade, Gutes zu tun, vergeudet hat. Mit Mühe, aber ohne Erfolg, sucht man am Ende zu erreichen, was man zu gegebener Zeit haben konnte, es aber nicht für zuträglich ansah. Und so lesen wir alsdann bei Salomo: „Du schenkst andern deine Würde, deine Jahre einem Rücksichtslosen, Fremde sättigen sich an deinem Besitz, die Frucht deiner Arbeit kommt in das Haus eines anderen, und am Ende wirst du stöhnen, wenn dein Leib und dein Fleisch dahinsiechen" (Spr 5,9ft). Wer sind nun diejenigen, die uns fremd sind, wenn nicht die boshaften Geister, die vom Anteil der himmlischen Heimat ausgeschlossen sind? Und liegt nicht unsere Würde fürwahr darin begründet, dass wir nach dem Abbild unseres Schöpfers und ihm ähnlich geschaffen sind, wenngleich wir dem Leibe nach aus dem Staube der Erde gebildet sind? Und wer ist unstreitig der Rücksichtslose, der Fremde, wenn nicht der abtrünnige Engel, der sich selbst in den Schwanz biss, weil er wegen seines Stolzes zum Tode verurteilt wurde? Er schonte nicht und brachte, selbst hoffnungslos verloren, auch über das Menschengeschlecht den Tod. Seine Würde verschenkt an einen anderen derjenige, der als Gottes Ebenbild und ihm ähnlich geschaffen den Verlauf seines Lebens zu Diensten von Lust und Begehr den niederträchtigen Geistern überlässt. Seine Jahre liefert dem Rücksichtslosen aus, wer die ihm geschenkte Lebensfrist nach dem Willen seines Widersachers, des Fürsten der Bosheit, vergeudet. Mit Recht steht weiter unten in dem Zitat: „Sonst sättigen sich Fremde an deinem Besitz, die Frucht deiner Arbeit kommt in das Haus eines anderen." Denn wer mit der ihm geschenkten körperlichen Gesundheit und mit den ihm zugeteilten Geistesgaben nicht mit großem Eifer Werke der Tugend, sondern lasterhafte Taten vollbringt, dessen Arbeit Frucht kommt keineswegs in sein Haus, sondern in die Behausung von Fremden, das heißt, er häuft die Taten der unreinen Geister an und trägt durch seine sinnlichen Ausschweifungen oder durch seinen Stolz dazu bei, dass die Zahl der Verlorenen, ihn inbegriffen, wächst. Mit Recht heißt es darum weiter: „Und am Ende wirst du stöhnen, wenn dein Leib und dein Fleisch dahinsiechen." Meistens wird das Geschenk der vollen leiblichen Gesundheit als Lohn für ein lasterhaftes Treiben preisgegeben. Wird dieses Geschenk unerwartet entzogen, wird der Leib durch lästige Beschwerden geschwächt und ausgezehrt, steht bereits das Scheiden der Seele bedrückend nahe, dann erst sucht man mit allen Mitteln die verlorene und lange missbrauchte Gesundheit wiederzugewinnen, um jetzt gewissermaßen neu zu beginnen und ein rechtschaffenes Leben zu führen. Wo sie den Schaden durch Verweigerung eines treuen Dienstes nicht wiedergutmachen können, beginnen die Menschen zu stöhnen und beklagen es, dass sie Gott nicht gedient haben. So sagt es schon der Psalmist: „Als Gott dreinschlug, fragten sie nach ihm" (Ps 78,34).

Die Kranken hingegen soll man belehren, dass sie sich als Söhne Gottes angenommen wissen dürfen, weil sie durch eine harte Schule der Läuterung gehen. Hätte er nicht im voraus bedacht, ihnen nach erfolgter Läuterung das Erbe zu übergeben, würde er es sich nicht angelegen sein lassen, sie durch allerlei Lästigkeiten und Beschwernisse zu bereiten. Denn so lässt der Herr den Engel zu Johannes sprechen: „Wen ich liebe, den weise ich zurecht und nehme ihn in Zucht" (Offb 3,19; Spr 3,11). So auch steht geschrieben: „Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn, verzage nicht, wenn er dich zurechtweist. Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er, er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat" (Hebr 12,Sf). Und so sagt es der Psalmist: „Der Gerechte muss viel leiden, doch allem wird der Herr ihn entreißen" (Ps 34,20). Auch Ijob, der Rechtschaffene, mit Gütern reich Gesegnete, schreit schmerzvoll auf: „Wenn ich auch im Recht bin, darf ich das Haupt nicht erheben, bin gesättigt mit Schmach und geplagt mit Kummer" (Ijob 10, 1S). Man soll den Kranken auch sagen, wenn sie glauben, dass die Heimat im Himmel ihr Daheim ist, ist es naheliegend, dass sie hier auf Erden wie in der Fremde Not und Elend leiden. Denn auch die Steine wurden außerhalb behauen, so dass sie bei der Errichtung des Tempels ohne das Getöse von Hammern eingesetzt werden konnten. So ist es verständlich, dass wir jetzt außerhalb durch Geißelschläge zurechtgehämmert werden, weil wir ohne weitere züchtigende Schläge drinnen alsbald in den Tempel Gottes eingefügt werden sollen; alles was als Wildwuchs in uns überfällig ist, soll durch die schneidende Schärfe alsbald zurückgestutzt werden, damit uns dann der volle Gleichklang der Liebe bindet. Des weiteren veranlasse man die Kranken, dass sie bedenken, wie die Kinder dieser Welt harte Mühen und Beschwerden durchstehen müssen, um zu irdischen Erbgütern zu kommen. Soll uns dann ein sühnender Zugriff durch Gottes Hand hart ankommen, wenn wir dadurch ein unverlierbares Erbe empfangen und einer immerwährenden Qual entgehen? In diesem Sinn spricht Paulus: „An unseren leiblichen Vätern hatten wir harte Erzieher, und wir achteten sie. Sollen wir uns dann nicht erst recht dem Vater der Geister unterwerfen und so das Leben haben? Jene haben uns für kurze Zeit nach ihrem Gutdünken in Zucht genommen; er aber tut es zu unserem Besten, damit wir Anteil an seiner Heiligkeit gewinnen" (Hebr 12,9f). Man gebe den Kranken auch zu erwägen, wie heilsam körperliche Beschwerden für Herz und Verstand sein können. Sie rufen den Geist zu Gedanken der Besinnung auf sich selbst zurück und bringen ihm wieder zum Bewusstsein, wie ohnmächtig er ist, Gedanken, die er in gesunden Tagen meist verwirft. Durch die Erschütterung, die er an seinem Leib erfährt, wird ihm neu bewusst, welcher Beschränktheit er seiner Beschaffenheit nach unterworfen ist, während er sonst außer sich gerät und überheblich wird. Dies wird treffend an Bileam aufgezeigt, als er auf seinem Reiseweg eine Verzögerung erfuhr - wenn er doch der Stimme Gottes gehorchend dem Ruf unmittelbar nachgekommen wäre. Bileam ist unterwegs, um sein vorgefasstes Ziel zu erreichen, doch das Tier, das er reitet und leitet, hält ihn von seinem Vorhaben ab. Die Eselin wird am Weitergehen gehindert und bleibt stehen, wie sieht einen Engel, den der Mensch mit seinen Sinnen nicht wahrnehmen kann. Vielfach ist es so, dass der Leib, durch Beschwerden langsam und bedächtig geworden, durch sein Leiden den Geist auf Gott verweist, obwohl doch der Geist dem Leib übergeordnet ist und ihn leitet. Er stellt sich gewissermaßen dem Geist auf seinem Weg entgegen, der ängstlich darauf bedacht ist, in der Welt Vorwärtszukommen, bis er ihn mit dem Unsichtbaren, der ihm entgegenkommt, bekannt macht. Ebenso drückt es zutreffend Petrus aus: Bileam wurde wegen seines Vergehens zurechtgewiesen: Ein stummes Lasttier redete mit menschlicher Stimme und verhinderte das wahnwitzige Vorhaben des Propheten" (2 Petr 2,16). Der Wahnsinn des Menschen wird von einem stummen Lasttier zurechtgewiesen, wenn das hoffärtige Herz des Menschen durch den von Leiden gebeugten Leib auf den Weg der Tugend verwiesen wird, den er einschlagen soll. Doch diese Zurechtweisung bewirkte bei Bileam keine Besserung, denn er setzte seine Weg fort, um einen Fluch auszusprechen. Er änderte zwar seine Worte, nicht aber sein Herz.

Man suche die Kranken auch dazu zu bewegen, dass sie überdenken, welch heilsamen Dienst körperliche Beschwerden zu leisten vermögen. Sie tilgen begangene Sünden, halten zurück, weitere zu begehen, sie schlagen erschütterten Herzen Wunden der Reue, die sie durch äußere Leiden erkaufen. Daher steht geschrieben: „Blutige Striemen läutern den Bösen und Schläge die Kammern des Leibes" (Spr 20,30). Blutige Striemen läutern den Bösen denn die Schmerzen der Geißelschläge tilgen sowohl Sünden in Gedanken wie in Werken. Mit Kammern des Leibes pflegt man die Seele zu verstehen; denn wie in den Darmgängen die Speisen verzehrt und aufgearbeitet werden, so läutert die Seele durch Hin- und Herüberüberlegen wie im Schmelztiegel die Gedanken. Dass man den Leib als Seele bezeichnen kann, wird aus einem Satz der Schrift erhellt: „Des Menschen Atem ist eine Leuchte des Herrn, er durchforscht alle Kammern des Leibes" (Spr 20,17). Es soll damit ausgedrückt werden: Wenn der Strahl göttlichen Lichtes die Seele des Menschen erhellt, zeigt der Heilige Geist der Seele ihr eigenes Bild im klaren Licht. Vor seinem Kommen konnte sie sich wohl mit schlechten Gedanken tragen, vermochte aber nicht, deren Fehlhaltung zu beurteilen. Blutige Striemen läutern den Bösen und Schläge die Kammern des Leibes; denn von körperlicher Krankheit äußerlich geschlagen, werden wir schweigsam und kommen zur Ruhe, werden mürbe und zerknirscht, unsere Sünden treten klar in unser Bewusstsein, alles, was wir Schlechtes getan haben, stellen wir uns lebhaft vor Augen, und dadurch, dass wir äußerlich leiden, wächst der innere Schmerz über unsere Sünden. So kommt es, dass im Verhältnis der Leiden zueinander, nämlich der offen sichtbaren Erkrankung des Körpers und des verborgenen Schmerzes im Inneren, uns das Leiden im Inneren im höheren Maß reinigt, denn es heilt die Bösartigkeit schlechter Taten.

Damit die Kranken nicht die Kraft zur Geduld verlieren, ermutige man sie, dass sie nicht ablassen zu betrachten, welche Leiden unser Erlöser von denen ertrug, deren Schöpfer er ist; dass er soviel Gemeinheit von Spott und Hohn erduldete, dass er, der Tag für Tag so viele gefangene Seelen der Hand des Widersachers von Anbeginn entreißt, von den Widerstrebenden geohrfeigt wurde; dass er, der uns mit den Wassern des Heiles reinigt, sein Gesicht nicht vor dem Gespei der Ruchlosen verbarg; dass er, der unser Anwalt ist und uns den Freispruch erwirkt vom Strafurteil auf ewig, schweigend die Geißelhiebe erlitt; dass er, der uns einen Ehrenplatz für ewig unter den Engelchören zuweist, geduldig die Faustschläge ertrug; dass er unsere stechenden Wunden der Sünden heilte und sich nicht weigerte, sein Haupt unter die Dornenkrone zu beugen; dass er, der uns trunken macht vom nieversiegenden Quell der Wonne, dürstete und den Trunk von galliger Bitterkeit einnahm; dass er den Vater, obschon eines Wesens mit ihm, für uns anflehte und schwieg, als ihm zum Spott göttliche Ehrenerweise bekundet wurden; dass er, der das Leben selbst ist, den Weg bis zum Tod ging, um den Totgeweihten den Zugang zum Leben zu eröffnen. Warum also sollte man glauben, dass es hart sei, wenn der Mensch für seine Übeltaten die Strafe von Gottes Hand erduldet, wenn Gott für seine Wohltaten soviel Übeltaten von seiten der Menschen ertrug? Oder kann es jemanden geben, der besonnen und vernünftig denkt, der unwillig über seine Leiden ist, wenn selbst derjenige, der ohne Sünde in dieser Welt lebte, nicht ohne Leiden von ihr ging?

13. KAPITEL: Wie man diejenigen ermahnt, die vor Heimsuchungen Zurückschrecken, und wie diejenigen, die sie missachten

Anders ermahnt man diejenigen, die vor Heimsuchungen zurückschrecken und deshalb ein rechtschaffenes Leben führen, und anders diejenigen, die in der Bosheit so hart geworden sind, dass sie selbst durch Heimsuchungen nicht zu bessern sind. Denjenigen, die wegen Heimsuchungen besorgt sind, muss man sagen, dass sie einerseits zeitliches Wohlergehen nicht als Auszeichnung betrachten und erstreben sollen, weil sie doch sehen können, dass sich auch Schlechte seiner erfreuen, und dass sie andererseits zeitliche Leiden nicht als etwas Unerträgliches fürchten und ihnen zu entkommen suchen, ist ihnen doch nicht entgangen, dass im gegenwärtigen Leben öfter auch gute Menschen durch sie heimgesucht werden. Wenn ihnen wahrhaft daran gelegen ist, Leiden von sich fernzuhalten, sollten sie in Furcht vor der ewigen Qual erzittern, jedoch auch nicht dabei stehen bleiben, sich vor der Strafe zu fürchten, sondern vielmehr gestärkt durch die Übung der Nächstenliebe zur Höhe der vollkommenen Liebe emporwachsen. Denn in der Schrift heißt es: „Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht" (1 Joh 4,18); und an einer anderen Stelle: „Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!" (Röm 8,15). Und der gleiche Apostel lehrt: „Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2 Kor 3,17). Wen also noch Furcht vor Strafe von einer schlechten Tat abhält, dessen Seele ist wahrlich noch weit entfernt von der Freiheit des Geistes. Er würde ohne Zweifel eine Straftat begehen, wenn er nicht Strafe befürchtete. Wer noch unter der Knechtschaft der Furcht steht, hat die Wohltat der Freiheit noch nicht erkannt. Das Gute muss man um seiner selbst willen lieben, nicht die Furcht vor Strafe soll der Antrieb dazu sein. Wer nur aus Furcht vor Qualen das Gute tut, hegt den Wunsch, dass es die gefürchtete Strafe nicht gäbe, damit er ohne Scham das Unerlaubte tun könne. Folgerichtig steht klar und einleuchtend fest, dass dadurch vor Gottes Angesicht die Unschuld verloren geht, weil in dessen Augen dieses Begehren Sünde ist.

Ganz anders muss man mit denen verfahren, die selbst harte Schläge nicht bändigen und von ihrem boshaften Treiben abhalten. Je unempfindlicher sie geworden sind, um so eindringlicher muss man auf sie einwirken. Vielfach könnte man so vorgehen: Man bekundet ohne Ungehaltenheit Entrüstung und Entsetzen über ihr Verhalten und verweist auf die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, ohne selbst die Hoffnung aufzugeben, so dass ein inneres Erschrecken sie erfasst und ein entsprechendes Mahnwort ihnen wieder Hoffnung gibt. Eindringlich und ausführlich spreche man über Gottes Strafgericht, so dass Gedanken an die ewige Strafe sie zur Besinnung über ihr eigenes Los führen. Man lasse sie hören, was geschrieben steht und auf sie zutrifft: „Zerstampfst du den Toren auch mit dem Stößel (im Mörser zwischen den Körnern), seine Torheit weicht nicht von ihm" (Spr 27,22). Über sie klagt der Prophet vor dem Herrn: „Du hast sie geschlagen, aber es tut ihnen nicht weh, du hast sie beinah vernichtet, aber sie wollen sich nicht erziehen lassen" (Jer 5,3). Darum spricht der Herr: „Ich habe mein Volk kinderlos gemacht und es dem Untergang geweiht, weil es von seinen schlimmen Wegen nicht umkehren wollte" (Jer 15,7). Ferner: „Das Volk kehrte nicht um zu dem, der es schlug" (Jes 9,12). Darum klagt der Prophet im Namen derer, die das Strafgericht vollzogen: „Wir wollten Babel Heilung bringen, es war aber nicht mehr zu heilen" (Jer 51,9). Trotz der Bemühungen ist Babel nicht mehr zu heilen, weil die Seele im Bösen versunken ist, obwohl sie die Worte der Zurechtweisung hört und die Schläge des Strafgerichtes spürt, es jedoch verschmäht, auf den rechten Weg des Heiles zurückzukehren. Deshalb macht der Herr dem Volk Israel, das sich selbst in der Gefangenschaft nicht von seiner Bosheit abkehrte, den Vorwurf: „Das Haus Israel ist für mich zu Schlacke geworden. Sie alle sind Kupfer und Zinn, Eisen und Blei im Schmelzofen" (Ez 22,18). Damit will er offenbar sagen: Ich wollte sie reinigen im Feuer der Bedrängnis, sie sollten Silber oder Gold werden, aber im Schmelzofen haben sie sich mir zu Erz und Zinn, zu Eisen und Blei umgewandelt; denn sie ließen nicht die Tugend sprossen, im Gegenteil, selbst in der Drangsal brachen ihre Laster auf. Das Erz klingt, wenn es angeschlagen wird, länger nach als die übrigen Metalle. Wer also vom Murmeln zum Lärmen übergeht, wenn er erschüttert wird, der hat sich im Schmelzofen in Erz umgewandelt. Wenn das Zinn kunstfertig verarbeitet wird, erweckt es den trügerischen Schein von Silber. Wer selbst in der Bedrängnis nicht das Laster der Verstellungskunst aufgibt, ist im Schmelzofen zu Zinn geworden. Eines eisernen Werkzeugs bedient sich, wer einem Mitmenschen nach dem Leben trachtet. Als Eisen bleibt im Schmelzofen zurück, wen selbst in der Bedrängnis die böse Lust zum Schädigen nicht verlässt. Das Blei schließlich ist schwerer als die übrigen Metalle. Als Blei im Schmelzofen wird vorgefunden, wen die Sünde so schwergewichtig niederzwingt, dass er selbst in einer bedrängten Lage sich nicht über irdische Begierden erheben kann. Denn es steht geschrieben: "Umsonst die Mühe: Der starke Rost geht im Feuer nicht ab" (Ez 24,12). Wie eine Feuersglut lässt Gott die innere Bedrängnis an uns heranrücken, um in unserem Innern den Rost schlechter Taten auszubrennen. Doch er wird selbst vom Feuer nicht verzehrt, wenn auch ein brennendes Gewissen nicht von Sünden abhält. Darum klagt der Prophet: "Umsonst versucht der Schmelzer zu schmelzen, die Bösen lassen sich nicht ausscheiden" (Jer 6, 29).

Es ist jedoch zu beachten, dass manche, die unter harter Züchtigung unverbesserlich bleiben, sich durch gewinnendes Zureden erweichen lassen. Manchmal kann man solche durch gütige Worte beschwichtigen und von schlechtem Tun abbringen, die durch grausame Härte nicht zu bessern waren. So kommt es öfter vor, dass Kranke durch Behandlung mit lauwarmem Wasser die ursprüngliche Gesundheit wiedererlangen, die das Einnehmen von starken Heilmitteln nicht zu heilen vermochte. Auch manche Wunden lassen sich durch Ölumschläge heilen, wo das Schneiden erfolglos bleibt. Und der harte Diamant nimmt den Schnitt eines eisenfesten Werkzeugs nicht an, doch lindes Bocksblut weicht ihn auf.

14. KAPITEL: Wie Wortkarge und wie Redefreudige zu ermahnen sind

Anders sind allzu Wortkarge und anders Geschwätzige zu ermahnen. Den allzu Wortkargen muss man zu verstehen geben, dass sie sich insgeheim in schlimmere Fehler verfangen, während sie unbedacht andere meiden. Da sie ihre Zunge oft übermäßig zügeln, lassen sie dem Gedankenfluss des Herzens verderblich freien Lauf. Denn die Gedanken geraten im Herzen umso lebhafter in Bewegung, je mehr sie durch unangebrachtes Schweigen gewaltsam eingeengt werden. Und sie schweifen umso sicherer vor jeder Rechenschaft weit und breit umher, weil sie gewiss sein können, dass ein außenstehender Richter sie nicht wahrnehmen kann. Dadurch verfällt die Seele leicht dem Hochmut und hält despektierlich diejenigen, die reden, für Schwächlinge. Während sie den Mund hält, kommt ihr nicht in den Sinn, wie weit sie sich im Hochmut den Lastern öffnet. Die Zunge hält sie zurück, den Geist jedoch lässt sie in Übermut schwelgen. Und während sie der eigenen Schlechtigkeit nicht die geringste Beachtung schenkt, lässt sie sich über alle übrigen aus, dies umso ungezügelter, da es in der Heimlichkeit des eigenen Innern geschieht. Man muss die allzu Verschwiegenen mahnen, dass sie sich mit aller Sorgfalt und Mühe Klarheit darüber verschaffen, wie ihre innere Haltung sein muss, und sie nicht allein daran denken, wie sie sich nach außen geben. Auch müssten sie mehr das Urteil dessen fürchten, der die geheimen Gedanken richtet, als die Menschen, die nach dem Gesagten urteilen. Denn so steht geschrieben: "Mein Sohn, merke auf meinen weisen Rat, neige meiner Einsicht dein Ohr zu, damit du deine Gedanken hütest" (Spr 5, 1f). Denn nichts in uns ist flüchtiger als das Herz. Es sinkt uns immer der Mut, wenn das Herz sich in schlechten Gedanken ergeht. Der Psalmist sagt: „Der Mut hat mich ganz verlassen" (Ps 40,13). Und als er sich wieder gefasst hat, heißt es: „Dein Knecht fand den Mut, so zu dir zu beten" (2 Sam 7,27). Strafft man also seine Gedanken und hütet sie, findet man wieder Mut und fasst das flüchtige Herz.

Wenn die übertrieben Schweigsamen einmal einiges Unrecht erleiden, empfinden sie den Schmerz umso bitterer, je weniger sie darüber sprechen, was sie durchzustehen haben. Würden sie nämlich gelassen darüber sprechen, was ihnen Verdruss bereitet, würde das Kummergefühl schwinden. Denn geschlossene Wunden verursachen größere Schmerzen. Wenn jedoch der Eiter, der den Brand verursacht, ausbricht, vergeht der Schmerz, und man kann sich wieder wohlfühlen. Diejenigen, die mehr, als gut ist, schweigen, sollten also wissen, dass sie die Heftigkeit des Schmerzes, unter dem sie wegen der Verdrießlichkeit leiden, zuspitzen, solange sie über ihren Kummer schweigen. Man belehre sie mit dem Hinweis, wenn sie den Nächsten lieben wie sich selbst, sollten sie denen gegenüber über das Unrecht durchaus nicht schweigen, an denen sie es zu Recht missbilligen. Das gesprochene Wort wird zum Medikament und leistet beiden einen heilsamen Dienst: Beim Lästermaul zähmt es die böse Zunge, dem Beleidigten wird ein Ausweg eröffnet und die Wunde gekühlt.

Diejenigen, denen das üble Verhalten der Mitmenschen zur Last wird, die jedoch das heilende Wort zurückhalten und schweigen, verhalten sich gerade so wie die, welche Krankheiten erkennen, indes den Gebrauch von Heilmitteln heimlich entziehen und so schließlich den Tod dadurch verursachen, dass sie die Heilmittel verweigern, die Heilung bringen konnten. Die Zunge ist mit leichter Hand zu zügeln, man darf ihr keine starre Kandare aufzäumen. Denn es heißt: „Der Weise schweigt bis zur rechten Zeit" (Sir 20,7). Das bedeutet in der Tat, dass er Schweigen und Reden zur Förderung seiner Interessen einsetzt indem er den Bann des Schweigens nicht um jeden Preis hält, sondern das passende Wort spricht, wann immer es ihm gelegen kommt. Steht doch geschrieben: „Für jede Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden (Koh 3,7). Mit Feingefühl sind die Zeitverhältnisse gegeneinander abzuwägen, damit die Zunge sich nicht in einem unzuträglichen Redestrom ergießt, wo es erforderlich ist zu schweigen, und dass sie nicht verdrossen träge dahingleitet, wenn es vorteilhaft sein kann zu reden. Das bedenkt der Psalmist, wenn er spricht: „Herr, stell eine Wache vor meinen Mund, eine Wehr vor das Tor meiner Lippen" (Ps 141,3). Er bittet nicht, dass eine Mauer, sondern ein Tor vor seinen Mund gesetzt wird, das zu öffnen und zu schließen geht. So sollten auch wir in Erfahrung bringen und Vorsorge treffen, inwiefern unser Mund sich zu gegebener Zeit öffnet oder schließt, dass wir entweder taktvoll die Stimme erheben oder entschieden schweigen.

Denjenigen aber, die viel Zeit und Muße für vieles Reden verschwenden, muss man den Hinweis geben, sie sollten doch darauf achten und gewahr werden, wie viel ihnen an Rechtschaffenheit und innerer Verfassung dadurch verloren geht, dass sie sich in vielerlei Gerede ergießen. Die menschliche Seele gleicht in etwa dem Wasser: Eingedämmt sammelt sie sich und strebt nach Höherem, um dorthin zurückzufinden, woher sie abgesunken war. Ungebunden verliert sie sich, indem sie sich nutzlos über die Niederungen ergießt. Sie verliert sich gleichsam in so viele Rinnsale, wie sie den Damm ihres Schweigens durchbricht und sich in unnötigen und sinnlosen Worten ergeht. Sie ist sodann nicht imstande, zur Selbstbesinnung in ihren inneren Bereich zurückzukehren. Durch das viele Reden zerfahren, kommt sie nicht zur Ruhe und sperrt sich von einer tieferen vertrauten Besinnung aus. Sie ist schutzlos und offen für die verletzenden Einbrüche des lauernden Feindes. Darum steht geschrieben: „Eine offene Stadt ohne Mauern ist ein Mann, der seinen Geist beim Reden nicht beherrscht" (Spr 25,28). Weil sie das Schweigen nicht zur Schutzmauer hat, ist die Seele wie eine offene Stadt den Geschossen des Gegners ausgesetzt. Durch ihr Gerede ist sie aus sich selbst ausgebrochen und bietet dem Gegner freie Sicht und offenen Zugang. Er nimmt sie mit umso geringerer Anstrengung ein, als sie zu ihrer eigenen Überwindung durch das viele Gerede gegen sich selbst kämpft. Wenn wir uns nur lässig vor unnützen Worten hüten, verfallen wir bald in solche, die Schaden anrichten; denn vielfach gibt es Abstufungen im Verfall der Seele und eine gewisse Abfolge der Fehltritte, zu denen sie fortgetrieben wird. Es fängt damit an, dass man liebend gern über fremde Angelegenheiten redet. Danach bestichelt man bissig das Leben derer, über die niederträchtig hergezogen wird, und am Ende treibt man das Gerede auf die Spitze und bricht in offene Schmähungen aus. Auf diese Weise werden gereizte Stimmungen erzeugt, entstehen Streitigkeiten, wird glühender Hass entfacht, und aus ist es mit dem Frieden in den Herzen. Treffend drückt es Salomo so aus: „Wer Streit anfängt, entfesselt eine Wasserflut" (Spr 17,14). Eine Wasserflut entfesseln heißt hier, der Zunge im Reden freien Lauf lassen. Im positiven Sinn heißt es weiter: „Tiefe Wasser sind die Worte eines Menschen" (Spr 18,4). Eine Wasserflut entfesselt, wer Urheber von Händeln ist, denn wer seine Zunge nicht zügelt, sprengt die Eintracht. Dem wird entgegengesetzt: „Wer einen Tor zum Schweigen bringt, beruhigt Erbitterung" (Spr 26,10). Dass einer, der der Geschwätzigkeit verfallen ist, Recht und Gerechtigkeit nicht wahren kann, bezeugt der Prophet, der sagt: „Der Verleumder soll nicht bestehen im Land" (Ps 140,12). Und bei Salomo heißt es weiter: „Bei vielem Reden bleibt die Sünde nicht aus" (Spr 10,19). Und bei Jesaja: „Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein" (Jes 32,17). Der Prophet will damit zum Ausdruck bringen, dass der Sinn für Gerechtigkeit verkümmert, wenn man mit unbeherrschtem Reden nicht zurückhält. Darum sagt auch Jakobus: „Wer meint, er diene Gott, aber seine Zunge nicht im Zaum hält, der betrügt sich selbst, und sein Gottesdienst ist wertlos" (Jak 1,26). Ferner sagt er: „Jeder Mensch soll schnell bereit sein zu hören, aber zurückhaltend im Reden" (Jak 1,19). Und um die vernichtende Wirkung zu bezeichnen, sagt er über die Zunge: „Dieses ruhelose Übel, voll von tödlichem Gift" (Jak 3,8). Darum hören wir aus dem Munde der Weisheit: „Über jedes unnütze Wort, das die Menschen reden, werden sie am Tage des Gerichts Rechenschaft ablegen müssen" (Mt 12,36). Unnütz ist ein Wort, das eines vernünftigen Beweggrundes der Billigkeit und Verbindlichkeit oder der Absicht zur frommen Erbauung entbehrt. Wenn schon für unnütze Reden Rechenschaft verlangt wird, sollten wir bedenken, welches Urteil zu erwarten ist über die unzähligen Worte, die Schuld und Sünde bewirken.

