Augustinus von Hippo: Über die Bergpredigt

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De sermo Domini in monte secd. Matthaeum libri II, Migne, PL 34, 1229-1308

(Die Bergpredigt und das Vater unser)

Kirchenlehrer: Augustinus von Hippo

Quelle: Augustinus zur Bergpredigt, eingeleitet und übertragen von Albert Schmitt OSB, Abt von Grüssau in Wimpfen, EOS Verlag der Erzabtei St. Ottilien 1952 (192 Seiten, Mit Bischöflicher Druckerlaubnis; Veröffentlichung mit Genehmigung des EOS Verlages vom 4. April 2022). Bei der Digitalisierung wurden zu den Überschriften der Kapitel und Verse, Text hinzugefügt. Die biblischen Abkürzungen folgen statt der Vulgata den Loccumer Richtlinien.

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Kirchenfenster mit Fantasiebild des heiligen Augustinus im Kölner Dom

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Die Bergpredigt nimmt unter den Lehranweisungen des Herrn eine ganz besondere Stellung ein. Nicht nur ihre Länge - in dem Evangelium nach Matthäus umfasst sie drei Kapitel, im Lukas-Evangelium ist sie allerdings kürzer - gibt ihr diese Bedeutung, es ist wesentlich der Inhalt, der sie tief im christlichen Denken und Leben verankert hat. Ihr geistiger Gehalt ist so einzigartig, dass der Ablauf der Jahrhunderte ihn nicht hat alt werden lassen. In ungebrochener Frische sind ihre Unterweisungen, Hinweise, Mahnungen und Forderungen bis zu dieser Stunde lebendig. Selbst die nichtchristliche WeIt geht an ihr aufmerkend vorüber. Mag die Botschaft des Herrn weithin überhört oder gar verachtet werden, die Worte der Bergpredigt finden selbst beim erklärten Gegner des Christentums noch Gehör, wenn nicht gar zustimmende Anerkennung. Man rühmt an ihr die "dogmenfreie Ethik", der alle Menschen, die "guten Willens" seien, ihren Beifall geben könnten. Für uns Christen ist allerdings damit ihr Gehalt bei weitem nicht umschrieben oder gar erschöpft. Die Bergpredigt ist mehr als nur eine Darlegung hoher sittlicher Grundsätze, so erhaben und unwiderlegbar diese an sich sind. Die Bergpredigt ist vor allem der einzigartige Aufruf, die unvergleichliche Verkündigung, die Magna Charta des Gottesreiches, dessen Bürger zu werden der Herr uns auffordert und einlädt. In feierlichen Worten werden die Bedingungen der Mitgliedschaft dieses neuen, unsichtbaren Reiches, das sich doch inmitten der Menschen verwirklichen soll, vorgetragen. Der Messias selbst, der Meister und der Herr, unser König, der Gottmensch ist der Gründer und Gesetzgeber des neuen, herrlichen Reiches und "seines Reiches wird kein Ende sein" (Lk 1,33). Unter stets wechselnden Bildern, unter stets neuen Gesichtspunkten werden die Grundsätze aufgestellt, die Anweisungen genannt, die Voraussetzung und zugleich Verwirklichung der vollen, ganzen und echten Mitgliedschaft des Gottesreiches sind. Die Bergpredigt umreißt einen ganz bestimmten Plan, wenngleich er nicht in der Form logischer Abwicklung geboten wird, wie wir Abendländer sie gewohnt sind. Er wird in der nicht minder folgerichtigen Art morgenländischen Denkens geboten. Die Seligpreisungen bilden gleichsam den Auftakt. Dann umschreibt der Herr in eindringlichen Darlegungen, erläutert durch unvergessIiche Bilder und Beispiele aus dem Leben, die Aufgaben und Pflichten, die zu erfüllen sind, wenn wir Kinder des Gottesreiches werden wollen. Die Vorrechte werden nicht übergangen, die dem zuteil werden, der voll und ganz Bürger dieses Reiches zu sein sich müht. In eindringlich mahnenden Worten fordert der Herr seine Hörer auf, das jetzt Vernommene auch in die Tat umzusetzen. An ihren Früchten wird man die wahren Bürger er kennen.

Die Größe des in der Bergpredigt Dargebotenen, ihre verpflichtende Kraft, aber auch nie versiegende Hilfe, ist von allen christlichen Jahrhunderten dankbar empfunden worden. Unzählig sind die Hinweise, Anweisungen und Anleitungen, die aus der Fülle des hier Vorgelegten in das christliche Denken, Streben und Wollen übergegangen sind. Immer wieder hat man sich mit ihren Worten beschäftigt, in Betrachtung und Auslegung dem christlichen Volke sie nahegebracht. So ist es auch nicht zu verwundern, dass einer der größten Lehrer unserer heiligen Kirche, der heilige Augustinus, gerade auch die Bergpredigt zur Vorlage genommen hat. Das Anliegen, das ihn hierbei beseelte, hat er gleich zu Anfang seiner Ausführungen dargelegt. "Wer diese Predigt nüchternen, aber doch ehrfürchtigen Sinnes überdenkt, wird in ihr, so glaube ich, alles finden, was zur vollkommenen Gestaltung eines christlichen Lebenswandels geeignet ist- (I, 1. PL. 34, 1229).

Im Folgenden ist nun der Versuch gemacht worden, die Gedanken des großen Bischofs von Hippo uns heutigen Menschen nahe zu bringen. Soweit uns bekannt, besitzen wir keine deutsche Übersetzung der herrlichen durch Augustinus dargebotenen Ausführungen. Aber gerade unserer Zeit, so voller Last und Sorge und Mühe, dürfte die Auslegung des Inhaltes der Bergpredigt von wesentlichem Nutzen sein.

Die Summe dessen, was der heilige Augustinus bei der Auslegung der Bergpredigt uns gegeben hat, lässt sich vielleicht am besten mit den Worten des heiligen Paulus aus dem Philipperbrief umschreiben: "Brüder, ich bilde mir nicht ein, es schon erreicht zu haben; aber eines tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt und strebe nach dem, was vor mir liegt; das Ziel im Auge, jage ich dem Kampfpreis nach, zu dem mich Gott dort oben durch Christus Jesus berufen hat" (3, 13-14). Unser Leben und Streben soll immer auf das Wesentliche und Entscheidende ausgerichtet sein. Alle unsere Handlungen sollen in schlichter Einfalt geschehen. In unverfälschter Geradheit soll unser Lebensaufbau vorgenommen werden, in stetem Aufblick zum ewigen Gott. Das Lebenswerk soll auf dem sicher tragenden Fundament großer Gottes- und Nächstenliebe gründen, dem eigentlichen Kernstück christlichen Lebens. Der heilige Augustinus wird bei seinen Darlegungen nie müde, immer wieder unter neuen Gesichtspunkten mit stets wechselnden Begründungen auf diese Grundlage unseres ganzen christlichen Seins hinzuweisen. Hier wie an andern Stellen will er das Wort wahrmachen, das er in diesem Bezug einmal in seinen Ausführungen über den ersten Johannes-Brief gesagt hat:. "Brüder, ich bin unersättlich im Reden über die Liebe im Namen Christi (in 1. Joh. 9,11. PL 35,1275).

Mit das Schönste, was wir vom heiligen Augustinus besitzen, sind seine Ausführungen über das Vaterunser, die er uns im Rahmen seiner Gedanken über die Bergpredigt hinterlassen hat. Er legt nicht nur die einzelnen Bitten meisterhaft aus, beleuchtet sie unter den verschiedensten Gesichtspunkten, weiß ihnen tiefe Gedanken zu entnehmen, stellt sie uns in überraschender Fülle dar, er führt uns vor allem auch mit kurzen aber überaus wertvollen Worten in das Verständnis, den Sinn und die Aufgabe rechten Betens ein. Es genügt, nur den einen Satz anzuführen: "Das Beten beruhigt die Seele, läutert sie, macht sie heiter und befähigt sie, Gottes Gaben zu empfangen, die uns nur Geistigerweise gegeben werden können" (Il, 14, PL 34, 1275); daraus erhellt, weIche Perlen für das eigene Weiterdenken uns dargeboten werden.

Die Darlegungen des heiligen Augustinus gerade in diesem Werk bleiben immer schlicht, auch dem Einfachsten verständlich. Gewiss, er schreckt nicht vor der Erörterung schwieriger Fragen zurück, wie es der vorliegende Text wohl auch gelegentlich verlangt. Aber immer wieder findet er aus den Höhen seiner Betrachtung zurück auf den Boden des Alltags mit seinen Sorgen, Nöten und Mühen. Und gerade hier weiß er aus der Fülle seiner Erfahrung reichste Hilfe zu geben.

Manchmal verschmähen seine Darlegungen die Allegorie nicht - seine Zeit liebte diese Darstellung. Er selbst war Meister darin. Nicht minder geläufig waren ihm die Geheimnisse der Zahlenmystik. Vielleicht sind wir heutige Menschen geneigt, darüber zu lächeln. Doch wäre dies irrig. Augustinus sieht tiefer; gerade aus der geheimnisvollen Welt der Zahlen weiß er, Werte zu holen, die uns nüchternen Menschen dieser heutigen Zeit wohl zu denken geben sollten (vergleiche I, 11-12).

Wo nötig, sagt Augustinus aber auch ganz schlicht: wir wollen uns jetzt keiner allegorischen Deutung hingeben, sondern im reinen Wortsinn bleiben, ihn auslegen und uns nutzbar machen.

Wo es die sittlichen Vorschriften nahelegen, bringt er Beispiele und Begebenheiten, die das Gesagte näher erläutern sollen. Er wirft Fragen auf, die in manchem an Kasuistik erinnern. Doch auch hierbei verliert er sich nicht. Seine Wiederholungen scheinen zunächst Weitschweifigkeiten zu sein. Doch hat er oft genug einen pädagogischen Zweck im Auge. Er spricht sich darüber in seinen Schriften aus. Nur eine Stelle sei angeführt: "Merkt auf, meine Brüder. Mit dem eben Vorgetragenen ist für die, so raschen Verstandes sind, die Frage gelöst. Sollen aber nur die, die schnelleren Fußes sind, uns auf dem Wege folgen können? Auch auf die langsameren müssen· wir achthaben, wir dürfen sie nicht zurücklassen. Wir wollen deshalb, soweit möglich, bei den vorgetragenen Worten noch etwas verweilen. Dann werden alle folgen können" (In 1. Joh. 5, 3. PL 35. 2031).

Wie in allen seinen Schriften können wir auch bei der vorliegenden Augustinus' unvergleichliche Kenntnis der Heiligen Schritt bewundern. Ihre Worte und Bilder sind sein innerster Besitz geworden. Er webt ihre Gedanken in die Abfolge seiner Darlegungen wie seine eigenen Worte ein. Allerdings hat diese unnachahmliche Vertrautheit mit dem Wort der Heiligen Schrift auch ihre Gefahr, wenn man so sagen darf: Eben hat er eine Stelle der Heiligen Schrift angeführt, allsogleich findet sein reicher Geist neue Gesichtspunkte, neue Anknüpfungspunkte, die er nun im Hinblick auf diese neue Stelle nicht verschweigen will, die aber mit dem zunächst zur Auslegung vorgenommenen Schrittteil in nur loser Verbindung zu stehen scheinen. Augustinus will die Gedanken, die sich ihm hierbei aufdrängen, seinen Zuhörern oder Lesern gleich mitgeben. Doch verliert er sich dabei nicht. Er findet immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Augustinus ähnelt in diesem Verfahren der Heiligen Schrift. Auch sie geht ja nicht immer in logischer Entwicklung den vorzutragenden Gedanken nach. Sie biegt oft genug in scheinbar andere Richtung ab - dies alles aber, um gerade dadurch dem Gesagten die entsprechende Betonung zu geben.

"Ein geläutertes und schlicht gewordenes Auge befähigt uns am ehesten, das Licht zu erkennen, das im eigenen Innern leuchtet", so sagt Augustinus an einer Stelle gegen Ende seiner Darlegungen zur Bergpredigt (II, 76. PL 34, 1304). Er führt damit wieder zu dem, was er zum Eingang gesagt hatte. In der Abfolge seiner Darlegungen hat er das alles im einzelnen ausgeführt, hat damit versucht, den innersten Gehalt der Worte des Herrn uns nahe zu bringen. Er hat damit einen Gedanken für sich und für uns wahr gemacht, den er in einer seiner Predigten einmal ausgesprochen hatte: "Pascimus vos, pascimur vobiscum!" (Wir haben euch Nahrung gereicht, wir sind selbst gestärkt worden!) (Sermo 296, PL 38, 1354.)

Besonderen Dank schulde ich meinen Mitbrüdern, P. Benedikt Sarnes und P. Andreas Michalski, für die Durchsicht der Übersetzung, ersterem insbesondere noch für überprüfende Vergleichung der Übersetzung mit dem Urtext und die sich daraus ergebenden verbessernden Hinweise und Richtigstellungen.

Abtei Grüssau Wimpfen, St. Peter 3. Juli 1952
† Albert Schmitt Abt von Grüssau

Erstes Buch: Matthäusevangelium Kapitel 5

1. Kapitel: Mt 5, 1-3: Die Bergpredigt

1. Im Matthäus-Evangelium ist uns die Predigt überliefert, die unser Herr Jesus Christus auf dem Berge gehalten hat. Wer diese Predigt nüchternen aber doch ehrfürchtigen Sinnes liest, wird in ihr, so glaube ich, alles finden, was zur vollkommensten Gestaltung eines christlichen Lebenswandels geeignet ist. Nicht als ob wir damit leichtfertigerweise gleich zu viel versprächen. Die Worte des Herrn selbst bestätigen uns dies. Am Schlusse der Predigt versichert der Herr nämlich ausdrücklich, dass in den eben gegebenen Vorschriften alles enthalten sei, was von einem christlichen Leben gefordert werde. Dies sind seine Worte: .. Wer diese meine Worte hört und befolgt, gleicht einem klugen Manne, der sein Haus auf Felsengrund gebaut hat. Da fiel ein Platzregen, Fluten kamen, Stürme brausten und tobten gegen das Haus; doch es stürzte nicht ein, weil es auf Felsengrund gebaut war. Wer dagegen diese meine Worte hört, aber nicht befolgt, gleicht einem törichten Manne, der sein Haus auf Sand gebaut hat. Da fiel ein Platzregen, Fluten kamen, Stürme brausten und tobten gegen das Haus, es stürzte ein, und sein Sturz war groß." (Mt 7, 21-27.) Der Herr sagt nicht: wer meine Worte hört, sondern ausdrücklich: wer diese meine Worte hört! Damit soll, wie ich glaube, eindeutig gesagt sein, dass die Worte, die der Herr auf dem Berg gesprochen, so vollkommen unsere Lebensaufgabe umschreiben, dass, wer immer sein Leben darnach einrichtet, mit seinen Bemühungen auf Felsengrund baut. Diese Bemerkungen seien vorausgeschickt, um zu zeigen, wie vollkommen diese Predigt für alle Anforderungen des christlichen Lebens die entsprechenden Anweisungen gibt.

2. Der Beginn der Predigt wird, wie folgt, beschrieben: .Als Jesus die Volksscharen sah, stieg er auf den Berg und setzte sich nieder. Seine Jünger traten zu ihm und er tat seinen Mund auf und lehrte sie. (Mt 5, 1-2.) Man kann gleich die Frage aufwerfen, was denn der Berg zu bedeuten habe. Wir glauben, damit werden Vorschriften einer vollkommeneren Gerechtigkeit bezeichnet. Die weniger vollkommenen Vorschriften waren schon den Juden gegeben worden. Durch seine Propheten und Diener hatte der Eine und Ewige Gott in der Abfolge der Jahrhunderte aus der Fülle seiner Vollkommenheit dem auserwählten Volke Vorschriften gegeben, die noch nicht das Höchste anstrebten, da dieses Volk zunächst durch die Furcht erzogen werden musst!e. Durch seinen eingeborenen Sohn aber gab er jetzt die vollkommeneren Vorschriften bekannt, da er beschlossen hatte, sein Volk in Liebe zur Freiheit zu führen. Das weniger Vollkommene also wird den noch Schwachen, das Vollkommenere aber den Starken geboten. Aber alles kommt von dem Einen, der allein weiß, wie man dem Menschengeschlecht zur rechten Zeit das richtige Heilmittel reicht.

Deshalb sollen wir uns nicht wundern, wenn von uns, da wir das Himmelreich erwerben wollen, Größeres verlangt wird; um dagegen Irdisches zu erhalten, wird weniger gefordert. Aber beides bestimmt ein und derselbe Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat. Von diesem Rechtsein, das uns zu Großem aufruft, sagt der Prophet: "Wie Gottesberge hoch ist die Gerechtigkeit in dir" (Ps 35, 7). Mit diesem Wort wird auch ein deutlicher Hinweis auf den gegeben, der allein berufen war, über so erhabene Dinge auf dem Berge zu den Menschen zu reden.

Denn weiter heißt es: "Sitzend lehrte er." So verlangte es die Würde des Meisters. Und "die Jünger traten zu ihm heran". Um seine Worte recht zu verstehen, sollten sie ihm auch körperlich ganz nahe sein. Der körperlichen Nähe sollte dann die geistige Bereitschaft folgen. Sie sollten angeleitet werden, wie sie das Gehörte dann auszuführen hätten. "Und er tat seinen Mund auf und lehrte sie." Diese Umschreibung "Und er tat seinen Mund auf" will vielleicht ein Hinweis sein, dass die Zuhörer sich auf eine längere Rede rüsten sollten. Ehe der Herr beginnt, wird noch gleichsam eine kleine Pause eingeschoben.

3. Wie beginnt der Herr nun seine Rede? "Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich" (Mt 5, 3). In der Heiligen Schrift haben wir schon gehört, was wir vom Streben nach irdischem Besitz zu halten haben: "Ich sah alles, was unter der Sonne geschieht, und siehe, alles ist Eitelkeit und Anmaßung des Geistes" (Koh 1, 14). Anmaßung des Geistes: was anders ist damit gemeint als Überheblichkeit und Stolz? Gewöhnlich sagt man doch, stolze Menschen seien hochfahrenden Sinnes. Und dies auch mit Recht; wird doch der Geist mit dem Wind verglichen. Darum lesen wir: "Du Feuer, Hagel, Schnee, du Eis und Sturmwind" (Ps 148, 8). Auch wir nennen ja einen stolzen Menschen einen aufgeblasenen Menschen, vom Winde aufgebläht. Daher das Wort des Apostels: "Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe dagegen erbaut" (1 Kor 8, 1). Mit Recht werden deshalb hier unter den .Armen im Geiste" die Demütigen und Gottesfürchtigen verstanden, die also nicht von einem eitlen Geiste aufgebläht sind. Die Seligpreisungen konnten gar nicht mit einer andern Verheißung beginnen; nur in ihrer Beobachtung kann man zur Höhe oder Weisheit gelangen: "Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit" (Sir 1, 16). Und im Gegensatz dazu heißt es im gleichen Buche: "Die Hoffart ist der Anfang der Sünde". (Sir 10, 15). Die Hoffärtigen erstreben weltliche Herrschaft und lieben sie. Doch der Herr hält dem entgegen: "Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich."

2. Kapitel: Mt 5, 4-10: Die acht Seligpreisungen

4. "Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land besitzen" (Mt 5, 5). Jenes Land ist damit gemeint, von dem der Psalmist sagt: "Mein Hort bist du, mein Anteil im Lande der Lebenden" (Ps 141,6).

Die Festigkeit und Unveränderlichkeit des ewigen Erbes ist damit angedeutet. Die Seele, in der Gnade befestigt, hat dort ihre Ruhe gefunden, so wie der Körper auf der Erde seinen festen Stand hat. Und wie der Körper hier seine Nahrung zu sich nimmt, so erhält die Seele dort die ihr zusagende Speise: das ewige Leben und die Gemeinschaft mit den Heiligen. Sanftmütig sind aber die, die jegliche Unbill still ertragen, mit dem Bösen nicht in Streit geraten, "sondern das Böse durch das Gute überwinden" (Röm 12, 21). Die Streitsüchtigen mögen in ihren Zänkereien aufgehen, lassen wir sie sich für irdische und vergängliche Dinge in nie endendem Zwist aufreiben; für uns sei allein maßgebend: "Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land besitzen". Aus diesem Besitz kann sie keiner vertreiben.

5. "Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden" (Mt 5, 4). Trauer ist der Schmerz der Seele über den Verlust von etwas, was uns lieb ist. Wer sich aber ganz Gott zugewandt hat, der schätzt das nur mehr gering ein, was ihm auf dieser Welt am liebsten war. Er kann sich über die Dinge nicht mehr freuen, in denen er früher seinen ganzen Trost gefunden hat. Solange wir demnach von dieser Liebe zu den ewigen Dingen nicht ganz durchdrungen sind, versetzen uns manche Anlässe in Trauer. Dazu also werden uns die Tröstungen des Heiligen Geistes, der ja gerade deshalb Paraclet, das heißt Tröster genannt wird, geschenkt, dass wir beim Verlust zeitlicher Freude die ewige verkosten.

6. "Selig, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden" (Mt 5, 6). Wer so gesinnt ist, den nennt er Liebhaber des wahren, nicht wankenden Gutes. Er wird mit jener Speise gesättigt werden, auf die der Herr hinweist: "Meine Speise ist, den Willen meines Vaters zu tun" (Joh 4, 34). Nichts anderes als die Gerechtigkeit ist damit gemeint. Sie ist ,aich das Wasser. "Wer", wie wiederum der Herr sagt, "von ihm trinkt, in dem wird es zu einer Quelle, die im ewigen Leben emporspringt (Joh 4, 14).

7. "Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen" (Mt 5, 7). Hier preist der Herr jene selig, die den Armen zu Hilfe kommen. Ihnen wird reichlich vergolten. Sie werden selbst im Elend nicht verlassen werden.

8. "Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott anschauen" (Mt 5, 8). Töricht sind demnach die, so Gott mit irdischen Augen suchen. Im Herzen wird er erkannt, wie es an einer andern Stelle heißt: "In der Einfalt des Herzens suchet ihn" (Weish 1, 1). Dann ist das Herz rein, wenn es einfältig ist. Wie das Licht nur mit einem gesunden Auge gesehen werden kann, so kann auch Gott nur mit reinem Herzen gesehen werden.

9. "Selig die Friedfertigen; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden" (Mt 5, 9). Wahrer Friede ist wahre Vollkommenheit. Da gibt es keinen Widerstreit mehr. Deshalb werden die Gotteskinder die einzig Friedfertigen genannt, weil sie sich in keiner Weise irgendwie gegen Gott auflehnen. Mit Recht nehmen dann die Kinder an der Vollkommenheit des Vaters teil. In sich selbst aber trägt der den Frieden, dessen ganzes Streben und Wollen der Vernunft gehorcht. Verstand und Wille sind im Einklang, die niederen Triebe stehen unter deren Herrschaft: der Friede des Gottesreiches ist ihm geschenkt. Alles ist in einem solchen Menschen wohlgeordnet. Das, was den Menschen zum Menschen macht, seine geistigen Fähigkeiten herrschen über die andern Anlagen, die er mit den Tieren gemein hat; willig ordnen sie sich unter. Diese geistigen Fähigkeiten des Menschen, Verstand und Wille, unterstellen sich aber ihrerseits wieder einem Höheren. Sie gehorchen der ewigen Wahrheit, die im eingeborenen Sohne Gottes sich geoffenbart hat. Nur der kann andern befehlen, der sich willig einem Höheren unterwirft. Dies ist der Friede, der denen gegeben wird, die "guten Willens sind" (Lk 2, 14). Wer so ein Leben führt, ist in Wahrheit und Wirklichkeit und im vollkommensten Sinne ein Weiser. Wo diese Friedensherrschaft als der Ausdruck höchster Ordnung aufgerichtet ist, hat der Fürst dieser Welt seine Macht verloren. Er kann sie nur über die Verworfenen und mit sich Zerfallenen ausüben. Hat dieser innere Friede einmal festen Fuß gefasst, hat er sich tief verwurzeln können, dann wird jede Anfechtung, die vom bösen Feind von außen her erregt wird, nichts mehr schaden, sie wird im Gegenteil nur stärker zu Gottes Ehre und Herrlichkeit dienen. Das Haus wird nicht mehr ins Wanken kommen. Es wird sich im Gegenteil erweisen, wie stark es im Innern gebaut ist, da alle Machenschaften des Bösen an ihm zerschellen. Daher wird die andere Verheißung dann noch gegeben: "Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich" (Mt 5, 10).

3. Kapitel: Mt 5, 11; 4-10: Die neunte und die acht Seligpreisungen

10. Dies also sind die acht Seligkeiten. Der Herr gibt aber noch eine Ergänzung hinzu, da er zu den Anwesenden sagt: "Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen" (Mt 5, 11). In den eigentlichen Seligpreisungen hatte der Herr niemanden ausdrücklich angesprochen. Er hatte nicht gesagt: Selig seid ihr Armen im Geiste, denn ihr werdet das Himmelreich besitzen, sondern: "Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich." Nicht hatte er gesagt: Selig ihr Sanftmütigen; denn ihr werdet das Land besitzen, sondern: "Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land besitzen." Und so durch alle Seligpreisungen hindurch bis zur achten, da es heißt: "Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich." Dann aber beginnt der Herr die Anwesenden persönlich anzureden. Er will damit deutlich machen, dass alles, was er eben gesagt hatte, ausdrücklich für die Anwesenden gemeint sei. Und damit wird alles, was die Anwesenden hören, auch maßgebend für die, welche nicht da sind oder erst in der Zukunft einmal diese Botschaft hören. Die Reihenfolge der Seligpreisungen ist deshalb wohl zu beachten. Die erste Seligpreisung beginnt mit der Demut: "Selig die Armen im Geiste," Jene sind damit gemeint, die keiner stolzen Selbstsicherheit verfallen, die immer in der Furcht bleiben, sie könnten in der Ewigkeit doch der Strafe überantwortet werden, selbst wenn sie in diesem Leben gerechtfertigt zu sein scheinen. Wer aus solchem Geiste lebt, dem erschließt sich die Heilige Schrift. Er versteht, dass nur aus tiefer Ehrfurcht wahre Sanftmut erwachsen kann. Dabei darf er doch wagen, das zu tadeln, was Unerfahrenen zunächst unverständlich zu sein scheint. Dennoch wird er vor der Gefahr bewahrt, in anmaßender Streitsucht unbelehrbar zu werden. Dann wächst das Verständnis und die Einsicht, mit welchen Banden die Welt die Menschen durch die irdischen Gewohnheiten und durch die Sünde gefesselt hält. In der dritten Seligpreisung, die von diesem Wissen getragen ist, wird daher der Verlust des höchsten Gutes betrauert, sofern man sich den äußeren Dingen verschrieben hat. Die vierte Seligpreisung zeigt dann die Art der Anstrengung an, die die Seele in mühsamer Arbeit auf sich nehmen muss, um sich von diesen verderbenbringenden Banden zu lösen. Das ist der Sinn des "Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit". Große Kämpfe müssen ausgefochten werden; denn nicht ohne Schmerz werden Bande gelöst, die uns mit einschmeichelnden Umstrickungen gefesselt hielten.

Mit der fünften Seligpreisung wird denen, die in mühsamem Streben ausharren, der Weg gezeigt, wie sie den Gefahren entrinnen können. Wenn nämlich keine Hilfe von oben geschenkt wird, wird keiner aus sich selbst die Fähigkeiten haben, sich solchen unglückseligen Verstrickungen zu entreißen. Ein allgemein gültiges Gesetz besagt, wer von einem Stärkeren Hilfe erwartet, muss zuvörderst dem helfen, der schwächer ist als er. Daher: "Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen."

Die sechste Seligpreisung gilt der Reinheit des Herzens. Nur wer reinen Herzens ist, vermag auch gute Werke zu verrichten, und wird damit befähigt, jenes höchste Gut zu schauen, das nur denen sich offenbart, die eine reine und durch keine Leidenschaften verwirrte Seele besitzen.

Als siebente Verheißung wird dann jene Weisheit uns vorgestellt, jenes Schauen der Wahrheit, die den ganzen Menschen befriedet und ihn befähigt, mehr und mehr Gott ähnlich zu werden. Daher die Worte: "Selig die Friedenstifter; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. "

Mit der achten Seligpreisung kehrt der Herr gleichsam wieder zum Anfang seiner Ausführungen zurück. Er will nun zeigen, dass mit deren Erfüllung alles vollendet und vollkommen ist. Nur in der ersten und in der letzten Seligpreisung wird das Himmelreich als Lohn genannt: "Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich" und .Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich." Das Wort aus dem Römerbrief ist uns ja bekannt: "Wer soll uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Bedrängnis oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder das Schwert?" (Röm 8, 35). Sieben Stufen der Vollkommenheit werden uns gezeigt, die achte kündet die Vollendung an. Zur Vollkommenheit werden wir aufgerufen; ein Grad der Vollkommenheit bedingt den andern, wir stehen vor stets neuem Beginn, der uns doch schließlich zum Ziel führen soll.

4. Kapitel: Mt 5, 4-10: Die Seligpreisungen und die Gaben des Heiligen Geistes

11. Mir will scheinen, dass diesen verschiedenen Stufen und Seligpreisungen auch das siebenfache Wirken des Heiligen Geistes, wie es bei Isaias (11, 2-3) aufgezeigt wird, entspricht. Allerdings ist die Reihenfolge verschieden: die Aufzählung beginnt dort mit dem Vollkommeneren, hier mit dem Einfacheren. Dort wird die Wahrheit zuerst genannt und mit der Furcht geendet; und dennoch gilt: "Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit" (Sir 1, 16). Beginnend also von unten ist die Stufenfolge dann diese: zuerst kommt die Furcht des Herrn, dann folgt der Geist der Frömmigkeit, dann der Geist der Wissenschaft, darauf der Geist der Stärke, dann der Geist des Rates, weiter der Geist der Einsicht und schließlich der Geist der Weisheit.

Die Gottesfurcht nun entspricht der ersten Seligpreisung: "Selig die Armen im Geiste", jene also, die nicht hochmütig und eingebildet sind. Von diesen sagt der Apostel: "Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich!" (Röm 11, 20), Die Frömmigkeit entspricht der zweiten Seligpreisung: "Selig die Sanftmütigen." Wer ehrfürchtigen Sinnes sucht, ehrt dadurch den Heiligen Geist; ein solcher braucht nicht getadelt zu werden, wenn er auch nicht gleich alles versteht; sein Suchen ist ja kein Aufbegehren, denn er ist sanftmütig. Ihm gilt daher mit Recht die Verheißung: "Selig die Sanftmütigen!"

Der Geist der Wissenschaft entspricht der dritten Seligpreisung: "Selig die Trauernden." Aus den heiligen Schriften haben sie schon das rechte Wissen um ihren Zustand geschöpft. Sie haben einsehen gelernt, in welche Übel sie verstrickt waren, wie sie in ihrer Unkenntnis das Böse als das Gute und Erstrebenswerte angesehen haben. Mit Recht wird deshalb von solchen gesagt: "Selig die Trauernden.

Der Geist der Stärke entspricht der vierten Seligpreisung: "Selig die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit." Ihr ganzes Streben geht auf die wahren Güter zu, an ihnen allein haben sie Freude; sie verlangen nichts anderes, als dass ihr Sinnen und Trachten mehr und mehr den irdischen und körperlichen Dingen entfremdet werde. In diesem Sinne gilt von ihnen: "Selig, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit."

Der Geist des Rates entspricht der fünften Seligpreisung. "Selig die Barmherzigen. "Wir haben nur eine Möglichkeit, den Übeln dieser Zeitlichkeit zu entrinnen: wir wollen andern verzeihen, damit auch wir Verzeihung erlangen; wir sollen andern, wo immer wir können, helfen, damit auch wir in unserer Not einmal Hilfe erhalten. So ist die Verheißung zu verstehen: "Selig die Barmherzigen."

Der Geist der Einsicht entspricht der sechsten Seligpreisung. Nur das reine Auge kann das sehen, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in kein Menschenherz gedrungen ist (1 Kor 2, 9). Auf sie trifft das Wort zu: "Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott anschauen."

Der Geist der Weisheit schließlich entspricht der siebenten Seligpreisung. Hier ist alles wohl geordnet, der erleuchtete Verstand lenkt alles, er erfährt keinen Widerspruch. Dem Geistigen im Menschen gehormt der ganze Mensch, weil dieser geistige Mensch hinwiederum nur Gott gehorcht. Es erfüllt sich in der Tat: "Selig die Friedenstifter; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden."

12. Die Verheißung der Seligpreisungen: das Himmelreich wird jeweils verschieden benannt. In der ersten wird das Himmelreich ausdrücklich genannt, wie es sich auch gebührt. Das Himmelreich ist die vollkommenste und höchste Weisheit der vernunftbegabten Seele. Heißt es doch: "Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich." Mit anderen Worten ausgedrückt: "Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit."

Den Sanftmütigen wird eine große Erbschaft in Aussicht gestellt, weil sie sich bemühen, den Willen des Vaters in ehrfürchtigem Gehorsam auszuführen: "Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land besitzen."

Den Trauernden wird großer Trost verheißen. Sie wissen, was sie verloren haben, sie wissen, in welche Not sie geraten sind: "Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden."

Den Hungernden und Dürstenden wird volle Sättigung verheißen. Nach aller Mühsal wird ihnen für das tapfere Aushalten reicher Lohn in Aussicht gestellt: "Selig, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden."

Den Barmherzigen wird ihrerseits Barmherzigkeit verheißen. In der Übung dieser Tugend waren sie wohl beraten. Ihnen wird dafür einmal von einem noch Mächtigeren reichlich vergolten, was sie den Schwächeren im Leben gewährt haben. "Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen."

Denen, die reinen Herzens sind, wird die Schau Gottes verheißen; denn gerade das reine Auge ist imstande, die ewigen Wahrheiten verstehend aufzunehmen. "Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott anschauen."

Den Friedfertigen wird Gottähnlichkeit verheißen. Sie sind die wahren Weisen. Sie sind wirklich nach Gottes Ebenbild zu einem neuen Menschen geformt worden. "Selig die Friedenstifter : denn sie werden Kinder Gottes genannt werden." Schon in diesem Leben kann dies wahr werden, wie wir auch überzeugt sind, dass es an den Aposteln in Erfüllung gegangen ist. Denn die allseitige Umwandlung in die engelgleiche Lebensform, die uns nach diesem Leben verheißen ist, kann mit Worten nicht umschrieben werden.

"Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich." Diese achte Seligpreisung strebt wieder zur ersten zurück. Sie zeichnet den vollkommenen Menschen. Sie deutet vielleicht noch mehr an. Im Alten Testament wurde angeordnet, am achten Tage die Beschneidung vorzunehmen. Der Herr ist nach dem Sabbat, am achten Tag, der auch zugleich wieder der erste ist, auferstanden. Acht Tage hindurch feiern wir das Gedenken unserer neuen Geburt am Osterfest. Und das Pfingstfest gehört nicht weniger in diese heilige Reihe. Sieben mal sieben ist neunundvierzig, als gleichsam achte Zahl wird noch eine hinzugefügt, und wir erhalten die Zahl fünfzig. Damit ist der Kreis geschlossen, das Ziel erreicht. An diesem Tage nämlich ist der Heilige Geist gesandt worden, durch diesen Tag ist uns das Himmelreich erschlossen, wir haben die Gewissheit der ewigen Erbschaft erlangt, unendlicher Trost ist uns geschenkt. Mit göttlicher Kraft werden wir genährt, Barmherzigkeit ist unser Anteil; rein werden wir und mit tiefstem Frieden erfüllt. Sind wir so in der Vollkommenheit gegründet, ertragen wir gern alle Mühsal, die uns von außen her um der Gerechtigkeit und Wahrheit willen zugefügt werden.

5. Kapitel: Mt 5, 11-12: Die Seligpreisung bezüglich der Verfolgung

13. "Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und alles Böse euch fälschlich nachsagen! Freuet euch und frohlocket, denn groß ist euer Lohn im Himmel" (Mt 5, 11-12). Wer immer irdisches Glück und zeitliches Wohlergehen im Christentum sucht, muss sich bewusst sein, dass unser wahres Glück sich nur im Innern findet. So hat der Prophet im Hinblick auf die christliche Seele das Wort gesprochen: "Alle Herrlichkeit der Königstochter ist im Innern"' (Ps 44, 14). Denn für draußen werden Schmähung, Verfolgung und Verleumdung versprochen, Der Lohn dafür ist jedoch groß im Himmel. Ihn verspüren im Herzen die Geduldigen, die da sagen können: "Wir rühmen uns auch der Trübsal, weil wir wissen, dass die Trübsal Standhaftigkeit bewirkt, die Standhaftigkeit Bewährung, die Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber kann nicht trügen; denn die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, der uns verliehen wurde" (Röm 5, 3-5). Leiden auf sich nehmen, ist an sich noch nicht verdienstlich; erst wenn sie aus Liebe zu Christus ruhigen Gemütes, ja freudigen Sinnes ertragen werden, erhalten sie ihren vollen Wert. Haben doch auch nicht wenige Häretiker, die unter falscher Vorspiegelung christlicher Grundsätze viele in die Irre führten, solche Leiden auf, sich genommen, Aber die Verheißung dieses Herrenwortes wird an ihnen nicht in Erfüllung gehen. Sie werden keinen Lohn erhalten. Heißt es doch nicht einfachhin: "Selig, die Verfolgung leiden" , sondern es wird ausdrücklich hinzugefügt: "Um der Gerechtigkeit willen." Wo aber der gesunde Glaube nicht vorhanden ist, da kann auch keine Gerechtigkeit sein; denn "der Gerechte hat das Leben aus dem Glauben" (Röm 1, 11). Auch die Schismatiker dürfen sich auf Grund dieser Verheißung keine großen Hoffnungen machen; wo nämlich die Liebe fehlt, fehlt auch die Gerechtigkeit. Denn "die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu" (Röm 13, 10). Besäßen sie diese Liebe, würden sie den Leib Christi, seine Kirche (KoI 1, 24) nicht zerfleischen.

14. Man könnte die Frage erheben, was der Unterschied sei zwischen: "Wenn euch die Menschen schmähen" und "alles Böse euch fälschlich nachsagen." Schmähen heißt so viel wie Böses nachsagen. Und doch besteht ein Unterschied. Es ist etwas anderes, wenn man jemanden persönlich Beleidigungen ins Gesicht schleudert, wie dies unserm Herrn gegenüber geschehen ist, da man ihn anschuldigte: "Sagen wir nicht mit Recht, du bist ein Samariter und hast einen bösen Geist?" (Joh 8, 48) oder wenn man über jemanden in seiner Abwesenheit etwas Übles nachredet, wie dies gleichfalls dem Herrn begegnet ist. "Einige sagten: er ist ein Prophet, andere aber meinten: Nein, er verführt das Volk" (Joh 1, 12).

Jemanden verfolgen aber heißt: mit Gewalt oder Hinterlist gegen ihn vorgehen. So haben jene gehandelt, die den Herrn verraten und gekreuzigt haben. Wenn nun nicht einfach gesagt ist: "Sie werden euch schmähen", sondern noch hinzugefügt wird: "um meinetwillen und überdies "fälschlich", so glaube ich, ist dies im Hinblick auf diejenigen gesprochen, die sich auch der Verfolgungen und übler Nachrede rühmen möchten und deswegen behaupten, sie gehörten zu Christus, eben weil viel Schlechtes über sie gesagt wird. Und doch ist wahr, was man über sie sagt, wenn es über ihren Irrtum gesagt wird. Wenn aber bisweilen auch manches Falsche über sie ausgestreut wird, was meistens infolge Unüberlegtheit der Menschen geschieht, so erdulden sie dies doch nicht um Christi willen. Denn zur Jüngerschar Christi gehört nicht, wer nicht Christ genannt wird entsprechend dem wahren Glauben und katholischer Lebensart.

15. "Freuet euch und frohlocket, denn groß ist euer Lohn im Himmel" (Mt 5. 12). Der Himmel, der hier gemeint ist, denke ich, ist nicht der unseren Augen sichtbare sogenannte "Himmel", Unser Lohn, der unverletzlich und ewig sein soll, kann sich nicht auf irdische und vergängliche Dinge gründen.· Unter "Himmel" ist, so glaube ich, das geistige Reich gemeint, wo die ewige Gerechtigkeit thront. Im Vergleich zu ihm wird "Erde" die Seele des Bösen genannt, dem ob seiner Sünde gesagt worden ist: "Du bist Staub und sollst zum Staub zurückkehren" (Gen 3, 19).

Von diesem Himmel sagt der Apostel: "Unser Wandel aber ist im Himmel" (Phil 3, 20). Es verkosten also jetzt schon diesen Lohn die, welche Früchte haben an geistigen Gütern. Die volle Erfüllung wird allerdings erst dann geschenkt, wenn "dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit bekleidet wird" (1 Kor 15, 53). Hierher gehören die Propheten; denn "sie haben ja auch die Propheten verfolgt, die vor euch lebten" (Mt 5, 12). Der Ausdruck "Verfolgung" gilt aber ganz allgemein, obgleich sie hier zunächst auf üble Nachrede und jegliche Verunglimpfung des guten Namens bezogen wird. Diese Beispiele sind aber durchaus entsprechend. Wer nämlich der Wahrheit Zeugnis gibt, muss sich auf böse Nachreden gefasst machen. Und deshalb werden die Propheten des Alten Bundes als Beispiele hingestellt. Durch keinerlei Drohungen und Furcht vor Verfolgungen ließen sie sich von der Verkündigung der Wahrheit abbringen.

6. Kapitel: Mt 5, 13-15: Vom Salz der Erde und Licht der Welt

16. Mit tiefer Berechtigung folgt dann der Satz: "Ihr seid das Salz der Erde" (Mt 5, 13). Denn mit Recht verdienen jene schal genannt zu werden, die im Hinblick auf irdischen Vorteil oder aus Furcht vor irdischem Nachteil das Anrecht auf die ewigen Güter, die Menschen weder geben noch nehmen können, verlieren. "Wenn aber das Salz schal wird, womit soll man es salzen?" Das heißt, wenn ihr, die ihr Salz des Volkes sein sollt, aus Furcht vor irdischer Verfolgung das Himmelreich verliert, wo werden dann die Menschen gefunden werden, die euch von eurem Irrtum abbringen könnten, da doch der Herr euch bestellt hat, die anderen von ihrem Irrtum zu befreien. Das schale Salz "taugt nichts mehr; man wirft es hinaus, und es wird von den Menschen zertreten" (Mt 5, 13). Wer Verfolgung erleidet, wird nicht von den Menschen zertreten. Das widerfährt dem, der in feiger Furcht vor den Verfolgungen der Menschen kraftlos wird. Zertreten werden kann nur das, was unter einem liegt. Derjenige Mensch aber ist nicht unterlegen, der, was immer er an körperlichem Leid auf Erden erduldet, mit Herz und Sinn im Himmel ist.

17. "Ihr seid das Licht der Welt" (Mt 5, 14). Eben hat der Herr vom Salz der Erde gesprochen, jetzt vom Licht der Welt. Beides sind bildliche Ausdrücke, die sich ergänzen. Wenn der Herr an der ersten Stelle von der Erde gesprochen hat, die wir mit unsern Füßen treten sollen, so hat er damit nicht die "Erde" im eigentlichen Sinn gemeint sondern die sündigen Menschen, die dem Irdischen verhaftet sind. Um sie aus dieser Fäulnis zu entreißen und wieder würzig und gesund zu machen, deshalb hat der Herr seine Apostel als das Salz der Erde geschickt. So ist auch hier unter "Welt" nicht Himmel und Erde zu verstehen, sondern es sind wiederum die Menschen gemeint, die ganz und gar dem Irdischen hingegeben auf dieser Erde leben. Zu diesen sind die Apostel gesandt, um sie zu erleuchten.

"Eine Stadt, die auf dem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben" (Mt 5, 14). "Stadt auf dem Berge" besagt hier: gegründet auf unverbrüchlicher, unerschütterlicher Gerechtigkeit. Als Beispiel dafür kann der Berg gelten, auf dem der Herr jetzt bei seiner Rede sitzt.

"Auch zündet man kein Licht an und stellt es unter den Scheffel" (Mt 5, 15). Wie soll dieses Bild verstanden werden? Meint der Herr damit nur: man solle ein Licht, das man eben angezündet hat, nicht gleich wieder verbergen? Oder hat das Wort: Scheffel nicht vielleicht doch eine eigene Bedeutung ? Ist nicht vielleicht gemeint: man solle beim Predigen nicht auf irdischen Vorteil sehen und dabei die Verkündung der Wahrheit zu kurz kommen lassen? dass also jemand deshalb von der Verkündung der Wahrheit absteht, weil er fürchtet, dadurch zeitlichen oder gar körperlichen Schaden zu erleiden? Mit gutem Bedacht ist das Wort Scheffel als Beispiel genommen. Ein Maß ist damit ausgedrückt. Die Belohnung, die demnach einer erhält, soll mit dem gleichen Maß erfolgen, das er selbst im Leben angewandt hat. Denn so sagt der Apostel: "Wir alle müssen vor dem Richterstuhle Christi erscheinen, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er bei Lebzeiten Gutes oder Böses getan hat" (2 Kor 5, 10). Und ganz deutlich heißt es von diesem Maß an einer andern Stelle: "Mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird auch euch gemessen werden" (Mt 7, 2). Demnach bedeutet Scheffel einen bestimmten Umfang zeitlicher Güter, die in diesem Leben erlangt werden können. Man kann genau abschätzen, wie sie sich nach und nach vermehren, wie sie aber auch wieder verloren gehen. Die ewigen und geistigen Güter unterliegen einem solchen Wechsel nicht. Denn "ohne Maß verleiht Gott seinen Geist" (Joh 3, 14). Der stellt also sein Licht unter den Scheffel, der das Licht der wahren und reinen Lehre durch irdische Vorteile verdunkeln und verdecken lässt.