15. KAPITEL: Wie Träge und wie Übereifrige zu ermahnen sind

Anders sind Träge, anders Übereifrige zu ermahnen. Jenen muss man dringend zuraten, die guten Taten, die zu vollbringen sie vorhaben, sich durch Aufschieben nicht entgehen zu lassen, diese muss man warnen, dass sie den Wert der guten Taten nicht verkehren, indem sie dem rechten Zeitpunkt zum Handeln durch unbedachte Eile zuvorkommen. Den Trägen hingegen muss man mit Nachdruck zum Bewusstsein bringen, dass wir oft mit dem besten Willen nicht mehr imstande sind, das Gute zu tun, sobald wir dafür den rechten Augenblick verpasst haben. Der träge Geist wird nämlich durch den unbemerkt zunehmenden Stumpfsinn getötet, wenn er nicht von der Sehnsucht nach dem Guten, die zutiefst in der Seele begründet ist, mit der erforderlichen Glut neu belebt und entflammt wird. Bei Salomo heißt es klar und eindeutig: „Faulheit versenkt in Schlaf' (Spr 19,15). Der Träge hat noch das rechte Gespür und ist in diesem Sinn wach, wiewohl er durch die Untätigkeit erschlafft. Doch es heißt, die Faulheit versenkt in Schlaf, weil allmählich auch das rechte Empfinden verloren geht, wenn der Eifer für die guten Werke nachlässt. So heißt es in der zitierten Stelle weiter: „Ein träger Mensch muss hungern" (ebd.). Denn da er sich nicht aufrafft, nach Höherem zu streben, verkommt er innerlich und verflacht in seinen Wünschen; und weil er nicht die belebende Kraft aufbringt, sich zu bezwingen und sein Streben auf das Erhabene auszurichten, laugt ihn der Hunger in niedrigsten Begierden aus. Und je mehr er dies zu verbergen sucht und vorgibt, sich in die Pflicht zu nehmen, desto mehr hungert ihn, und er zergeht im Verlangen und ergibt sich den Gelüsten. So steht es schon bei Salomo geschrieben: „Den Faulen bringt sein Begehren um, den ganzen Tag begehrt er voll Gier" (Spr 21,26). Und die göttliche Wahrheit verkündet: „Wenn ein unreiner Geist einen Menschen verlassen hat, ist das Haus rein, und wenn er es bei seiner Rückkehr leer antrifft, zieht er mit vielen anderen Geistern ein und sie lassen sich nieder" (Mt 12,44f). Der Faule macht sich meistens vor, dass er gar nicht zu Unrecht in seiner müßigen Lebensweise verharrt, denn während er es vernachlässigt, das Erforderliche zu tun, stellt er sich einiges zu schwierig vor, anderes fürchtet er unbedacht, und einiges erfindet er irgendwie, das er dann als berechtigten Grund für seine Furcht vorschützt. Von einem solchen Menschen sagt Salomo: „Der Faule pflügt nicht im Herbst wegen der Kälte; sucht er in der Erntezeit, so ist nichts da" (Spr 20,4). „Der Faule pflügt nicht im Herbst", das heißt, während er aus Faulheit seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, gibt er vor, es wegen Erschöpfung nicht zu können. Aus Angst vor den Folgen der herbstlichen Witterung pflügt der Faule nicht, weil er aus Angst vor vergleichsweise geringen Widrigkeiten es unterlässt, ganz wichtige Obliegenheiten zu erledigen. Treffend heißt es darum: Im Sommer, zur Erntezeit, wird er betteln, aber man gibt ihm nichts. Denn wenn die Sonne am Gerichtstag mit versengender Glut aufstrahlen wird, begehrt derjenige wie einer, der zur Erntezeit kommt, bettelt und nichts erhält, vergebens Einlass in das Himmelreich, weil er es sich jetzt - zu Lebzeiten - keinen Schweiß kosten lässt, um gute Werke zu tun. Auf einen solchen Menschen trifft auch zu, was im Buch Kohelet steht: „Wer ständig nach dem Wind schaut, kommt nicht zum Säen, wer ständig die Wolken betrachtet, kommt nicht zum Ernten" (Koh 11,4). Nichts anderes wird mit Wind bezeichnet als die Versuchungen durch die bösen Geister; und die Wolken, die vom Wind getrieben dahinziehen, bedeuten sie nicht die feindliche Haltung schlechter Menschen? Die Wolken werden vom Wind getrieben, will sagen, böse Menschen werden durch Einflüsterungen unreiner Geister aufgestachelt. Wer also ständig nach dem Wind schaut, kommt nicht zum Säen, und wer ständig die Wolken beobachtet, kommt nicht zum Ernten, denn wer in beständiger Angst vor Versuchungen böser Geister lebt, wer Verfolgungen durch schlechte Menschen befürchtet, der wirft jetzt nicht die Körner guter Taten aus. Er wird dereinst auch nicht die Saat zu Garben schneiden und den verheißenen Lohn ernten.

Die Voreiligen dagegen verderben oft das Verdienst, indem sie die guten Werke vor der dafür günstigen Zeit tun, und geraten oft in Unheil, weil sie keinen Unterschied in den Werten machen. Sie achten in keiner Weise darauf, was sie wann tun sollten, vielmehr erkennen sie erst, nachdem etwas geschehen ist, dass sie es so nicht hätten tun dürfen. Ihnen sagt Salomo treffend, als wären sie seine Zuhörer: „Mein Sohn, tu nichts ohne Rat und Überlegung, dann hast du dir nach der Tat nichts vorzuwerfen" (Sir 32,19). Und an einer anderen Stelle: „Deine Augen sollen geradeaus schauen, und deine Blicke richte nach vom" (Spr 4,25). Der Blick ist nach vorn gerichtet, wenn unserem Tun und Lassen gründliche Überlegungen vorausgehen. Denn wer keinen Wert darauf legt, sein Vorgehen zu überlegen, geht los, schließt die Augen und geht so seines Weges; sein Blick aber geht ihm nicht voraus; er wird dadurch früher oder später stürzen, weil er sein Vorgehen nicht überblickt und nicht darauf achtet, wohin er seine Schritte lenken sollte.

16. KAPITEL: Wie Sanftmütige und wie Jähzornige zu ermahnen sind

Anders muss man Sanftmütige, anders Jähzornige ermahnen. Sanftmütige dulden häufig, wenn sie ein Vorsteheramt erhalten, eine ihrem Wesen naheliegende lähmende Untätigkeit. Für gewöhnlich gewähren sie Milde und Nachgiebigkeit ein allzuweites Spielfeld und lassen über das natürliche Maß hinaus Spannkraft und Aufmerksamkeit erschlaffen. Kommen dagegen Jähzornige in leitende Stellungen, sprengen sie die friedliche Stille und bringen auch das Leben der Untergebenen dadurch in verwirrende Bestürzung, weil sie sich vom Zorn fortreißen lassen und in eine rasende Gemütsverfassung geraten. Wenn sie in blinder Wut überstürzt handeln, wissen sie nicht, was sie im Zorn tun, was sie im Zorn sich selbst an Leid zufügen. Und was noch gravierender ist, nicht selten halten sie ihre stimulierende Gereiztheit zum Zorn für gerechtfertigten Eifer. Hält man aber das Laster für Tugend, häuft man ohne Bedenken Schuld auf Schuld. Geraten die Sanftmütigen oft durch ihre Schwäche in ausartende Gelassenheit, so betrügen sich die Zornmütigen um die Aufrichtigkeit ihres Eifers. Paaren sich bei jenen insgeheim Tugend und Laster, halten diese ihr Laster für glühenden Tugendeifer. Zu mahnen sind jene, dass sie meiden, was ihrem Wesen nahe liegt, diese, dass sie ihr Augenmerk darauf richten, was in ihrem Wesen liegt. Jene, dass sie recht einschätzen, was ihrem Charakter mangelt, diese, was ihr Charakter ist" dass sie auseinanderhalten: gütige Nachsicht und sorglose Nachgiebigkeit; glühenden Eifer und aufbrausenden Zorn. Die Sanftmütigen sollen rege Wachsamkeit schätzen und anstreben, die Jähzornigen sollen das schädliche Aufbrausen entschieden bekämpfen. Die Sanftmütigen sind zu mahnen, dass sie den wahren Eifer eifersüchtig erstreben, die Zornmütigen muss man dringlich auffordern, dass sie den Eifer, den sie für echt halten und eifersüchtig pflegen, der Zähmung unterziehen. Eben darum zeigte sich uns der Heilige Geist in der Gestalt einer Taube und im Feuer, weil er alle, die er erfüllt, entweder in der Arglosigkeit von Tauben sanftmütig oder wie durch Feuer im Eifer entflammt auftreten lässt.

Es ist darum ganz und gar nicht voll des Heiligen Geistes, wer entweder in friedvoller Sanftmut den feurigen Tatendrang preisgibt oder wer im leidenschaftlichen Tatendrang die Sanftmut fahren lässt. Das können wir wohl klarer aufzeigen, wenn wir die Lehrweise des Paulus als Muster aufweisen, der zweien seiner Schüler, die sich nicht in der Kraft der Liebe unterschieden, unterschiedliche Hilfen für die Predigt nahe legt. Den Timotheus mahnt er, indem er sagt: „Weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung" (2 Tim 4,2). Dem Titus gibt er die Mahnung und fordert: „So sollst du mit allem Nachdruck lehren, ermahnen und zurechtweisen" (Tit 2,15). Was will er zum Ausdruck bringen, wenn er die Worte seiner Belehrung so kunstfertig abwägt, indem er dem einen nahe legt, in Vollmacht aufzutreten, dem anderen, in Geduld auszuharren? Will er hier nicht seine Ansicht erkennen lassen, dass Titus in seiner Geisteshaltung zu sanft und Timotheus ein etwas zu feuriger Geist ist? Jenen begeistert er für mehr Eifer und Tatkraft, diesen lenkt er zur Milde in Geduld. Jenem gibt er, was ihm mangelt, diesem entzieht er, was er zuviel hat. Jenen versucht er anzuspornen, diesen hält er mit dem Zügel zurück. Als erfahrener Winzer der Kirche, die zu pflegen er übernommen hat, gießt er die einen Reben, damit sie wachsen, andere, die zu sehr schießen, schneidet er zurück. Andernfalls würden die im Wachstum Zurückbleibenden keine Früchte tragen und die übermäßig Wachsenden die angesetzten Früchte abwerfen.

Ganz anderer Art ist der Zorn, der einen unter dem Schein des Eifers überkommt, als der, der ein leidenschaftliches Gemüt auch ohne gerechten Grund aus der Fassung bringt. Jener ist eine ungeordnete Erregung über das, wozu eine Verpflichtung besteht, dieser entbrennt immer nur über das, wozu kein rechtmäßiger Anlass gegeben ist. Man sollte auch wissen, dass sich diejenigen, die gelegentlich die Geduld verlieren, von denen, die zum Zorn neigen, dadurch unterscheiden, dass die Ersteren Verfügungen von anderen nicht ertragen, die Letzteren dagegen selbst einbringen, was zu tragen ist. Die Zornmütigen lassen auch jene nicht in Ruhe, die ihnen aus dem Wege gehen, finden einen Anlass zu Streitigkeiten und haben Freude an leidenschaftlichen Wortgefechten. Man verhilft ihnen am ehesten zur Besserung, indem man ihnen aus dem Weg geht, solange die Aufwallung des Zorns andauert. In der Erregung verstehen sie gar nicht, was sie zu hören bekommen. Sind sie wieder bei Besinnung, nehmen sie die Ermahnung umso offener an, je mehr sie dadurch beschämt sind, dass man sie so gelassen ertrug. Einem zornberauschten Gemüt erscheint jedes vernünftige Wort verdreht. So schwieg lobenswerterweise Abigajil dem betrunkenen Nabal gegenüber über dessen Schuld. Erst als sein Weinrausch vorüber war, erzählte sie ihm, was vorgefallen war, weshalb sie gleichfalls zu rühmen ist (1 Sam 25,37). Er konnte deshalb das Übel begreifen, das er angerichtet hatte, weil er es nicht im betrunkenen Zustand zu hören bekam.

Wenn jedoch die Zornmütigen anderen so zusetzen, dass man ihnen nicht mehr ausweichen kann, soll man sie nicht offen ausschelten, sondern schonen und in einer Art rücksichtsvoller Behutsamkeit zurechtweisen. Wir machen das uns am besten klar, wenn wir die Geschichte von Abner anführen. Als Asael ihn übereilt und unbesonnen mit der Waffe angriff, heißt es weiter in der Schrift: "Abner sprach zu Asael: Lass von mir ab! Warum soll ich dich zu Boden schlagen? Als Asael sich weigerte, von ihm abzulassen, stieß ihm Abner das stumpfe Ende des Speeres in den Bauch, so dass der Speer hinten wieder herauskam. Asael stürzte zu Boden, und starb auf der Stelle" (2 Sam 2, 22 f). Stellt Asael nicht das Bild all jener dar, die ein heftiger Zorn ergreift und unaufhaltsam ins Verderben stürzt? Bei einem solchen Anfall von Wut muss man ihnen umso vorsichtiger aus dem Wege gehen, je tollwütiger sie werden. Daher heißt es auch, dass Abner, dessen Name in unserer Sprache „Leuchte des Vaters" bedeutet, floh, weil auch die Lehrenden es in ihrer Sprache, in der das göttliche Licht aus der Höhe mitspricht, geschickt umgehen, einem Zürnenden mit Rücksicht darauf, dass dessen Gemüt von schroffen Worten des Zornes verwundet wird, mit pfeilspitzen Worten zu erwidern, so als wollten sie einen Verfolger nicht verwunden. Auch dann, wenn die Erzürnten sich unter keiner Rücksicht beruhigen lassen, vielmehr wie Asael unablässig weiter angreifen, rasen und toben, dürfen diejenigen, die es wagen, die Wütenden zu beschwichtigen, nicht sich selbst im Zorn stark machen, sondern so viel wie möglich an Ruhe aufbringen; sie sollen mit feinem Gespür etwas vorbringen, womit sie auf Umwegen und hartnäckig das Ringen mit dem Erzürnten ausfechten. Darum heißt es, dass Abner, als er sich dem Verfolger stellte, ihn nicht mit der Speerspitze, sondern mit dem abgestumpften Speerende durchbohrte. Mit der Spitze durchbohren hieße, einem entgegentreten und ihn heftig und offen anfahren. Den Spieß umdrehen und mit dem Speerende treffen heißt, mit Ruhe und von verschiedenen Seiten an den Verfolger herangehen, ihn schonen und doch überwinden. Asael aber erlag unmittelbar will sagen, dass die erregten Gemüter unmittelbar davon ablassen, was gerade ihren Zorn erregte, wenn sie sowohl spüren, dass man ihrer schont und sie doch unter dem Eindruck der Ruhe und Gelassenheit in der Tiefe ihres Herzens von den Beweggründen der Gegenreden erreicht werden. So sterben gleichsam ohne Speerstich jene, die von Gelassenheit und sanfter Art des Vorgehens tief getroffen vom ungestümen Angriff ablassen.

17. KAPITEL: Wie Demütige und wie Hochmütige zu ermahnen sind

Anders muss man Demütige, anders Hochmütige ermahnen. Den Demütigen soll man einleuchtend darlegen, welch wahre Würde sie kraft der Hoffnung besitzen. Den Stolzen dagegen muss man wirksam die Besorgnis einprägen, dass irdischer Ruhm ganz nichtig ist und dass er ihnen nicht bleibt, auch wenn sie noch so sehr an ihm hängen. Die Demütigen mögen hören, dass ewig währt, wonach sie verlangen, und dass gar flüchtig ist, was sie verschmähen. Die Hochmütigen sollen hören, dass nichtig ist, was sie so begehrend erstreben, und dass Ewigkeitswert hat, was sie verspielen. Die Demütigen mögen hören, was die ewige Wahrheit lehrt: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden" (Lk 18,14); die Stolzen sollen vernehmen: „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden" (ebd.).

Für die Demütigen steht das Wort: „Demut geht der Ehre voran" (Spr 15,33); für die Stolzen: „Hoffart kommt vor dem Sturz" (Spr 16,18). Die Demütigen mögen hören: „Ich blicke auf den Armen und Zerknirschten und auf den, der zittert vor meinem Wort" (Jes 66,2); die Stolzen sollen vernehmen: „Warum überhebt sich der Mensch aus Staub und Asche?" (Sir 10,9). Die Demütigen mögen hören: „Der Herr schaut auf die Niedrigen"; die Hochmütigen: „Und die Stolzen erkennt er von fern" (Ps 138,6). Die Demütigen mögen hören: „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen" (Mt 20,28); die Stolzen sollen zu hören bekommen: „Ein See der Maßlosigkeit ist die Sünde, aus ihr quillt Unrecht hervor" (Sir 10,13). Die Demütigen mögen hören, dass unser Erlöser „sich erniedrigte und gehorsam war bis zum Tod am Kreuz" (Phil! 2,8); die Stolzen sollen vernehmen, dass von ihrem Oberhaupt geschrieben ist: „König ist er über alle stolzen Tiere" (Ijob 41,26). Des Teufels Überheblichkeit führte zum Unternehmen für unser Verderben, die Erniedrigung Gottes erweist sich als Urgrund für unsere Erlösung. Denn unser Feind, ein Geschöpf unter allen andern, gab sich den Anschein, über alle Geschöpfe erhaben zu sein, unser Erlöser dagegen, dessen Erhabenheit über alles Geschaffene ewig währt, würdigte sich, unter allen gering zu sein.

Man sage also den Demütigen, dass sie zur Ähnlichkeit mit Gott emporsteigen, während sie sich zu Boden fallen lassen; man sage den Stolzen, dass sie als Abbild des abtrünnigen Engels im Boden versinken, während sie sich zur Höhe recken. Kann es folglich einen tieferen Sturz geben als den der Überheblichkeit der Stolzen, die, während sie über sich hinauf streben, in immer weiteren Abstand zur Höhe wahrer Erhöhung fallen? Und was ist dagegen erhabener als die Selbsterniedrigung der Demütigen, die sich mit ihrem Schöpfer, der über den Höhen wohnt, vereinen, während sie sich zutiefst erniedrigen? Es gilt aber noch eines anderen Gesichtspunkts behutsam zu bedenken. Denn es gibt viele Menschen, die sich von einer scheinbaren Demutshaltung täuschen lassen, und andere, die durch die Unkenntnis ihrer stolzen Gesinnung zu Fall kommen. Oft eignet solchen, die sich für demütig halten, eine ängstliche Schüchternheit, die man Menschen gegenüber nicht aufkommen lassen sollte. Die Stolzen dagegen sind im Umgang sehr freizügig in ihren Behauptungen. Gilt es, Fehler zu tadeln, so schweigen jene aus Menschenfurcht, wobei sie glauben, aus Demut zu handeln; diese reden aus stolzer Unduldsamkeit, während sie meinen, freimütig für rechte Ordnung zu sprechen. Jene hält schuldhafte Furchtsamkeit unter dem Vorwand von Demut von der Rüge schlechten Verhaltens ab, diese treibt unter dem Trug von Freimütigkeit ungezügelter Stolz entweder zu unbegründetem oder zu übertriebenem Tadel. Darum muss man die Hochmütigen mahnen, dass sie sich nicht über Gebühr Freiheiten erlauben, und die Demütigen, dass sie sich nicht mehr als angebracht unterwürfig zeigen. Jene sollen ihr Einstehen für die Gerechtigkeit nicht zum Betätigungsfeld ihres Stolzes entarten lassen; diese sollen sich nicht gar zur Würdigung von Lastern bewegen lassen, indem sie sich mehr als zuträglich den Menschen untertänig erweisen wollen.

Es ist jedoch in Betracht zu ziehen, dass eine Zurechtweisung der Hochmütigen schneller und wirksamer zum Erfolg führt, wenn wir das Tadelnswerte an ihnen gewinnend mit Lobeswertem verbinden. Man bringt einige Vorzüge, die sie an sich haben, vor oder man spricht jedenfalls von solchen, die vorhanden sein könnten. Haben erst mal die vorausgeschickten Liebenswürdigkeiten Gefallen geweckt, das Gemüt beschwichtigt und die Bereitschaft zum Anhören gewonnen, können wir sodann darangehen, die üblen Auswüchse, die unser Missfallen erregen, zu beschneiden. Ähnlich streicheln wir auch ungebändigte Pferde mit liebkosender Hand, um sie uns daraufhin selbst durch Peitschenschläge gefügiger zu machen. Man tut ja auch etwas süßen Honig in den Becher mit einer bitteren Arznei, damit man beim Einnehmen des heilenden Trankes die Bitterkeit nicht so stark verkostet. Während so der Geschmackssinn durch das Süße getäuscht wird, wird durch die bittere Arznei der tödliche Schleim aus dem Körper entfernt. So ist es bei den Hochmütigen angebracht, den Tadel mit begütigenden Worten des Lobes zu beginnen, damit sie mit dem Lob, das sie sich liebend gern gefallen lassen, auch die Zurechtweisung annehmen, die sie nicht mögen.

Oft können wir die Hochmütigen besser zu Nutzbringendem bewegen, wenn wir die Angelegenheit so vortragen, als wenn sie mit ihrem Erfolg eher uns als sich selbst einen Dienst erweisen, als wenn wir also ihre Besserung mehr als Aufwand für uns als für sie fordern. Leicht lässt sich nämlich der Hochmut auf etwas Gutes lenken, wenn er glaubt, dass diese Zuwendung zum Guten auch anderen zum Nutzen gereicht. Als zum Beispiel Mose auf dem Wege durch die Wüste, wo Gott ihn lenkte und die Wolkensäule den Weg wies, seinen Schwager Hobab dem heidnischen

Umgang entführen und der Herrschaft des allmächtigen Gottes unterwerfen wollte, sprach er: „Wir brechen auf zu dem Ort, von dem der Herr gesagt hat: Ihn gebe ich euch. Geh mit uns! Wir werden dir Gutes tun; denn der Herr hat zugesagt, Israel Gutes zu tun. Hobab erwiderte ihm: Ich gehe nicht mit, sondern ich gehe in mein Land und zu meiner Verwandtschaft zurück. Da sagte Mose: Verlass uns doch nicht! Denn du kennst die Orte in der Wüste, an denen wir unser Lager aufschlagen können; du kannst unser Auge sein" (Nurn 10,29ft). Mose war nicht etwa in ängstlicher Verlegenheit wegen der Unkenntnis des Weges. Denn die göttliche Weisheit erweiterte sein Wissen in prophetischer Schau. Des weiteren ging die Wolkensäule sichtbar vor ihm her, und schließlich setzte ihn bei seinem pfleglichen Umgang mit Gott eine vertraute innere Stimme über alles in Kenntnis. Er sprach wohlwissend mit einem stolzen Mann und erbat vorsorglich Beistand, um selbst einen solchen bieten zu können. Er bat ihn, Führer zu sein auf dem Weg durch die Wüste, damit er ihm selbst Führer werden konnte für das Leben. Es war ihm also daran gelegen, den stolzen Mann anzusprechen und ihm die Überzeugung zu geben, unentbehrlich zu sein, um ihn dadurch um so geneigter zu machen für sein Wort, das ihm zu Höherem raten wollte. Er sollte glauben, seinen Aufforderer durch seine Stellung zu überragen. Das wurde zum Ausgangspunkt dafür, dass er sich dessen Worten fügte.

18. KAPITEL: Wie man Hartnäckige und wie man Wankelmütige ermahnt

Anders muss man Hartnäckige, anders Wankelmütige ermahnen. Jenen muss man sagen, dass sie sich für mehr halten, als sie sind, und dass sie deshalb nicht auf die Ansichten anderer eingehen; diesen aber muss man beibringen, dass sie die Selbstachtung gar sehr vernachlässigen und darum ihr Urteil nach oberflächlicher Überlegung den Zeitumständen anpassen. Jenen ist zu sagen, dass sie keineswegs die Ratschläge aller anderen ihrer eigenen Meinung zurücksetzen würden, wenn sie sich nicht für besser als die übrigen hielten; diesen aber muss man sagen, dass sie der Wind nicht nach allen nur möglichen Richtungen drehen würde, wenn sie dem, was sie sind, nur einige Achtung beimessen würden. Jenen sagt Paulus: „Haltet euch nicht selbst für weise" (Röm 12,16). Zu diesen dagegen sagt er: „Wir wollen nicht ein Spiel der Wellen sein, hin und her getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen" (Eph 4,14). Über jene sagt Salomo: „Sollen sie nun essen von der Frucht ihres Tuns und von ihren Plänen sich sättigen" (Spr 1,31). Über diese schreibt er: „Das Herz der Toren ist unstet" (ebd. 15,7). Das Herz der Weisen bleibt nämlich stets sich selbst gleich, weil es auf rechte Überzeugungen eingeht und stetig auf das Gute ausgerichtet ist. Das Herz der Toren dagegen ist unstet, weil es sich je nach veränderter Lage bald so und bald anders zeigt und niemals bleibt, was es gewesen ist. Weil nun manche Laster in anderen Lastern ihren Ursprung haben, so zeugen auch sie wieder welche. Wollen wir sie durch unsere Zurechtweisung gründlich trockenlegen müssen wir sehr darauf bedacht sein, ihre widerliche Quelle selbst auszutrocknen. Die Hartnäckigkeit hat ihren Urgrund im Stolz, der Wankelmut hingegen in der Leichtfertigkeit. Die Hartnäckigen muss man deshalb eindringlich mahnen; dass sie sich ihr hoffärtiges Gebaren eingestehen und mehr Selbstüberwindung üben. Sie sollen erkennen, dass sie innerlich Gefangene ihres Stolzes bleiben, falls sie es nach außen hin verächtlich abweisen, sich aufrichtigen Ratschlägen anderer zu unterwerfen. Sie möchten mit bereitem Sinn zum Menschensohn aufblicken, der stets eins ist mit dem Willen des Vaters. Um uns ein Beispiel zu geben, dass auch wir unseren eigenen Willen willig machen, sagt er: „Es geht mir nicht um meinen Willen, sondern um den Willen dessen, der mich gesandt hat" (Joh 5,30). Und um uns das Wohlgefallen an dieser Tugend empfehlend Nahezulegen, sagte er noch zuvor, dass er sich auch beim Jüngsten Gericht daran halten werde, indem er sprach: „Von mir selbst aus kann ich nichts tun, ich richte, wie ich es (vom Vater) höre" (ebd.). Wie kann es also der Mensch mit seinem Gewissen vereinbaren, das Eingehen auf einen fremden Willen als unter seiner Würde abzuweisen, wenn der Gottes- und Menschensohn bezeugt, dass er nicht aus sich selbst richten werde, wenn er in Macht und Herrlichkeit kommt?

Die Unbeständigen muss man dagegen ermuntern, ihren Sinn durch größere Ernsthaftigkeit zu festigen. Denn nur dann können die Keime des Wankelmutes verdorren, wenn zuvor die Wurzel der Leichtfertigkeit aus dem Herzen ausgeschnitten ist. Denn auch ein Gebäude wird nur dort standfest errichtet, wo man zuvor einen tragfähigen Standort für die Fundamentlegung ausgesucht hat.

Daher wird man auch die Unbeständigkeit im Denken nie recht überwinden, wenn man sich nicht zuvor vor dem Leichtsinn vorsieht. Paulus versichert, dass ihm die Art solcher Menschen fremd ist; er sagt nämlich: „War dieser Entschluss etwa leichtsinnig? Plane ich, wie manche Menschen planen, so dass mein Ja auch ein Nein sein kann?" (2 Kor 1,17) Er will damit offenbar sagen, weil ich nicht dem Fehler des Leichtsinns unterliege, lasse ich mich auch nicht vom Wind der Unbeständigkeit hin und her treiben.

19. KAPITEL: Wie Unbeherrschte und wie Maßhaltende im Genuss von Speisen zu mahnen sind

Anders muss man Genusssüchtige, anders Maßhaltende ermahnen. Denn bei jenen ist überflüssiges Gerede, leichtsinniges Handeln und Ausschweifung im Gefolge, bei diesen dagegen oft Ungeduld, oft auch die Sünde des Stolzes. Wenn die Schwelger nicht ungezügelte Geschwätzigkeit mitrisse, so würde nicht jener Reiche, von dem es heißt, dass er täglich glänzende Mahlzeiten gehalten habe, an der Zunge besonders heftige Feuerqualen leiden müssen. Er rief: „Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir, und schicke Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer" (Lk 16,24). Aus diesen Worten geht hervor, dass er bei seinen täglichen Gelagen häufig mit der Zunge sündigte, da er, obwohl am ganzen Körper brennend, doch vor allem für die Zunge Erfrischung erbat. Und dass zwischen genusssüchtiger Schwelgerei und leichtsinnigem Tun eine nahe Beziehung besteht, bezeugt die Autorität der Heiligen Schrift, wo es heißt: „Das Volk setzte sich zum Essen und Trinken und stand auf, um sich zu vergnügen" (Ex 32,6). Oft weckt die Gefräßigkeit wollüstige Begierden. Der Bauch wird durch die Übersättigung überspannt und der Stachel der Begierlichkeit entfacht. Daher sagte Gottes Stimme dem hinterlistigen Widersacher, der im ersten Menschen den Sinn im Begehren nach der Frucht des Baumes öffnete und ihn in der Seilschlinge der Sünde einfing: „Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen" (Gen 3,14). Das will offenbar heißen: Durch die Einflüsterung von Gedanken und durch Verführung zur Völlerei wirst du über die menschlichen Herzen herrschen. Dass der Schwelgerei die Wollust auf dem Fuße folgt, bezeugt auch der Prophet, der in einem offenen Bericht einen verborgenen Sinn andeutet, wo er schreibt: „Der Oberste der Köche zerstörte die Mauern Jerusalems" (2 Kön 25,10). Der Oberste der Köche ist nämlich der Bauch, dem die Köche mit viel Sorge dienen, auf dass er sich mit köstlichen Speisen anfülle. Die Mauern Jerusalems aber sind die Tugenden einer Seele, die sich im Verlangen nach dem himmlischen Frieden erhoben hat. Der Oberste der Köche also reißt die Mauern Jerusalems nieder, d. h., wenn der Leib in Schwelgerei sich anfüllt, werden die Tugenden der Seele durch Wollust zugrunde gerichtet.

Wenn hingegen die Unduldsamkeit nicht häufig die Seelen der Enthaltsamen aus der verhaltenen Ruhe aus der Fassung treiben würde, so hätte Petrus seinem Worte: „Setzt allen Eifer daran, mit eurem Glauben die Tugend zu verbinden, mit der Tugend die Erkenntnis, mit der Erkenntnis die Selbstbeherrschung", nicht sogleich mit Bedacht das andere beigefügt: „in der Selbstbeherrschung die Ausdauer" (2 Petr 1,Sf). Er setzte voraus, dass die Enthaltsamen keine Ausdauer haben, und mahnte sie, sich darin zu üben.. Würden ferner die Gedanken der Enthaltsamen nicht bisweilen von der Sünde des Stolzes angesteckt, hätte Paulus nicht gesagt: „Wer kein Fleisch isst, richte den nicht, der isst" (Röm 14,3). Und als er in einer anderen Gemeinde predigte, kam er auch auf die Satzungen solcher zu sprechen, die sich der Tugend der Enthaltsamkeit rühmten, und fügte hinzu: „Man sagt zwar, in ihnen liege Weisheit, es sei ein besonderer Kult, ein Zeichen von Demut, seinen Körper zu kasteien. Doch es bringt keine Ehre ein, sondern befriedigt nur die irdische Eitelkeit" (Kai 2,23). Hierbei ist beachtenswert, dass der hervorragende Prediger in seiner Ansprache Kult und Zeichen der Demut miteinander in Verbindung bringt. Wird nämlich der Körper durch übertriebene Enthaltung ausgemergelt, so wird dadurch die Demut nach außen zur Schau gestellt und gerade durch diese Art von Demut der heimliche Stolz hochgezüchtet. Und in der Tat, würde der Geist sich nicht zuweilen wegen der Übung der Enthaltsamkeit aufblähen, hätte sie wohl nicht der arrogante Pharisäer geflissentlich unter seinen Verdiensten aufgezählt, wo er sagt: „Ich faste zweimal in der Woche" (Lk 18,12). Die der Essgier Verfallenen muss man deshalb warnen, dass sie sich mit scharfer Gier umbringen, während sie sich dem Genuss der Speisen hingeben. Man möge ihnen auch vor Augen führen, wie viele Möglichkeiten zu allerlei Gerede und zu allerlei leichtsinnigem Getue ihnen auflauern, damit sie sich nicht in den grausamen Schlingen der Laster verfangen, während sie der zarten Verwöhnung des Leibes frönen. Man entfernt sich nämlich immer weiter vom zweiten Stammvater, jedes Mal mehr, so oft die Hand zum unbeherrschten Genuss nach der Speise auslangt und so den Fall des ersten Stammvaters wiederholt.

Die Enthaltsamen dagegen sind aufzufordern, dass sie beständig und mit Sorge darauf bedacht sein mögen, dass nicht gleichsam aus der Tugend heraus, während sie das Laster der Genusssucht fliehen, viel verderblichere Laster entspringen, dass sie nicht etwa in der Unbeherrschtheit des Geistes ausbrechen, während sie den Leib zermürben. Nicht die Spur von Tugend wäre es, wenn zwar das Fleisch beherrscht, der Geist aber vom Zorn überwältigt wird. Bisweilen kommt es bei den Enthaltsamen auch vor, dass die Seele, während sie den Zornesausbruch niederhält, von einer ihr fremden Heiterkeit überkommen und entstellt wird, die das Verdienst der Enthaltsamkeit in dem Grade verdirbt, wie sich die Seele nicht von Sünden des Geistes freihält. Deshalb heißt es zu Recht beim Propheten: „An euren Fasttagen macht ihr eure Absicht kund" (Jes 58,3 gemäß LXX). Und kurz danach: „Obwohl ihr fastet, gibt es Streit und Zank, und ihr schlagt zu mit roher Gewalt" (ebd. 58,4). Die Absicht bezieht sich auf die ausgelassene Heiterkeit, die rohe Gewalt auf den Zorn. Nutzlos wird der Leib durch Enthaltung zermürbt, wenn die Seele dem freien Spiel ungeordneter Regungen überlassen und von Lastern zersetzt wird. Man muss sie auch ermahnen, dass sie einerseits ihre Mäßigung ohne Abstriche beständig einhalten und andererseits diese vor dem verborgenen Richter keineswegs für eine außerordentliche Tugend halten, damit sich ihr Herz nicht im Vertrauen auf große Verdienste im Stolz erhebe. Darum heißt es beim Propheten: „Ist das ein Fasten, wie ich es liebe?" (Jes 58,5). Vielmehr dieses: „Teile an die Hungrigen dein Brot und die obdachlosen Armen nimm in dein Haus auf' (ebd. 58,7).

In dieser Hinsicht ist noch zu bedenken, wie gering die Tugend der Enthaltsamkeit eingeschätzt wird, wird sie doch nur in Verbindung mit anderen Tugenden empfohlen. So heißt es bei Joel: „Ordnet ein heiliges Fasten an" (JoeI2,15). Ein heiliges Fasten anordnen heißt: das leibliche Fasten durch Verbindung mit anderen guten Werken Gottes würdig erweisen. Man muss demnach die Enthaltsamen zu der Einsicht führen, dass ihr Fasten nur dann ein Opfer ist, wie Gott es liebt, wenn sie das, was sie sich an Speise entziehen, den Armen schenken. Man muss mit feinem Ohr hinhören, was der Herr Lügen straft, wenn er durch den Propheten sagen lässt: „Ihr habt gefastet und Klage abgehalten im fünften und im siebenten Monat, und das siebzig Jahre lang - aber bin ich es, für den ihr so streng gefastet habt? Und wenn ihr esst und trinkt, esst ihr dann nicht für euch, und trinkt ihr nicht für euch?" (Sach 7,5f). Denn nicht für Gott, sondern für sich selbst fastet jeder, der das, was er zeitweise dem Leibe entzieht, nicht den Armen zuweist, sondern es aufbewahrt, um es bald darauf seinem Magen zum Genuss anzubieten.

Damit weder die Gaumenlust die einen aus der seelischen Fassung bringt, noch das bedrängte Fleisch den anderen zur Fußangel des Stolzes wird, sollen zunächst die Genusssüchtigen hören, was die ewige Wahrheit sagt: „Nehmt euch in acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euch nicht verwirren" (Lk 21,34). Auch wird eine heilsame Furcht angesprochen, wenn es dort weiter heißt: „Und dass jener Tag euch nicht plötzlich überrascht, (so) wie (man in) eine Falle (gerät); denn er wird über alle Bewohner der ganzen Erde hereinbrechen" (ebd.21,35). Und die Enthaltsamen sollen hören und begreifen: „Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Munde des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein" (Mt 15,11). Die Genusssüchtigen sollen hören: „Die Speisen sind für den Bauch da und der Bauch für die Speisen; Gott wird beide vernichten" (1 Kor 6,13). Und wiederum: „Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken“, (Röm 13,13). Und: „Keine Speise ist eine Empfehlung für uns vor Gottes Gericht" (1 Kor 8,8). Die Enthaltsamen mögen vernehmen: „Für die Reinen ist alles rein, für die Unreinen und Ungläubigen aber ist nichts rein“ (Tit 1,15 ) Die Unmäßigen sollen hören: „Ihr Gott ist der Bauch, ihr Ruhm besteht in ihrer Schande" (Phi13,19). Und die Enthaltung üben, mögen hören: „Manche werden vom Glauben abfallen", und einige Zeilen weiter“ „Sie verbieten die Heirat und fordern den Verzicht auf bestimmte Speisen, die Gott doch dazu geschaffen hat, dass die die zum Glauben und zur Erkenntnis gelangt sind, sie mit Danksagung zu sich nehmen“ (1 Tim 4, 1.3). Den Genusssüchtigen wird der Rat gegeben: „Es ist nicht gut, Fleisch zu essen oder Wein zu trinken, wenn dein Bruder daran Anstoß nimmt!“ (Röm 14, 21) Den Enthaltsamen kann man sagen: „Trink nicht nur Wasser, sondern nimm auch etwas Wein, mit Rücksicht auf deinen Magen und deine häufigen Krankheiten“ ( 1 Tim 5, 23). Die einen mögen lernen, nicht zügellos nach leiblichen Speisen zu begehren, die andern sich nicht zu erdreisten, Gottes Gabe, die sie nicht begehren, zu verdammen.

20. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die Eigenes teilen, und wie diejenigen, die fremdes Gut an sich raffen

Anders sind diejenigen zu ermahnen, die bereits ihre Habe in Werken der Barmherzigkeit teilen, anders wiederum diejenigen, die noch darauf aus sind, fremdes Gut zusammenzuraffen. Diejenigen, die ohnehin schon teilnahmsvoll von ihrem Besitz Gaben spenden, sind zu ermahnen, dass sie sich nicht in erhabenen Gedanken über die erheben, die sie mit materiellen Gütern bedenken, und dass sie sich nicht deshalb für besser erachten in dem Bewusstsein, dass andere durch sie ihren Unterhalt erhalten. Denn in einem herrschaftlichen Landhaus teilt der Hausherr den Bediensteten Rang und Dienste zu, wobei er die einen zu Vorstehern, andere zu deren Untergebenen bestellt. Jene weist er an, den übrigen das Notwendige zukommen zu lassen, diese, die Gaben von anderen entgegenzunehmen. Es kommt jedoch häufig vor, dass die Vorsteher Unwillen erregen, während die Untergebenen in der Gunst des Hausvaters bleiben. Die Verwalter ziehen sich wütige Ausbrüche zu, während diejenigen ohne Verdruss bleiben, die ihren Unterhalt von anderen beziehen. Man verweise die barmherzigen Spender eigener Gaben darauf hin, dass sie sich als solche betrachten, die vom himmlischen Herrn zu Verwaltern über zeitliche Güter bestellt sind: Darum sollen sie umso dienstbeflissener austeilen, je mehr sie sich als Ausspender im Grunde fremden Gutes verstehen. Der Gedanke, dass sie zum Dienst an denen bestellt sind, denen sie von dem mitteilen, was sie selbst empfangen haben, möge nicht blasierte Überheblichkeit in ihrer Gesinnung aufkommen lassen. Vielmehr soll Ehrfurcht sie demutsvoll halten. Aus diesem Grunde möchten sie sorgfältig darauf bedacht sein, dass sie das ihnen anvertraute Gut nicht ungehörig verteilen, nicht denen etwas geben, denen sie nichts geben sollten, oder denen nichts, denen sie etwas geben sollten, dass sie vieles, wo sie wenig, und wenig, wo sie vieles geben sollten, dass sie nicht sinnlos ohne Überlegung die Gaben vergeuden, nicht durch Verzögerung die Bittenden quälen und peinigen. Sie sollen ferner bedacht sein, dass sich dabei nicht die Absicht, Gefälligkeiten zu erhalten, einschleicht, dass nicht der Glanz des Geschenkes durch das Begehren nach vergänglichen Ehrungen erlischt, dass nicht ein mürrischer Blick die dargebotene Gabe begleitet und in Beschlag nimmt und dass das Gemüt sich nicht über Gebühr über die erwiesene Wohltat erheitert. Und wenn sie alles recht getan haben, mögen sie nichts sich selbst zuschreiben, damit sie nicht alles, sowie sie es vollbracht haben, zugleich auch verlieren. Damit sie nicht ihre Freigebigkeit als eigene Tugend erachten, sollen sie hören, was geschrieben steht: „Wer dient, der diene aus der Kraft, die Gott verleiht" (1 Petr 4,11). Damit sie sich nicht übermäßig über ihre guten Werke freuen, sollen sie das Wort der Schrift vernehmen: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven, wir haben nur unsere Schuldigkeit getan" (Lk 17,10). Dass nicht Verdrossenheit ihre Freigebigkeit entweihe, ermuntere sie das Schriftwort: „Gott liebt einen fröhlichen Geber" (2 Kor 9,7). Für den Aufwand an Spenden vergängliches Lob zu ernten, davor bewahre sie das Wort: „Deine linke Hand soll nicht wissen, was die rechte tut" (Mt 6, 3).

Das heißt: Dem gottgeweihten Dienst sei kein Verlangen nach Ehrung im gegenwärtigen Leben verbunden, vielmehr sei die Sucht nach Anerkennung dem Werk der Gerechtigkeit fremd. Damit sie für eine erwiesene Wohltat keine wechselseitige Vergeltung erwarten, sei ihnen die Schriftstelle gegenwärtig: „Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein, sonst laden auch sie dich ein, und damit ist dir wieder alles vergolten. Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht vergelten" (Lk 14,12ff). Damit sie nicht da, wo es darauf ankommt, schnell zu helfen, mit ihrer Gabe zu spät kommen, sollen sie das Schriftwort vernehmen: „Wenn du jetzt etwas hast, sag nicht zu deinem Nächsten: Geh, komm wieder, morgen will ich dir etwas geben" (Spr 3,28). Auf dass sie nicht sinnlos unter dem Vorwand der Freigebigkeit ihre Habe vergeuden, sollen sie hören, was geschrieben steht: „Es schwitze das Almosen in deiner Hand." Auf dass sie nicht Weniges geben, wo Vieles zu geben dringend nötig wäre, legt ihnen das Schriftwort nahe: „Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten" (2 Kor 9,6). Einige geben sehr reichlich, wo weniges angebracht wäre, und wenn sie dann selbst in Not geraten, können sie Mangel nicht ertragen und werden ungehalten. Sie mögen die Schrift beherzigen, wo es heißt: „Es geht nicht darum, dass ihr in Not geratet, indem ihr anderen helft, es geht um einen Ausgleich. Im Augenblick soll euer Überfluss ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluss einmal eurem Mangel abhilft" (2 Kor 8,13f). Denn wenn der Geber sich vieles entzieht, ohne gelernt zu haben, Mangel zu leiden, erfährt er bei dieser Gelegenheit die eigene Unfähigkeit, Entbehrungen auf sich zu nehmen. Man muss zuvor den Willen zur Genügsamkeit zurüsten, ehe man vieles oder alles freigebig verschenkt. Denn wenn man die eingetretene Not mit wenig Gelassenheit trägt, verliert man nicht nur den Lohn für die geübte Freigebigkeit, sondern macht sich noch durch das nachträgliche Murren hoffnungslos unglücklich. Dass man diejenigen nicht ohne jede Gabe gehen lasse, denen man wenigstens eine Kleinigkeit geben sollte, lehrt die Schrift mit der Weisung: „Gib jedem, der dich bittet" (Lk 6,30). Dass man aber denen, welchen man überhaupt nichts geben soll, auch nicht eine Kleinigkeit zukommen lassen soll, erhellt die Schriftstelle: „Gib den Guten, nicht aber dem Bösen, unterstütze den Demütigen, gib nicht dem Hochmütigen!" (Sir 12,4). Und woanders heißt es: „Spende dein Brot beim Begräbnis der Gerechten, gib es nicht den Sündern" (Tob 4,17). Sein Brot gibt den Sündern, wer die Ungerechten unterstützt, weil sie Ungerechte sind. So fördern manche Reichen dieser Welt mit verschwenderischer Freigebigkeit Schauspieler, während sie die Armen Christi Hunger leiden lassen. Wer jedoch auch dem bedürftigen Sünder sein Brot gibt, nicht weil er ein Sünder, sondern weil er ein Mensch ist, der fördert nicht den Sünder, sondern den gerechten Armen. Denn er liebt an ihm nicht die Sünde, sondern sein Menschsein.

Diejenigen, die bereits Werke der Barmherzigkeit aus eigenen Mitteln üben, muss man auch darüber belehren, ernsthaft darum besorgt zu sein, dass sie sich nicht, während sie durch Almosen begangene Sünden ablösen wollen, dabei neuer schuldig machen, die wiederum des Loskaufs bedürften. Sie sollen nicht etwa die Gerechtigkeit Gottes für käuflich halten und zu der willkürlichen Meinung kommen, dass sie ungestreift sündigen könnten, wenn sie nur vorsorglich Geldmünzen für ihre Sünden austeilen. Denn „das Leben ist wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung" (Lk 12,23). Wer demnach Speise gibt oder Bekleidung, die Seele jedoch oder den Leib durch Bosheit besudelt, opfert der Gerechtigkeit das Minderwertige, das Wertvolle aber der Sünde. Seine Habe gibt er Gott, sich selbst gibt er dem Teufel.

Die anderen dagegen, die immer noch ihre raubgierigen Finger nach fremdem Besitz ausgreifen lassen, lehre man ernsthaft die Worte beherzigen, die der Richter beim kommenden Gericht sprechen wird: „Ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht" (Mt 25,42t). Das Urteil verkündet er bereits im voraus: „Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bereitet ist« (Mt 25,41). Man beachte: Sie bekommen nichts dergleichen zu hören, weder dass sie Raub oder andere Arten von Gewalttätigkeit begangen haben, und dennoch werden sie dem ewigen Feuer der Hölle übergeben. Wenn also schon diejenigen, die ungebührlich das Ihrige umklammert hielten, von so harter Strafe getroffen werden, muss man daraus folgern, mit welch schwerem Strafurteil die belegt werden, die fremdes Hab und Gut rauben. Solche Menschen sollen gründlich bedenken, wie schwer sie das geraubte Gut belastet, wenn schon die Vorenthaltung eigenen Besitzes solcher Strafe unterliegt. Sie sollen reichlich erwägen, wie straf würdig zugefügtes Unrecht ist, wenn schon eine nicht erwiesene Liebestat so schwere Strafe nach sich zieht.

Wenn sie auf Raub fremden Gutes ausgehen, sollen sie das Schriftwort hören: „Weh dem, der zusammenrafft, was nicht ihm gehört, und sich hohe Pfänder geben lässt. Wie lange wird er es noch treiben?" (Hab 2,6). Das trifft für den Geldgierigen zu, der sich hohe Pfänder geben lässt und so seine irdischen Geschäfte mit steigendem Gewicht der Sünde belastet. Menschen, die auf weitem Gelände Haus an Haus, Wohnung an Wohnung zu errichten bestrebt sind, gilt das Wort der Schrift: „Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht, und Feld an Feld fügt, bis kein Platz mehr da ist, und ihr allein im Land ansässig seid" (Jes 5,8). Der Prophet will offensichtlich sagen: Wie weit wollt ihr euch eigentlich noch ausbreiten, wenn ihr keine Nachbarn auf der Welt, die doch allen gemeinsam ist, dulden könnt? Eure Nachbarn bringt ihr in Bedrängnis und findet immer solche, gegen die ihr euch durchsetzen könnt, um euren Besitz auszudehnen. Und denen, die nach immer mehr Geld japsen, sei das Wort der Schrift gesagt: „Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug; wer den Luxus liebt, wird keinen Nutzen daraus ziehen. Er könnte allerdings Nutzen aus seinem Reichtum haben, wenn er davon großzügig austeilte, anstatt in ihn verliebt zu sein. Er wird ihn jedoch ohne jeden Gewinn hinterlassen, wenn er ihn in seiner Vernarrtheit zurückhält.

Von denen, die in einer flammenden Gier zugleich alle Reichtümer aufhäufen möchten, heißt es in der Schrift: „Wer hortet, um sich zu bereichern, bleibt nicht ungestraft" (Spr 28, 20). Und in der Tat, wer nur den Ehrgeiz hat, sein Vermögen zu mehren, dem liegt nicht gerade daran, die Sünde zu meiden. Wie ein Vogel wird er eingefangen, gierig nach irdischen Gütern, stiert er auf die Lockspeise und übersieht den Fallstrick der Sünde, mit dem er erdrosselt wird. Wenn die Menschen jeglichen Gewinn der gegenwärtigen Welt erstreben und nicht um den Schaden wissen, den sie in der künftigen erleiden werden, lege man ihnen das Schriftwort nahe: „Ein Besitz, schnell errafft am Anfang, ist nicht gesegnet an seinem Ende" (Spr 20,21). In diesem Leben leiten wir den Anfang ein, auf dass wir im künftigen zum Erbteil der Gesegneten gelangen. Die es eilig haben, um schon im Anfang das Erbe zu erhalten, schließen sich am Ende vom Segen des Erbes aus. Weil sie in Gier nur darauf ausgehen, in lasterhafter Habsucht ihr Vermögen zu vervielfachen, werden sie zu Enterbten an den ewigen Gütern. Mag es in den meisten Fällen beim Begehren bleiben oder mögen sie alles erreichen, was sie begehren, ihnen gilt das Wort: „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?" (Mt 16,26). Damit will offenbar die ewige Wahrheit sagen: Was nützt es einem Menschen, wenn er alles, was äußerlich ist, zusammenscharrt, aber das einbüßt, was ihn selbst ausmacht.

Vielfach kann man schneller der Raffgier der Habsüchtigen beikommen, wenn man ihnen aufzeigt, wie flüchtig das gegenwärtige Leben ist. Man lenke ihre Aufmerksamkeit auf solche Menschen, die lange Zeit ihres Lebens damit verbrachten, um reich zu werden, die aber nicht viel Zeit hatten, im Genuss ihrer erworbenen Reichtümer zu bleiben, weil ein früher Tod ihnen unerwartet und auf einmal entriss, was sie in sündhafter Weise angesammelt haben. Sie mussten nicht nur ihr Raubgut hier zurücklassen, sondern obendrein auch die Anklage auf Raub zum Gericht über sich mitnehmen. Wenn sie Beispiele von solchen Menschen hören, werden sie ohne Zweifel deren Verhalten auch selbst mit eigenen Worten missbilligen. Und wenn sie sich später wieder auf ihre Worte besinnen, mag das bewirken, dass sie künftig wenigstens schamvoll erröten, dass sie es denen gleichmachen, die sie verurteilen.

21. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die zwar kein fremdes Gut begehren, jedoch das ihrige für sich behalten, und wie diejenigen, die vom ihrigen weggeben, fremdes jedoch rauben

Anderes sind zu behandeln, die weder fremdes Gut begehren, noch freigebig mit ihrem Besitz umgehen; anders wiederum diejenigen, die zwar das ihrige mit anderen teilen, aber dennoch nicht davon abstehen, fremdes Eigentum wegzunehmen. Diejenigen, die zwar fremdes Gut nicht begehren, aber auch nicht freigebig mit dem ihrigen umgehen, belehre man dahin, dass ihnen klar bewusst wird, dass die Erde, aus der sie gebildet sind, ein gemeinsames Gut aller Menschen ist und darum ihre Früchte zur täglichen Nahrung aller hervorbringt. Deshalb halten sie sich zu unrecht für rechtschaffen, wenn sie die gemeinsame Gabe Gottes für sich allein beanspruchen. Sie trampeln auf dem Tod ihrer Mitmenschen herum, da sie Empfangenes nicht teilen. Denn tagtäglich treiben sie so viele in den Hungertod, wie Arme dahinsterben, deren Unterhalt sie in ihren Speichern verwahren und zurückhalten. Was immer wir den Bedürftigen an Lebensnotwendigem zur Verfügung stellen, es ist nicht unsere freigebige Spende. Wir lassen ihnen nur zukommen, was ihnen gebührt. Wir lösen damit vielmehr eine Schuld der Gerechtigkeit ein, als dass wir den Werken der Barmherzigkeit nachkommen. So mahnte die ewige Wahrheit selbst zur Behutsamkeit bei der Übung der Barmherzigkeit, als sie sprach: „Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen" (Mt 6,1). Diesem Spruch pflichtet auch der Psalmist bei, wenn er sagt: „Reichlich gibt er den Armen, seine Gerechtigkeit hat Bestand für immer" (Ps 112,9). Wo er zunächst vom reichlichen Geben an die Armen spricht, nennt er es nicht Barmherzigkeit; er gibt vielmehr der Gerechtigkeit den Vorzug. Weil alles von dem einen allen gemeinsamen Herrn gewährt wird, ist es in der Tat gerecht, dass alle Empfangenden das Empfangene gemeinschaftlich nutzen. Es heißt auch bei Salomo: „Der Gerechte gibt, ohne zu geizen" (Spr 21,26). Man muss sie auch eindringlich darauf verweisen, dass der umsichtige Grundbesitzer angesichts des Feigenbaumes, der keine Früchte trug, die Klage vorbrachte: Was soll er weiter dem Boden seine Kraft nehmen? Dem Gleichnis vom Feigenbaum, der fruchtlos den Boden einnimmt, entspricht die Geisteshaltung derer, die nutzlos das verwahren, was vielen von Nutzen sein könnte. Dem Boden nimmt wie der unfruchtbare Feigenbaum seine Kraft, wer als einfältiger Mensch einen Platz im Schattendasein der Untätigkeit besetzt hält, den ein anderer im Sonnenschein guter Werke zu verwalten imstande wäre.

Menschen dieser Art pflegen für gewöhnlich zu sagen: Wir gebrauchen, was uns zusteht; wir vergreifen uns nicht an fremdem Eigentum, und wenn wir nichts tun, was als Werk der Barmherzigkeit verdienstvoll angerechnet wird, so tun wir doch nichts Verkehrtes. Eine solche Ansicht vertreten sie deshalb, weil sie ihr Herz für das Hinhören auf himmlische Lehren verschließen. Denn auch von dem reichen Mann im Evangelium, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag glänzend Festmahl hielt, wird nicht behauptet, dass er fremdes Gut geräubert habe, sondern dass er das Seinige, ohne irgendwie Nutzen zu stiften, verprasste. Und nicht, weil er etwas Unerlaubtes getan hat, musste er nach diesem Leben die Pein der Hölle erdulden, sondern weil er in erlaubten Dingen sich ganz dem schrankenlosen Genuss hingegeben hat.

Menschen, die fest an ihrem Besitz kleben, muss man klar zu verstehen geben, dass dies ihr hauptsächliches Unrecht gegen Gott ist, dass sie ihm, der ihnen alles gibt, nichts als Gabe der Barmherzigkeit weihen. Darum sagt der Psalmist: „Loskaufen kann doch keiner den anderen, noch an Gott für ihn ein Sühnegeld zahlen" (Ps 49,8). Ein Sühnegeld zahlt, wer in der Kraft der Gnade ein gutes Werk vollbringt. Darum ruft Johannes aus: „Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen" (Lk 3,9). Diejenigen, die sich zu den Schuldlosen zählen, weil sie kein fremdes Gut rauben, mögen sich vorsehen vor der Nähe der Axt. Sie sollen die unbekümmerte Gleichgültigkeit aufgeben; sonst werden sie vom gegenwärtigen Leben wie von einem grünenden Wurzelstock abgehauen, weil sie es vernachlässigen, Früchte der guten Werke zu bringen.

Diejenigen dagegen, die teilen, was sie haben, jedoch nicht davon abgehen, fremdes Gut zu stehlen, muss man warnen, gar als sehr freigebig gelten zu wollen, damit sie nicht unter dem Schein des Guten noch schlimmer werden. Diese Menschen, die unterschiedslos ihr Vermögen verteilen, geraten nicht nur, wie wir es bereits an einer früheren Stelle gesagt haben, in Unzufriedenheit und unleidliches Gemurre; von eigener Not bedrängt verfallen sie gar der Habsucht. Kann man sich einen unseligeren Geistesvorgang vorstellen, als bei diesen Menschen, deren Freigebigkeit Habsucht zeugt und deren Sündensaat gewissermaßen von der Tugend bestellt wird? Diesen ist dringend zu raten, dass sie als erstes lernen, das Ihrige in vernünftiger Weise zusammenzuhalten, und endlich auch aufhören, Fremdes begierig anzuschielen. Denn solange nicht das verschwenderische Austeilen als Wurzelgrund des Übels ausgebrannt wird, wird niemals der Born der Habsucht mit seinen wuchernden Verzweigungen ausgetrocknet. Man muss zuerst das Recht auf Besitz ordentlich darlegen, damit auch die Gelegenheit zur ungerechten Aneignung entzogen wird. Wenn die in dieser Weise Belehrten freilich begriffen haben, das Vermögen zur Übung der Barmherzigkeit nicht mit dem Raubgut aus dazwischen geübtem Unrecht Durcheinanderzubringen, lasse man sie allerdings auch wissen, wie sie das Ihrige Barmherzigerweise teilen können. Sie fordern nämlich als Gewalttätige heraus, was sie dann als Barmherzige freigebig spenden. Aber es ist etwas anderes, für begangene Sünden Barmherzigkeit zu üben, als zu sündigen, um Barmherzigkeit üben zu können. Letzteres kann man keineswegs mehr Barmherzigkeit nennen; denn was durch den Virus einer vergifteten Wurzel bitter geworden ist, kann nicht zu einer süßen Frucht gedeihen. Aus diesem Grunde verwirft der Herr durch den Propheten sogar die Opfer und sagt: „Ich, der Herr, liebe das Recht, ich hasse Verbrechen und Raub" (Jes 61,8). Deshalb heißt es an anderer Stelle: „Das Opfer der Frevler ist (dem Herrn) ein Gräuel, zumal wenn es dargebracht wird für eine Schandtat" (Spr 21,27). Solche Menschen entziehen oft sogar anderen, was sie Gott als Gabe darbringen. Wie sehr jedoch der Herr ihr Tun verabscheut und ablehnt, zeigt der Spruch des Weisen: „Man schlachtet den Sohn vor den Augen des Vaters, wenn man ein Opfer darbringt vom Gut der Armen" (Sir 34, 24). Kann es nun etwas Unerträglicheres geben als den Tod eines Sohnes vor den Augen des Vaters? Der ganze Unwille, mit dem Gott auf ein solches Opfer herabsehen mag, zeigt sich darin, dass er mit dem Schmerz eines verwaisten Vaters verglichen wird. Diese Menschen erwägen meist nur, was sie opfern, und täuschen sich darüber hinweg, das zu erwägen, was sie rauben. Sie rechnen sich gewissermaßen den Lohn aus, schlagen es jedoch aus, die Größe der Schuld zu bedenken. Man lasse sie hören, was geschrieben steht: „Wer etwas verdient, verdient es für einen löcherigen Beutel" (Hag 1,6). Hat der Beutel nämlich ein Loch, so sieht man zwar, wie man das Geld hineinwirft, man sieht aber nicht, wie es verloren geht. Diejenigen also, die darauf achten, wie viel sie spenden, jedoch nicht bedenken, wie viel sie davon schleppen, verdienen ihren Lohn für einen löcherigen Beutel; denn während sie ihre Verdienste als Unterpfand ihrer Hoffnung betrachten und sie stapeln, merken sie nicht, wie sie diese verlieren.

22. KAPITEL: Wie Zwieträchtige und wie Friedliche zu mahnen sind

Anders sind Zwieträchtige und anders Friedliche zu ermahnen. Zwieträchtige muss man mit aller Bestimmtheit wissen lassen, dass sie nie geisterfüllte Menschen werden können, wenn sie es verschmähen, mit ihren Mitmenschen einträchtig zusammenzuhalten, mögen sie sich im übrigen in noch so vielen Tugenden stark erweisen. Steht doch geschrieben: „Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede" (Gal 5, 22). Wer also nicht darauf bedacht ist, den Frieden zu wahren, der weigert sich, die Frucht des Geistes einzubringen. Darum sagt Paulus: „Handelt ihr nicht sehr menschlich, wenn Eifersucht und Streit unter euch herrschen?" (1 Kor 3,3). Und ein anderes Mal schreibt er „Strebt voll Eifer nach Frieden mit allen und nach der Heiligung, ohne die keiner den Herrn sehen wird" (Hebr 12,14). Und ermahnend spricht er an anderer Stelle: „Bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält. Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist" (Eph 4,3t). Man streckt sich nicht kraft der Berufung nach der gemeinsamen Hoffnung, wenn man nicht in der Einheit des Geistes mit den Mitmenschen nach ihr strebt. Umgekehrt geschieht es auch, dass einige besondere Gaben empfangen, darüber stolz werden und die Gabe der Eintracht verlieren, die doch größer ist als jene. So etwa, wenn einer die Gaumenlust zügelt und seinen Leib mehr abtötet als andere, es aber verschmäht, mit denen im guten Einvernehmen zu bleiben, die er an Enthaltsamkeit übertrifft. Wer aber die Enthaltsamkeit von der Einmütigkeit trennt, beachte, wozu der Psalmist mahnt; er sagt nämlich: „Lobt ihn mit Pauken und Tanz" (Ps 150,4). Schlägt man die Pauke, so tönt ihr trockenes Fell, im Chor aber vereinen sich die Stimmen zu harmonischem Klang. Wer also den Leib niederhält, aber die Eintracht aufgibt, lobt Gott zwar mit der Pauke, nicht aber im Chor. Auch ein größeres Maß an Wissen macht manche Menschen hochnäsig und entfremdet sie der Gemeinschaft der übrigen. Es ist beinah so, dass sie sich in dem Maß, wie ihr Wissen zunimmt, von der Tugend der Eintracht entfernen. Solche Menschen mögen hören, was die ewige Wahrheit selbst spricht: „Habt Salz in euch, und haltet Frieden untereinander" (Mk 9,49). Salz ohne Frieden ist also keine Tugendgabe, sondern ein Anklagegrund zur Verdammnis. Denn je bessere Einsicht jemanden auszeichnet, desto schlimmer ist sein Vergehen; darum verdient er auch unentschuldbar das Strafgericht, weil er die Sünde vermeiden konnte, wenn er es einsichtsvoll gewollt hätte. Zu Recht sagt Jakobus zu solchen Menschen: „Wenn aber euer Herz voll ist von bitterer Eifersucht und vom Ehrgeiz, dann prahlt nicht und verfälscht nicht die Wahrheit! Das ist nicht die Weisheit, die von oben kommt, sondern eine irdische, eigennützige, teuflische Weisheit. Doch die Weisheit von oben ist erstens heilig, sodann friedlich" (Jak 3,14.15.17). Heilig ist sie, weil ihre Einsicht auf Gottesfurcht beruht, und friedlich ist sie, weil sie nicht in Überheblichkeit zur Loslösung von der Gemeinschaft der Mitmenschen führt. Man muss diese Abseitigen mahnend zu der Erkenntnis führen, dass sie so lange Gott kein gutes Werk als Opfergabe darbringen, solange sie im Missklang der Liebe zum Nächsten stehen.