Es soll vielmehr "auf den Leuchter" gestellt werden. Der befolgt diesen Auftrag, der ganz und gar im Dienste Gottes sich verzehrt. Die Flamme oben an der Kerze sinnbildet die Verkündung der Wahrheit, die Kerze selbst den Leib, der diesem Dienst sich weiht. Dieser Dienst kann nicht entbehrt werden. Umso eindringlicher wird die Wahrheit nahegebracht, je mehr die Stimme, die ganze Rede, alle Bewegungen des Körpers, den Gehalt des Vorgetragenen unterstreichen und dadurch denen, die guten Willens sind, das Verständnis erleichtern. Das Licht strahlt hell vom Leuchter, wenn sich das Wort des Apostels bewahrheitet: "So kämpfe auch ich, aber nicht, um bloß Luftstreiche zu machen. Vielmehr züchtige ich meinen Leib und bringe ihn in Dienstbarkeit, damit ich, nachdem ich andern gepredigt habe, nicht selber verworfen werde" (1 Kor 9, 26 bis 27). Wenn der Herr aber spricht: "Dann leuchtet es allen, die im Hause sind", so meint er mit dem Hause die ganze Welt. Denn eben hat er ja noch gesagt: "Ihr seid das Licht der Welt." Will aber jemand unter "Welt" die Kirche verstehen, so lässt sich auch diese Deutung hören.

7. Kapitel: Mt 5, 16-17: Vom Licht der Welt und dem Gesetz

18. "So leuchte euer Licht vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen" (Mt 5, 16). Hätte der Herr nur gesagt: "So leuchte euer Licht vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen", so hätte es den Anschein haben können, als sollten sie Menschenlob erstreben. Dies könnte aber zur Heuchelei und Menschendienerei verführen, zu ehrgeizigem Streben und törichtem Haschen nach eitlem Ruhm. Hiergegen erhebt der Apostel seine Stimme: "Wollte ich noch Menschen gefallen, so wäre ich Christi Diener nicht" (Gal 1, 10). Nicht weniger ernst ist das Wort des Propheten: "Gott verstreut die Gebeine derjenigen, die den Menschen zu gefallen suchen; sie werden zuschanden; denn Gott hat sie verworfen" (Ps 52, 6). Weiterhin sagt der Apostel: "Wir wollen nicht eitlem Ruhm nachjagen" (Gal 5, 26). Und noch einmal: "Ein jeder prüfe nur sein eigenes Tun! Dann mag er sich bei sich selbst rühmen, aber nicht vor den anderen" (Gal 6, 4). Ausdrücklich sagt also der Herr: "damit sie eure guten Werke sehen" und fügt dann hinzu: "und euren Vater im Himmel preisen". Wenn also ein Mensch seiner guten Werke wegen bei andern Menschen Achtung genießt, so soll er das Lob, das er dafür erhält, nur auf Gott hinlenken. Allein deshalb darf er den Menschen zu gefallen suchen, um durch diesen Dienst Gott mehr zu verherrlichen. Nur dann ist Menschenlob berechtigt, wenn nicht einem Menschen, sondern Gott die Ehre gegeben wird. So geschah es bei der Heilung des Gelähmten. "Bei diesem Anblick gerieten die Volksscharen in Furcht und priesen Gott, der den Menschen solche Macht gegeben" (Mt 9, 8). Von der gleichen Gesinnung weiß der Apostel zu berichten: "Den Christengemeinden in Judäa blieb ich persönlich unbekannt. Sie hatten nur gehört: der uns einst verfolgte, predigt jetzt den Glauben, den er früher zu vernichten trachtete. Und sie priesen Gott um meinetwillen" (Gal 1,23-24).

19. Bisher hatte der Herr seine Zuhörer unterwiesen, wie sie aus Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit alles zu ertragen hätten. Er hatte sie unterrichtet, das Gute, das sie empfangen hatten, nicht verborgen zu halten. Sie sollten davon auch andern mitteilen, nicht um eigenen Ruhm zu ernten, sondern um Gott, den Geber alles Guten, zu ehren. Nun beginnt der Herr einen neuen Abschnitt. Er gibt ihnen Anweisungen über den Inhalt dessen, was sie vortragen sollten, gleichsam als ob die Zuhörer an ihn die Frage gestellt hätten: Gewiss, wir wollen ja alles aus Liebe zu deinem Namen ertragen, wir wollen auch die von dir erhaltenen Lehren nicht verbergen; doch sage uns noch genauer, was du im einzelnen geoffenbart sehen willst, was wir alles ertragen sollen? Gehen deine Aufträge vielleicht gegen Bestimmungen, die im Gesetz niedergelegt sind? Der Herr gibt den erbetenen Bescheid: "Glaubet nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben. Nicht um sie aufzuheben, bin ich gekommen, sondern um sie zu vollenden" (Mt 5, 17).

8. Kapitel: Mt 5, 18-19: Das Gesetz

20. In diesem Satz ist ein Doppeltes enthalten, beides ist zu beachten. Denn wenn der Herr sagt: "Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vollenden", so erheben sich zwei Fragen. Einmal: worin ist das Gesetz noch unvollkommen, wodurch muss es noch vervollkommnet werden? Zum andern: welche Vorschriften müssen sogleich ausgeführt werden? Versuchen wir zunächst die erste Frage zu beantworten. Wer zu etwas Bestehendem etwas Fehlendes hinzufügt, will dadurch das schon Bestehende an sich nicht mindern. Er will es eher bestätigen und mehren. So ist gleich das folgende Wort des Herrn aufzufassen: "Denn wahrlich, ich sage euch, eher werden Himmel und Erde vergehen, als dass ein Jota oder ein Strichlein vom Gesetze vergeht, ehe nicht alles erfüllt ist" (Mt 5,18). Wenn schon das ausgeführt wird, was zur vollkommenen Erfüllung gehört, so wird das ganz bestimmt getan, was von Anfang an als Voraussetzung zum Handeln maßgebend war. Mit dem Worte: "Kein Jota und kein Strichlein vom Gesetz wird vergehen", will der Herr die Bedeutung jeglicher Vorschrift nachdrücklich unterstreichen. Denn diese beiden Schriftzeichen sind die kleinsten ihrer Art: das Jota wird mit einem einzigen Zug ausgedrückt, und das Strichlein ist gar nur ein Anhängsel zu einem Buchstaben. Mit diesem Vergleich weist der Herr auf die Bedeutung auch der geringfügigsten Gesetzesvorschrift hin. Deshalb fügt er gleich hinzu: "Wer darum eines von diesen Geboten, und sei es das geringste, aufhebt, und so die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Himmelreich" (Mt 5, 19). Das geringste Gebot, was immer es auch sei, das ist mit Jota und Strichlein gemeint. "Wer eines davon aufhebt und so die Menschen lehrt", das heißt, wer ein Gesetz aufhebt, auch wenn er in seinem Sinne weiter lehrt, also nicht etwas ganz neues erfindet und dementsprechend unterweist, auch der "wird der Geringste heißen im Himmelreich". Deshalb wird er keinen Platz im Himmelreich haben können, weil dort nur Große einen Platz finden werden. "Wer sie aber hält und halten lehrt, wird groß heißen im Himmelreich." Der also wird diesen Lohn erhalten, der sich an das überkommene Gesetz hält und es entsprechend auslegt. Wenn der Herr sagt: er wird groß heißen im Himmelreich, so ist damit natürlich auch zu verstehen, dass er überhaupt das Himmelreich besitzt. Nur Große erhalten dort Zutritt. Und so wird schon zum folgenden übergeleitet, da der Herr sagt:

9. Kapitel: Mt 5, 20-22: Von der Gerechtigkeit, dem Töten und Zürnen

21. "Denn ich sage euch, wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener sein wird als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen" (Mt 5,20). Damit meint der Herr: wer nicht gewillt ist, die geringsten Gesetzesvorschriften zu erfüllen, die schon für den Anfang eines guten Lebenswandels erforderlich sind, wird nicht in das Himmelreich eingehen. Das Gleiche wird dem widerfahren, der erst recht nicht die von mir gegebenen Vorschriften halten will - der ich gekommen bin, das Gesetz zu erfüllen, nicht es aufzuheben. Hier kann mir vielleicht jemand eine Frage entgegenhalten. Eben hatte der Herr gesagt: jeder, der das geringste Gebot aufhebt und auch so die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Himmelreich. Groß dagegen wird der genannt, der sie hält und halten lehrt. Damit hat er sich schon ein Anrecht erworben, dereinst das Himmelreich zu besitzen. Weshalb bedarf es dann noch weiterer Zutaten zum Gesetz, da ja schon das Halten der vorhandenen geringsten Gebote uns das Himmelreich sichert? Im Hinblick auf eine solche Frage muss daher das Wort: "Wer sie aber hält und halten lehrt, wird groß heißen im Himmelreich", richtig verstanden werden. Nämlich: jetzt, nachdem Ich gekommen bin, genügt das Erfüllen der geringsten Gebote allein noch nicht, sondern nur insoweit sie mit dem übereinstimmen, was Ich euch lehre. Was aber lehrte der Herr? Eure Gerechtigkeit soll vollkommener sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer. Wäre sie es nicht, so könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Wer also eines von diesen Geboten, und sei es auch das geringste, aufhebt und so die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Himmelreich. Wer sie aber hält und halten lehrt, darf sich deswegen noch nicht groß nennen und glauben, er habe einen Anspruch auf das Himmelreich, wenn er auch dem nicht gleichzustellen ist, der diese geringen Gebote aufhebt und missachtet. Groß darf sich nur der nennen und würdig des Himmelreiches, der bereit ist, das zu tun und zu lehren, was Christus gelehrt hat, nämlich: seine Gerechtigkeit muss vollkommener sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer. Die Gerechtigkeit der Pharisäer begnügt sich mit dem Gebot: Du sollst nicht töten! Die Gerechtigkeit derer, die das Himmelreich erwerben wollen, muss weiter gehen. Sie verlangt: Du sollst nicht ohne Grund zürnen! Die mindeste Anforderung also lautet: Du sollst nicht töten!

Und wer dieses Gebot aufheben wollte, würde der Geringste im Himmelreich sein. Wer aber diese Gebot erfüllt und niemanden tötet, hat deshalb noch keinen Anspruch, ein Großer im Himmelreich zu sein wenngleich er schon eine gewisse Stufe darin erklommen hat. Vollkommen darf er sich erst wähnen, wenn er niemand ohne Grund zürnt. Je mehr er danach strebt, desto ferner wird ihm der Totschlag liegen. Wer also lehrt: du sollst nicht zürnen, der hebt das Gebot: Du sollst nicht töten, nicht nur nicht auf, sondern erfüllt und vollendet es. Im Herzen hegt er keinen Groll. Er wird sich also auch nicht zu Taten nach außen hin fortreißen lassen. Er bewahrt sich rein und schuldlos.

22. "Ihr habt ja gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, sll dem Gerichte verfallen. Ich aber sage euch, jeder der seinem Bruder zürnt, soll dem Gerichte verfallen. Wer zu seinem Bruder sagt: Du Tor! soll dem Hohen Rate verfallen. Und wer zu ihm sagt: Du Gottloser! soll dem Feuer der Hölle verfallen" (Mt 5, 21-22: Was ist nun der Unterschied zwischen einem, der dem Gerichte und einem, der dem Hohen Rat und einem, der der Hölle verfallen soll? Die letzte Strafandrohung ist die härteste. Ein Ansteigen ist in den Strafen zu beobachten: die geringeren zuerst, dann die schwerere bis schließlich das Feuer der Hölle genannt wird. Weniger hart ist es, dem Gerichte zu verfallen als dem Hohen Rat; und wiederum weniger hart ist die Strafandrohung mit dem Hohen Rat als mit der Hölle. Ein geringeres Vergehen ist es demnach, seinem Bruder zu zürnen als ihn einen Tor zu schelten. Und wiederum geringer ist es, jemanden einen Tor zu nennen als ihn einen Gottlosen zu schimpfen. Das Maß der Strafe richtet sich also nach der Größe der Schuld.

23. Eines der an dieser Stelle genannten Worte ist etwas unklar. Ich meine das Wort: Racha (Tor). Es findet sich weder in der lateinischen noch in der griechischen Sprache. Einige wollen es in Verbindung mit dem griechischen Wort: Rakos (Lumpen) bringen. Darnach würde das Schimpfwort Lump, bedeuten. Wenn man nun aber einen Griechen fragt, wie man sich ausdrückt, wenn jemand einen einen Lump nennt, so wird einem der Bescheid, dass man da nicht Rakos sagt. Wäre dieses Wort doch gebräuchlich, dann hätte der lateinische Übersetzer ein gleichwertiges Wort der lateinischen Sprache an Stelle von Racha setzen können. Er hat es nicht getan. Daraus wird deutlich, dass Racha in der lateinischen Sprache gar nicht wiederzugeben ist, während es im Griechischen zumindest ganz ungebräuchlich wäre. Vermutlich richtiger ist deshalb die Deutung, die mir von einem Juden gegeben worden ist, den ich darüber befragt habe. Er meinte, dieses Wort bedeute überhaupt nichts, sondern es sei ein Ausruf, in der Erregung hervorgestoßen. Solche Ausrufe kennt jede Sprache. Sie geben einen Seelenzustand wieder. Wenn wir zum Beispiel Schmerz empfinden, rufen wir: Heu; werden wir zornig: Hem. Solche Ausrufe sind allen Sprachen eigen; sie können nur schwer in einer anderen Sprache wiedergegeben werden. Aus diesem Grund hat der griechische wie der lateinische Übersetzer hier das Wort selbst belassen; er konnte kein anderes oder gar besseres finden.

24. Eine dreifache Steigerung ist also hier im Versündigen aufgezeigt. Zunächst wird nur vom Zorn allein gesprochen. Doch das Aufwallen bleibt noch im Herzen verschlossen. Dann aber verleitet diese Zorneswallung zu einem heftigen Wort. Zunächst vielleicht noch unbestimmt. Dennoch aber ist es ein deutliches Zeichen einer heftigen Erregung, deren man nicht mehr Herr wird. Man will damit dem, dem man zürnt, weh tun. Wenn dieses Zorneswort aber nicht mehr bei einem allgemeinen Ausdruck stehen bleibt, sondern zur ganz persönlichen Beleidigung wird. dann ist die dritte Stufe der Bosheit erreicht. Auf der ersten Stufe vergeht man sich nur in einem: allein der Zorn steigt auf. Auf der zweiten Stufe kommt schon die Stimme dazu. Auf der dritten endlich wird der Zornesausbruch bitterböse, persönlicher Angriff.

Dem entsprechen auch drei Stufen des Anklagestandes: im Gericht, im Rat und in der Hölle.

Im Gericht besteht noch die Möglichkeit der Verteidigung.

Der Hohe Rat ist gewiss auch ein Gericht. Dennoch will damit eine Steigerung ausgedrückt werden. Offenbar ist hier der Urteilsspruch gemeint. Mit dem Schuldigen wird also kein Verhör mehr angestellt. Er ist schon schuldig befunden. Die Richter beraten nur noch unter sich, welche Strafe sie ihm geben sollen.

Das Feuer der Hölle schließlich besagt endgültige Bestimmung. Hier herrscht hinsichtlich des Urteils kein Zweifel mehr wie etwa beim Gericht. Auch um die Höhe der Strafe geht es nicht mehr wie beim Hohen Rat. Jetzt ist das Urteil schon gesprochen, die Strafe ist festgesetzt: das Feuer der Hölle nimmt ihn auf.

Deutlich sind also die Arten der Versündigung wie die Arten der Strafen gekennzeichnet. Kein Mensch kann jedoch den Grund der Seelen durchforschen, um dort Verdienst und Schuld festzustellen. Nur eines ist uns aufgetragen. Ganz bewusst sollen wir uns sein, dass ein großer Unterschied zwischen der Gerechtigkeit der Pharisäer und der hier geforderten Rechtlichkeit besteht. Und nur, wer diesen größeren Anforderungen entspricht, darf in das Himmelreich eingehen. Der Mord ist an sich ein schlimmeres Vergehen als ein beleidigendes Wort. Dennoch heißt es nur: der Mörder wird mit dem Gericht bestraft. So im Alten Bund. Die gleiche Strafandrohung wird im Neuen Bund aber schon gegen den verhängt, der Zorn in sich aufwallen lässt, das erste und geringste Vergehen also, die hier benannt sind. Dort spielten sich die Geschehnisse sozusagen auf der menschlichen Ebene ab. Es galt, für den Mord Sühne zu schaffen. Hier aber geschehen Dinge angesichts einer höheren Ordnung. Sie werden gleich vor Gottes Gericht gezogen, deren letztes Stadium im Feuer der Hölle endet, wobei nicht gesagt sein soll, dass nicht auch der Mord mit der Hölle bestraft werden kann. Jedoch dürfen wir dafür keine verschiedene Hölle annehmen.

25. In diesen drei Strafandrohungen schwingen neben den offensichtlichen Darlegungen auch andere Gedanken mit, die es noch festzustellen gilt. Die erste Strafandrohung allerdings besagt alles, was sie sagen will: "Jeder, der seinem Bruder grundlos zürnt, soll dem Gericht verfallen." Bei der zweiten Strafandrohung, da es heißt: "Wer zu seinem Bruder sagt: Du Tor!", muss man wohl hinzufügen: ohne Grund. Der Betreffende soll dann dem Hohen Rat verfallen. Bei der dritten endlich, wo es heißt: "Wer da sagt: Du Gottloser!" muss man ergänzen zu seinem Bruder und ohne Grund. In solcher Wertung findet das Wort des Apostels im Galaterbrief seine rechte Deutung, indem er die Galater "unverständig", (Gal 3, 1) nennt. Dabei heißt er sie aber doch seine Brüder. Und der ausgesprochene Tadel ward nicht ohne berechtigten Grund gesagt. So muss man auch an unserer Stelle "Bruder" mitgesprochen verstehen. Wenn es sich dagegen um einen Feind handelt, ist ein anderer Maßstab anzulegen, wie dies später noch deutlicher gezeigt wird.

10. Kapitel: Mt 5, 23-24: Die Opfergabe am Altar

26. Es folgt nun die Stelle: "Wenn du also deine Opfergabe zum Altare bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe vor dem Altare, geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder; dann komm und opfere deine Gabe (Mt 5, 23-24). Diese Stelle nimmt ohne Zweifel auf die vorhergehende Bezug. Jedesmal wird von dem Bruder gesprochen, gegen den wir uns nicht versündigen sollen. Eine geistige Einheit verbindet beide. Demzufolge beginnt der jetzige Abschnitt mit dem ausdrücklichen Hinweise "Wenn du also deine Opfergabe zum Altare bringst". Wenn es schon nicht erlaubt ist, seinem Bruder ohne Grund zu zürnen oder ihn einen Tor oder einen Gottlosen zu nennen, ist es genauso wenig erlaubt, im Herzen einen Groll gegen ihn zu hegen, der naturgemäß nur zu leicht in Zorn und Hass ausarten könnte. Darum heißt es auch an einer andern Stelle: .Die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn" (Eph 4, 26). Ausdrücklich also mahnt uns der Herr, wenn wir im Begriffe sind, ein Opfer darzubringen und wir uns da erinnern, etwas gegen unsern Bruder im Herzen zu haben, das Opfer zu unterlassen, zuerst uns zu versöhnen und dann erst wieder zum Opfern zu kommen.

Muß dieses Wort nun immer ganz wörtlich verstanden und befolgt werden?

Vielleicht ist der Bruder gerade auch zugegen, wenn das Opfer dargebracht wird. Dann könnte man vielleicht glauben, an eine wörtliche Befolgung des Geheißes gebunden zu sein. Wenn der Bruder aber nicht anwesend ist, oder wenn er, was denkbar wäre, weit entfernt, etwa jenseits der Meere weilte, gilt dann auch das Gebot, wenn die Erinnerung an bestehende Zerwürfnisse einem beim Opfern in den Sinn kommen? Sicher nicht! Es wäre eher ein Zeichen von Unverstand, wenn einer jetzt zuerst alle Länder und Meere durchstreifen wollte, um seinen Bruder zu finden und sich mit ihm zu versöhnen und dann erst sein Opfer darzubringen. Wir müssen also versuchen, der Stelle einen geistigeren Gehalt zu geben. Nur dann kann sie ohne törichte Übertreibung richtig verstanden werden,.

27. Der Altar wäre demnach der Glaube, der im innersten Heiligtum des Tempels Gottes steht. Der sichtbare Altar wäre dann nur das dafür in die Augen fallende Zeichen. Wenn wir nun eine Gabe Gott darbringen, das heißt, wenn wir ein Wort der Propheten, eine Lehre der Heiligen Schrift, ein Gebet, einen Lobgesang, einen Psalm oder, was immer es sei, uns Geistigerweise zu eigen machen und gleichsam Gott als Opfer darbringen, kann diese Gabe Gott nur dann wohlgefällig sein, wenn sie in der Reinheit eines starken Glaubens dargebracht wird. Unser ganzes Sinnen und Trachten muss mit dem übereinstimmen, was wir mit dem Munde bekennen. Die Häretiker können demnach keinen wahren Opferaltar haben, da sie den rechten Glauben nicht haben. Ihr Gotteslob wird zur Gotteslästerung. Im Letzten sind für sie irdische Gesichtspunkte maßgebend. Ihre Gaben bleiben Irdischem verhaftet.

Weiterhin muss auch die Absicht des Opfernden lauter sein. Unser Herz muss rein sein. Daher die Mahnung des Apostels: "Heilig ist der Tempel Gottes, und der seid ihr!" (1 Kor 3, 17.) Und "Christus wohne durch den Glauben in euern Herzen" (Eph 3, 17). Wenn wir nun gegen einen Bruder missgestimmt sind, weil er uns beleidigt hat, brauchen wir von uns aus keine Versöhnung anbieten. Es genügt, dass wir ihm von Herzen verzeihen, wie ja auch wir hoffen, von Gott Verzeihung zu erhalten. Erinnern wir uns aber, einen Bruder beleidigt zu haben, und müssen wir deshalb mit Recht annehmen, dass er gegen uns missgestimmt ist, dann sollen wir von uns aus den ersten Schritt zur Versöhnung tun. Dazu bedarf es nicht immer gleich eines persönlichen Aufsuchens, es genügt, wenn wir im Geiste uns dem Bruder gleichsam zu Füßen werfen und uns so vor ihm verdemütigen. Jetzt, da wir unsere Gaben darbringen möchten, sollen nur gute Gedanken uns erfüllen. So ist die Vorbedingung auch für eine Aussöhnung geschaffen, die in persönlicher Aussprache erreicht werden soll. Denn dann fällt ein solcher Schritt nicht mehr schwer, wenn wir ihn schon zuvor gewissermaßen im Angesichte Gottes getan haben. Wir eilen nicht gezwungen zur Aussöhnung. Wir sind freudig bereit dazu. Dann, wenn also der alte Geist der Freundschaft wieder eingekehrt ist, dürfen wir beruhigt unser Opfer darbringen.

28. Sollte sich aber einer etwas darauf einbilden, dass er seinem Bruder nicht gezürnt, dass er ihn nicht einen Tor~ nicht einen Gottlosen geheißen hat, oder sollte einer doch in diese Fehler verfallen sein und sich nun nach einem Heilmittel umsehen: dann sollen beide an das Wort denken: "Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich."

Doch jetzt wollen wir hören, was weiter folgt.

11. Kapitel: Mt 5, 25-26: Von der Versöhnung

29. "Verständige dich ohne Verzug mit deinem Gegner, solange du noch mit ihm unterwegs bist. Sonst könnte dich der Gegner dem Richter übergeben und der Richter dem Gerichtsdiener, und man könnte dich in den Kerker werfen. Wahrlich, ich sage dir, du kommst dort nicht heraus, bis du den letzten Heller bezahlt hast" (Mt 5, 25-26).

Der Richter wird im Johannes-Evangelium benannt: "Auch richtet der Vater niemand; er hat vielmehr das Gericht ganz dem Sohne übertragen" (Joh 5, 22).

Der Gerichtsdiener wird im Matthäus-Evangelium bezeichnet: "Engel kamen herbei und dienten ihm" (Mt 4, 11). Und am Ende der Tage wird der Herr als Richter mit seinen Engeln kommen, um die Lebenden und Toten zu richten.

Mit dem Kerker sind die Strafen der Finsternis gemeint, die anderswo die äußerste genannt wird. Die äußerste deshalb, glaube ich, weil innerlich, im Herzen, oder wenn man sich noch etwas Innerlicheres denken kann, die Freude des himmlischen Lohnes ist, über die zu dem getreuen Knecht gesagt wird: "Geh ein in die Freude deines Herrn" (Mt 25,23). Ähnlich geschieht es ja auch bei unserer Rechtsprechung. Der Schuldige wird aus dem Gerichtssaal hinaus in den Kerker gebracht.

30. Wenn es aber heißt: bis zum letzten Heller wird alles gefördert, so kann ein Doppeltes darunter verstanden werden. Einmal kann dies bedeuten: gar nichts wird ungestraft gelassen. Es ist dasselbe, wie wenn wir sagen: etwas bis zur Neige auskosten. Damit ist doch soviel gemeint, dass auch der letzte Tropfen noch abgefordert wird. Oder der letzte Heller, das heißt das letzte Viertel-As (quadrans) kann auch bedeuten: alle irdischen Sünden. Die sichtbare Welt ist aus vier Elementen zusammengesetzt, deren letztes die Erde ist. Sie sind: Himmel, Luft, Wasser und schließlich Erde. Wenn es also heißt: bis der letzte Heller, das letzte Viertel-As, bezahlt ist, so soll damit gesagt sein: bis alle irdischen Verfehlungen gebüßt sind. So war ja zum sündigen Menschen gesagt worden: "Staub bist du und kehrst zum Staube wieder" (Gen 3, 19). Wenn es aber heißt: bis alles bezahlt ist, so ist die Frage nicht unberechtigt, ob damit nicht die ewigen Strafen gemeint sind. Wie anders kann jene große Schuld getilgt werden als durch ewige Strafe, da keine Möglichkeit und Zeit zur Besserung und Buße mehr besteht. Das: bis alles bezahlt ist, muss dann im gleichen Sinn verstanden werden wie jenes Psalmwort: "Setz dich zu meiner Rechten, bis ich die Feinde dir zum Schemel hingelegt für deinen Fuß" (Ps 110, 1), Wenn nämlich die Feinde zu Füßen liegen, hört deshalb das Thronen zur Rechten nicht auf. Im gleichen Sinn muss auch das Wort des Apostels genommen werden: "Er muss ja herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat" (1 Kor 15, 25). Wenn sie demnach auf der Erde liegen, ist seine Herrschaft deshalb nicht beendet. Da also das Wort: "Er muss ja herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat", soviel besagt, als dass er ewig herrschen wird, da ja seine Feinde nach ihrer Besiegung immer zu seinen Füßen liegen, kann auch das Wort hier: "Du kommst dort nicht heraus, bis du den letzten Heller bezahlt hast", besagen: niemals mehr wirst du freigelassen werden. Ewig muss dieser letzte Heller bezahlt werden, da die Sündenstrafe ewig dauert, die für die begangenen Sünden zu entrichten ist. Mit diesen Darlegungen möchte ich aber einer genaueren Behandlung des Themas von den Sündenstrafen nicht vorgreifen, die in der Heiligen Schrift ewige genannt werden. Besser ist es auf jeden Fall, man meidet solche Verfehlungen, als dass man viel über sie und ihre Folgen redet.

31. Wir müssen jetzt aber auch noch etwas genauer zusehen, wer denn der Gegner ist, mit dem wir uns ohne Verzug" da wir mit ihm unterwegs sind, verständigen sollen. Es könnte der böse Feind damit gemeint sein; ein Mensch könnte darunter verstanden werden, an unsern Leib könnte man denken, schließlich könnte man auch Gott den Herrn und sein Gebot damit meinen. Es leuchtet ein, dass ein Sichvertragen mit dem bösen Feind nicht gemeint sein kann. Geschweige, dass wir uns nie mit ihm vertragen dürfen, auch nicht einmal Nachsicht dürfen wir ihm gegenüber haben. Wo Nachsicht, da ist Wohlwollen, da ist Freundschaft. Niemand wird aber behaupten wollen, wir sollten Freundschaft mit dem bösen Feind pflegen. Auch dürfen wir uns mit ihm nicht vertragen. Wir haben ihm einst (bei der Taufe) abgeschworen. Der Sieg über ihn soll uns die Krone bringen. Auch keine Verständigung ist mit ihm möglich. Hätten unsere Stammeltern sich nicht mit ihm eingelassen, brauchten wir jetzt nicht das Elend auskosten, in dem wir uns befinden.

Was den Menschen anlangt, so werden wir ja geheißen, mit allen Menschen, soweit es an uns liegt, in Frieden und Eintracht zu leben, ihnen mit Wohlwollen und Verstehen zu begegnen. Dennoch glaube ich nicht, dass hier der Mensch gemeint ist. Den Menschen steht es nicht zu, wie die Stelle hier vermerkt, uns dem Richter zu übergeben. Denn der Richter ist Christus, "vor dessen Richterstuhl wir alle zu erscheinen haben", wie uns der Apostel belehrt (2 Kor 5, 10). Wie könnte uns also jemand dem Richter überantworten, der selbst vor dem gleichen Richter zu erscheinen hat!

Oder ist dies vielleicht gemeint, dass jemand dem Richter überantwortet wird, weil er jemanden ein Unrecht zugefügt hat, ohne dass der Beleidigte selbst der Ankläger zu sein braucht? Das Gesetz selbst verlangt ja nach Sühne. Denn jegliches Vergehen gegen einen Mitmenschen ist zugleich auch ein Übertreten des Gesetzes.

Wenn zum Beispiel jemand einen andern getötet hat, so kann der Frevel zwar nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Der andere ist ja nicht mehr am Leben, er ist tot. Auch die größte Reue kann das angerichtete Unheil nicht mehr rückgängig machen. Verzeihung jedoch kann der Frevler erlangen. Sie ist denen sicher, die zerknirschten Herzens zum Herrn eilen, der allein alle Schuld nachlassen kann, denn "im Himmel wird größere Freude sein über einen einzigen Sünder, der sich bekehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die der Bekehrung nicht bedürfen" (Lk 15, 7).

Noch viel weniger kann hier gemeint sein, dass wir gegen unsern Leib nachsichtig sein sollten oder uns auf alle Weise mit ihm vertragen oder ihm alles erlauben sollten. Dies tun die Sünder. Sie verhätscheln ihren Leib, sehen ihm alles nach, gestatten ihm alles. Wer ihn aber sich untertan hält, kann ihm nicht in allem zustimmen. Er muss ihn im Gegenteil sich erbötig machen, wo nötig auch durch Zwang.

32. Vielleicht ist also an dieser Stelle gemeint, dass wir Gott in jeder Hinsicht wohlgefällig sein sollen, dass wir in allem seinen Willen tun, um so mit ihm wieder ausgesöhnt zu werden, um so wieder zu ihm zurück zu finden. Zu ihm, dem wir durch unsere Sünden entgegen getreten waren, und der deshalb unser Gegner werden musste. Denn, wem der Herr entgegentritt, dem ist er Feind, wie es in der Heiligen Schrift heißt: "Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade" (Jak. 4, 6). Und an einer andern Stelle: "Der Anfang der Hoffart der Menschen ist der Abfall von Gott. Denn von seinem Schöpfer hat sich sein Herz abgewendet, weil die Hoffart der Anfang aller Sünde ist" (Koh 10, 14, 15). Und der Apostel sagt: "Wurden wir nämlich durch den Tod seines Sohnes mit Gott versöhnt, als wir noch seine Feinde waren, so werden wir umso sicherer, nachdem wir versöhnt sind, durch sein Leben errettet werden" (Röm 5, 10). Daraus erhellt, dass kein Geschöpf an sich Gott feindlich sein muss, sofern es nämlich zu ihm zurückfindet, dem es entfremdet gewesen war. Wer aber auf dem Weg, auf dem er einherschreitet, das heißt jetzt im Leben, durch den Tod seines Sohnes sich nicht mit Gott versöhnt, der wird dann dem Richter übergeben. Denn der "Vater richtet niemand; er hat vielmehr das Gericht ganz dem Sohn übertragen" (Joh 5, 22).

Wird die Stelle hier so aufgefasst, dann folgt alles übrige in diesem Kapitel wie von selbst, wie wir dies ja auch schon dargelegt haben.

Ein Punkt allerdings macht vielleicht noch Schwierigkeiten: Kann man wohl mit Recht sagen, man befinde sich mit Gottlos auf demselben Wege, wenn er doch hier als Gegner des Sünders angesehen wird, mit dem wir uns schnell verständigen sollen? Aber vielleicht kann man die Schwierigkeit lösen, wenn man auf die Allgegenwart Gottes hinweist. Denn dann sind wir immer mit ihm, selbst wenn wir auf dem Wege des Bösen wandeln. So heißt es ja im Psalm: "Stiege ich zum Himmel empor, so bist du da; stiege ich in die Unterwelt hinab, so bist du da! Erhöbe ich bei der Morgenröte meine Flügel und ließe mich nieder am äußersten Ende des Meeres, so wird auch dort deine Hand mich leiten und deine Rechte mich lenken" (Ps 138, 8-10).

Aber diese Deutung hat ihre schwache Seite. Wenngleich Gott überall gegenwärtig ist, so hören wir es nicht gern, wenn man uns sagen würde: auch die Sünder seien bei Gott. Gerade so wenig wie man sagt: der Blinde stehe in der Fülle des Lichtes, wenn auch sein blindes Auge allseits von Licht umflutet ist. Besteht dieser Einwand zu Recht, dann kann man unter dem "Gegner" hier nur das Gesetz Gottes verstehen. Nichts ist dem Sünder so entgegen als das Gesetz des Herrn. Das Gesetz, wie es in der Heiligen Schrift aufgeschrieben ist. Und diese Schrift ist uns mit auf den Lebensweg gegeben. Sie soll uns Leitstern sein. Ihr dürfen wir nicht entgegenhandeln.

Sonst müßte sie uns dem Richter überantworten. Sollen wir ihr aber nicht alsbald gehorchen? Keiner von uns weiß, wann er aus diesem Leben scheiden muss. Der aber gehorcht der Heiligen Schrift, der sie frommen Sinnes liest oder anhört und ihr die höchste Autorität zugesteht. Dann wird er dem Gehörten auch nicht gram sein, weil vielleicht die eine oder andere Vorschrift seiner Lebensführung entgegensteht. Im Gegenteil! Er wird den Tadel dankbar annehmen. Er freut sich, dass seiner Krankheit Heilung gebracht wird, selbst wenn die Arznei bitter ist. Ist eine Stelle der Heiligen Schrift aber unklar oder unverständlich, oder klingt sie ihm sogar widerspruchsvoll, dann wird er sich nicht in leidenschaftliche Untersuchungen einlassen. Er wird um Erleuchtung beten; denn er weiß, dass dieser Autorität höchste Ehrfurcht und ehrerbietigste Scheu gebührt. Wer so an die Heilige Schrift herantritt, der gleicht einem Menschen, der das Testament seines Vaters nicht im Geiste des Haders und der Zwietracht eröffnet, sondern ganz und gar erfüllt vom Geiste ehrfürchtiger Kindesliebe. "Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land besitzen" (Mt 5, 5). Doch nun genug hiervon. Kommen wir zum Folgenden!

12. Kapitel: Mt 5, 27-28: Vom Ehebruch

33. "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch, jeder, der eine Frau mit Begierde anblickt, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen" (Mt 5, 27-28). Geringer also ist die Rechtschaffenheit, die sich nur vor dem Ehebruch hütet; größer die andere, die auch das Innerste des Herzens unbefleckt bewahrt. Denn wer den innern Menschen zu zügeln versteht, der wird auch nach außen hin tadellos wandeln. Der Herr, der diese Vorschrift gab, hat sie auch bestätigt. Er kam ja nicht, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen. Er sagt nicht: Jeder, der nach einer andern Frau verlangt; sondern: jeder, der eine Frau mit Begierde anblickt, also in einer Art und Weise, aus der ein unerlaubtes Verlangen entstehen muss. Die Versuchung meldet sich nicht erst, man hat schon vollständig eingewilligt. Dem unerlaubten Genuss soll kein Zügel mehr angelegt werden; sobald die Gelegenheit sich bietet, soll sie genutzt werden.

34. Drei Dinge führen zur Sünde: Versuchung, Wohlgefallen und Zustimmung.

Die Versuchung kann aus der Erinnerung an Vergangenes entstehen, sie kann aus körperlichen Wahrnehmungen aufsteigen, indem wir etwas sehen oder hören oder riechen oder kosten oder berühren. Kommt die Versuchung und macht sich ein Wohlgefallen daran bemerkbar, so ist es noch an der Zeit, dieses Wohlgefallen zu unterdrücken. Wir haben uns zum Beispiel vorgenommen, zu fasten. Wir sehen, nun eine Speise, die uns köstlich vorkommt. Aber erst, wenn wir Wohlgefallen an diesem Lustgefühl haben, besteht die Gefahr, dass wir unserm Vorsatz untreu werden könnten. Bleibt der Verstand aber Herr, wird er auch das Wohlgefallen unterdrücken.

Kommt zum Wohlgefallen noch die Zustimmung hinzu, dann ist die Sünde geschehen. Geschehen vor Gott, selbst wenn sie nur im Herzen getan war und nicht nach außen in die Erscheinung trat.

Diese Drei also sind die Wegbereiter der Sünde.

Sie haben ihr Urbild in der Schlange, die rasch sich windet, schnell entschlüpft. Der leicht entflammbare Körper fällt der Versuchung nur zu schnell zum Opfer. Unscheinbar ist der leicht aufgenommene Gedanke, er kann aber den ganzen Menschen, überwältigen. Es braucht deshalb nicht der fünf Sinne, um großes Übel anzurichten. Ein winziger Gedanke, rasch sich windend, schnell entschlüpfend, genügt. Je verborgener er dann noch ist, desto mehr ähnelt er der SchIange, die aus dem Hinterhalt hervorstößt zum todbringenden Biss.

Diese Drei, wie ich eben schon sagen wollte, sind in deutlicher Klarheit im ersten Buch der Heiligen Schrift, dem Buche Genesis, aufgezeichnet. Die Schlange gibt die Versuchung ein mit berechnender Überzeugungskraft. In Eva, gleichsam der sinnhaften Wahrnehmung findet sie Wohlgefallen. Der Mann, der Träger des verstandesmäßigen Denkens, gibt dann seine Zustimmung. Der Zustimmung folgt die Tat. In deren Folge wird der Mensch aus dem Paradies als dem Ort voll strahlenden Lichtes ewiger Gerechtigkeit vertrieben. Sicher mit vollstem Recht. Denn der Verführer hat die Zusicherung nicht erzwingen können. Die ganze natürliche Ordnung ist in ihrer Stufenfolge herrlich angelegt. Doch die höheren Grade, bei denen Verstand und Einsicht herrschen sollen, dürfen sich nicht den niederen angleichen. Nichts könnte dazu zwingen. Wo ein solcher Abstieg dennoch erfolgte, muss gerechterweise die Strafe kraft göttlicher Satzung folgen. Denn ohne Zustimmung konnte so etwas nicht geschehen. Ehe ein solches Beginnen Gewohnheit geworden ist, verschafft sie keinen Genuss. Oder der Genuss ist zumindest noch so schwach, dass er kaum ins Gewicht fällt. Die volle Zustimmung jedoch ist die Voraussetzung der schweren Sünde. Sie ist unerlaubt in jedem Fall. Die Zustimmung nämlich setzt das Begehen der Sünde im Herzen voraus. Wenn die Zustimmung dann zur Tat geschritten ist, scheint die Begehrlichkeit zunächst gesättigt und gestillt. Später aber, wenn die Versuchung zusamt der Vorstellung erneut auftritt, wird das Verlangen erneut und vermehrt entfacht. Immer aber ist dies alles noch keine Gewohnheit. Und deshalb bleibt der Anreiz auch gering. Aber aus stets wiederholten Handlungen erwächst dann die Gewohnheit. Diese zu bezwingen, ist äußerst schwer. Aber auch sie kann überwunden werden. Entscheidend ist, sich nicht selbst aufzugeben und harte Zucht christlicher Forderungen nicht zu fürchten. Unter ihrer Anleitung und mit ihrer Hilfe kann der Sieg errungen werden. Dann kann man zum früheren Frieden und zur gewohnten Ordnung zurückfinden. Wie der Apostel dies ausdrückt: "Das Haupt eines Mannes ist Christus, das Haupt der Frau ist der Mann" (1 Kor 11, 3).

35. Drei Dinge also schaffen die Voraussetzung zur Sünde: Versuchung, Wohlgefallen und Zustimmung. Die Sünde selbst kennt gleichfalls drei Entwicklungsstufen: im Herzen, in der einmaligen Tat und als Gewohnheit. Drei Arten des Todes werden damit angedeutet. Wer im Herzen die Sünde begeht, liegt gleichsam tot im Hause. Wer aber zur Tat geschritten ist, wird gewissermaßen vor die Tore schon hinausgetragen. Wer aber von der Gewohnheit gefesselt ist, dessen Seele von der Last der irdischen Gewohnheit erdrückt wird, der liegt gleichsam schon im Grabe, er verwest. Aber alle drei Arten dieses Totseins hat der Herr dennoch wieder zum Leben erweckt. Jeder, der das Evangelium gelesen hat, weiß dies. Beachten wir aber dabei, wie verschieden die Anrufe sind, die der Herr jeweils gebraucht. Zuerst sagt er nur: "Das Mädchen ist nicht tot, es schläft nur" (Mt 9, 25). Beim zweiten Geschehen spricht er jedoch: "Jüngling, ich sage dir, steh auf!" (Lk 7, 14). Doch bei der dritten Totenerweckung heißt es: "Jesus wurde innerlich tief ergriffen und erschüttert, und er brach in Tränen aus" (Joh 11,33-34). Und dann, so folgt weiter: "rief er mit lauter Stimme: "Lazarus, komm heraus!" (Joh 11,44).

36. Unter dem "Ehebrechen", von dem der Herr an dieser Stelle spricht, ist also jegliche Art von fleischlicher und lüsterner Begierde zu verstehen. Die Heilige Schrift nennt überdies jegliche Art von Götzendienst Unzucht. Der heilige Paulus hinwiederum nennt die Habsucht Götzendienst (Kol 3, 5). Daraus folgt, dass mit Recht jegliche unordentliche Begier Unzucht genannt werden kann. Die Seele missachtet dann nämlich das über ihr stehende höhere Gesetz und gibt sich den niederen Gelüsten, die ihr gleichsam einen Preis bezahlen, hin. Jeder also, der das fleischliche Begehren gegen die klare Einsicht des Verstandes in sich ankämpfen verspürt, zumal wenn vielleicht schon die Gewohnheit ihn mit ihren alles umklammernden Banden zu fesseln droht, erinnere sich, soweit er dazu in der Lage ist, in welchen Unfrieden er sich durch die Sünde stürzt und rufe mit dem Apostel aus: "Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todbringenden Leibe? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!" (Röm 7, 24-25.) Durch diesen Aufschrei seiner Seele, durch den er sich einen unglücklichen Menschen nennt, beschwört er die Hilfe dessen, der allein helfen und trösten kann. Damit ist der Weg zum Aufstieg, zur Höhe der Seligkeit nicht mehr weit, da ihn die Einsicht über die Ursache seines Unglücks erfüllt. Deshalb hat ja der Herr gesagt: "Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden" (Mt 5,4).

13. Kapitel: Mt 5, 29-30: Von einem Glied, das zum Bösen verführt

37. Der Herr fährt nun fort und sagt: "Wenn also dein rechtes Auge dich zum Bösen reizt, so reiße es aus und wirf es von dir. Denn es ist für dich besser, eines deiner Glieder geht verloren, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird" (Mt 5,29). Schweres wird hier verlangt. Denn was wäre schwerer, als sich selbst eines seiner eigenen Glieder zu berauben? Der Ausdruck "Auge" nämlich besagt ja dies: selbst das Liebste sollen wir, wo nötig, opfern! Schon die volkstümliche Rede drückt dies aus. Sagt man doch von jemanden, den man sehr liebt: Ich liebe ihn wie meinen Augapfel, ja noch mehr sogar. Wenn der Herr nun sagt: das rechte Auge, so soll damit das Bild nur noch verstärkt werden. Der Grad der Liebe soll noch unterstrichen werden. Zum Sehen gebrauchen wir beide Augen. Beide sind demnach an sich gleichwertig. Dennoch aber fürchten die Menschen den Verlust des rechten Auges mehr als den des linken. Der Sinn des Gleichnisses ist also der: Wenn es etwas gibt, das dir so lieb ist wie dein rechtes Auge, wenn es dir aber zum Ärgernis wird, das heißt, wenn es dich hindert, das ewige Leben zu erlangen, so musst du es ausreißen und von dir werfen. Besser ist es, etwas, das du so lieb hast wie dein rechtes Auge, geht zu Grunde, als dass dein ganzer Körper der Höllenstrafe verfalle.

38. Der Herr fährt fort und gebraucht das gleiche Bild von der rechten Hand. Er sagt: "Und wenn deine rechte Hand dich zum Bösen reizt, so hau sie ab und wirf sie weg. Denn es ist für dich besser, eines deiner Glieder geht verloren, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird" (Mt 5, 30). Wir stehen vor der Frage, warum der Herr das Gleichnis wiederholt und dennoch steigert. Offenbar soll durch die "Hand" mehr besagt werden als durch das "Auge". Die folgende Lösung scheint mir die beste zu sein: die "Hand" bezeichnet einen Freund, der uns ganz nahe steht, den wir über alles lieben. Er ist unser vertrauter Ratgeber. Er ist gleichsam das Auge, das uns den rechten Weg zeigen soll. Das rechte Auge soll uns den Weg der göttlichen Dinge weisen, das linke den der irdischen, die zur Notdurft des Lebens gehören. Überflüssig übrigens ist es, das Gleichnis auch auf dieses Auge auszudehnen, wenn schon das rechte nicht geschont werden darf. Hinsichtlich der göttlichen Dinge aber wird Ärgernis gegeben, wenn man versucht, unter dem Decknamen der wahren Religion eine verderbliche Lehre oder gar Häresie einzuführen. Die rechte "Hand" bezeichnet also den vertrauten Ratgeber und Freund im Hinblick auf göttliche Dinge. Das Auge erblickt sie, die rechte Hand aber ermöglicht die Verwirklichung in der Tat. Die linke Hand dagegen beschäftigt sich nur mit den Dingen, die zu diesem irdischen Bereich gehören und der Notdurft des Körpers dienen.

14. Kapitel: Mt 5, 31-32: Von der Ehescheidung

39. "Ferner ist gesagt worden: Wer seine Frau entlassen will, stelle ihr einen Scheidebrief aus." So lehrten die Pharisäer. Es war keine Lehre, die Vollkommenheit erstrebte. Doch der Herr ließ sie gelten. "Ich aber sage euch, jeder, der seine Frau entlässt, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht sie zur Ehebrecherin; und wer die Entlassene zur Ehe nimmt, bricht damit die Ehe" (Mt 5, 31 und 32). Das Gesetz, welches das Ausstellen eines Scheidebriefes gestattet, will aber nicht im gleichen Sinne bedeuten, dass die Frau auch entlassen werden muss. Der Herr sagt deshalb ausdrücklich: "Wer seine Frau entlassen will, stelle ihr einen Scheidebrief aus." Der Nachdruck liegt auf dem: will. Nicht im ersten zornigen Aufbrausen darf er ausgestellt werden. Der Gedanke an die zu verstoßende Frau soll die heftigen Gedanken mildern. Eine Zeit des Überlegens soll eingeschoben werden. Der harte Sinn der Menschen soll, soweit als möglich, besänftigt werden. Der Wille, keinen Scheidebrief auszustellen, muss herrschend sein. Darauf deutet ein anderes Wort des Herrn hin, da er auf eine entsprechende Frage antwortet:

"Wegen eurer Herzenshärte hat euch Moses erlaubt, eure Frauen zu entlassen; von Anfang an war es nicht so" (Mt 19, 9). Wenn der harte Sinn des Mannes darauf bestehen will, seine Frau zu entlassen, soll er doch bedenken, dass er dies nicht ohne Gefahr für sein eigenes Heil tun kann. Vielleicht wird dann sein harter Sinn besänftigt. Der Herr will also, dass nicht leichtfertig eine Frau entlassen werden darf. Einzig den Ehebruch nimmt er aus. Alles andere, die tägliche Last des Ehelebens, sofern sie da ist, soll aus Liebe zur ehelichen Treue und aus Liebe zur ehelichen Reinheit mutig ertragen werden. Einen Ehebrecher nennt er deshalb auch den, der eine solche geschiedene Frau heiratet. Auch der Apostel Paulus lehrt das Gleiche. Solange der Mann lebt, gilt die Verbindlichkeit der ehelichen Treue. Erst nach dem Tode darf an eine neue Verbindung gedacht werden (Röm 7, 2-3). Ja, er lässt es in dieser Hinsicht nicht nur bei einem Rat bewenden. Er gibt auch den ausdrücklichen Befehl: "Den Verheirateten gebiete nicht ich, sondern der Herr: Die Frau darf sich von ihrem Mann nicht trennen; hat sie sich aber doch getrennt, so muss sie unverheiratet bleiben oder sich mit ihrem Manne wieder aussöhnen. Ebenso darf der Mann seine Frau nicht entlassen" (1 Kor 7, 9-10). Wir irren nicht, wenn wir sagen, dass dieses Gebot auch für den Mann gilt. Auch er darf keine andere Frau ehelichen. Er muss sich ebenso bemühen, sich mit seiner Frau wieder zu versöhnen. Einzig der Ehebruch ist ein triftiger Grund. Und ihn will der Herr als eine Ausnahme betrachtet wissen. Somit darf die Frau zu Lebzeiten ihres Mannes keinen andern ehelichen, wie auch er zu Lebzeiten seiner Frau, die er vielleicht entlassen hat, keine andere Frau heimführen darf. Gilt dieses Gebot ganz allgemein, dann leuchtet ein, welch schweres Vergehen es ist, einen Ehebruch zu begehen. Heilig gehaltene Ehen dagegen sind die Grundlage echten Glückes. Ganz gleich, ob ihnen Kinder entsprießen oder ob sie kinderlos bleiben, da beide Eheteile zu freiwilliger Enthaltsamkeit sich entschlossen haben. Sich des ehelichen Umgangs enthalten, verstößt nicht gegen Gottes Gebot, das nur verbietet, der Frau den Scheidebrief zu geben. Nur geistige Gemeinschaft pflegen und keine leibliche, ist nicht das Gleiche wie einen Scheidebrief ausstellen. Vielmehr wird damit das Wort des Apostels wahr gemacht, da er sagt: "Die Zeit ist kurz. Daher sollen die, die eine Frau haben, so leben, als hätten sie keine" (1 Kor 7, 29).

15. Kapitel: Mt 5, 31-32: Einige Probleme zur Ehe

40. Eine Schwierigkeit muss hier noch besprochen werden, die ängstlichen Seelen im Hinblick auf ein anderes Wort des Herrn haben. Sie verspüren die Schwierigkeit umso mehr, da sie sich ja bemühen, nach den Geboten des Herrn ihr Leben einzurichten. Das Wort lautet: "Wenn jemand zu mir kommt, aber Vater und Mutter und Frau und Kind und Bruder und Schwester, ja auch sich selbst nicht hasst, so kann er mein Jünger nicht sein" (Lk 14, 26). Hier scheint ein Widerspruch aufzuklaffen. Wenigstens für den weniger Einsichtigen. Einmal heißt es, es ist verboten, seine Frau zu entlassen, es sei denn, sie habe die Ehe gebrochen, und zum andern wird gesagt, dass der kein wahrer Jünger des Herrn sein kann, der seine Frau nicht hasst. Doch die Lösung wird schon durch die nachfolgenden Worte angedeutet, wo es heißt, dass man auch den Vater und die Mutter und die Brüder im gleichen Sinne "hassen" soll. Das "Hassen" ist also nicht des ehelichen Umgangs wegen verlangt. Der Herr meint etwas anderes. Denn immer wahr bleibt jenes weitere Wort: "Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt gebrauchen, reißen es an sich" (Mt 11, 12). Großer Gewalt bedarf es, seine Feinde zu lieben. Gleich große Gewalt ist vonnöten, um Vater, Mutter, Frau und Kinder und Brüder zu "hassen". Beides wird vom Herrn denen befohlen, die das Himmelreich erlangen wollen. Hier besteht kein Widerspruch. Unter des Herrn Leitung kommen wir leicht zum rechten Verständnis. Doch das Verständnis allein genügt noch nicht, wenn auch die Einsicht noch so rasch gekommen wäre. Das Vollbringen bereitet die eigentliche Schwierigkeit. Das Himmelreich, zu dem der Herr seine Jünger, die er auch anderwärts seine Brüder nennt, berufen hat, braucht solche irdische Stützen nicht. "Da gilt nicht mehr Jude oder Heide, nicht mehr Knecht oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau. Denn ihr alle seid eins in Christus Jesus" (Gal 3, 28). Der Herr selbst sagt: "Die Auferstandenen nehmen nicht mehr zur Ehe und werden nicht mehr zur Ehe genommen, sondern sie werden sein wie die Engel Gottes im Himmel" (Mt 22, 30). Wer also hier schon sich ernstlich um das Himmelreich müht, muss nicht nur die Menschen "hassen", sondern auch alle irdischen Bedürfnisse, mit denen wir das irdische, vergängliche Leben zwischen Geburt und Tod auszustatten uns bemühen. Wer dies alles nicht hasst, hat kein wahres Verlangen nach dem ewigen, eigentlichen Leben. Nach jenem Leben, wo nicht mehr die Gesetze von Gebµrt und Tod gelten und damit auch nicht mehr die Ehe, die beiden die Voraussetzung schafft.

41. Setzen wir einmal den Fall, wir fragen einen braven, wohl unterrichteten christlichen Mann, der verheiratet ist und Kinder hat, ob er auch im Jenseits eine Frau haben will. Er wird sich die Antwort vielleicht überlegen. Möglicherweise erinnert er sich des Wortes des Apostels über die Verheißungen Gottes und das Jenseits: "Wenn dieses Verwesliche mit Unverweslichkeit, dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit bekleidet wird" (1 Kor 15, 53-54). Vielleicht wird ihm andrerseits die Liebe zu Frau und Kind in der Erinnerung sein. Aber am Ende wird er doch eine klare Antwort geben: dies wünsche er nicht! Man kann dann eine weitere Frage an ihn stellen, ob er nämlich seine Frau nach der Auferstehung in der Art der Engel also Geistigerweise sich zugesellt wissen wolle. In der Art also, wie sie den Heiligen verheißen ist. Sicher wird er dies nur zu gern sich wünschen, wie er andrerseits den ersten Gedanken weit von sich weist. Ein solcher Mann liebt also in seiner Frau das Gottesgeschöpf, das er geläutert und erneuert wiedergegeben sehen möchte. Die leibliche Bindung und die rein vergängliche Vereinigung hat für ihn keine Bedeutung mehr. Er liebt seine Frau als Mensch, nicht als Frau. So wird er auch seinen Feind lieben, weil er eben ein Mensch ist, nicht weil er sein Feind ist. Auch ihm wünscht er das gleiche Himmelreich als letzten Besitz, das er ja auch selbst erstrebt. In diesem Sinne sollen wir auch von Vater und Mutter und den übrigen Verwandten und allen Bindungen des Blutes denken. Was ihnen als Menschen anhaftet, alles, was durch Geburt und Tod umschrieben ist, hat in solcher Wertung keine Bedeutung mehr für uns. Das Streben geht einzig dahin, alle unsere Lieben dort vereinigt zu sehen, wo niemand mehr sagen wird: Mein Vater, sondern wo alle im Preise Gottes sich in dem einen Worte finden: Vater unser! Dort wird niemand mehr sagen: Meine Mutter, sondern alle wissen sich als gemeinsame Bürger des ewigen Jerusalem, unserer Mutter. Niemand sagt mehr: Mein Bruder, weil wir alle Brüder geworden sind. Die Gemeinschaft der Ehe gilt nicht mehr, da wir mit jenem vereinigt sind und ihm alle angehören, der uns aus der Verkommenheit dieser Welt (de prostitutione hujus saecuIi) durch das Vergießen seines heiligen Blutes befreit hat. Der wahre Jünger Christi wird also bei denen, die gleich ihm das ewige Leben zu erlangen wünschen, alles Vergängliche gering achten und einzig das anstreben, was ewig währt. Und je mehr er sie so liebt, desto weniger wird er auf das andere mehr achten.

42. Demnach darf der Christ sich ruhig verehelichen. Dabei soll die gegenseitige Liebe unzweifelhaft zu ihrem Recht kommen, wenn auch im Sinne des Apostelwortes: "als Zugeständnis und nicht als Gebot" (1 Kor 7, 6). Entsprießen diesem Bunde Kinder, so ist dies sogar ein Lob und kein Tadel. Wird die eheliche Verbindung aber in der Art geschwisterlicher Gemeinschaft aufgefasst, so kann dem nur Lob gezollt werden. Nun leben die, so eine Frau haben, als hätten sie keine (1 Kor 7, 29). Die christliche Ehe zeitigt eine ihrer feinsten Blüten, selbst der Anschein irdischer Abhängigkeit ist geschwunden, einzig die Hoffnung auf ewige Güter ist geblieben. Dann verachten wir ohne Zweifel alles, was eben vergänglich ist, um allein dem Unvergänglichen zuzustreben. Wir leben aus dem Wissen, dass das Ewige mit dem Vergänglichen keinen Bund schließen kann. Die Seele, die so im Leben steht, versteht das Wort: "Wer auch sich selbst nicht hasst, kann mein Jünger nicht sein" (Lk 14, 26). Das irdische Leben kennt nur vergängliche Speisen, im Vergleich zu denen das Wort des Herrn gilt: "Ist denn das Leben nicht mehr wert als die Nahrung?" (Mt 6, 25). Wenn der Herr an einer anderen Stelle sagt: "Ich gebe mein Leben für meine Schafe" (Joh 10, 15), so meint er eben das Leben, das er uns verheißen hat, wenn wir uns selbst absterben.

16. Kapitel: Mt 5, 31-32: Vom Ehebruch

43.Es bleibt noch eine andere Frage zu beantworten. Der Herr sagt, dass im Falle des Ehebruches eine Frau entlassen werden darf. Wie soll das Wort "Ehebruch" aber verstanden oder gedeutet werden? Ist es im engen, also eigentlichen Sinne gemeint, oder soll es auch im weiteren Sinne verstanden sein, wie ja auch die Heilige Schrift andere schwere Vergehen wie Götzendienst oder Geiz "Ehebruch" nennt, und deshalb so benennt, weil sie gleich dem Ehebruch schwere Übertretungen des göttlichen Gesetzes sind. Doch ziehen wir den Apostel zu Rate, um nicht leichtfertig etwas zu behaupten: "Den Verheirateten gebiete nicht ich, sondern der Herr: "Die Frau darf sich von ihrem Manne nicht trennen; hat sie sich aber doch getrennt, so muss sie unverheiratet bleiben oder sich mit ihrem Manne wieder aussöhnen" (1 Kor 7, 10-11). Es kann dennoch vor Gott erlaubte Gründe einer Trennung geben. Wenn also die Frau vom Manne sich trennen kann auch ohne dessen Ehebruch, also aus andern Gründen, steht dann nicht auch das gleiche Recht dem Manne zu? Oder wie soll der nachfolgende Satz verstanden werden: "Ebenso darf der Mann seine Frau nicht entlassen" (1 Kor 7, 11). Von Ehebruch ist hier nichts gesagt, der Herr selbst hat ja darüber schon die entsprechende Weisung gegeben. Demnach gilt für den Mann dasselbe wie für die Frau. Es kann Gründe geben, abgesehen vom Ehebruch, weswegen er von seiner Frau sich trennen kann, aber dann muss er unverheiratet bleiben oder sich wieder mit seiner Frau aussöhnen. Der Mann jener Frau also, die niemand zu steinigen wagte, und zu der der Herr dann sagte: "Geh hin und sündige fortan nicht mehr!" (Joh 8, 11) hätte sich mit gutem Grunde wieder mit ihr versöhnen können. Aber selbst wenn ein Ehebruch geschehen ist, verlangt er nicht, dass die Frau entlassen werde, sondern er lässt es zu. Im gleichen Sinne drückt sich auch der Apostel aus: "Die Frau ist solange gebunden, als ihr Mann lebt. Ist ihr Mann entschlafen, so ist sie frei und darf heiraten" (1 Kor 7, 39). Heiratet sie also vor dem Tode ihres Mannes, so macht sie sich schuldig. Verehelicht sie sich nach seinem Tode, kann niemand ihr einen Vorwurf machen. Allerdings ist sie nicht gehalten, zu heiraten, es steht ihr frei. Beiden demnach, dem Mann wie der Frau, sind in Hinsicht auf die Ehe die gleichen Pflichten auferlegt. Die Frau wie den Mann spricht der Apostel an, da er sagt: "Die Frau hat kein Verfügungsrecht über ihren Leib sondern der Mann, und ebenso hat der Mann. kein Verfügungsrecht über seinen Leib, sondern die Frau" (1 Kor 7, 4). Beide sind also auch hinsichtlich der Ehescheidung den gleichen Vorschriften unterworfen. Für beide gilt: sie ist unerlaubt, es sei denn im Falle des Ehebruches.

44. Soviel nun hinsichtlich des Ehebruches. Hören wir nun, was der Apostel weiter zu sagen hat. "Den übrigen sage ich, nicht der Herr" (1 Kor 7, 12). Wer sind diese "übrigen"? Oben hatte er im Namen des Herrn zu den Verheirateten gesprochen. Jetzt spricht er im eigenen Namen zu den übrigen. Meint er vielleicht die Ledigen? Das Folgende gibt dafür keinen Hinweis. Fährt er doch fort: "Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat, die mit ihm zusammenleben will, so soll er sie nicht entlassen" (1 Kor 7, 12). Auch hier spricht er von Verheirateten. Wer sind demnach die "übrigen"? Offensichtlich hatte er oben von den Verheirateten gesprochen, die beide schon im gleichen christlichen Glauben standen. Jetzt wendet er sich an die, so noch nicht beide diesen Glauben haben. Hier ist sein Rat: "Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat, die mit ihm zusammenleben will, so soll er sie nicht entlassen. Und. wenn eine Frau einen ungläubigen Mann hat, der mit ihr zusammenleben will, so soll sie ihren Mann nicht entlassen (1 Kor 7, 12-13). Nicht eine Anordnung des Herrn trägt der Apostel hier vor, sondern seine eigene. Daraus erhellt, dass eine Nichtbefolgung keine Strafe nach sich zieht. Das Gleiche gilt auch von den folgenden Ausführungen über die Jungfräulichkeit. Der Apostel verkündet kein Gebot des Herrn, sondern will nur seinen Rat geben. Er lobt daher die Jungfräulichkeit, er lobt die, so sich zu ihrer Bewahrung berufen fühlen. Die aber diesen Beruf nicht verspüren, verletzen kein Gebot. Etwas anderes ist ein Befehl, etwas anderes ein Rat, etwas anderes völlige Unkenntnis. Als Gebot gilt, dass eine Frau sich von ihrem Mann nicht trennen darf. Trennt sie sich dennoch, so muss sie unverheiratet bleiben oder sich wieder mit ihrem Manne aussöhnen. Etwas anderes darf sie nicht tun. Dem gläubigen Mann wird angeraten, sofern er eine ungläubige Frau geehelicht hat, sie nicht zu entlassen, sofern sie weiter mit ihm zusammenleben will. Es besteht aber kein Befehl, sie zu entlassen. Immerhin steht es ihm frei, sie zu entlassen. Denn der Herr hat kein entgegenstehendes Gebot erlassen. Der Apostel hat nur einen Rat gegeben. Genau so hinsichtlich der Jungfrauen. Niemand befiehlt ihnen zu heiraten. Heiratet sie dennoch, übertritt sie kein Gebot, sie glaubt, einen Rat nicht befolgen zu sollen. "Ich habe vom Herrn in dieser Hinsicht kein Gebot, aber einen Rat will ich euch geben" (1 Kor 7, 25). Die Möglichkeit besteht also, einen ungläubigen Ehepartner zu entlassen, obgleich es vielleicht vollkommener wäre, dies nicht zu tun. Das Gebot des Herrn sagt ausdrücklich, dass kein Eheteil entlassen werden darf, außer im Falle des Ehebruches. Demnach kann in gewisser Hinsicht auch der Unglaube dem Ehebruch als Scheidungsgrund gleichgesetzt werden.

45. Was also, Apostel, ist deine Ansicht? Sicher die, dass der gläubige Mann seine ungläubige Frau, sofern sie weiter mit ihm zusammenleben will, nicht entlassen darf. So sagt ausdrücklich der Apostel. Auf der andern Seite steht nun das Gebot des Herrn, seine Frau nicht zu entlassen, es sei denn im Falle des Ehebruches. Weshalb nun deine bestimmte Versicherung: "Das sage ich, nicht der Herr" (1 Kor 7, 12). Offenbar in der Absicht, um zwischen beiden Aussprüchen den rechten Ausgleich zu schaffen. Der Götzendienst, dem die Ungläubigen huldigen, und aller damit zusammenhängende törichte Aberglaube ist eine Art Ehebruch. Der Herr hatte die Erlaubnis gegeben, im Falle des Ehebruches den Ehepartner zu entlassen. Eine Erlaubnis war es, kein Befehl. Das gab dem Apostel die Möglichkeit zu sagen, wer den ungläubigen Eheteil nicht entlassen will, braucht es nicht zu tun. Schließlich kann der ungläubige Teil ja auch zum Glauben bekehrt werden. "Denn der ungläubige Mann wird durch die Frau geheiligt und die ungläubige Frau wird durch den Bruder geheiligt" (1 Kor 7, 14). Offenbar hatte der Apostel schon Fälle im Auge, wo ungläubige Frauen durch ihre Männer und ungläubige Männer durch ihre Frauen den wahren Glauben gefunden hatten. Er nennt keine Namen, hat aber die Beispiele gegenwärtig. Deshalb kann er mit Recht beifügen: "Sonst wären ja eure Kinder unrein, und sie sind doch heilig" (1 Kor 7,14). Die Kinder konnten also schon den wahren Glauben erhalten, insofern, dass eines der Eltern oder dass beide sie dem christlichen Glauben zugeführt hatten. Dies wäre unmöglich gewesen, wenn die Ehe wegen eines ungläubigen Eheteils geschieden worden wäre, wenn nicht vielmehr dieser ungläubige Teil in Geduld ertragen worden wäre, bis auch er zum rechten Glauben durchgefunden hatte. Damit wird dann in anderm Sinn ein Wort wahr, das, wie ich glaube, der Herr selbst gesagt hat: "Was du noch darüber aufwendest, werde ich dir bezahlen, wenn im zurückkomme" (Lk 10, 35).

46. Wenn demnach der Unglaube dem Ehebruch gleichgeachtet werden darf, wenn der Götzendienst Unglaube ist, und wenn der Geiz Götzendienst ist, dann dürfte kein Zweifel bestehen, dass auch der Geiz dem Ehebruch gleichgeachtet werden kann. Ist aber der Geiz gleichsam ein Ehebruch, dann ist jegliche andere ungeordnete Leidenschaft ebenfalls eine Art Ehebruch. Daraus könnte eine nicht unwichtige Folgerung gezogen werden. Jegliche ungeordnete Leidenschaft - also nicht nur der Ehebruch im eigentlichen Sinn - sondern jegliche Leidenschaft der Seele, die den Körper auf gefährliche Bahnen treibt, die am Ende zum Untergang führen muss, könnte als ein Grund zur Ehescheidung angesehen werden. Bekanntlich hatte der Herr einzig den Ehebruch als Scheidungsgrund anerkannt. Der "Ehebruch" kann aber, wie wir eben gesehen haben, auch in einem weiteren und allgemeinen Sinn verstanden werden.

47. "Es sei denn wegen Ehebruch." Das gilt für beide, Mann wie Frau. Aber noch mehr: Nicht nur die ehebrecherische Frau im eigentlichen Sinne des Wortes darf entlassen werden, sondern auch jene, die eine Ursache zum Ehebruch ist. Ein Beispiel: eine Frau zwingt jemanden zum Götzendienst. Wer eine solche entlässt, trifft den "Ehebruch" an der Wurzel, und nicht nur den eigenen, sondern auch den der Frau: ihren, weil sie schon "Ehebruch" getrieben hat, den seinen, damit er nicht selbst das Gleiche tue. Nichts Schlimmeres aber gäbe es, wenn jemand seine Frau des Ehebruchs wegen entließe, selbst aber dieses Vergehens schuldig befunden würde. Für einen solchen gälte das Wort: "Indem du nämlich einem andern das Urteil sprichst, verurteilst du dich selbst; du begehst ja das gleiche wie jener, den du verurteilst" (Röm 2,1). Wer demnach daran denkt, seiner Frau den Scheidebrief eines Ehebruches wegen zu geben, überlege zuvor, ob er nicht selbst die gleiche Strafe verdiene. Das gilt natürlich auch von der Frau.

48. "Wer die entlassene zur Ehe nimmt, bricht damit die Ehe" (1 Kor 7, 32). Auch diese Stelle muss noch genauer untersucht werden. Heißt das, dass nur der den Ehebruch begeht, der eine solche Frau ehelicht, oder macht nicht auch sie sich desselben Vergehens schuldig? Das Gebot lautet ja: sie solle unverheiratet bleiben oder sich mit ihrem Mann wieder aussöhnen unter der Voraussetzung nämlich, wie dies der Apostel ausdrücklich sagt, dass sie sich von ihrem Mann getrennt hat. Der ganze Unterschied liegt darin, ob die Frau den Mann entlassen hat, oder ob sie selbst von ihrem Manne entlassen worden ist. Hat sie ihren Mann entlassen und einen andern geheiratet, so ist der Verdacht berechtigt, als ob sie von dem früheren Mann sich deshalb geschieden habe, weil sie nach der Ehe mit einem andern verlangte. Ein solches Verlangen ist ehebrecherisch. Ist die Frau aber von ihrem Mann entlassen worden, obgleich sie weiterhin mit ihm zusammenleben wollte, so begeht der einen Ehebruch, der sie dann heiratet. Das sind die offensichtlichen Worte des Herrn. Ob sie aber selbst die gleiche Schuld sich zuzieht, ist ungewiss. Wenngleich der Fall ja nur selten sein dürfte, dass unter solchen Voraussetzungen nicht beide, Mann wie Frau, schuldig wären. Beide haben sich dann offenbar von ihrer Leidenschaft leiten lassen. Ferner ist zu beamten: wenn der schon einen Ehebruch begeht, der eine von ihrem Mann entlassene Frau heiratet, so noch mehr der, der eine Frau heiratet, die ihrerseits von ihrem Manne weggegangen ist. Hier liegt eindeutig ein Ehebruch vor. Das Wort des Herrn bezeugt es. Daraus folgt, dass die Frau, sei sie unschuldig oder schuldig, unverheiratet bleiben oder sich mit ihrem Manne versöhnen muss.

49. Eine weitere Frage bleibt noch zu lösen. Darf ein Mann eine Nebenfrau haben, die er mit Zustimmung seiner rechtmäßigen Frau sich genommen hat, weil sie selbst unfruchtbar oder dem ehelichen Umgang abgeneigt ist, eine Nebenfrau jedoch, die ledig, nicht schon die Frau eines anderen Mannes ist? Liegt hier Ehebruch vor oder nicht? Das alte Testament bietet dafür ja Beispiele. Doch jetzt gelten strengere Vorschriften. Die Menschen haben eine höhere Auffassung von der Ehe erreicht. Jene Geschehnisse waren Zulassungen Gottes, angepasst an das entsprechende Lebensalter des Menschengeschlechtes. Gottes Absicht war, der Schwäche zu Hilfe zu kommen. Daraus darf aber kein allgemein gültiges Lebensgesetz abgeleitet werden. Dementsprechend muss auch das Wort des Apostels gedeutet werden: "Die Frau hat kein Verfügungsrecht über ihren Leib sondern der Mann, und ebenso hat der Mann kein Verfügungsrecht über seinen Leib sondern die Frau" (1 Kor 7, 4). Es darf also nicht so ausgelegt werden, als ob die Frau, wenn auch mitbestimmend über die ehelichen Rechte und Pflichten, nun ihrem Mann die Freiheit geben könnte, sich eine Nebenfrau zu nehmen - vorausgesetzt, diese sei nicht verheiratet oder geschieden. Eine solche Deutung ist zu verwerfen. Gälte sie, so könnte ja auch gleichermaßen eine Frau von ihrem Mann ähnliche Zugeständnisse erhalten. Das widerspräche aber jeglicher guten Sitte.

50. Dennoch sind auch in dieser Hinsicht Tatsachen bekannt geworden, da eine Frau mit Zustimmung ihres Mannes, um ihm zu helfen, solche Zugeständnisse erhalten hat. So wird uns aus Antiochien ein Fall berichtet, der sich dort vor ungefähr 50 Jahren zu Zeiten des Kaisers Konstantinus (etwa 343) zugetragen haben soll. Damals war Ancydius Präfekt und Konsul dort. Ein Mann schuldete damals dem Fiskus eine große Summe, ein Pfund Gold. Ancydius drohte nun: Wenn der Mann bis zu einem bestimmten Tage die Summe nicht erlegen könne, verliere er sein Leben. Mit welchem Recht Ancydius eine solche Strafandrohung erlassen habe, weiß ich nicht. Aber solche Gewaltmenschen haben ein Recht, oder glauben es wenigstens zu haben, das wir nicht kennen. Der Schuldner wurde inzwischen ins Gefängnis geworfen, er konnte den geschuldeten Betrag nicht aufbringen, der gefürchtete Tag nahte heran. Der Mann war verheiratet, seine Frau war schön, aber auch sie wusste nicht, wie sie für ihren Mann das Geld beschaffen sollte. Ein reicher Mann in dieser Stadt hörte nun von der Not dieser Leute. Seine Leidenschaft übermannte ihn. Er gab der Frau zu verstehen, er werde ihr das Pfund Gold geben, wenn sie ihm einmal zu Willen sei. Daraufhin besprach sich die Frau mit ihrem Mann. Sie wusste ja, dass sie über ihren Leib nicht verfügen könne. Sie erklärte sich aber ihrem Mann gegenüber bereit, um ihm wieder zur Freiheit zu verhelfen, dem Ansinnen des Reichen zu entsprechen, sofern ihr Mann einverstanden sei. Sie gehöre nur ihm. Um sein Leben zu retten, dürfe er auch über ihren Leib verfügen. Ihr Mann dankte ihr und gab ihr die Erlaubnis, so wie vorgeschlagen, zu tun. Er war überzeugt, dass dies kein Ehebruch sei. Auch sie wurde nicht von böser Lust getrieben. Sie tat es nur aus großer Liebe zu ihrem Mann, einzig in der Absicht, ihm zu helfen. Die Abmachung kam zustande. Der ausbedungene Lohn wurde scheinbar bezahlt. Doch der reiche Lüstling hatte die Frau betrogen. Anstatt Gold hatte er Erde in den Geldbeutel gegeben. Als die Frau zuhause den Betrug entdeckte und die Erde anstatt des Goldes im Beutel fand, gab sie den ganzen Handel der Öffentlichkeit preis. Sie sagte laut, was sie aus Liebe zu ihrem Mann getan hatte, dass sie nur aus Zwang gehandelt hatte, wie sie aber betrogen worden war. Sie geht auch zum Präfekten und meldet ihm das Geschehene. Da überkommt diesen doch zunächst ein Gefühl der Schande, dass er durch seine Drohung die Ursache zu solchen Vorkommnissen gewesen ist. Dann aber gibt er Auftrag, das dem Fiskus geschuldete Pfund Gold aus seinem eigenen Besitz zu nehmen, die Frau aber weist er in das Besitztum jenes Reichen ein, der sie mit einem Beutel Erde betrogen hatte.

Soweit die Erzählung. Ich will mich in keine Erörterung darüber einlassen. Jeder möge darüber urteilen, wie er will. Diese Erzählung ist ja nicht aus einem der heiligen Bücher entnommen, entbehrt also jeglicher göttlichen Sanktion. Einen gewissen Eindruck macht sie aber doch auf uns. Sie ist jedenfalls nicht im gleichen Sinne verwerflich und widerstrebt nicht im gleichen Maße unserm sittlichen Empfinden, als wenn die Frau so etwas ohne den ausdrücklicheIl Befehl ihres Mannes getan hätte, - so aber hatte sie ja nur seinen Weisungen gehorcht.

Doch kehren wir zu unserm Evangeliumsabschnitt zurück. Hier geht es ja nur darum, darzulegen, wie schändlich der Ehebruch ist, mit wie starken Banden die Eheleute einander verbunden sind, wie sie nicht gelöst werden dürfen - einzig der eine Grund, eben der Ehebruch, ausgenommen. Aber darüber und worin "Ehebruch" bestehe, haben wir nun genug gehandelt.

17. Kapitel: Mt 5, 33-37: Vom Schwören

51. Weiter habt ihr gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht falsch schwören und: du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch, ihr sollt überhaupt nicht schwören, nicht beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes, nicht bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße, noch bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des großen Königs. Auch bei deinem Haupte sollst du nicht schwören, denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß zu machen oder schwarz. Eure Rede sei vielmehr: Ja, ja - nein, nein. Was darüber ist, kommt vom Bösen" (Mt 5, 33-37).

Die Gerechtigkeit der Pharisäer begnügte sich zu verlangen: Du sollst nicht falsch schwören. Der Herr bestätigt dieses Gebot. Er verbietet aber noch mehr. Er verbietet das Schwören überhaupt. Erst dann erreicht man die Gerechtigkeit des Himmelreiches. Wer nicht redet, kann auch nicht die Unwahrheit sagen. So kann auch der nicht falsch schwören, der überhaupt nicht schwört. Wenn wir also jetzt vom Schwören sprechen, müssen wir auch eines erwähnen. Der Apostel ruft wiederholt Gott zum Zeugen an. Offenbar will er seine Worte durch einen bekräftigenden Schwur unterstreichen. Verfehlt er sich dadurch nun gegen das Gebot des Herrn? Hören wir einige Beispiele. "Was ich da schreibe - ich bezeuge es vor Gott - ist keine Lüge" (Gal 1,20). Oder "Gott, der Vater des Herrn Jesus Christus, der da ist gepriesen in Ewigkeit, weiß, dass ich nicht lüge" (2 Kor 11,31). Auch die folgende Stelle gehört hierher: "Gott, dem ich durch die Verkündigung des Evangeliums von seinem Sohne mit meinem Geiste diene, ist mein Zeuge, wie ich unablässig euer gedenke und in meinen Gebeten immer zu Gott fIehe" (Röm 1, 9-10). Nun könnte ja einer kommen und sagen, nur dann habe man im eigentlichen Sinne geschworen, wenn man ausdrücklich sagt: Ich schwöre bei Gott. Ein Wort wie: Gott ist mein Zeuge, sei aber kein Schwur. Lächerlich wäre eine solche Deutung. Der Streitsüchtigen oder derer, die langsam von Begriff sind, wegen müssen wir noch ausführlicher werden. Nichts soll einseitig ausgelegt werden. Auch das Wort des Apostels: "Tag für Tag schwebe ich in Todesgefahr, so wahr ihr, Brüder, der Ruhmestitel seid" (1 Kor 15. 31), ist ein Schwur. Irrig wäre es, zu meinen, der Apostel wolle nur sagen: Euer Ruhm bringt mich täglich in Todesgefahr. Ähnlich sagt man: "Dieser ist in der Schule jenes Mannes ein Gelehrter geworden. Das will aber nichts anderes heißen als: Durch den Unterricht bei jenem Manne ist dieser ein Gelehrter geworden (Das Griechische drückt den Sinn an dieser Stelle besser aus: "ne ten hymeteran kauchesin"! Diese Ausdrucksweise ist eindeutig eine Schwurformel).

Demnach will der Befehl des Herrn hier so verstanden sein: man soll das Schwören nicht zur Gewohnheit werden lassen, sonst verleitet ein solch häufiges Schwören leicht zum Falschschwören. Wer sich an diese Regel hält, wer also nur dann schwört, wenn es notwendig ist, nicht auch schon, wenn es gerade gelegen ist, der wird es nur in wirklich dringenden Fällen tun. Sonst könnte die schwerfällige Art der Menschen ihn verleiten, bei jeder Gelegenheit sich beschwörender Ausdrücke zu bedienen, nur um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. In diesem Sinne ist das Wort des Herrn zu verstehen: "Eure Rede sei vielmehr: Ja, ja - nein, nein. Eine solche Rede ist gut, sie soll man sich zur Gewohnheit machen. Was darüber ist, kommt vom Bösen." Das heißt, wenn wir genötigt sind, zu schwören, hängt dies mit unserer Armseligkeit zusammen. Eine Armseligkeit, die selbst den Austausch der Menschen untereinander hemmt, so dass sie gezwungen sind. ihre Aussagen durch Schwüre zu bekräftigen. Diese Armseligkeit aber ist ein Übel unserer menschlichen Natur. Von derlei Übeln, so bitten wir ja täglich den Herrn, mögen wir befreit werden, da wir beten: "Erlöse uns von dem Übel" (Mt 6, 13). Deshalb sagt der Herr nicht einfachhin, was darüber ist, ist böse. Wir tun nichts Böses, wenn wir berechtigterweise schwören. Doch braucht das Schwören an sich nicht gleich etwas Gutes zu sein. Aber es kann notwendig sein, um einem andern die ganze Wichtigkeit des Gesagten klar zu machen. Eine Wichtigkeit, die ihm sogar nützen kann. Aber dennoch ist das Schwören "vom Bösen". Es ist ein Beweis für die Armseligkeit unseres menschlichen Daseins, die uns selbst zu solchen Mitteln zu greifen zwingt. Wer einigermaßen Erfahrung hat, weiß aber auch, wir schwer es ist, dieser Gewohnheit zu entsagen, niemals leichtfertig etwas zu tun, wozu nur gelegentlich" eine dringende Notwendigkeit die Berechtigung geben kann.

52. Eine weitere Frage bleibt zu beantworten. Warum fügt der Herr dem Satz: "Ich aber sage euch, ihr sollt überhaupt nicht schwören" die Bemerkung bei: "Nicht beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes" und alles Folgende bis, wo es heißt: "Auch bei deinem Haupte sollst du nicht schwören." Ich glaube, der Herr hat dies deshalb hinzugefügt, weil er wusste, dass die Juden, wenn sie bei derlei Sachen schwuren, sich durch diesen Schwur nicht im Letzten gebunden fühlten. Wohl war ihnen das Gebot bekannt: "Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast." Dazu fühlten sie sich aber nicht verpflichtet, wenn sie beim Himmel oder bei der Erde, bei Jerusalem oder auch bei ihrem Haupte einen Schwur leisteten. Nicht die Worte an sich waren sündhaft sondern der Missbrauch, der mit ihnen getrieben wurde. Daher gibt der Herr eindeutig zu verstehen, dass nichts, was Gott geschaffen hat, so gering ist, dass man es zum Falschschwören gebrauchen dürfte. Alles wird schließlich von der göttlichen Vorsehung gelenkt, vom Höchsten angefangen bis zum Geringsten. Daher beginnt er bei seiner Aufzählung mit dem Throne Gottes und hört mit unserm Haupthaar, von dem wir kein einziges weder weiß noch schwarz zu machen vermögen, auf. "Nicht beim Himmel", sagt er, "denn er ist Gottes Thron, nicht bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße." Gebrauchte man demnach solche Worte wie Himmel oder Erde, so wäre es ein großer Irrtum, zu glauben, damit sei Gott ausgeschaltet. Er ist ja der Herr Himmels und der Erde. Ihn also rufen wir an, wenn wir diese Namen nennen. Er würde den Missbrauch dieser Namen dann auch rächen. "Nicht bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des großen Königs." Er sagt nicht: meine Stadt, mit ganzem Bedacht. Aber dennoch ist dies der Sinn seiner Worte. Er selbst ist ja der große König. Wer demnach bei Jerusalem schwört, der schwört beim Herrn selbst. "Auch bei deinem Haupte sollst du nicht schwören." Vielleicht glaubte einer, wenigstens das Haupt gehöre ihm ganz allein. Bei seinem Haupte also dürfe er schwören. Ganz gefehlt. Wie könnten wir das als unser unbeschränktes Eigentum betrachten, da wir nicht die Macht hätten, auch nur ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. Also welche Worte wir auch immer als Schwur benutzen, im Letzten meinen wir Gott. In unaussprechlicher Weise ist er der Herr und Schöpfer aller Dinge. Mit seiner Allgegenwart beherrscht er sie. Auch unsere Gedanken gehören ihm. Deshalb "auch bei deinem Haupte sollst du nicht schwören". Das Gleiche gilt von allem andern, das hier noch zu nennen wäre. Daher verstößt das Wort des Apostels, das wir oben schon angeführt haben, nicht gegen diese Mahnung des Herrn. Sagt er doch: "Tag für Tag schwebe ich in Todesgefahr, so wahr ihr, Brüder, der Ruhmestitel seid, den ich, und damit zeigt er, dass alles auf den Herrn bezogen ist, "in Christus Jesus unserm Herrn besitze" (1 Kor 15,31).

53. Der Einfältigen wegen noch eine Bemerkung. Wenn es in der eben genannten Stelle heißt, der Himmel sei Gottes Thron und die Erde der Schemel seiner Füße, so heißt das natürlich nicht, Gott benötige diese Gegenstände, wie wir Menschen sie zum Sitzen und Ausruhen gebrauchen. Thron bedeutet so viel wie richterliche Tätigkeit. Der Himmel aber nimmt in der uns sichtbaren Welt gleichsam den größten Raum ein, die Erde dagegen den geringeren. Wenn der Herr zum Richten kommt, ist der Himmel als das Größere sein Thron, die Erde als das Geringere ist gleichsam unter seinen Füßen. Die Herrlichkeit und Größe der Allmacht Gottes soll damit ausgedrückt werden.

Man kann der Stelle aber auch noch eine andere Deutung geben. In einem gleichfalls übertragenen Sinn kann man sagen: der Himmel bezeichne die Heiligen, die Erde dagegen die Sünder. Denn "der geistige Mensch versteht (judicat = richtet hier) alles, während er selbst von keinem andern verstanden (gerichtet) wird" (1 Kor 2, 15). Entsprechend also dem Himmel der Sitz Gottes. Dem Sünder dagegen gilt: .Du bist Staub und zum Staub sollst du zurückkehren" (Gen 3, 19). Der gerechte Gott nämlich spricht ein gerechtes Urteil. Am niedersten Ort muss der sein, der dem Gesetz nicht gehorchen wollte. Er wird unter das Gesetz gestellt. Gott der Herr benutzt ihn gleichfalls als Schemel seiner Füße.

18. Kapitel: Mt 5, 33-37: Vom Schwören

54. Doch wir müssen diese Abschnitte jetzt beschließen. Fassen wir das Gesagte zusammen: Man kann von nichts Mühsamerem und Schwererem denken oder sprechen, in keiner anderen Hinsicht muss ein treuer Diener des Herrn mehr seine Kräfte anstrengen, als wenn es gilt, eine eingewurzelte Leidenschaft zu überwinden. Da heißt es wirklich, die Glieder abzuschneiden oder auszureißen, die ein Hindernis für die Erlangung des Himmelreiches sind. Und in der Ehe wird er aus Liebe zur ehelichen Treue alles ertragen, auch das Schwerste - die eheliche Untreue, den Ehebruch einzig ausgenommen. Sei es, dass seine Frau unfruchtbar ist, sei sie missgestaltet oder hässlich, sei sie blind, taub oder lahm, sei es was immer es sei, oder sei sie krank und von schweren Leiden geplagt, - dies alles wird man aus Liebe zur ehelichen Treue und Gemeinschaft gern auf sich nehmen. Nur der Ehebruch kann hier eine Ausnahme schaffen. Ja noch mehr. Ein treuer Mann wird seine Frau, und wäre sie mit all diesen Übeln behaftet, nicht entlassen. Noch viel weniger wird er nach einer andern verlangen, sei sie auch ohne Mann, sei sie noch so schön, gesund, reich oder fruchtbar. Wird er das schon nicht tun, so wird er erst recht selbst keinen Ehebruch begehen. Er wird ihn fliehen, wie man nur vor einem großen Übel fliehen kann.

Der treue Diener des Herrn wird aber auch die Wahrheit sagen. Er braucht die Wahrheit seiner Worte nicht durch häufiges Schwören unterstützen, er wird sie durch die Redlichkeit seines Wandels erweisen.

Er wird den ganzen Schwarm der unzähligen bösen Leidenschaften, von denen wir, wie ihr alle versteht, nur einige wenige haben benennen können, in der festen Burg Christlichen Herrendienstes, in die er geflüchtet ist, wie von einer höheren Warte aus zerschmettern.