Denn es steht geschrieben: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe vor dem Altar; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe" (Mt 5,23f). Aus dieser Belehrung kann man abwägen, wie untragbar belastend sich die Schuld derer erweist, deren Opfer abgewiesen wird. Bedenken wir, wie schwerwiegend die Laster der Zwietracht sind; denn während sonst alle Übeltaten durch nachfolgende gute Werke gesühnt werden können, lassen jene gar kein gutes Werk erst Zustandekommen, bevor sie nicht völlig getilgt sind. Wenn die Zwieträchtigen ihre Aufmerksamkeit von den himmlischen Lehren abwenden, so verweise man sie dahin, dass sie ihr geistiges Augenmerk auf die Vorgänge im Bereich der niederen Natur richten: Die Vögel derselben Gattung fliegen vielfach gemeinsam in Scharen und trennen sich nicht voneinander und die nicht vernunftbegabten Tiere weiden in Herden zusammen. Bei aufmerksamer Betrachtung zeigt uns die unvernünftige Kreatur durch ihre Eintracht, welches Unheil die vernunftbegabten Geschöpfe durch ihre Zwietracht verschulden, da sie ja doch wider die Absicht der Vernunft verloren haben, was jene auf Antrieb der Natur bewahren. Die Friedlichen dagegen muss man ermahnen, dass sie nicht aus überschwänglicher Liebe zum Frieden, dessen sie sich erfreuen, nach dem ewigen Frieden zustreben unterlassen. Denn häufig wird die friedlich stille Behaglichkeit zu einer schweren Versuchung für die geistige Haltung der Menschen. Je weniger beschwerlich die Zustände sind, auf die sie eingerichtet sind, umso weniger liebenswert werden jene, die verheißen sind. Und je mehr Vergnügungen die gegenwärtigen Verhältnisse bieten, umso weniger gefragt sind die ewigen Freuden. Die ewige Wahrheit unterschied selbst zwischen dem irdischen und dem himmlischen Frieden. Als sie die Apostel aus dem gegenwärtigen Frieden herausrief und für den kommenden Frieden beriet, sprach sie deshalb: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch" (Joh 14,27), d. h., ich lasse den vergänglichen Frieden und gebe euch den immerwährenden. Wenn sich demnach das Herz in dem Frieden, der hintenangesetzt wurde, festsetzt, gelangt es nie zu jenem, der gegeben werden soll. Man muss also den gegenwärtigen Frieden so halten, dass man ihn sowohl liebt als auch gering schätzt; denn bei ungeordneter Liebe wird sich die Seele des Liebenden in Schuld verstricken. Deshalb sind die Friedfertigen zu ermahnen, dass sie es nicht aus übermäßigem Wunsch nach Menschlichkeit und Frieden unterlassen, die schlechten Sitten der Menschen zurechtzuweisen, und dass sie nicht durch Zustimmung zu falschen Gegebenheiten vom Frieden mit dem Schöpfer abweichen; es könnte dabei geschehen, dass sie aus Furcht vor äußerem Streit den inneren Friedensbund brechen und sich selbst tödlich verletzen. Ist der vergängliche Friede nicht eine Spur des ewigen Friedens? Was kann also unsinniger sein, als die in den Staub gedrückten Spuren zu lieben, den hingegen, der sie eingedrückt hat, nicht zu lieben? Deshalb bezeugt David, der sich ganz dem inneren Friedensbund verpflichtete, dass er nicht mit den Übeltätern im Einvernehmen stehen werde. Er bekundete: „Soll ich die nicht hassen, Herr, die dich hassen, die nicht verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit glühendem Hass; auch mir sind sie zu Feinden geworden" (Ps 139,21f). Die Feinde Gottes glühend hassen heißt, sie einerseits als Geschöpfe lieben, andererseits aber ihre Taten scharf tadeln, ihren verderblichen Lebenswandel unterdrücken, ihrem Leben aber hilfreich zur Seite stehen. Wenn man also die Zurechtweisung um der Ruhe willen unterlässt, soll man recht bedenken, um welch hohen Preis an Schuld der Friede mit großen Übeltätern gehalten wird; ein großer Prophet hat es Gott wie ein Opfer dargebracht, indem er die Feindseligkeiten der Gotteslästerer um des Herren willen gegen sich entfachte. Es heißt deshalb vom Stamme Levi, er habe seine Hände Gott geheiligt, weil er mit dem Schwert durch die Mitte des Lagers zog und in der Bestrafung der Sünder keine Schonung kannte (Ex 32,27-29). Darum versöhnte Phinees mit seinem Zorn den Zorn des Herrn, weil er die Gunst seiner sündigen Mitbürger verachtete und diejenigen schlug, die mit den Medianitern Umgang pflegten. So spricht die ewige Wahrheit selbst: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mt 10,34). Wenn wir uns unbekümmert mit den Bösen in Freundschaften einlassen, verstricken wir uns in Schuld. So wird Joschafat, der wegen der in seinem früheren Leben vollbrachten Taten mit viel Lob bedacht wird, wegen seiner freundschaftlichen Beziehungen zu König Ahab, die ihn beinah das Leben gekostet haben, getadelt. Zu ihm sagt der Herr durch den Propheten: „Musstest du dem Frevler helfen, und liebst du jene, die den Herrn hassen? So lastet nun der Zorn des Herrn auf dir. Doch fand sich auch Gutes an dir. Du hast die Kultpfähle aus dem Land beseitigt" (2 Chr 19,2f). Denn unser Leben gerät schon allein dadurch in Widerspruch zum unendlich Gerechten, dass es im freundschaftlichen Einvernehmen mit den Schlechten steht.

Die Friedfertigen muss man auch ermahnen, dass sie sich nicht davor fürchten, dass ihr persönlicher Friede zeitlich gestört wird, wenn sie sich zu Worten des Tadels vorwagen. Man muss sie andererseits mahnen, dass sie diesen Frieden innerlich durch ungeschmälerte Liebe bewahren, den sie durch den vernehmlichen Tadel äußerlich für ihre Person trüben. Beides sorgfältig beachtet zu haben, beteuert David, wenn er sagt: „Ich muss schon allzu lange wohnen bei Leuten, die den Frieden hassen. Ich verhalte mich friedlich, doch ich brauche nur zu reden, suchen sie Hader und Streit" (Ps 120,61). Sieh doch, wenn er redete, suchten sie Hader und Streit, und bestürmt blieb er doch friedlich, weil er weder nachließ, die Unsinnigen zu tadeln, noch die Getadelten zu lieben. So sagt auch Paulus: „Soweit es euch möglich ist, haltet, soviel an euch liegt, mit allen Menschen Frieden!" (Röm 12,18). Indem er seine Schüler auffordern will, Frieden mit allen zu halten, schickt er voraus: „Wenn es euch möglich ist", und fügt hinzu: „soviel an euch liegt". Es wäre fürwahr ein schwieriges Unterfangen, für alle schlechten Taten eine Zurechtweisung zu erteilen und dabei mit allen im Frieden bleiben zu können. Sollte auch zeitweilig der Friede in den Herzen der Schlechten durch unsere Zurechtweisung gestört werden, so muss er doch in unserem Herzen unverletzt erhalten bleiben. Zu Recht heißt es: „Soviel an euch liegt." Ohne Zweifel will er damit sagen: Da der Friede in der Übereinstimmung zweier Parteien besteht, so bewahrt ihr als Tadelnde ihn unverletzt in eurem Verhalten, mögen ihn die Getadelten auch entschieden abweisen. Darum ermahnt der Apostel ein andermal seine Schüler: „Wenn jemand auf unsere Mahnung in diesem Brief nicht hört, dann merkt ihn euch, und meidet den Umgang mit ihm, damit er sich schämt" (2 Thess 3,1.4). Er fügt an dieser Stelle hinzu: „Doch seht ihn nicht als Feind an, sondern weist ihn als euren Bruder zurecht! (ebd.3,15). Damit will er sagen: Hebt den äußeren Frieden mit ihm auf, bewahrt aber den inneren, damit eure Verstimmung das Herz des Sünders dadurch rührt, dass der Friede, den ihr nicht aufgekündigt habt, nicht aus eurem Herzen schwindet.

23. KAPITEL: Wie Streitsüchtige zu ermahnen sind und wie Friedfertige

Anders sind Streitsüchtige, anders Friedfertige zu ermahnen. Diejenigen, von denen Streit und Zank ausgehen, sollen sich bewusst werden, in wessen Fußstapfen sie treten. Die Schrift spricht nämlich vom abtrünnigen Engel, als sich Unkraut unter der guten Saat ausgestreut fand. Es heißt: „Das hat ein Feind von mir getan" (Mt 13,28). Und auch über seinen Anhang heißt es bei Salomo: „Ein Nichtsnutz, ja ein Gauner, wer daherkommt mit Lügen im Mund, wer mit den Augen zwinkert, mit den Füßen deutet, Zeichen gibt mit den Fingern. Tücke im Herzen, stets voll böser Ränke, zettelt er jederzeit Händel an" (Spr 6,12ff). Beachte, von dem er sagen wollte, dass Händel von ihm ausgehen, den nennt er zuerst einen Abtrünnigen; denn wäre er nicht zuvor nach der Weise des hochmütigen Engels vor dem Angesichte des Schöpfers durch Abkehr seines Geistes innerlich bereits zu Fall gekommen, so wäre er nicht bald darauf so weit gekommen, auch äußerlich Zank und Streit zu stiften. Zu Recht wird er beschrieben wie einer, der mit den Augen zwinkert, mit den Fingern Zeichen gibt und mit den Füßen deutet. Denn im Inneren ist die Kontrolle, die über die Ordnung der äußeren Glieder wacht. Wer daher die rechte Geistesorientierung verloren hat, der nimmt in der Folge auch etwas Schwankendes in seinen äußeren Bewegungen und Aktivitäten an und bringt in der äußeren Wankelmütigkeit zum Ausdruck, dass er auch in seinem Inneren keinen festgewurzelten Standpunkt hat. Man bringe den Zanksüchtigen zu Gehör, was die Schrift sagt: „Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden" (Mt 5,9). Man kann es abwandeln und daraus schließen, wenn die, die Frieden stiften, Kinder Gottes genannt werden, dass diejenigen, die den Frieden zunichte machen, ohne Bedenken als Kinder des Satans bezeichnet werden können. Sicher jedoch ist, dass alle, die sich durch Zwietracht vom grünenden Baum der Liebe trennen, dahinwelken. Und wenn sie in ihren Taten Früchte guter Werke zum Vorschein bringen, so sind es in Wahrheit keine, weil sie nicht aus der Einheit in der Liebe hervorgehen. Darum mögen diejenigen, die Zank und Streit aussäen, gründlich überdenken, wie vielfach ihre Sünde ist: Wenn sie eine Sünde der Bosheit begehen, entwurzeln sie alle Tugenden in den Herzen der Menschen. In einer Sünde begehen sie unzählige, weil sie Zwietracht säend die Liebe zum Erlöschen bringen, die ohne Zweifel die Mutter aller Tugenden ist. Da aber Gott nichts kostbarer ist als die Tugend der Liebe, so gibt es für den Teufel kein erstrebenswerteres Anliegen als das Erlöschen der Liebe. Jeder, der zu Zank und Streit anstiftet, hintertreibt die Liebe zum Nächsten und wird zum Vertrauten und Helfershelfer des Widersachers Gottes. Er entzieht den verwundeten Herzen jene Tugend, durch deren Verlust der Satan fiel, und schneidet ihnen den Weg zum Aufstieg in die Höhe ab.

Die Friedensstifter dagegen muss man warnen, dass sie nicht die Bedeutung und Tragweite eines solchen Unterfangens einebnen, wenn sie darüber in Unkenntnis sein sollten, unter welchen Menschen sie den Frieden festigen sollen. Denn wie es von großem Schaden ist, wenn die Einigkeit unter den Guten fehlt, so ist es gar sehr von Nachteil, wenn sie unter den Bösen besteht. Denn wenn sich die Bosheit der Gottlosen zu einem Pakt verbündet, so wächst die Kraft ihrer bösen Anschläge, und je einiger sie sich in der Bosheit sind, desto wuchtiger sind ihre Schläge, um die Guten in große Bedrängnis zu treiben. Daher wird dem seligen Ijob durch die Stimme Gottes über die öffentlichen Lobredner des Gefäßes der Verdammnis, des Antichrists, gesagt: „Stärke wohnt in seinem Nacken" (Ijob 41,14). Seine Gefolgsleute werden mit Schilden verglichen; es heißt: „Einer reiht sich an den anderen, kein Lufthauch dringt zwischen ihnen durch" (ebd. 41,8). Und in der Tat, je weniger sein in dichten Reihen stürmender Anhang durch zwieträchtige Feindseligkeiten in sich gespalten ist, desto gewaltiger ist die geballte Wucht zum tödlichen Verderben der Guten. Wer also die Ruchlosen im Frieden eint, führt der Bosheit Hilfskräfte zu, die die Guten dadurch umso schlimmer unterdrücken, weil sie diese eben im einmütigen Zusammenwirken verfolgen.

Als darum der ausgezeichnete Lehrmeister von den Pharisäern und Sadduzäern heftig verfolgt und ergriffen wurde und sie in großer Einmütigkeit gegen sich fand, suchte er sie untereinander zu spalten und rief aus: „Brüder, ich bin ein Pharisäer und ein Sohn von Pharisäern; wegen der Hoffnung und wegen der Auferstehung der Toten stehe ich vor Gericht" (Apg 23,6). Da nun die Sadduzäer die Hoffnung und die Auferstehung heftig leugneten, während die Pharisäer nach der Lehre der Schrift an sie glaubten, ging das Einvernehmen unter den Verfolgern durch den Meinungsstreit in die Brüche, und Paulus ging unverletzt aus der uneins gewordenen lärmenden Menge hinweg, die ihn zuvor, solange sie einig war, wild bedrängte. Man muss diejenigen, deren besonderes Herzensanliegen die Friedensvermittlung ist, anleiten, dass sie zunächst den verdorbenen Menschen Verständnis und die Liebe zum inneren Frieden eingeben; erst dann kann ihnen der äußere Friede von Nutzen sein. Denn sofern sich ihr Herz in die Erkenntnis des inneren Friedens vertieft, wird es sich in keiner Welse vom gewonnenen äußeren Frieden zu Handlungen der Bosheit hinreißen lassen. Und solange sie den Blick dem himmlischen Frieden zuwenden, werden sie keinesfalls dem irdischen Frieden zum persönlichen Schlechterwerden eine verkehrte Wendung geben. Wenn jedoch die Störenfriede von der Art sind, dass sie den Guten keinen Schaden zufügen können, wenngleich sie es wollten, muss man natürlich unter ihnen den Frieden herstellen, auch bevor sie zur Erkenntnis des himmlischen Friedens zu kommen im Stande sind. Da sie ihre bösartige Gottlosigkeit gegen die Liebe Gottes verhärtet, mögen sie wenigstens kraft der Liebe zum Nächsten besänftigt werden und gleich wie vom naheliegenden zum höheren Gut übergehen und zu jenem Frieden des Schöpfergottes gelangen, der ihnen noch fern liegt.

24. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die in der Gotteslehre ungebildet sind, und wie diejenigen, die gelehrt, aber nicht demütig sind

Anders sind diejenigen zu ermahnen, die die Worte des göttlichen Gesetzes nicht richtig verstehen, und anders, die sie zwar richtig verstehen, aber nicht in Demut darüber sprechen. Denjenigen, die die Worte des göttlichen Gesetzes nicht richtig auffassen, muss man zu erwägen geben, dass sie sich einen überaus heilsamen Trunk Wein in einen Gifttrank verwandeln und dass sie sich mit dem chirurgischen Messer eine tödliche Wunde beibringen, wenn sie mit dem Werkzeug etwas in sich Heiles zerstören, während sie mit ihm einen tödlich erkrankten Teil heilbringend abtrennen sollten. Sie sollen bedenken, dass die Heilige Schrift uns für die Nacht des gegenwärtigen Lebens wie eine Leuchte gesetzt ist. Wenn sie nun die Aussagen der Schrift nicht richtig verstehen, so erhalten sie vom Licht Finsternis. Offenbar würde sie nicht eine böse Absicht zum verkehrten Verständnis verleiten, wenn nicht Stolz sie bereits zuvor angetrieben hätte. Da sie natürlich meinen, weiser zu sein als andere, verachten sie es, denen zu folgen, die eine bessere Einsicht gewonnen haben. Und um sich gar durch krumme Touren beim unerfahrenen Volk den Ruf der Wissenschaftlichkeit zu verschaffen, bieten sie alles auf, um die richtige Erklärung anderer zu widerlegen und ihre verdrehten Ansichten zu erhärten. Treffend heißt es darum beim Propheten: „In Gilead schlitzten sie schwangere Frauen auf, als sie ihr Gebiet erweitern wollten" (Am 1,13). Gilead bedeutet nämlich übertragen „Menge des Zeugnisses". Weil nun die ganze Kirchengemeinschaft in ihrer Geschlossenheit durch ihr Bekenntnis der Bezeugung der Wahrheit dient, wird nicht unzutreffend durch Gilead die Kirche veranschaulicht, die durch das Bekenntnis aller Gläubigen alles, was Gottes Wahrheit ist, bezeugt. Schwangere aber heißen die Seelen, die durch die Liebe Gottes das Verständnis des Wortes empfangen, und, wenn ihre Zeit gekommen, das empfangene Verständnis gebären und es als Tat ans Tageslicht treten lassen. Sein Gebiet erweitern bedeutet, dem Ruf seiner Ansicht ein breiteres Feld verschaffen. In Gilead schlitzten sie schwangere Frauen auf, als sie ihr Gebiet erweitern wollten; das besagt: Die Häretiker stoßen fürwahr den Geist derer, die bereits einen Lichtstrahl der Wahrheit empfangen hatten, ins Todesdunkel zurück und erweitern ihren Ruf der Gelehrsamkeit. Sie spalten mit dem Schwert der Irrlehre die Herzen der im Glauben noch Kindlichen, die bereits vom empfangenen Wort schwanger sind, und verschaffen sich mit ihrer Scheinwahrheit einen Namen. Wenn wir den Versuch unternehmen, solche Menschen zu belehren, dass sie ihre verkehrten Ansichten einsehen, müssen wir sie zunächst vordringlich mahnen, nicht nach eitlem Ruhm zu streben. Wird nämlich die Wurzel der Überheblichkeit herausgeschnitten, so verdorren in der Folge auch die Zweige eines falschen Anspruchs. Man muss sie auch ermahnen, keine Irrtümer und keine Zwistigkeiten aufzubringen und so das Gesetz Gottes, das gerade dazu gegeben ist, die Opfer des Satans abzuwehren, nicht selbst zu einem Satansopfer umzukehren. Darum erhebt der Herr Klage und spricht durch den Propheten: „Ich gab ihnen Korn und Wein und Öl und überhäufte sie mit Silber und mit Gold, aus dem man dann Baalsbilder machte" (Hos 2,10). Getreide erhalten wir vom Herrn, wenn bei unverständlicheren Stellen der Schrift die Hülle des Wortes weggenommen wird und wir zum inneren Kern gelangen und den geistigen Sinn erfahren. Seinen Wein bietet uns der Herr, wenn er uns trunken macht von der erhabenen Lehre seines Wortes. Er teilt uns sein Öl zu, wenn er unser Leben durch klare Weisungen mit einladender Güte ordnet. Er überhäuft uns mit Silber, wenn er uns Worte voll des Lichtes der Wahrheit eingibt. Er macht uns auch reich an Gold, wenn er unser Herz durch die Wahrnehmung des höchsten Lichtes strahlend erhellt. All dies opfern die Irrlehrer dem Baal, weil sie die Herzen ihrer Zuhörer mit ihren verfälschten Einsichten verderben. Und vom Getreide Gottes, von Brot und Wein, wie auch von Silber und Gold, bringen sie dem Satan ein Opfer, weil sie Worte des Friedens zu Irrtum und Zwietracht lenken. Man muss ihnen deshalb eindringlich zu bedenken geben, dass sie nach Gottes gerechtem Gericht an den Worten des Lebens sterben, weil sie aus verdorbenem Geist mit den Lehren des Friedens Unfrieden stiften.

Diejenigen hingegen, die die Aussagen des göttlichen Gesetzes im richtigen Sinn erfassen, aber nicht demutsvoll über sie sprechen, muss man ermahnen, sie sollten zuerst sich selbst nach den Forderungen der göttlichen Lehren prüfen, ehe sie diese anderen vortragen, damit sie nicht ohne Rückblick auf sich selbst leer ausgehen, während sie andere hart bedrängen. Und da sie für alles in der Heiligen Schrift die rechte Einsicht haben, sollten sie doch nicht allein den Aussagen keine Aufmerksamkeit schenken, die gegen die Hochmütigen gerichtet sind. Unbillig ist ein Arzt und wird seiner Sache nicht gerecht, der eine fremde Wunde zu heilen wünscht, währenddessen er sich um die eigene unkundig zeigt. Diejenigen, die das göttliche Wort nicht demutsvoll verkünden, sind darum zu mahnen, dass sie, ehe sie den Kranken heilsame Arznei verschreiben, zuvor den Virus ihrer eigenen pestartigen Krankheit untersuchen, damit sie nicht selbst sterben, während sie andere behandeln. Man ist es ihnen schuldig, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass sie zwischen der Vortrefflichkeit des Gesagten und der sittlichen Haltung, wie es gesagt wird, kein Missverhältnis eintreten lassen, dass sie nicht etwas anderes durch ihr Wort als durch ihr Benehmen predigen. Sie mögen das Wort der Schrift hören: „Wer redet, der rede mit den Worten, die Gott ihm gibt" (1 Petr 4,11). Wenn nun die Worte, die sie vortragen, ihres Geistes Gut nicht sind, was tun sie so geschwollen, als wäre es ihr eigenes. Wiederum sei ihnen das Wort der Schrift gesagt: „Wir verkünden das Wort in Christus, von Gott her und vor Gott" (2 Kor 2,17). Von Gott her und vor Gott verkündet, der es sowohl einsieht, dass er das Wort der Verkündigung von Gott empfangen hat und darum auch durch das Wort Gott und nicht den Menschen zu gefallen sucht. Hören sollen sie, was geschrieben steht: „Ein Gräuel ist dem Herrn jeder Hochmütige" (Spr 16,5). Denn wer am Wort Gottes seine eigene Ehre sucht, vergreift sich am Rechtsanspruch des Gebers und scheut sich nicht im geringsten, um des eigenen Lobes willen den hintenanzusetzen, von dem er das empfangen hat. Hören sollen sie, was dem Prediger durch Salomo gesagt wird: „Trink Wasser aus der eigenen Zisterne, Wasser, das aus deinem Brunnen quillt. Sollen deine Quellen auf die Straße fließen, auf die freien Plätze deine Bäche? Dir allein sollen sie gehören, kein Fremder soll teilen mit dir" (Spr 5,15-17). Wasser aus der eigenen Zisterne trinkt der Prediger, wenn er bei sich Einkehr hält und zuerst selbst hört und beherzigt, was er sagt. Er trinkt Wasser aus dem eigenen Brunnen, wenn er den Strom seiner Predigt in sich eindringen lässt. Dabei heißt es treffend weiter: „Deine Quellen sollen auf die Straßen fließen, auf freie Plätze deine Bäche." Es ist billig, wenn er zuerst selbst trinkt und hernach in der Predigt anderen reichlich einschenkt. Die Quellen ergießen sich nach draußen auf die Straßen, will nämlich heißen: den Inhalt seiner Predigt draußen anderen zuströmen lassen. Die Wasser sich auf freie Plätze ergießen lassen, will dagegen sagen: die göttliche Lehre bei einer großen Zuhörermenge je nach Aufnahmefähigkeit der einzelnen ausrichten. Weil jedoch gar oft sich eitle Ehrsucht einschleicht, wenn das Predigtwort zur Kenntnis einer vielzähligen Menge gelangt, folgt dem Spruch, teile das Wasser auf freien Plätzen, unmittelbar: „Dir allein sollen sie gehören, kein Fremder soll teilen mit dir.“ Fremde heißen die bösen Geister, über die der Prophet in der Weise eines klagenden, in Versuchung geratenen Menschen sagt: „Stolze erheben sich gegen mich und Gewalttäter trachten mir nach dem Leben" (Ps 54,5). Er sag sowohl, teile die Wasser auf freien Plätzen, als auch, dir allein sollen sie gehören. Er will offenbar sagen: Du musst den Predigtdienst nach draußen unbedingt so ausüben, dass du deine Feinde nicht als Teilhaber im Dienst am göttlichen Wort an dich heranlässt, insofern du dich durch Hochmut mit den unreinen Geistern verbindest. Wir lassen die Wasser sich sowohl auf den freien Plätzen ergießen, und sie bleiben doch auch allein unser Eigen, wenn wir einerseits unsere Predigt sich weit nach draußen ergießen lassen, andererseits bei dieser Tätigkeit in keiner Weise auf Menschenlob begierig sind.

25. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die den Predigtdienst aus übertriebener Bescheidenheit ablehnen, und wie diejenigen, die es höchst eilig haben, ihn zu übernehmen

Anders sind diejenigen zu ermahnen, die zwar in würdiger Form zu predigen imstande wären, sich jedoch aus überriebener Bescheidenheit davon abschrecken lassen, und anders diejenigen, die Unreife oder jugendliches Alter nicht als Prediger empfehlen, die aber überstürzter Eifer dazu treibt. Diejenigen, die als Prediger gute Dienste leisten könnten, diese jedoch aus ungeordneter Kleinmütigkeit meiden, sollen der Erwägung einer geringeren Sache entnehmen, wie sehr sie sich in einer weit wichtigeren schuldig machen. Wenn sie nämlich ihr Vermögen vor den notleidenden Mitmenschen verheimlichten, würden sie ohne Zweifel zu deren Verelendung beitragen. Sie sollen sich deshalb vor Augen halten, in welch große Schuld sie sich verstricken, wenn sie das Wort der Predigt den sündigen Brüdern vorenthalten und die lebenspendenden Heilmittel vor den dahinsterbenden Seelen verborgenkalten. Darum sagt mit Recht der Weise: „Verborgene Weisheit und versteckter Schatz, was nützen sie beide?" (Sir 20,30) Wenn Hungersnot die Volksmassen zur Erschöpfung brächte und sie selbst würden heimlich Getreide in Menge in Speichern verwahren, so würden sie ohne Zweifel als Mörder befunden. Sie mögen bedenken, welche Strafe sie verdienen, wenn sie das Brot, das sie selbst als Gnadenerweis empfingen, nicht austeilen, während die Seelen vor Hunger nach dem Wort verloren gehen. Treffend heißt es bei Salomo: „Wer Getreide zurückhält, den verwünschen die Leute" (Spr 11,26). Getreide verbirgt, wer die Worte der heiligen Lehre in sich verwahrt. Ihn verwünschen die Leute, denn allein sein Schweigen ist schuld an der Strafe der vielen, die er auf den Weg der Besserung hätte führen können. Darum wird auch er dem Strafurteil verfallen. Würden in der Heilbehandlung nicht unerfahrene Arzte augenscheinlich erkennen, dass eine Wunde geschnitten werden muss, und würden sie trotzdem den Eingriff verweigern, so begingen sie in der Tat allein durch die schlampige Untätigkeit die Sünde des Brudermordes. Aus diesen Vergleichen mögen sie die Schwere der Schuld, die sie auf sich laden, erkennen, wenn sie die Seelenwunden wahrnehmen und dabei das heilend schneidende Wort gleichgültig vernachlässigen. Bezeichnend ist das Wort des Propheten: „Verflucht, wer sein Schwert abhält vom Blutvergießen" (Jer 48,10). Das Schwert vom Blutvergießen hält man ab, wenn man das Wort der Predigt zurückhält, das Leben nach dem Fleische zu töten. Über das Schwert heißt es an einer anderen Schriftstelle: „Mein Schwert frisst sich ins Fleisch" (Dtn 32,42). Wenn sie also das Wort der Predigt bei sich verborgen halten, sollen sie mit Schrecken die gegen sie gerichteten göttlichen Ansprüche hören, damit Furcht die Furcht aus ihrem Herzen vertreibe. Sie sollen hören, wie derjenige, der das eine Talent nicht gewinnbringend nutzen wollte, es verlor und obendrein für schuldig befunden wurde (Mt 2S,24t). Sie sollen hören, dass Paulus sich deshalb rein vom Blute der Mitmenschen hielt, weil er sie wegen ihrer Laster nicht schonte und Wunden schlug: er schreibt: „Ich bezeuge euch am heutigen Tag: Ich bin unschuldig, wenn einer von euch verloren geht. Denn ich habe mich der Pflicht nicht entzogen, euch den ganzen Willen Gottes zu verkünden" (Apg 20,26t). Sie sollen hören, wozu Johannes durch die Stimme des Engels ermahnt wurde; es heißt dort: „Wer hört, der rufe: Komm!" (Offb 22,17) Wem sich nämlich die innere Stimme wundersam vernehmlich macht, der soll seine Stimme erheben und auch andere dorthin ziehen, wohin er selbstentführt wird, damit er nicht, obwohl gerufen, verschlossene Türen vorfindet, weil er ohne Anhang vor dem Rufenden erscheint. Sie sollen hören, wie Jesaja, vom göttlichen Licht erleuchtet, in sich ging und sich selbst mit lautem Bußruf anklagte, weil er sich vom Dienst am Wort schweigend zurückhielt. „Weh mir", klagt er, "ich bin verloren, weil ich geschwiegen habe!" (Jes 6,5) Sie sollen hören, dass durch Salomo dem Wachstum und Einsicht für die Verkündigung verheißen werden, der hinsichtlich der bereits empfangenen Gabe sich nicht von schuldhafter Untätigkeit beherrschen lässt. Er sagt: „Wer wohltätig ist, wird reich gesättigt, wer andere labt, wird selbst gelabt" (Spr 11,25). Denn wer nach draußen die Wohltat der Verkündigung ausübt, empfängt die Fülle innerer Förderung, und wer nicht ablässt, mit dem Wein des Wortes die Zuhörer zu laben, wird selbst zur Höhe emporwachsen, gelabt vom Trunk gesteigerter Fähigkeiten. Sie sollen hören, dass David dies Gott als Opfer darbrachte, als er die empfangene Gnade der Verkündigung nicht verbarg; er spricht: „Meine Lippen verschließe ich nicht; Herr, du. weißt es. Deine Gerechtigkeit verberge ich nicht im Herzen, ich spreche von deiner Treue und Hilfe" (Ps 40,10f). Sie sollen hören, was der Bräutigam im trauten Gespräch der Braut sagt: „Die du in den Gärten weilst, auf deine Stimme lauschen die Freunde; lass sie mich hören" (Hld 8,13). Die Kirche weilt in den Gärten und hütet die Saat der Tugendpflanzen, damit sie in zarter Frische gedeihen. Die Freunde lauschen auf deine Stimme, d. h., alle Auserwählten haben Verlangen nach der Verkündigung des Wortes; und auch der Bräutigam verlangt, diese Stimme zu hören; denn in den Seelen seiner Auserwählten dürstet ihn mit großer Erwartung nach der Verkündigung durch die Braut, die Kirche. Sie sollen hören, was Mose sagte, als er sah, dass Gott dem Volke zürnte und nach dem Racheschwert zu greifen befahl; er erklärte nämlich alle zu Streitern für die Sache Gottes, die ohne Zaudern die Übeltäter bestraften; er rief aus: „Wer für den Herrn ist, her zu mir! Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten" (Ez 32,26f). Das Schwert um seine Hüften anlegen will sagen, vor der Beschäftigung mit dem Predigen den Kampf mit den fleischlichen Begierden austragen. Denn wenn jemand von heiligen Dingen zu reden anstrebt, muss er lüsterne Vorstellungen bezwingen. Von Tor zu Tor ziehen bedeutet, Laster nach Laster, durch die der Tod Zugang zum Herzen findet, gründlich durchgehen und dagegen einschreiten. Durch das Lager ziehen heißt, mit solcher Unparteilichkeit in der Gemeinde leben, dass der, der die Schuldzuweisung zwischen den Schuldigen klarlegen will, nicht der Begünstigung des einen oder des anderen zuneigt. Darum führt er weiter aus: „Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten." Bruder, Freund und Nachbarn tötet, wer, wenn er Strafwürdiges findet, mit dem Schwert der Zurechtweisung auch die Blutsverwandten nicht verschont. Wenn also der als Streiter Gottes gilt, den der Eifer göttlicher Liebe zur Austilgung der Laster treibt, schlägt der es offensichtlich ab, für Gottes Sache einzustehen, der sich weigert, das Leben der fleischlich Gesinnten, soweit ihm möglich, zurechtzuweisen.