Doch nur der darf solche Mühen auf sich nehmen, der ganz und gar von Hunger nach der Gerechtigkeit erfüllt ist. Nur der kann solches wagen, der dem Himmelreich Gewalt antun will, um so des wahren Lebens teilhaftig zu werden. Nur die ganz Starken können solche Lasten tragen; Lasten, wie sie in den eben genannten Beispielen dargelegt worden sind; Lasten, die die Kinder dieser Welt für unerträglich halten. "Selig, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit; sie werden gesättigt werden" (Mt 5, 6).

55. Mühen sind mit diesen Anstrengungen allerdings verbunden. Der Weg ist steinig und rau, auf dem man gehen muss, und überdies von nicht wenigen Gefahren bedroht. Die Erinnerung an die im bisherigen Leben aufgehäufte Last macht den Weg nicht leichter. Zu leicht kann Zagen einen überkommen, man vermöge vielleicht nicht das begonnene Werk zu Ende zu führen. Da höre man auf einen guten Rat, der auch zugleich Hilfe verspricht. Worin besteht dieser gute Rat? Man bemühe sich, die Last des andern tragen zu helfen. Wir erhoffen Gottes Hilfe; wir erhalten sie um so sicherer, je bereitwilliger wir andern beistehen. Rufen wir uns daher die Mahnungen zur Barmherzigkeit ins Gedächtnis. Sanftmütig und barmherzig scheint vielleicht dasselbe zu sein. Und doch besteht ein Unterschied. Die Sanftmut - darüber haben wir ja oben schon gesprochen - steht nicht im Gegensatz zu Gottes Wort und Satzung, wo dieses die Sünde mit Strafe bedroht. Auch nicht, wenn Gottes Wort nicht in jeder Einzelheit schon verstanden ist. Nur dann bringt sie keinen Nutzen, wenn sie in Nachgiebigkeit und Schwäche ausartet. Die Barmherzigkeit ihrerseits tadelt nicht. Sie will auf diese Art helfen und bessern. Denn Tadel kann nur zu leicht nachteilige Folgen haben.

19. Kapitel: Mt 5, 38-42: Von der Vergeltung

56. Der Herr fährt nun fort und sagt: "Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Aug um Aug, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, leistet dem Bösen keinen Widerstand, sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin. Will jemand mit dir rechten und dir deinen Rock nehmen, so lass ihm auch den Mantel. Nötigt dich jemand, eine Meile weit mitzugehen, so geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem gib; wer von dir borgen will, den weise nicht ab" (Mt 5, 38-42). Wiederum begnügt sich die Gerechtigkeit der Pharisäer mit dem Geringeren: beim Vergelten das Maß nicht zu überschreiten, eine erlittene Unbill nicht mit einer größeren heimzuzahlen. Wer so handelt, steht schon auf einer hohen Stufe. Denn nicht leicht findet man jemanden, der einen Schlag nur mit einem gleichen vergelten will, der bei einem scharfen Wort es bei einem andern bewenden lässt. Mag der Zorn zu Schärferem aufreizen; mag das verletzte Rechtsgefühl nach Sühne verlangen: sei dem, wie ihm sei, beiden Stimmungen legt das Gesetz einen Zügel an, da es befiehlt: "Aug um Aug, Zahn um Zahn." Diese beiden Worte sollen nur andeuten, dass die Strafe das zugefügte Unrecht nicht überschreiten darf. Damit wird dem Frieden schon der Boden bereitet. Vollkommener Friede ist aber dann erst gewährleistet, wenn auf jegliche Vergeltung verzichtet wird.

57. Dieses Gesetz: Gleiches mit Gleichem zu vergelten, erlittenes Unrecht durch gleichwertige Vergeltung zu sühnen, steht in der Mitte zwischen zwei andern Möglichkeiten. Eine kleine Unbill kann mit einem größeren Unrecht heimgezahlt werden. Dies verstößt gegen das Gesetz. Und dann die Vorschrift des Herrn für die vollkommeneren Jünger: erlittenes Unrecht überhaupt nicht zu vergelten. Seht, welcher Unterschied zwischen einem, der mit bewusster Absicht jemanden verletzen und jemanden schaden will, und einem andern, der selbst erlittenes Unrecht nicht mit gleicher Münze heimzahlt. Wer also nichts tut, um einen andern absichtlich zu verletzen, wer aber dennoch erlittenes Unrecht schärfer vergilt, hat zwar das Schlimmste vermieden, hat auch die Möglichkeit, besser zu handeln, noch vor sich, hat aber dennoch nicht das Gesetz erfüllt, das Moses gegeben und zu halten befohlen hat. Wer nur Gleiches mit Gleichem vergilt, zeigt sich schon großmütig. Eine boshafte Tat berechtigte an sich den unschuldig Herausgeforderten zu einer schärferen Vergeltung. Wer aber die Vergeltung milde handhabt, also nicht nach den Grundsätzen strenger Gerechtigkeit sondern denen der Barmherzigkeit verfährt, der bleibt im Rahmen dessen, was das Gesetz befiehlt, er löst das Gesetz nicht auf. Der Herr will also bei seiner Darlegung von diesen beiden Möglichkeiten absehen, will zu uns von den höchsten Möglichkeiten der Vollkommenheit sprechen. Es bestünde ja auch die Möglichkeit, sich mit weniger als dem ganz Vollkommenen, dem das Himmelreich verheißen ist, zufrieden zu geben. Es könnte einer etwa für zwei erhaltene Schläge nur einen widergeben oder für ein Auge, das er verloren, den andern nur des Ohres berauben. Oder es wäre noch ein höherer Grad denkbar. Man verzichtet überhaupt auf Vergeltung. Man kommt damit dem Gebot des Herrn schon sehr nahe, ganz erreicht hat man es noch nicht. Dem Herrn genügt es nicht, dass wir Böses nicht mit Bösem vergelten, wir sollen zu Größerem bereit sein. Deshalb sagt er nicht: "Ich aber sage euch, ihr sollt Böses nicht mit Bösem vergelten", wenngleich auch dies schon etwas Großes wäre, sondern: "Ich aber sage euch, leistet dem Bösen keinen Widerstand." Es genügt also nicht, erlittenes Unrecht nicht zu vergelten, sondern auch noch größerer Unbill keinen Widerstand entgegen zu stellen. In diesem Sinne fährt er folgerichtig weiter: "Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte auch die andere hin. Er sagt nicht: "Wer dich schlägt, den schlage nicht wieder", sondern: Sei bereit, noch mehr Schläge zu empfangen. Eine solche Haltung ist mit der Tugend der Barmherzigkeit gleichzustellen. Wer aus solcher Voraussetzung handelt, ähnelt jenem, der aus großer Liebe einem erkrankten Kinde oder sonst jemandem, der ihm sehr nahesteht, ja auch einem Geistesschwachen, alle Dienste leistet, selbst die geringsten, nur um zu helfen. Ja, er würde noch mehr auf sich nehmen, sollte es das Wohl des andern erfordern. Und das so lange, bis die Schwäche der Natur oder des Alters überwunden ist. Der Herr als Seelenarzt will uns also eine Mahnung geben, wie wir mit unsern kranken Mitmenschen verfahren sollen. Wir sollen einzig auf das Wohl des Nächsten bedacht sein und deshalb uns auch mit seinen Schwächen abfinden und sie ertragen. Denn schließlich entstammt Untugend aus einer Seelenschwäche. Wer dagegen seelisch ganz gesund ist, ist auch frei von jeglicher Bosheit.

58. Eine weitere Frage: was bedeutet die rechte Wange? So lesen wir nämlich in vielen griechischen, sehr glaubwürdigen Ausgaben; viele lateinische dagegen sprechen nur von der Wange, ohne ausdrücklich die rechte zu benennen. Am Antlitz wird der Mensch erkannt. Beim Apostel lesen wir: "Ihr lasst es euch ja gefallen, wenn man euch knechtet, ausbeutet, übervorteilt, wenn man sich überhebt, euch ins Gesicht schlägt." Und dann fügt er gleich hinzu: "Ich rede im Unverstand" (2 Kor 11, 20-21). Der Apostel gibt deutlich zu verstehen, was er meint: ins Gesicht geschlagen werden heißt so viel, wie beleidigt und verachtet werden. Nicht als ob der Apostel damit sagen wollte, man solle solche Schmach nicht erdulden. Vielmehr solle man sie ruhig auf sich nehmen, wie er es selbst sagt: "Ich aber will mit Freuden Opfer bringen, ja mich selbst aufopfern für eure Seelen" (2 Kor 12, 15). Das Antlitz ist aber nicht nur mit einer Gesichtshälfte gleich zu setzen. Sein Adel und seine Würde vor Gott und den Menschen besteht in seiner Ganzheit. Beide Wangen, die rechte wie die linke, haben an diesem Adel teil. Jeder wahre Jünger Christi muss also bereit sein, eine Beleidigung hinzunehmen, die die Welt als besondere Schmach betrachtet. Dann wird er sich auch bewähren, wenn man ihn ob seines Christseins angreift. So hat der Apostel gehandelt. Man hat ihn des christlichen Namens wegen verfolgt. Dennoch hat er freimütig seine Bevorrechtung in der Welt bekannt. Hätte er davon geschwiegen, so hätte er die andere Wange nicht dargeboten, nachdem man ihn auf die erste schon geschlagen hatte. Als er bekannte: "Ich bin ein römischer Bürger" (Apg 22, 25), war er auf Grund dieser Tatsache keineswegs gesonnen, das verächtlich behandeln zu lassen, was an sich nicht von höchster Bedeutung war. Dazu noch von solchen Leuten, die kaum ein Gefühl für die Würde und das Sichernde dieses Namens hatten. Aber das schloß nicht aus, dass er sich später dennoch wieder in Fesseln schlagen ließ, obgleich ein römischer Bürger sich eine solche Schmach nicht hätte gefallen lassen brauchen. Auch lag es ihm fern, jemanden deswegen anzuklagen. Schonte man ihn auch seines römischen Bürgerrechtes wegen, so entzog er sich doch nicht weiteren Verfolgungen. Durch seine Geduld suchte er sie zu bessern. Denn seine Feinde fürchteten nur seine weltliche Stellung, achteten aber nicht seine große innere Berufung. Immer kommt es auf die innere Gesinnung und Absicht an. Stets leitet ihn dieselbe Güte und Nachsicht gegen seine Widersacher. Auch die, Antwort, die er dem Hohepriester gab, als dieser ihn auf den Mund schlagen ließ, widerspricht dem nicht. Zwar scheint es eine Beleidigung zu sein, wenn er ihm entgegenhielt: "Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand!" (Apg 23, 3). So möchte man ohne gründlichere Überlegung urteilen.

Wer aber tiefer sieht, erkennt in diesem Worte eine Prophetie. Die getünchte Wand soll die Heuchelei bezeichnen. Nach außen hin wurde die hohepriesterliche Würde zur Schau getragen, im Innern aber war alles voll schlimmster Fäulnis. Die wirkliche Demut des Apostels offenbarte sich aber gleich. Als man ihm nämlich erwiderte: "Du schmähst den Hohepriester Gottes?" gab er zur Antwort: "Brüder, ich wusste nicht, dass es der Hohepriester ist. Es steht ja geschrieben: Den Vorsteher deines Volkes sollst du nicht schmähen" (Apg 23, 4-5). Deutlich gibt der Apostel hier zu erkennen, wie groß seine innere Ruhe war, da es doch den Anschein hatte, als ob er in Zorn und Aufregung jenes Wort gesagt hätte. Denn so rasch, so friedfertig erfolgte seine aufklärende Antwort, wie sie von jemandem, der im höchsten Zorn und tiefstem Unwillen spricht, nicht geäußert werden kann. Für den tiefer Sehenden hat er mit diesem Wort aber dennoch die Wahrheit gesagt. "Ich wusste nicht, dass es der Hohepriester ist", will soviel sagen: Ich kenne einen andern, den wahren Hohepriester, um seines Namens willen erdulde ich das alles; ihn zu schmähen wäre größtes Unrecht. Ihr schmäht ihn, da ihr in mir ja nichts anderes bekämpft als mein Bekennen seines Namens. In allem geht es demnach nicht um den äußeren Schein, sondern um die innere Herzensgesinnung. Der innere Mensch muss zu allem bereit sein, nur so wird er das Wort des Psalmisten wahrmachen: "Gerüstet ist mein Herz, o Gott, gerüstet" (Ps 56, 8). Viele sind wohl bereit, auch die zweite Wange dem Schlag darzubieten. Den Feind aber, der sie schlägt, zu lieben, das verstehen sie nicht. Hier gibt der Herr selbst das beste Beispiel. Er hat ja überhaupt seine Worte durch sein Beispiel unterstützt. Als der Knecht des Hohepriesters ihn auf die eine Wange geschlagen hatte, bot er ihm zwar nicht die andere an, redete ihn aber an und sagte: "Habe ich unrecht geredet, so beweise mir das Unrecht; habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?" (Joh 18, 23). Damit sollte keineswegs gesagt sein, dass er nicht aus ganzem Herzen bereit sei, auch die andere Wange dem Schlage darzubieten, sondern seine Bereitheit ging so weit, dass er den ganzen Körper dem Opfertod am Kreuze darbot.

59. Auch die folgenden Worte: "Will jemand mit dir rechten und dir deinen Rock nehmen, so lass ihm auch den Mantel", beziehen sich zunächst auf die innere Gesinnung, nicht auch gleich auf eine entsprechende Verwirklichung im alltäglichen Leben. Der Rock und der Mantel sind nur Beispiele aus der Gesamtheit aller Lebensgüter. Diese Güter, die uns ja eigentlich nur für eine Zeit zur Verfügung stehen, sollen in diesem Sinne von uns gewertet werden. Wenn wir schon die lebensnotwendigen Gegenstände so einschätzen sollen, wie dann erst die überflüssigen! Alles, was wir unser Eigentum nennen, ist hier einbegriffen. Das Wort des Herrn: "Will jemand mit dir rechten und dir deinen Rock nehmen", hat einen ganz allgemeinen Sinn. Alles ist damit gemeint, was vor Gericht uns bestritten werden kann. Unser Recht auf Eigentum ist auch das Recht eines andern auf den gleichen Besitz, wenn er ihm rechtlich zugesprochen wird, wenn er ihn rechtmäßig beansprucht. Kleider, Haus, Ländereien, Vieh, kurz, aller Besitz ist hiermit gemeint. Ob auch die Diener (Sklaven) darunter fallen, ist eine offene Frage. Der Christ hat über sie nicht das gleiche Eigentumsrecht wie über ein Pferd oder eine Stange Silber. Dabei kann es sehr wohl sein, dass ein Pferd teurer ist als ein Sklave, ganz zu schweigen von einem goldenen oder silbernen Gegenstand. Doch der Sklave wird von dir, seinem Herrn, vielleicht rechtlicher und ehrenhafter behandelt und zum Dienste Gottes angehalten als von dem, der ihn dir wegnehmen möchte. Ich bezweifle, ob es recht wäre, ihn so gleichgültig zu betrachten, wie man vielleicht ein Kleidungsstück bewertet. Der Mensch muss seinen Mitmenschen wie sich selbst lieben, zumal ja Gott, der Herr von uns allen, wie das Folgende zeigt, auch die Feinde zu lieben befiehlt.

60. Natürlich ist hier zu beachten, dass jeder Rock ein Kleidungsstück ist, aber nicht jedes Kleidungsstück ist ein Rock. Kleidungsstücke besagt mehr als Rock. Ich möchte deshalb die Stelle: "Will jemand mit dir rechten und dir deinen Rock nehmen, lass ihm auch den Mantel", so ausdeuten, dass "Mantel" hier jegliches andere Kleidungsstück bedeuten kann.

61. "Nötigt dich jemand, eine Meile weit mitzugehen, so geh zwei mit ihm" (Mt 5, 41). Nicht das körperliche Bereitsein zum Mitgehen ist gemeint, sondern die seelische Bereitschaft. In der ganzen christlichen Heilsgeschichte, die für uns maßgebend ist, wird von keinem Heiligen irgendetwas dergleichen berichtet. Auch vom Herrn nicht, der ja unsere Menschengestalt angenommen und wie einer aus uns gelebt hat. Aber bald auf jeder Seite finden wir Beispiele und Hinweise, wie die Heiligen mit größtem Gleichmut alle Unbill, die ihnen zugefügt wurde, ertragen haben.

Nun, vielleicht liegt in dem Wort "so geh zwei mit ihm" ein verborgener Sinn. Eine Dreizahl sollte hier ihre Erfüllung finden. Bekanntlich bezeichnet ja die Zahl Drei die Vollendung. Wer also auch dieser dritten Mahnung nachkommt, darf der Gewissheit sein, die Gerechtigkeit vollkommen erfüllt zu haben. In großer Barmherzigkeit hat er die Schwächen derer ertragen, die er heilen wollte. Deshalb hat der Herr hier an drei Beispielen die richtungweisenden Vorbilder aufgezeigt. Das erste war: wenn dich jemand auf die Wange schlägt. Das zweite, wenn dir jemand den Rock wegnehmen will. Das dritte, wenn dich jemand zwingt, eine Meile mitzugehen. Das Beispiel des Herrn spricht von einer Meile, die man nun freiwillig verdoppeln soll. Eins zu zwei gibt drei. Selbst wenn durch diese Zahl die Vollkommenheit noch nicht an dieser Stelle verdeutlicht werden sollte, so ist doch ein bestimmter Hinweis gegeben. Der Befehl fängt zunächst mit dem Leichteren an, um allmählich so weit zu kommen, dass man auch das Doppelte leistet.

Im ersten Beispiel, wo wir ermahnt werden, auch die andere Wange darzubieten, wenn man auf die rechte geschlagen worden ist, wird zunächst verlangt, dass wir weniger auf uns nehmen, als man uns zugefügt hat. Die rechte Seite ist die vollkommenere, die linke die weniger vollkommene. Wer darum in einer wichtigeren Sache Unrecht erleidet und dann auch in der weniger wichtigen zu gleichem Erdulden bereit ist, hat zunächst nur einen geringeren Grad der Vollkommenheit offenbart.

Im zweiten Beispiel, da der Rock genommen worden ist, sollen wir bereit sein, den Mantel zu geben. Beides ist ungefähr gleich. Jedenfalls besteht kein großer Unterschied zwischen diesen beiden Bekleidungsstücken. Zumindest ist das eine nicht doppelt soviel wert wie das andere.

Im dritten Beispiel aber, in dem wir geheißen werden, einer Meile noch zwei weitere hinzuzufügen, wird das Vollkommenere angedeutet. Aber allen drei Beispielen ist eines gemeinsam: ob nun weniger gefordert wird, als man erduldet hat, ob das Gleiche oder gar mehr: jegliche Unbill soll mit stetem seelischem Gleichmut ertragen werden.

20. Kapitel: Mt 5, 38-42: Von der Vergeltung

62. In diesen drei Beispielen ist aber auch jegliche Art von Unrecht, das wir erleiden können, dargelegt. Denn alles Unrecht, das man uns zufügen kann, lässt sich in zwei Gruppen einteilen: Unrecht, das nicht im Gleichen gut gemacht werden kann, und solches, das man wieder gutmachen kann. Dem Unrecht, das nicht gut gemacht werden kann, bleibt aber immer noch die Möglichkeit der Vergeltung. Denn was nutzt es an sich, wenn man für einen erhaltenen Schlag einen anderen wiedergibt? Kann etwa die Körperverletzung, die wir erduldet haben, damit wieder gut gemacht werden? Doch der Zorn im Menschen verlangt nach solchen Linderungen. Dem Gesunden und Starken aber helfen sie nichts. Er wird eher in Nachsicht die Schwäche des andern ertragen, als durch eine Vergeltung sich Genugtuung zu verschaffen, die im Grunde gar keine ist.

63. Damit soll aber nichts gegen eine Bestrafung gesagt sein, die der Besserung dienen soll. Sie ist ja eine Art Barmherzigkeit. Sie steht dem Vorsatz nicht im Wege, von jemandem, den man zurechtgewiesen hat, auch wieder in Geduld etwas hinzunehmen. Solche Zurechtweisungen darf aber nur der vornehmen, der die eigene Leidenschaftlichkeit, in die man nur zu leicht verfallen kann, in langer Zucht und großer Liebe hat meistern gelernt. Sicher besteht keine Gefahr, dass man Eltern, die ihre Kinder strafen, den Vorwurf macht, sie hassten diese. Die Strafe wird zur Verhütung schlimmerer späterer Übel gegeben. Diese hohe Vollkommenheit echter Liebe wird uns ja durch die folgenden Worte des Herrn angedeutet: "Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für jene, die euch verfolgen" (Mt 5, 44). Hierher gehört auch das Wort des Propheten: "Wen der Herr liebt, züchtigt er und hat sein Wohlgefallen an ihm wie ein Vater an dem Sohne" (Spr 3, 12). Der Herr selbst sagt: "Jener Knecht aber, der den Willen des Herrn kennt, jedoch nicht nach seinem Willen schaltet und waltet, wird viele Schläge erhalten. Wer ihn dagegen nicht kennt und strafwürdig handelt, wird wenige Schläge erhalten· (Lk 12, 47-48). Ausschlaggebend ist demnach, dass der bestraft, der dazu berufen ist. Und die Strafe hat in dem Geiste zu erfolgen, wie ein Vater seinen Sohn bestraft, den er sicher nicht hasst! Daraus folgt, dass es eine größere Liebe ist, einen Fehltritt zu bestrafen, als ihn ungestraft zu lassen. Die Strafe soll dem Bestraften nicht unnütz weh tun, sondern ihn bessern. Bei aller Strafgewalt muss aber auch der andere Grundsatz gewahrt bleiben, dass man stets bereit ist, erlittenes Unrecht selbst von dem zu ertragen, den man gern gebessert sehen möchte; und dies gleichgültig, ob man über den andern eine Befehlsgewalt ausübt oder nicht.

64. Bedeutende und ernste Männer sind sogar für die Todesstrafe eingetreten und haben sie auch verhängt, obgleich sie wussten, was es um diese Strafe ist. Sie selbst hatten vielleicht keine Furcht vor dem Tode, wussten aber hinwiederum, welchen Schrecken er manchen Menschen einflößt. Dennoch glaubten sie für manche Vergehen die Todesstrafe festsetzen zu sollen. Den Lebenden sollte eine heilsame Furcht eingeflößt werden, den zum Tode Verurteilten sollte der Tod Heilmittel sein, weil er Sühne brachte. Bestrafte man sie nicht so, bestünde die Gefahr, dass sie in einem längeren Leben noch weitere Vergehen anhäuften. Die Gesetzgeber, die solches bestimmten, haben nicht leichtfertig gehandelt. Gott der Herr selbst hat ihnen die Macht dazu gegeben. So hat Elias viele dem Tode überliefert, sei es mit eigener Hand (1 Kön 18,40), sei es, dass er vom Himmel Feuer auf die Frevler herabrief (2 Kön 1, 10). Das Gleiche wird ebenfalls von andern großen und gottesfürchtigen Männern berichtet. In demselben Sinne haben auch sie zum Besten der menschlichen Gemeinschaft diese Strafe verhängt. Das Beispiel des Elias haben später einmal die Jünger des Herrn angeführt. Sie wollten es ihm gleichtun. Der Herr hatte sie ausgesandt, um eine Herberge für ihn zu bereiten. Allein, man nahm ihn nicht auf. "Als die Jünger Jakobus und Johannes dies erfuhren, sagten sie: Herr, sollen wir nicht Feuer vom Himmel herabrufen, dass sie es verzehre?" (Lk 9, 52-54). Der Herr tadelte sie ob dieser Gesinnung und verwies es ihnen. Dieser Tadel galt nicht dem Propheten, auf dessen Beispiel sie sich beriefen, sondern nur ihrem harten und unerleuchteten Sinnen, das einzig an Vergeltung dachte. Der Herr wusste wohl, dass sie nicht aus Liebe zur Besserung diese Strafe verlangten, sondern aus einem Gekränktsein, das sich nun rächen wollte. Später gab ihnen der Herr dann das Gebot der Liebe, indem sie angehalten wurden, den Nächsten wie sich selbst zu lieben. Dann sandte er ihnen zehn Tage nach seiner Himmelfahrt noch den Heiligen Geist, wie er versprochen, der sie im gleichen Streben befestigen sollte (Apg 2, 1-4). Die Todesstrafe selbst wurde auch verhängt, jedoch viel seltener als im Alten Bunde. Im Alten Bunde herrschte die Furcht, sie bestimmte weithin das Leben. Im Neuen Bunde dagegen sollten sie durch die Liebe genährt zur Freiheit erzogen werden. Dennoch wurde auch hier ein mahnendes Beispiel gegeben. Auf die Worte des Apostels Petrus fielen Ananias und seine Frau, wie wir in der Apostelgeschichte lesen (5, 1-10), entseelt zu Boden. Sie wurden nicht wieder erweckt, sondern man begrub sie.

65. Sollten aber einige Häretiker (Manichäer), die insbesondere das Alte Testament ablehnen, die angeführten Beispiele als nicht beweiskräftig verwerfen, so sollen sie wenigstens auf den Apostel Paulus hören, den sie ja auch wie wir lesen. Von einem Übeltäter sagt er: "Man soll jenen Menschen in Vollmacht unseres Herrn Jesus dem Satan übergeben zum Verderben des Fleisches, damit sein Geist gerettet wird" (1 Kor 5, 5). Vielleicht bestreiten sie, dass mit diesen Worten der Tod gemeint ist. In der Tat ist er möglicherweise auch nicht gemeint. Nicht bestreiten aber können sie, dass der Apostel durch den Satan eine Strafe verhängt sehen will. Dieses "dem Satan übergeben" geschieht aber nicht aus Hass sondern aus Liebe, wie dies ja der angefügte Wunsch deutlich verrät: "Damit sein Geist gerettet wird!" In den Büchern, denen sie großen Wert beilegen, finden wir aber ähnliche Berichte. So wird dort vom Apostel Thomas erzählt, wie er einmal jemandem, der ihm einen Faustschlag versetzt hatte, einen schlimmen Tod angedroht habe, wenngleich seine Seele verschont und das ewige Leben erlangen solle. In der Tat wurde der Übeltäter bald darauf von einem Löwen zerrissen. Ein Hund erwischte dabei die Hand des Unglücklichen und brachte sie dem Apostel, der eben zu Tische saß. Wir schenken dieser Schrift keinen Glauben, sie gehört nicht zum Kanon der Heiligen Bücher, wie er in der katholischen Kirche überliefert ist. Jene aber lesen sie und halten sie hoch in Ehren als Zeugen unverfälschter Wahrheit. Dabei erbosen sie sich gegen die Berichte des Alten Testamentes, wo ähnliche Strafen vermeldet werden. Sie sind mit Blindheit geschlagen. Sie verkennen den Geist und die Zeitumstände, die in den heiligen Schriften obwalten.

66. Ein Grundsatz ist vom christlichen Standpunkt aus bei der Bestrafung solcher Vergehen festzuhalten: erlittenes Unrecht darf nicht zu Hass führen. Aus Mitleid mit der Schwäche des andern soll man sogar bereit sein, noch weitere Unbill zu ertragen. Aber auch der Versuch der Besserung soll nicht unterbleiben, indem man die zur Besserung gedachte Strafe auf Rat eines andern oder aus eigener Überlegung und Machtvollkommenheit verhängt. Es gibt nun noch eine Art von Unrecht, die im ganzen wieder gutgemacht werden kann. Die Gutmachung kann in doppelter Weise geschehen: durch Geld oder durch Arbeitsleistung. Zur ersten Gattung gehört das Beispiel vom Rock und Mantel, zur zweiten das von der einen Meile und der andern, die hinzugefügt wird. Ein Kleidungsstück kann zurückgegeben werden, und eine geleistete Arbeit kann im Gleichen vergolten werden.

Vielleicht können die angeführten Beispiele noch in einem andern Sinn gedeutet werden. Das Geschlagenwerden auf die Wange will besagen, dass das von boshaften' Menschen uns zugefügte Unrecht nicht gut gemacht werden kann, es sei denn, man vergelte Gleiches mit Gleichem. Das nächste Beispiel vom Rock bedeutet, dass ein solcher Verlust wieder gutgemacht werden kann, ohne dass es dabei zu bitterem Nachtragen käme.'Vielleicht ist auch aus diesem Grunde hier beigefügt: "Will jemand mit dir rechten." Denn was gleichsam in einem Rechtsverfahren geschieht, ist seiner Art nach nicht so verletzend als, was nur mit Gewalt genommen wird. Die Gewalt fordert Vergeltung heraus. Das dritte Beispiel kann beides in sich schließen: Vergeltung genau so gut wie Verzicht darauf. Wer jemanden ohne Berechtigung mit Gewalt zu einer ungeschuldeten Arbeit zwingt, kann eine Strafe für dieses Unrecht auf sich nehmen und dazu noch eine Gegenleistung an Arbeit bieten, wenn der Beleidigte dies fordert. Mit der Aufzählung all dieser Arten von Unrecht, das man erleiden kann, will der Herr uns lehren, dass man bei solchen Vorkommnissen größter Geduld, größten Mitleides sich befleißen soll, ja noch bereit sei, mehr zu ertragen. So geziemt es dem wahren Christen.

67. Doch nicht genug damit. Nicht nur jegliches Schädigen eines andern ist verboten,· der Herr gebietet auch, dem andern Wohltaten zu erweisen, soweit wir das nur können. Deshalb fügt er hinzu: "Wer dich bittet, dem gib; wer von dir borgen will, den weise nicht ab" (Mt 5, 42). "Wer dich bittet", heißt es, nicht: alles, was gebeten wird. So viel sollen wir geben, was wir gerechter- und billigerweise geben können. Soll man etwa geben, wenn jemand um Geld bittet, um damit andere auszubeuten? Soll man einem unzüchtigen Verlangen stattgeben? Man könnte hier noch unzählige Beispiele anführen. Wir wollen uns aber dabei nicht verlieren. Nur das soll gegeben werden, was uns selbst wie auch dem andern nicht zum Schaden gereicht. Soweit wir Menschen dies eben beurteilen und übersehen können. Und müssen wir aus gerechten Gründen eine Bitte abschlagen, sollen wir ruhig die Gründe dafür angeben. In diesem Falle entlassen wir den andern doch nicht ohne eine Hilfe. Handeln wir so, dann helfen wir immer dem Bittenden, selbst wenn wir das eigentlich Erbetene nicht geben können. Ja vielleicht geben wir dem Bittsteller sogar etwas Besseres, wenn wir ihm das zu Unrecht Erbetene verweigern.

68. Der Satz aber: "Wer von dir borgen will, den weise nicht ab", ist wörtlich zu nehmen; denn so steht geschrieben: "Einen freudigen Geber hat Gott lieb" (2 Kor 9, 7). Jeder, der etwas erhält, borgt damit gleichsam, auch wenn er nicht gehalten ist, es zurückzugeben. Da Gott den Barmherzigen reichlichst wiedergibt, legt der sein Kapital gut an, der Wohltaten erweist. Sollte es uns aber schwer fallen, dem etwas zu borgen, bei dem wir nicht gewiss sind, dass wir das Geborgte wieder erhalten, so sollen wir uns erinnern, dass der Herr zwei Arten von Borgen hier meint: Borgen im eigentlichen Sinn, da wir wohlmeinend das Erbetene geben, - oder Borgen als Verzicht auf das Geschuldete. Es kann nun wohl sein, dass Menschen, die im Hinblick auf die göttlichen Verheißungen gern bereit sind, einem andern etwas zu schenken, weniger geneigt sind, einem etwas zu borgen. Sie meinen dabei vielleicht, der göttlichen Belohnung verlustig zu gehen, da das Geborgte ja wieder zurückgegeben wird. Mit vollem Bedacht mahnt uns daher der Herr, auch diese Art von Wohltun zu üben. Sagt er doch ausdrücklich: "Wer von dir borgen will, den weise nicht ab." Stoßen wir also den nicht zurück, der mit einer solchen Bitte kommt. Handeln wir auch in dieser Hinsicht entsprechend dem Gebote Gottes, so wird unser Tun nicht unbelohnt bleiben.

21. Kapitel: Mt 5, 43-48: Von der Feindesliebe

69. Und nun fügt der Herr noch ein Weiteres hinzu und sagt: "Ihr habt ja gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch, liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für jene, die euch verfolgen und verleumden; so werdet ihr Kinder eures himmlischen Vaters, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und regnen lässt über Gerechte und Sünder. Denn wenn ihr nur jene liebt, die euch lieben, welchen Lohn werdet ihr haben? Tun dies nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Freunde grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (Mt 5, 43-48). Ohne diese Liebe, die uns hier auch unsere Feinde und Verfolger zu lieben heißt, können wir, das was im Vorhergehenden uns gesagt worden ist, nicht befolgen. Vollkommene Barmherzigkeit, die immer wieder der nach dem Höchsten strebenden Seele angeraten wird, wird in der Feindesliebe erreicht. Deshalb beschließt der Herr seine Mahnung hier mit den Worten: "Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Das heißt: Gott ist seinem göttlichen Sein nach vollkommen, die Seele aber in der Verwirklichung ihrer eigensten seelischen Fähigkeiten.

70. Aber auch die Gerechtigkeit der Pharisäer, wie sie im Alten Bund gefordert wird, bedeutet schon eine gewisse Vollkommenheit. Der hat einen gewissen Grad erreicht, der seinen Nächsten liebt, wenngleich er vielleicht seinen Feind hasst. Dagegen kann es doch vorkommen, dass jemand die hasst, die ihn lieben. So etwa junge Menschen, die dem Laster der Unzucht ergeben, ihre Eltern hassen, weil diese sie deshalb bestrafen. Der Befehl des Herrn aber, der gekommen war, das Gesetz zu erfüllen, nicht es aufzulösen, fordert mehr. Die Feindesliebe nämlich geht weit über ein Wohlwollen und Wohltun hinaus, wogegen jene andere Haltung immerhin noch sehr mangelhaft ist. Man kann sie auch bei Zöllnern finden. Und gar der andere Satz, der sich im Gesetz findet: "Du sollst deinen Feind hassen", ist kein Befehl sondern nur ein Zugeständnis an menschlicher Schwäche.

71. Hier erhebt sich die Frage, die nicht umgangen werden darf. Dem Gebot des Herrn, wie es hier steht, dass wir nämlich unsere Feinde lieben sollen, dass wir denen Wohltaten erweisen sollen, die uns hassen, und dass wir für die beten sollen, die uns verfolgen, scheinen andere Stellen der Heiligen Schrift entgegen zu stehen, wenn wir sie oberflächlich und weniger sorgsam betrachten. Bei den Propheten finden sich viele Stellen, die eine Drohung gegen die Feinde enthalten, die man sogar als Verfluchung ansehen könnte. So zum Beispiel: "So werde ihnen denn ihr Mahl zur Schlinge" (Ps 68, 23); und anderes, was im gleichen Psalm gesagt wird. Oder: "Zu Waisen sollen werden seine Kinder, seine Frau soll Witwe werden" (Ps 108, 9). Im gleichen Psalm werden ähnliche Verwünschungen ausgestoßen. Noch viele andere Stellen der Heiligen Schrift scheinen dem Gebot des Herrn, wie er es hier gegeben hat, entgegen zu stehen. Ja, auch dem Wort des Apostels, wo er sagt: "Segnet, die euch verfolgen; segnet sie und verflucht sie nicht!" (Röm 12, 14). Ferner kann hier eine Begebenheit aus dem Leben des Herrn angeführt werden, da er Städten Unheil androht, weil sie seine Botschaft nicht aufgenommen haben (Mt 11,20-24 und Lk 10, 13-15). Auch der Apostel spricht im gleichen Sinn: "Der Herr wird ihm vergelten nach seinen Werken· (2 Tim 4, 14).

72. Die eben gestellte Frage sollte dennoch nicht zu schwer zu lösen sein. Die Verwünschungen, in denen der Prophet schon das Zukünftige andeutete, sind im Geiste der Vorschau gesprochen, nicht als seine eigenen Wünsche. Auch der Herr hat solche Aussprüche getan, desgleichen der Apostel. Durch ihre Worte werden nicht so sehr eigene Wünsche verdeutlicht als Weissagungen für die Zukunft. Wenn der Herr sagt: "Weh dir Kapharnaum!" so bedeutet dies nichts anderes als eine Vorhersage des kommenden Unheils, das wegen der Verstocktheit über diese Stadt kommen wird. Der Herr wünschte das Unheil nicht herbei, aber er sah es in seinem göttlichen Wissen voraus. Und der Apostel sagte nicht: "Der Herr möge ihm vergelten", sondern: "Der Herr wird ihm vergelten nach seinen Werken." Eine Vorhersage ist dies, keine Verwünschung. Auch als er über die Heuchelei der Juden sich ausließ - die Stelle haben wir oben schon besprochen -, da er die Vernichtung anzudrohen schien, spricht er nur: "Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand." Die Propheten aber lieben es, unter dem Gewand der Verwünschung das Zukünftige vorherzusagen; wie sie auch unter dem Bilde der Vergangenheit Zukünftiges vorhersagten. So etwa: "Was toben denn die Heiden und sinnen eitlen Plan die Völker?" (Ps 2, 1) (Wörtlich nach dem lateinischen Text: "Was haben denn die Heiden getobt, und was haben die Völker eitle Pläne ersonnen.") Er sagt nicht: "Was werden die Heiden toben und was werden sie eitle Pläne sinnen." Wenngleich der Ausspruch sichtlich auf Zukünftiges geht, nicht auf Vergangenes. Genau so ist es mit einem andern Ausspruch: "Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben das Los über mein Gewand geworfen" (Ps 21, 19, so wörtlich nach dem lateinischen Text). Der Prophet sagt also nicht: "Sie werden meine Kleider unter sich teilen und werden über mein Gewand das Los werfen." Über diese Sprechweise braucht man sich nicht zu verwundern. Der eigens gewählte Ausdruck. tut der Wahrheit keinen Abbruch, er hinterlässt sogar in der Seele des Hörers einen größeren Eindruck.

22. Kapitel: Mt 5, 43-48: Von der Feindesliebe

73. Die hier aufgeworfene Frage wird aber vielleicht noch eindringlicher durch eine Stelle des Apostels Johannes beleuchtet: "Sieht einer, dass sein Bruder eine Sünde begeht, die nicht zum Tode führt, so bete er und verhelfe ihm dadurch zum Leben, wofern er nicht zum Tode gesündigt hat. Es gibt nämlich auch eine Sünde, die zum Tode führt; bei der sage ich nicht, dass er beten soll" (1 Joh 5, 16). Der Apostel gibt also deutlich zu verstehen, dass es Brüder gebe, für die zu beten er nicht anbefehlen wolle. Andererseits aber befiehlt der Herr, auch für die Verfolger zu beten. Diese Frage kann nur gelöst werden, wenn wir zugeben, dass es Sünden geben kann, die schwerer wiegen als selbst Verfolgungen von Seiten unserer Feinde. Unter den "Brüdern" sind aber insgemein die Christen zu verstehen. Deutlich ersehen wir dies aus der Heiligen Schrift. Ganz deutlich erhellt dies aus der Stelle des Apostels, wo er sagt: "Denn der ungläubige Mann wird durch die Frau geheiligt, und die ungläubige Frau wird durch den Bruder geheiligt" (1 Kor 7, 14). Er sagt nicht: durch unsern Bruder. Offensichtlich wusste jeder, dass hier mit der Bezeichnung "Bruder" ein Christ gemeint ist, der eine Ungläubige zur Frau hat. Im gleichen Sinne fügt er hinzu: "Will sich aber der ungläubige Teil scheiden, so mag er sich scheiden. In solchem Falle ist der Bruder oder die Schwester nicht gebunden" (1 Kor 7, 15). Unter der "Sünde, die zum Tode führt", möchte ich jene Tat verstehen, die die brüderliche Gemeinschaft, das heißt die christliche Gemeinschaft, die Kirche, bekämpft, nachdem man einmal durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus zur wahren Erkenntnis Gottes gelangt war. Diese Sünde ist ein Auflehnen gegen Gott, entzündet durch die Brandfackel des Neides. "Die Sünde aber, die nicht zum Tode führt", ist eine Tat, die nicht zur vollen Trennung von der brüderlichen Gemeinschaft führt, sondern vielleicht aus irgendeiner Schwäche Beweis einer mangelnden Liebe ist. In diesem Sinne ist das Wort des Herrn zu verstehen, das er am Kreuze gesprochen hat: "Herr, verzeihe ihnen, sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23, 34). Die Gnade des Heiligen Geistes hatte sie noch nicht erfasst, sie waren noch keine vollgültigen Teilhaber der brüderlichen Gemeinschaft geworden. Im gleichen Sinne betet der heilige Stephanus für die, welche ihn gesteinigt haben (Apg 7, 59). Sie glaubten noch nicht an Christus, sie versündigten sich deshalb auch nicht gegen den gemeinsamen brüderlichen Geist. Der Apostel Paulus, so glaube ich, betet deshalb nicht für Alexander, weil dieser ja schon zu den Brüdern gehört hatte. Seine Sünde war also "zum Tode". Aus Neid bekämpfte er die Gemeinschaft der Brüder. Für die aber, die sich von der Liebesgemeinschaft noch nicht getrennt hatten, die nur aus Furcht unterlegen waren, für die betet er, dass der Herr ihnen verzeihe. So lautet die Stelle: "Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses zugefügt; der Herr wird ihm nach seinen Werken vergelten. Nimm auch du dich vor ihm in acht; denn er trat unsern Worten scharf entgegen." Dann aber fährt er fort und bittet, für andere zu beten. "Bei meiner ersten Verteidigung hat mir niemand beigestanden, alle haben mich im Stich gelassen; möge es ihnen nicht angerechnet werden" (2 Tim 4, 14-16).

74. Im gleichen Sinne sind auch die Vergehen Judas' des Verräters und des Apostels Petrus zu verstehen. Darin unterscheidet sich gerade Judas von Petrus. Nicht als ob dem wahrhaft Bußfertigen nicht auch Verzeihung gewährt würde. Geschähe dies nicht, so verstieße man gegen das Gebot des Herrn, indem er befiehlt: "Wenn ein Bruder sich gegen dich verfehlt, so weise ihn zurecht. Tut es ihm leid, so vergib ihm" (Lk 17, 3). Aber das Vergehen des Judas war so entsetzlich, dass es ihm jegliches Gefühl für demütige Selbstbesinnung und Reue benahm. Zwar zwang ihn die Qual des schuldbeladenen Gewissens, seine Sünden zu erkennen und zu bekennen: "Ich habe gesündigt, ich habe unschuldiges Blut verraten!" (Mt 27, 4). Dann hieß ihn aber die Verzweiflung zum Strick greifen, anstatt dass er, der Demut folgend, um Verzeihung gebeten hätte. Entscheidend ist deshalb immer, wie Gott der Herr die Selbsterkenntnis des Sünders beurteilt. Dementspredlend wird er Verzeihung gewähren oder nicht. Es gibt viele Menschen, die sehr rasch ihre Sünden eingestehen, die auch in heftigen Ausdrücken versichern, nicht mehr sündigen zu wollen: aber sich in Demut anzuklagen, in Reue vor Gott zu treten und so von ihm Verzeihung zu erflehen, das wollen sie nicht. Ihre seelische Erschütterung erwächst aus der Furchtbarkeit ihrer Vergehen, das nahende Verderben, die ewige Verdammnis greift schon nach ihnen, dies ist unsere überzeugte Meinung.

75. In solchen Vergehen besteht die Sünde gegen den Heiligen Geist. Soll heißen: aus reiner Bosheit und unverhohlenem Neid, Kampf der in der Liebe geeinten brüderlichen Gemeinschaft ansagen. Dies alles, nachdem man die Gnade des Heiligen Geistes schon empfangen hat. Und diese Sünde wird, wie der Herr sagt, weder in dieser noch in der nächsten Welt vergeben.

Die Frage erhebt sich nun, ob die Juden gegen den Heiligen Geist gesündigt haben, da sie den Herrn anklagten, er treibe in Beelzebub, dem Obersten der bösen Geister, die bösen Geister aus den Besessenen. Im Hinblick auf sich selbst hatte er ja an einer andern Stelle gesagt: "Hat man den Hausherrn Beelzebub geschmäht, um wieviel mehr wird man seine Hausgenossen schmähen!" (Mt 10, 25). Oder haben die Juden dies nur aus übergroßem Neide gegen den Herrn gesagt, uneingedenk der großen Wohltaten, die sie vom Herrn empfangen hatten. Zwar waren sie noch nicht Christen. Muss man aber dennoch nicht annehmen, dass dieser übergroße Neid sie der Sünde gegen den Heiligen Geist schuldig machte? Aus den Worten des Herrn lässt sich dies nicht entnehmen. Zwar hatte er ihnen in diesem Zusammenhang gesagt: "Was einer redet wider den Menschensohn, das wird ihm vergeben; doch was er redet wider den Heiligen Geist, das wird ihm nicht vergeben, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt" (Mt 12, 32). Aber dennoch hat es den Anschein, als ob der Herr sie weiter ermahnt habe, dem Gnadenruf sich nicht zu verschließen und nach erhaltener Gnadenberufung nicht mehr so zu sündigen, wie sie bislang zu sündigen gewohnt waren. Jetzt erheben sie Vorwürfe gegen den Menschensohn und beleidigen ihn, - diese Sünde kann ihnen nachgelassen werden. Wenn sie aber einmal sich bekehrt, an den Herrn geglaubt, den Heiligen Geist empfangen haben, wenn sie dann, nach Erhalt dieser Gnadenbevorzugungen voll Neid gegen die brüderliche Gemeinschaft entbrennen und damit die Gnade, die sie erhalten haben, bekämpfen, dann kann ihnen diese Sünde nicht mehr vergeben werden, weder in dieser Welt noch in der zukünftigen. So betrachtet jedenfalls der Herr solche Menschen. Er benimmt ihnen jegliche Hoffnung der Bekehrung; ja sogar jegliche Ermahnung ist bei ihnen nutzlos. Denn so beschließt er diese Stelle: "Erklärt ihr den Baum für gut, so müsst ihr auch seine Früchte für gut halten. Erklärt ihr aber den Baum für schlecht, so müsst ihr auch seine Frucht für schlecht halten" (Mt 12, 33).

76. Aus solchen Überlegungen also werden wir geheißen, unsere Feinde zu lieben, denen Gutes zu tun, die uns hassen, und für die zu beten, die uns verfolgen. Damit ist aber nicht gesagt, dass wir bei unserm Beten auch an die Verfehlungen anderer denken müssen. Sonst könnte es geschehen, dass die Heilige Schrift - in unsern Augen - Widersprüche enthielte, die sie nie enthält. Ob man aber nicht dennoch für solche Menschen beten darf oder gar gegen sie im Gebet uns wenden sollen, das ist nicht klar zu ersehen. Allgemein heißt es ja: "Segnet und verflucht nicht!" und "Vergeltet niemand Böses mit Bösem" (Röm 12,14 und 17). Wenn wir für jemanden nicht beten, heißt dies nicht auch zugleich, dass wir im Gebet uns gegen ihn wenden. Wir sehen nämlich die Folgen seiner Taten deutlich vor Augen, wir wissen, welcher Strafe er verfallen wird, wir haben nahezu jegliche Hoffnung für sein Seelenheil aufgegeben, wir beten nicht mehr für ihn, weil wir ihn hassen, sondern weil wir der Überzeugung leben, wir können nichts mehr ausrichten; ja unser Gebet stünde sogar in Gefahr, vom allgerechten Richter verworfen zu werden.

Wie sollen wir nun aber das beurteilen, da wir lesen, dass Heilige gegen andere im Gebet sich gewandt haben, nicht dass die Betreffenden sich besserten, - da hätte man eher für sie beten müssen sondern, dass sie der ewigen Strafe verfallen sollten. Dieses Beten geschah auch nicht in der Art der Propheten, die, wie wir gesehen haben, eigentlich das Zukünftige vorhersagten und nicht etwas Böses herbeiwünschten; auch nicht in der Art, wie der Apostel gegen Alexander sich gewandt hat, darüber haben wir uns ja schon genug geäußert, sondern so wie wir in der Geheimen Offenbarung lesen, wo "die Seelen derer, die hingeschlachtet waren um des Wortes Gottes willen, um des Zeugnisses willen, das sie bewahrt hatten, mit lauter Stimme riefen: Heiliger und wahrhaftiger Herr, bis wann richtest du und rächst du unser Blut an den Erdbewohnern?" (Offb 6, 9-10). Diesen Worten steht das Gebet des Ersten Martyrers gegenüber, der für seine Steiniger betete, der Herr möge ihnen verzeihen!

77. Doch diese Stelle aus der Geheimen Offenbarung soll uns nicht verwirren. Ist es denn ausgemacht, dass diese Gerechten, die hingemordet worden waren und die den Herrn um Rache anflehten, damit die Menschen gemeint haben, die sie hingeschlachtet haben, oder nicht vielmehr die Herrschaft der Sünde? Dies ist doch die wahre und volle Sühne für die Zeugen der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, dass die Herrschaft der Sünde gestürzt wird, eine Herrschaft, die ihnen so viel Böses zugefügt hat. Diesen Sturz hat der Apostel im Auge, da er sagt: "Darum darf nicht mehr die Sünde in eurem sterblichen Leibe herrschen" (Röm 6, 12). Auf zweifache Weise kann die Herrschaft der Sünde gebrochen werden: Einmal, indem die Menschen sich bessern, so dass der Leib dem Geiste untertan ist; zum andern durch die Bestrafung derer, die in der Sünde verharren; die Gerechtigkeit obsiegt, die Gerechten herrschen mit Christus, niemand kann ihnen mehr lästig werden. Betrachten wir den Apostel Paulus. In seiner Person sehen wir gleichsam den heiligen Martyrer Stephanus gerechtfertigt mit den Worten: "So kämpfe auch ich, aber nicht, um bloß Luftstreiche zu machen. Vielmehr züchtige ich meinen Leib und bringe ihn in Dienstbarkeit" (1 Kor 9, 26-27). Seinen eigenen Leib hielt er in Zucht, ihm lud er Bürden auf, ihm schrieb er das Maß der Lebensform vor - Dinge und Beispiele, wofür ein heiliger Stephanus und andere Christen ebenfalls Verfolgung auf sich.genommen haben. Wer wollte deshalb den Martyrern einen Vorwurf daraus machen, dass sie den Herrn beschworen, sie zu rächen, wenn man ihnen auf jeden Fall zubilligt, das Ende der Zeiten herbeizuwünschen. Das Ende der Zeiten, in denen sie so viel erduldet hatten, das ihnen aber dann die Rechtfertigung brächte. Die so flehen, beten auch für die Feinde, für die noch Hoffnung, gebessert werden zu können, besteht. Ihr Gebet wird sich aber nicht gegen die richten, die unverbesserlich bleiben wollen. Wenn der Herr diese bestraft, handelt er nicht wie ein übel wollender Tyrann sondern als der gerechteste Richter. Ohne Zweifel wird so das Wort erfüllt: "Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für jene, die euch verfolgen."

23. Kapitel: Mt 5, 43-48: Von der Feindesliebe und der Barmherzigkeit

78. Wenn dann noch hinzugefügt wird: "so werdet ihr Kinder eures Vaters sein, der im Himmel ist" (Mt 5, 45), ist dies in jenem Sinne gemeint, wie es bei Johannes heißt: "Er gab ihnen Macht, Kinder Gottes zu werden" (Joh 1, 12). Einer allein ist der eingeborene Sohn. Er nur kennt keine Sünde. Wir dagegen können Kinder werden, wenn wir Gottes Herrschaft anerkennen, wenn wir das tun, was vom Herrn uns anbefohlen wird. Der Apostel nennt dies Annahme an Kindes Statt. Durch sie werden wir zur ewigen Erbschaft berufen, durch sie können wir Miterben Christi werden (Röm 8, 17 und Gal. 4,5). Durch eine geistige Wiedergeburt werden wir demnach Kinder Gottes, wir werden Erben des Himmelreiches, nicht als Fremdlinge sondern als Gottes Kinder und Geschöpfe. Zwei Wohltaten hat Gott uns erwiesen: er hat uns in seiner Allmacht erschaffen, aus dem Nichts gezogen; er hat uns dann zu seinen Kindern angenommen, dass wir dereinst bei ihm nach unserm Vermögen der ewigen Herrlichkeit uns erfreuen. Daher sagt der Herr nicht: "Tut dies, weil ihr Kinder Gottes seid", sondern: "Tut dies, so werdet ihr Kinder eures himmlischen Vaters."

79. Da der Herr uns zu diesem hohen Ziel durch seinen eingeborenen Sohn beruft, würdigt er uns auch, ihm gleich zu sein. Ihm, der, wie es weiter heißt, seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und regnen lässt über Gerechte und Sünder" (Mt 5, 45). "Sonne" können wir hierbei in einem doppelten Sinn nehmen: Einmal als jene unsichtbare Lichtquelle, die wir mit unsern körperlichen Augen nicht sehen können, die ewige Weisheit nämlich, von der geschrieben steht: "Sie ist der Abglanz des ewigen Lichtes" (Weish 7, 26), und weiterhin: "Aber euch, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen" (Mal 4, 2). Der Regen wäre dann die Verkündigung der Wahrheit, die Guten wie Bösen geschenkt wird, da Christus der Herr den Guten wie den Bösen die Heilsbotschaft gebracht hat. Zum andern können wir "Sonne" im eigentlichen Sinne nehmen als das sichtbare Licht, das nicht nur den Menschen sondern auch den Tieren geschenkt wird. Der Regen wäre nun der tatsächliche Niederschlag, den die Früchte der Erde zu ihrem Wachstum brauchen; die Früchte, die wir zu unserm Lebensunterhalt benötigen. Ich möchte mich dieser letzten Ansicht anschließen. Die geistige Sonne geht doch nur für die Guten und Vollkommenen auf. Denn dies ist ja gerade die Klage der Bösen, wie sie uns im Buche der Weisheit vorgelegt wird, dass "die Sonne der Erkenntnis uns nicht aufgegangen ist" (Weish 5, 6). Und der geistige Regen nutzt nur den Guten. Die Bösen werden in jenem Weinberg versinnbildet, von dem es heißt: "Und den Wolken werde ich gebieten, dass sie keinen Regen auf ihn fallen lassen" (Is 5, 6). Ganz gleich aber, ob wir diese oder jene Deutung annehmen, aus beiden ersehen wir die große Güte Gottes, der wir nachstreben sollen, wenn wir wirklich Gotteskinder sein wollen. Wie groß ist doch die Wohltat des herrlichen Sonnenlichtes, welchen Segen bringt der fruchtspendende Regen! Wäre ein Mensch so undankbar, dass er das nicht spürte? Diese Tröstungen werden den Guten wie den Bösen in diesem Leben gewährt, wobei der Herr ausdrücklich sagt: "der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse", also nicht nur im allgemeinen: die Sonne. Somit soll deutlich zum Ausdruck kommen, dass der Herr von niemanden ,etwas zu nehmen braucht, um die Dinge zu erschaffen, wie dies ja das Buch Genesis (1, 16) ausdrücklich von den Leuchten des Himmels bestätigt. Er kann in derTat im wörtlichsten Sinne sagen, alles Geschaffene sei sein eigen. Denn aus dem Nichts hat er alles herausgerufen. Daraus folgt eine Mahnung an uns. Mit gleicher Großzügigkeit sollen auch wir unsern Feinden gegenüber uns benehmen. Der Herr gebietet es uns. Es sind nicht Menschensatzungen. An seinen Werken haben wir alle teil.

80. Wer aber ist allein imstande und bereit, von armseligen Menschen Unrecht zu erdulden, insofern er damit ihrem Heil dienen kann? Wer ist bereit, lieber noch mehr Unrecht hinzunehmen, als das erlittene mit Gleichem heimzuzahlen? Wer ist bereit, jeglicher Bitte stattzugeben, sofern sie gewährt werden kann, oder sofern man sie im guten Gewissen erfüllen kann? Wer ist bereit, einen guten Rat zu geben, stets wohlmeinend von andern zu denken, den, der um ein Darlehen bittet, nicht abzuweisen? Wer ist bereit, seine Feinde zu lieben, denen Wohltaten zu erweisen, die ihn hassen, und für die zu beten, die ihn verfolgen? Wer kann dies alles tun? Nur der wirklich vollkommen Barmherzige! Die Barmherzigkeit bezwingt alles menschliche Elend. Von ihr gilt das Wort: "Denn an Erbarmen habe ich Wohlgefallen und nicht an Schlachtopfern!" (Hos 6, 6). Daher: "Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen" (Mt 5, 7).

Doch nun müssen wir Schicklicherweise eine Pause machen. Der Leser dieser langen Darlegungen ist ermüdet. Er soll neue Kräfte sammeln. Frisch gestärkt möge er dann dem nächsten Buch sich widmen.

Zweites Buch: Matthäusevangelium Kapitel 6-7

1. Kapitel: Mt 6, 1: Die Reinigung des Herzens

1. Von der Barmherzigkeit haben wir am Ende des letzten Buches gesprochen. Jetzt müssen wir von der Reinigung des Herzens reden. Sie bildet die Voraussetzung dafür. Ein gereinigtes Herz gleicht dem Auge, das Gott schauen darf. Um das geistige Auge gesund zu erhalten, bedarf es großer Sorgfalt. Dies verlangt die Würde des Gegenstandes, den wir mit einem solchen Auge schauen sollen: Ist das Auge erst aber einmal gesund, so fällt es nicht allzu schwer, einschleichende Mängel bald zu entdecken. Schwächen begleiten ja selbst unsere besten Handlungen. Wir nennen hier nur eine: das Gefallen an menschlichem Lob. Kein tadelfreies Leben führen wollen bringt Verderben; untadelig aber leben und nichts auf Menschenlob geben heißt letztlich den irdischen Dingen den Kampf ansagen. Sie erscheinen umso armseliger, je mehr sie durch einen rechten Lebenswandel Lügen gestraft werden. Wenn also deine Mitmenschen deinem untadeligen Lebenswandel keine Anerkennung zollen, so sehen sie das Rechte nicht. Loben sie dich aber, bist du in Gefahr. Es sei denn, dein Herz sei so einfach und gerade, dass du alles Gute, was du tust, ohne Rücksicht auf Menschenlob verrichtest. Sollte dich aber dennoch jemand loben, müsstest im Gegenteil du ihn loben, weil er deine gute Tat wohlwollend anerkannt hat, da du doch selbst keinen Wert auf sie gelegt hast. Dein Lebenswandel bliebe ja genau so untadelig, auch wenn niemand dich lobend beachtete. Das Lob, das man dir spendet, fördert den Lobenden. Sie loben ja nicht dich deines guten Lebenswandels wegen, sondern den Herrn, der in einem tugendhaften Menschen sein Heiligtum gründet. Dann wird erfüllt, was David gesungen hat: "Im Herrn will ich mich rühmen; die Armen sollen's hören und sich freuen" (Ps 33, 3). Das gesunde Auge lässt sich also vom Menschenlob nicht blenden, gleichsam als ob die gute Tat nur des Lobes wegen geschehen sei. Sonst könnten die guten Werke leicht Heuchelei werden, da man sie ja nur des Menschenlobes wegen verrichtet. Weil die Menschen nicht in die Herzen zu sehen vermögen, können sie auch Lob spenden, wo keines verdient ist. Wer so handelt, das Gute nur vortäuscht, ist ein Heuchler. Nur der hat ein aufrichtiges, das heißt also auch ein reines Herz, der von jeglichem Menschenlob absieht, der nur jenen vor Augen hat und ihm zuliebe sein Leben einrichtet und recht zu leben sich bemüht, der allein die Herzen durchforscht. Was so aus einem reinen Herzen kommt, ist umso lobenswerter, je weniger es nach Menschenlob Ausschau hält.

2. "Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt" (Mt 6, 1). Das heißt, wir sollen uns hüten, nur deshalb ein rechtschaffenes Leben zu führen, nur deshalb gute Werke zu verrichten, damit wir von den Menschen gesehen werden. "Sohst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel" (Mt 6, 1). Von den Menschen gesehen werden, ist noch nicht tadelnswert. Tadel verdient, ein gutes Leben zu führen, um gesehen zu werden. Sonst würden die Worte, die wir im ersten Teil schon gehört haben, Lügen gestraft. "Ihr seid das Licht der Welt! Eine Stadt, die auf einem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben. Auch zündet man kein Licht an und stellt es unter den Scheffel sondern auf den Leuchter. Dann leuchtet es allen, die im Hause sind. So leuchte euer Licht vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen" (Mt 5, 14-16). Was der Herr hier tadelt, ist etwas anderes. Der Zweck der guten Werke, weswegen sie verrichtet werden, ist einzig die Rücksicht auf Menschenlob. Daher seine Warnung: "Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt, um von ihnen gesehen zu werden." Nichts weiter fügt der Herr hinzu. Daraus erhellt, dass er nicht jegliche gute Tat, die vor den Augen der Menschen geschieht, tadelt, sondern nur jene, die einzig mit Rücksicht auf das Lob der Menschen getan wird, nur jene, die mit einem solchen Ziel sich begnügt.

3. Auch der Apostel sagt ja: "Wollte ich noch Menschen gefallen, so wäre ich Christi Diener nicht" (Gal 1, 10). Dagegen spricht er an einer andern Stelle: "Seid allen auf jegliche Weise zu Gefallen, wie auch ich allen zu Gefallen bin" (1 Kor 10, 32-33). Dem weniger Verständigen scheinen diese Aussagen Widersprüche zu enthalten. Einmal sagt er, er wolle nicht Menschen durch seine guten Werke gefallen, sondern nur Gott. Aus Liebe zu ihm wollte er die Herzen der Menschen bekehren; damit erweist er dann auch den Menschen einen Gefallen. Mit Recht konnte er deshalb sagen, er wolle den Menschen nicht gefallen, da er einzig Gottes Wohlgefallen im Auge habe. Andererseits aber fordert er wieder, und das mit Recht, man solle den Menschen zu Gefallen sein. Das Wohlgefallen darf dabei nicht als Lohn erstrebt werden. Kann ja doch Gott nicht wohlgefällig sein, wer denen, die er retten will, nicht ein leuchtendes Vorbild ist! Niemand nämlich wird je einem nacheifern, zu dem er nicht als Vorbild aufschaut. Ein Vergleich sei erlaubt. Wenn jemand, der alle Mühe auf den Bau eines Schiffes verwendet, sagt, sein Ziel sei nicht der Bau eines Schiffes, sondern durch diesen Bau wolle er einen Dienst dem Vaterland erweisen, so werden wir keineswegs behaupten, er habe etwas Törichtes gesagt. Genau so verdient aber auch die Aussage des Apostels Glauben, wenn er sagt, durch diese Arbeiten, mit denen ich den Menschen gefalle, will ich gar nicht den Menschen gefallen, sondern Gott; mein ganzes Streben geht einzig dahin, dass sie mir nachfolgen; ich will, dass sie selig werden. Im gleichen Verstand ist sein Wort hinsichtlich dargebrachter Gaben zu verstehen: "Mir ist es aber nicht um die Gabe zu tun, sondern um den reichen Gewinn, der euch gut geschrieben wird" (Phil 4, 17). Das heißt also: die Gabe an sich verlange ich nicht, den Gewinn für euch habe ich im Auge. Die gern gespendete Gabe sollte nur das äußere Zeichen des Fortschrittes auf dem Wege zu Gott hin sein. Keine große Gabensammlung wurde vom Apostel erstrebt, sondern Zeichen lebendiger Liebesgemeinschaft.

4. Wenn der Herr nun hinzufügt: "Sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel", so will er nichts anderes damit sagen, als dass will uns hüten sollen, unsere guten Werke nur im Hinblick auf Menschenlob zu verrichten; damit machen wir uns nicht des Himmelreiches würdig.

2. Kapitel: Mt 6, 2-4: Vom Almosen

5. "Wenn du also Almosen gibst", so fährt der Herr weiter fort, "lass es nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Straßen machen, um von den Menschen geehrt zu werden" (Mt 6, 2). Seine Meinung ist also, nicht durch heuchlerisches Tun Lob einzuheimsen. Was ein Heuchler ist, wissen wir. Er gibt vor, im Herzen so zu sein, wie er sich vor den Menschen aufspielt. Ja, die Heuchler sind Schauspieler. Bei einem Schauspiel stellt der Spieler eine andere Person dar, nicht die seine. Spielt jemand in einem Theaterstück den Agamemnon oder eine andere geschichtliche Persönlichkeit, dann ist er deshalb noch nicht Agamemnon. Er spielt ihn nur, er selbst bleibt der gleiche. So ist es auch in der Kirche und überhaupt im menschlichen Leben. Gibt sich jemand den Anschein, etwas zu sein, was er nicht ist, ist er ein Heuchler. Er gibt zum Beispiel vor, gerecht zu sein, ist es aber nicht. Sein ganzes Bestreben geht auf die Gunst der Menschen. Man gibt sich als gerecht aus, Menschen lassen sich täuschen. Sie loben, wo kein Lob verdient ist. Von dem aber, der die Herzen durchforscht, von Gott dem Herrn, dürfen sie keinen Lohn erwarten. Ihrer wartet nur die Strafe für ihr trugvolles Benehmen. Denn von den Menschen "haben sie ja schon ihren Lohn" erhalten (Mt 6, 3). Mit vollem Recht wird ihnen der Herr am Jüngsten Tage sagen: Weichet von mir, ihr trügerischen Arbeiter! Ihr habt meinen Namen angenommen, meine Werke aber nicht verrichtet. Sie haben ihren Lohn schon empfangen. Sie haben nur deswegen Almosen gegeben, um bei den Menschen aufzufallen, um bei ihnen Lob zu ernten. Das Lob der, Menschen ist an sich nicht tadelnswert. Tadel verdient eine Haltung, die es auf Lob abgesehen hat. Doch darüber haben wir oben schon gesprochen. Menschenlob darf nicht erstrebt werden, wohl aber kann es einer guten Handlung gegeben werden. Wer Lob spendet, soll selbst Nutzen davon haben, indem er sich dann müht, gleich gute Werke zu vollbringen. Denn töricht wäre es zu glauben, das Lob allein nütze schon.

6. "Wenn du Almosen gibst, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut" (Mt 6, 3). Wenn man hier unter "der Linken" die Ungläubigen versteht, dann ist es sicher kein Vergehen, wenn man, auch den Gläubigen zu gefallen, sich müht. Niemand darf es verwehrt sein, für ein gutes Werk Lob zu ernten. Geht es aber darum, dass unsere guten Handlungen auch Nachahmer finden, dann sollen unsere guten Werke nicht nur den Gläubigen sondern auch den Ungläubigen gezeigt werden. Spenden sie dann Lob, so ehren sie Gott, wenn sie unsere Handlungen vorbildlich finden. Sie können dadurch zum Heile gelangen.

Versteht man aber unter der "Linken" unsere Feinde, wenn also unser Feind nichts wissen soll, dass wir ein Almosen gespendet haben, erhebt sich die Frage, warum der Herr selbst im Angesicht seiner Feinde, der Juden, die ihn umringten, in barmherziger Liebe Kranke geheilt hat. Warum hat dann ferner der Apostel Petrus, nachdem er den Lahmen am Schönen Tor des Tempels geheilt hatte (Apg 3, 4), den Hass der Feinde sich und den übrigen Christen zugezogen? Bestünde diese Auslegung zu Recht, wonach unser Feind nichts von einem gespendeten Almosen wissen soll, wie sollen wir das Gebot erfüllen, das uns gebietet, dem Feinde Hilfe zu geben: "Wenn dein Feind hungert, so speise ihn; wenn ihn dürstet, gib ihm Wasser zu trinken" (Spr 25, 21)?

7. Eine dritte Auslegung dieser Stelle gibt es noch, ganz aus irdischem Denken entstanden. Sie ist so töricht, ja lächerlich, dass ich sie gar nicht erwähnt hätte, wenn ich nicht aus der Erfahrung wüsste, wie auch sie nicht Wenige irre geführt hat. Man meint, "die Linke" bedeute die Frau. In häuslichen Dingen, so sagt man weiter, neigen die Frauen dazu, sparsamer zu sein als die Männer. Wenn der Mann daher einem Bedürftigen etwas gibt, soll er es vor seiner Frau verheimlichen, sonst könnte häuslicher Zwist entstehen. Träfe diese Auslegung zu, so hieße dies doch, nur die Männer sind wahre Christen. Das eben gehörte Gebot geht also die Frauen nichts an. Wenn die Frau nun ein Almosen gibt, welcher "Linken" soll sie dieses gute Werk dann verheimlichen? Ist vielleicht ihr Mann "die Linke"? Ganz töricht wäre diese Deutung. Oder wenn man sagt: beide sind sich gegenseitig .die Linke". Wo bleibt dann die christliche Ehegemeinschaft, wenn ein jedes gegen den Willen des andern etwas Gutes tut? Es ist doch des Herren Ausspruch, dass jeglicher, der einen andern an einem guten Werk hindert, ein Feind Gottes ist und daher mit Recht den Ungläubigen zugerechnet wird. Und des Herren Gebot ist es, dass der Mann durch seine guten Handlungen, durch seinen guten Lebenswandel seine Frau fördern soll, wie auch umgekehrt das Gleiche von der Frau im Hinblick auf den Mann gilt. Ihrer beider guten Werke dürfen nicht voreinander verheimlicht werden. Sie sollen im Gegenteil sie offenbaren. Einer wird so den andern im christlichen Glauben bestärken. Man soll keine Heimlichkeiten treiben, um Gottes Ehre zu fördern! Muss aber dennoch etwas geheimgehalten werden, dann doch nur, weil die Schwäche des andern ein ruhiges Darlegen nicht verträgt. Ein solches Vorgehen wäre weder unrecht noch auch unerlaubt.

Es ist leimt ersichtlich, dass mit diesen Auslegungen "der Linken" der ganze Gehalt des Kapitels nicht erschöpft ist. Noch mehr ist darin enthalten, was zur Deutung "der Linken" verhilft.

8. "Habt acht", so sagt der Herr, "dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt, um von ihnen gesehen zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel." Ganz allgemein ist hier die wahre Gerechtigkeit aufgezeigt. Dann geht der Herr auf Einzelheiten ein. Das Almosengeben nämlich ist ein Teilausschnitt aus dem großen Gebiet der Gerechtigkeit. Vom einen zum andern schafft er den Übergang mit den Worten: "Wenn du also Almosen gibst, so lass es nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Straßen machen, um von den Menschen gelobt zu werden" (Mt 6, 2). Diese Mahnung ist die praktische Einzeldeutung des Obersatzes: "Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt, um von ihnen gesehen zu werden" (Mt 6, 1). Der an die Mahnung zum Almosengeben sich anschließende Satz: "Wahrlich, ich sage euch, sie haben schon ihren Lohn" ist hinwiederum in gedanklicher Verbindung mit der Mahnung des ersten Satzes: "Sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel." Die folgenden Worte: "Wenn du also Almosen gibst" wollen den ausgesprochenen Gedanken noch etwas weiter führen. Das "wenn du" will einen Gegensatz aufzeigen zu jenem andern, die seine Mahnung nicht befolgen. Der Befehl des Herrn ist eindeutig: "Wenn du Almosen gibst, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut. "Jene andern handeln nicht nach dieser Vorschrift. Bei ihnen soll die Linke wissen, was die Rechte tut. Damit entbehrt ihr Tun des Verdienstes. Wir sollen nicht so handeln. Das Haschen nach Menschenlob Macht die andern schuldbar, darin besteht ihr Vergehen. Folgerichtig kann man daher sagen, in solcher Betrachtung heißt "Linke": Sucht nach Menschenlob. Die "Rechte" hingegen bedeutet: Erfüllung der göttlichen Gebote. Wenn demnach beim Almosengeben bewusst das Verlangen nach menschlicher Anerkennung maßgebend ist, weiß die "Linke", was die "Rechte" tut. Aber "die Linke soll nicht wissen, was deine Rechte tut!" Das heißt also: beim Almosengeben darf nicht das Verlangen nach menschlicher Anerkennung die Triebfeder sein. Nur so können wir ernstlich hoffen, Gottes Mahnung gerecht zu werden.

9. "Dein Almosen bleibe im Verborgenen" (Mt 6, 3). Was anderes besagt: "im Verborgenen" als ein "gutes Gewissen", das keinem Menschenauge gezeigt werden noch auch durch Worte beschrieben werden kann. Worte täuschen nur zu oft und nur zu leicht. Selbst vor Lügen schrecken viele nicht zurück. Die "Rechte" bedeutet demnach das in der Seele Verborgene, die "Linke" hingegen bezeichnet alles, was nach außen in die Erscheinung tritt, alles Sichtbare, alles zeitlich Berechenbare. Unser Almosen gründe in der Tiefe der Seele. Hier entscheidet die gute Absicht. Viele Menschen sind nicht in der Lage, Almosen zu geben oder sonst dem Bedürftigen zu helfen. Das Helfenwollen ersetzt das Helfenkönnen. Es gibt aber auch andere Menschen, und deren sind nicht wenige, die alles Gute nur im Hinblick auf das Gesehenwerden verrichten. Das Verborgenhalten in dem Geheimnis der Seele kennen sie nicht.

Der Ehrgeiz oder ein anderer äußerlicher Beweggrund treibt sie an, in den Augen der Menschen barmherzig zu erscheinen. Ihre "Linke" soll alles wissen. Zwischen diesen beiden äußersten Gruppen gibt es aber auch noch, eine Mittelschicht. Diese Menschen bemühen sich vielleicht Gott zuliebe in der rechten Meinung Almosen zu geben. Aber unbemerkt schleicht sich dabei selbst bei bester Absicht die Sucht nach Anerkennung ein oder irgend einer andern menschlichen und vergänglichen Bewertung. Unser Herr jedoch ist unerbittlich in der Forderung, dass keine "Linke" bei unserm Handeln den Ausschlag gebe, sie solle der "Rechten" in keiner Weise hinderlich sein. Beim Almosengeben soll jegliches Verlangen nach zeitlichem Vorteil ausgeschlossen bleiben, ja selbst der Anschein einer, wenn auch noch so geringen menschlichen Rücksichtnahme, soll vermieden werden. Gottes Wohlgefallen allein soll erstrebt werden. Das Herz muss geläutert werden. Nur unbeirrbare Einfalt bringt diese Läuterung zustande. Diese Einfalt kann aber da nicht sein, wo man zwei Herren dienen will. Man kann nicht einerseits durch die Betrachtung der ewigen Wahrheit seinen Geist schärfen und zugleich ihn durch Rücksichtnahme auf irdische Belange und Liebe zu vergänglichen Dingen verdunkeln. "Dein Almosen bleibe also im Verborgenen. Dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten" (Mt 6, 4). So heißt es deshalb mit vollstem Recht und vollster Wahrheit. Wenn wir unsern Lohn nur von dem erwarten, der Herzen und Nieren durchforscht, dann genügt die eindringliche Sprache eines guten Gewissens. Viele lateinische Ausgaben fügen diesen Satz noch öffentlich hinzu. Der Satz hieße demnach: "Dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir öffentlich vergelten. In den griechischen Handschriften, die die älteren sind, findet sich dieses Wörtlein "öffentlich" nicht. So glauben wir uns nicht länger aufhalten zu brauchen.

3. Kapitel: Mt 6, 5-8: Vom Gebet

10. "Wenn ihr betet, so macht es nicht wie die Heuchler! Die stehen gern in den Synagogen und an den Straßenecken und beten, um den Menschen in die Augen zu fallen" (Mt 6, 5). Von den Menschen gesehen werden, ist noch kein Vergehen. Aber alles darauf anlegen, um gesehen zu werden, das verdient Tadel. Es erscheint beinahe überflüssig, stets das Gleiche zu sagen. Nur eine Regel gilt es zu beobachten. Ist sie erkannt, weiß man, was zu tun, und was zu lassen ist. Andrerseits weiß man dann auch, was einen erwartet, wenn man den Menschen zuliebe handelt. Die Worte des Herrn zeigen dies eindeutig, da er hinzufügt: "Wahrlich, ich sage euch, sie haben schon ihren Lohn." Die Mahnung hat nur eine Absicht. Keinen Lohn zu .erwarten, den törichte Menschen von Menschengunst sich erhoffen.

11. Wenn du beten willst", so fährt der Herr nun fort, "so geh in dein Kämmerlein" (Mt 6, 6). Was anders ist unter dem "Kämmerlein" zu verstehen als das Innerste des Herzens, von dem der Psalmist zu sagen weiß: "Was ihr im Herzen sinnt, bereut's auf euren Lagerstätten" (Ps 4, 5). Und weiter sagt der Herr dann: "Schließ die Tür und bete zu deinem Vater im Verborgenen." Wenig nutzt es, in das Kämmerlein zu gehen, wenn die Türe jeglicher Zudringlichkeit offen steht. Dann käme der ganze Lärm der Außenwelt in unser Innerstes, wir versänken im Getümmel der Welt. Unter der Außenwelt verstehen wir alles Zeitliche, alles Vergängliche, dessen Vielfalt durch das Tor der Sinne in unser Innerstes eindringen, unsere Gedanken mit Beschlag belegen und durch den tausendfachen Lärm ihrer Eindrücke uns im Gebet stören will. Dieses Tor müssen wir schließen. Den Sinneseindrücken dürfen wir nicht nachgehen. Nur so kann ein geläutertes Gebet zum Vater aufsteigen. So beten wir wahrhaft zum Vater im Verborgenen. "Dein Vater", so beschließt der Herr dann diesen Satz, "der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten" (Mt 6, 6). Entsprechend ist dieser Abschluss. Der Herr will uns keine Unterweisung geben, dass wir beten sollen, sondern wie wir beten sollen. Wie auch oben die Belehrungen über das AImosengeben nicht von dieser Pflicht sprechen wollten, sondern von dem Geiste, in dem sie erfüllt werden sollten. Das Herz muss geläutert werden, das ist der Befehl des Herrn. Die Läuterung vollzieht aber nur, wer einzig aus reiner Liebe zur unerschaffenen Weisheit in vorbehaltlosem, vollkommenem Streben das ewige Leben zu erlangen sich müht.

12. "Beim Beten", so sagt der Herr nun weiter, "plappert nicht wie die Heiden. Die meinen, sie würden Erhörung finden, wenn sie viele Worte machten" (Mt 6, 7). Die Heuchler legen es darauf ab, beim Beten gesehen zu werden. Ihr einziges Streben ist, den Menschen zu gefallen. Die Heiden hingegen glauben, durch viele Worte Erhörung zu finden. Das Vielreden ist ihnen Bedürfnis. Eine geläufige Zunge haben gilt ihnen mehr als ein reines Herz. Mit dieser Art törichten Geredes glauben sie auch Gott zu gefallen. Sie wähnen, man könne ihn gleich einem irdischen Richter durch viele Worte umstimmen. Deshalb belehrt uns unser Herr und Meister: "Macht es ihnen nicht nach! Euer Vater weiß ja, was euch nottut, ehe ihr ihn bittet" (Mt 6, 8). Viele Worte gebraucht man gewöhnlich nur, um einen Unwissenden zu unterweisen und zu belehren. Dessen bedarf man dem Herrn und Schöpfer des Weltalls gegenüber nicht: Alles Geschaffene allein, weil es geschaffen ist, verkündet laut seine Größe. Und das Zukünftige ist dem nicht verborgen, vor dessen Weisheit auch alles Vergangene wie alles Gegenwärtige und Zukünftige offen daliegen.

13. Wenn dem so ist, erhebt sich doch die Frage, warum der Herr, wie es gleich geschieht, selbst uns lehrt, mit welchen Worten wir beten sollen. Wenn es auch nur wenige Worte sind, die der Herr uns lehrt, haben wir sie dem gegenüber überhaupt nötig, der alles weiß, ehe es geschieht, der um das Erbetene weiß, ja unsere Nöte kennt, ehe wir uns an ihn wenden? Um es gleich zu sagen: Gott gegenüber brauchen wir keine Worte zu machen, um das zu erhalten, was wir benötigen. Es geht beim Beten eher darum, unsern Geist von den ihn bedrückenden Fragen zu entlasten. In liebevollem Vertrauen sollen wir uns deshalb in unsern Sorgen in einfachem und reinem Beten dem Herrn nahen. Die Sorgen aber müssen wir in Worte kleiden. Der Herr unterweist uns so. Unser Beten soll diesem Verlangen Ausdruck schenken.

14. Aber noch einmal. Sind es reine Gebetsworte an sich, oder sind es die Sorgen, die uns zum Beten drängen; hat es überhaupt einen Sinn zu beten, da Gott der Herr doch alles weiß, um was wir je bitten können, was wir je nötig haben? Ja, es hat einen Sinn. Das Beten allein schon beruhigt die Seele, läutert sie, macht sie heiter und befähigt sie, Gottes Gaben zu empfangen, die uns nur Geistigerweise gegeben werden können. Durch den Ansturm der Gebete machen wir uns nicht etwa Gott willfähriger. Er ist immer bereit, uns die Fülle seines unsichtbaren, geistigen - nicht des sichtbaren - Lichtes zu schenken. Wir aber sind nicht immer gerüstet, dieses Licht zu empfangen. Unser Geist ist abgelenkt, wir beschäftigen uns mit tausenderlei Dingen, die irdischen Leidenschaften umnebeln unser Denken. Im Gebet wendet sich demnach das Herz zu dem, der stets bereit zum Geben ist, vorausgesetzt wir sind bereit, seine Gaben aufzunehmen. Schon im Hinwenden wird das innere Auge gereinigt. Alle irdischen Wünsche werden abgelegt. Das so geläuterte und geschärfte geistige Auge wird befähigt, in reiner Schau das reine Licht aufzunehmen. Jenes göttliche Licht, das keinen Untergang, keine Veränderung kennt, das ewig strahlt. Ja noch mehr. Eine solche Seele kann dieses Licht nicht nur aufnehmen, es kann in ihm auch verweilen. Keine Mühe und Beschwerde ist damit verbunden. In unaussprechlicher Freude wird jetzt schon wahrhaft und wirklich das ewige Leben verkostet.

4. Kapitel: Mt 6, 9-13: Vom Gebet des Vater unser

15. Doch hören wir nun weiter, was der Herr uns beten lehrt. Er lehrt uns auch, wie wir beten sollen, um das zu erhalten, worum wir bitten. "So sollt ihr beten: Vater unser, der du bist in dem Himmel. Geheiligt werde dein Name. Es komme dein Reich. Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel" (Mt 6, 9-13). Jegliches Gebet will sich zunächst des Wohlwollens dessen versichern, zu dem man betet. Dann erst werden die eigentlichen Bitten vorgetragen. Lob und Preis aber sind die besten Mittel, das Wohlwollen zu gewinnen. Mit diesen beginnt man deshalb das rechte Gebet. Nichts anderes lehrt uns unser Herr, da er uns aufgibt zu sagen: "Vater unser, der du bist in dem Himmel." Vieles ist in den heiligen Schriften zum Lob und Preis Gottes gesagt worden. Sie werden nicht müde, immer wieder davon zu reden. Jeder Leser kennt solche Stellen. Aber nirgendwo findet sich eine Stelle, wo dem Volke Israel gesagt wird, sie sollten beten: "Vater unser!" Nirgendwo werden sie geheißen, Gott Vater zu nennen. Der Gott, der ihnen gezeigt wird, ist der Herr, dem sie als Knechte gegenüber treten, das heißt also solche, die noch dem "Fleische" nach leben. Dies gilt besonders für die Teile der Heiligen Schrift, die vom Gesetz und seinen Verpflichtungen berichten. Zur Beobachtung ist es gegeben worden. Die Propheten hingegen zeigen, dass dieser strenge Herr wohl öfter auch Vater sein kann, dann, wenn man von seinen Geboten nicht abweicht. So etwa bei der Stelle: "Söhne habe im aufgezogen und erhöht, sie aber haben mich verschmäht" (Is 1,2). Oder: "Wohl sprach, ich: Ihr seid Götter, des Höchsten Söhne seid ihr alle" (Ps 81, 6) und: "Wenn ich der Herr bin, wo ist die Furcht vor mir? Wenn ich der Vater bin, wo ist die mir gebührende Ehre?" (Mal 1,6.) So gibt es noch viele Stellen. Sie alle aber halten den Juden vor, sie könnten Söhne sein, verwirken aber durch ihre Sünden diese Gunst. Anders die Stellen, da dem christlichen Volke vorhergesagt wird, es werde Gott zum Vater haben. So etwa: "Er gab die Macht, Kinder Gottes zu werden" (Joh 1, 12). Und der Apostel Paulus sagt: "Ihr habt ja nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, um von neuem in Furcht zu leben, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, der uns rufen lässt: Abba, Vater" ! (Röm 8, 15).

16. Unsere Berufung zum ewigen Erbe, um dort Miterben Christi zu sein, und zur Gotteskindschaft zu gelangen, das alles ist nicht unser Verdienst, sondern einzig Gnadenerweis Gottes. Diese Gnade meinen wir, wenn wir am Anfang unseres Gebetes sprechen: "Vater unser!" Der Name ruft unsere Liebe wach. Kann ein Kind etwas mehr lieben als seinen Vater? In demütigem Vertrauen wenden sich die Menschen zu Gott, wenn sie sagen: "Vater unser!" Die Zuversicht, erhört zu werden, schwingt dabei mit. Denn bevor wir bitten, haben wir ja schon die große Gnade erhalten, dass wir sagen durften: "Vater unser!" Denn was sollte er seinen Söhnen auf ihre Bitten hin nicht geben, da er es ihnen vorher schon gegeben hat, seine Söhne zu sein? Wer ferner Gott Vater nennen darf, wie muss der sich Mühe geben, eines solchen Vaters nicht unwürdig zu sein! Ein Beispiel: Gesetzt, ein Senator ehrwürdigen Alters erlaubt einem Manne aus dem einfachen Volke, ihn Vater zu nennen, sicher würde dieser davor zurückschrecken und es nicht leichthin wagen im Bewusstsein seiner Armut, seines geringen Standes, seiner niedrigen Herkunft. Wieviel mehr müssen wir davor zurückschrecken, Gott unseren Vater zu nennen so groß ist unsere Befleckung und so schmutzig unser Leben. Mit mehr Recht könnte Gott uns von der Gemeinschaft mit ihm zurückweisen als jener Senator den ersten besten armseligen Bettler. Und jener verachtet schließlich am Bettler nur etwas, wohinein er infolge der Hinfälligkeit menschlicher Verhältnisse selbst geraten kann. Gott kann sich aber keinen Makel zuziehen. Das Übermaß der Gnade ist noch dies, dass Gott es von uns fordert, unser Vater zu werden, ohne jeden Aufwand unsererseits. Der gute Wille genügt dafür. Auch hier ergeht an die Reichen und im Sinne der Welt Erstgeborenen, wenn sie Christen geworden sind, die Ermahnung, sich über die Armen und Niedrigen nicht stolz zu überheben. Alle sagen ja: "Vater unser!" Dies können sie wahr und billig nur sagen, wenn sie sich als Brüder anerkennen.

5. Kapitel: Mt 6, 9: Die erste Vater-unser-Bitte: Dein Name werde geheiligt

17. Freudig soll also das neue Volk des Neuen Bundes, berufen zu ewig währender Erbschaft, ausrufen und sagen: "Vater unser, der du bist im Himmel." Das heißt: in den Gerechten und Heiligen. Gott wird nicht durch Raum begrenzt. Die Herrlichkeiten des Himmels sind doch nur Teile des geschaffenen Alls. Und dieses All ist irgendwie im Raum begrenzt. Wenn man also glaubte, der Himmel sei im oberen Teil des Weltalls, und dort throne Gott, so wären die Vögel besser daran als wir, da sie ja Gott näher wären. Es steht aber nicht geschrieben, Gott sei denen nahe, die auf den höchsten Höhen und auf hohen Bergen wohnen, sondern geschrieben steht: "Der Herr ist nahe denen, die gedrückten Herzens sind" (Ps 33, 19). Das heißt also, die demütigen Sinnes sind. So wie der Erde der Sünder gleichgesetzt wird, wenn ihm gesagt wird: "Du bist Staub und sollst zu Staub zurückkehren (Gen 3, 19), so kann andererseits der Gerechte Himmel genannt werden. Zu dem Gerechten ist ja gesagt worden: "Heilig ist der Tempel Gottes, und das seid ihr." (1 Kor 3, 17). Wenn der Herr im Tempel thront, und wenn die Gerechten sein Tempel genannt werden, so darf man mit Fug und Recht sagen, der Herr wohne in den Seelen der Gerechten, er, der im Himmel thront. Dieser Vergleich ist überaus treffend. So groß scheint im geistigen Bereich der Unterschied zwischen Gerechten und Sündern zu sein, wie im körperlichen der zwischen Himmel und Erde.

18. Zur Verdeutlichung dieser Tatsache wenden wir uns beim Beten nach Osten, dorthin, wo die Gestirne aufgehen. nicht als ob Gott dort wohnte, als ob er die übrigen Teile der Welt verlassen hätte, um sich dorthin zurückzuziehen. Gott ist doch überall gegenwärtig, zwar nicht raumhaft, sondern kraft der Macht seiner Majestät. Durch diese Gebetshaltung soll vielmehr der Geist des Menschen gemahnt werden, dass er sich zu einem höheren Wesen, nämlich zu Gott, erhebe, während sein erdhafter Körper sich zu einem erhabenerem, weil himmlischen Körper, hinwendet. Das entspricht auch den verschiedenen Stufen religiösen Verständnisses. Die Kleinen wie die Großen sollen von Gott eine richtige Vorstellung haben. Da sind zunächst die, welche, noch ganz von sichtbarer Schönheit befangen, sich etwas Unkörperliches nicht vorstellen können. Und doch müssen auch sie den Himmel der Erde vorziehen. Darum ist es immer noch erträglicher, wenn sie glauben, dass Gott, den sie sich körperlich denken, mehr im Himmel ist als auf Erden. Wenn einmal in ihnen die Erkenntnis aufgebrochen ist, dass die Seele an Würde auch den himmlischen Körper übertrifft, mögen sie wohl den Herrn mehr im Innern der Seele suchen, als in einem Körper, und wäre es auch ein himmlischer. Schließlich werden sie den gewaltigen Unterschied zwischen den Seelen der Gerechten und denen der Bösen erfassen. Und wie sie vorher, als sie noch fleischlichen Sinnes waren, nicht wagten, Gott einen Ort auf Erden anzuweisen, werden sie nachher, aus besserem Glauben und Erkennen heraus, ihn mehr in den Seelen der Gerechten als in denen der Sünder suchen. Zu Recht gilt demnach die Auslegung, wonach die erste Bitte: "Vater unser, der du bist im Himmel" auf das Einwohnen Gottes in den Herzen der Gerechten gedeutet werden darf. Dort wohnt er wie in seinem Tempel. Gleichzeitig wünsche der Betende auch, es möchte der, den er anruft, in seinem Herzen einkehren, und da er solches erstrebt, übe er die Gerechtigkeit. Durch ihre Übung wird Gott eingeladen, im Herzen zu wohnen.