Diejenigen hingegen, die Unreife oder jugendliches Alter vom Predigtdienst ausschließt, die dennoch überstürzter Eifer dazu treibt, muss man ermahnen, sie sollen sich doch nicht die Last eines so schwierigen Dienstes anmaßen und sich dadurch den Weg zu einer weiteren Ertüchtigung abschneiden. Denn wenn sie zu unrechter Zeit auf sich nehmen, wozu sie nicht imstande sind, verderben sie auch das, was sie zu gegebener Zeit einmal hätten leisten können. Auch tritt billigerweise offen zu Tage, dass sie ungebührlich die Kenntnisse zur Schau zu stellen versuchen, die zu erwerben sie unterlassen haben. Man muss sie veranlassen, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass die Jungen der Vögel, wenn sie fliegen wollen, ehe die Schwungfedern voll zur Entfaltung gekommen sind, anstatt sich in die Höhe zu schwingen, in die Tiefe stürzen.

Sie sollen auch beachten, dass man kein Haus, sondern eine Ruine baut, wenn man die schweren Balken auf frische, noch nicht gefestigte Mauem legt. Man muss ihnen auch zu erwägen geben, dass die Frauen nicht die Häuser, sondern die Gräber füllen, wenn sie die Kinder vor ihrer vollen Entwicklung gebären. Und um den Nachfolgenden ein Beispiel zu geben, den Dienst der Verkündigung nicht vor der Befähigung zu übernehmen, unterwies die ewige Wahrheit selbst die Apostel bis zur vollen Befähigung für die Verkündigung, obwohl sie hätte plötzlich mit der Kraft ausrüsten können, wen sie wollte, und fügte dann noch hinzu: „Bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet" (Lk 24,49). In der Stadt bleiben wir, wenn wir uns zur Schutzwehr in das Innere unseres Herzens zurückziehen, anstatt draußen umherzulaufen und zu reden, um dann, wenn wir ganz erfüllt sind mit göttlicher Kraft, gleichsam aus uns heraus nach draußen zu treten, um andere zu unterweisen. Darum heißt es bei einem Weisen: „Als Jüngerer ergreife das Wort nur, wenn du musst, wenn man dich nachdrücklich zwei- oder dreimal auffordert" (Sir 32,7). Aus diesem Grunde wollte auch unser Erlöser, obwohl er als Schöpfer im Himmel thront und in der Offenbarung seiner Macht allezeit der Lehrer der Engel ist, hier auf Erden nicht vor seinem dreißigsten Lebensjahr Lehrer der Menschen werden. Er wollte dadurch den Eilfertigen eine große heilsame Furcht einflößen, da er selbst, der nicht zu Fall kommen konnte, nicht vor dem vollkommenen Alter die Gnade des vollkommenen Lebens öffentlich verkündete. Es heißt in der Schrift: „Als er zwölf Jahre alt geworden war, blieb der junge Jesus in Jerusalem" (Lk 2,42). Und die Schrift fährt fort, die Eltern suchten ihn und „nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen" (ebd. 2,46). Es ist sehr bemerkenswert und gut zu bedenken, dass es vom zwölfjährigen Jesus heißt, sie fanden ihn, wie er mitten unter den Lehrern saß, ihnen zuhörte und Fragen stellte. Durch dieses Beispiel wird darauf hingewiesen, dass kein Schwacher es wagen soll zu lehren, wenn der junge Jesus, der in seiner göttlichen Macht selbst den Lehrern das Verstehen des Wortes verlieh, durch Fragen Belehrung suchte. Wenn nun Paulus seinem Schüler sagt: „Das sollst du anordnen und lehren; niemand soll dich wegen deiner Jugend gering schätzen" (1 Tim 4,11f), so sollten wir wissen, dass in der Heiligen Schrift das junge Mannesalter Jugend genannt wird. Das können wir alsgleich als richtig erweisen, wenn wir die Worte Salomos anführen, der sagt: „Freu dich, junger Mann, in deiner Jugend!" (Koh 11,9) Denn wenn er nicht beides für eins hielte, würde er nicht den einen jungen Mann nennen, den er an seine Jugend erinnerte.

== 26. KAPITEL: Wie jene zu ermahnen sind, denen alles nach Wunsch geht, und wie jene, die nirgends Glück haben ==

Anders muss man diejenigen ermahnen, die in ihren zeitlichen Unternehmungen Erfolg haben, und anders jene, die auf irdischen Erfolg begierig sind, durch Missgeschick jedoch die Lust darauf verlieren. Jene, die in dem, was sie zeitlich anstreben, Erfolg haben, sind zu ermahnen, wenn alles nach Wunsch geht, nicht zu versäumen, nach dem Geber zu fragen, anstatt ihren Sinn starr auf die Gaben zu richten; sie sollen das Pilgerdasein nicht als die Heimat einschätzen und den Reiseproviant nicht zum Hindernis für das Erreichen des Zieles werden lassen; sie sollen nicht in der Freude über den nächtlichen Mondschein davon Abstand nehmen, die Klarheit der Sonne zu schauen. Man muss sie daher ermahnen, ihre Erfolge in dieser Welt als lindernden Trost in den Bedrängnissen, nicht aber als Lohn und Vergeltung anzusehen. Vielmehr sollen sie ihren Geist im Widerspruch zu den Gunsterweisen der Welt nach oben richten, auf dass sie ihnen nicht verfallen, indem sie in ihnen die volle Befriedigung ihres Herzens suchen. Denn wer immer das Wohlergehen, dessen er sich erfreut, in der Entscheidung seines Herzens nicht einem beglückenderen Leben zuliebe unterdrückt, der verwandelt das Glück des vergänglichen Lebens in das Verderben des ewigen Todes. Deshalb werden in der Gestalt der Edomiter, die sich's wohl sein ließen, obwohl ihre Niederlage bevorstand, die streng zurechtgewiesen, die sich über das ertragreiche Fortkommen in dieser Welt der Freude hingeben; es heißt: „Sie haben sich mein Land angeeignet, voll Freude, mit ganzem Herzen und aus ganzer Seele" (Ez 36,5). Diese Worte sind wohl erwogen; denn sie werden nach mehreren Strafrücksichten vom Urteil getroffen, nicht nur weil sie sich freuen, sondern weil sie sich mit ganzem Herzen und aus ganzer Seele freuen. Darum sagt Salomo: „Denn die Abtrünnigkeit der Haltlosen ist ihr Tod, die Sorglosigkeit der Toren ist ihr Verderben" (Spr 1,32). Deshalb mahnt Paulus, wenn er schreibt: „Daher soll sich in Zukunft, wer kauft, so verhalten, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht" (1 Kor 7,30t). Die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, sollen uns nämlich für den äußeren Bedarf insoweit dienen, dass sie den Geist vom Streben nach der himmlischen Freude nicht ablenken und verstimmen und die Trauer über unser Pilgersein im Inneren nicht beschwichtigen. Sie sollen uns im Zustand der Verbannung Hilfe und Unterhalt bieten. Wir, die wir uns vorderhand hinsichtlich des ewigen Glücks als im Elend Befindliche erkennen, mögen uns auch wie Glückliche an Vergänglichem erfreuen. So kann die Kirche im Namen der Auserwählten sagen: „Seine Linke liegt unter meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich" (Hld 2,6). Die Linke Gottes, das ist das Wohlgelingen des gegenwärtigen Lebens, hält sie gleichsam unter den Kopf gelegt und drückt sie mit der Aufmerksamkeit höchster Liebe. Die Rechte Gottes hingegen umfängt sie, weil sie in völliger Hingabe mit ihr in ewiger Glückseligkeit unzertrennlich verbunden bleibt. Darum heißt es wiederum bei Salomo: „Langes Leben birgt sie in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre" (Spr 3,16). Welches Verhältnis man zu Reichtum und Ehre haben soll, lehrte er durch den Hinweis, sie sei in der Linken. Deshalb spricht der Psalmist: „Hilf mit deiner Rechten" (Ps 108,7). Er sagt nicht mit deiner Hand, sondern mit deiner Rechten, um mit dieser Bezeichnung anzudeuten, dass er um das ewige Heil bittet. Und so steht wiederum geschrieben: „Deine Rechte, Herr, zerschmettert den Feind" (Ex 15,6). Denn wenn auch die Feinde Gottes aus seiner Linken ihr Wohlergehen empfangen, werden sie mit seiner Rechten zerschmettert, denn das gegenwärtige Leben erhöht die Schlechten; beim Anbruch der ewigen Glückseligkeit aber werden sie verworfen.

Die Erfolgreichen in dieser Welt sollen sorgfältig erwägen, dass das Glück in diesem Leben bisweilen deshalb gegeben wird, um zur Lebensbesserung aufzurufen, manchmal aber auch deshalb, dass es zur ewigen Verdammnis beiträgt. Deshalb wurde dem Volk Israel das Land Kanaan verheißen, um es dann einmal zur Hoffnung auf die ewigen Güter zu erwecken. Denn dieses ungebildete Volk hätte den Verheißungen Gottes auf etwas in weiter Zukunft Liegendes keinen Glauben geschenkt, wenn es von dem, der die Verheißung gab, nicht auch, etwas in greifbarer Nähe Liegendes erhalten hätte. Um es um so bestimmter im Glauben an die ewigen Güter zu festigen, wird es nicht bloß von der Hoffnung auf Erfüllung, sondern auch von der Erfüllung auf Hoffnung angezogen. Dies bezeugt klar der Psalmist mit den Worten: „Er führte sein Volk heraus in Freude, seine Auserwählten in Jubel. Er gab ihnen die Länder der Völker und ließ sie den Besitz der Nationen gewinnen, damit sie seine Satzungen hielten und seine Gebote befolgten" (Ps 105,44ff). Wenn aber die Seele des Menschen auf die Wohltaten Gottes nicht mit guten Werken antwortet, erscheint ihre Verwerfung um so gerechter, als sie mit Güte gefördert wurde. So spricht der Psalmist: „Du stürzt sie in Täuschung und Trug" (Ps 73,18). Denn da die Verwerflichen die Gaben Gottes nicht mit entsprechenden guten Werken erwidern und so dieses Betätigungsfeld völlig brachliegen lassen, während sie sich den reichlich zufließenden Wohlstandsgütern überlassen, gereicht ihnen das, was ihnen äußerlich frommt, am Ende zum Sturz. In dieser Sicht wird dem Reichen, der nun Höllenqualen erduldet, gesagt: „Du hast schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten" (Lk 16,25). Er hat, obwohl böse, hier Gutes empfangen, um dort im volleren Maß Übles zu empfangen, weil er sich hier nicht einmal durch das viele Gute hatte bekehren lassen.

Diejenigen hingegen, die gewiss auch auf irdischen Erfolg ausgehen, durch Missgeschick jedoch enttäuscht die Lust danach verlieren, sollen gründlich überdenken und beherzigen, mit welch gütiger Fürsorge der Urheber und Lenker alles Guten über ihnen wacht, wenn er sie nicht frei ihren Sehnsüchten überlässt. Einem Kranken allerdings, für den der Arzt keine Hoffnung mehr hat, gestattet er alles zu erhalten, worauf er Appetit hat. Solange aber Hoffnung auf Heilung besteht, verweigert er ihm viele Wünsche. Und Kindern, für die wir das ganze Erbvermögen aufsparen, verheimlichen wir das Geld. Daher sollten diejenigen, die die Ungunst des zeitlichen Lebens bedrückt, Freude aus der Hoffnung auf das ewige Erbe schöpfen. Denn läge es nicht im Ratschluss Gottes, sie für das ewige Heil zu bereiten, so würde er sie nicht in strenger Zucht lenken und kurz halten. Diejenigen also, denen in ihren zeitlichen Erwarturigen Missgeschick und Mühsal zusetzen, ermuntere man zu bedenken, dass Schuld und Sünde selbst die Gerechten sozusagen in seiner Fangschlinge gefangen setzt, wenn :zeitliches Vermögen sie zu Macht und Ansehen bringt. David, der Liebling Gottes, z. B. war rechtlicher denkend, da er noch in Diensten „stand, als später, da er zur Königsmacht kam (1 Kön 24,18). Als Untertan scheute er sich aus Gerechtigkeitsliebe, seinen Gegner zu töten, als er ihn überrascht hatte; als König aber ließ er sich, dem Drang der fleischlichen Begierde folgend, verleiten, einen ergebenen Soldaten sogar in einem Betrugsmanöver zu töten (2 Kon 11,17). Wer könnte ohne inneren Schaden zu erleiden nach Reichtum, wer nach Macht, wer nach Ehre streben, wenn sie selbst dem zur verbrecherischen Schuld wurden, der sie ohne eigenes Bemühen erhielt. Wer wird in solchen Verhältnissen ohne große Gefahr und Mühe das Heil erlangen, wenn selbst der, der hierfür durch Gottes Wahl vorbereitet war, ins Wanken kam und in Schuld geriet? Sie sollen gemahnt und an Salomo erinnert werden, der, wie berichtet wird, trotz seiner großen Weisheit sogar dem Götzendienst verfiel; von ihm wird mahnend erwähnt, dass er vor seinem Fall keine Widrigkeiten in dieser Welt zu ertragen hatte. Doch die ihm verliehene Weisheit verließ ihn vollends, weil sein Herz durch keine Zerreißprobe gewarnt und behütet war (1 Kön 11,4).

27. KAPITEL: Wie Verheiratete und wie Ledige zu ermahnen sind

Anders muss man die ermahnen, die eheliche Verpflichtungen haben, und anders die, welche von ehelichen Bindungen frei sind. Die eheliche Pflichten haben, sind wechselseitig darauf bedacht, was einer dem anderen schuldig ist, und während ein jeder seinem Ehepartner zu gefallen sucht, soll er es so tun, dass er dabei seinem Schöpfer nicht missfällt. Was zum Leben in der Welt gehört, sollen sie so vollziehen, dass sie dabei nicht aufhören, ihr Verlangen darauf auszurichten, was Gottes ist. Was gut und ehrenhaft ist im gegenwärtigen Leben, daran sollen sie sich so erfreuen, dass sie dabei jedoch sehr bewusst darauf bedacht bleiben, die Leiden in der Ewigkeit gar sehr zu fürchten. Was an zeitlichen Übeln sich einstellt, sollen sie so betrauern, dass sie zum vollen Trost ihre Hoffnung unerschüttert auf die ewigen Freuden bewahren, weil sie einsehen, dass im Vorübergang ist, was sie tun, ein bleibender Zustand, worauf sie ihr Verlangen richten. Die Leiden dieser Welt sollen ihr Herz nicht entmutigen, da die Aussicht auf die unvergänglichen Güter ihm Kraft verleiht. Die Freuden des gegenwärtigen Lebens sollen sie nicht täuschen, wenn sie der Blick auf die Leiden des kommenden Gerichts betrübt. Die christlichen Ehegatten sind sowohl kleinmütig wie zuversichtlich; sie können einerseits nicht alles Zeitliche völlig außer acht lassen, andererseits sind sie imstande, sehnsuchtsvoll mit dem Ewigen verbunden zu sein. Und obwohl ihr Geist bisweilen im Bann der Fleischeslust darniederliegt, kann er doch wieder in der heilenden Hoffnung auf das Himmlische erstarken. Und wenn sie auf dem Weg zum Ziel Umgang haben mit dem, was der Welt ist, so hoffen sie doch auf das, was Gottes ist, wenn sie angekommen sind. Doch sollten sie sich nicht mit Leib und Seele dem zuwenden, was sie tun, damit sie nicht ganz und gar das fallen lassen, worauf sie hätten fest hoffen sollen. Paulus drückt es kurz und treffend aus, wenn er sagt: „Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freute er sich nicht" (1 Kor 7,29). Eine Frau hat, als habe er keine, wer den Umgang mit ihr zur Beruhigung des Fleisches pflegt, sich jedoch in der Liebe zu ihr niemals von der Geradheit einer edleren Absicht zum verwerflichen Tun hinbiegen lässt. Eine Frau hat, als habe er keine, wer alles als vorübergehend betrachtet und der Pflege des Leiblichen der Bedrängnis nachkommend Genüge tut, die ewig währenden Freuden des Geistes aber mit Spannung erwartet. Es weint, als weine er nicht, wer bei äußerem Unglück und Missgeschick zwar traurig wird und jammert, sich jedoch durch die tröstliche Hoffnung auf das Unvergängliche aufzurichten und zu freuen vermag. Und es freut sich, als freute er sich nicht, wer seinen Geist weit über das Niedrige und Gemeine erhebt, aber das Schlimmste zu befürchten nicht ablässt. Angemessen fügt Paulus an jener Stelle hinzu: „Denn die Gestalt dieser Welt vergeht" (1 Kor 7,31). Er will offensichtlich sagen: Schenkt der Welt keine unwandelbare Liebe; denn sie, die ihr liebt, besitzt selbst keine unwandelbare Gestalt. Es ist ein Irrtum, wie Verliebte das Herz an sie zu hängen, als könntet ihr bleiben; denn sie selbst lässt euch sitzen, eure Geliebte.

Man mahne die Eheleute, das, was manchmal einem am anderen missfallt, beiderseits mit Nachsicht zu tragen, sich gegenseitig zu ermuntern und so einander zum Heil zu verhelfen. Steht doch geschrieben: „Einer trage des anderen; Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen" (Ga! 6,2). Das Gesetz Christi aber ist die Liebe. Nach diesem Maß hat er freigebig seinen Reichtum auf uns übertragen und unsere Nöte und Gebrechen solidarisch mit uns getragen. Wir sind dann in der Gesinnung Christus ähnlich und erfüllen das Gesetz Christi, wenn wir willig unser Gutes anderen zukommen lassen und die Nöte und Gebrechen der Unsrigen heilsam und gottgefällig tragen. Man ermahne sie auch, dass ein jeder von ihnen seine Aufmerksamkeit weniger dem zuwendet, was er durch den anderen zu leiden hat, als vielmehr dem, was andere durch ihn zu leiden haben. Denn wenn jeder bedenkt, was er zu ertragen auflädt, wird er weniger drückend finden, was er auszustehen hat.

Man soll die Eheleute auch mahnend daran erinnern, dass sie dazu den Bund der Ehe eingegangen sind, um Kinder zu bekommen. Wenn sie ungehemmt Beischlaf pflegen, verlegen sie auf sinnlichen Liebesgenuss, was auf Fortpflanzung ausgerichtet ist. Sie sollen bedenken, dass sie doch innerhalb der Ehe den ehelichen Anspruch überziehen, mögen sie auch nicht außerhalb des ehelichen Rechtes handeln. Daher ist es unausbleiblich, dass sie immer wieder durch flehentliches Bitten sühnen, wenn sie das edle Ideal der ehelichen Vereinigung unter Einfluss böser Lust entstellen. Darum schreibt der Apostel wohlwissend um die himmlischen Heilskräfte, weniger um die Gesunden zu belehren, als vielmehr um die Schwachen auf die Heilmittel aufmerksam zu machen: „Nun zu den Anfragen eures Briefes! ,Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren.' Wegen der Gefahr der Unzucht soll aber jeder seine Frau haben, und jede soll ihren Mann haben" (1 Kor 7,1f). Er verweist zunächst auf die Gefahr der Unzucht; somit hat er offensichtlich kein Gebot für die Standfesten aufgestellt; aber diejenigen, die in Gefahr sind, tief zu Boden zu stürzen, verweist er auf das Ehebett. Darum fügt er für die Schwachen noch hinzu: „Der Mann soll seine Pflicht gegenüber der Frau erfüllen und ebenso die Frau gegenüber dem Mann" (ebd.7,3). Bei hoher Würdigung der Ehrbarkeit des Ehestandes räumt er einiges an Begehrlichkeit ein; denn er schreibt weiter: „Das sage ich als Zugeständnis, nicht als Gebot" (ebd. 7,6). Denn auf das Bestehen einer Schuld wird hingewiesen, wenn etwas als der Nachsicht bedürftig bezeichnet wird. Doch diese Schuld wird eher mild behandelt, weil es hier nicht darum geht, dass etwas Unerlaubtes getan wird, als vielmehr darum, dass etwas Erlaubtes nicht mit der maßvollen Beherrschung vollzogen wird Ein gutes Beispiel hierfür bietet Lot in seinem Verhalten; er floh aus dem brennenden Sodom; doch als er sich in Zoar befand, bestiegen er und seine Töchter nicht alsbald das Gebirge. Das brennende Sodom fliehen heißt, das in Brand geratende Verlangen des Fleisches vom Unerlaubten ablenken. Die erhabene Höhe des Gebirges ist hingegen die klare Schönheit der Enthaltsamen. Und gewiss sind auch diejenigen gleichsam schon auf Bergeshöhe angelangt, die zwar die körperliche Vereinigung regelmäßig pflegen, dabei jedoch über den der Empfängnis von Nachkommen vorbehaltenen Beischlaf keine Lust des Fleisches entfesseln. Auf Bergeshöhe stehen heißt: im Leiblichen nichts anderes begehren als den Nachkommen, die Frucht des Leibes, das Kind. Vollends auf Bergeshöhe stehen heißt, am Fleischlichen nicht nach Art des Fleisches hängen. Aber wie es viele gibt, die wohl die frevelhaft sündige Haltung des Fleischmenschen aufgeben, ohne jedoch im Stand der Ehe sich auf die Ausübung der ehelichen Pflichten zu beschränken, so verließ Lot Sodom, ging aber nicht alsbald bis ins Gebirge. Damit soll gesagt werden, es wird bereits die verurteilungswürdige Lebensweise aufgegeben, aber noch nicht die erhabene Höhe der ehelichen Enthaltsamkeit feinsinnig eingehalten. Nicht ohne Grund heißt es, auf halbem Weg befindet sich die Stadt Zoar (die Kleine), die den flüchtenden Schwachen Rettung und Heil gewährt. Denn es gibt freilich Eheleute, die es nicht fertig bringen, sich des Beischlafs zu enthalten, den Fall in das Laster jedoch fliehen, auch sie finden Gnade und Heil. Sie finden allerdings - bildlich gesprochen - eine kleine Stadt, in der sie vor der Feuersbrunst geschützt sind. Ein derartiges Eheleben ist zwar nicht als besonders tugendhaft bewundernswert, bietet aber Schutz vor ewiger Strafe. Deshalb sagt Lot zum Engel: „Da, die kleine Stadt in der Nähe, dorthin könnte man fliehen. Sie ist doch klein; dorthin will ich mich retten. Ist sie nicht klein? So könnte ich am Leben bleiben" (Gen 19,20). Es heißt, die Stadt ist nahe gelegen; es wird auch gesagt, dass sie dennoch Schutz und Rettung bietet; denn das Eheleben ist einerseits dem Weltlichen nicht fern entrückt, andererseits ist es den Freuden des Heiles nicht fern ab. Doch die Eheleute bewahren ihr Leben bei solcher Lebensführung wie in einer kleinen Stadt, wenn sie unablässig und inständig füreinander beten. So wird auch durch den Engel dem Lot richtungweisend gesagt: „Gut, auch das will ich dir gewähren und die Stadt, von der du sprichst, nicht zerstören" (Gen 19,21). Denn wo das Gebet sichtlich fest in Gott begründet ist, wird das Leben in einem derartigen Ehestand keinesfalls dem Strafgericht verfallen. Zu solchem Bitten und Beten fordert auch Paulus auf, wo er sagt: „Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeitlang, um für das Gebet frei zu sein" (1 Kor 7,5).

Diejenigen hingegen, die keine Ehe eingegangen und also frei sind, sind zu ermahnen, dass sie um so geradliniger den göttlichen Geboten nachkommen, da sie sich ja nicht unter dem Zwang zur leiblichen Vereinigung mit besonderer Aufmerksamkeit dem weltlichen Putz zuwenden müssen.

Frei und unbelastet von den erlaubten Diensten des Ehestandes soll sie nicht die Sorge um das Irdische in unerlaubtem Maß bedrücken und belasten. Der Jüngste Tag möge sie so gefasst und wohlgerüstet vorfinden. Doch sollen sie daran denken, dass sie sich verdientermaßen ein strengeres Strafmaß zuziehen würden, wenn sie es aus Nachlässigkeit unterließen, um so mehr Gutes zu tun, weil sie, anderer Sorgen ledig, dies können. Sie mögen hören, dass der Apostel, als er einige über die Vorzüge der Ehelosigkeit unterrichtete, nicht den Ehestand verwarf, sondern, um von der Sorge um die weltlichen. Dinge, die sich aus dem Ehestand ergibt, fernzuhalten, schrieb: „Das sage ich zu eurem Nutzen: nicht um euch eine Fessel anzulegen, vielmehr, damit ihr in rechter Weise und ungestört immer dem Herrn dienen könnt" (1 Kor 7,35). Denn im Ehestand beanspruchen die Sorgen um weltliche Dinge einen Vorrang. Deshalb suchte der Völkerapostel die Zuhörer für das Empfehlenswertere zu gewinnen, damit sie nicht durch die pflegliche Sorge des Weltlichen gebunden wurden. Ein Lediger nun, dem die Sorgen um die Dinge der Welt wie eine Fußangel anhängen und zum Hindernis werden, hat sich zwar nicht den Verhältnissen des Ehestandes unterworfen, noch ist er den Beschwernissen des Ehestandes entronnen. Die Ledigen sind zu mahnen, dass sie nicht etwa meinen, sich ohne schwere Schuld und Verurteilung mit zugänglichen Frauen einlassen zu dürfen. Welchen Stellenwert Paulus dem Laster der Unzucht als Anklagegrund beimisst, zeigt er an, indem er es unter so viele andere fluchwürdige Vergehen einreihte; er schreibt nämlich: „Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich erben" (1 Kor 6, 9t). Und an anderer Stelle schreibt er: „Unzüchtige und Ehebrecher wird Gott richten" (Hebr 13,4). Darum ermahne man die Ehelosen, dass sie ihr Heil dringend in der Flucht in die Ehe suchen, wenn sie den Ansturm der Versuchungen nur mit Schwierigkeiten für das ewige Heil ertragen. Denn es steht geschrieben: „Es ist besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren" (1 Kor 7,9). Es wird niemand missbilligen oder ihnen eine Schuld zuschreiben, wenn sie heiraten; es sei denn, sie haben eine höhere Vollkommenheit gelobt. Denn wer es auf sich genommen hat, ein höheres Ziel anzustreben, der hat sich den Weg der geringeren Vollkommenheit, den er erlaubter weise gehen konnte, zu einem unerlaubten gemacht. Steht doch geschrieben: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes" (Lk 9,62). Wer sich ein festes hohes Ziel gesetzt hatte, als sein Eifer kraftvoll andauerte, überführt sich demnach selbst, wenn er zurückblickt, ein Mehr an Vollkommenheit aufgibt und sein Ziel auf ein minderes Stückwerk herunterschraubt.