19. Betrachten wir jetzt, um was wir bitten sollen. Die bisherigen Erwägungen galten den Fragen, wen sollen wir anrufen, und wo finden wir ihn. Das erste nun, was wir erbitten sollen, heißt: "Geheiligt werde dein Name." Die Bitte will nicht besagen, der Name Gottes möge heilig sein, sondern: er solle von den Menschen heilig gehalten werden. Gott muss uns so erhaben und groß vor der Seele stehen, dass wir uns nichts Heiligeres denken können. Umso größer soll dann die Scheu sein, ihn zu beleidigen. Das Psalmwort: "Gerühmt ist Gott in Judäa, sein Name ist groß in Israel" (Ps 75, 1), darf ja auch nicht so verstanden werden, als ob Gott an manchen Orten kleiner, an anderen größer wäre. Vielmehr ist dort groß sein Name, wo er so genannt wird, wie es der Herrlichkeit seiner Majestät entspricht. Und so wird gesagt, heilig sei sein Name dort, wo er mit Verehrung und Furcht, ihn zu beleidigen, ausgesprochen wird. Das geschieht jetzt, da die bis zu den verschiedenen Völkern hin immer noch wachsende Kenntnis des Evangeliums den Namen des einen Gottes durch den Dienst des Sohnes lobend verkündet.

6. Kapitel: Mt 6, 10: Die zweite und dritte Vater-unser-Bitte: Dein Reich komme - dein Wille geschehe

20. Nun folgt die Bitte: "Es komme dein Reich." Der Herr selbst belehrt uns im Evangelium, der Tag des Gerichtes werde dann anbrechen, wenn das Evangelium allen Völkern verkündet sein wird (Mt 24, 14). Die Verwirklichung dieser Verheißung gehört aber in den Gedankenkreis der vorhergehenden Bitte. Wenn es nämlich auch hier heißt: "Es komme dein Reich", so bedeutet dies nicht, Gott herrsche jetzt nicht. Vielleicht sagt aber jemand, es sei das Kommen des Reiches auf die Erde gemeint. Als ob er jetzt nicht auf der Erde herrschte und immer auf ihr seit Erschaffung der Welt geherrscht hätte! "Es komme dein Reich", heißt also: dein Reich möge sich den Menschen offenbaren. Wie nämlich auch das Licht, obwohl es gegenwärtig ist, doch für die Blinden und diejenigen, die die Augen schließen, abwesend ist, so ist auch Gottes Herrschaft denen fern, die nichts von ihr wissen, trotzdem sie nie von der Erde weicht. Dann aber wird niemand über Gottes Reich in Unwissenheit bleiben können, wenn sein Eingeborener in seiner Menschengestalt dem Auge sichtbar und nicht bloß dem Verstand erkennbar vom Himmel kommen wird, die Lebendigen und die Toten zu richten. Nach diesem Gericht, das heißt, wenn die Guten von den Bösen geschieden sind, wird Gott in den Seelen der Gerechten wohnen, dass sie keiner menschlichen Unterweisung mehr bedürfen. Es wird dann erfüllt, was geschrieben steht: "Alle werden von Gott belehrt werden" (Is 54, 13 und Joh. 6, 45). Die ewige Seligkeit wird alle Gerechten in jeglicher Hinsicht erfüllen. Sie werden den heiligen und seligen Geistern, den Engeln Gottes ähnlich sein, die von Gott ihre Beseligung und jegliche Einsicht erhalten. So hat es auch der Herr den Seinen verheißen: "Die Auferstandenen werden sein wie die Engel Gottes im Himmel" (Mt 22, 30).

21. Folgerichtig schließt sich dann der Bitte: "Es komme Dein Reich" die andere an: "Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden." Das heißt: die Engel im Himmel sind vollkommen vom Willen Gottes durchdrungen, dass sie Gott ganz und gar anhangen, seiner Seligkeit sich erfreuen; kein Irrtum verdunkelt ihre klare Einsicht, kein Kummer vermindert ihre Glückseligkeit. Das möge sich auch in den Gerechten verwirklichen, die noch auf Erden sind und dem Körper nach aus Erde geschaffen. Und obwohl sie dazu bestimmt sind, in die himmlische Wohnung und Umwandlung aufgenommen zu werden, so doch von der Erde her. In Beziehung dazu steht auch der Lobgesang der Engel: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind." (Lk 2, 14.) Wenn unser guter Wille, der Gottes Anruf folgt, vorangegangen ist, möge an uns der Wille Gottes, so wie er in den Engeln im Himmel ist, sich erfüllen, dass nämlich kein Ungemach unserm Glück entgegenstehe - das ist der Friede. Ebenso wird das "Dein Wille geschehe" richtig verstanden als: Deinem Gebot möge gehorcht werden; "Wie im Himmel also auch auf Erden", das heißt, wie von den Engeln also auch von den Menschen. Der Herr selbst weist uns hier den Weg. Nach Gottes Geboten wandeln, heißt seinen Willen erfüllen: "Meine Speise ist, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat" (Joh 4,34). "Ich bin nicht vom Himmel herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat" (Joh 6, 38). Dasselbe meint er mit dem Wort: "Seht da meine Mutter und meine Brüder! Denn wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter" (Mt 12, 49-50). Wer Gottes Willen erfüllt, an dem erfüllt sich gleicherweise Gottes Willen. Nicht als ob wir Gott unsern Willen aufnötigen könnten. Doch weil wir das erfüllen, was er getan haben will, leben wir nach seinem Willen.

22. Der Sinn ist aber auch der: Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden, das heißt, wie in den Heiligen und Gerechten so auch in den Sündern. Auch das kann noch auf zweifache Weise verstanden werden. Einmal kann damit gemeint sein, wir sollen auch für unsere Feinde beten - als etwas anderes können ja diejenigen, gegen deren Willen Christentum und Katholizismus wachsen, nicht angesehen werden - so dass der Ausspruch: Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden gleichbedeutend ist mit: Es möge deinen Willen wie die Gerechten so auch die Sünder tun, indem sie sich nämlich zu dir bekehren. Dann kann aber der Satz: Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden so gemeint sein: Es möge jedem das zuteil werden, was ihm zukommt. Das wird sich am Jüngsten Tag verwirklichen. Die Gerechten werden ihre Belohnung, die Sünder ihre Strafe erhalten, wenn die Schafe von den Böcken geschieden werden.

23. Auch eine weitere Deutung darf nicht als töricht abgelehnt werden. Sie entspricht im Gegenteil voll und ganz christlichem Glauben und Hoffen. Darnach bedeuten "Himmel und Erde" soviel wie "Geist und Fleisch". Und da der Apostel sagt: "Dem Geiste nach diene ich dem Gesetze Gottes, dem Fleische nach aber dem Gesetze der Sünde" (Röm 7, 25), so wird offenbar der Wille Gottes jetzt schon im Geiste erfüllt. "Wenn aber der Tod im Siege verschlungen und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit bekleidet sein wird" (1 Kor 15,54), - und das wird ja gemäß der Predigt des Apostels durch die Auferstehung des Fleisches und jene Verklärung geschehen, die den Gerechten verheißen ist -, dann möge Gottes Wille so wie im Himmel auch auf der Erde geschehen. Das heißt, so wie der Geist Gott nicht widersteht, sondern seinem Willen folgt und ihn tut, so möge auch der Körper dem Geist oder der Seele nicht widerstehen, die jetzt durch des Leibes Armseligkeit bedrückt wird und fleischlichem Behagen zuneigt. Das wird die Fülle des Friedens im ewigen Leben sein, dass uns dann nicht nur das Wollen des Guten naheliegt, sondern auch das Vollbringen. Denn jetzt, sagt der Apostel, liegt mir das Wollen nahe, aber nicht das Vollbringen. Gottes Wille wird ja auf Erden noch nicht so erfüllt wie im Himmel, das heißt, noch nicht so im Fleische wie im Geiste. Wohl geschieht auch in unserm Elend Gottes Wille, da wir im Fleische erdulden, was uns auf Grund der Sterblichkeit, die unsere Natur durch die Sünde verschuldet hat, zukommt. Die Bitte des Gebetes erstrebt aber mehr: So wie wir im Herzen, dem inneren Menschen nach, Freude haben am Gesetz, so soll auch nach des Leibes Umwandlung diesem unserm Ergötzen kein Teil an uns infolge irdischer Leiden oder Lüste widerstehen.

24. Auch eine letzte Auslegung dürfen wir gläubig annehmen. "Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden" kann von unserm Herrn Jesus Christus und der Kirche verstanden werden. Er ist der Mann, der Gottes Willen ganz erfüllt hat, sie die Frau, das ihm angetraut ist. Unter diesem Vergleich von Mann und Frau können wir billigerweise Himmel und Erde verstehen. Die Erde vom Himmel befruchtet bringt reichen Segen.

7. Kapitel: Mt 6, 11: Die vierte Vater-unser-Bitte: Unser tägliches Brot gib uns heute

25. Die vierte Bitte lautet: "Unser tägliches Brot gib uns heute" (Mt 6, 11). Unter dem täglichen Brot" kann ein Dreifaches verstanden werden. Einmal kann es all das bedeuten, was wir zum täglichen Lebensunterhalt notwendig haben. Wir werden in diesem Bezug noch das andere Wort des Herrn hören: "Seid nicht ängstlich besorgt für den morgigen Tag" (Mt 6, 34). Daher steht bei der Vaterunserbitte der Zusatz: "tägliches Brot". Weiterhin kann diese Bitte auf das Sakrament des Leibes des Herrn bezogen werden, das wir jeden Tag empfangen. Und schließlich kann als Drittes die geistige Nahrung gemeint sein, von der wiederum der Herr sagt: "Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist" (Joh 6, 41). Wir wollen nun überdenken, welche dieser drei Auslegungen die entsprechendere ist.

Jemand könnte sich ja die Frage stellen, warum es eigentlich notwendig ist, um die täglichen Bedürfnisse, wie Nahrung und Kleidung, zu beten, da der Herr selbst uns mahnt und sagt: "Seid nicht ängstlich besorgt für euer Leben, was ihr essen und trinken sollt; noch für euren Leib, was ihr anziehen sollt" (Mt 6, 25). Wenn jemand um eine Sache betet, hat er dann nicht auch zugleich den bestimmten Wunsch, sie zu erhalten? Es ist doch gesagt worden, wir sollen beim Beten so darauf ausgerichtet sein, dass wir in unser Kämmerlein gehen und dort den Vater anrufen sollen. Dem gegenüber steht das andere Wort des Herrn: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzugegeben werden" (Mt 6, 39). Es heißt also nicht: Suchet zuerst das Reich Gottes, und dann bemüht euch um das übrige, sondern der Herr versichert ausdrücklich: "dies alles wird euch hinzugegeben werden", auch ohne dass ihr es sucht. Nun weiß ich aber wirklich nicht, wie von jemandem Zutreffenderweise gesagt werden könne, er suche das nicht, um dessen Erlangung er Gott inständigst anfleht.

26. Was das Sakrament des Leibes des Herrn angeht, so möchte ich nicht, dass eine Streitfrage aufgeworfen wird von jenen sehr zahlreichen im Morgenlande, die nicht täglich am Tische des Herrn teilnehmen, obwohl doch dieses Brot das tägliche genannt wird. Damit also jene schweigen und ihre diesbezügliche Ansicht nicht etwa noch mit der Berufung auf die kirchliche Autorität verteidigen, - ihre Übung erregt nämlich keinen Anstoß, sie werden von den Vorstehern der Kirche daran nicht gehindert und auch nicht als Ungehorsame verurteilt, woraus hervorgeht, dass man in jenen Gegenden unter dem täglichen Brot nicht dieses Brot versteht, sonst würden ja diejenigen eines schweren Vergehens beschuldigt werden, die es nicht täglich empfangen - deswegen wollen wir, wie gesagt, uns darüber in keine Erörterung einlassen. Jedoch muss einem bei näherer Erwägung wohl der Gedanke kommen, dass wir vom Herrn eine Regel für das Gebet erhalten haben, die wir nicht übertreten dürfen, weder durch Hinzufügung, noch durch Übergehung. Wer sollte nun, da dem so ist, zu behaupten wagen, wir dürften das Gebet des Herrn nur einmal am Tage beten, oder wenn zwei oder auch dremal, dann doch nur bis zur Stunde, da wir den Leib des Herrn empfangen? Den übrigen Tag dürfe man es nicht mehr beten. Wir könnten dann ja nicht mehr sagen: "Gib uns heute", was wir schon empfangen haben. Oder es wird jeder erzwingen können, dass wir diese sakramentale Feier erst in den letzten Tagesstunden halten.

27. Es bleibt noch die dritte Auslegung der Bitte zu betrachten: täglich die geistige Nahrung zu erhalten, die wir benötigen. Das heißt, täglich die Gebote Gottes in Betrachtung und praktischem Tun in unserm Leben zu verwirlichen. Von dieser Nahrung gilt das Wort des Herrn: "Müht euch um Speise, die nicht vergeht!" Die "tägliche" wird dieser Speise genannt, solange dieses zeitliche Leben in der Abfolge der Tage, wie sie kommen und gehen, verläuft. Solange in der Tat das Verlangen des Herzens abwechselnd bald nach Höherem, bald nach Niedrigerem, das heißt, bald nach Geistigem, bald nach Fleischlichem geht, ist wie jemanden, der bald an Speise sich sättigt, bald aber Hunger leidet, das Brot Tag für Tag notwendig. Dadurch wird er gestärkt, wenn er hungert, und aufgerichtet, wenn er dahinsiecht. Wie also unser Körper, solange er der himmlischen Verklärung noch nicht teilhaftig geworden ist, durch Speise gestärkt wird, weil der Kräfteverbrauch sich fühlbar macht, so soll auch die Seele, weil sie drch die Hinneigung zum Irdischen gleichsam verliert an der Hinordnung zu Gott, durch die Speise der Gebote gestärkt werden. "gib uns heute" heißt es aber, so lange man von "heute" sprechen kann, das heißt, in diesem zeitlichen Leben; denn nach diesem Leben werden wir mit geistiger Speise in Ewigkeit so gesättigt werden, dass dann vom täglichen Brot nicht mehr die Rede sein kann. Dann gibt es ja keine flüchtige Zeit mehr, in der ein Tag auf den andern folgt, so dass man das Wort "täglich" gebrauchen könnte. Das Psalmwort: "Wenn ihr doch hören wollet seine Stimme" (Ps 94,8) hat der Apostel uns ja gedeutet: "Ermahnt vielmehr einander Tag für Tag, solange es noch "heute" heißt (Hebr 3, 13). Im gleichen Sinne ist auch das "Unser tägliches Brot gib uns heute" zu verstehen. Will nun jemand diese Bitte von der dreifachen Auslegung verstehen, die wir gegeben haben: dem täglichen Brot, dem Leib des Herrn oder der geistigen Nahrung, so steht dem nichts im Wege. Er soll bei seinem Beten um alle drei den Herrn anrufen. Das Bedürfnis des Körpers, das Verlangen nach dem Leib des Herrn, wie nicht minder der Hunger nach geistiger Nahrung kommen dann Gleicherweise zu ihrem Recht.

8. Kapitel: Mt 6, 12: Die fünfte Vater-unser-Bitte: Und vergib uns unsere Schuld

28. Es folgt nun die fünfte Bitte: "Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern" (Mt 6, 12). Unter den Schulden sind unsere Sünden zu verstehen. So haben wir ja oben gehört: "Wahrlich, ich sage dir, du kommst dort nicht heraus, bis du den letzten Heller bezahlt hast" (Mt 5, 26). Auch das Wort Schuldner gebraucht der Herr schon an anderer Stelle. Es ist bei jener Begebenheit, da er die blutige Straftat des Pilatus (Augustinus sagt: Herodes) erwähnt: "Zu eben der Zeit kamen einige zu Jesus und erzählten ihm von den Galiläern, deren Blut PiIatus vergossen hatte, während sie gerade opferten. Er sprach zu ihnen: "Meint ihr, diese Galiläer seien größere Sünder gewesen als alle übrigen Galiläer, weil sie solches erleiden mussten? Nein, sage ich euch. Aber wenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr alle gleichlfalls umkommen. Oder meint ihr, jene achtzehn, die durch den Einsturz des Turmes am Siloe ihren Tod fanden, seien schuldiger gewesen als alle übrigen Bewohner Jerusalems? Nein, sage ich euch. Aber wenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr alle gleichfalls umkommen" (Lk 13, 1-5). Nicht der Schuldner im wörtlichen Sinne ist hier gemeint, jener also, der einem andern eine Summe Geldes schuldet, sondern jeglicher, der gegen einen andern sich versündigt. Eine Geldschuld erlassen, ist uns oben schon geboten worden, da der Herr sagte: "Will jemand mit dir rechten und dir deinen Rock nehmen, so lass ihm auch den Mantel" (Mt 5, 40). Das soll nicht heißen, wir brauchten jede Schuld nachzulassen. Dann jedoch, wenn der Schuldner nicht zahlen und es sogar zu einem Prozess kommen lassen will. Denn "ein Diener des Herrn soll nicht streiten", sagt der Apostel (2 Tim 2, 24). Weigert sich trotz wiederholter Mahnungen der Gläubiger, soll man auf seine Forderung verzichten. Zwei Gründe können für diese Weigerung maßgebend sein. Entweder er hat kein Geld, um zu bezahlen, oder in seiner Geldgier will er nicht zahlen. Beides aber weist auf ein Unvermögen hin: dort materielles Unvermögen, hier seelisches Unvermögen. Wer solchem Unvermögen gegenüber nachgibt und die Schuld erlässt, tut das Werk eines wahren Christen, für den jene Regel Geltung hat, dass er im Herzen mit dem Verlust des ihm Geschuldeten sich abfinde. Wenn er bescheiden und ruhig für die Rückgabe seines Eigentums alles tut, nicht des Geldgewinns wegen, sondern im Hinblick auf die Besserung des anderen, dem es zweifelsohne Schaden bringt, so begeht er nicht nur keine Sünde, sondern schafft dem andern sogar ganz großen Nutzen. Verhindert er doch, dass jener am Glauben schaden leidet, während er sich mit fremdem Geld bereichern will. Das ist etwas so Schwerwiegendes, dass es dafür keinen Vergleich gibt. Wir verstehen also jetzt die fünfte Bitte: "Und vergib uns unsere Schulden." Sie bezieht sich nicht nur auf Schulden im engen Sinn, sondern auf alle Schulden, die sich jemand uns gegenüber zuzieht, damit auch auf Geldschulden. Denn es sündigt gegen dich, wer dir geschuldetes Geld nicht zurückgeben will, obwohl er es kann. Wenn du ihm diese Sünde nicht vergibst, kannst du nicht beten: "Vergib uns, wie auch wir vergeben." Wenn du aber vergibst, dann siehst du, dass derjenige, dem so zu beten befohlen wurde, damit auch ermahnt wird, Geldschulden zu erlassen.

29. Auch noch ein Weiteres bleibt zu sagen. Die Bitte: "Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern" wendet sich gegen uns, wenn wir ihr im eigenen Leben nicht nachkommen. Denn auch wir sind Schuldner. Schuldner Gott gegenüber. Wir wünschen, er möge uns ein gnädiger Vater sein. Das Gebot nun, das uns mahnt, auch für unsere Feinde zu beten (Mt 5, 44), will zunächst nicht besagen, dass wir für die beten sollen, die unsere Verzeihung nachgesucht haben. Sie sind ja nicht mehr unsere Feinde. Keineswegs aber kann jemand behaupten, er bete für jemand, wenn er ihm nicht verzeihen will. Jegliche gegen uns begangene Schuld muss daher zuerst von uns nachgelassen werden, wenn wir unsererseits vom Vater Nachlass unserer Vergehen erlangen wollen. Denn von der Vergeltung habe ich, wie ich glaube, oben schon ausführlich genug gehandelt.

9. Kapitel: Mt 6, 13: Die sechste und siebte Vater-unser-Bitte: Und führe uns nicht in Versuchung und erlöse uns von dem Bösen

30. Die sechste Bitte lautet: "Und führe uns nicht in Versuchung" (Mt 6, 13). Einige Handschriften haben: und leite uns nicht in Versuchung. Meiner Ansicht nach besagt dies aber das Gleiche. Beide Übersetzungen berufen sich auf das gleiche griechische Wort: eisenengkes. Viele jedoch geben der Bitte beim Beten diese Form: "Lass nicht zu, dass wir in Versuchung geführt werden", und erklären so das: "Führe nicht". Denn Gott selbst führt nicht in Versuchung, er lässt vielmehr zu, dass der in Versuchung gerät, dem er auf Grund einer uns durchaus verborgenen Anordnung, aber verdienter Weise seine Hilfe versagt. Manchmal gewährt er aber auch Einblick. in die Gründe, warum ein solcher Mensch nicht mehr seine Hilfe bekommt und dann in Versuchung geführt wird. Weiter besteht noch ein Unterschied zwischen: in Versuchung geführt werden. Ohne Versuchung kann niemand als bewährt gelten; weder in seinen eigenen Augen, da ja geschrieben steht: "Wer nicht versucht worden ist, was weiß der?" (Sir 34, 9), noch in den Augen anderer. So sagt der Apostel: "Mein körperlicher Zustand hätte euch zur Versuchung werden können. Aber ihr habt mich nicht verachtet (Gal 4, 14). Daran also hat er sie als fest erkannt, weil sie durch die körperlichen Leiden des Apostels in ihrer Liebe nicht wankend geworden sind. Gott aber kennt uns vor jeglicher Versuchung. Er weiß ja alles, ehe es geschieht.

31. Wenn daher geschrieben steht: "Der Herr euer Gott stellt euch auf die Probe, um zu wissen, ob ihr ihn liebt" (Dtn 13, 3), (Augustinus zitiert: ut sciat si diligatis eum) so hat das "um zu wissen" seine eigene Bedeutung. Die Stelle bedeutet: Gott will euch wissend machen. Ähnliches wollen die Ausdrücke besagen: ein froher Tag, das heißt ein Tag, der uns froh macht, oder: eine träge Kälte: (frigus pigrum) das heißt eine Kälte, die uns träg macht. Derlei Redensarten gibt es eine Menge. Die gewöhnliche Umgangssprache kennt sie, die Sprache der Gelehrten verschmäht sie nicht, wir finden sie in der Heiligen Schrift. Wer diese Deutung übersieht, kommt zu falschen Auslegungen. Dies ist der Fehler der Häretiker, die das Alte Testament verwerfen. Die Stelle: "Der Herr euer, Gott stellt euch auf die Probe" halten sie für einen Erweis des Nichtwissens Gottes. Als ob nicht auch im Evangelium vom Herrn geschrieben stände: "Das sagt er, um ihn auf die Probe zu stellen; denn er wusste wohl, was er tun wollte." (Joh 6, 6.) Wenn er aber das Innerste der Herzen kennt, wozu stellt er die Menschen noch auf die Probe? In Wirklichkeit ist dies aber geschehen, damit der, welcher auf die Probe gestellt wurde (Philippus), sich selbst kennenlernte und, nachdem die Volksscharen vom Brote des Herrn satt geworden waren, sollte seinen Kleinmut verurteilen derjenige, der geglaubt hatte, sie hätten nichts zu essen.

32. Die Bitte des Vaterunsers besagt also nicht, dass wir nie eine Versuchung erleiden, sondern dass wir nicht in Versuchung geraten. Wenn jemand gezwungen ist, im Feuer geprüft zu werden, betet er auch nicht, das Feuer möge ihn nicht berühren, sondern es möge ihn nicht verzehren. Der Töpfer prüft seine Ware im Feuerofen. So werden die Gerechten in der Versuchung geprüft. Joseph wurde auf die Probe gestellt, er konnte Ehebruch begehen oder nicht, er hat die Versuchung bestanden (Gen 39, 7-12). Susanna wurde hart geprüft, die Versucher gewannen keine Gewalt über sie (Dan 13, 19-24). Und so noch viele Menschen beiderlei Geschlechtes. Das leuchtendste Beispiel ist Job. Von seiner Treue gegen Gott berichtet die Heilige Schrift. Sie erzählt, wie Satan gefordert habe, ihn versuchen zu können. Die Häretiker, die das Alte Testament verwerfen, nehmen diese Stelle zum Anlass, um in lästerlichen Reden sich gegen Gott zu ergehen. Schwachen Geistern kommen sie mit dem Einwand, wie denn Satan überhaupt mit Gott habe reden können. Sie wissen nicht - ja sie können es gar nicht wissen, da ihr Denken durch Streitsucht und Aberglauben ganz umdunkelt ist, dass Gott nicht vom Raum umschlossen wird. Sie wähnen, er sei einmal hier und einmal dort; hier sei ein Teil von ihm und dort ein anderer. Sie wissen nichts von seiner Majestät, die allüberall vollkommen gegenwärtig ist, keineswegs in einzelne Teile aufgespalten. Stellen wie: "Der Himmel ist mein Thron, die Erde aber der Schemel meiner Füße" (Is 66, 1) oder: "Ihr sollt nicht schwören, nicht beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes, nicht bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße" (Mt 5, 34-35), legen sie im wörtlichen Sinne aus. Was Wunder, dass sie auch glauben, Satan sei irgendwo im irdischen Bereich vor Gott hingetreten und habe da zu ihm gesprochen. Wann werden diese Menschen endlich einzusehen vermögen, dass es keine Menschenseele gibt, und sei es auch die verworfenste, in deren Innern Gott der Herr nicht redet! Wer anders als Gott hat in die Herzen das Naturgesetz geschrieben! Von diesem Gesetz weiß der Apostel zu sagen: "Wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, aus natürlichem Antrieb die Vorschriften des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Ihr Gewissen bezeugt es ihnen und die Gedanken, die einander anklagen oder verteidigen, am Tage, da Gott die verborgenen Absichten der Menschen richten wird" (Röm 2, 14-16). Immer wenn die vernunftbegabte Seele, auch die von Leidenschaften verblendete, durch ihr urteilendes und schließendes Denken etwas Wahres erkennt, so ist das nicht ihr zuzuschreiben, sondern dem Lichte der Wahrheit selbst, von dem sie, wenn auch schwach, ihrem Fassungsvermögen entsprechend, erleuchtet wird, damit sie durch ihr Nachdenken etwas von der Wahrheit erfahre. Was Wunder also, wenn gesagt wird, der durch die böse Begierde verderbte Teufel (Augustin sagt anima diaboli. "Wie auch andere Väter schrieb Augustin, wohl unter dem Einfluss einiger Schrifttexte z. B. Ps 104, 4 und vor allem der platonischen und stoischen Philosophie, den Engeln eine sehr feine, luftartige, unsichtbare Leiblichkeit zu.· Schmaus, Dogmatik II, 140.) habe das, was in seinem Urteil über den gerechten Mann wahr war, als er ihn versuchen wollte, durch die Stimme Gottes, das heißt der Wahrheit selbst, gehört? Alles Falsche jedoch wird jener Begierde zugeschrieben, deretwegen er den Namen Satanas erhielt. Freilich hören wir, dass Gott auch sehr oft durch leiblich sichtbare Geschöpfe zu Guten und zu Bösen gesprochen hat. Er ist ja der Herr und Lenker aller, der alles so anordnet, wie es einem jeden Ding zukommt - einmal durch Engel, die auch Menschen sichtbar erschienen, ein andermal durch Propheten, die verkündeten: Dies spricht der Herr. Ist es dann verwunderlich, wenn gesagt wird, Gott habe mit dem Teufel gesprochen, wenn vielleicht auch nicht unmittelbar in seinem Denken, so doch durch irgendein zu diesem Werk geeigneten Geschöpf?

33. Jedoch sollen sie nicht glauben, es zeuge von der Würde des Teufels und sei ihm gewissermaßen aus Gerechtigkeit geschuldet, dass Gott mit ihm gesprochen hat. Denn Gott sprach mit dem Teufel trotz seiner Torheit und Gier, so wie wenn er mit einem törichten und gierigen Menschen spräche. Sie (die Häretiker, die das Alte Testament nicht anerkennen) sollen doch selbst erklären, wie Gott mit jenem Reichen gesprochen hat, dessen törichte Habsucht er bloßstellen wollte: "Du Tor, noch diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern. Wem wird dann das gehören, was du aufgespeichert hast?" (Lk 12,20). Dieses Wort spricht doch der Herr selbst im Evangelium, dem die Häretiker, ob sie wollen oder nicht, sich beugen. Wenn sie daran Ärgernis nehmen, dass Satan Gott bat, den Gerechten zu versuchen, so erkläre ich nicht, warum das geschehen ist, aber ich zwinge sie, selbst zu erklären, warum der Herr in Person den Jüngern gesagt hat: "Siehe, der Satan hat verlangt, euch zu dreschen (vexare) wie Weizen", und zu Petrus: "Aber ich habe gebetet, dass dein Glaube nicht wanke" (Lk 22, 31-32). Wenn sie mir aber dieses erklären, dann erklären sie gleichzeitig sich selbst jenes (aus dem Alten Testament), wofür sie eine Erklärung von mir verlangen. Können sie es aber nicht, dann sollen sie sich auch nicht unbedachtsam unterfangen, in anderen Büchern der Heiligen Schrift zu beanstanden, was sie im Evangelium lesen, ohne daran Anstoß zu nehmen.

34. Satan versucht also die Menschen. Nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern in Zulassung Gottes. Eine zweifache Absicht steht dann vor Augen. Die Menschen sollen für ihre Sünden bestraft werden, oder sie sollen aus Barmherzigkeit geläutert und geprüft werden. Zwischen beiden Arten besteht ein großer Unterschied. Die Versuchung, der Judas, der den Herrn verraten hat, erlag, war eine andere als die, durch die Petrus zu Fall kam, als er den Herrn aus Furcht verleugnete. Es gibt Versuchungen, in die Menschen, so meine ich, gleichsam gutgläubig hineingeraten. Die menschliche Schwäche verleitet sie dazu. Wenn einer einem andern einen falschen Rat gibt, oder wenn man jemanden schärfer, als die christliche Besonnenheit fordert, tadelnd zurechtweist. Solche Versuchungen hat der Apostel im Auge, indem er sagt: .Möge euch keine Versuchung befallen, außer eine menschliche. Und Gott ist getreu. Er wird euch nicht über eure Kräfte versuchen lassen, sondern mit der Versuchung auch den guten Ausgang schaffen, dass ihr bestehen könnt" (1 Kor 10, 13), (Der griechische Text hat: "Bisher hat euch noch keine übermenschliche Versuchung getroffen ..." Augustinus benutzt den lateinischen Text, den wir auch entsprechend in der Übersetzung zugrunde gelegt haben). Dieser Satz zeigt deutlich, dass unser Beten nicht darum gehen soll, dass wir gar nicht versucht werden, sondern dass wir nicht in Versuchung geführt werden. In Versuchung geführt werden heißt dann soviel wie in Umstände geraten, in denen wir nicht standhalten. Da aber gefährliche Versuchungen, in die gebracht und geführt zu werden, verderblich ist, entweder durch zeitliches Glück oder Unglück verursacht werden, so wird niemand durch die Last des Unglücks gebrochen, wer sich nicht von der Lust des Glückes gefangen nehmen lässt.

35. Die siebente und letzte Bitte lautet: "Sondern erlöse uns von dem Übel" (Mt, 6, 13). Unser Bitten soll nicht nur dahin zielen, nicht in ein Übel zu fallen, das uns noch nicht erfasst hat, wie die sechste Bitte gelautet hatte. Wir sollen auch beten, von dem Übel befreit zu werden, in das wir schon verstrickt sind. Ist diese Bitte in ihrem ganzen Sinn erfüllt, so wird nichts mehr da sein, was Schrecken einflößt. Dann werden wir auch keine Versuchung mehr fürchten müssen. Freilich dürfen wir nicht hoffen, dass dies wirklich werden kann in diesem Leben, solange uns noch die Sterblichkeit anhaftet, in die wir durch die Überlistung der Schlange geraten sind. Jedoch müssen wir hoffen, dass es einmal wahr wird. Dies ist die Hoffnung, deren Erfüllung wir noch nicht sehen. Als der Apostel von ihr sprach, sagte er: "Eine Hoffnung, die man erfüllt sieht, ist keine Hoffnung" (Röm 8, 24). Doch die Hoffnung auf die Weisheit, die schon in diesem Leben gegeben wird, dürfen wir treuen Diener Gottes nicht aufgeben. Diese Weisheit besteht darin, dass wir mit sorgsamster Wachsamkeit fliehen, was wir durch Gottes Offenbarung zu fliehen gelernt haben, und dass wir mit glühender Liebe erstreben, was wir durch das gleiche Licht Gottes als zu erstreben erkannt haben. Denn so wird zur rechten Zeit nach Ablegung der übrigen Last dieser Sterblichkeit im Tode die Seligkeit allseitig in den Menschen vollkommen werden, die Seligkeit, die in diesem Leben begonnen hat und die einst fest zu besitzen jetzt alle Mühe aufgewandt wird.

10. Kapitel: Mt 6, 9-13: Die Vater-unser-Bitten zusammen

36. Die sieben Bitten weisen ihrer inneren Art nach Unterschiede auf, und es ist gut, wenn wir diese auch beachten. Unser gegenwärtiges Leben spielt sich zwar im vergänglichen Lebensbereich ab, soll aber in ein unvergängliches Leben einmünden. Das Ewige übertrifft an Wert das Zeitliche, jedoch gelangt man zu ihm erst nach Ablauf des Zeitlichen. So beziehen sich die ersten drei Bitten auf Dinge, deren letzte Erfüllung in der Ewigkeit liegt, wenngleich sie schon jetzt im Diesseits einen Anfang nehmen. Denn die Heiligung des Namens Gottes nahm ihren Anfang mit der Ankunft des Herrn in Niedrigkeit und auch das Reich, in dem er in Herrlichkeit kommen wird, begann vor Beendigung dieser Zeit, erst am Ende der Zeit wird es freilich offenbar werden. Und die Erfüllung seines Willens im Himmel und auf Erden, sei es, dass wir unter Himmel und Erde die Gerechten und die Sünder, oder Geist und Fleisch, oder den Herrn und die Kirche oder alles zugleich verstehen, wird bei der Vollendung unserer Seligkeit, also am Zeitende, volle Wirklichkeit werden. Erst in der Ewigkeit wird Gottes Name ohne Unterlass geheiligt, dann wird seines Reiches kein Ende sein, erst dort geht das uns verheißene glückselige Leben in nie endende Erfüllung über. Ewig bestehen wird also das, worum wir in diesen drei ersten Bitten flehen, vollkommen erfüllt in jenem Leben, das uns verheißen ist.

37. Die übrigen vier Bitten, so will mir scheinen, beziehen sich auf die Bedürfnisse des gegenwärtigen Lebens. Die erste lautet: "Unser tägliches Brot gib uns heute." Dadurch, dass das Brot das tägliche genannt wird, sei nun das geistige damit bezeichnet oder das im Sakrament oder als Nahrung sichtbare, gehört es dieser Zeit an, die er das "Heute" nennt. Nicht als ob die geistige Nahrung nicht ewig wäre, sondern deswegen, weil die in der Heiligen Schrift "täglich" genannte durch den Laut der Stimme oder irgendwelche zeitbedingte Zeichen der Seele gereicht wird. Alle diese Hilfsmittel werden dann nicht mehr bestehen, wenn "alle Gottes Schüler sein" (Joh 6, 45) und der Wahrheit unaussprechliches Licht selbst mit reinem Herzen schöpfen und nicht durch irgendwelche körperliche Bewegung bezeichnen werden.

Die Bitte lautet um Brot und nicht um Trunk, da wir das Brot erst durch Zerbrechen und Zerkauen zu uns nehmen können. So auch können wir den Sinn und Gehalt der Heiligen Schrift uns nur nach eifrigem Studium und genauer Unterweisung zu eigen machen, allein so bekommt die Seele die benötigte Nahrung. Der Trunk aber ist schon zubereitet, der Körper kann ihn ohne weiteres einnehmen. In dieser Zeitlichkeit müssen wir das Brot der Wahrheit noch zu uns nehmen, täglich soll es geschehen, daher "unser tägliches Brot". In der Ewigkeit aber, wo wir nicht mehr in mühseliger Betrachtung oder Darlegung gleichsam durch Zerbrechen und Zerkauen des Brotes uns um ihren Besitz mühen brauchen, können wir die volle und unverfälschte Wahrheit in vollen Zügen wie einen erfrischenden Trunk genießen.

Jetzt wird uns unsere Schuld vergeben, jetzt auch vergeben wir. Das ist die zweite dieser letzten vier Bitten. Dann jedoch wird es kein Vergehen mehr geben, da es keine Schuld mehr gibt.

Die Versuchungen belästigen uns nur in diesem Leben, nicht aber dann, wenn in Erfüllung gegangen sein wird: "Du schirmst sie in deines Angesichtes Hut" (Ps 30, 21). Das Übel schließlich, von dem befreit zu werden wir bitten, und die Befreiung selbst gehören schlechterdings zu diesem Leben, dessen Sterblichkeit wir auf Grund der Gerechtigkeit Gottes verdient haben und wovon wir durch seine Barmherzigkeit befreit werden.

11. Kapitel: Mt 6, 14-15: Vom Vergeben

38. Ein weiteres will mir in der Betrachtung dieser sieben Bitten erscheinen. Wir dürfen sie in Beziehung bringen zu den sieben Seligpreisungen, mit denen diese Predigt begonnen hat. Wenn durch die Gottesfurcht selig sind "die Armen im Geiste, weil ihrer ist das Himmelreich", dann wollen wir bitten, dass der Name Gottes unter den Menschen geheiligt werde aus jener keuschen Furcht heraus, die bleibt in Ewigkeit. Wenn durch Frömmigkeit "selig sind die Sanftmütigen, weil sie das Land als Erbe besitzen werden", so lasst uns beten, dass sein Reich komme, sei es in uns selbst hinein, so dass wir sanftmütig werden und ihm nicht widerstehen, oder (dass es komme) vom Himmel auf die Erde im Glanze der Ankunft des Herrn. Über sie werden wir uns freuen und bei ihr werden wir gelobt werden, da er sagen wird: "Kommt ihr Gesegneten meines Vaters! Nehmet in Besitz das Reich, das seit der Weltschöpfung für euch bereitet ist" (Mt 25, 34). "Im Herrn nämlich", sagt der Prophet, "wird gelobt werden meine Seele; die Sanftmütigen mögen es hören und sich freuen" (Ps 33, 2). Wenn durch die Wissenschaft "selig sind die Trauernden, weil, sie getröstet werden", dann lasst uns flehen, es möchte sein Wille wie im Himmel so auch auf Erden geschehen. Denn wenn der Leib, gleichsam als Erde, mit dem Geist als Himmel in vollkommenem Frieden zusammenstimmen, so werden wir nicht mehr trauern. Alle Trauer in dieser Zeit kommt ja daher, dass die Zwei sich gegenseitig widerstreiten. Sie zwingen uns zu sagen: "Ich nehme in meinen Gliedern ein anderes Gesetz wahr, das dem Gesetz meines Geistes widerstreitet." Sie pressen unserer Trauer die Klage aus: "Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todbringenden Leibe?" (Röm 7, 23-24).

Wenn wegen ihres Starkmutes selig sind, "die Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit haben, weil sie gesättigt werden", so wollen wir beten, dass uns unser tägliches Brot heute gegeben werde, damit wir von ihm gekräftigt und erhalten, zu jener vollen Sättigung gelangen. Wenn durch die Gabe des Rates die Barmherzigen selig sind, "weil sie Barmherzigkeit erlangen werden", dann wollen wir unsern Schuldnern die Schulden nachlassen und bitten, es möchten auch uns die unsrigen nachgelassen werden.

Wenn durch rechte Einsicht selig sind die, welche ein reines Herz haben, "weil sie Gott schauen werden", so flehen wir, wir möchten nicht in Versuchung geführt werden, auf dass wir nicht ein doppelsinniges Herz haben, indem wir nicht das ungertechte Gut erstreben und all unser Tun auf dieses hinordnen, sondern gleichzeitig Ewiges und Irdisches suchen. Die Versuchungen nämlich, die von den Dingen kommen, welche in den Augen der Menschen schwer und unheilbringend sind, vermögen nichts gegen uns, wenn uns nicht jene überwältigen, die vom lieblichen Genuss der Dinge herrühren, welche die Menschen für gut und erfreulich halten. Wenn durch die Weisheit glücklich sind die Friedensstifter, "weil sie Kinder Gottes genannt werden", dann lasst uns beten, auf dass wir vom Übel befreit werden; denn die Befreiung wird uns zu Freien machen, das heißt zu Kindern Gottes. Im Geiste dieser Kindschaft dürfen wir dann rufen: "Abba, Vater" (Gal 4, 6).

39. Eine weitere Bemerkung sei noch erlaubt. Von allen Bitten, die der Herr uns im Gebet aufzugreifen befahl, glaubte er die am dringendsten empfehlen zu müssen, die sich auf die Verzeihung der Sünden bezieht. Er wollte, dass wir in ihr Barmherzigkeit übten, und darin liegt auch der Rat, wie wir dem eigenen Elend entgehen können. Keine der anderen Bitten läuft gleichsam auf einen Vertrag mit Gott hinaus: "Vergib uns, wie auch wir vergeben." Lügen wir bei dieser Vertragschließung, so bleibt das ganze Gebet ohne jede Frucht.

Denn so sagt der Herr selbst: "Wenn ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, wird auch euer himmlischer Vater eure Fehler vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird auch euer Vater eure Fehler nicht vergeben" (Mt 6, 14-15).

12. Kapitel: Mt 6, 16-18: Vom Fasten

40. Die nun folgenden Vorschriften über das Fasten haben gleichfalls die Läuterung des Herzens im Auge. Denn auch beim Fasten ist besonders darauf zu achten, dass nicht etwa nur Äußerlichkeit oder die Sucht nach Menschenlob sich einschleiche. Diese macht das Herz zwiespältig und lässt es nicht rein und einfältig sein, auf dass es Gott erkenne . "Wenn ihr fastet", sagt der Herr, "so macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler! Die entstellen ihr Gesicht, damit die Leute es ihnen ansehen, dass sie fasten. Wahrlich, ich sage euch, sie haben schon ihren Lohn. Wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Antlitz, damit die Leute nicht sehen, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten" (Mt 6, 16-18). Deutlich besagt dieses Gebot, dass unser ganzes Streben auf die Weckung innerer Freuden gerichtet sein soll. Was immer wir an äußerer Anerkennung suchen, gleicht uns der Welt und ihrem Streben an. Wir verlieren damit die Verheißung auf eine Seligkeit, die um so echter und stärker ist, je innerlicher sie ist; eine Seligkeit, durch die Gott uns erwählt hat, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu werden" (Röm 8, 29).

41. Die eben angeführte Stelle will uns aber noch etwas anderes verdeutlichen. Nicht nur in Glanz und Pracht lauert Gefahr, auch Traurigkeit und Armseligkeit können zu Fall bringen. Umso gefährlicher sind diese Fallstricke, je mehr sie sich den Anschein der Gottgefälligkeit geben. Wer übertriebenen Körperkult, oder Kleiderpracht oder ähnlichen Dingen huldigt, der beweist schon dadurch, dass er ein Weltkind ist; er wird niemanden durch eine vorgebliche Heiligkeit täuschen. Wer aber seinen christlicher Glauben durch übertriebene Armut, ja sogar durch Unordentlichkeit und Schmutz zur Schau stellen zu müssen glaubt, um dadurch die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken, bei dem wird man nach den Gründen solchen Verhaltens forschen. Tut er dies alles aus freien Stücken, nicht aus Not oder Zwang, muss man prüfen, ob wirkliche Geringschätzung der irdischen Güter ihn hierzu treibt, oder ob ehrgeiziges Streben ihn erfüllt. Der Herr mahnt ja schon, man solle sich vor Wölfen in Schafspelzen hüten. Und "an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen". Es genügt schon, etwas ihnen zu entziehen oder zu versagen, dessen sie sich scheinbar begeben haben, das sie aber in Wirklichkeit anstreben, um zu sehen, ob ein Wolf im Schafspelz da ist oder nicht. Abwegig aber wäre es deshalb, wenn der Christ durch Kleideraufwand die Menschen zu besänftigen suchte, weil unter einem ärmlichen Gewand notwendigerweise ein Heuchler verborgen sein müsse, der es nur auf die Täuschung anderer abgesehen habe. Die äußere Hülle (Augustinus hat: Schafspelz) wird nicht deshalb wertlos, weil auch manchmal Wölfe sich ihrer bedienen.