28. KAPITEL: Wie die zu ermahnen sind, die aus eigener Erfahrung die Sünden des Fleisches kennen, und wie jene, die von ihnen freigeblieben sind

Anders sind die zu ermahnen, die eine volle Kenntnis der Sünden des Fleisches haben, anders jene, denen sie fremd sind. Diejenigen, die aus eigener Erfahrung die Sünden des Fleisches kennen, muss man ermahnen, dass sie wenigstens nach erlittenem Schiffbruch das Meer zu meiden suchen und vor den Gefahren für ihren Untergang zutiefst erschauern, spätestens nachdem sie sich ihrer bewusst geworden sind, damit sie sich nicht erdreisten, nachdem sie vorerst nach dem Sündenfall aus Gnade gerettet worden sind, diese Sünden erneut zu begehen und im Tod untergehen. Einem Menschen, der sündigt und niemals von der Sünde ablässt, wird deshalb gesagt: „Du hattest die freche Stirn einer Dirne und wolltest dich nicht schämen" (Jer 3,3). Man ermahne die Menschen, die nicht den Willen aufbrachten, die empfangenen Gaben der Natur heil zu erhalten, dass sie sich wenigstens anstrengen, sie in ihrer Versehrtheit wiederherzustellen. Es ist ihnen dringend Nahezulegen, dass sie mit Bedacht auf die vielen Gläubigen schauen, die in so großer Zahl sich selbst makellos abschirmen und überdies andere von ihren Abwegen zurückführen. Was wollen sie vorbringen, wenn die anderen in Unschuld dastehen und sie selbst nicht einmal nach erlittenen Niederlagen zur Besinnung kommen? Was werden sie dem Herrn sagen, wenn er Ausschau hält und sie nicht einmal sich selbst gewandelt einstellen, während viele auch andere mit sich in das Himmelreich einbringen? Man ermahne sie, an die in der Vergangenheit begangenen Sünden zu denken und die ihnen auflauernden zu vermeiden. Deshalb ruft der Herr in der Gestalt der Tochter Juda den in der Welt verführten Seelen die begangene Sünden schuld durch den Propheten ins Gedächtnis zurück, damit sie in Scham erröten und sich in Zukunft nicht besudeln; es heißt dort: „Sie trieben Unzucht in Ägypten, schon in ihrer Jugend trieben sie Unzucht; dort griff man nach ihren Brüsten, dort streichelte man ihre jugendliche Brust" (Ez 23,3). In Ägypten greift man nach den Brüsten, wenn das Wollen des menschlichen Geistes dem unsittlichen Begehren dieser Welt untergeordnet wird. In Ägypten streichelt man die jugendliche Brust, wenn man die bisher in sich unverfälschten natürlichen Gefühle durch die aufwallende Begierde schändlich verdirbt.

Diejenigen, die Sünden des Fleisches aus Erfahrung kennen, ermuntere man, dass sie mit innerer Anteilnahme und Sorgfalt ihre Aufmerksamkeit darauf richten, in welch unendlicher Weite Gott sein gütiges Herz für uns offen hält, wenn wir nach unseren Vergehen wieder den Weg zu ihm suchen; er sagt es durch den Propheten: „Wenn ein Mann seine Frau entlässt und wenn sie von ihm weggeht und die Frau eines anderen wird, wendet er sich dann ihr wieder zu? Würde eine solche Frau nicht völlig entweiht sein? Du aber hast mit vielen Freunden gebuhlt, dennoch, kehre zu mir zurück. - Spruch des Herrn" (Jer 3,1). Beachten wir, für die entlassene buhlerische Frau wird die Forderung der Gerechtigkeit angegeben: Uns wird dennoch, wenn wir nach dem Fall uns bekehren, nicht Gerechtigkeit, sondern gütige Nachsicht, auf Bewährung geboten. Wenn wir nun mit so viel Nachsicht und Schonung behandelt werden, nachdem wir gefallen sind, sollten wir daraus freilich den Schluss ziehen, wie verwerflich wir es treiben, wenn wir nach einem Fehltritt nicht Umkehr halten, sondern dreist fortfahren zu sündigen. Die Nachsicht von seiten Gottes gegen die Böswilligen wird vorab die sein, dass er nie ablässt, die Übeltäter einladend zu rufen. Diese Stimme des Erbarmens nach einem begangenen Vergehen bringt der Prophet in der Tat sehr gut zum Ausdruck, wenn er zum abgewandten Menschen spricht: „Deine Augen werden deinen Lehrer sehen, deine Ohren werden es hören, wenn er dir nachruft" (Jes 30,20t). Gott hat nun freilich den Menschen, als er noch in der Geborgenheit des Paradieses lebte und in der Freiheit der Willensentscheidung stand, von Angesicht zu Angesicht belehrt und ihm klar aufgezeigt, was ihm zu tun erlaubt, und ebenso, was ihm zu tun verboten sein sollte. Aber der Mensch hat dem Angesichte Gottes den Rücken gekehrt und, überheblich geworden, Gottes Gebote missachtet. Und dennoch hat Gott den Stolzen nicht aufgegeben; um ihn zurückzurufen, gab er ihm das Gesetz, sandte mahnende Boten, und schließlich erschien er selbst in unserem sterblichen Fleisch. Er stand hinter uns und forderte uns auf, er, der uns, selbst als wir seiner nicht achteten, zur Wiedergewinnung der Freundschaft berief. Und was für alle im allgemeinen gesprochen ist, das muss man entsprechend für jeden einzelnen im besonderen verstehen. Es steht jeder gewissermaßen vor den Augen Gottes, da er durch die Gebote den Willen Gottes erkennt und, ehe er sündigt, sein warnendes Wort vernimmt. Solange er nicht sündigt und also Gott nicht verachtet, steht er noch immer vor seinem Angesicht. Wer aber unter Hintenansetzung des Gutes der Unschuld sich für das Unrecht entscheidet und es begehrt, der wendet bereits seinem Angesicht den Rücken zu. Aber Gott ist uns noch immer nahe, folgt dicht hinter uns und fordert uns mahnend auf, indem er auch nach begangener Sünde zur Rückkehr zu ihm zuredet. Den Abgewandten ruft er zur Umkehr und schaut nicht auf das begangene Unrecht; dem Rückkehrenden öffnet er weit den Busen seiner erbarmenden Güte. Wir schenken der Stimme des uns Nachrufenden Gehör, wenn wir, wenigstens nachdem wir gesündigt haben, seiner Einladung folgen und uns zum Herrn bekehren. Wir müssen deshalb vor dem liebevollen Erbarmen des Rufenden in Scham erröten, wenn wir nicht wollen, dass wir vor seiner Gerechtigkeit in Angst und Schrecken geraten: Ist doch die Missachtung dessen um soviel verwerflicher und gravierender, als der Missachtete selbst es sich nicht verdrießen lässt, noch immer zu rufen.

Diejenigen, denen die Sünden des Fleisches fremd sind, muss man dagegen warnen, damit sie um so mehr auf der Hut vor einem jähen Sturz sind, je höher sie stehen. Man muss sie wissen lassen, dass der Versucher ihnen auflauert und mit um so mehr Pfeilen auf sie eindringt: je überragender der Standort ist, den sie einnehmen. Seine Wut flammt um so höher empor, je ungebrochener die Kraft bleibt, mit der er überwunden wird, und der Verdruss über seine Unterlegenheit wird ihm um so unerträglicher, wenn er zusehen muss, wie das schwache Fleisch mit ungeschmälerter Kampfstärke die Stellung gegen ihn behauptet. Man ermutige solche Menschen, dass sie unentwegt ihren Blick auf den Siegespreis emporrichten. Dann werden sie leichten Herzens und ohne zu zweifeln die quälenden Versuchungen, die sie zu erleiden haben, zu Boden treten. Denn wer seine Sinne fest auf die nie endende Glückseligkeit richtet, deren er für immer teilhaftig wird, für den wird leicht und nichtig, was vorübergehend zu erleiden ist. Sie mögen vernehmen, was der Prophet sagt: „So spricht der Herr: Den Verschnittenen, die meine Sabbate halten, die gerne tun, was mir gefällt, und an meinem Bund festhalten, ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauem ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter" (Jes 56,4f). Verschnittene sind jene, die die leiblichen Regungen unterdrücken und sich in ihrem Herzen von der bösen Lust losreißen. Welchen Platz sie beim Vater einnehmen dürfen, wird daraus ersichtlich, dass sie im Hause des Vaters eine ewige Wohnung erhalten und Vorrang haben vor Söhnen und Töchtern. Sie mögen hören, wie es bei Johannes heißt: „Sie sind es, die sich nicht mit Frauen befleckt haben; denn sie sind jungfräulich. Sie folgen dem Lamm, wohin es geht" (Offb 14,4). Und sie werden das Lied singen, das niemand singen kann außer den Hundertvierundvierzigtausend. Dies ihnen vorbehaltene Lied dem Lamm singen heißt, mit ihm für ewig über die Freude der Getreuen hinaus sich obendrein über die leibliche Jungfräulichkeit freuen. Dieses Lied können auch die übrigen Auserwählten hören, sei es auch, dass sie nicht imstande sein mögen, es zu singen. Eins in der Liebe jubeln sie in Freude über die Erhabenheit jener, wenngleich sie nicht zu deren Vorrecht aufsteigen können. Sie, denen die Sünden des Fleisches fremd sind, mögen vernehmen, was die ewige Wahrheit selbst über solche sittliche Unbescholtenheit sagt: „Nicht alle können dies Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist" (Mt 19,11). Indem der Herr somit in Abrede stellte, dass es für alle gilt, kennzeichnete er es als das Höchste; doch damit, dass er vorausschickte, dass es schwer zu erfassen ist, gab er den Hörern zu verstehen, unter welcher Voraussetzung man an ihm festhalten könne, wenn man es erfahren hat.

Deshalb lasse man solche, die keine Berührung mit Sünden des Fleisches haben, wissen, dass der Stand der Jungfräulichkeit wohl vortrefflicher ist als der Ehestand; man warne sie aber dennoch davor, sich über die Eheleute erhaben zu wissen. Vielmehr sollten sie in dem Maß, wie sie dem Stand der Jungfräulichkeit einen Vorrang einräumen, sich selbst hintenansetzen. Sie sollen auf der einen Seite nicht fluchtartig aufgeben, was sie als vorzüglicher einschätzen, auf der anderen Seite sollten sie sich hüten, sich grundlos zu erhöhen. Sie sollen aufmerken und gewahrt werden, dass die Weltleute in ihrer Lebensführung die Enthaltsamen vielfach in beschämende Verlegenheit bringen, da jene Lasten auf sich nehmen, die weit über ihren Stand gehen, während diese ihre Verpflichtungen nicht mit der Herzenshingabe betreiben, wie sie ihrer eigenen Regel gemäß ist. Der Prophet spricht es trefflich so aus: „Schäme dich, Sidon, das Meer sagt es"(Jes 23,4). Sidon wird gleichsam durch den Ruf des Meeres in Angst und Schande versetzt, wenn das Leben dessen verworfen wird, der im Vergleich mit dem Leben der Weltleute, die in den Wogen dieser Welt hin und her getrieben werden, als abgesichert und fest begründet angesehen wird. Es gibt nicht wenige, und es kommt oft vor, dass diejenigen, die zunächst ein Leben in Ausgelassenheit führten, zum Herrn zurückkehren, einen um so glühenderen Eifer in guten Werken zeigen, je mehr sie sich wegen ihrer früheren Übeltaten als straf würdig erkennen. Aber gar oft geschieht es, dass diejenigen, die ihre leibliche Unversehrtheit bewahren und kaum etwas der Tränen Würdiges an sich finden, der Ansicht sind, sich mit einem Leben in Unbescholtenheit begnügen zu dürfen und sich darum durch keine leidenschaftliche Regung zur Glut des Geistes entzünden. Für gewöhnlich wird ein nach dem Fall in Liebe erglühtes Leben Gott wohlgefälliger als eine sich in Sicherheit wiegende und in Lauheit erlahmte Unschuld. Darum der richterliche Spruch: „Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie (mir) so viel Liebe gezeigt hat" (Lk 7,47). Und: „Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren" (Lk 15,7). Wir ersehen das leicht aus unserem eigenen Verhalten, wenn wir die Schlussfolgerungen unseres Geistes zum Vergleich heranziehen. Denn wir wissen einen Acker höher einzuschätzen, auf dem Dornen wuchsen, der umgeackert nun reiche Frucht bringt, als den, der keine Dornen trug und nach der Aufbereitung nur leere Saaten sprießen lässt. Die die Sünden des Fleisches nicht kennen, mahne man, dass sie nicht aus der Erhabenheit des ranghöheren Standes einen Vorrang für sich buchen, da sie in Unkenntnis dessen sind, wie vieles von den Minderen besser gemacht wird. Denn die Einschätzung durch den unbestechlichen Richter versetzt die Verdienste in der Rangfolge entsprechend der Güte der Taten. Betrachten wir einmal als Bild die Erscheinungen bei sachlichen Werten; wer wüsste nicht, dass bei der Gattung der Edelsteine der Karfunkel dem Hyazinth vorgezogen wird? Und doch wird ein himmelblauer Hyazinth höher geschätzt als der blasse Karfunkel. Bei jenem ersetzt die Anmut der äußeren Erscheinung, was seiner natürlichen Beschaffenheit abgeht; diesen entstellt der mangelnde Farbenglanz, obwohl ihm die natürliche Beschaffenheit einen höheren Wert ausgewiesen hatte. Entsprechend verhält es sich bei den Menschen; manche höheren Standes sind schlechter, manche minderen Standes sind besser, weil die einen den dem niedrigeren Stand entsprechenden Anteil durch eine vortreffliche Lebensführung überbieten, während die anderen das Verdienst des höheren Standes schmälern, weil sie dessen sittlichen Forderungen nicht nachgehen.

29. KAPITEL: Wie man diejenigen ermahnen muss, die Sünden in Werken zu beklagen haben, und wie solche, die nur Gedankensünden bereuen haben

Anders sind die zu ermahnen, die Sünden in Werken und Worten zu beklagen haben, und anders die, welche sich in Gedanken versündigt haben. Diejenigen, die sich anklagen müssen, in Worten und Werken gesündigt zu haben, sind zu ermahnen, dass sie nicht im geringeren Umfang Sühne und Genugtuung in Tränen der Reue einlösen, als sie für eine in vollendeter Tat begangene Sünde zu leisten schuldig und verpflichtet sind, damit eine vollkommene Zerknirschung die begangenen Sünden tilge. Steht doch in der Schrift: „Du hast sie gespeist mit Tränenbrot, sie überreich getränkt in Tränen" (Ps 80,6). Jeder soll offenbar durch Buße seinen Geist in dem Maße in Tränen der Zerknirschung tränken, wie er sich bewusst ist, dass er seine Gedanken durch ein schuldvolles Leben von Gott entleert hat und sein Herz ausdörren ließ. Man ermahne sie, dass sie nicht ablassen, an die Sünden zu denken, die sie willentlich zugelassen haben. Sie mögen durch eine entsprechende Lebensführung erwirken, dass diese nicht vor dem Richter, vor dem alles offen liegt, als Schuld in Erscheinung treten müssen. Als David nämlich flehentlich betete: „Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden" (Ps 51,11), beteuerte er, wie wir einige Verse zuvor lesen: „Meine Sünde steht mir immer vor Augen" (ebd.51,5). Damit will er doch bekunden: Danach steht mein Verlangen; gedenke nicht meiner Sünden, denn ich bin ihrer eingedenk und säume nicht. Deshalb lässt der Herr den Propheten sprechen: „Deiner Sünden will ich nicht mehr gedenken, du jedoch bleib ihrer eingedenk" (Jes 43,25f, nach LXX). Man halte sie an, jede bewusst zugelassene Sünde einzeln zu bedenken; denn wenn sie die Schändlichkeit ihrer Verirrung bei jeder einzelnen beweinen, werden sie dabei im Bad der Tränen zugleich selbst insgesamt rein. So heißt es in zutreffender Weise bei Jeremia, wobei die Vergehen Judäas einzeln erwogen werden: „Gesonderte Tränenströme vergießt mein Auge" (Klg13,48). Aufgeteilt strömen nämlich die Tränen aus unseren Augen, wenn wir jede einzelne Sünde gesondert mit Tränen bedenken. Denn nicht zu ein und derselben Zeit empfindet unser Herz gleichermaßen Reueschmerz über alle Sünden; doch wenn es im Gedenken bald von dieser, bald von jener Schuld heftiger betroffen wird, wird es, in den einzelnen schmerzlich gerührt, zugleich von allen geläutert.

Man weise sie hin, dass sie sich der Barmherzigkeit, um die sie verlangend bitten, im voraus erfreuen dürfen, damit nicht übermäßige Niedergeschlagenheit sie mutlos macht und sie im Tod untergehen. Denn der Herr würde nicht liebevoll den Sündern ihre Vergehen vor Augen halten, auf dass sie sie beweinen, läge es in seinem Willen, selbst diese eingehend zu bestrafen. Es ist jedoch sein beschlossener Wille, sie seinem richterlichen Urteil zu entziehen, indem er ihnen in seinem Erbarmen entgegenkam und sie zu Richtern über sich selbst bestellte. Darum steht geschrieben: „Lasst uns mit Lob seinem Angesicht nahen, vor ihm jauchzen in Liedern" (Ps 95,2). Und bei Paulus heißt es: „Gingen wir mit uns selbst ins Gericht, dann würden wir nicht gerichtet" (1 Kor 11,31 ). Anders wiederum muss man sie warnen, dass sie es nicht so mit dem Vertrauen auf Hoffnung halten, dass sie dabei in sorgloser Sicherheit abstumpfen und gleichgültig werden. Denn sieht der Widersacher, dass eine Seele, die er in die Sünde verstrickt hat, über ihren Sturz betrübt und niedergeschlagen ist, lenkt er sie ab und schmeichelt sie hinterhältig in eine verderbliche Sicherheit hinein. Das finden wir in der Gestalt der Dina veranschaulicht, wenn wir an ihren Fall denken. Es wird geschildert: „Dina ging aus, um sich die Töchter des Landes anzusehen. Sichern, der Sohn des Hiwiters Hamor, des Landesfürsten, erblickte sie; er ergriff sie, legte sich zu ihr und vergewaltigte sie. Er fasste Zuneigung zu Dina, der Tochter Jakobs, und da sie bekümmert war, beschwichtigte er sie mit schmeichelhaften Reden" (Gen 34,1-3). „Dina geht aus, um die Töchter eines fremden Landes zu sehen", wann immer eine Seele ihre Obliegenheiten vernachlässigt und sich um anderer Leute Tun bekümmert, die umherirrt ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und gegen ihre Bestimmung. „Sichern, der Landesfürst, tut ihr Gewalt an", d. h., es entstellt sie der Teufel, der sie mit Äußerlichkeiten beschäftigt findet. „Und er liebte das Mädchen", d. h., er betrachtet sie als seine Verbündete im sündigen Treiben. Und wenn die Seele nach dem Vergehen sich wiederfindet, wieder sie selbst wird und sich entschließt, die begangenen Sünden zu beweinen, da weckt der Verführer in ihr grundlose Hoffnungen und macht ihr eitle Zusicherungen, um der Zweckmäßigkeit ihrer Betrübnis den Boden zu entziehen. Treffend wird deshalb angefügt: „und da sie bekümmert war, beschwichtigte er sie mit schmeichelhaften Reden". Bald stellt er nämlich die Taten anderer als viel schlimmer hin, bald spricht er von der Nichtigkeit dessen, was geschehen ist; auch Gott, den Barmherzigen, erwähnt er und unterlässt nicht das Versprechen, dass in der Folgezeit immer noch Gelegenheit zur Umkehr und Buße gegeben ist. Damit wird die Seele hintergangen und hingehalten und ihr Entschluss, umzukehren und Buße zu tun, schwankt zwischen Wollen und Nichtwollen. Und insofern jetzt kein Leid ihr Leben trübt, wird ihr einst auch nicht Beglückendes zuteil, vielmehr, da sie sich hier sündhaften Freuden hingibt, wird sie einst um so mehr mit qualvollen Leiden überhäuft werden.

Diejenigen hingegen, die in Gedanken gesündigt haben, mögen in die verborgenen Tiefen ihres Herzens schauen und sich freimütig fragen, ob sich nur wohlgefällige Gedanken eingestellt haben oder ob es mit ihrer Einwilligung geschah. Für gewöhnlich wird das Herz verführerisch angesprochen und infolge der Schwachheit des Fleisches findet das Gemüt Wohlgefallen; aber kraft der Vernunft widerstrebt der Mensch dennoch, so dass sein Herz in der Unterschiedenheit seiner innersten Empfindungen in einem sowohl betrauert, was es willkürlich gern hat, wie auch liebend gern möchte, was es betrübt. Bisweilen aber wird die Seele derart vom verschlingenden Strudel der Versuchung hinabgezogen, dass sie so gut wie keinen, Widerstand leistet, sondern sich vielmehr Verstand und Wille dorthin leiten lassen, woher die Seele von der Lust angezogen wird. Und sollte sich die äußere Möglichkeit ergeben, findet der innere Entschluss durch die bewirkte Tat auch seinen Vollzug. Dies jedoch ist in den Augen des Richters, der mit untrüglichem Blick alles durchschaut, nicht mehr eine Sünde in Gedanken, sondern im Werk; denn wenn auch die verzögernden Umstände die Sünde nach außen hin zeitlich verschoben haben, so hat sie der Wille durch seine Zustimmung bereits als Tat vollführt.

Aus dem Verhalten der Stammeltern können wir in Erfahrung bringen, dass wir in drei aufeinanderfolgenden Schritten die vollendete Tat von Schuld und Sünde begehen: im Angebot, im Wohlgefallen und in der Zustimmung. Ersteres schafft der Seelenfeind herbei, das Zweite geschieht als Folge unserer Leiblichkeit, das Dritte ist die Tat, die der Geist vollzieht. Der Versucher unterbreitet uns das krumme Angebot, das Fleisch unterliegt der Verlockung, und der Geist schließlich, benommen vom verlockenden Ansinnen, gibt seine Zustimmung. So ging nämlich jene Schlange vor: Sie brachte verführerisch das Ansinnen vor; Eva, als Verkörperung des Fleisches, unterlag der Verlockung; Adam schließlich, hier als Vertreter des Geistes, ließ sich vom Ansinnen wie von dessen Gefälligkeit schlagen und pflichtete bei. Durch das suggestive Ansinnen werden unsere Gedanken auf die Sünde gelenkt; durch das Gefallen daran werden wir bezwungen; durch die Zustimmung lassen wir uns gar fesseln.

Diejenigen, die schlechte Gedanken und Vorstellungen zu beklagen haben, ermahne man deshalb, sorgsam zu überlegen, in welchem Ausmaß sie sich versündigt haben, damit sie nach der Tiefe ihres Sturzes, den sie in ihrem Innern ermessen, durch ein entsprechendes Maß an Sühne und Genugtuung wieder zur Höhe gehoben werden. Andernfalls werden sie die Gedankensünden im Werk vollziehen, weil sie diese zu schwach gesühnt und durchkreuzt haben. Unterdessen bringe man sie zum Erschrecken in der Art, dass sie gleichwohl ein wenig erschüttert werden. Denn in seinem Erbarmen reinigt Gott eher das Herz von seinen sinnlichen Sünden, als dass er zulässt, dass diese in sündige Werke übergehen. Auch wird gedankliches Unrecht leichter getilgt, wenn es nicht durch die Wirksamkeit von Taten vielseitig verflochten ist. So heißt es treffend beim Psalmisten: „Ich sagte: Ich will dem Herrn die Frevel meines Herzens bekennen. Und du hast mir die Schuld vergeben" (Ps 32,5). Wer beim Frevel hinzufügt: meines Herzens, zeigt fürwahr an, dass er Gedankensünden bekennen wollte. Und wenn er spricht: Ich sagte, ich will bekennen, und unmittelbar hinzufügt: Du hast vergeben, bezeugt er überdies, wie bereitwillig Vergebung gewährt wird. Und während er bis dahin nur zusichert, dass er bitten will, wurde ihm zuteil, um was zu bitten er versprach. Und insofern es bis dahin nicht zur Schuld einer Sünde im Werk kam, mussten nicht auch Reue und Buße den Grad der Peinigung erreichen, vielmehr konnte willentliche Buße die Seele läutern, was nicht verwundert, da sie ja nur gedankliches Unrecht besudelt hatte.

30. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die sich begangener Sünden wegen auf die Brust schlagen, diese jedoch nicht meiden, und wie jene, die sie meiden, aber nicht beklagen

Anders sind zu ermahnen, die eine begangene Schuld beklagen, sie jedoch nicht aufgeben, anders wiederum diejenigen, die sie aufgeben, aber nicht beklagen. Menschen, die begangenes Vergehen beklagen, diese jedoch nicht spurlos aufgeben, sind geflissentlich zu belehren, dass es sinnlos ist, sich unter Tränen einer Reinigung zu unterziehen, wenn man sich leichtfertig durch die Art, wie man lebt, besudelt. Sie baden doch nur dazu, um sich als Reine in den Unrat der Welt hineinzubegeben. Nach dem Sprichwort etwa: „Wie ein Hund, der zurückkehrt zu dem, was er erbrochen hat", und: „Die gewaschene Sau wälzt sich wieder im Dreck" (2 Petr 2,22; Spr 26,11). Wenn ein Hund erbricht, so gibt er das Futter von sich, das seinem Magen Beschwerden bereitet hat; wenn er sich aber wieder dem Erbrochenen zukehrt und es frisst, belastet er sich erneut mit dem, was ihm Beschwerden verschafft hatte. So treiben es auch diejenigen, die über ihre Übeltaten in Tränen ausbrechen. Sie entledigen sich der Taten ihres nichtsnutzigen Treibens, das sie wie eine verdorbene Kost bis zum Überdruss genossen haben und das ihnen schwer auf der Seele lag, indem sie ein Bekenntnis ablegen, nach der Beichte jedoch rückfällig werden und das alte Treiben wieder aufnehmen. Das Schwein aber, das sich in der Suhle wälzt, um sich zu säubern, kommt dreckiger wieder heraus. Ähnlich macht es der, der über seine Sünden in Tränen ausbricht, sie jedoch nicht aufgibt, und sich deshalb eine schwerere Sündenstrafe zuzieht. Er missachtet und schmäht die Vergebung, deren er bei wahrer Reue hätte teilhaft werden können; stattdessen sielt er sich gewissermaßen im Schmutzwasser, und weil er seinen Reuetränen keine saubere Lebensführung folgen lässt, verschmutzt er in den Augen Gottes sogar diese Tränen. Daher steht wiederum geschrieben: „Wiederhole nicht die Worte beim Gebet!" (Sir 7,14) Man wiederholt die Worte beim Gebet, wenn man nach der Buße wieder begeht, was wiederum des Büßens bedarf. Darum heißt es bei Jesaja: „Wascht euch, und seid rein!" (Jes 1,16) Nach dem Bad rein zu bleiben vernachlässigt, wer nicht darauf bedacht ist, nach dem Tränenbad sein Leben gegen die Sünde abzuschirmen. Es waschen sich also und werden doch nicht rein, die es nicht aufgeben, begangene Sünden zu beweinen, und die neue begehen, die wiederum zu beweinen sind. Also spricht der Weise: „Reinigt sich einer von einem Toten, berührt ihn aber wieder, was nützt ihm dann die Waschung? (Sir 34,30) Es wäscht sich nach der Berührung eines Toten, wer sich unter Tränen von der Sünde reinigt, und es berührt den Toten wieder, wer nach der Reinigung im Tränenbad die gleiche Schuld auf sich lädt. Diejenigen, die ihre Vergehen beklagen, sie aber nicht aufgeben, fordere man auf, sich vor das alles überschauende Auge des Richters gestellt zu sehen, auf dass sie sich bewusst werden, dass sie Leuten gleichen, die, wenn sie bestimmten Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnen, ihnen mit großer Untertänigkeit kriecherisch schmeicheln, aber über sie in bissiger Schärfe mit Verwünschungen und Niederträchtigkeiten herziehen, sobald sie sich aus deren Nähe entfernt haben. Seine Sünden beweinen, was bedeutet es denn anderes, als Gott seine Betroffenheit und Hingabe zu zeigen? Und was heißt, nach einem Strom von Reuetränen Böses tun, denn anderes, als gegen den, den man kniefällig angefleht hatte, übermütige Niederträchtigkeiten zu verüben? Jakobus bezeugt es, wenn er sagt: „Wer ein Freund der Welt sein will, der wird zum Feind Gottes" (Jak 4,4). Diejenigen, die ihre Vergehen beklagen, sie aber nicht aufgeben, fordere man des weiteren auf, allen Ernstes zu bedenken, dass es für gewöhnlich erfolglos bleibt, die Böswilligen betroffen zu machen und zum rechten Handeln zu bewegen, und dass die Guten ebenso in den meisten Fällen keinen Schaden nehmen, wenn sie zum Bösen versucht werden. Es gibt allerdings einen Wertmaßstab, der auf die Lauterkeit der inneren Grundhaltung ausgerichtet ist. Demnach überantworten die Böswilligen das wenige Gute, das sie, wenn überhaupt, nur unvollkommen zuwege bringen, durch ihre stolze Gesinnung den bösen Werken, die sie reichlich und in vollem Ausmaß verüben. Die Gutgesinnten binden ihrerseits in demütiger Ergebenheit die Regungen des Herzens um so ernstlicher an die Gerechtigkeit, je mehr sie infolge ihrer Unzulänglichkeit verlegen und verunsichert sind, wenn sie zum Bösen versucht werden, dem sie keinesfalls zustimmen. So sprach auch Bileam beim Anblick der Zelte der Gerechten: „Oh, könnte ich den Tod der Gerechten sterben, und wäre mein Ende dem ihren gleich" (Num 23,10). Doch als der Zeitpunkt seiner Betroffenheit entschwand, billigte er Maßnahmen gegen das Leben derer, denen er, flehentlich bittend, im Sterben gleich sein wollte. Und als er die Gelegenheit für seine Geldgier entdeckte, hatte er auch schon vergessen, was für eine Wahl er bezüglich der Unbescholtenheit getroffen hatte. In dieser Hinsicht sagt Paulus, der Lehrer und Apostel der Völker: „Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangenhält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden" (Röm 7,23). Paulus wird offensichtlich deshalb versucht, damit er aus der Kenntnis seiner Schwachheit heraus um so gefestigter im Guten begründet werde. Was soll es nun bedeuten, dass der eine Betroffenheit erfährt, aber der Gerechtigkeit nicht näher kommt, der andere in der Versuchung steht, jedoch von der Sünde nicht besudelt wird? Es erweist sich ganz offensichtlich, dass das Gute zu wollen, wenn es nicht zur vollendeten Tat wird, dem Bösen nicht aufhilft, dass aber das Böse die Guten nicht straffällig macht, wenn man es nicht vollzieht.

An diejenigen aber, die begangene Sünden aufgeben, jedoch für sie nicht unter Tränen Buße tun, richte man die Mahnung, sie sollten nicht meinen, dass ihre Sündenschuld schon erlassen ist, ohne dass sie sich von ihr unter Tränen gereinigt haben, auch wenn sie diese nicht durch weitere Untaten häufen. Denn auch ein Schriftsteller hat sein Werk, wenn er gleichwohl aufgehört hat, an ihm weiterzuarbeiten, damit schon vernichtet, wenn er ihm nichts mehr hinzufügt. Und wenn jemand schimpfliche Beleidigungen verbreitet hat, hat er nicht schon dadurch Genugtuung geleistet, dass er sich schweigend verhält, vielmehr ist erforderlich, dass er gegen den Stolz ankämpft, sich zur Demut durchringt und für die kränkenden Worte Abbitte leistet. Auch ist ein Schuldner nicht dadurch schon von seiner Schuldverschreibung entbunden, dass er die Schuldensumme nicht vergrößert, solange er die Schuldscheine nicht einlöst, die für ihn verbindlich sind. So leisten wir Gott, wenn wir gegen ihn schuldig geworden sind, noch keine Genugtuung, wenn wir von den bösen Taten ablassen, wenn wir nicht darangehen, der bösen Lust, der wir uns mit Befriedigung hingegeben haben, entgegenzuwirken und entsprechend reuevoll Buße tun. Und selbst wenn wir in diesem Leben ohne Makel frei von Schuld durch sündige Werke geblieben sein sollten, dürfte das, solange wir hier noch weilen, keinesfalls als Garantieschein für unsere Sicherheit ausreichen, weil doch viel Verführerisches unsere Seele überkommen und erregen kann. Welchen Beweggrund kann jemand für seine Sicherheit haben, der infolge seiner begangenen Sünden selbst bezeugen kann, dass er nicht unschuldig ist?

Gott weidet sich nicht an unseren Bußwerken, an Kummer und Leid, er heilt vielmehr die Seelen von den Krankheiten der Sünden durch entgegenwirkende Heilmittel, damit wir, die wir im Genuss befriedigter Lust abständig geworden sind, nun die Bitterkeit verkosten und unter Tränen wieder zur Besinnung kommen. Und wenn wir im Unerlaubten uns ausgelassen haben und gefallen sind, müssen wir uns durch Einschränkung im Erlaubten wiederfinden und erheben. Denn ein Herz, das den Rausch unsinniger Fröhlichkeit in vollen Zügen genossen hatte, muss sich in heilsamer Betrübnis auszehren. Und Wunden, die Überheblichkeit und Stolz geschlagen haben, sollen durch ein Leben in Selbsterniedrigung und Demut Heilung finden. Darum heißt es im Psalm: „Ich sage zu den Stolzen: Seid nicht so vermessen und zu den Frevlern: Brüstet euch nicht mit eurer Macht!" (Ps 75,5) Die Frevler brüsten sich mit ihrer Macht, wenn selbst die Erkenntnis ihres ruchlosen Treibens sie nicht zur Umkehr in Demut führt. Heißt es doch: „Ein zerknirschtes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen" (Ps 51,19). Wer sich seiner Sünden wegen an die Brust schlägt, die Sünden jedoch nicht aufgibt, zerknirscht sein Herz, findet es aber unter seiner Würde, sich zu verdemütigen. Wer hingegen seine Sünden bereits aufgibt, sie gleichwohl nicht beklagt, fügt sich zwar schon in Demut, verweigert dennoch die Zerknirschung des Herzens. Aus dieser Sicht sagt Paulus: „Und solche gab es unter euch. Aber ihr seid reingewaschen, seid geheiligt" (1 Kor 6,11). Ohne Zweifel, wer Umkehr hält und sich in der Drangsal läutert und in Tränen reinwäscht, den heiligt ein Leben, das freier ist von Schuld. Als darum Petrus sah, dass einige in Anbetracht ihrer Sünden von Furcht ergriffen wurden, sprach er: „Kehrt um, und jeder von euch lasse sich taufen" (Apg 2,38). Er wollte über die Heiligung in der Taufe sprechen, erwähnte jedoch zuvor die Voraussetzungen hierfür, nämlich Umkehr und reuevolle Buße. Sie sollten zuvor in das Wasser der Trübsal tauchen und anschließend sich im sakramentalen Bad der Taufe reinigen. Mit welcher Fahrlässigkeit des Geistes leben daher diejenigen, die es vernachlässigen, die Schuldlast früher begangener Sünden unter Tränen zu sühnen, wenn selbst der oberste Hirte der Kirche der festen Überzeugung war, dass auch zu diesem Sakrament, das vornehmlich die Sünden tilgt, die Reue hinzukommen muss.

31. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die ein Schuldbewusstsein haben, sich aber ihres unerlaubten Handelns rühmen, und wie diejenigen, die sich dessen bezichtigen, sich dagegen jedoch keinesfalls abschirmen

Anders sind diejenigen zu ermahnen, die Unerlaubtes tun und damit noch angeben, und anders die, welche sich ihres schlechten Tuns wegen anklagen, ihm jedoch nicht aus dem Weg gehen. Diejenigen, die mit ihrem unerlaubten Treiben prahlen, muss man mahnend darauf hinweisen, sie sollten bedenken, dass sie vielfach mehr durch ihr Gerede als durch ihr Vorgehen sündigen. Wenn sie nämlich Böses tun, so ist es allein ihr Schaden, wenn sie aber darüber reden, verleiten sie so viele Menschen zum Bösen, wie die Zahl derer ist, die sie durch ihre Prahlerei zum bösen Tun anleiten. Man ermahne sie, wenn schon sie sich nicht darauf einlassen, das Böse mit Stumpf und Stiel auszurotten, so sollten sie zumindest davor zurückschrecken, keimenden Samen auszusäen. Man verweise sie darauf, es damit bewenden zu lassen, dass sie sich selbst zugrunderichten. Des weiteren ermahne man sie, dass es sie wenigstens beschämen sollte, als die Bösen in Erscheinung zu treten, wenn sie schon sich nicht scheuen, solche zu sein. Oft ist es so, dass man dem Bösen entgeht, solange man noch darauf bedacht ist, es zu verheimlichen; denn solange man sich im Inneren schämt, als der angesehen zu werden, der zu sein man sich nicht scheut, wird man über kurz oder lang darüber erröten, der zu sein, für den angesehen zu werden man vermeidet. Jeder Bösewicht aber, der ohne Scham als solcher gekennzeichnet ist, begeht um so zwangloser jede Untat, als sie ihm straffrei erscheint, und was als straffrei eingeschätzt wird, darauf lässt man sich zweifellos so lange ein, bis man darin versinkt. Darum steht geschrieben: „Ihre frechen Gesichter klagen sie an, wie Sodom reden sie ganz offen von ihren Sünden" (Jes 3,9). Solange Sodom nämlich seine Sünde zu verbergen gesucht hätte, hätte es immer noch unter Furcht gesündigt. Aber es hatte jedwede Zügelung durch die Furcht aufgegeben und suchte für sein sündiges Treiben nicht einmal mehr den Schutz der Dunkelheit. Darum heißt es an anderer Stelle: „Das Geschrei der Bewohner von Sodom und Gomorra, ja, das ist laut geworden" (Gen 18,20). Eine Sünde „cum voce" (die redet) ist eine schuldhafte Handlung, die bekannt wird, zu der man sich bekennt; eine Sünde „etiam cum clamore" ist eine schuldhafte Handlung, die man in dreister Offenheit begeht und sich ihrer sogar noch brüstet (eine schreiende Sünde).

Diejenigen hingegen, die sich zwar ihrer Sünden anklagen, ihnen jedoch nicht entschieden aus dem Wege gehen, muss man auffordern, sie sollen in sorgsamer Voraussicht überdenken, was sie einmal vor Gottes Gericht, bei dem alles offenbar wird, sagen wollen, da sie doch für ihre Straftaten nicht einmal vor sich selbst als eigene Richter eine Rechtfertigung finden. Sie sind nichts weniger als ihre eigenen Ausrufer. Sie erheben ihre Stimme für ihre Unschuld, ihre sündigen Werke, die sie als ihr Gefolge nachschleppen, sprechen sie aber schuldig. Man muss sie warnen, untätig zuzusehen; denn es ist insgeheim gar schon ein Hinweis auf die Vergeltung im Gericht, dass nämlich ihre Seele erleuchtet wird, um das Böse, das sie ins Werk setzt, zu erkennen, dass sie sich jedoch nicht entschließt, es zu überwinden; und dass sie um so elender zugrunde geht, je besser ihre Erkenntnis ist, weil sie einerseits das Licht zur Einsicht in sich aufnimmt, andererseits die Finsternis eines ruchlosen Treibens nicht aufgibt. Und da sie das Wissen, das sie zu ihrem Beistand empfangen haben, unbeachtet lassen, kehren sie es zum Zeugnis gegen sich. Sie steigern sogar der Leuchte des Verstandes zufolge die Härte der Qualen, weil sie diese wahrlich dafür empfangen hatten, um imstande zu sein, die Sünden auszutilgen. Und da sie sehr wohl das als schlecht beurteilen, wozu ihre Bosheit sie treibt, bekommen sie bereits hier einen Vorgeschmack von dem Verderben, das im Gericht auf sie zukommt; und da sie ja dafür zu Lebzeiten nicht nach eigener sorgfältiger Prüfung die Lossprechung erhalten haben, bleiben sie in vollem Umfang der ewigen Strafe schuldig. Droben durchleiden sie um so größere Qualen, weil sie hier nicht abschließen, Böses zu tun, das sie als solches sogar selbst verurteilten. Darum spricht die ewige Wahrheit: „Der Knecht, der den Willen seines Herrn kennt, sich aber nicht darum kümmert und nicht danach handelt, der wird viele Schläge bekommen" (Lk 12,47). Der Psalmist fügt hinzu: „Lebend sollen sie hinabfahren ins Totenreich" (Ps 55,16). Das will sagen, als Lebende können sie verstehen und empfinden, was mit jenen (den Bewohnern des Totenreiches) geschieht, die Toten hingegen nehmen nichts wahr. Als Tote würden sie dann ins Totenreich hinabfahren, wenn sie Schlechtes getan hätten, ohne zu wissen, dass es etwas Schlechtes ist. Da sie jedoch das Böse erkennen und es dennoch tun, fahren sie lebend und in vollem Bewusstsein in den Abgrund der Bosheit, die Erbärmlichen.

32. KAPITEL: Wie man diejenigen ermahnt, die aus einer plötzlichen Erregung heraus in Sünde fallen, und wie diejenigen, die mit voller Überlegung sündigen

Anders sind die zu ermahnen, die von einer plötzlichen Begierde überwältigt werden, und anders diejenigen, die wohlüberlegt sich in Sünde verstricken lassen. Diejenigen, die von einer überraschend sie überkommenden Begierde überrumpelt werden, ermahne man, auf der Hut zu sein und im gegenwärtigen Leben Tag für Tag in Kampfsteilung zu bleiben. Das Herz, das die verletzenden Stiche nicht im voraus übersehen kann, mögen sie sorgsam mit dem Schild der Furcht schützend abdecken. Die Pfeile, die der Feind aus seiner Lauerstellung heraus unbemerkt abschießt, sollen sie erschauern lassen. In diesem Kampf im undurchschaubaren Dunkel mögen sie sich innerhalb einer geistigen Schutzwehr verschanzen und unentwegt wachsam sein. Wenn die Besorgnis aufgegeben und die Umsicht fallen gelassen werden, steht das Herz allein gelassen da und ist ungeschützt den Verwundungen preisgegeben; denn der verschlagene Feind durchstößt das Herz um so kühner, wenn er es ohne die Brustwehr der Vorsicht überrascht. Die infolge einer plötzlichen Anwandlung von der Begierde überrumpelt werden, sind zu ermahnen, dass sie mehr und mehr von der Besorgtheit um irdische Angelegenheiten Abstand nehmen; denn solange, wie sie über das angebrachte Maß hinaus ihre Aufmerksamkeit in vergänglichen Dingen verwickeln, bleibt ihnen unbewusst, wie sie von Schuld wie von Wurfpfeilen betroffen werden. Darum lässt Salomo einen, der im Schlaf geschlagen wurde, sprechen: „Man hat mich geschlagen, doch es tat mir nicht weh, man hat mich gehauen, aber ich habe nichts gespürt. Wann wache ich auf? Von neuem will ich Wein trinken" (Spr 23,35). Eine Seele wird im Schlaf geschlagen, und es tut ihr nicht weh, d. h., ihre Gedanken sind dermaßen mit sich selbst und ihren erregenden Angelegenheiten beschäftigt, dass sie weder der drohenden Gefahren der Sünde gewahr wird, noch werden ihr die begangenen Sünden bewusst. Sie wird hin und her gerüttelt, aber sie spürt nichts. Das besagt, sie wird vom Strudel der lasterhaften Reize nach allen Richtungen gezogen und wird nicht wachgerüttelt, um sich vor ihnen zu schützen. Sie wünscht wach zu sein, um sich stets neu am Wein der Freuden zu berauschen; denn wiewohl sie vom lähmenden Schlaf niedergehalten wird, wachsam für sich selbst auf der Hut zu sein, so richtet sie sich doch energisch auf für die Sorgen der Welt, um sich immer wieder an der Lust zu berauschen. Und derweil sie in den Dingen sorglos dahindämmert, für die sie voll wach sein müsste, geht ihr Verlangen danach, wach zu sein für das, an dessen Stelle Schlaf Lob verdiente. Darum heißt es an der zitierten Stelle unmittelbar zuvor: Du bist wie einer, der auf hoher See schläft, der einschläft über dem Steuer des Schiffes" (Spr 23,34). Einem, der auf hoher See schläft, gleicht, wer sich mitten in den erregenden Spannungen der Reize dieser Welt befindet und der aus Nachlässigkeit keine Vorkehrungen trifft, den wie bedrohlich sich auftürmende Wellen auf ihn eindringenden Wallungen böser Begierden sorglich zu begegnen. Wie ein Steuermann, der das Steuern aufgibt, ist eine Seele, die Eifer und Sorge verliert, den Körper wie ein Schiff zu führen. Auf hoher See das Steuer aus der Hand geben heißt, die vorgesehene Richtung inmitten der Stürme dieser Welt nicht einzuhalten. Ein Steuermann nämlich, der das Ruder fest im Griff hat, steuert das Schiff bald gegen die Fluten, bald durchkreuzt er seitwärts die Wucht der Windböen. So handelt auch der Geist, wenn er umsichtig die Seele lenkt; bald überwindet er eine Gefahr durch kluge Berechnung, bald weicht er einem Ansturm in weiser Voraussicht aus. Auf diese Weise bezwingt er einerseits augenblickliche Anfechtungen durch Einsicht und Mühe, andererseits sammelt er mit Weitsicht Kräfte für zukünftige Zweikämpfe. Darum heißt es von den standhaften Streitern für die Heimat des Himmels: "Jeder trägt sein Schwert an der Hüfte gegen die Schrecken der Nacht" (Hld 3,8). Man trägt das Schwert an der Seite, wenn man die niedrigen Triebkräfte des Fleisches durch gesteigertes Beten und Preisen völlig bezwingt. Durch die Nacht hingegen wird die Blindheit als unsere Schwäche zum Ausdruck gebracht, weil man bei Nacht nicht erkennen kann, welche Widrigleiten bedrohlich auf uns einstürmen. Jeder trägt sein Schwert an der Hüfte gegen die Schrecknisse der Nacht, d. h., gottesfürchtige Menschen, die sich vor den unsichtbaren Trugbildern hüten, sind stets zum Kampf gerüstet und zum Kämpfen bereit. In Hinsicht darauf wird im Hohelied zu der Braut gesagt: „Deine Nase ist wie der Turm auf dem Libanon" (Hld 7,5). Es gibt manches, was wir mit den Augen nicht sehen; doch nehmen wir es vielfach schon am Geruch wahr. Mit der Nase unterscheiden wir auch angenehme und üble Gerüche. Was wohl anders soll mit der Nase der Kirche veranschaulicht werden, wenn nicht die vorausschauende Sichtung der Heiligen? Sie wird ganz zu Recht mit dem Turm auf dem Libanon verglichen; denn die alles sichtende Vorausschau der Heiligen ist derart auf Weitsicht angelegt, dass sie sowohl die Kämpfe mit den Versuchungen berücksichtigt, ehe sie kommen, als auch, dass sie gegen sie gerüstet dasteht, während sie noch im Kommen sind. Denn wenn man voraussieht, was auf einen zukommt, trifft es einen nicht mehr so hart, wenn es sich ereignet. Wenn jemand auf den Schlag gefasst und für den Gegenstoß gerüstet ist, so wird der Feind allein schon dadurch entnervt, dass er im voraus erkannt wurde, glaubte er doch, einen Überraschungsangriff führen zu können.

Diejenigen hingegen, die sich mit Absicht in Schuld verstricken lassen, muss man ermahnen, dass sie vorausschauen und gründlich überdenken, dass sie ein eingehenderes Strafgericht gegen sich entfachen, weil sie das Böse aus freier Überlegung tun. Es wird sie eine um so härtere Strafe treffen, je weitgespannter die Überlegungen sind, die sie mit der Schuld verknüpfen und an sie binden. Leichter würden sie sich wohl durch Buße von den Vergehen reinigen, wenn sie aus reiner Überstürzung in die Sünde gefallen wären. Doch nur zögernd löst man sich von einer Sünde, die in der Tat durch Überlegung erhärtet ist. Würde jedenfalls die Seele nicht in jeder Hinsicht den Blick vom Ewigen abkehren, würde sie sich nicht mit Überlegung in Schuld verlieren. Demnach unterscheiden sich diejenigen, die überstürzt in Sünde fallen, von denen, die wohlbedacht sich ins Verderben stürzen, darin, dass diese, wenn sie durch die Sünde den Stand der Gerechten und allen Halt verloren haben, gewöhnlich auch in den Zustand der Hoffnungslosigkeit geraten. So tadelt der Herr nicht so sehr die schlechten Taten, die aus Bestürzung geschehen, als vielmehr die Vergehen, die geflissentlich begangen werden, wenn er den Propheten sprechen lässt: „Sonst bricht mein Zorn wie Feuer los wegen der Bösartigkeit eurer Bestrebungen, er brennt, niemand kann ihn löschen" Ger 4,4). Erzürnt spricht er fernerhin: „jetzt ziehe ich euch zur Rechenschaft wegen eurer bösen Überlegungen" (ebd.23,2). Weil nun die Sünden, die mit Bedacht begangen werden, sich von anders gearteten Sünden unterscheiden, verfährt der Herr nicht so sehr hart gegen das böse Tun als vielmehr gegen die Beflissenheit, mit der man auf das Böse ausgeht. Man kann sich versündigen, indem man Böses tut aus Schwachheit oder Nachlässigkeit. Wer sich aber für das Böse ereifert, sündigt, weil er stets das Böse im Sinn hat. Ein rechtes Bild bringt der Prophet zum Ausdruck, wenn er über einen glücklichen Mann sagt: „Er sitzt nicht auf der Cathedra der Spötter" (Ps 1,1). Auf der Cathedra pflegt der Richter oder der Vorsteher zu sitzen. Auf dem Richterstuhl des Bösen sitzen heißt jedoch, aus gefällter Entscheidung heraus Böses begehen, das Böse sowohl sachlich als Böses erkennen und es auch überlegt durchführen. Den Vorsitz in einer gottlosen Ratsversammlung führt gewissermaßen, wer die Überheblichkeit der Bosheit dermaßen steigert, indem er das Böse sogar als Ratsbeschluss vollziehen zu lassen sucht. Und wie diejenigen, welche die Ehre genießen, auf solchem Stuhl zu sitzen, einen Vorrang vor der angesammelten Volksmenge haben, so übertreffen die planmäßig angelegten Sünden die Vergehen derer, die aus Überrumpelung schwach werden. Deswegen mahne man diejenigen, die sich sogar auf Beschluss der Schuld verpflichten, dass sie sich es selbst denken können, welche Strafe einst als Sühne auf sie zutrifft, weil sie jetzt nicht nur Genossen der Bösen, sondern deren Hauptanführer sind.

33. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die in ganz geringe Vergehen fallen, jedoch immer wieder, und wie diejenigen, die sich vor den geringen vorsehen, dann und wann aber schwere begehen und tief fallen

Anders sind die zu ermahnen, die Unerlaubtes, wenn auch von sehr geringer Bedeutung, aber doch häufig tun, anders die, welche sich vor schlechten Taten in acht nehmen, gelegentlich einmal aber solche von schwerer Schuld begehen und tief fallen. Diejenigen, die, wenn auch nur im Geringfügigen, dafür aber in einem sich häufenden Maß, fehlen, muss man mahnen, nicht so sehr auf die Beschaffenheit, sondern auf die Häufigkeit zu achten. Wenn sie nämlich nur die Taten abwägen und meinen, nur Geringfügiges befürchten zu müssen, so sollen sie erschauern, wenn sie deren Häufigkeit überrechnen. Und in der Tat, kleine, aber unzählige Regentropfen füllen die Flussströme an und lassen sie zu hohen reißenden Fluten anschwellen. Auch ist die Auswirkung die gleiche, ob das im Schiffskiel sich ansammelnde Wasser unbemerkt in die Höhe steigt oder ob ein stürmisch wütendes Unwetter dem Schiff eine klaffende Bresche schlägt. Winzig klein sind auch die Wunden, die bei an Krätze Erkrankten an den Gliedmaßen aufbrechen; doch wenn sie in zahlloser Menge den ganzen Körper befallen, gefährden sie das Leben ebenso sehr wie eine schwere Verwundung der Brust. Deshalb steht, wie leicht verständlich, geschrieben: „Wer das Wenige geringschätzt, richtet sich zugrunde" (Sir 19,1). Wer demnach für gering erachtet, selbst die kleinsten Sünden zu beklagen und zu meiden, der wird zwar nicht plötzlich aus dem Stand der Gerechtigkeit fallen, aber fortschreitend stets ein wenig mehr und schließlich ganz. Menschen, die unbedeutende, aber zahlreiche Fehler begehen, ermahne man zur sorgfältigen Erwägung, dass bisweilen nämlich ein kleines Verschulden schlimmere Folgen als ein größeres haben kann. Beim größeren gesteht man sich eher ein, dass es eine Versündigung ist, und die Besserung wird schneller und wirksamer angestrebt. Beim geringeren dagegen, das man so gut wie für nichtig hält, ist die Wirkung um so viel schlimmer, als man es munter wie eine liebgewordene Gewohnheit beibehält. Es geht vielfach so weit, dass die Seele, an geringes Böse gewöhnt, vor großem nicht zurückschreckt, ja, dass sie, gefördert durch Häufung der Schuld, eine gewisse Kühnheit zum Bösen erlangt und je mehr sie gelernt hat, bar jeder Furcht in geringen Dingen zu sündigen, desto nichtiger schätzt sie es ein, vor schweren Sünden in Furcht und Schrecken zu geraten. Diejenigen hingegen, welche sich vor kleinen Verfehlungen vorsehen, bisweilen aber schwerere begehen und tief fallen, muss man zur kritischen Selbstprüfung mahnen; denn während sich ihr Herz wegen der Bewahrung in Geringfügigkeiten stolz erhebt, werden sie, gierig, Gewichtigeres Zu vollbringen, vom Strudel ihres Stolzes verschlungen. Und während sie sich nach außen Unbedeutendes unterwürfig machen, sind sie innerlich vom hohlen Dunst der Ehrsucht aufgebläht und erniedrigen ihre Seele bodenlos sogar nach draußen durch schwerere Übeltaten, nachdem sie ihre Kräfte durch Hochmut zum Erschlaffen gebracht und gebrochen haben. Menschen also, die sich in Kleinigkeiten vorsehen, manchmal jedoch in bedeutenden Fällen tief versagen, muss man warnen, damit sie nicht in ihrem Inneren darin zu Fall kommen, worin sie äußerlich festzustehen meinen, und dass nicht als naheliegende Folge und Antwort des alles überschauenden Richters ihre Einbildung auf eine mindere Gerechtigkeit der Weg zur Fallgrube einer schweren Schuld werde. Wenn sie das wenige Gute in eitler Selbstüberhebung ihrer Wachsamkeit und ihrer Tatkraft zuschreiben, werden sie, billigerweise sich selbst überlassen, von der Schwere der Schuld ihrer Taten tief gedemütigt. Und durch das wiederholte Fallen erkennen sie, dass nicht ihr eigenes Verdienst der Grund war, warum sie standhaft blieben. So kann der Fall eintreten, dass unendlich viel Böses das Herz zum Ersticken bedrückt, das kleine gute Taten hochdünkend machten. Solchen Menschen muss man zu bedenken geben, dass sie sich gewiss in Fällen schwerer Schuld in die Lage von Schwerangeklagten bringen, dass sie gleichwohl in den leichteren Fällen, gegen die sie sich abschirmen, zumeist schlimmer sündigen, denn im ersten Fall ist es offensichtlich, dass sie Unrecht tun, im zweiten jedoch schirmen sie sich heimlich gegen die Menschen ab, um nicht als Unrechttuende erkannt zu werden. Es ist klar, wenn sie im Angesicht Gottes große Übeltaten verüben, ist es offene Bosheit, wenn sie die kleinen guten Taten in den Augen der Menschen behutsam sichern, ist es Vortäuschung von Heiligkeit. Deshalb wird den Pharisäern gesagt: „Ihr siebt .Mücken aus und verschluckt Kamele" (Mt 23,24). Das heißt doch: Geringe Übel versteht ihr auszusondern, die größeren verschlingt ihr. Deshalb hören sie gleichfalls aus dem Mund der ewigen Wahrheit den Vorwurf: „Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue" (ebd. 23,23). Man überhöre es nicht uninteressiert, dass der Herr nämlich, wo er vom Zehnten der geringsten Dinge spricht, zwar äußerst kleine, aber doch stark riechende Kräuter anzuführen beliebte. Er wollte offensichtlich zeigen, dass die Heuchler durch Wachsamkeit in kleinen Dingen den Geruch, im Rufe der Heiligkeit zu stehen, zu verbreiten suchen, und obwohl sie die wichtigsten Dinge unterlassen, doch jene Kleinigkeiten einhalten, die in der Einschätzung der Leute weit und breit guten Duft verbreiten.

34. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die das Gute nicht einmal im Ansatz tun, und wie diejenigen, die das Begonnene nicht zum Abschluss bringen

Anders muss man diejenigen ermahnen, die das Gute nicht einmal in Angriff nehmen, und anders die, welche das Begonnene nicht zu Ende führen. Mit denen, die auch nicht die Grundlage für das tugendhaft Gute legen, kann man nicht den Aufbau damit beginnen, dass sie als Erstes schätzen lernen, was ihrem Heil dienlich ist. Man muss zuvor das Gebäude des Unheils niederreißen, in dem sie sich wohnlich niedergelassen haben. Sie werden auch nicht folgen können, wenn sie etwas hören, wofür sie keine praktische Erfahrung mitbringen, wenn sie nicht zuvor erfasst haben, wie verderblich das Verhalten ist, das ihnen aus Erfahrung vertraut ist; denn es hat auch niemand das Bedürfnis, sich aufhelfen zu lassen, wenn ihm die Tatsache nicht bewusst ist, dass er zu Fall gekommen ist. Auch hat niemand das Verlangen nach einem Heilmittel, wenn er den Schmerz einer Wunde nicht spürt. Zuerst muss man aufzeigen, wie nichtig die Dinge sind, auf die ihre Aufmerksamkeit gerichtet ist; dann erst sind sie behutsam, aber eindringlich damit vertraut zu machen, wie nutzbringend die Anliegen sind, die sie achtlos unterlassen. Zunächst sollen sie einen Blick dafür bekommen, dass zu fliehen ist, was ihre Zuneigung findet; darauf dürften sie bald unschwer erkennen, dass mit liebender Sorge anzustreben ist, was ihnen entgeht. Lieber und nutzbringender nämlich nehmen sie etwas Nichterlebtes auf, wenn sie in den vorgetragenen Überlegungen etwas Erlebtes hören, das sie für echt wahrgenommen halten. Dann lernen sie auch, mit voller Hingabe die wahren Güter zu erstreben, wenn sie nach ihrem Urteil erkennen, sinnlos am Falschen festgehalten zu haben. Sie sollen daher gesagt bekommen, dass die Güter der gegenwärtigen Welt hinsichtlich der Freude an ihnen sicher und schnell vergehen, dass jedoch die Strafe, zu der sie Veranlassung gaben, alles überdauert, weil ihnen hier schon wider ihren Willen das entzogen wird, was Vergnügen bereitet, das hingegen, was Leiden verursacht, wird ihnen nach diesem Leben gegen ihr Widerstreben als qualvolle Strafe gelassen. Sie sollen deshalb durch die gleichen Dinge zu heilsamem Erschrecken gebracht werden, an denen sie sich sträflich vergnügen. Erschüttert wird die Seele mit innerem Blick die Größe der Schuld an ihrem Verfall Gewahrwerden können; sie wird erfassen, dass sie an den Rand eines jähen Absturzes geraten ist; sie wird sich fangen und ihren Fuß zurückziehen wollen; eine tiefe Scheu vor dem, was ihr lieb war, wird sie erfassen, und sie wird erlernen wollen, zu schätzen, was ihr verächtlich war.

Daher wird auch dem Jeremia, als er die Sendung zum Predigen erhielt, gesagt: „Sieh her! Am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche; du sollst ausreißen und niederreißen, vernichten und einreißen, aufbauen und einpflanzen" (Jer 1,10). Es wäre nicht zweckmäßig, das Rechte aufzubauen, ohne zuvor das Verkehrte niederzureißen. Würde er nicht die untauglichen Sprösslinge der Domen aus den Herzen seiner Hörer ausreißen, es wäre in der Tat eine vergebliche Mühe, gottgefällige Worte zu verkünden und den Herzen einzupflanzen. So hat auch Petrus zuerst niedergerissen, um bald darauf aufbauen zu können, indem er die Juden nicht dazu aufrief, was sie sogleich tun sollten, sondern mit deutlichen Worten auf das verwies, was sie getan hatten: „Jesus, den Nazaräer, den Gott vor euch beglaubigt hat durch machtvolle Taten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst - ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt" (Apg 2,22-24). Es ist offensichtlich, dass sie durch die Feststellung ihrer grausamen Tat innerlich zusammensinken sollten, damit sie die Predigt um so nutzbringender hörten, je besorgter sie nach Aufrichtung durch das heilige Wort verlangten. Dem entspricht auch der Ruf, der auf der Stelle folgt: „Was sollen wir tun, Brüder?" (ebd. 2,37) Es wird ihnen alsdann gesagt: „Kehrt um, und jeder von euch lasse sich taufen" (ebd. 2,38). Wäre nicht zuvor das Elend des Zusammenbruchs heilsam über sie gekommen, sie hätten gewiss diese aufrichtenden Worte gleichgültig abgetan. Aus dem gleichen Grund vernahm auch Paulus, als ihn ein Licht vom Himmel umstrahlte, nicht das, was er alsgleich Rechtes tun sollte; vielmehr wurde ihm gesagt, was er Unrechtes getan hätte. Er war zu Boden gestürzt und fragte: „Wer bist du, Herr?" Unmittelbar darauf bekam er die Antwort: „Ich bin Jesus, den du verfolgst" (Apg 9,4f; 22,8f). Als er die weitere Frage stellte: „Herr, was soll ich tun?", wird ihm erst gesagt: „Steh auf und geh in die Stadt; dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst" (ebd.9,6). Beachte, vom Himmel herab sprach der Herr und tadelte das Vorgehen seines Verfolgers; er gab jedoch nicht sogleich an, was zu tun ist. Beachte weiter, das Machwerk seines Hochmuts war bereits ganz in sich zusammengesunken; auch bekundete er nach seinem Sturz demütig das Verlangen, aufgerichtet zu werden; und als der Stolz gebrochen wird, wird dennoch das aufrichtende Wort zurückgehalten. Es ist offensichtlich, der maßlos wütende Verfolger sollte eine geraume Zeit zu Boden gestreckt daliegen, um sich darauf ebenso im Guten gediegen gefestigt zu erheben, wie er zuvor vom früheren Irrtum völlig außer sich geraten und gefallen war. Um also diejenigen, die bis dahin noch keinen Anfang gemacht haben, Gutes zu tun, schließlich von ihrer bisherigen Erstarrung im verkehrten Denken und Tun in den Zustand zu erheben, das Rechte zu tun, muss man sie zuvor gleichsam ausheben und mit sicherer Hand auf die Bahn der Besserung lenken. Wir sägen ja auch deshalb hohe Bäume im Wald ab und lassen sie zu Boden fallen, um sie beim Hausbau als Dachgerüst hinaufzuheben. Doch damit zuvor die treibende Frische gehörig austrocknet, werden sie nicht gleich auf den Maueraufbau gesetzt; je besser nämlich der Saft austrocknet, solange sie unten liegen, desto leichter können sie gehoben und um so haltbarer hoch oben aufgerichtet werden.