42. Eine weitere Frage drängt sich auf. Was bedeutet der Satz: "Wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Antlitz, damit die Leute nicht sehen, dass du fastest" (Mt 6, 17). Wir sind gewohnt, das Gesicht jeden Tag zu waschen. Dass wir nun aber auch noch das Haupt salben sollen, wenn wir fasten, einen solchen Befehl wird schwerlich jemand im Ernst geben. Das schiene uns eigentlich unschicklich zu sein. Daraus erhellt, dass diese beiden Meinungen des Herrn: das Haupt salben und das Gesicht waschen, Vorschriften sind, die auf den inneren Menschen Bezug haben. Das Haupt salben heißt soviel wie freudig gestimmt sein, waschen aber heißt, ein reines Herz haben. Der also salbt sich das Haupt, der innerlich froh und freudig gestimmt ist. Das Haupt ist doch die Krönung des Leibes. Von da aus wird der ganze Mensch gelenkt und geleitet. So aber kann nur der gestimmt sein, der nicht in äußerlichen Dingen seine Genugtuung und Freude sucht, der auf Menschenlob keinen Wert legt. Der Leib soll dem Haupte untertan sein, er darf die Herrschaft nicht an sich reißen. Zwar sagt der Apostel: "kein Mensch hat je sein eigenes Fleisch gehasst" (Eph 5, 29), da er dem Mann befiehlt, seine Frau zu lieben. Aber "das Haupt der Frau ist der Mann, das Haupt eines jeden Mannes ist Christus" (1 Kor 11, 3). Das Fasten also soll den innern Menschen dadurch froh machen, dass es ihn von den Genüssen der Welt abbringt und ganz zu Christus, seinem Haupte, hinführt. Dann wird er sich auch waschen, das heißt das Herz reinigen und läutern. So wird er reinen Herzens Gott schauen. Kein Schleier wird mehr sein Angesicht verhüllen, das heißt keine Schwäche, verursacht durch den Schmutz der Welt, wird ihm mehr anhaften. Fest und sicher wird er seinen Weg gehen, er ist reinen und schlichten Sinnes. Deshalb sagt der Prophet: "Waschet euch, reinigt euch, schaffet die Bosheit eurer Anschläge aus meinen Augen, lasset ab, verkehrt zu handeln" (Is 1, 16). Die Flecken müssen demnach von unserm Gesicht abgewaschen werden, die Gott ein Gräuel sind. Denn dann "schauen wir mit unverhülltem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn und werden so immer herrlicher in das nämliche Bild umgewandelt" (2 Kor 3, 18).

43. Oft genug geschieht es auch, dass die todbringenden Pfeile der Geschäfte und Verpflichtungen dle öffentlichen Lebens, in die wir, verstrickt sind, uns treffen und dadurch das innere Auge beschmutzen und verletzen. Sie bringen auch in unser Herz einen Zwiespalt. Wir glauben berechtigt zu sein, den Wünschen der Menschen entsprechen zu sollen, handeln dabei aber doch nicht nach den Vorschriften Gottes. Unser Handeln entspringt nicht einer lauteren Liebe zu den Menschen, sondern dem Verlangen nach irdischen Vorteilen, die wir uns von ihnen erhoffen. Und doch sollten wir ihnen im Hinblick auf ihr ewiges Heil helfen und gefällig sein, nicht unseres eigenen zeitlichen Gewinnes und Vorteiles wegen. "Neig du mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zur Habsucht" (Ps 118,36); denn "das Ziel der Unterweisung ist Liebe aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben" (1. Tim. 1, 5). Wer aber dem Bruder nur eigenen Vorteils wegen hilft, hilf ihm nicht aus Liebe. Er hat nicht den Vorteil des andern im Auge, den er doch wie sich selbst lieben sollte, sondern nur seinen eigenen. Ja, genau gesehen nicht einmal seinen eigenen. Denn jegliche zwiespältige Handlung hindert uns, zur wahren Gottesschau zu kommen. Aber in diesem Gott-schauen besteht unsere eigentliche und ewige Glückseligkeit.

13. Kapitel: Mt 6, 19-23: Himmlisches und Irdisches

44. Die weiteren Anweisungen, die der Herr anschließend gibt, unterstreichen zutreffend diese wichtigste Aufgabe: Reinigung und Läuterung des Herzens. "Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, wo Motte und Rost sie vernichten, wo Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Rost sie vernichten, wo keine Diebe einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz" (Mt 6, 19-20). Ein der Erde verhaftetes Herz, ein Herz also, dessen ganzes Streben nur nach irdischem Wohlleben ausgeht, kann nicht rein sein. Denn alles Irdische ist unrein. Das himmlischen Dingen anhangende Herz ist dagegen rein. Alles, was zum Himmel gehört, ist rein. Jegliches Ding, das mit einem andern seiner Art nach geringerem Ding sich vermischt, wird dadurch selbst an Wert gemindert. Dabei braucht dieses andere in sich durchaus nicht schlecht zu sein. Gold, selbst mit reinem Silber vermischt, verliert an Wert. So wird auch unsere Seele durch die Beschäftigung mit irdischen Dingen befleckt, sogar wenn die irdischen Dinge in ihrer Art und Weise nach nicht unrecht sind. Unter dem Himmel verstehen wir aber an dieser Stelle nicht das sichtbare Firmament; denn alles Sichtbare ist irgendwie dem Körperlichen zuzurechnen. Die ganze Welt aber soll der verachten, der Schätze für den Himmel sammeln will. In jenem Himmel also, von dem es heißt: "Dem Himmelsherrn gehört der Himmel" (Ps 113, 24), das heißt in der geistigen Heimat und nicht auf unserer vergänglichen Welt sollen wir unsere Schätze aufhäufen. Dann wird dort auch unser Herz sein. Es wird am Unvergänglichen teilhaben; denn selbst "Himmel und Erde werden vergehen" (Mt 24, 35).

45. Auf die Läuterung des Herzens zielen demnach alle diese Vorschriften ab. Das bezweckt auch die folgende Unterweisung: "Das Licht deines Leibes ist dein Auge. Ist dein Auge gesund, so ist dein ganzer Leib im Lichte; ist aber dein Auge krank, so ist dein ganzer Leib in Finsternis. Wenn nun schon das Licht in dir Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!" (Mt 6, 22-23). Der Sinn dieser Stelle ist: wir sollen uns bewusst sein, dass alle unsere Werke gut und Gott wohlgefällig sind, wenn sie in reiner Absicht geschehen. Reine Absicht aber heißt nichts anderes als höchstes Streben von Liebe getragen. Denn "in der Liebe ist das ganze Gesetz erfüllt" (Röm 13, 10). Das Auge bedeutet demnach hier lautere Absicht, die alle unsere Handlungen durchdringen soll. Was in solcher Meinung getan wird ist gut. Es kann gar nicht anders sein. Der Leib besagt dann diese Werke. Auch der Apostel weist darauf hin, da er mahnt: "So ertötet denn das irdische Gelüsten der Glieder: Unzucht, Unkeuschheit, Habsucht" (Kol 3, 5) und ähnliches.

46. Nicht, was einer tut, ist zu beachten, sondern in welcher Gesinnung er es verrichtet. Dadurch wird das Licht in uns offenbar. Wir zeugen von dem guten Geist, der in uns lebendig ist. Unsere Taten beweisen ihn. "Was vom Licht erhellt wird, ist Licht" (Eph 5, 13). Alles, was wir der menschlichen Gemeinschaft beisteuern, lasst sich in seiner Auswirkung zum vorhinein nicht übersehen. Finsternis nennt deshalb der Herr all dies. Wenn ich zum Beispiel einem Bittsteller oder einem, der in Not ist, eine Geldsumme gebe, so weiß ich durchaus nicht, was er damit macht, wie er sie verwendet, was damit geschieht. Es kann sehr wohl sein, dass er sie schlecht verwendet, Unheil anrichtet oder selbst Ungemach deshalb erleidet. Dazu sollte die Gabe nicht dienen. Noch weniger hatte ich sie deshalb gegeben. Tue ich also etwas in bester Absicht, glaubte ich auch der Umstände wegen, mich genügend vergewissert zu haben, so war es licht in mir. Dieses Licht erleuchtet dann auch jede meiner Handlungen, ganz gleich wie sie ausgehen. Der Ausgang selbst, weil unbekannt und unsicher, ist dunkel. Geschieht aber etwas in böser Absicht, ist alles verdunkelt. Selbst das Licht wird dann Finsternis. Es besagt demnach jede gute Absicht, durch die ich meine Handlungen bestimmen lasse, selbst wenn dabei ein Irrtum sich einschleicht. Das Licht aber wird zur Finsternis, wenn die Absicht nicht lauter und rein ist, wenn Höheres nicht angestrebt wird, wenn vielmehr Geist und Sinn Niedrigem nachjagen. Dann wird das Herz zwiespältig, Schatten überdecken es. "Wenn nun schon das Licht in dir Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!" Das will besagen: wenn schon die Absicht, mit der wir etwas tun, die uns doch bekannt ist, unrein ist, wenn irdische und zeitliche Beweggründe sich einschleichen, wenn somit Finsternis in diesem innern Bereich sich ausbreitet, wieviel mehr werden die Handlungen, die daraus hervorgehen, deren Ausgang wir gar nicht in der Hand haben, mangelhaft, fehlerhaft, ja dunkel sein. Geht aber eine von uns in böser und unlauterer Absicht vorgenommene Handlung gut aus, gereicht sie dem andern nicht zum Schaden, sondern eher zu seinem Vorteil, werden wir doch nach unserer Absicht beurteilt und nicht nach dem Ausgang der Sache.

14. Kapitel: Mt 6, 24: Vom Dienen

47. Die folgende Stelle nun: "Niemand kann zwei Herren dienen" (Mt 6, 24) setzt wieder die Absicht voraus, die uns beseelt. Das Folgende will dies noch näher erläutern: "Entweder wird er, einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. "Hier ist jedes Wort genau zu prüfen. Denn die "zwei Herren" werden gleich noch näher benannt: "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon" (Mt 6, 24). Die Hebräer bezeichnen Reichtum als Mammon. Auch das uns bekannte Punische Wort besagt dasselbe. Gewinn heißt auf Punisch: Mammon. Wer aber dem Mammon dient, der dient auch dem, der Herr dieser verächtlichen irdischen Dinge ist. Der Herr nennt ihn "Fürst dieser Welt" (Joh 12,31). "Entweder wird er den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten." Mensch und Gott stehen sich hier gegenüber. Wer aber dem Mammon dient, hat sich einem harten und unerbittlichen Herrn verschrieben. In die Fesseln seiner Leidenschaft verstrickt, wird er Satan hörig. Zwar liebt er ihn nicht, wer hätte je Satan geliebt! Aber dennoch muss er ihn ertragen. Ein Beispiel aus der Welt: In einem großen Hause liebt jemand eine der Dienerinnen. Um seinem Wunsch Erfüllung zu verschaffen, muss er selbst dort Dienste nehmen. Der Dienst ist hart. Lieben kann er ihn nicht. Er erträgt ihn aber, weil er in Liebe zu einer Dienerin entbrannt ist.

48. "Den andern aber verachtet er" steht geschrieben. Dagegen heißt es nicht: er hasst ihn. Gott zu hassen, kann ein Mensch kaum sich unterfangen. Aber verachten kann er Gott, das heißt ihn nicht fürchten. Er fühlt sich ob seiner Langmut sicher. Der Heilige Geist will uns von dieser Gefahr bringenden Gleichgültigkeit und falschen Sicherheit zurückrufen, da er sagt: "Sage nicht: Die Barmherzigkeit des Herrn ist groß, er wird gegen die Menge meiner Sünden barmherzig sein" (Sir 5, 6). Und: "Missachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut?" (Röm 2, 4). Wohl kann man seine Barmherzigkeit nicht genug preisen. Wer sich bekehrt, dem verzeiht er alles. Und er lässt den wilden Ölbaum am Reichtum der Früchte des edlen Baumes Anteil haben. Aber er schont auch der wilden Schösslinge nicht, sondern vernichtet sie (Röm 11, 17-24). Wer demnach Gott dienen und sich hüten will, ihn zu beleidigen, der muss davon überzeugt sein, dass er nicht zwei Herren dienen kann. Die innerlichsten Absichten seines Herzens sollen lauter sein. Er muss sie von aller Zwiespältigkeit befreien. Er erfüllt das Wort: "Denket über den Herrn in Rechtschaffenheit, und in Einfalt des Herzens suchet ihn" (Weish 1, 1).

15. Kapitel: Mt 6, 25-30: Von der rechten Sorge

49. "So sage ich euch denn, seid nicht ängstlich besorgt für euer Leben, was ihr essen und was ihr trinken sollt, noch für euren Leib, was ihr anziehen sollt" (Mt 6, 25). Selbst wenn man im Leben nichts Überflüssiges anstrebt, bleibt doch die Gefahr, dass man, auch beim Mühen um den täglichen Lebensbedarf, sein Herz an irdische Dinge hängt. Sogar bei Werken der Barmherzigkeit kann unser Sinnen zu stark von irdischen Beweggründen getrieben werden. Scheinbar sind wir hilfsbereit, in Wirklichkeit aber haben wir unsern eigenen Vorteil im Auge. Wir glauben, bei all dem nicht zu sündigen, da wir nichts Überflüssiges erstreben, sondern nur das Notwendige zu erlangen suchen. Der Herr aber mahnt uns, stets eingedenk zu sein, dass Gott uns viel mehr gegeben hat. Er hat uns mit Leib und Seele ausgestattet. Leben und Fleisch hat er uns geschenkt. Deswegen sollen wir nicht in unnütze Sorge geraten. Unser Herz soll nicht von ängstlichem Fragen zerrissen werden. Denn so belehrt er uns: "Ist denn das Leben nicht mehr als die Nahrung?" Um uns noch deutlicher zu verstehen zu geben, dass der Schöpfer der Seele auch den Leib unterhalten kann, fährt er fort: "Und ist der Leib nicht mehr als die Kleidung?" Wer demnach den Leib gebildet hat, vermag ihm noch leichter die nötige Kleidung zu schenken.

50. Hier kann man die Frage aufwerfen, ob die Seele auch Speise nötig hat. Sie ist doch geistig, die Speise dagegen etwas Körperliches. Seele besagt aber hier soviel wie Leben, das sich im körperlichen Bereich auswirkt, zu dessen Erhaltung wir die Nahrung brauchen. In diesem Verstande ist auch das Wort zu verstehen: "Wer sein Leben lieb hat, verliert es" (Joh 12, 25). Das irdische Leben ist hiermit gemeint. Im Hinblick auf das Himmelreich müssen wir, es wegzugeben, bereit sein. So haben die Martyrer gehandelt, dies ist uns wohl bekannt. Fehlte diese Bereitschaft, hätte das andere Wort keiner Sinn: "Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber dabei seine Seele verliert?" (Mt 16, 26).

51. "Betrachtet die Vögel des Himmels! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen: euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr als sie?" (Mt 6, 26). Der Mensch ist höheren Ranges als ein Vogel. Er ist mit Verstand begabt, die Vögel nicht. In den Augen Gottes gilt er mehr. "Wer von euch kann mit seinen Sorgen seinem Leibe auch nur eine Elle zusetzen? Und was seid ihr so ängstlich besorgt um die Kleidung?" (Mt 6, 27-28). Damit will der Herr sagen, wer die Gewalt hat, die Leibesgröße zu bestimmen, der hat auch die Macht, den Leib zu bekleiden. Den Menschen ist diese Macht nicht gegeben. Sie können die zu erreichende Leibesgröße nicht bestimmen, noch weniger können sie dem erreichten Maß ein weiteres zufügen. Wenn dem so ist, dann sollen wir auch die Sorge um unsere Bekleidung dem überlassen, der Aussehen und Größe des Körpers festgesetzt hat.

52. Um das eben Gesagte noch an einem Beispiel zu verdeutlichen, wie es eben schon bei der Nahrung geschehen ist, fährt der Herr fort: "Betrachtet die Lilien des Feldes! Wie sie wachsen! Sie arbeiten nicht und spinnen nicht; und doch sage ich euch, selbst Salomon in all seiner Pracht war nicht so gekleidet wie eine einzige von ihnen. Wenn nun Gott das Gras des Feldes, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, wieviel mehr euch Kleinmütige?" (Mt 6, 28-30). Diese Beispiele sind nicht allegorisch zu verstehen, dass wir etwa fragen, was die Vögel des Himmels oder die Lilien des Feldes in solcher Betrachtung zu bedeuten haben.

Diese Beispiele sind als Hinweise gegeben, wie wir von der Erwägung des Geringeren zum Verständnis des Größeren gelangen sollen. So auch etwa das Beispiel von jenem ungerechten Richter, der weder Gott noch die Menschen fürchtete, aber dennoch dem ungestümen Bitten einer Witwe nachgab, nicht aus Verantwortungs- oder Gerechtigkeitsgefühl, sondern weil sie ihm mit ihren Bitten lästig war. Dieser ungerechte Richter ist nie und nimmer eine Allegorie des ewigen Richters. Aber dennoch wird damit ein Hinweis gegeben, wie Gott der Herr, der Allgütige und Allgerechte, auf die inständigen Bitten der Menschen hört. Dies umso mehr, wenn selbst ein ungerechter Mensch durch unablässiges Bitten nachgiebig gestimmt wird, nur weil der Bittsteller ihm lästig geworden ist (Lk 18,2-8).

16. Kapitel: Mt 6, 31-33: Suchet zuerst das Reich Gottes

53. Seid also nicht ängstlich besorgt und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Womit sollen wir uns bekleiden? Um all das sorgen sich die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß ja, dass ihr dies alles nötig habt. Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzu gegeben werden" (Mt 6, 31-33). Offensichtlich will der Herr damit sagen, all dies ist nicht seiner selbst willen anzustreben; unser Mühen, sofern wir uns mühen, soll nicht um das Erlangen dieser Güter gehen, wobei jedoch ihre Lebensnotwendigkeit nicht bestritten sein soll. Der Unterschied zwischen den Gütern, die wir erstreben müssen, und jenen, die für unsern Lebensunterhalt notwendig sind, wird durch den Satz deutlich gemacht: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzugegeben werden." Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit sind die Güter, die wir erstreben müssen, da dort der Zweck und das Ziel unseres Lebens beschlossen ist. Seinetwegen hat alles zu geschehen, was nur geschehen kann. Andererseits aber können wir nur in diesem sterblichen Leben dieses Ziel erarbeiten. Ohne die zur Erhaltung dieses Lebens nötigen Voraussetzungen kann dies nicht geschehen. Deshalb sagt der Herr: "Dies alles wird euch hinzugegeben werden." Aber er betont vorher ausdrücklich: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit!" Zuerst will heißen der Bedeutung nach, also nicht zeitlich genommen. Das Reich Gottes ist das Gut, das wir anzustreben haben. Alles andere ist die dazu benötigte Hilfe. Das Benötigte wird nur durch das zu erstrebende Gut gerechtfertigt.

54. So zum Beispiel dürfen wir die Predigt des Evangeliums nicht zum Broterwerb benutzen. Wir müssen jedoch essen, um auch predigen zu können. Benutzten wir die Predigt des Evangeliums zum Broterwerb, so achteten wir es geringer als das Brot. Und doch, so nötig wir das Essen haben, die Botschaft des Evangeliums steht höher. Nicht anders meint der Apostel, wenn er sagt: "die Verkündiger des Evangeliums sollen vom Evangelium leben" (1 Kor 9, 14). Wohl soll die Verkündigung des Evangeliums den Lebensunterhalt sichern, "ich aber habe davon keinen Gebrauch gemacht" (1 Kor 9, 15). Es gab auch damals schon Leute, die Gelegenheit suchten und wahrnahmen, aus der Verkündigung des Evangeliums materiellen Gewinn zu ziehen. Denen hält der Apostel entgegen: "Ihr wisst, dass diese meine Hände mir und meinen Begleitern den Lebensunterhalt verschafft haben" (Apg 20, 34). Und an einer anderen Stelle sagt er: "Was ich aber tue, werde ich auch weiter tun, um denen den Vorwand abzuschneiden, die gern einen Vorwand hätten" (2 Kor 11, 12).

Er, wie die übrigen Apostel, hätten von der Erlaubnis des Herrn, vom Ertrag der Predigt leben zu dürfen, Gebrauch machen können. Allerdings nicht in dem Sinne, dass die Predigt des Evangeliums den Lebensunterhalt sichern sollte. Vielmehr sollte der so erhaltene Lebensunterhalt zur besseren Verkündigung des Evangeliums dienen. Das Ziel der Predigt war die Verkündigung der Frohbotschaft, nicht Gewinn und Erwerb. Wie wir oben schon gesagt haben: die Predigt darf nicht Broterwerb werden. Auch kein anderer irdischer Vorteil darf erstrebt werden. Der Lebensunterhalt wird dankbar angenommen. Aber immer bleibt der Zwang und die Pflicht, das Evangelium zu verkünden. An diese Pflicht erinnert der Apostel, wenn er sagt: "Wisst ihr nicht, dass jene, die im Heiligtum beschäftigt sind, vom Heiligtum ihren Lebensunterhalt haben, dass jene, die dem Altar dienen, vom Altar ihren Anteil haben? Ebenso hat auch der Herr befohlen, dass die Verkündiger des Evangeliums vom Evangelium leben sollen. Ich aber habe davon keinen Gebrauch gemacht" (1 Kor 9, 13-15). Ausdrücklich sagt der Apostel, dass es sich um eine Anordnung handle, aber nicht um einen Befehl, der nur durch Missachtung Gottes unterlassen werden könne. Deshalb fährt er fort und sagt: "Das schreibe ich jedoch nicht in der Absicht, damit es von nun an so mit mir gehalten wird. Denn lieber wollte ich sterben, als meinen Ruhm mir entreißen lassen" (1 Kor 9, 15). Deutlich will er allen ein entsprechendes Beispiel geben. Er gibt auch noch die Begründung: "Von der Verkündigung des Evangeliums habe ich nämlich keinen Ruhm; sie ist meine Pflicht" (1 Kor 9, 16). Also nicht den Lebensunterhalt will ich mir damit erwerben oder irgendeinen irdischen Vorteil. Das Verkünden ewiger Güter darf nicht in den Erwerb irdischer Güter ausarten. Das Evangelium legt die Pflicht auf, seine Botschaft bekannt zu machen. Die Predigt hängt nicht von Lust und Laune ab. Darum: "Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündigte !" (1 Kor 9, 16). In welcher Absicht aber soll die Predigt geschehen? Gibt das Evangelium selbst oder das Himmelreich den Antrieb dazu? Dann bestünde ja kein Zwang. Die Predigt hinge wiederum von unserm Willen ab. Deshalb: "Tue ich es aus eigenem Antrieb, so hätte ich Lohn zu erwarten. Tue ich es aber ohne eigenen Antrieb, so richte ich nur einen mir anvertrauten Auftrag aus" (1 Kor 9, 17). Predigte ich das Evangelium im Hinblick auf den nötigen Lebensunterhalt, so hätten andere den Vorteil davon, nicht ich. Sie würden durch die Botschaft des Evangeliums zu einem besseren Leben angeleitet. Ich selbst müsste eines solchen Gewinnes entbehren. Ich suchte ja nicht den Inhalt der Frohbotschaft, sondern nur irdischen Gewinn. Das aber wäre ein großes Unrecht. Wer so handelte, predigte nicht wie ein Sohn, sondern wie ein Mietling, der eben nur einen Auftrag erfüllt, der von der Sache selbst unberührt bleibt, der nur seinen Lebensunterhalt und keinen Teil am Gottesreich haben will, der in äußerlichem Dienst, im Erlangen erbärmlichen irdischen Vorteils sein Genüge findet. Gewiss, auch ein Auftrag kann zu Höherem führen. Der Knecht kann sich die Anwartschaft auf die Kindschaft verdienen, indem er seinen Mitknechten treu und gewissenhaft das ihnen Zustehende mitteilt. Aber an dieser Stelle, da der Apostel sagt: "Tue ich es ohne eigenen Antrieb, so richte ich nur einen mir anvertrauten Auftrag aus", ist dieses nicht gemeint. Hier ist nur ein Auftrag zu verstehen, der keinen Lohn beanspruchen kann.

55. Jeglicher Gewinn demnach, der aus einer Sache erstrebt wird, ist dem Wert nach geringer als die Sache selbst. Ein reines Streben kennt keine solchen Beweggründe. Wer also Evangelium und Himmelreich als Mittel zum Zweck ansieht, das heißt irdischen Gewinn und Vorteil damit erhofft, wertet sie geringer als Speise und Trank. Weil unser Streben nach diesen vergänglichen Dingen geht, kümmern wir uns nicht um das Gottesreich. Das Geringere hat über das Bessere gesiegt. Handeln wir aber anders, sind Speise und Trank nur Mittel, um so das Himmelreich zu erlangen, dann erfüllen wir die Mahnung: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzugegeben werden."

17. Kapitel: Mt 6, 34: Von der Sorge eines Tages

56. Wer aber so dem Himmelreich und seiner Gerechtigkeit in allem den Vorzug gibt und alles andere nur in diesem Bezug sieht, der braucht nicht besorgt zu sein, dass ihm die irdischen Dinge im Hinblick auf die ewigen Güter versagt bleiben. Eben hatte der Herr ja schon versichert: "Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr dies alles nötig habt." Als er dann gesagt hatte: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit", fügte er nicht hinzu: Und dann das Übrige, sondern: "Und dies alles wird euch hinzugegeben werden." Wie eine Folge stellen sie sich ein, ließen wir uns aber ablenken, so könnte auch die Verheißung nicht wahr werden. Zwei Zielen vermag man nicht zuzustreben. Man kann nicht das Himmelreich an sich reißen und zugleich irdische Vorteile genießen wollen. Das Eine zuerst und ausschließlich, dann kommt das Andere von selbst. Nichts wird weiter ermangeln; denn zwei Herren kann man nicht dienen. Zwei Herren aber dient, wer das Gottesreich als das höchste Gut wertet und die irdischen Güter nicht weniger liebt. Dann ist das Auge getrübt, zwiespältig das Blickfeld. Man kann nur Gott dem Herrn dienen. Alles andere, wie nötig es sei, ist in Rücksicht auf dieses Eine, auf das Reich Gottes, anzustreben. Allerdings, jeder Soldat erhält seine Löhnung und seinen Lebensunterhalt. So soll auch, wer dem Evangelium dient, Nahrung und Kleidung bekommen. Aber nicht jeder Soldat kämpft rein aus Liebe zum Vaterland. Lohn und Beute locken ihn. So haben auch nicht alle, die Gott dienen, das Wohl der Kirche im Auge. Die irdischen Vorteile, die damit verbunden sind, wollen sie genießen. Doch der Herr hat gesagt: "Niemand kann zwei Herren dienen." Einfältigen Sinnes müssen wir daher, einzig im Ausblick auf Gottes Ehre, allen Gutes erweisen. Unrecht wäre es, daraus Gewinn ziehen zu wollen, selbst wenn diese Gesinnung auch noch so verbrämt wäre im vorgeblichen Schaffen zur Förderung des Gottesreiches. All dieses Sorgen bezeichnet der Herr mit: "dem nächsten Tag", und er sagt: "Seid also nicht ängstlich besorgt für den morgigen Tag" (Mt 6, 34). Der .morgige Tag" besagt nur in dieser Zeitlichkeit etwas, wo die Vergangenheit durch die Zukunft abgelöst wird. Bei allen unsern Handlungen, selbst den besten, sollen nicht zeitliche Gesichtspunkte uns leiten sondern einzig die ewigen. Nur dann wird unser Werk gut, ja vollkommen sein. "Denn", so fährt der Herr fort, "der morgige Tag wird für sich selbst sorgen" (Mt 6, 34). Wir sollen uns mit der Sorge um Speise und Trank, um Kleidung und alles übrige genug sein lassen. Wir werden ihrer nicht ermangeln, "denn euer himmlischer Vater weiß ja, dass ihr dies alles nötig habt". Deshalb: "Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage" (Mt 6, 34). Das heißt, es genügt zu sorgen, wenn das Bedürfnis da ist. Plage sagt der Herr. Der Strafzustand, unter dem wir leben, ist damit ausgedrückt. Die Plage ist die Folge der Sünde, sie begleitet unsern ganzen von Unheil und Tod bedrohten Lebensweg. Töricht wäre es, diesen Mühen unsererseits noch weitere Übel hinzuzufügen. Es könnte sonst geschehen, dass wir trotz allem Sorgen dennoch am Lebensnotwendigen Mangel litten und dazu noch wegen unseres Kleinmutes Gott beleidigten.

57. Vor einem müssen wir uns allerdings ganz besonders hüten: es wäre unrecht, wollten wir einen Diener Gottes deshalb, weil er auch für die Bedürfnisse des nächsten Tages, sei es für sich oder andere, bedacht ist, anklagen, er missachtete deshalb Gottes Gebot. Hat doch auch der Herr, dem "die Engel dienten" (Mt 4, 11), den Jüngern gestattet, Geld bei sich zu führen und es in einem Beutel aufzubewahren. Er wollte dem Ärgernis derer vorbeugen, die sich daran stoßen könnten, dass die Diener Gottes gleichfalls solches besäßen. Der Herr wollte, dass mit diesem Gelde der tägliche Lebensunterhalt bestritten würde. Verwalter des Geldes, wie wir in der Heiligen Schrift lesen, war Judas, der ihn später verraten hat. Auch der Apostel Paulus hat an den kommenden Tag gedacht. Sagt er doch: "Mit der Sammlung für die Heiligen haltet es ebenso, wie ich es für die Gemeinden in Galatien angeordnet habe. Am ersten Tage der Woche lege jeder von euch für sich soviel zurück, als er vermag, damit die Sammlung nicht erst bei meiner Ankunft stattzufinden habe. Wenn ich dann komme, will ich jene, die ihr für geeignet haltet, mit Empfehlungsschreiben entsenden, damit sie eure Gabe nach Jerusalem bringen. Ist es aber der Mühe wert, dass ich selbst reise, so sollen sie mit mir reisen. Ich komme zu euch auf dem Wege über Mazedonien; denn Mazedonien will ich bloß durchwandern, bei euch aber werde ich mich wohl länger aufhalten, vielleicht den ganzen Winter. Ihr sollt mir dann zur Weiterreise das Geleite geben. Denn ich möchte euch nicht nur so vorübergehend sehen, vielmehr hoffe ich, geraume Zeit bei euch zu verweilen, wenn der Herr es gestattet. In Ephesus bleibe ich bis Pfingsten" (1 Kor 16, 1-8). Auch in der Apostelgeschichte lesen wir, wie das zum Leben Notwendige schon im voraus besorgt wurde, um drohendem Hunger vorzubeugen. So nämlich heißt es: "In jenen Tagen kamen Propheten aus Jerusalem nach Antiochien hinab. Einer von ihnen namens Agabus trat auf und weissagte auf Antrieb des Geistes eine große Hungersnot, die über die ganze Erde kommen werde. Sie trat dann auch unter Claudius ein. Da beschlossen die Jünger, den Brüdern in Judäa eine Unterstützung zukommen zu lassen, zu der jeder nach Vermögen beitragen sollte. Das führten sie auch aus und sandten die Beiträge durch Barnabas und Saulus an die Ältesten" (Apg 11, 27-30). Als Paulus Schiffbruch erlitten hatte, "versah man ihn bei der Abfahrt mit dem Notwendigen" (Apg 28, 10); und, wie man aus der Stelle entnehmen kann, nicht nur für einen Tag. Wenn der Apostel also sagt: "Wer zu stehlen pflegte, stehle nicht wieder, sondern mühe sich ab und erwerbe sich durch seiner Hände Arbeit ehrlichen Verdienst, damit er dem Notleidenden noch davon mitteilen kann" (Eph 4, 28); so könnte diese Mahnung einer böswilligen Auslegung im Widerspruch stehen mit dem Wort des Herrn: "Betrachtet die Vögel des Himmels! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen" und "Betrachtet die Lilien des Feldes! Wie sie wachsen! Sie arbeiten nicht und spinnen nicht." Dem gegenüber die ausdrückliche Anweisung des Apostels, mit der Hände Arbeit sich den Lebensunterhalt zu verschaffen, ja sogar soviel, dass man sogar andern noch geben kann. Wiederholt betont er, wie er sich durch seine eigenen Anstrengungen das Brot verdiene, um niemanden lästig zu fallen (1 Thess 2, 9 und 2 Thess 3, 8). Aus dem gleichen Grunde hat er sich auch, wie geschrieben steht, dem Aquila zugesellt. Dieser betrieb das gleiche Handwerk. Vereint konnten sie leichter das zum Leben Notwendige beschaffen (Apg 18, 2-3). Er scheint also die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes nicht nachgeahmt zu haben. Aus diesen und ähnlichen Stellen der Heiligen Schrift erhellt deutlich, dass unser Herr das Arbeiten, wie es bei den Menschen Sitte ist, nicht tadelt. Tadel verdient jedoch, wer seine Fähigkeiten missbraucht, gegen Gott sich versündigt, weil er bei all seinen Mühen nicht die Ehre Gottes, sondern nur schnöden Gewinn im Auge hat.

58. Auf diesen Grundsatz zielen schließlich alle diese Vorschriften ab. Wer sich um den Lebensunterhalt kümmern muss, soll dabei das Gottesreich nicht aus dem Auge verlieren, und wer nur im Dienste Gottes steht, soll um diese Dinge keine Sorge haben. Wenn dann auch einmal ein Mangel eintritt - und Gott der Herr lässt dies immer wieder zu unserer Erprobung zu - so werden wir deshalb in unserm Streben nicht entmutigt, wir werden durch diese Prüfung eher bestärkt und befestigt. "Wir rühmen uns auch der Trübsal, weil wir wissen, dass die Trübsal Standhaftigkeit bewirkt, die Standhaftigkeit Bewährung, die Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber kann nicht trügen; denn die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, der uns verliehen ist" (Röm 5, 3-5). Bei der Aufzählung seiner Leiden und Mühsale nennt der Apostel aber nicht nur Gefangenschaft und Schiffbruch und andere Leiden ähnlicher Art, sondern auch Hunger und Durst, Kälte und Blöße (2 Kor 11, 23-27). Wenn wir dies lesen, dürfen wir also nicht meinen, Gottes Verheißungen seien erschüttert worden. Wir hören, dass der Apostel gehungert, gedürstet und gefroren hat und dies alles, obgleich er doch das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suchte, dem die Zusicherung gegeben war: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzu gegeben werden." Das sind Heilmittel des himmlischen Arztes. Ihm haben wir uns ganz anvertraut. Von ihm haben wir die Zusicherung zeitlichen und ewigen Lebens, selbst wenn er uns einmal etwas entzieht oder dann auch wieder gibt, so wie er es für uns am zuträglichsten hält. Er hat nur eine Absicht, er will uns in diesem Leben trösten und erproben, im kommenden in ewiger Ruhe sichern und festigen. Dies ist seine einzige Absicht und Sorge. Denn auch der Mensch, der den Tieren ab und zu Nahrung vorenthält, tut dies nicht, weil er sich nicht mehr um sie kümmert, sondern weil er ihnen dadurch vielmehr helfen will.

18. Kapitel: Mt 7, 1-2: Vom Richten

59. "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn, wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch gemessen werden" (Mt 7,1-2). Diese Worte haben das tägliche Leben im Auge. Wir erwarten etwas. Es kann sein, dass wir es erhalten; es kann aber auch sein, dass es uns aus irgend einem Grunde vorenthalten wird. Wir wissen nicht, aus welchem Grunde dies geschieht, ob in guter oder unguter Absicht. Da gibt uns nun der Herr diese Anweisung, die, wie ich glaube, nichts anderes bezweckt, als dass wir jegliche Handlung, über deren Beweggrund man im Zweifel sein kann, nach der guten Seite hin auslegen. Wenn wir das Wort gehört haben: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen", so sind damit offensichtlich die Handlungen gemeint, die aus keinem guten Grunde erwachsen können, wie Unzucht, Gotteslästerung, Diebstahl, Trunksucht. Uber diese können wir wohl ein Urteil fällen, wie der Apostel sagt: "Wie sollte ich auch die Außenstehenden richten? Habt ihr nicht die drinnen zu richten?" (1 Kor 5, 12). Aber über das, was man isst, verbietet uns der Apostel zu urteilen. So untersagte er denen, die kein Fleisch aßen und keinen Wein tranken, über die zu Gericht zu sitzen, die derlei taten. Die solche Speisen zu sich nehmen, können sie in reiner Absicht, ohne jeden Hintergedanken, ohne Gaumenlust genießen. "Wer isst, verurteile nicht den, der nicht isst; und wer nicht isst, verurteile den nicht, der isst ... Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht und fällt nur seinem eigenen Herrn" (Röm 14, 3-4). Alle Dinge des menschlichen Lebens demnach, die in guter, schlichter und edler Absicht geschehen können, wenngleich sie genau so gut auch ins Böse verkehrt werden können, sollen von uns Menschen nicht vor unser Gericht gezogen werden. Die Beweggründe spielen sich im Innern ab. Hier richtet allein Gott.

60. Hierher gehört noch eine andere Stelle: "So richtet denn nicht vor der Zeit, ehe der Herr kommt. Er wird auch, was im Finstern verborgen ist, ans Licht bringen und die Gedanken der Herzen offenbar machen. Dann wird jedem sein Lob von Gott zuteil werden" (1 Kor 4, 5). Es gibt also gleichwertige Handlungen, die zum Guten wie zum Bösen gebraucht werden können. Wir kennen die Beweggründe nicht, aus denen sie geschehen. Es wäre leichtfertig von uns, wollten wir über sie urteilen, noch weniger dürften wir sie verurteilen. Einmal wird die Zeit kommen, da auch sie vor das Gericht kommen. "Der Herr wird, was im Finstern verborgen ist, ans Licht bringen und die Gedanken der Herzen offenbar machen." Deshalb sagt der Apostel auch an einer andern Stelle: "Bei gewissen Menschen sind die Sünden offenkundig und eilen dem Gerichte voraus; bei andern folgen sie erst nach." Offenkundig heißt soviel wie: Handlungen, über deren Beweggründe kein Zweifel herrschen kann. Diese eilen dem Gericht voraus. Wer über sie sich jetzt schon ein Urteil bildet, handelt nicht übereilt. Die andern aber werden erst gerichtet werden. Jetzt kennt und sieht man sie noch nicht. Das Gleiche gilt aber von den guten Handlungen. Denn an derselben Stelle fährt der Apostel fort und sagt: "Ebenso sind auch die guten Werke offenkundig; und wo dies nicht der Fall ist, können sie doch nicht immer verborgen bleiben" (1 Tim 5, 24-25). Was demnach offenkundig ist, dürfen wir beurteilen; das Verborgene aber sollen wir dem Urteil Gottes überlassen. Vor ihm kann nichts verheimlicht werden, weder das Gute noch das Böse. Zur gegebenen Zeit wird er alles ans Tageslicht bringen.

61. Aus zwei Gründen sollen wir uns vor überschnellem Urteil hüten: weil die inneren Beweggründe einer Tat uns nicht bekannt sind, und weil wir nicht wissen, wie ein Mensch einmal wirklich beurteilt wird, mögen seine Handlungen jetzt gut oder böse erscheinen. Wenn zum Beispiel jemand nicht fasten kann, weil er Magenbeschwerden hat, wir ihn aber der Esslust anklagen, so haben wir vorschnell geurteilt. Und wenn wir bei einem tatsächlich seine Ess- oder Trinklust feststellen können und ihn deswegen tadeln, als ob gar keine Aussicht mehr auf Änderung und Besserung bestehe, haben wir auch in diesem Falle, vorschnell geurteilt. Wir dürfen keinen Tadel aussprechen, wenn wir die Beweggründe nicht kennen, wir dürfen aber auch niemanden der Unverbesserlichkeit beschuldigen. Unter allen Umständen müssen wir das Aburteilen unterlassen. "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet."

62. Nachdenklich muss uns auch der nächste Satz machen: "Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch gemessen werden." Soll das etwa heißen, dass, wenn wir vorschnell urteilen, auch Gott der Herr gleichermaßen so uns beurteilen wird? Oder wenn wir gar unrechte Maßstäbe angelegt haben, auch Gott der Herr mit gleichen Maßstäben uns vergelten wird? Unter dem Maß, so glaube ich, ist hier das Urteil zu verstehen. Aber diese Auslegung ist ganz irrig. Gott fällt kein vorschnelles noch ein ungerechtes Urteil. Der Ausspruch soll nur soviel heißen, dass jegliches vorschnelle Urteil im gleichen Maß auf uns zurückfallen muss. Es sei denn, man glaube, dass das Unrecht, das man einem andern antun will, ihn auch wirklich treffen muss, wogegen man selbst ungeschädigt bleibe. Gerade das Gegenteil trifft zu. Das Unrecht, das man einem andern antun will, schädigt ihn oft genug nicht, trifft aber uns mit umso härterer Wucht. Was hat den Martyrern die Bosheit ihrer Feinde geschadet? Wie anders aber sind ihre Verfolger getroffen worden! Einige haben sich durch das Beispiel der Martyrer zu einem besseren Wandel bekehren lassen, aber andere sind umso mehr verblendet worden. So schadet auch das vorschnelle Urteil oft genug dem nicht, über den man herfällt, sondern nur dem, der sich dazu verleiten lässt. Jedes vorschnelle Urteilen schädigt zwangsläufig den, der es ausspricht. Diese Regel finde ich auch in einem andern Wort ausgedrückt: "Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen" (Mt 26, 52). Kommen nun alle durch das Schwert um, die zum Schwert greifen? Ist etwa Petrus auch so umgekommen? Hat die Sünde nun solche Verzeihung erfahren, ist deswegen die Strafe noch nicht erlassen. Es wäre töricht zu meinen, es gäbe keine größere Strafe als durch das Schwert umkommen. Diese hat Petrus allerdings nicht erlitten. Er hat aber die Kreuzesstrafe auf sich nehmen müssen. Und was wäre über die beiden Räuber zu sagen, die mit dem Herrn gekreuzigt wurden? Der eine von ihnen erlangte Verzeihung und musste dennoch sterben, gleichwie der andere, der keine Verzeihung erhielt (Lk 33, 33-43). Hatten sie alle ihre Opfer, die sie umgebracht hatten, auch gekreuzigt, dass sie deshalb diese Strafe erlitten? Eine solche Annahme wäre lächerlich. Was anders also soll der Satz heißen: "Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen" als dies: ein schweres Vergehen wird mit dem Tode der Seele geahndet.

19. Kapitel: Mt 7, 3-5: vom Splitter im Auge

63. Eindringlichst mahnt der Herr an dieser Stelle, uns vor übereilten und ungerechten Urteilen zu hüten. Er will, dass wir einfältigen Herzens einzig im Hinblick auf Gott alles tun, was wir zu tun haben. Die innersten Absichten des andern kennen wir nicht. Es wäre vermessen, wollten wir uns daher eines Urteils erkühnen. Am meisten neigen die zu vorschnellen Urteilen und dementsprechend zu voreiligem Tadel, die ihrer Veranlagung nach lieber andere ausschelten und verurteilen, als dass sie ihnen durch verständige Zurechtweisung helfen würden. Im Grunde sind solche Menschen von Hochmut oder Neid beherrscht. Folgerichtig fährt der Herr deshalb fort: "Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, während du den Balken in deinem Auge nicht bemerkst?" (Mt 7, 3). Ein Beispiel dafür: Jemand vergisst sich im Zorn, wir weisen ihn dann mit hasserfüllter Verachtung zurecht. Gleich groß der Unterschied zwischen einem Splitter und einem Balken ist, so ist er auch zwischen jenem Zorn und meiner hasserfüllten Gesinnung. Hass ist nämlich verhärteter Zorn. Das Alter verleiht ihm eine besondere Stärke. Er gleicht in der Tat einem "Balken". Durch ein zorniges Wort können wir einen Menschen, den wir bessern wollen, vielleicht auch noch bessern; hasserfüllte Gesinnung vermag dies nicht.