Diejenigen hingegen, die das begonnene Gute nicht zum Abschluss bringen, sind zu ermahnen, sie sollen alles wohl bedenken und Vorsorge treffen; denn solange sie ihre Vorhaben nicht in die Tat umsetzen, bringen sie auch das bereits Begonnene ins Wanken. Denn wenn das nicht an Wachstum gewinnt, was anscheinend mit ernsthafter Anstrengung getan sein will, schwindet auch das dahin, was bereits erfolgreich getan war. In dieser Welt ist die Seele des Menschen mit einem Schiff vergleichbar, das gegen den Wellengang stromaufwärts fahrt: Sie kann nicht untätig auf dem gleichen Stand bleiben. Wenn sie nicht auf das Höchste zustrebt, gleitet sie ab und sinkt in die Tiefe. Wenn also einer nicht handfest zupackt, um die begonnenen Werke zu vollenden, liegt er allein durch sein Nachlassen in der Fortführung des Guten im Widerstreit zu dem, was bereits getan ist. Deshalb heißt es bei Salomo: „Wer energielos und lässig ist in seinem Tun, ist verwandt mit dem, der das Werk seiner Hände verschleudert" (Spr 18,9). Es liegt auf der Hand, wer die guten Werke angefangen hat und nicht mit voller Hingabe bis zum Ende weiterführt, der gleicht in seinem lässigen Sichgehenlassen einem, der Aufgebautes niederreißt. Deshalb wird der Kirche von Sardes durch den Engel gesagt: „Werde wach und stärke, was noch übrig ist, was im Sterben lag. Ich habe gefunden, dass deine Taten in den Augen Gottes nicht vollwertig sind" (Offb 3,2). Weil also ihre Werke in den Augen Gottes nicht für vollwertig befunden worden waren, sagte der Engel an, dass auch die bereits getanen im Begriff sind abzusterben. Wenn nämlich das Abgestorbene in uns nicht zum Leben entfacht wird, kommt auch das zum Erlöschen, was noch als lebender Bestand gilt. Sie sind zu ermahnen, dass es am Ende erträglicher sein könnte, den rechten Weg nicht zu kennen, als dem eingeschlagenen den Rücken zu kehren und zum früheren zurückzukommen. Würden sie nämlich nicht liebäugelnd zurückschauen, würden sie in ihrem anfänglichen Eifer nicht erlahmen und gleichgültig werden. Sie sollen deshalb hören, was geschrieben steht: „Es wäre besser für sie, den Weg der Gerechtigkeit gar nicht erkannt zu haben, als ihn erkannt zu haben und sich darauf wieder abzuwenden" (2 Petr 2,21). Sie sollen das Wort der Schrift vernehmen: „Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Munde ausspeien" (Offb 3,lSt). Heiß ist, wer mit Eifer daran geht, gute Taten aufzugreifen und diese auch durchführt. Kalt ist dagegen, wer nicht einmal in Angriff nimmt, was zu vollziehen wäre. Und wie die Erwärmung vom Kalten über das Lauwarme zum Heißen übergeht, so schwindet auch die Wärme vom Heißen über das Lauwarme zum Kalten. Wer demnach die Todeskälte des Unglaubens hinter sich gelassen hat und lebt, keineswegs jedoch das Stadium des Lauen hinter sich bringt und sich so steigert, dass er zum Erglühen käme, lebt so, dass er ohne Zweifel auf die Erstarrung zutreibt, weil er in dem schuldhaften Zustand der Lauheit verbleibt, in dem es keine Hoffnung auf eine Erwärmung gibt. Das Kalte trägt vor dem Übergang zum Lauwarmen die Möglichkeit zur vollen Erwärmung in sich; das Verbleiben im Zustand des Lauen nach dem des Kalten macht die Lage hoffnungslos. Wer nämlich noch immer im Sündenbewusstsein lebt, bei dem ist die Zuversicht auf Umkehr noch nicht verloren; wer aber nach der Bekehrung lau geworden ist, für den ist bereits die Hoffnung geschwunden, die für den Sünder noch gegeben war. Deshalb wird gefordert, dass einer heiß oder kalt sei, damit er nicht als lau ausgespieen wird. Das will offenbar heißen, wer noch vor der Umkehr steht, erweise sich als einer, für den man hoffen darf, und wer die Umkehr bereits vollzogen hat, soll sich als standhaft bewähren und in der Übung der Tugenden entbrennen, damit er nicht als lau befunden und ausgespieen wird, indem er von der Erwärmung, die er bekundet hat, über die Lauheit zur schuldhaften Erstarrung zurückkehrt.

35. KAPITEL: Wie diejenigen zu ermahnen sind, die Böses heimlich tun, Gutes jedoch öffentlich, und wie die, die es umgekehrt halten

Anders sind - diejenigen zu ermahnen, die Böses heimlich tun, Gutes dagegen öffentlich, und anders die, die ihre guten Werke verbergen, durch einige ihrer Taten dennoch eine schlechte Meinung über sich in der Öffentlichkeit aufkommen lassen. Diejenigen, die Böses im Verborgenen treiben, Gutes aber in der Öffentlichkeit tun, fordere man auf zu überdenken, wie menschliche Urteile schnell wie im Flug aufkommen und vergehen und wie unerschütterlich und unveränderlich Gottes Entscheidungen bleiben. Man muss sie mahnen, ihr geistiges Augenmerk fest auf das Ende aller Dinge auszurichten; denn menschliche Lobesbekundungen vergehen wie im Vorübergang, während der Urteilsspruch des obersten Richters, der auch das Verborgene durchdringt, bezüglich der Vergeltung eine Entscheidung trifft, die ewig in Kraft bleibt. Während sie also ihre heimlich begangenen bösen Taten dem Gericht Gottes, ihre ordentlichen Taten dagegen dem Augenschein sterblicher Menschen unterstellen, bleibt am Ende das Gute, dem sie Öffentlichkeit verschaffen, in Wahrheit ohne einen Zeugen, nicht so die Vergehen, die sie verborgen halten; sie haben einen Zeugen, der unsterblich ist. Dadurch, dass sie die Last ihrer Schuld vor den Augen der Menschen verborgen halten, ihre Tugendübungen hingegen weit und breit zur Schau stellen, enthüllen sie, indem sie es verheimlichen, das, wofür sie gestraft werden müssen, und lassen das entschwinden, indem sie es breittreten, wofür ihnen hätte Belohnung zuteil werden können. Solchen Menschen gilt der Wehruf der ewigen Wahrheit, dass sie wie die Gräber sind, die außen weiß angestrichen schön aussehen, innen aber voller Totengebein; denn im Inneren bergen sie die Verderbtheit der Laster, während sie vor den Augen der Menschen gefällig erscheinen, indem sie ihnen einige Taten vorweisen, die nach außen den Anstrich von Gerechtigkeit aufweisen. Man weise sie darauf hin, dass sie doch das Gute, das sie allenthalben zuwege bringen, nicht preisgeben, sondern vielmehr einer höheren Belohnung überlassen. Denn gar sehr unterschätzen diejenigen ihre guten Taten, die deren Wert nur so hoch veranschlagen, dass ihnen menschlicher Beifall Genüge tut. Sucht man für ein rechtes Handeln vergängliches Lob, so verschachert man etwas um einen nichtigen Preis, was einer ewigen Belohnung wert ist. Von denjenigen, die eine solche Entlohnung entgegennehmen, spricht offensichtlich die ewige Wahrheit, wenn sie sagt: „Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten" (Mt 6,2). Man ermahne sie, zu bedenken, dass sie dadurch, dass sie sich im Verborgenen als Übeltäter erweisen, jedoch der Öffentlichkeit einige Muster von einigen guten Werken vorweisen, ein Beispiel dafür bieten, dass man dem nachgehen soll, was sie fliehen, und dass sie ein Aufruf dafür sind, dass man mit Liebe umfangen soll, wofür sie Abneigung zeigen, und schließlich, dass sie für andere als Lebende gelten, während sie persönlich im Sterben liegen. Diejenigen dagegen, die Gutes im Verborgenen tun, jedoch in der Öffentlichkeit durch einige Taten eine schlechte Meinung über sich aufkommen lassen, muss man mahnen, dass sie nicht andere durch das Beispiel gewisser Taten, die gegen sie den üblen Ruf aufkommen lassen, zugrunde richten, wenn sie auch sich durch die belebende Kraft aus einem rechten Handeln stärken; dass sie den Nächsten nicht weniger lieben als sich selbst; dass sie nicht denen, die aufmerksam auf sie schauen und ihr Denken nach ihnen ausrichten, den Giftbecher füllen und Verderben über sie bringen, während sie selbst zu ihrem Wohlergehen den Trunk kräftigen Weines schlürfen. Solche Menschen, wen sollte es wundern, tragen durch die eine Verhaltensweise wenig zum geistlichen Leben der Mitmenschen bei, durch die andere belasten sie es mehr, da sie einerseits das Bestreben haben, das Gute im Verborgenen zu tun, andererseits begünstigen sie durch gewisse Taten ihrerseits das keimträchtige Beispiel des Bösen und dessen Verbreitung. Denn wer es bereits zuwege bringt, die Begierde nach Lob zu unterdrücken, benachteiligt betrügerisch die geistliche Erbauung, wenn er das Gute, das er tut, verborgen hält. Er entzieht gewissermaßen der Saat, die er ausgestreut hat, den Wurzelgrund zum Keimen, wenn er nicht das Werk, dem nachzuahmen ist, sichtbar werden lässt. In dieser Hinsicht sagt die ewige Wahrheit im Evangelium: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen (Mt 5,16). Ebenfalls dort ist der Grundsatz gleich zur Hand, der etwas völlig anderes geboten erscheinen lässt, nämlich: „Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zu tun, um euch ihnen zur Schau zu stellen" (ebd. 6,1). Was hat es nun auf sich, dass unser Tun so zu verrichten ist, dass es sowohl nicht gesehen werden soll, als auch, dass es gleichwohl Gebotenerweise gesehen werden soll? Nichts anderes, als dass das, was wir tun, einerseits verborgen gehalten werden soll, auf dass wir nicht selbst gelobt werden, und dass es andererseits zu Tage treten soll zum größeren Lobpreis des Vaters im Himmel. Denn als der Herr uns abhalten wollte, unsere Gerechtigkeit vor den Menschen zu tun, fügte er an der Stelle bei: „um euch ihnen zur Schau zu stellen", und als er gebieten wollte, dass unsere guten Werke von den Menschen gesehen werden sollen, setzte er unmittelbar hinzu: „und euren Vater im Himmel preisen". Auf welche Weise es also geschehen soll, dass unsere guten Werke gesehen werden sollen, und wie, dass sie nicht gesehen werden sollen, macht er aus dem Schluss der Sätze ersichtlich. Der Sinn des Handelnden dürfe nicht darauf ausgehen, dass sein Werk um seinetwillen gesehen wird, sondern er es um der Verherrlichung des Vaters im Himmel willen nicht verheimlicht. Daher geschieht es vielfach, dass einerseits ein gutes Werk verborgen ist, auch wenn es öffentlich geschieht, dass es andererseits öffentlich ist, auch wenn es im Verborgenen vollbracht wird. Denn wer bei einem öffentlichen guten Werk nicht seine Ehre, sondern die des Vaters im Himmel sucht, verbirgt, was er getan hat, weil er allein jenen zum Zeugen hatte, dem zu gefallen er Sorge trug. Wer dagegen das Begehren hat, bei seinem guten Werk, das er im Verborgenen tut, angetroffen und gelobt zu werden, der hat es gleichwohl den Menschen zur Schau gestellt, selbst wenn es niemand gesehen hat, um es zu bestätigen, weil er für sein gutes Werk so viele Zeugen hinter sich hatte, als er im Herzen Menschen herbeisehnte, um von ihnen Lob zu ernten. Wenn jedoch eine schlechte Meinung nicht in den Gedanken derer, die sie wahrnehmen, bereinigt wird - soweit dies ohne Sünde bewirkt werden kann -, wird allen, die böses Beispiel geben, Schuld zugesprochen. So geschieht es oft, dass diejenigen, die aus Gleichgültigkeit zulassen, dass Schlechtes mutmaßlich von ihnen gedacht wird, von sich aus gewiss nichts Unbilliges tun mögen; und dennoch fehlen sie vielfältig in denen, die zukünftig sie nachahmen werden. Diesbezüglich sagt Paulus denen, die bestimmte Speisen, die als unrein galten, ohne sich zu entweihen, aßen, aber durch deren Genuss bei den Schwachen Ärgernis erregten: „Gebt acht, dass diese eure Freiheit nicht den Schwachen zum Anstoß wird" (1 Kor 8,9). Und weiter: „Der Schwache geht an deiner Erkenntnis zugrunde, er, dein Bruder, für den Christus gestorben ist. Wenn ihr euch auf diese Weise gegen eure Brüder versündigt und ihr schwaches Gewissen verletzt, versündigt ihr euch an Christus" (1 Kor 8,11f). Darum sprach Mose: „Du sollst einen Tauben nicht verfluchen", und fügte hinzu: „und einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen" (Lev 19,14). Man verflucht einen Tauben, wenn man einen Abwesenden, der es nicht hört, etwas abspricht; und man stellt einem Blinden ein Hindernis in den Weg, wenn man etwas tut, das als erlaubt befunden ist, aber dennoch einen Anlass zum Anstoß gibt, der zur Unterscheidung nicht die klare Einsicht hat.

36. KAPITEL: Über die Erbauungsansprache, die vor vielen Zuhörern gehalten werden soll. Wie sie abzustimmen ist, dass sie die Tugenden der einzelnen fördern, ohne dass die den Tugenden entgegengesetzten Fehlhaltungen im Wachstum mit gefördert werden

Es handelt sich darum, welche verschiedenen Gesichtspunkte ein Seelsorger bei seiner Predigt beachten möchte, um für die Seelenwunden der einzelnen wohlbedacht entsprechende Heilmittel einsetzen zu können. Obgleich es schon einer vertieften Hingabe bedarf, auf die einzelnen einzugehen, um sie in ihren Nöten mit dem rechten Wort aufzurichten, weil es eine schwierige und mühevolle Aufgabe ist, jeden einzelnen unter Berücksichtigung der gebotenen Besonnenheit in seinen Anliegen anzuleiten, so ist es doch weit schwieriger, an verschiedenartigen Gebrechen leidende Zuhörer gleichzeitig in einer Predigt anzusprechen. Die Kunst besteht darin, die Rede so maßgerecht abzustimmen, dass bei aller Gegensätzlichkeit der Fehlhaltungen der Zuhörer für die einzelnen das treffende Wort gefunden wird, ohne dass jedoch die Aussagen miteinander in Gegensatz geraten. Sie muss geradezu die Leidenschaften kurz angehen und die Geschwüre fleischlichen Denkens aufschneiden, wie man mit einem zweischneidigen Schwert bald auf die eine Seite, bald auf die entgegengesetzte dreinschlägt. Den Stolzen soll Demut so gepredigt werden, dass in den Ängstlichen nicht die Furcht gesteigert wird. Den Ängstlichen flöße man so Unerschrockenheit ein, dass bei den Stolzen nicht die Zügellosigkeit wächst. Denen, die ein müßiges Dasein führen, und den Lauen schärfe man ein, um gute Werke so besorgt zu sein, dass die Rastlosen nicht daraus die Anerkennung für eine ungehemmte und gesteigerte Geschäftigkeit entnehmen. Den Rastlosen setze man so ein Maß, dass die Trägheit nicht den Müßigen zum gefahrlosen Ruhekissen wird. In den Ungeduldigen lösche man so den Jähzorn, dass es nicht bei den Leidenschaftslosen und Gelassenen zur Gleichgültigkeit führt. Die Gelassenen entflamme man so zu eifrigem Streben, dass nicht bei den Zornigen die Glut zur Flamme auflodert. Denen, die am Besitz festhalten, erschließe man so Großzügigkeit im Geben, dass dabei keineswegs den Verschwenderischen die Zügel zur Maßlosigkeit gelockert werden. Den Verschwendern lege man so sparsame Maßhaltung ans Herz, dass bei den Geizigen nicht die Hortung vergänglicher Güter gesteigert wird Den Unenthaltsamen preise man so empfehlend die Ehe, dass diejenigen, die bereits enthaltsam leben, nicht erneut die begehrende Lust aufkommen lassen. Für den Enthaltsamen spreche man so voller Hochschätzung über die leibliche Jungfräulichkeit, dass für die Eheleute nicht der leibliche Akt der Zeugung verächtlich gemacht wird. Man spreche so über das Gute, dass nicht auf der anderen Seite auch das Böse gefördert wird. Man spreche voller Lob über die höchsten Güter, ohne dass keine Hoffnung für die geringen gegeben wird. Das Geringe ist so zu fördern, dass dabei nicht die Meinung entsteht, es sei ausreichend, und darum das Höchste nicht mehr erstrebt wird.

37. KAPITEL: Über die Aufmunterung, wie sie einem gegeben werden soll, der unter gegensätzlichen Triebkräften leidet

Es ist gewiss eine schwierige Aufgabe für den Prediger, in einer allgemeinen Predigt mit einem für alle geltenden Wort auf die inneren Regungen und Fehlhaltungen der einzelnen Zuhörer achtsam einzugehen und sich nach Art der Ringkämpfer geschickt bald so, bald anders zu wenden. Es bedarf jedoch weit mehr Scharfsinn und mühsamer Hingabe, wenn man genötigt ist, auf einen einzelnen Menschen, der von gegensätzlichen Fehlern belastet ist, einzugehen und ihm einen Zuspruch zu geben. Es kommt häufig vor, dass einer von Heiterkeit überströmt und sich überaus fröhlich gibt, plötzlich jedoch überkommt ihn ein finsterer Ernst, und Schwermut drückt ihn übermäßig nieder. Da muss nun der Seelsorger darauf bedacht sein, die zeitweilige Niedergeschlagenheit zu verscheuchen, ohne jedoch die reichlich gegebene heitere Gemütsanlage zu steigern. Er muss die Fröhlichkeit, die aus der überschwänglichen Veranlagung kommt, derart zügeln, dass die zeitweise auftretende Schwermut nicht zunimmt. Da kommt ein anderer, dessen Beschwernis darin besteht, dass er Stets in maßloser Überstürzung handelt; bisweilen aber überkommt ihn mit Macht eine plötzlich auftretende Ängstlichkeit und hält ihn wie gelähmt, wenn er etwas eilig erledigen soll. Ein anderer ist damit belastet, dass er in seinen Tätigkeiten übermäßig ängstlich ist; manchmal aber wird er von einer verwegenen Eilfertigkeit zu etwas angetrieben, wonach ihm gerade der Sinn steht. Beim Ersteren dränge man die plötzlich auftretende Ängstlichkeit zurück, und zwar in der Weise, dass die lang gehegte Eilfertigkeit nicht noch zunimmt. Beim Letzteren dränge man die plötzlich auftretende Eilfertigkeit zurück, ohne dass dadurch die im Gemüt begründete Ängstlichkeit wieder zur Geltung kommt. Sollte es etwa jemanden wundern, wenn diejenigen, deren Heilkunst den Seelen gilt, dies alles beachten und wahren, indes diejenigen, die nicht Herzen, sondern Leiber kurieren, sich mit durchaus beachtlicher Fertigkeit auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einstellen? Es kommt doch häufig vor, dass einen entkräfteten Körper eine stark schwächende Krankheit darniederhält, der man mit starkwirkenden Mitteln entgegenwirken muss; doch der entkräftete Körper verträgt keine starken Mittel. Deshalb sucht nun der Arzt einen Weg, die hinzugekommene Erkrankung so zu beheben, dass auf keinen Fall die bestehende Entkräftung des Körpers zunimmt, damit nicht am Ende die Krankheit und das Leben aus dem Körper scheiden. Er stellt deshalb eine Mixtur zusammen, die unterschiedlich wirkt, damit sie in einem der Krankheit entgegensteuert und der Entkräftung abhilft. Wenn nun eine leibliche Arznei, ungeteilt angewandt, eine aufgeteilte Wirkung erzielen kann - und es ist in der Tat dann eine wahre Arznei, wenn sie dem hinzugekommenen Übel so abhelfen kann, dass sie auch für die Aufbaukräfte bei der bestehenden körperlichen Konstitution förderlich ist -, warum sollte nicht eine geistige Arznei, in ein und derselben Predigt vorgesetzt, den Krankheitserscheinungen von gegensätzlicher Beschaffenheit im sittlichen Leben wirksam entgegentreten können, was um so einfühlsamer geschieht, als es sich um unsichtbare Vorgänge handelt?

38. KAPITEL: Über den Fall, dass man geringere Übel geschehen lassen muss, um größere zu beheben

Bei einer Erkrankung an zwei Leiden ist es wohl vielfach der Fall, dass das eine bedrohlicher ist als das andere. Man handelt ohne Zweifel verantwortlicher, wenn man eilends gegen das Übel Beistand leistet, das die Tendenz hat, beschleunigt das Ende herbeizuführen. Wenn nun dieses nicht eingegrenzt und aus dem Bereich der unmittelbaren Todesgefahr verdrängt werden kann, ohne dass dabei auch das von entgegengesetzter Beschaffenheit an Stärke gewinnt, so muss man auch dem Prediger einräumen, dass er es geschehen lässt, dass das eine Übel durch seine geschickt und sachgerecht geführte Predigt an Auftrieb gewinnt, insoweit er dadurch ein anderes, das unmittelbar die Gefahr des Todes in sich birgt, in Schranken setzen könnte. Wenn er so vorgeht, erweitert er nicht das Krankheitsbild, sondern erhält den Todeswunden durch das gereichte Medikament am Leben, damit er die entsprechende Zeit findet, das Heil zu bedenken und zu suchen. Da ist z. B. jemand, der sich bei starker Essgier im Genuss von Speisen keinerlei Mäßigung auferlegt und deshalb von kaum noch zu überwindenden Reizen der Wollust bedrängt wird. In dieser gefährlichen Lage der Anfechtung aufgeschreckt, stemmt er sich dagegen; während er sich nun einschränkt und Enthaltsamkeit übt, wird er von der Versuchung zur Selbstgefälligkeit hart bedrängt und fast erschöpft; in diesem Menschen wird ohne Zweifel das eine Übel nicht zum Erlöschen gebracht, ohne dass ein anderes gefördert wird. Gegen welches Übel ist nun heftiger vorzugehen als gegen das, welches mit größerer Gefährlichkeit auf einem lastet? Man muss es zuweilen geschehen lassen, dass durch die Übung der Enthaltsamkeit, damit der Kranke am Leben bleibt, Anmaßung als eine neue Anfechtung Auftrieb erhält, damit ihn nicht die Wollust als Folge von Gefräßigkeit völlig aus dem Kreis der Lebenden tilgt. Unter der gleichen Rücksicht handelte Paulus: Als er einen seiner Zuhörer, der noch schwach und unentschieden war, zu der Abwägung veranlassen wollte, ob er ferner noch unrechtmäßig handeln oder sich für ein rechtmäßiges Verhalten der Anerkennung erfreuen wolle, sagte er zu ihm: ". ..willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, so dass du ihre Anerkennung findest" (Röm 13,3). Natürlich soll man das Gute nicht nur tun, um sich nicht vor der weltlichen Macht fürchten zu müssen oder um dafür Ehrung und vergängliches Lob zu erhalten. Doch mit Rücksicht darauf, dass ein schwacher Geist sich nicht zu solcher Festigkeit aufschwingen kann, um zugleich das Schlechte zu meiden und dem Lob aus dem Wege zu gehen, gab der erlesene Prediger seinem Hörer gegenüber etwas preis und gewann etwas anderes. Er kam ihm entgegen in einer Sache von gelinder Wirkung und hielt ihn von einem Verhalten mit bitteren Folgen ab. Wenn jemand nicht imstande sein sollte, sich dazu aufzuschwingen, alles mitsamt aufzugeben, beunruhigt man sein Herz nicht und lässt einen ihm anhängenden Fehler so lange unbehelligt, dass er Zeit hat, ohne zu straucheln, einen bestimmten anderen zu beseitigen.

39. KAPITEL: Über die Einsicht, dass man solchen, die es nicht fassen oder ertragen können, keine erhabenen Dinge predigen soll

Der Prediger muss die Einsicht haben, dass er Geist und Gemüt seiner Hörer nicht über deren Fassungskraft beanspruchen darf, damit nicht durch Überspannung wie bei einem Saiteninstrument die Saiten des Herzens und des Gemütes reißen. Die erhabenen Dinge soll man nicht einer großen Zuhörermenge nahe legen, und selbst vor wenigen nur so am Rande darlegen. In dieser Hinsicht hören wir aus dem Munde der ewigen Wahrheit selbst das Wort: „Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr einsetzen wird, damit er seinem Gesinde zur rechten Zeit im angemessenen Anteil die Nahrung zuteilt?" (Lk 12,42) Mit dem angemessenen Anteil an Nahrung wird das Maßhalten bei einer Rede zum Ausdruck gebracht, auf dass man nicht daneben schüttet, wenn man einem, der es weder mit dem Herzen noch mit seinem Geist fassen kann, zuviel zumisst. Darum sagt Paulus: „Vor euch, Brüder, konnte ich nicht wie vor Geisterfüllten reden; ihr wart noch irdisch eingestellt, unmündige Kinder in Christus. Milch gab ich euch zu trinken statt fester Speise" (1 Kor 3,1f). Wenn Mose aus der geheimnisvollen göttlichen Umhüllung herauskam, strahlte sein Gesicht Licht aus; deshalb verbarg er es vor dem Volk unter einem Schleier, um nicht vor der Menge die Geheimnisse des tief inneren Leuchtens kundzutun. Deshalb gibt er im Auftrag Gottes das Gebot: „wenn einer einen Brunnen gräbt und es vernachlässigt, ihn abzudecken, und es fällt ein Rind oder ein Esel hinein, soll er dem Eigentümer des Tieres Geld zahlen" (Ex 21,33). So macht sich jemand schuldig und es wird ihm eine Bestrafung zugesprochen, wenn er in die weiten und wechselnden Strömungen der wissenschaftlichen Erkenntnis gerät, diese vor geistig schwerfälligen Zuhörern nicht zurückhält und ein reines oder unreines Gemüt an ,seinen Reden Ärgernis nimmt. Auch dem seligen Ijob wird gesagt: „Wer gab Einsicht dem Hahn?" (Ijob 38,36). Wenn nämlich ein gottgefälliger Prediger in dieser finsteren Zeit seine Stimme erhebt, so ruft er wie der Hahn in der Nacht, wenn er spricht: „Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf' (Röm 13,11). Und wiederum: „Werdet nüchtern und sündigt nicht!" (1 Kor 15,34). Der Hahn pflegt in den tiefen Stunden der Nacht einen kraftvollen hohen Schrei ertönen zu lassen, wenn aber der Morgen anbricht, gestaltet er den Ruf bruchstückhaft und schlicht. So geht ohne Zweifel der Prediger richtig vor, wenn er den noch finsteren Herzen leicht verständliche Dinge kraftvoll verkündet und nichts über die tiefen Geheimnisse erwähnt, um ihnen dann erst tiefsinnige himmlische Dinge zu Gehör zu bringen, wenn ihnen bereits der Sinn für das volle Licht der Wahrheit aufgegangen ist.

40. KAPITEL: Über die Predigt in Wort und Leben

Die Liebe drängt uns jedoch, dass wir unter dem, was wir bereits früher dazu gesagt haben, auf das eine zurückkommen, dass jeder Prediger mehr durch Werke als durch Worte seine Stimme erheben soll und dass er denen, die nachfolgen sollen, vielmehr durch eine gute Lebensführung deutliche Fußspuren hinterlassen möge, denen sie nachgehen können, als dass er ihnen in Worten einen Weg weist, den sie einschlagen sollen. Auch der besagte Hahn, den der Herr in seiner Rede aufgreift, um ein anschauliches Bild eines guten Predigers zu zeichnen, breitet, während er sich darauf vorbereitet, seinen Schrei von sich zu geben, zuvor die Flügel aus und schlägt sich selbst, um vollends wach zu werden. Ebenso natürlich und grundsätzlich erforderlich ist es, dass diejenigen, die Worte heiliger Verkündigung auf den Weg bringen, sich zuvor in einem tätigen Leben zum Eifer im Guten wachrütteln, damit sie nicht andere durch ihre Reden dazu aufmuntern, während sie selbst in träger Ruhe tatenlos verharren. Sie sollen sich zuvor zu hohen Taten aufschwingen und sich darin erschöpfen; dann erst mögen sie andere befähigen, um eine gute Lebensführung eifrig besorgt zu sein. Sie sollen zuvor die Gedanken auf sich richten und wie mit Flügeln auf sich einschlagen. Was in ihnen unzuträglich ist und brachliegt, sollen sie sorgfältig aufspüren und aufgreifen, streng dagegen vorgehen und es berichtigen. Dann erst können sie recht darangehen, das Leben anderer durch ihr Wort zurechtzurücken. Vorerst sollen sie sich ihr eigenes Versagen zu Herzen gehen lassen, ehe sie mit Strafe bedrohen, was bei anderen straf würdig ist. Und ehe sie Worte der Ermahnung hören lassen, mögen sie in Taten erweisen, worüber sie sprechen wollen.

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