64. "Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen:

Lass mich den Splitter aus deinem Auge ziehen, während in deinem Auge ein Balken steckt? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann magst du sehen, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst" (Mt 7,4-5). Voraussetzung jeglichen Willens zum Bessern ist Freisein von eigener Leidenschaftlichkeit. Erst dann dürfen wir hoffen, jene auch bessern zu können, denen wir gern helfen möchten. Mit Recht sagt deshalb der Herr: Heuchler! Denn nur gute und wohlmeinende Menschen dürfen es wagen, andere zu tadeln, sie auf ihre Fehler aufmerksam zu machen. Tun es böse Menschen, maßen sie sich fremde Rechte an. So machen es ja auch die Heuchler. Sie geben sich nach außen hin anders als sie im Innersten wirklich sind. Heuchler will also besagen: anders scheinen als sein. Wir müssen uns hüten, in eine solche Art zu verfallen. Derartige Menschen sind äußerst unangenehm. Sie greifen jedes Wort, das über einen andern gesagt wird, auf; deuten es in ihrer bösen und giftigen Art aus, fällen harte Urteile und möchten bei allem noch als wohlmeinende Ratgeber angesehen werden. Deshalb müssen wir sehr auf der Hut sein und wohl überlegen, wie wir vorgehen, wenn wir einen andern tadeln. Die erste Überlegung und Frage an uns selbst sei: haben nicht auch wir den gleichen Fehler oder haben wir niemals etwas dergleichen getan? Selbst wenn wir uns nichts vorzuwerfen hätten, dürfen wir doch nie vergessen, dass wir schwache Menschen sind, denen jeden Augenblick das Gleiche zustoßen kann. Und wenn wir früher anders waren als heute, wenn wir uns jetzt gebessert haben, dann soll uns erst recht die Erinnerung an die uns allen gemeinsame Schwäche vorsichtig machen. Müssen wir dann doch tadeln, soll nicht Leidenschaft uns beseelen, sondern mitleidige Nachsicht uns erfüllen. Schlägt unser Tadel gut an oder verschärft er eher das Übel - denn wir wissen nie, wie eine Sache ausgeht - dann haben wir doch auf jeden Fall in schlichter Geradheit gehandelt. Haben wir aber den gleichen Fehler wie jener andere, den wir vielleicht tadeln sollen, lassen wir lieber das Tadeln oder Zurechtweisen. Vereinigen wir uns in gemeinsamem Bedauern über das Vorgefallene. Ermahnen wir ihn, mit uns zusammen den besseren Weg einzuschlagen, da wir selbst keine Berechtigung haben, ihn dazu zu zwingen.

65. Auch der Apostel meint nichts anderes, da er sagt: "Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, um so die Juden zu gewinnen. Für die, die unter dem Gesetz stehen, ward ich wie einer, der unter dem Gesetze steht - obgleich ich nicht unter dem Gesetze stehe - um so die zu gewinnen, die unter dem Gesetze stehen. Für die, die ohne das Gesetz leben, ward ich wie einer, der ohne das Gesetz lebt - obgleich ich vom Gesetze Gottes nicht frei bin, sondern an das Gesetz Christi gebunden - um so die zu gewinnen, die ohne das Gesetz leben. Den Schwachen ward ich ein Schwacher, um so die Schwachen zu gewinnen. So bin ich allen alles geworden, um wenigstens einige zu retten" (1 Kor 9, 20-22). Töricht wäre es, auf Grund dieser Stelle den Apostel einen Heuchler zu nennen, wie dies einige getan haben. Er hat sich den verschiedenen Gebräuchen nicht deshalb angeschlossen, um sie, besonders wenn sie verwerflich waren, dadurch kraft seiner Autorität zu rechtfertigen. Einzig Liebe trieb ihn. Die Schwächen der andern, denen er helfen wollte, hat er zu seinen eigenen gemacht. Ausdrücklich hat er deshalb am Eingang dieser Stelle vermerkt: "Obwohl ich in jeder Hinsicht frei bin, habe ich mich doch zum Knecht aller gemacht, um recht viele zu gewinnen" (Mt 9, 19). Auch an einer andern Stelle gibt er uns die gleiche Lehre, dass wir nämlich aus Liebe, nicht aus Verstellung die Schwächen anderer wie die eigenen ertragen und ansehen sollen: "Brüder, ihr seid zur Freiheit berufen. Nur gebraucht die Freiheit nicht, um dem Fleische nachzugehen. Dient vielmehr einander in Liebe" (Gal 5, 13). Unmöglich kann man dies aber tun, wenn man die Schwächen des Nächsten nicht wie die eigenen ansieht. Dann erst wird jener Gleichmut erreicht, der auch weiteres Ungemach erträgt, bis der andere schließlich doch sich bessert.

66. Selten und nur unter ganz wichtigen Voraussetzungen dürfen wir andere heftig tadeln. Und selbst dann muss es im Hinblick auf Gott geschehen, nicht weil wir einen Gefallen daran finden. Gott allein ist das Ziel. Wenn wir einfältigen Sinnes vor ihm, stehen wollen, müssen wir zuerst den Balken aus unserm eigenen Auge entfernen, den Neid, böswillige Gesinnung, die Heuchelei. Dann erst dürfen wir versuchen, den Splitter aus dem Auge des Bruders zu ziehen. Wir sehen ihn nun mit "Taubenaugen" (Hld 4, 1), wie sie der Braut Christi eigen sind, jener Braut, die seine "herrliche Kirche" ist, "ohne Flecken und Runzel" (Eph 5, 27), soll heißen: rein und einfältig.

20. Kapitel: Mt 7, 7-11: Vom Vertrauen beim beten

67. Es kann jedoch vorkommen, dass manche, vom Wunsch geleitet, Gottes Vorschriften willfahren zu wollen, sich durch eine vorgebliche Einfachheit in ihrem Urteil irreführen lassen. Sie meinen, wie es ein Fehler sei, Unwahres zu sagen, dürfe man auch gleichermaßen nur gelegentlich das Gute offenbaren. So kommt es, dass sie zur verkehrten Zeit und unter falschen Voraussetzungen andern Mitteilungen machen, die jene nicht ertragen können. Sie schaden dann mehr, als wenn sie gar nichts gesagt hätten.

Deshalb fährt der Herr mit Recht fort und sagt: "Gebt das Heilige nicht den Hunden, und werft eure Perlen nicht den Schweinen vor! Sie könnten sie mit ihren Füßen zertreten, sich umwenden und euch zerreißen" (Mt 7, 6). So hat auch der Herr seinen Jüngern nicht immer alles gesagt, ohne deshalb ihnen die Wahrheit vorzuenthalten. "Noch vieles hätte im euch zu sagen, doch ihr könnt es jetzt noch nicht ertragen" (Joh 16, 12). Und der Apostel Paulus: "Brüder, ich konnte zu euch nicht wie zu geistigen Menschen reden, sondern wie zu fleischlichen, zu Unmündigen in Christus. Milch gab ich euch zur Nahrung, nicht feste Speise; denn die konntet ihr noch nicht ertragen. Ja ihr könnt es jetzt noch nicht, ihr seid ja noch immer fleischlich" (1 Kor 3, 1-2).

68. Bei der eben genannten Stelle, da der Herr uns mahnt, das Heilige nicht den Hunden vorzuwerfen, noch die Perlen vor die Schweine, gilt es nun noch etwas genauer nachzuforschen, was denn das Heilige, die Perlen, die Hunde und die Schweine bedeuten. Heilig ist das, was zu verletzen oder zu verunehren ein Gräuel ist. Selbst der Wille und Versuch allein macht schon schuldig, auch wenn es nicht zur Ausführung gekommen ist, wenn das Heilige unversehrt und unverletzlich geblieben ist. Die Perlen sind die geistigen Güter, die wir über alles schätzen sollen. Sie sind im Innern verborgen, müssen aus der Tiefe geholt werden, sind in die Geheimnisse der verschiedensten Art eingebettet; sie gleichen also der Perle, die nur im Innern der Muschel sich findet. Ein und dieselbe Same kann zugleich heilig genannt und auch mit einer Perle verglichen werden: heilig, weil sie nicht verletzt werden darf; Perle, weil man sie nicht geringschätzen darf. Wer eine Sache verletzen will, will sie nicht mehr vollkommen haben. Wer eine Sache verachtet, tut dies, weil er sie gering wertet, weil er glaubt, sie sei unter seiner Würde. So etwas vermeint man dann, mit Füßen treten zu dürfen. Die Hunde springen eine Sache an, um sie zu zerreißen. Was aber angerissen ist, ist nicht mehr vollkommen. Deshalb: "Gebt das Heilige nicht den Hunden!" Was nicht zerrissen und beschmutzt werden darf, bleibt unversehrt und rein. Die aber, so mit aller Macht und in bitterböser Absicht, gegen die Wahrheit kämpfen, möchten, soweit es an ihnen liegt, diese zu Fall bringen. Die Schweine machen es nicht wie die Hunde. Sie springen die Gegenstände nicht an wie die Hunde, um sie zu zerreißen, sie trampeln aber gleichsam unachtsam auf ihnen herum. Deshalb: "Werft eure Perlen nicht den Schweinen vor! Sie könnten sie mit ihren Füßen zertreten, sich umwenden und euch zerreißen." Die Feinde der Wahrheit kann man deshalb den Hunden gleichsetzen, ihre Verächter den Schweinen.

69. Wenn der Herr an dieser Stelle sagt: "Sie könnten sich umwenden und euch zerreißen", so sagt er ausdrücklich "euch zerreißen" und nicht die Perlen. Aber dennoch: Wer die Perlen mit Füßen tritt, wird auch wenig Ehrfurcht für den zeigen, den man vielleicht noch anhören möchte. Am Ende wird man auch ihn "zerreißen". Wer die Perlen mit Füßen tritt, wird wenig Ehrfurcht vor anderem haben, so ist zu fürchten. Auch die mit vieler Mühe zu gewinnenden göttlichen Dinge verfallen diesem Schicksal. Wer solche Ansichten hegt, muss naturnotwendig "zerrissen" werden, an unverdauten Sachen zugrundegehen, ich sehe keine andere Möglichkeit. Beide Tiere aber sind unrein, der Hund und das Schwein. Hüten sollen wir uns, denen die innersten Geheimnisse zu erschließen, die sie nicht verstehen können. Besser, man sucht noch nach dem Verborgenen, als dass man das Offenbarte gering achtet und bekämpft. Die einzigen Gründe, warum die großen geoffenbarten Wahrheiten nicht angenommen werden, sind Hass und Geringschätzung. Das eine weist auf die Hunde, das andere auf die Schweine hin. Die Liebe zu den irdischen Dingen macht unrein. Wir sind dann dieser Welt verhaftet, die wir uns doch fern halten sollten, wenn wir rein bleiben wollen. Wer ein reines und einfältiges Herz bewahren will, braucht sich nicht schuldhaft vorzukommen, wenn er einem andern, der kein Verständnis dafür hat, nicht alles offenbart. Deshalb hat er noch nicht gelogen. Das Wahre geheimhalten, heißt nicht lügen. Das wäre eine falsche Folgerichtigkeit. Wichtig ist, und mühen müssen wir uns, dass die Hindernisse, die dem Verständnis im Wege stehen, hinweggeräumt werden. Und wenn Schmutzflecken die klare Einsicht verhindern, sollen sie durch Wort und Tat gereinigt werden, soweit wir dies vermögen.

70. Unser Herr hat nun selbst viel gesagt, was manche der Zuhörer aus Widerspruch oder Verachtung nicht angenommen haben. Man darf aber deswegen nicht glauben, er habe das Heilige den Hunden gegeben oder die Perlen vor die Schweine geworfen. Er gab seine Gaben solchen, die sie würdigten oder annahmen. Sie konnten es, sie waren auch da, um die Gaben selbst zu empfangen. Und als man ihn mit verfänglichen Fragen zu fangen suchte, gab er ihnen solche Antworten, dass die Fragesteller daraus nichts gegen ihn entnehmen konnten. Ihre Nahrung blieb ihr eigenes Gift, nicht die Speise, mit der er sie erquicken wollte. Andere aber, die das Gebotene willig aufnahmen, haben reichen Nutzen davon gehabt. Ich sage dies alles zu eurer Aufklärung. Es kann sein, dass ihr von jemandem um etwas gefragt werdet, und ihr könnt keine Antwort geben. Dann darf er sich nicht mit dem Satz entschuldigen: er wolle das Heilige nicht den Hunden geben und die Perlen nicht vor die Schweine werfen. Wer, eine Antwort zu geben, imstande ist, soll sie geben, schon aus Teilnahme für den Nächsten. Ihrem ängstlichen Suchen gilt es zu helfen. Sonst würden sie glauben, man könnte die aufgeworfene Frage nicht beantworten; zumal wenn es sich um heilsnotwendige und für das geistige Leben nützliche Wahrheiten handelt. Natürlich können von eitlen Menschen auch müßige, oberflächliche, ja sogar schädliche Fragen gestellt werden. Auf diese wird man nicht eingehen. Doch soll man dabei nicht versäumen, zu bemerken, warum man auf solche Fragen sich nicht einlassen will. Auf begründete Fragen lohnt es sich, entsprechend einzugehen. So hat es auch der Herr gehalten, als ihn die Sadduzäer wegen der Frau befragten, die sieben Männer gehabt hatte, wie es nun mit diesen bei der Auferstehung bestellt sein solle. Er gab ihnen zur Antwort, dass bei der Auferstehung der Toten es keine Verheirateten mehr gäbe, alle seien wie die Engel im Himmel. Oder man kann auf eine Frage auch mit einer Gegenfrage antworten. Beantwortet er sie, so hat er sich selbst den gesuchten Bescheid gegeben. Beantwortet er sie nicht, kann niemand dem zuerst Gefragten einen Vorwurf machen, wenn er seinerseits dann schweigt. Hierher gehört die Begebenheit mit der Zinsmünze: Die Pharisäer waren gekommen, den Herrn zu versuchen. Sie stellten die Frage nach der Erlaubtheit des Steuergebens. Der Herr stellte eine Gegenfrage: Wessen Bild die Geldmünzen zeigen. Sie gaben die rechte Antwort: Des Kaisers Bild. Damit hatten sie sich schon selbst die Antwort gegeben. Deshalb brauchte der Herr ihnen nur mit ihren eigenen Worten zu antworten: "Gebt also dem Kaiser, was dem Kaiser gebührt, und Gott, was Gott gebührt" (Mt 22, 15-21). Als den Herrn dann ein andermal die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes fragten, kraft welcher Gewalt er solche Wunder wirke, stellte er ihnen eine andere Frage: sie sollten ihm sagen, kraft welcher Gewalt Johannes getauft habe. Sie wollten keine Antwort geben; denn entweder hätten sie gegen sich selbst zeugen oder Johannes verurteilen müssen. Beides wollten sie nicht. Darum sagte ihnen der Herr: "Dann sage ich euch auch nicht, mit welchem Rechte ich dies tue" (Mt 21, 23-27). Die Umstehenden fanden diese Antwort ganz in Ordnung. Die erste Pflicht der Fragesteller wäre gewesen, auf die Gegenfrage einzugehen. Hätten sie eine günstige Antwort gegeben, so hätten dann ihre Taten entsprechend ausfallen müssen. Damit würden sie sich selbst die gesuchte Antwort gegeben haben. Sie hatten nämlich schon zu Johannes geschickt und ihn gefragt, wer er sei. Er bekannte und leugnete es nicht; er bekannte: "Ich bin nicht der Messias" (Joh 1, 19 ff.). Hätten sie diesen Bescheid angenommen, dann hätten sie von Christus die rechte Auffassung haben müssen, da sie ja seine Wundertaten sahen. So aber stellten sie die Frage in der Hoffnung, ihm eine Falle damit stellen zu können.

21. Kapitel: Mt 7, 12: Die goldene Regel

71. Die Mahnung des Herrn: Das Heilige nicht den Hunden zu geben und die Perlen nicht vor die Schweine zu werfen, könnte aber auch einen Hörer finden, der, wohl bewusst seiner eigenen Schwäche und Unkenntnis, dennoch sagen könnte: so etwas könne es gar nicht geben, da er es nie gesehen habe, geschweige denn besitze. Deshalb fährt der Herr jetzt fort und sagt: "Bittet, und es wird euch gegeben; suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch aufgetan. Denn jeder, der bittet, empfängt; wer sucht, der findet; wer anklopft, dem wird aufgetan werden" (Mt 7, 7-8). Das Bitten bezieht sich auf die Bedürfnisse und Anliegen der Seele. Gesund und stark soll sie sein, damit sie das Erbetene in die Tat umsetzen kann. Das Suchen bezieht sich auf die zu erlangende Wahrheit. Das ewige Leben vollendet sich in Tun und Erkennen. Das Tun gründet auf dem Entfalten der Kräfte, das Erkennen auf der Schau der erhofften Einsicht. Das Tun ist zu erbitten, das Erkennen zu suchen. Jenes möge erfüllt, dieses gewährt werden. Doch die Erkenntnis in diesem Leben ist erst ein schwacher Anfang, der volle Besitz ist sie nicht. Wer jedoch diesen Anfang gefunden, der darf auch hoffen, zum vollen Besitz zu gelangen. Dem Klopfenden wird aufgetan.

72. Um diese Drei: Bitten, Suchen und Anklopfen noch verständlicher zu machen, sei ein Beispiel gewählt. Jemand kann nicht recht gehen, seine Füße sind erkrankt. Zunächst also müssen die Füße wieder geheilt werden, sie müssen gekräftigt werden, damit er wieder gehen kann. Das ist mit dem "Bittet" gemeint. Was nutzt aber das Gehen, ja selbst das Springenkönnen, wenn man auf Irrwegen dahineilt? Das Zweite ist es, den rechten Weg zu suchen, der zu dem erstrebten Ziele führt. Hat man dann den rechten Weg gefunden, kennt man das Ziel, dem man zustrebt, so kann es dennoch sein, dass das Haus, in dem man wohnen will, verschlossen ist. Weder das Gehen, noch das Suchen, noch das Finden hätte etwas genutzt, wenn man uns nicht aufschlösse. Das will das Dritte besagen: Klopfet an!

73. Die Verheißung des Herrn: "Jeder, der bittet, empfängt; wer sucht, der findet; wer anklopft, dem wird aufgetan, eröffnet Aussichten voll der Hoffnung; Aussichten und Hoffnungen, die keine Enttäuschung erfahren. Einzig Ausdauer ist nötig zu empfangen, um was wir bitten; um zu finden, was wir suchen; um aufgetan zu bekommen, wenn wir anklopfen.

Bei dem Gleichnis von den Vögeln des Himmels und den Lilien des Feldes wollte der Herr uns zeigen, dass wir nicht verzagen sollten, die fürs Leben nötige Nahrung und Kleidung zu erhalten. Am Beispiel des Kleinen sollte die Hoffnung auf Größeres sich entzünden. Den gleichen Weg beschreitet er auch jetzt: "Wer von euch wird seinem Sohne einen Stein geben, wenn er ihn um Brot bittet? Oder wer wird ihm eine Schlange geben, wenn er um einen Fisch bittet? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn darum bitten!" (Mt 7, 9-11). Wie können Böse etwas Gutes geben? Böse nannte der Herr die Kinder dieser Welt und Sünder. Das Gute, das sie geben, ist in ihren Augen gut, sie glauben es sei so. An sich mögen diese Dinge gut sein, doch es sind nur irdische Güter, vergänglich und mit den Schwächen alles Irdischen behaftet. Aber alles Geschaffene bleibt gut, auch wenn es von bösen Menschen gegeben wird. "Dem Herrn gehört die Welt und ihre ganze Fülle (Ps 23, 1). Denn "er hat den Himmel erschaffen, die Erde und das Meer, samt allem, was darinnen ist" (Ps 146, 6). Wieviel mehr dürfen wir also hoffen, dass Gott der Herr uns gute Gaben geben wird! Er wird uns nicht täuschen, er wird uns nicht etwas anderes geben, wenn wir uns voll Vertrauen an ihn wenden. Sind doch auch wir bereit, Bitten zu erfüllen, obgleich wir "böse" sind. Wir wollen unsere Kinder nicht enttäuschen. Doch das Gute, das wir geben, ist nicht unser Eigen. Es ist Gottes Gabe.

74. Eine wohlgeordnete Lebensführung verleiht Stärke und Kraft, die Wege der Weisheit zu gehen. Sie hilft uns zur Läuterung des Herzens, sie schenkt uns Einfalt und Geradheit. In diesem Sinne sind die folgenden Worte des Herrn zu verstehen: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen. Denn das ist das Gesetz und die Propheten" (Mt 7, 12). Der griechische Text lautet, wie eben mitgeteilt: "Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen." Einige lateinische Ausgaben haben nun ein: Gutes hinzugefügt. Damit sollte der Satz deutlicher umschrieben werden. Dabei war die Überlegung maßgebend, dass jemand für sich auch etwas Schlechtes wünschen könnte. So wenn zum Beispiel jemand sich gern betrinken möchte, er will dazu aber von einem andern aufgefordert und angereizt werden. Eine solche Auslegung des Wortes des Herrn wäre lächerlich. Dies war der Grund, so glaube ich, dieser Zutat. Sie fehlt in den griechischen Texten. Niemand wird es aber wagen, sie dort gleichsam als Verbesserung hinzuzufügen. Der Satz, so wie er steht, ist also durchaus verständlich und auch ganz richtig. Das Wort: Gut braucht nicht angefügt zu werden. Wenn der Herr demnach gesagt hat: "Alles nun, was ihr wollt", so ist das wörtlich zu nehmen, nicht in einem übertragenen oder beiläufigen Sinn. Das Wünschen kann sich nur auf gute Dinge erstrecken. Etwas Schlechtes oder Böses wünschen, nennt man Begierde, nicht Wunsch. Die Heilige Schrift ist nicht immer im Wortsinn zu verstehen. Aber wo es notwendig ist, muss man sie allein so verstehen und darf ihr keinen andern Sinn unterlegen.

75. Offensichtlich bezieht sich die gegenwärtige Mahnung nur auf die Beziehung zum Nächsten. Die Gottesliebe ist hier nicht gemeint. An anderer Stelle spricht der Herr von diesen beiden, der Gottes- und Nächstenliebe, "an denen das ganze Gesetz und die Propheten hängt" (Mt 22, 40). Hätte der Herr gesagt: "Alles was ihr wollt, das euch geschieht, das tut auch ihr", wären damit beide Gebote einbeschlossen gewesen. Es hätte so viel geheißen wie: man wolle Gott und die Menschen lieben, da man von Gott wie von den Menschen Gleiches erfahren habe. Nun heißt es aber hier ausdrücklich: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen." Somit will der Herr nur das eine Gebot einschärfen: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Mt 22, 39). Wohl zu beachten ist aber auch der Nachsatz an der ersten Stelle: "Denn das ist das Gesetz und die Propheten" (Mt 7, 12). An der zweiten Stelle dagegen heißt es: "An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten" (Mt 22, 40). Das Fehlen dieser verstärkten Ausdrucksform an der ersten Stelle weist daraufhin, dass er hier noch nicht von beiden Geboten sprechen wollte. Das Gebot von der Gottesliebe sollte für später aufbewahrt bleiben. An dieser Stelle will der Herr vor allem von der Geradheit und Schlichtheit des Herzens sprechen. Man soll sich in den Beziehungen zu den Mitmenschen vor Doppelzüngigkeit hüten. Daher gibt er hier ein ausdrückliches Gebot in dieser Hinsicht. Denn es wird kaum jemand da sein, der selber in doppelzüngiger Weise behandelt sein möchte. Dies wird aber dann nicht geschehen, wenn unsere Handlungen so beschaffen sind, dass sie dazu keinen Anlass geben; wenn wir also alles in ehrlicher Gesinnung tun, wenn unsere Handlungen nicht im Hinblick auf irdischen Vorteil verrichtet werden, wie wir dies alles oben schon dargelegt haben, da wir vom Splitter und Balken im Auge gehandelt haben.

76. Ein einfältiges Auge, ein schlichter Lebenswandel befähigen uns auch am besten, das eigene Innere zu erkennen und alles entsprechend mit Bedacht zu überlegen. Dies verstehen wir unter: Auge des Herzens. So ein reines Auge hat jener, der bei allem Streben und Wollen - und dieses Streben und Wollen soll gut sein, so ist es seine Absicht - nicht Menschen zuliebe handelt. Findet er dennoch Anerkennung bei den Menschen, dann soll alles zum Heil der Mitmenschen und zur Ehre Gottes geschehen sein, nicht eitler Einbildung wegen. Wenn er etwas Gutes für das Wohlbefinden des Nächsten tut, geschieht es wirklich der Sache wegen, nicht weil er persönlichen Vorteil sich davon erhofft. Wer einfältigen Sinnes ist, wird auch den Bestrebungen und dem Wollen der Mitmenschen, wenn ,er die treibenden Kräfte nicht kennt, keine schlechten Absichten unterschieben. Und was immer er dem Nächsten tut, soll so getan sein, wie er wünscht, dass der Nächste auch ihn behandle. Wer so handelt, ist ein wahrer Gottsucher, der Gott finden wird. "Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott anschauen" (Mt 5, 8).

22. Kapitel: Mt 7, 13-14: Von den zwei Wegen

77. Doch nur Wenige besitzen diese Eigenschaften. Zur näheren Erläuterung, wie man diese Weisheit, den eigentlichen Lebensbaum, erringen könne, gibt der Herr nun noch einige Hinweise. Zu ihrer Erlangung, zu ihrer Festigung soll das Auge alle Höhen durchforschen. Die Einsicht, die dann geschenkt wird, hilft auch den schmalen Weg und die enge Pforte zu finden, von der der Herr nun spricht: "Tretet ein durch die enge Pforte ! Denn weit ist die Pforte und breit der Weg, der ins Verderben führt, und viele wandeln auf ihm. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und nur wenige sind es, die ihn finden" (Mt 7, 13-14). Sie finden ihn nicht, nicht weil das Joch des Herrn schwer und seine Bürde drückend ist, sondern weil nur wenige die Mühsal des Durchhaltens bei der Arbeit auf sich nehmen wollen. Sie schenken seiner Mahnung keinen Glauben: "Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Bürde leicht" (Mt 11, 28-30). Viele wollen nichts von dem sanften Joch und der leichten Bürde wissen. Nur wenige nehmen sie auf sich. Daher der Hinweis auf den schmalen Weg und die enge Pforte, die allein den Zugang zum Leben vermitteln.

23. Kapitel: Mt 7, 15-20: Von den falschen Propheten

78. Bei diesem Suchen soll man sich aber vor allem vor denen hüten, die vorgeben, Weisheit und die Erkenntnis der Wahrheit erschließen zu können, da sie diese doch selbst nicht besitzen. Hierher gehören die Häretiker, die oft genug sich so empfehlen, weil sie die "kleine Schar" seien. Als daher der Herr von den Wenigen gesprochen hatte, die den schmalen Weg und die enge Pforte finden, fügt er, gleich dieser "Wenigen" wegen eine Warnung hinzu: "Hütet euch vor den falschen Propheten! Sie kommen in Schafskleidern zu euch, innen aber sind sie reißende Wölfe" (Mt 7, 15). Doch den, der einfachen Sinnes ist, werden sie nicht täuschen. Er erkennt den Baum an seinen Früchten. Deshalb fährt der Herr fort und sagt: "An ihren Früchten könnt ihr sie erkennen. Sammelt man Trauben von Dornbüschen oder Feigen von Disteln? So trägt jeder Baum gute Früchte; ein schlechter Baum aber trägt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte tragen und ein schlechter Baum nicht gute Früchte. Jeder Baum, der nicht gute Frucht trägt, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also könnt ihr sie erkennen" (Mt 7, 16-20).

79. Bei der Auslegung dieser Stelle müssen wir vor einem Irrtum auf der Hut sein. Es gibt nämlich Erklärer, die beide Bäume als Sinnbilder zweier Wesensarten deuten. Die eine weise auf Gott hin, die andere aber habe nichts mit Gott zu tun, noch sei sie aus Gott hervorgegangen. Über diese Irrtümer haben wir schon ausführlich in andern Büchern gehandelt. Sollten diese Darlegungen nicht genügen, so könnte noch mehr gesagt werden. Jetzt sei insoweit auf diese Dinge Bezug genommen, um einer fälschlichen Auslegung vorzubeugen. Erstens handeln diese Stellen hier offensichtlich nur von den Menschen und ihren Pflichten. Wer das Vorhergehende und das Nachfolgende liest, muss dies sehen, er sei denn mit Blindheit geschlagen. Zweitens beachte man genau, was gesagt wird: "Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte tragen und ein schlechter Baum nicht gute Früchte." Daraus darf nicht gefolgert werden, dass jemand, der Böses tut, nicht mehr gebessert werden kann, oder dass ein anderer, der Gutes tut, nicht auch wieder schlecht werden kann. Als ob es hieße: Ein guter Baum kann nicht in einen schlechten verwandelt werden und ein schlechter Baum nicht in einen guten. So aber heißt es: "Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte tragen und ein schlechter Baum nicht gute." Baum will hier soviel besagen wie Mensch; die Früchte aber sind die Werke des Menschen. Ein schlechter Mensch kann demnach keine guten Werke hervorbringen und ein guter Mensch keine schlechten. Will ein schlechter Mensch gute Werke verrichten, muss er sich erst ändern und gut werden. Deutlich weist der Herr an einer anderen Stelle darauf hin: "Entweder machet den Baum gut oder machet den Baum schlecht" (Mt 12,33). Wenn der Herr damit die Wesensart hätte ausdrücken wollen, wenn also die beiden Bäume Sinnbilder hätten sein sollen, so hätte er nicht "machet" gesagt; denn kein Mensch kann die Wesensart machen. Mit ganzem Bedacht fügt deshalb der Herr, da er von den beiden Bäumen gesprochen hatte, hinzu: "Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes reden, da ihr böse seid?" (Mt 12,34.) Solange also jemand im Bösen verharrt, kann er keine guten Werke verrichten; verrichtet er sie, dann ist er nicht mehr böse. Das ist genau, wie wenn man sagte: Der Schnee ist warm. Wenn der Schnee sich erwärmt, ist er nicht mehr Schnee sondern Wasser. Der Schnee kann demnach aufhören, Schnee zu sein; er kann aber niemals warm sein. Genau so kann es geschehen, dass ein Böser aufhört, böse zu sein; solange er aber böse ist, kann er keine guten Früchte hervorbringen. Sind die Handlungen eines bösen Menschen dennoch von Nutzen, ist nicht er die treibende Kraft dabei, sondern Gottes Vorsehung. Dann gilt, was der Herr von den Pharisäern sagte: "Die Schriftgelehrten und die Pharisäer sitzen auf dem Lehrstuhle des Moses. Beobachtet und tut daher alles, was sie euch sagen; aber nach ihren Werken richtet euch nicht" (Mt 23, 2-3). Gottes Vorsehung war es, dass diese sein Gesetz lehrten. Sie konnten damit ihren Zuhörern von Nutzen sein, wenn sie selbst auch keinen Gewinn daraus zogen. Von ihnen gilt ein anderes Wort: "Sie haben Weizen gesät und Dornen geerntet" (Jer 12, 13). Ihre Lehren sind gut, ihre Taten aber böse. Alle also, die sie hörten und ihr Leben darnach einrichteten, haben durch das Dorngestrüpp hindurch vom guten Weinstock Früchte ernten können. Die Dornen selbst brachten ihnen keine Frucht. Gerade wie wenn jemand seine Hand durch eine Dornenhecke steckt, um von einem Weinstock Trauben zu pflücken. Der Weinstock trägt die Trauben, nicht die Dornenhecke.

80. Mit Recht kann man nun die Frage erheben, auf welche Früchte wir schauen müssen, um an ihnen den guten Baum zu erkennen. Viele nämlich lassen sich vom Augenschein täuschen. Sie glauben, gute Früchte zu finden, gewahren aber nur den Pelz, unter dem jedoch der Wolf sich versteckt hält. Und dann lassen sie sich vom Wolf täuschen. Fasten, Gebete oder Almosen können dies sein. Wenn nicht auch die Heuchler solche Werke verrichteten, hätte der Herr nicht früher schon warnend gesagt: "Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt, um von ihnen gesehen zu werden" (Mt 6, 1). Zur näheren Erläuterung dieses Satzes gibt der Herr dann drei Beispiele: Almosen, Gebet und Fasten. Es gibt genug Leute, die reichlich den Armen geben. Aber nicht Mitleid treibt sie dazu an, sondern Ehrgeiz. Es gibt genug Leute, die viel beten. Ihr Beten jedoch strebt nicht zu Gott empor, sie wollen vielmehr von den Menschen gesehen sein. Und es gibt zahlreiche Leute, die viel fasten. Sie bringen es zu großer Fertigkeit darin. Sie werden deshalb von andern ob solcher Taten bestaunt. Man hält sie hoch in Ansehen. Doch ist alles nur Täuschung. Ihr Tun soll andere anlocken und verlocken. Haben sie dann Vertrauen gewonnen, dann scheuen sie sich nicht, ihre Opfer auszuplündern und zu töten. Der Schafspelz hat den Wolf verdeckt. Nach solchen Früchten, das ist die Meinung des Herrn, brauchen wir uns bei den Bäumen nicht umsehen. Sind es wirklich gute Bäume, dann bringen sie auch gute Früchte; sind es schlechte Bäume, gleichen die Früchte verkleideten Wölfen. Verkehrt wäre es aber, wenn das Lamm sich seines Pelzes schämte, nur weil oft genug Wölfe sich desselben bedienten.

81. Die Früchte, an denen man einen schlechten Baum erkennt, zählt der Apostel auf: "Die Werke des Fleisches sind offenkundig: Unzucht, Unkeuschheit, Wollust, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Streit, Eifersucht, Zorn, Zwietracht, Spaltung, Parteiung, Neid, Mord, Völlerei, Schwelgerei und dergleichen. Davon sage ich, wie ich es früher schon getan habe: Die Solches treiben, werden das Reich Gottes nicht erben." (Gal 5, 19-21.) Desgleichen zählt er auch die Früchte auf, an denen man einen guten Baum erkennt: "Die Früchte des Geistes aber sind: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Milde, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit" (Gal 5, 22). Mit ganzem Bedacht wird auch die Freude genannt. Böse Menschen nämlich haben keine Freude; sie kennen nur äußeres Getue. Das Gleiche lesen wir auch beim Propheten: "Es gibt keine Freude für die Gottlosen, spricht der Herr" (Is 57, 21, nach der Septuaginta, die Vulgata hat: pax, Friede), dasselbe gilt von der Treue. Nicht jeglicher Schein derselben verdient dieses auszeichnende Wort, sondern nur, wo es in Wahrheit gilt. So auch von allen andern Früchten, die der Apostel hier aufzählt. In bösen Menschen oder solchen, die sich aufs Täuschen verlegen, können sie den Anschein des Echten erwecken. Allüberall da werden sie ihr Ziel erreichen, wo das Auge nicht schlicht und gesund ist. In richtiger Reihenfolge hat deshalb der Herr zuerst vom Auge gesprochen, das rein und klar bleiben soll, ehe er jetzt die Dinge aufzählt, vor denen man sich in acht nehmen muss.

24. Kapitel: Mt 7, 21-29: Von Wort und Tat

82. Aber auch dem reinen und klaren Auge sind Grenzen gesetzt. In das Innerste des Herzens des Nebenmenschen kann kein menschliches Auge dringen. Nur was durch Wort oder Tat sich offenbart, kann gesehen und beurteilt werden. Die Prüfung wird beides, Wort wie Tat, auf ihre Echtheit hin ans Tageslicht bringen. Die Prüfung kann eine doppelte sein: Hoffnung auf einen zeitlichen Gewinn oder Furcht vor irdischem Verlust.

Vor einer Gefahr muss noch besonders gewarnt werden. Wer nach der Wahrheit sucht, die allein in Christus gefunden werden kann, "denn in ihm sind alle Schätze der Welt verborgen" (Kol 2, 3), muss auf der Hut vor den Verführungen der Häretiker, der Unverständigen und der Liebhaber dieser Welt sein; denn Christi Namen ist diesen nur ein Vorwand für ihre eigenen Irrtümer. Deshalb fügt der Herr jetzt noch die Mahnung und Warnung an: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist" (Mt 7, 21). Demnach ist der Gebrauch des Namens: Herr, Herr noch kein Beweis einer gesunden Frucht. Noch weniger darf man annehmen, sie entstamme einem guten Baume. Nur das sind gute Früchte, die nach dem Willen des Vaters, der im Himmel ist, getan sind. Der Herr selbst hat sich gewürdigt, uns das Beispiel zu geben, wie wir diesen Willen tun sollen.

83. Hier kann mit Recht die Frage aufgeworfen werden, wie mit diesem Wort des Herrn ein Ausspruch des Apostels übereinstimmt, wenn er sagt: "Niemand, der im Geiste Gottes redet, sagt: "Verflucht sei Jesus!" Und niemand kann sagen: "Jesus ist der Herr, außer im Heiligen Geist" (1 Kor 12, 3). Man kann nicht leugnen, dass es Menschen gibt, die den Heiligen Geist besitzen und demnach auch in den Himmel eingehen können, sofern sie bis zum Ende treu aushalten. Andererseits kann man nicht sagen, dass, wer nur äußerlich Herr, Herr sagt, deshalb den Heiligen Geist hat. Ein solcher wird vielmehr nicht in das Himmelreich eingehen. Bei dem Worte des Apostels: "Niemand kann sagen: Jesus ist der Herr, außer im Heiligen Geiste", liegt der Nachdruck auf dem Sagen. Dieses Sagen setzt nämlich eine klare Einsicht und Willensentscheidung des Betreffenden voraus. Der Herr dagegen drückt sich ganz allgemein aus: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in das Himmelreich eingehen!" Diese Worte kann auch einer sprechen, der gar kein ernstliches Streben hat, oder der gar nicht versteht, was er sagt. Nur der darf in Wahrheit diese Worte in den Mund nehmen, der ihren ganzen Gehalt erkennt und mit vollem Bedacht sie dann ausspricht.

Genau so wie wir oben vom Wort: Freude im Zusammenhang mit den Früchten des Geistes gesprochen haben. Das Wort ist nur in seinem eigentlichen Sinn zu nehmen. Nicht in einer Bedeutung, wie es der Apostel an einer andern Stelle benutzt: "Sie freut sich nicht über das Unrecht" (1 Kor 13,6). Denn über das Unrecht kann es keine Freude geben. Unrecht kann trübe Leidenschaft entfesseln, aber keine Freude wecken. Freude können nur die Guten haben. Das Gleiche gilt auch von dem gegenwärtigen Wort: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in das Himmelreich eingehen!" Der äußere Ton macht es nicht. Die Einsicht muss da sein und der Wille, nach der Erkenntnis zu handeln. Wahrhaft und wirklich können dagegen die so sagen, die durch Wort und Tat das Gesagte nicht belügen. Dann gilt von ihnen das Wort des Apostels: "Niemand kann sagen: "Jesus ist der Herr", außer im Heiligen Geiste."

84. Aber noch ein Weiteres darf hier nicht übergangen werden, wenn wir die, so nach der Wahrheit streben, nicht irre führen wollen. Nicht nur der Name Christi kann für manche ein Deckmantel werden, wenn sie diesen Namen wohl bekennen, aber keine entsprechenden Taten aufzuweisen haben. Auch Taten und Wunder können irreführen. Jedenfalls spricht der Herr eine deutliche Warnung aus und sagt, man solle da nicht gleichauf echte Weisheit schließen, wo Zeichen und Wunder zu sehen sind. "An jenem Tage werden viele zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht deinen Namen geweissagt, in deinem Namen böse Geister ausgetrieben, in deinem Namen viele Wunder gewirkt!? Alsdann werde ich ihnen erklären: Ich habe euch nie gekannt; hinweg von mir, ihr Übeltäter!" (Mt 7, 22-23). Nur die wird er anerkennen, die in Billigkeit und Gerechtigkeit ihr Leben gelebt haben. Mahnt er doch auch die Jünger, sie sollten sich nicht darüber freuen, dass ihnen die bösen Geister untertan gewesen seien, sondern er sagt: "Freut euch vielmehr darüber, dass eure Namen im Himmel aufgezeichnet sind" (Lk 10, 20). Das heißt, so wenigstens glaube ich, in jenem ewigen Jerusalem, das im Himmel ist. Dort werden nur die Gerechten herrschen. Denn, so sagt der Apostel: "Wisst ihr nicht, dass Ungerechte keinen Anteil am Reiche erhalten werden?" (1 Kor 6, 9).

85. Aber vielleicht wendet hier jemand ein: es sei doch wohl nicht möglich, dass böse Menschen Wunder wirkten; sie hätten gelogen, die da sagten: "In deinem Namen haben wir geweissagt, in deinem Namen böse Geister ausgetrieben, in deinem Namen viele Wunder gewirkt." Die solches glauben, mögen im Buche Exodus (Kapitel 7 und 8) nachlesen, was die ägyptischen' Zauberer, die Moses widerstanden, alles gewirkt haben. Falls diese Stellen aber keine Beweiskraft für sie haben, da diese Zauberer doch nicht im Namen Jesu aufgetreten seien, mögen sie nachlesen, was der Herr selbst von den Pseudopropheten sagt: "Wenn jemand zu euch spricht: Seht, hier ist Christus oder dort, so glaubt es nicht! Denn es werden falsche Christus und falsche Propheten auftreten und große Zeichen und Wunder wirken, so dass selbst die Auserwählten irregeführt werden. Seht, ich habe es euch vorausgesagt" (Mt 24, 23-25).

86. Wie haben wir doch ein reines und einfältiges Auge nötig, um den Weg der Weisheit zu finden. Die Irrlichter böser und verworfener Menschen möchten uns auf Abwege, in den Irrtum führen. Diesen gilt es auszuweichen. Nur so werden. wir zum sicheren Frieden und zur unverrückbaren Festigkeit der Weisheit gelangen. Vor einem müssen wir uns allerdings noch hüten. Im Eifer der Widerrede und des Mühens um Richtigstellung wird zu leicht etwas übersehen, was nur Wenigen zu sehen gegeben ist: der Streit der Meinungen erlischt, wo keine Gegenmeinung geäußert wird (Zum Streiten gehören zwei. Mag der andere noch so streitsüchtig sein. Wenn ich selbst mich zurückhalte, wird der andere vergebens mit mir zu streiten suchen). Das meint der Apostel, da er sagt: "Ein Diener des Herrn aber soll nicht streiten, sondern gegen jedermann freundlich sein, lehrtüchtig und geduldig. Mit Sanftmut weise er die Gegner zurecht. Vielleicht schenkt ihnen Gott doch noch Sinnesänderung, dass sie die Wahrheit erkennen" (2 Tim 2, 24-25). Daher: "Selig die Friedenstifter; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden" (Mt 5, 9).

87. Es ist nun sehr die Schrecken erregende Art zu beachten, mit der die Schlussfolgerung aus der ganzen Predigt gezogen wird: "Jeder also, der diese meine Worte hört und befolgt, gleicht einem klugen Manne, der sein Haus auf Felsengrund gebaut hat" (Mt 7, 24). Nur das Tun bestätigt das Aufgenommene und Gehörte. Wenn nun Christus der Fels ist, wie ja viele Stellen der Heiligen Schrift ihn benennen, so baut nur der auf diesem Felsen, der das von Christus Gehörte auch in die Tat umsetzt. "Da fiel ein Platzregen, Fluten kamen, Stürme brausten und tobten gegen das Haus; doch es stürzte nicht ein, weil es auf Felsengrund gebaut war" (Mt 7, 25). Ein solcher also fürchtet keinen dunklen Aberglauben - was anderes kann hier der Platzregen bedeuten, da er zur Bezeichnung eines Übels gebraucht wird oder das Gerede der Menschen, das, glaube ich, mit den Stürmen verglichen wird, oder die Flut dieses Lebens, die sich in den fleischlichen Begierden über die Erde gleichsam hinwälzt. Diese drei werden den, der in guten Tagen sie hat großwerden lassen, in bösen Tagen überwältigen. Doch der braucht sie nicht zu fürchten, der sein Haus auf den Felsen gebaut hat, das heißt, wer die Mahnungen des Herrn nicht nur gehört, sondern sie auch durch die Tat verwirklicht hat. Gefahr läuft aber der, so die Mahnungen hört und sie nicht befolgt. Ihm fehlt das sichere Fundament. Hören und doch nicht tun, heißt den Untergang heraufbeschwören. So nämlich fährt der Herr fort und sagt: "Wer dagegen diese meine Worte hört, aber nicht befolgt, gleicht einem törichten Manne, der sein Haus auf Sand gebaut hat. Da fiel ein Platzregen, Fluten kamen, Stürme brausten und tobten gegen das Haus, es stürzte ein, und sein Sturz war groß. Als Jesus diese Rede beendet hatte, wurden die Volksscharen von Staunen über seine Lehre ergriffen; denn er lehrte wie einer, der Macht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten" (Mt 7, 26-29). Das stimmt mit dem überein, was, wie ich schon früher angedeutet habe, durch den Propheten in dem Psalm geschrieben steht: "Die Worte Jahwes, die sind lauter wie Silber, das, bewährt im Feuer und das geläutert ist im Tiegel, siebenfach gereinigt" (Ps 11,6-7). Diese Siebenzahl kann auch auf die am Anfang der Rede stehenden Seligpreisungen bezogen werden. Sie kann aber auch auf die Siebenzahl der Gaben des Heiligen Geistes ausgelegt werden, wie sie der Prophet Isaias uns benennt (Is, 11, 2-3). Doch gleich, ob dieses oder jenes damit gemeint ist, ob es auf dieses oder jenes auszudeuten ist, eines nur ist entscheidend: was der Herr uns sagt, müssen wir tun, wenn wir auf Felsengrund bauen wollen.